Terrorismus als hybride Bedrohung des 21. Jahrhunderts

In diesem Sammelband untersuchen Wissenschaftler und Praktiker aus dem Politikfeld Innere Sicherheit die asymmetrische Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland und leiten daraus eine dringend erforderliche Anpassung der deutschen Sicherheitsarchitektur ab. Der InhaltDas Bedrohungspotenzial durch Islamismus und islamistischen Terrorismus ● Islamistisch-terroristische Radikalisierung ● Recht als Grundlage und Schranke staatlichen Handelns bei der Bekämpfung des Terrorismus ● Terrorismusabwehr und -bekämpfung im Zeitalter strategischer Ungewissheit ● Effekte von Terrorismus und Anarchismus als Führungsproblem ● Politisch motivierte Kriminalität mit CBRN-Tatmitteln ● Reichweite und Methodenspektrum im Zeitalter islamistischer Anschläge Die HerausgeberDr. Dirk Freudenberg ist Dozent im Referat Strategische Führung und Leitung, Notfallvorsorge und -planung, pädagogische Grundlagen und Qualitätsmanagement an der Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz (AKNZ) im Bundesamt für Bevölkerungsschutz- und Katastrophenhilfe (BBK). Dr. Stefan Goertz ist Beamter der Bundespolizei und Dozent an der Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei, in Lübeck.Dr. Stephan Maninger ist Politikwissenschaftler mit zahlreichen Veröffentlichungen und Vorträgen an diversen akademischen Einrichtungen zu sicherheitspolitischen und militärgeschichtlichen Themen.

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Sicherheit – interdisziplinäre Perspektiven

Dirk Freudenberg · Stefan Goertz Stephan Maninger Hrsg.

Terrorismus als hybride Bedrohung des 21. Jahrhunderts Akteure, Mittel und die Notwendigkeit einer modernen Sicherheitsarchitektur in Deutschland

Sicherheit – interdisziplinäre Perspektiven Reihe herausgegeben von T. Jäger, Köln, Deutschland N. Krämer, Universität Duisburg-Essen, Duisburg, Nordrhein-Westfalen, Deutschland N. Pohlmann, Institut für Internet-Sicherheit, Westfälische Hochschule, Gelsenkirchen, Deutschland

Sicherheit ist zu einer Signatur unserer Zeit geworden. Technische und gesellschaftliche Veränderungen transformieren dabei die Bedingungen, unter denen Sicherheit erlangt werden soll, kontinuierlich. Die Herausforderungen und Risiken liegen auf allen Gebieten der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ordnung. Bedrohungen und Bedrohungswahrnehmungen haben sich in den letzten Jahren verschärft und scheinen keinen ordnungspolitischen Rahmen zu haben. Soziale, ökologische, ökonomische, innere und äußere Sicherheit, Fragen der Organisation von Sicherheitsinstitutionen, Prozesse des Normwandels und der Diskursgestaltung, unterschiedliche Ausprägungen von Kommunikation mit vielfältigen Akteuren sowie die Verzahnung verschiedenster Herausforderungen greifen ineinander über. Analysen und Darstellungen, die über einen spezifischen Fachbereich hinausreichen und verschiedene Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einbeziehen oder unterschiedliche analytische Zugänge vereinen, finden durch die interdisziplinäre Buchreihe „Sicherheit“ den Zugang zu den Lesern unterschiedlicher Fächer.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13807

Dirk Freudenberg · Stefan Goertz Stephan Maninger (Hrsg.)

Terrorismus als hybride Bedrohung des 21. Jahrhunderts Akteure, Mittel und die Notwendigkeit einer modernen Sicherheitsarchitektur in Deutschland

Herausgeber Dirk Freudenberg Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Bad Neuenahr-Ahrweiler, Deutschland

Stephan Maninger Fachbereich Bundespolizei Hochschule des Bundes Lübeck, Deutschland

Stefan Goertz Fachbereich Bundespolizei Hochschule des Bundes Lübeck, Deutschland

ISSN 2510-0963 ISSN 2510-0955  (electronic) Sicherheit – interdisziplinäre Perspektiven ISBN 978-3-658-20918-6 ISBN 978-3-658-20919-3  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-20919-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

In der Bundesrepublik Deutschland ist das sicherheitspolitische Interesse der politischen wie auch der gesellschaftlichen Eliten – gemessen an anderen Politikfeldern – eher gering ausgeprägt. Dem vormaligen Außenminister und heutigem Bundespräsident wird dagegen der Ausspruch zugerechnet, dass die Welt in Unordnung geraten sei. Dabei liegen die Herausforderungen der Zukunft nicht allein in der Bedrohung durch staatliche Akteure, die nach dem Zerfall der bipolaren Ordnung des Kalten Krieges in das sicherheitspolitische Vakuum schlüpfen und nunmehr vermehrt Machtpolitik auf eigene Rechnung machen, sondern auch durch fragile Staatlichkeit und Staatszerfall einhergehende Regionen, welche die bislang gültigen Regeln internationaler Politik entweder ignorieren, ablehnen oder gar nicht kennen. Derartige Akteure haben oftmals eine geringe Affinität zu einer personell und demokratisch geprägten politischen Kultur. Zugleich stehen sie dem in Deutschland und Europa geschichtlich errungenen Gesellschafts- und Staatsmodell ablehnend gegenüber. Die Aufgabe aktiver Sicherheitspolitik ist die Ertüchtigung der staatlichen Sicherheitsorgane, gegenwärtigen und zukünftigen Risiko- und Bedrohungslagen und ihren Protagonisten erfolgreich zu begegnen und gegenüberzutreten. Die Aufgabe der Wissenschaft muss es hier sein, in kritischer Analyse und Beurteilung der Gegebenheiten und Akteure, Herausforderungen und gegebenenfalls Defizite antizipatorisch aufzuzeigen, um einen Beitrag zum angemessenen Umgang mit den Phänomenen sowie auch erforderliche fundierte Anpassungen und Veränderungen zu leisten. Eine Sicherheitspolitik, die nicht antizipatorisch ausgerichtet ist, ist keine Sicherheitspolitik, genau wie Diplomatie ohne Macht, um es mit dem ehemaligen US-Außenminister Kissinger zu halten, auch keine Diplomatie ist. Die Bundesrepublik Deutschland wirkt strukturell und mental noch unbeholfen bei sicherheitspolitischen Fragen, während sich gleichzeitig eine beschleunigende Veränderung des Bedrohungsspektrums

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Vorwort

durch phänomenologische, demografische und technologische Entwicklungen beobachten lässt. Der Wunsch nach Methodensymmetrie und berechenbare Gegner dominiert nach wie vor das Denken der Entscheidungsträger. Die Akteure der Zukunft werden jedoch weiterhin – neben staatlichen Akteuren – „Nichtstaatler“ oder „Parastaatler“ sein, die opportunistische Hybridakteure und -bedrohungen darstellen werden, insofern sie organisierte Kriminalität und Terrorismus in einem weitaus größeren Umfang kombinieren als es in der Vergangenheit (z. B. RAF, IRA, ETA etc.) der Fall gewesen war. Während die deutsche Sicherheitsarchitektur durchaus immer wieder Anpassungsprozesse erfährt, scheinen diese oft das Ergebnis von, meist auf Anschläge erfolgter, taktischer, allenfalls operativer Improvisation zu sein; die große strategische Planung und grundsätzliche Umstrukturierung, die man von der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt erwarten könnte, scheint indes zu fehlen. Noch nie waren so viele Menschen und Güter in Bewegung, waren die nationalstaatlichen Grenzen so porös wie jetzt. Zugleich waren Individuen und nichtstaatliche Organisationen, dank der Wirkung neuer, hochmoderner Technologien, noch nie so fähig, eine ernsthafte Störer- und Bedrohungsrolle einzunehmen und damit – zumindest auf taktischer Ebene – für staatliche Sicherheitsakteure eine ernstzunehmende Herausforderung darzustellen. Und dennoch verfügt die Republik über 19 Polizeien und eine Zollbehörde, deren operativen Abläufe, allein aufgrund dieser teils föderalistisch begründeten Fragmentierung, institutionell langsamer sind als die einiger ihrer kriminellen und/oder terroristischen Konkurrenten. Die daraus resultierende Fähigkeitslücke in der Projektion von Staatsmacht, der Bewahrung des Gewaltmonopols und der (Wieder-)Herstellung von Sicherheit, stellt eine dauerhafte und akute Gefahr dar, die die Autoren dieses Bandes interdisziplinär beschreiben. Dabei stehen die Verfasser der vorliegenden Beiträge jeweils für sich; die geäußerten Auffassungen sind ihre jeweils eigenen und nicht ihrem jeweiligen Amt zuzurechnen. Dirk Freudenberg Stefan Goertz Stephan Maninger

Inhaltsverzeichnis

Das Bedrohungspotenzial durch Islamismus und islamistischen Terrorismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Stefan Goertz Islamistisch-terroristische Radikalisierung: Deutsche und internationale Radikalisierungsforschung im Vergleich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Stefan Goertz und Martin Holst Recht als Grundlage und Schranke staatlichen Handelns bei der Bekämpfung des Terrorismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Ralf Gnüchtel Terrorismusabwehr und -bekämpfung im Zeitalter strategischer Ungewissheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Stephan Maninger Effekte von Terrorismus und Anarchismus als Führungsproblem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Dirk Freudenberg Politisch motivierte Kriminalität mit CBRN-Tatmitteln. . . . . . . . . . . . . . . 147 Jan-Peter Germann Terrorismus: Reichweite und Methodenspektrum im Zeitalter islamistischer Anschläge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Stephan Maninger

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Über die Herausgeber Dr. Freudenberg, Dirk; Dozent Sicherheitspolitik und Strategische Führungsausbildung an der AKNZ im BBK. Veröffentlichungen: Theorie des Irregulären. Erscheinungen und Abgrenzungen von Partisanen, Guerillas und Terroristen im Modernen Kleinkrieg sowie Entwicklungstendenzen der Reaktion, 3 Bde., Berlin 2017; Auftragstaktik und Innere Führung. Feststellungen und Anmerkungen zur Frage nach Bedeutung und Verhältnis des inneren Gefüges und der Auftragstaktik unter den Bedingungen des Einsatzes der Deutschen Bundeswehr, Berlin 2014; Militärische Führungsphilosophien und Führungskonzeptionen ausgewählter NATO- und WEU- Staaten im Vergleich, Baden-Baden 2005; Hybride Bedrohungen unter besonderer Berücksichtigung Bevölkerungsschutzes, in: Hans-Georg Ehrhart (Hrsg.), Krieg im 21. Jahrhundert. Konzepte, Akteure, Herausforderungen, Berlin 2017, S. 346 ff.; Führungsdenken in Militär, Polizeien Hilfsorganisationen und Wirtschaftsunternehmen, in: Uwe Hartmann, Claus von Rosen (Hrsg.), Jahrbuch Innere Führung 2016, Berlin 2016, S. 150 ff.; „Green on Blue“ – Der Innentäter als spezifische Methode des Selbstmordattentates und Ansätze der Reaktion, in: Stefan Hansen, Joachim Krause (Hrsg.), Jahrbuch Terrorismus 2013/2014 Berlin, Toronto 2014, S. 135 ff.; Bevölkerungsschutz in Deutschland – Der 11. September 2001 als „Trigger“ für die Transformation der deutschen Sicherheitsarchitektur, in: Thomas Jäger (Hrsg.), Die Welt nach 9/11, Wiesbaden 2011, S. 702 ff.; Ein „geführtes Teleskop“ – Das CAAT als strategisches Instrument der Aufstandsbekämpfung in Afghanistan, in: ZFAS, Heft 1, 2013, S. 35 ff.; Sittliche Verantwortung versus „die Majestät des Rechts“, in: ÖMZ 2016, S. 711 ff.; Das Spannungsverhältnis im operativen Einsatzrecht: Auftragstaktik, Rules of Engagement (ROE) und deutsche Strafrechtsordnung, in: NZWehrr, Heft 3, 2007, S. 89 ff. IX

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Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Goertz, Stefan, Dr. rer. pol.; Diplom-Politologe; Oberregierungsrat; Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei. Aktuelle Veröffentlichungen: Terrorismusabwehr. Zur aktuellen Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus in Deutschland und Europa. Wiesbaden: VS Springer; Der neue Terrorismus. Neue Akteure, neue Strategien, neue Taktiken und neue Mittel. Wiesbaden: VS Springer; Islamistischer Terrorismus. Analyse – Definitionen – Taktik. Heidelberg: Kriminalistik/CF Müller; Mögliche islamistisch-terroristische Angriffs- bzw. Anschlagsziele: worst case-Szenarien und mögliche Abwehrmittel. In: Kriminalistik 12/2017; Jihadistische Selbstmordattentäter: Ideologische Hintergründe und neue Trends. In: Crisis Prevention 4/2017; mit Goertz-Neumann, Politisch motivierte Kriminalität und Radikalisierung. Heidelberg: Kriminalistik/ CF Müller; Charismatische Prediger und islamistisch-jihadistische Radikalisierung. In: Die Polizei 3/2018; Low Level-Terrorismus: Die Taktik islamistischer Einzeltäter. In: Kriminalistik, Juni/2017; Radikalisierung und Religion: Islam und Terrorismus. Jihadismus als religiös-politische Ideologie und Strategie. In: Die Polizei 7/2017. Maninger, Stephan,  Dr.; Dozent zu sicherheitspolitischen Themen an diversen Einrichtungen, darunter die Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) und die Akademie für Krisenmanagement, Notfallplanung und Zivilschutz ( AKNZ). Veröffentlichungen: „Neue Kriege“ – Sicherheitspolitische Rahmenbedingungen, Mentalitäten, Strategien, Methoden und Instrumente, Miles Verlag, Berlin, 2016; „‚I-Krieg‘: Die Individualisierung von Krieg und ihre Bedeutung in asymmetrischen Konflikten“, Österreichische Militärzeitschrift, Nr. 1, Wien, Januar 2017; „Der Islamische Staat als Bedrohung für Europa. Islamistischer Terrorismus: Seine Strategie, seine Taktik, seine Akteure“, Polizei& Wissenschaft, Verlag für Polizeiwissenschaft, Frankfurt, November 2016.

Autorenverzeichnis Germann, Jan-Peter, Dr. phil.; Dipl.-Pol.; M.A., Polizeioberrat, z. Z. Referent für Grundsatzangelegenheiten der Kriminalitätsbekämpfung im Bundespolizeipräsidium (Referat 31). Veröffentlichungen (Auszug): Terror und Anti-Terror. Politische Gewalt, Sicherheitspolitik und die strategische Kultur der Terrorismusbekämpfung in Deutschland. Saarbrücken: Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften 2009. Der terroristische Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Typologie und abstrakte Risikoanalyse, in Kriminalistik Nr. 1/2012, S. 59–64.

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

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Strategische Kultur und Terrorismusbekämpfung. Zur Analyse normativer Bedingungsfaktoren auf einem virtuellen Politikfeld, in Robert Glawe (Hrsg.), Eine neue deutsche Sicherheitsarchitektur. Impulse für die nationale Strategiedebatte. Berliner Wissenschafts-Verlag: Berlin 2009, S. 35–47. Gnüchtel, Ralf,  Dr. jur.; LL.M.; M.A.; Polizeioberrat; Polizeibeamter und Jurist; z. Zt. Referent für Fahndung und Politisch motivierte Kriminalität im Bundespolizeipräsidium (Referat 32). Veröffentlichungen auszugsweise: Das Gesetz zum besseren Informationsaustausch bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus, in Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2016, S. 1113–1119; Das Gesetz zur Verlängerung der Befristung von Vorschriften nach den Terrorismusbekämpfungsgesetzen auf Grundlage der dritten Evaluation, in NVwZ 2016, S. 13–17; Strafrecht als Mittel zur Terrorismusbekämpfung – legitimer Rahmen und Grenzüberschreitungen, in Jahrbuch Öffentliche Sicherheit (JBÖS) 2016/17, S. 357 ff.; Die bahnpolizeiliche Zuständigkeit der Bundespolizei auf Bahnhofsvorplätzen, in NVwZ 2015, S. 37–40; Das Verständnis um eine Strafbegrenzungsdogmatik aus polizeiwissenschaftlicher Perspektive, in JBÖS 2014/2015, S. 513 ff.; Fahndung im Grenzgebiet, auf dem Gebiet der Bahnanlagen sowie auf Verkehrsflughäfen, in NVwZ 2013, S. 980–983; Klimawandel: Konflikte und Kriminalität. Eine neue sicherheitspolitische Herausforderung im 21. Jahrhundert, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (MschrKrim) 2013, S. 14–29. Holst, Martin, Dipl.-Psych.; Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator bei GWT-TUD GmbH. TU Dresden, Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie, Chemnitzer Straße 46, 01187 Dresden. Veröffentlichungen: Goertz, S., & Holst, M. (2016). Wege in den Terrorismus: Psychologische und sozialwissenschaftliche Analyseansätze von jihadistischen Gewaltexzessen. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, 99(6), S. 450–463.

Das Bedrohungspotenzial durch Islamismus und islamistischen Terrorismus Eine Analyse der islamistischen und terroristischen Phänomenbereiche, ihrer Taktiken und Wirkmittel Stefan Goertz 1 Einleitung und Begriffsbestimmungen Islamismus und der islamistische Terrorismus gehören zu den größten sicherheitspolitischen Bedrohungen mit Konsequenzen für sowohl die innere Sicherheit als auch die äußere Sicherheit hunderter Staaten weltweit. Der aktuelle Verfassungsschutzbericht spricht von einem islamistischen Personenpotenzial von 24.400 in Deutschland.1 Problematischerweise analysiert der deutsche Verfassungsschutz innerhalb der islamistischen Szene in Deutschland eine Kräfteverschiebung in den gewaltorientierten, beziehungsweise in den dschihadistischen Bereich.2 Durch die Verschiebung hin zum gewaltorientierten, bzw. terroristischen Spektrum des islamistischen Personenpotenzials in Deutschland analysiert der deutsche Verfassungsschutz eine neue Qualität der Bedrohung der inneren Sicherheit durch die islamistische Szene.3

1Bundesamt

für Verfassungsschutz (2017): Verfassungsschutzbericht 2016, S. 160. S. 159. 3Ebd., S. 160. 2Ebd.,

S. Goertz (*)  Lübeck, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Freudenberg et al. (Hrsg.), Terrorismus als hybride Bedrohung des 21. Jahrhunderts, Sicherheit – interdisziplinäre Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20919-3_1

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Die islamistische Ideologie und ihre Propaganda kennen keine sprachlichen und nationalen Grenzen, weswegen die Zahl von Islamisten, hier: insbesondere von Salafisten in westlichen Staaten – zum Beispiel in Deutschland und Frankreich – seit Jahren signifikant anwachsen.4 Verbunden damit steigt die Zahl des dschihadistischen Teilbereiches des islamistischen Personenpotenzials seit über fünf Jahren erheblich, so auch im Jahr 2016.5 Von folgenden beiden Islamismus-Definitionen geht diese Analyse aus: Islamismus ist eine religiös-politische Ideologie mit dem konkreten Anspruch darauf, das politische System und das gesellschaftliche und kulturelle Leben auf der Grundlage einer extremistischen Interpretation des Islam zu ändern und nur diese eigene Koraninterpretation anzuerkennen.6 Der Begriff „Islamismus“ bezeichnet eine Form des politischen Extremismus. Unter Berufung auf den Islam zielt der Islamismus auf die teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ab. Der Islamismus basiert auf der Überzeugung, dass der Islam nicht nur eine persönliche, private „Angelegenheit“ ist, sondern auch das gesellschaftliche Leben und die politische Ordnung bestimmt oder zumindest teilweise regelt. Der Islamismus postuliert die Existenz einer gottgewollten und daher „wahren“ und absoluten Ordnung, die über den von Menschen gemachten Ordnungen steht. Mit ihrer Auslegung des Islam stehen Islamisten im Widerspruch insbesondere zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Volkssouveränität, der Trennung von Staat und Religion, der freien Meinungsäußerung und der allgemeinen Gleichberechtigung.7 Die erste Definition von Islamismus kann weltweit angewendet werden, die zweite Definition ist dem aktuellen Verfassungsschutzbericht des Bundesamtes für Verfassungsschutz entnommen und führt aus, inwieweit Islamismus als Extremismus die Grundwerte der deutschen Verfassung, die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) gefährdet bzw. bekämpft.

4Goertz,

S. (2017): Ursprünge des Islamismus und die Verbindung zu aktuellen Konflikten. In: Die Polizei 11/2017. 5Bundesamt für Verfassungsschutz (2017): Verfassungsschutzbericht 2016, S. 159. 6Goertz, S. (2017): Islamistischer Terrorismus. Analyse – Definitionen – Taktik. Heidelberg, S. 14. 7Bundesamt für Verfassungsschutz (2017): Verfassungsschutzbericht 2016, S. 154.

Das Bedrohungspotenzial durch Islamismus …

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Salafismus ist wie folgt mit Islamismus verbunden: Salafismus ist eine Kategorie von Islamismus, eine besonders fundamentalistische islamistische Ausprägung, die einen stilisierten und idealisierten Ur-Islam des siebten und achten Jahrhunderts als Vorbild für eine Umgestaltung von Staat und Gesellschaft auf der Grundlage salafistischer Interpretationen islamischer Werte und Normen anstrebt. Dabei hat der Salafismus Züge einer extremistischen Gegenkultur zur Moderne, die diese Abgrenzung von der „Mehrheitsgesellschaft“ als elitäres Alleinstellungsmerkmal zur Stärkung der eigenen Identität nutzt.8 Von folgender Definition von islamistischem Terrorismus bzw. Dschihadismus geht diese Analyse aus, wobei islamistischer Terrorismus und Dschihadismus hier synonym verwandt werden: Islamistischer Terrorismus/Dschihadismus existiert und operiert auf den Analyseebenen Ideologie, Strategie und Taktik. Seine nichtstaatlichen Akteure nutzen terroristische Strategien und Taktiken so lange, wie sie asymmetrische, sprich: politisch, militärisch, technologisch, finanziell dem Gegner unterlegene, Akteure sind. Die Akteure des islamistischen Terrorismus/Jihadismus wenden Strategien und Taktiken terroristischer Gewalt sowohl gegen die Zivilbevölkerung als auch gegen staatliche Akteure an, um Gesellschaften in Angst und Schrecken zu versetzen, Regierungen und Machthaber zu politischen und militärischen Handlungen zu zwingen, Regionen und Staaten zu destabilisieren und in letzter Konsequenz die bestehende politische Ordnung zu stürzen, um sie durch ihre religiös-­politische Ordnung eines Kalifats zu ersetzen.9

1.1 Aktuelle Entwicklungen Der aktuelle internationale islamistische Terrorismus (Dschihadismus) basiert gleichzeitig auf einer weltweiten islamistisch-dschihadistischen Bewegung, hier: Basis, in der sog. zweiten und dritten Welt sowie auf einer islamistisch-­ dschihadistischen Basis, hier: die islamistisch-salafistischen Milieus, in der sog. ersten Welt, in westlichen, demokratischen Staaten Staaten.10 Diese beiden islamistisch-dschihadistischen Bewegungen bzw. Basen sind – u. a. durch

8Goertz, 9Ebd. 10Ebd.

S. (2017): Der neue Jihadismus und seine Basis. In: Die Polizei 10/2017, S. 297.

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S. Goertz

die islamistisch-dschihadistischen Angebote des Internets – historisch eng vernetzt und habe beide die gleiche (extremistische) Ideologie. Die Tatsache, dass die Radikalisierungshintergründe im Vergleich zwischen der islamistisch-­ dschihadistischen Basis der sog. ersten Welt und diejenigen der islamistischdschihadistischen Basis der sog. zweiten und dritten Welt andere sind, wird durch die gemeinsame Ideologie marginalisiert.11 Die folgenden Indizien verdeutlichen allein auf einer quantitativen Ebene das historische Maß der aktuellen Bedrohung durch islamistischen Terrorismus, sowohl in der sog. ersten Welt, als auch in der sog. zweiten und dritten Welt. Die britische Polizeibehörde Scotland Yard nahm im Zeitraum Frühjahr 2015 bis 2017 durchschnittlich jeden Tag einen Tatverdächtigen im Bereich islamistischer Terrorismus fest, zeitweise ermittelte allein Scotland Yard in mehr als 500 terrorbezogenen Fällen gleichzeitig.12 Im Jahr 2016 erhielt die Antiterror-Hotline von Scotland Yard für sachdienliche Hinweise zur Prävention und Aufklärung terroristischer Straftaten 22.000 Anrufe, doppelt so viele wie im Jahr 2014.13 Nach eigenen Angaben konnte allein die Polizeibehörde Scotland Yard von 2013 bis zum dschihadistischen Anschlag am 22.03.2017 mindestens 13 dschihadistische Anschläge in Großbritannien verhindern.14 In Deutschland stellen die Verfassungsschutzbehörden im Hellfeld – die Dunkelziffer könnte deutlich höher liegen – die bisher größte Zahl an Salafisten fest und gehen mit Stand des Frühjahrs 2017 von über 10.000 Salafisten in Deutschland aus.15 Verbunden mit dieser historisch hohen Zahl von Salafisten ist die signifikant angestiegene Zahl von 1600 islamistisch-jihadistischen „Gefährdern“, bzw. Personen mit „islamstisch-terroristischem Potenzial“ in Deutschland, ebenfalls im Frühjahr 2017 von den deutschen Verfassungsschutzbehörden veröffentlicht.16

11Ebd. 12FAZ/Buchsteiner,

J. (2017): Terror in Großbritannien Ein schwarzer Tag für Londons „Antiterror-Chef“. 23.3.2017. Frankfurter Allgemeine Zeitung. http://www.faz.net/aktuell/ politik/ausland/antiterror-chef-mark-rowley-war-erfolgreich-bis-zu-dem-attentat-14939090. html; 31.10.2017. 13Ebd. 14Ebd. 15Die Welt/Stürmer, M. (2017): 10.000 Salafisten in Deutschland. Das ist ein Alarmzeichen. 01.04.2017. https://www.welt.de/debatte/kommentare/article163319198/10-000Salafisten-in-Deutschland-Das-ist-ein-Alarmzeichen.html. Zugegriffen: 01.11.2017. 16Bewarder, M./Flade, F. (2017): Terrorgefahr IS nimmt Deutschland noch stärker ins Visier. 08.03.2017. https://www.welt.de/politik/deutschland/article162687417/IS-nimmtDeutschland-noch-staerker-ins-Visier.html Zugegriffen: 01.11.2017.

Das Bedrohungspotenzial durch Islamismus …

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Das Ausmaß des Bedrohungspotenzials von mindestens 1600 islamistisch-jihadistischen „Gefährdern“ in Deutschland lässt sich besser verstehen, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Folgen der Anschlag der 15-jährigen Salafistin Safia S. – EINER Schülerin – am 26.2.2016 auf einen Bundespolizisten im Bahnhof Hannover hatte.17 In der sog. zweiten und dritten Welt wiederum kontrollierte die jihadistische Organisation „Islamischer Staat“ (IS) in den Jahren 2014 und 2015 ein Territorium von der Größe Großbritanniens und ist seit seiner Proklamierung eines zeitgenössischen Kalifats in mindestens neun Staaten signifikant vertreten, so in Syrien und im Irak, in Libyen, Afghanistan, Pakistan, Ägypten, Jemen, Saudi Arabien und in West Afrika.18 In Pakistan allein werden im Jahr 2017 über 33 verschiedene salafistisch-dschihadistische Organisationen gezählt.19 In Syrien kämpfen seit Sommer 2011 über Tausend salafistisch-dschihadistische Organisationen, Gruppen, Brigaden, Kampfgruppen und para-militärische Untereinheiten.20 Das Ausmaß der aktuellen Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus für die human security weltweit illustriert folgende Zahl: Alleine im Zeitraum von zehn Jahren, zwischen 2001 und 2011, wurden weltweit 250.000 Menschen in Konflikten und Kriegen getötet, die einen islamistisch-dschihadistischen ­Kontext hatten.21 Diese enorme Zahl getöteter Menschen ist mit kriegerischen Konflikten und Terrorismus im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika verbunden, die allesamt einen islamistisch-dschihadistischen Hintergrund haben. Ein weiteres Indiz für das historische Bedrohungsmaß, das aktuell von Islamismus und islamistischem Terrorismus ausgeht, ist die Tatsache, dass sich eine neue Generation von internationalen Dschihadisten gebildet hat. Die aktuellen internationalen Dschihadisten der Al Qaida sowie des „Islamischen Staates“ und sog. „Dschihad-Rückkehrer“ bzw. „Schläfer“ können als die vierte Generation von Jihadisten kategorisiert werden:

17Goertz

2017, Der neue Jihadismus und seine Basis, S. 298. J. (2015): The new threat from Islamic militancy. London, S. 19. 19South Asia Terrorism Portal (2017): Terrorist and Extremist Groups of Pakistan. http://www.satp.org/satporgtp/countries/pakistan/terroristoutfits/group_list.htm#. Zugegriffen: 1.11.2017. 20Goertz, S. (2017): Der Kleine Krieg in Syrien – eine Analyse der salafistischen Akteure. In: Österreichische Militärische Zeitschrift 5/2017, S. 644. 21Burke 2015, S. 502–505. 18Burke,

6

S. Goertz

• Zur ersten Generation von Dschihadisten werden sowohl die afghanischen als auch die internationalen Jihadisten im Kampf gegen die Sowjet-Truppen in Afghanistan gezählt.22 • Die zweite Generation von Dschihadisten kategorisiert die 20.000 bis 30.000 internationalen Jihadisten, die nach dem Abzug der Sowjet-Truppen in Afghanistan dort in training camps der Al Qaida ausgebildet wurden.23 • Als dritte Generation können diejenigen Dschihadisten des Bereiches homegrown bezeichnet werden, aufgewachsen und/oder geboren in westlichen, demokratischen Staaten, die vom sozialen Nahbereich islamistisch-salafistischer Milieus und/oder durch islamistisch-dschihadistische Inhalte des Internets radikalisiert wurden.24 • Die vierte Generation von Dschihadisten stammen von allen Kontinenten, sowohl aus der „westlichen, demokratischen Welt“, als auch aus Ländern der „zweiten und dritten Welt“ und nehmen aktiv oder unterstützend an dschihadistischen Operationen des Islamischen Staates, der Al Qaida oder weiterer Regionalableger der Al Qaida teil.25 All diese erwähnten Fakten und Zahlen verdeutlichen das historisch hohe Bedrohungspotenzial das augenblicklich weltweit von Islamismus und islamistischem Terrorismus ausgeht.

2 Aktuelle Hindergründe zum islamistischen und salafistischen Personenpotenzial in Deutschland und Europa Die Analyse des islamistischen bzw. salafistischen Milieus in Deutschland und Europa ergibt auf verschiedenen Ebenen alarmierende Ergebnisse. Quantitativ werden seit 2011 Jahr für Jahr neue Höchststände bei den Zahlen „islamistisches Personenpotential“ sowie islamistische „Gefährder“, sprich: Potenzielle

22Andersen,

U. (2011): Internationaler Terrorismus. Woyke, W. (Hrsg.). Handwörterbuch Internationale Politik. 12. Auflage. Opladen; Goertz 2017, Der neue Jihadismus und seine Basis, S. 299. 23Ebd. 24Ebd. 25Ebd.

Das Bedrohungspotenzial durch Islamismus …

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dschihadistische Attentäter, erreicht.26 Gemäß einer Studie des französischen Senats gingen die französischen Sicherheitsbehörden im Frühjahr 2017 von 17.400 islamistischen Gefährdern alleine in Frankreich aus, über 2000 französische Staatsbürger sind als Jihadisten nach Syrien bzw. in den Irak gereist, um sich jihadistischen Organisationen und Gruppen anzuschließen.27 Noch im Dezember 2016 wurde die Zahl islamistischer Gefährder von den französischen Sicherheitsbehörden mit mindestens 10.500 Menschen angegeben, wobei sich die Zahl der islamistischen Gefährder in Frankreich von 2012 bis 2016 verdoppelt hätte.28 Dass die Zahl allerdings von Dezember 2016 bis April 2017 von 10.500 auf 17.400 gestiegen sein soll, könnte auf eine zuvor von den französischen Sicherheitsbehörden zu niedrig angesetzte Zahl hinweisen.29 Eine sehr ähnliche Entwicklung ist auch im Falle Deutschlands zu beobachten. Wurde die Zahl der Salafisten im Jahr 2011 vom deutschen Verfassungsschutz noch mit 2500 angegeben, steht diese heute bei über 10.000, hat sich also vervierfacht.30 Die Gesamtzahl an im Hellfeld festgestellter Islamisten in Deutschland lag im Jahr 2016 bei mindestens 24.400, so der Verfassungsschutzbericht vom Juni 2017.31 Innerhalb des islamistischen Personenspektrums spricht der Verfassungsschutz für salafistische Milieu von einem ungebrochenen Zulauf, sodass davon auszugehen ist, dass die Zahl vom im Hellfeld festgestellter Salafisten in Deutschland in wenigen Monaten bis Jahren 12.000, 14.000, 15.000 erreichen wird. Gleichzeitig ist die Tendenz zu verzeichnen, dass immer mehr Personen aus dem Randbereich des Salafismus für dschihadistische Aktivitäten

26Goertz,

S. (2017): Ursprünge des Islamismus und die Verbindung zu aktuellen Konflikten. In: Die Polizei 11/2017. 27Express (2017): Threat to Britain? More than 17,000 terror suspects monitored in France in one Month. 14.04.2017. http://www.express.co.uk/news/world/792124/Britain-ISIS-threat-terror-suspects-terrorism-France-ferry; 31.10.2017. 28Deutschlandfunk (2016): „Gefährder“ in Frankreich. Politiker fordern Überwachung mit elektronischer Fußfessel. 28.12.2016. http://www.deutschlandfunk.de/gefaehrder-in-frankreich-politiker-fordern-ueberwachung-mit.795.de.html?dram:article_id=374974; 23.10.2017. 29Goertz, S. (2017): Ursprünge des Islamismus und die Verbindung zu aktuellen Konflikten. In: Die Polizei 11/2017. 30Frankfurter Allgemeine Zeitung (2011): Verfassungsschützer warnen Saudi-Arabien unterstützt Salafisten in Deutschland. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/verfassungsschuetzer-warnen-saudi-arabien-unterstuetzt-salafisten-in-deutschland-15732.html; 30.10.2017; Bundesamt für Verfassungsschutz 2017, Verfassungsschutzbericht 2016. 31Ebd.

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in Syrien und im Irak geworben werden. In diesem Zusammenhang ist auf den radikalisierenden Einfluss salafistischer Propaganda besonders hinzuweisen.32 Mit Stand vom 18.10.2017 sind mindestens 950 Salafisten von Deutschland aus in die Dschihad-Gebiete nach Syrien und in den Irak ausgereist.33 Ca. ein Drittel der in Richtung Syrien/Irak ausgereisten Personen befindet sich wieder in Deutschland.34 Angesichts des militärischen Vorgehens der internationalen Koalition gegen den IS ist perspektivisch mit mehr Rückkehrern zu rechnen. Dabei geht von zurückgekehrten Personen aus Dschihad-Gebieten ein nur schwer zu bewertendes Gefährdungspotenzial aus, weil ihre Fähigkeit, sich unauffällig in westlichen Staaten zu bewegen (z. B. durch ein westliches Aussehen, den legalen Besitz westlicher Reise-und Identitätsdokumente), sie aus Sicht islamistischer Organisationen dafür prädestiniert, Anschläge zu planen und durchzuführen.35 Ein besonderes Sicherheitsrisiko für die innere Sicherheit Deutschlands und anderer EU-Staaten stellen Personen dar, die während ihres Aufenthaltes in Syrien oder im Irak ideologisch indoktriniert, militärisch ausgebildet und in Kämpfen eingesetzt wurden.36 Vor dem Hintergrund der seit 2015 anhaltenden Flüchtlingskrise spricht der aktuelle Verfassungsschutzbericht davon, dass verschiedene geplante und durchgeführte islamistische Attentate der Jahre 2015 und 2016 in Europa (u. a. Paris, Würzburg, Ansbach, Berlin) gezeigt haben, dass die Flüchtlingsströme nach Europa auch von jihadistischen Organisationen genutzt werden, um (Selbstmord-)Attentäter nach Europa zu entsenden.37 Dabei ist Deutschland sowohl das Ziel von Menschen aus den Kriegs- und Krisengebieten des Nahen Ostens, Südasiens und Afrikas, als auch von Islamisten und Salafisten aus Nord-Afrika, die u. a. als sog. „falsche Syrer“, bzw. „falsche Iraker“ einreisen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz erhielt bis zum Juni 2017 Hinweise auf Jihadisten unter

32Ebd.,

S. 158.

33https://www.verfassungsschutz.de/de/arbeitsfelder/af-islamismus-und-islamistischer-

terrorismus/zahlen-und-fakten-islamismus/zuf-is-reisebewegungen-in-richtung-syrien-irak; 01.11.2017. 34Ebd. 35Bundesamt für Verfassungsschutz 2017, Verfassungsschutzbericht 2016, S. 171; Goertz, S. (2017): Ursprünge des Islamismus und die Verbindung zu aktuellen Konflikten. In: Die Polizei 11/2017. 36Ebd. 37Ebd., S. 172.

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Zuwanderern nach Deutschland im dreistelligen Bereich.38 Diese Zahl könnte aufgrund von unentdeckt eingereisten Personen (sog. „Schläfern“) jedoch deutlich höher liegen.

3 Eine Analyse möglicher Taktiken und Wirkmittel des islamistischen Terrorismus Dieses Kapitel analysiert mögliche Taktiken und mögliche Wirkmittel islamistisch-terroristischer Anschläge in Europa auf einer operativ-taktischen Ebene. Zwei wesentliche Ebenen von Szenarien sind hierbei zu identifizieren: Einerseits Großanschläge und multiple Szenarien von internationalen islamistisch-terroristischen Großorganisationen, sog. Hit-Teams und andererseits low level-Terrorismus durch islamistische Kleinstzellen oder islamistisch-terroristische Einzeltäter. Sowohl die Zahl als auch die Qualität der seit 2004 bzw. seit Januar 2015 durchgeführten und geplanten – aber von Sicherheitsbehörden vereitelten – islamistisch-terroristischen Anschläge in Europa und Deutschland haben ein historisches Ausmaß erreicht: • • • • • • • • • • • • • • •

11.03.2004: „Bahnhof“, Madrid 07.07.2005: „U-Bahn und Bus“, London 07.1.2015: „Charlie Hebdo“, in Paris 13.11.2015: Paris 14.02.2016: „Anschlag auf ein Kulturzentrum“, Kopenhagen 26.02.2016: „Safia S.“, Hauptbahnhof Hannover 22.03.2016: Brüssel 16.04.2016: Der Sikh-Tempel-Anschlag, Essen 26.06.2016: Der Anschlag in einer katholische Kirche in Saint-Étienne-duRouvray 14.07.2016: „Nizza, Lkw“ 18.07.2016: „Regionalbahn“, bei Würzburg 24.07.2016: „Ansbach“ 19.12.2016: „Anis Amri“, Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz, Berlin 22.03.2017: „Westminster Bridge und Parlament“, London 03.04.2017: „Metro-Anschlag“, St. Petersburg

38Ebd.

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• • • • • • • •

07.04.2017: „Lkw, Innenstadt von Stockholm“ 20.04.2017: „Anschlag auf den Champs-Élysées“, Paris 22.05.2017: „Popkonzert, Kinder“, Manchester 03.06.2017: „London-Bridge“, London 28.07.2017: „Messerangriff, Supermarkt“, Hamburg 17.08.2017: „Barcelona“ 01.10.2017: „Messer, Marseille“ 31.10.2017: Ein Anschlag mit „hochexplosivem Sprengstoff“ durch einen syrischen Flüchtling wurde durch einen Zugriff der GSG9 in Schwerin verhindert

Bei diesen islamistisch-terroristischen Anschlägen und Attentaten starben Hunderte Menschen und wurden über 1000 verwundet.39 Die Gefahr islamistisch-terroristischer Anschläge und Attentate in Deutschland und Europa ist vor dem Hintergrund der aktuellen, weltweiten Entwicklungen im Phänomenbereich des islamistischen Terrorismus anhaltend hoch.40 Nach Aussagen des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz erhalten die deutschen Verfassungsschutzbehörden seit 2016 täglich bis zu vier Hinweise auf mögliche islamistisch-terroristische Anschlagsplanungen in Deutschland.41 EUROPOL analysierte im Jahr 2016, dass der „Islamische Staat“ über „neue gefechtsartige Möglichkeiten“ verfügt, weltweit „eine Reihe groß angelegter Terroranschläge“ zu verüben, „insbesondere in Europa“.42 Darüber hinaus geht EUROPOL davon aus, dass alleine der IS mindestens 5000 Jihadisten – organisiert in Form von zahlreichen Schläferzellen und Kommandostrukturen – nach Europa einschleusen konnte.43 Der „European Union Terrorismus Situation and Trend Report 2016“ der EUROPOL nennt Zahlen von Festnahmen wegen (geplanter und/oder durchgeführter) islamistisch-terroristischer Straftaten: Von 122 Festnahmen im

39Goertz,

S. (2017): Islamistischer Terrorismus. Analyse – Definitionen – Taktik. Heidelberg, Kapitel IV. 40Im Folgenden vgl. Goertz, S. (2018): Eine Analyse der Taktik und Wirkmittel islamistisch-­ terroristischer Anschläge. In: SIAK-Journal 1/2018. 41https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/vortraege/rede-p-symposium-2016; 01.11.2017. 42EUROPOL (2016): 211 terrorist attacks carried out in EU Member States in 2015, new Europol report reveals 211-terrorist-attacks-carried-out-eu-member-states-2015. 43Ebd.

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Jahr 2011 stieg die Zahl 2012 auf 159, 2013 auf 216, 2014 auf 395 und 2015 auf 687, was ca. eine Versechsfachung darstellt.44 Das Bundesamt für Verfassungsschutz bewertete den dschihadistischen Angriff in einem Regionalzug bei Würzburg 18.07.2016 als „ersten Anschlag mit offizieller Bekennung seitens des IS in Deutschland. Die Tat als solche verdeutlicht die anhaltend hohe Gefährdungslage in Deutschland durch den islamistischen Terrorismus“.45 Die islamistisch-terroristischen Anschläge der Jahre 2015, 2016 und 2017 in Frankreich, Belgien, Dänemark, Schweden und Deutschland, die durch Zugriffe der GSG 9 in Flüchtlingseinrichtungen in Schleswig-Holstein am 13.09.2016 verhinderten Anschläge, die verhinderten Anschläge auf Berliner Flughäfen durch die Festnahme des Syrers Jabr Al Bakr am 10.10.2016 in Leipzig sowie der durch einen Zugriff der GSG9 am 31.10.2017 verhinderte Sprengstoffanschlag des syrischen Flüchtlings Yamen A. zeigen, dass der islamistische Terrorismus, sowohl der homegrown-Terrorismus als auch der internationale Terrorismus zu den wesentlichen, vitalen sicherheitspolitischen Bedrohungen Europas und Deutschlands gehört.

3.1 Großanschläge von internationalen dschihadistischen Großorganisationen Aktuell geht von der Bedrohung von internationalen islamistisch-terroristischen Organisationen für Deutschland und Europa einerseits das taktische Szenario von Großanschlägen und multiplen Szenarien aus. Diese von internationalen islamistisch-terroristischen Organisationen wie dem Islamischen Staat und der Al Qaida sind im top-down Prinzip geplante und durchgeführte Anschläge (sog. „Mumbai/ Paris/Brüssel-style“ Anschläge). Durchgeführt werden diese Großanschläge von Hit-Teams – mit/ohne (para-) militärischer Ausbildung – und führen sowohl durch Simultanität als auch durch zeitversetzte Angriffe die Sicherheitsbehörden und Rettungsdienste westlicher Staaten an ihre Grenzen.46 Bei Großanschlägen wie am 13.11.2015 in Paris bewiesen die islamistisch-terroristischen Attentäter Infanteriefähigkeiten und -ausstattung (Sturmgewehre),

44https://www.europol.europa.eu/content/european-union-terrorism-situation-and-trend-report-te-sat-2016; 01.11.2017. 45Bundesamt für Verfassungsschutz (2016): BfV-Schlaglicht, 8/2016. 46Goertz 2017 Islamistischer Terrorismus, S. 86–88.

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so führten sie zwischen 600–1000 Schuss Munition pro Mann mit. Dadurch befinden sich die meisten deutschen und europäischen polizeilichen Einsatzkräfte materiell (Wirkmittel und Feuerkraft) und immateriell (Ausbildung) im taktischen Nachteil.47 Auch das Beispiel des versuchten Zugriffs der französischen Spezialeinheit RAID (Recherche, Assistance, Intervention, Dissusion = Suche, Unterstützung, Intervention, Abschreckung) der französischen Nationalpolizei auf zwei für den 13.11.2015 verantwortliche islamistische Terroristen am 17.11.2015 zeigte und verdeutlichte den Gefechtswert und die Fähigkeiten im Orts- und Häuserkampf der beiden Attentäter. Diese reagierten mit dem Einsatz von Schusswaffen und nutzten eine Sprengstoffweste, um sich selbst und Mitglieder der RAID zu töten und sich damit dem Zugriff zu entziehen. Der Einsatz der RAID zum Zugriff auf die beiden islamistisch-terroristischen Attentäter begann um 04:30 Uhr morgens, dauerte sieben Stunden und die RAID gab dabei 5000 Schuss Munition ab.48 Dieser Fall verdeutlicht eindringlich das Niveau und den Gefechtswert im Orts- und Häuserkampf, über das zahlreiche Mitglieder islamistisch-terroristischer Organisationen wie dem IS, der Al Qaida oder der Jabhat Fatah Al Sham (früher Jabhat Al Nusra) verfügen. Wie oben bereits erwähnt, schreibt EUROPOL dem IS zu, dass er über „neue gefechtsartige Möglichkeiten“ verfügt, in Europa „eine Reihe groß angelegter Terroranschläge“ zu verüben und dass alleine der IS mindestens 5000 – in Syrien und im Irak kampferprobte – Jihadisten nach Europa einschleusen konnte.

3.2 Anschläge von islamistisch-terroristischen Einzeltätern Das Bundesamt für Verfassungsschutz thematisierte islamistische Einzeltäter (lone wolves) in einem kurzen Newsletter erstmals im Juli 2013 wie folgt: Neben Gruppen und Netzwerken mit engen Verbindungen zu „jihadistischen“ Organisationen im Ausland rücken vermehrt Einzeltäter (sogenannte „lone wol-

47Goertz,

S./Maninger, S. (2016): Der Islamische Staat als Bedrohung für Europa. In: Polizei und Wissenschaft, Ausgabe 3/2016, S. 29–43. 48http://www.zdf.de/auslandsjournal/frankreichs-anti-terror-einheit-raid-auslandsjournalvom-25.-november-2015-41139620.html; 01.11.2017.

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ves“) und weitgehend autonome Kleinstgruppen in den Fokus. Oftmals handelt es sich um „homegrown“-Terroristen, Personen, die in Europa aufgewachsen und sozialisiert wurden. Sie haben sich oftmals durch das Internet radikalisiert .49 Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg wiederum erwähnte islamistische lone wolves/Einzeltäter bereits im Verfassungsschutzbericht 2011: Am 2. März 2011 kam es zum ersten islamistisch motivierten Anschlag mit Todesopfern in Deutschland. Dieser Anschlag verdeutlicht die Gefahr, die von Einzeltätern ausgehen kann: Die sogenannten „lone wolves“ radikalisieren sich vor allem in virtuellen Netzwerken und durch deren Inhalte.50 Diese beiden Zitate repräsentieren den Querschnitt der von deutschen Verfassungsschutzbehörden seit 2011 veröffentlichten „Analysen“ zum Phänomenbereich islamistische Einzeltäter (lone wolves) und verdeutlichen, dass eine umfassende, offizielle Definition bzw. Typologie vonseiten der Verfassungsschutzbehörden fehlt.51

3.3 Mögliche Anschlagsziele, Wirkmittel und Methoden Bei islamistisch-terroristischen Anschlägen und Attentaten sind erhebliche qualitative Unterschiede in Bezug auf die operativ-taktische Planung und Durchführung, das know how der Attentäter und deren logistischen Mittel festzustellen. So unterscheiden sich Großanschläge, multiple Szenarien von Hit-Teams, Kleinstzellen von Attentätern – die womöglich para-militärische Ausbildung und/ oder Kampferfahrung haben, Sprengstoff, automatische Waffen nutzen, etc. – hinsichtlich ihrer zu erwartenden Schädigungswirkung stark von Anschlägen oder Attentaten islamistischer Einzeltätern, die beispielsweise eine Axt oder ein Messer nutzen. Die zweite Kategorie wird auch als low level Terrorismus bezeichnet.52 Die Analyse der EUROPOL „Changes in modus operandi of Islamic State terrorist attacks“ legt sich darauf fest, dass islamistisch-terroristische Akteure wie

49Bundesamt

für Verfassungsschutz (2013): BfV-Newsletter Nr. 1/2013, Thema 6. für Inneres, Digitalisierung und Migration des Landes Baden-Württemberg (2012). Verfassungsschutzbericht 2011. 51Goertz 2017, S. 88–93. 52Ebd., S. 90–92. 50Ministerium

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der IS oder Al Qaida augenblicklich in der Auswahl ihrer Anschlagsziele nach der terroristischen Logik „Angst und Schrecken zu verbreiten“ priorisieren: „soft targets“, „weiche Ziele“, also die Zivilbevölkerung, öffentlichkeitswirksam und repräsentativ als Ziel von terroristischen Anschlägen und Attentaten ist die augenblickliche Priorität Nummer eins.53 a) Mögliche Anschlagsziele – Flughäfen und Bahnhöfe, öffentliche Verkehrsmittel im Allgemeinen, Fähren, Schiffe, Tanker. – Große Menschenmengen im Rahmen von Fußballspielen, Konzerten, Weihnachtsmärkten, Großereignissen (events). – Öffentliche Einrichtungen von symbolischem Charakter (Kirchen, Synagogen, Kindergärten, Schulen, Universitäten). – Kritische Infrastrukturen mit hoher Bedeutung für die Zivilbevölkerung (Krankenhäuser, Stromversorgung, Wasser etc.). – Politik, Ministerien, Behörden.54 b) Mögliche Modi Operandi – Sprengstoffanschlag, – Selbstmordattentäter, – Simultananschläge, – Zeitlich versetzte Anschläge (Doppel, Tripel, etc.), – Anschlag mit einem Fahrzeug, mehreren Fahrzeugen, – Sprengfallen, – Geiselnahme als ein Teil des Szenarios.55 Zu den Modi Operandi muss hier festgestellt werden, dass sich das qualitative Niveau islamistisch-terroristischer Anschläge seit dem 11.09.2001 stark diversifiziert hat und das islamistisch-terroristische Know How in den Bereichen Ortsund Häuserkampf, langfristige Anschlagsplanung durch Ausspähung von Zielen und Tatmittelbeschaffung, Beschaffen bzw. Herstellen von Sprengstoffen und Waffen drastisch angestiegen ist. Geografische Schwerpunkte von islamistisch-terroristischen Anschlägen sind innerhalb Europas die Hauptstädte Paris, London, Berlin und andere, in Bezug auf die Europäische Union Brüssel und

53https://www.europol.europa.eu/content/changes-modus-operandi-islamic-state-terrorist-attacks; 01.11.2017. 54Goertz 2017, S. 90–92. 55Ebd.

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Straßburg, innerhalb Deutschlands zum Beispiel Berlin, Hamburg, München, das Rhein-Main-Gebiet und das Gebiet Köln/Bonn u. a.56 c) Wirkmittel und Methoden – Sprengstoff (Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung, USBV oder industrieller Sprengstoff), USBV in Koffern, Rucksäcken etc. – Sprengstoffwesten/-gürtel – Selbstlaborate (Aluminiumpulver, Kaliumpermanganat etc.) – USBV mit Nägeln, Schrauben, Muttern, Splittern versetzt, um einen möglichst hohen und drastischen Personenschaden zu erzielen – Gasflaschen – Vollautomatische und halbautomatische Schusswaffen, Gewehre, Pistolen – Handgranaten – Hieb- und Stichwaffen – Äxte, Schwerter – Messer – Fahrzeuge, gehärtete („gepanzerte“) Fahrzeuge – Steine, schwere Gegenstände (von Brücken, aus Gebäuden werfen etc.) – Biologische und chemische Waffen – Gift (z. B. Rattengift in nicht abgepackte Lebensmittel wie Obst, Gemüse und Fleisch mischen) – Giftstoffe in geschlossene Räume in Lüftungen und Klimaanlagen einbringen – Reizgas Zusammengefasst: Alle vorstellbaren Mittel und Gegenstände, die kinetische, vergiftende oder anderweitig schädigende Wirkung auf Menschen haben (können).57 Bis zu den islamistisch-terroristischen Anschlägen am 13.11.2015 wurden keine Sprengstoffwesten von Selbstmordattentätern auf europäischem Gebiet als terroristisches Mittel genutzt, seither jedoch in zahlreichen Fällen, sodass die European Counter Terrorism Group (ECTG) von Selbstmordattentaten mithilfe von Sprengstoffwesten als „möglichem Tatmittel der Zukunft“ spricht.58 In Kombination mit Sprengsätzen in Fahrzeugen oder Behältnissen (z. B. ­Rucksäcke, Koffer wie im Fall der Brüsseler Anschläge auf den Flughafen und

56Ebd. 57Ebd. 58https://www.europol.europa.eu/content/changes-modus-operandi-islamic-state-terrorist-attacks; 01.11.2017.

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eine U-Bahn-Station bei der Europäischen Union) stellen Selbstmordattentate dabei ein taktisches Mittel für Simultananschläge oder zeitlich versetzte Doppelanschläge (Die Explosion des first hit soll möglichst viele Verwundete schaffen, sodass die alarmierten Rettungskräfte und Polizeieinheiten dann Ziele für den second hit sind, mit dem die zivilen Rettungskräfte und/oder Schaulustige getroffen werden sollen) dar, das für europäische Sicherheitskräfte augenblicklich zu den anspruchsvollsten und problematischsten Szenarien gehört. Weitere Modi Operandi und Szenarien können von AMOK-Lagen abgeleitet werden: Aus der Deckung heraus schießende Heckenschützen, Sprengfallen und versetzte Zeitzünder in öffentliche Einrichtungen von symbolischem Charakter (Gottesdienst, Schulunterricht, Vorlesungen an Universitäten, politische Veranstaltung).59

4  Worst case-Szenarien von dschihadistischen Anschlägen Bereits die – beinahe gleichzeitigen – islamistisch-terroristischen Anschläge auf die US-Botschaften in Nairobi, Kenia, und Daressalam, Tansania am 07.08.1998 – mit 257 t und über 5000 Verletzten –, der islamistisch-terroristische Anschlag auf das US-Kriegsschiff USS Cole im jemenitischen Hafen von Aden am 12.10.2000 – ein mit Sprengstoff beladenes Schlauchboot riss ein metergroßes Loch in den Rumpf des Schiffs, 17 US-Soldaten wurden getötet – sowie die islamistisch-terroristischen Anschläge mit Flugzeugen in den USA am 11.09.2001 zeigen, dass die (US-­ amerikanischen) Sicherheitsbehörden solche worst case nicht vorausgedacht bzw. vorhergesehen haben.60 Um ein Vorausdenken bzw. Vorhersehen von worst case-Szenarien islamistisch-terroristischer Angriffe, Anschläge und Attentate geht es in diesem Beitrag. In Bezug auf die Verfügbarkeit von Wirkmitteln für Terroristen und Verwundbarkeit von Anschlagszielen werden hier high profile Anschlagsziele wie Flugzeuge, Atomkraftwerke und Gebäude von Staatsorganen bewusst ausgespart, weil die Anschlagswahrscheinlichkeit bei 1) Schiffen/Fähren/Tankern und 2) Kindergärten und Schulen erheblich höher als bei high profile Anschlagszielen ist.61

59Goertz

2017, S. 90–92. (2018): Eine Analyse der Taktik und Wirkmittel islamistisch-terroristischer Anschläge; Goertz, S. (2017): Mögliche islamistisch-terroristische Angriffs- bzw. Anschlagsziele. In: Kriminalistik 12/2017, S. 723–727. 61Im Folgenden vgl. ebd. 60Goertz

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4.1 Dschihadistische Angriffe bzw. Anschläge auf Schiffe, Fähren und Tanker Mögliche Angriffe bzw. Anschläge auf Schiffe, Fähren und Tanker könnten neue Szenarien von islamistisch-terroristischen Großorganisationen, aber auch von islamistischen Einzeltätern darstellen. Bisher ist die deutsche und europäische zivile Schifffahrt bekannt für nicht vorhandene bzw. mehr als laxe Sicherheitskontrollen vor dem boarding-Prozess. Schiffe, Fähren und Tanker eignen sich u. a. deswegen sehr für ein islamistisch-terroristisches Kidnapping, weil sie – anders als Züge – technisch sehr autonom sind, vor allem auf einem großen See oder im offenen Meer. Damit verbunden ist eine hohe operativ-taktische Eignung zum Einwirken mit Waffen auf sich nähernde polizeiliche Spezialkräfte.62 Schiffe und Fähren sind innerhalb Europas, vor allem auch in Deutschland ein jeden Tag hundert- bis tausendfach genutztes Mittel des Transports von Passagieren, häufig von Urlaubern und/oder Pendlern, aber auch von Gütern. Gefahrgut wie Chemikalien etc. auf Tankern auf Flüssen wie dem Rhein, der Donau, der Elbe etc. wären ein lohnenswertes Ziel für Terroristen. Folgende Binnenschifffahrt und Meeresschifffahrt ist in Europa und Deutschland mindestens aufzuführen: • Flussschifffahrt auf großen Flüssen wie dem Rhein, der Donau, dem Main, der Elbe, der Spree, sowie auf zahlreichen weiteren kleineren Flüssen – Auf Flüssen am Rand von oder in Städten wie im Fall des Rheins in Köln, der Elbe in Hamburg und der Spree in Berlin, würde eine Detonation durch eine USBV auf einem Schiff in unmittelbarer Nähe zu einem symbolischen Gebäude – auf der Spree vor dem Bundestag, dem Gebäude des Bundesinnenministerium etc. – weltweites mediales Interesse erzeugen und damit dem politischen Ziel (islamistischer) Terroristen entsprechen • Bodensee (mit Grenzen zu Österreich und der Schweiz, sicherheitspolitisch komplizierter durch die Beteiligung zahlreicher verschiedener Sicherheitsbehörden, Problem: Kommunikation, unterschiedliche Rechtsgrundlagen, unterschiedliche Ausbildungs- und Ausrüstungszustände der Sicherheitsbehörden) • Mittelgroße und kleinere Seen wie z. B. der Starnberger See, Ammersee, Chiemsee, die Mecklenburger Seenplatte u. a.

62Ebd.

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• Die Nordsee-Schifffahrt, u. a. zu den Inseln Borkum, Juist, Norderney, Langeoog, Spiekeroog, Wangeroge, Helgoland, Pellworm, Amrum, Föhr, Sylt • Die Ostsee-Schifffahrt, u. a. von Kiel nach Dänemark, Schweden, von Lübeck-Travemünde nach Schweden, nach Liepaja, Lettland, nach Klaipeda, Litauen, von Rostock nach Dänemark und Schweden und von Rügen nach Litauen.63 a) Angriffe auf die Außenwand von Schiffen, Fähren und Tankern Angriffe mit einem Schlauchboot und USBV und/oder Sprengstoffgürtel auf die Außenwand von Schiffen, Fähren und Tankern, entweder im Hafen oder im Prozess des Ablegens, bzw. auch später bei geringem Abstand zum Ufer (z. B. in der Kieler Förde und ab Lübeck-Travemünde in Richtung Schweden etc.). Für dieses Szenario müssten die Terroristen das Schiff, die Fähre nicht boarden. Der islamistisch-terroristische Anschlag auf das US-Kriegsschiff USS Cole im jemenitischen Hafen Aden am 12.10.2000, bei dem ein mit Sprengstoff beladenes Schlauchboot ein metergroßes Loch in den Rumpf des Schiffs riss, ist ein historisches Beispiel hierfür. Neben Schlauchbooten würden größere Boote oder gar Schiffe – benutzt als Rammbock und Transportmittel für größere Mengen an Sprengstoff entsprechend größeren Schaden verursachen. Je kleiner bzw. leichter gebaut das anvisierte Schiff, die Fähre, der Tanker, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das anvisierte Ziel leckt und/oder sinkt. Besonders Tanker, beladen mit Gefahrgut, könnten ein strategisch wertvolles Angriffsziel für islamistische Terroristen darstellen, weil der erzielte Schaden – Verbreitung giftiger Chemikalien oder Öl in Flüssen, Seen, Meeren – erhebliche Langzeitwirkungen hätte.64 b) Anschläge mit IED und/oder Sprengstoffgürteln Sowohl Hit Teams von jihadistischen Großorganisationen als auch Kleinstzellen und/oder islamistische Einzeltäter die das Schiff als Passagiere mit Improvised Explosive Devices (IED) als „Urlaubsgepäck“ getarnt geboardet haben können IED als Wirkmittel nutzen. Parallel dazu könnten als „Urlaubsgepäck“ getarnte IED, auch ohne Terroristen als Passagiere an Bord gebracht werden. Fähren mit Decks für Fahrzeuge wie PKW und LKW ermöglichen das Einschmuggeln von IED in erheblichen Größen: Z. B. zwei bis drei Koffer mit Selbstlaboraten, versetzt mit Schrauben und Muttern für eine Schrapnellwirkung im Kofferraum

63Ebd. 64Ebd.

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eines oder mehrerer PKW und Dutzende bis Hunderte IED in Koffern oder ein ganzer Container als IED in LKW. Darüber hinaus können sowohl terroristische Hit Teams als auch Kleinstzellen und/oder islamistische Einzeltäter IED in Rücksäcken, Koffern oder in Form von Sprengstoffgürteln zünden und damit einerseits zahlreiche Passagiere, die Besatzung (z. B. ein Sprengstoffanschlag auf der Brücke, sprich: in der Kommandozentrale von Schiffern, Fähren und Tankern) und auch zur Hilfe gerufene Spezialeinheiten und Polizei töten und/oder verletzen.65 c) Multiple terroristische Szenarien Im Rahmen zahlreicher, möglicher, multipler Szenarien könnten Terroristen – ausgerüstet mit Messern, Macheten, Pistolen, Gewehren und/oder IED; im Fall der entführten Flugzeuge am 11.9.2001 hatten bereits Teppichmesser für ein Überwältigen der Crews ausgereicht! – Passagiere als Geiseln nehmen. Innerhalb verschiedener Szenarien von Geiselnahmen könnten die Sicherheitsbehörden – aufgrund mangelnder Kommunikation – falsch davon ausgehen, dass es sich um ein „normales Geiselszenario“ und nicht um eine terroristische Geiselnahme handelt, bei der das Ziel kein Austausch von Geiseln gegen Geld oder politische Forderungen sondern letztlich um die öffentlichkeitswirksame Ermordung von Geiseln handelt. Beispiele für die im Sinne der terroristischen Logik öffentlichkeitswirksame Ermordung von Geiseln sind die Anschläge im Mumbai – 174 Tote und 239 Verletzte – und in Paris am 13.11.2015, im Bataclan.66 d) Terroristisches Massaker statt Geiselnahme Im Bataclan-Theater am Boulevard Voltaire 50 gab die US-amerikanische Rockband Eagles of Death Metal am 13.11.2015 abends ein Konzert vor etwa 1500 Konzertbesuchern. Gegen 21:50 Uhr stiegen Amimour, Mostefaï und Aggad vor dem Theater aus einem Fahrzeug und drangen durch die Bar und den Merchandisingstand in das Gebäude ein.67 Die islamistischen Terroristen schossen zunächst circa zehn Minuten lang mit Kalaschnikows in das Publikum und warfen Handgranaten in die Menge. Schon zu Beginn des Anschlags gab es

65Ebd. 66Goertz

(2018): Eine Analyse der Taktik und Wirkmittel islamistisch-terroristischer Anschläge; Goertz, S. (2017): Mögliche islamistisch-terroristische Angriffs- bzw. Anschlagsziele. In: Kriminalistik 12/2017, S. 723–727. 67Ebd., The New York Times (2015): Three Hours of Terror in Paris, Moment by Moment. In: The New York Times, 15.11.2015.

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viele Todesopfer und teilweise schwer Verletzte, insgesamt wurden im BataclanTheater 90 Menschen ermordet.68 Die Besucher versuchten, sich in den Räumen der Halle und auf den Balkonen zu verstecken, manche konnten ins Freie flüchten. Zwei gegen 22:15 Uhr eingetroffene Polizisten der Brigade Anti-Criminalité gelang es, Aggad zu erschießen.69 Daraufhin begaben sich die beiden Attentäter Amimour und Mostefaï auf die oberen Ränge des Bataclan, wo sie Geiseln nahmen und sich verbarrikadierten. Die Spezialkräfte der Polizei suchten die Räume ab und befreiten nach und nach die Gäste. Ein Unterhändler der Polizei versuchte vergeblich, mit den Attentätern zu verhandeln.70 Beim Zugriff der Polizeikräfte gegen 0:20 Uhr töteten sich die beiden Terroristen durch Auslösen ihrer Sprengstoffwesten. Erst gegen 0:50 Uhr, also drei Stunden später, war der islamistischterroristische Anschlag beendet.71 e) Die Brücke und Schotts als entscheidende Elemente Sollten die (islamistischen) Terroristen es schaffen, die Brücke des Schiffs, der Fähre, des Tankers zu stürmen und zu kontrollieren – die Crews sind gar nicht oder kaum bewaffnet und nicht oder geringfügig in Selbstverteidigung ausgebildet – würden die Terroristen auch die Schotts des Schiffes/der Fähre kontrollieren. Damit würde ein Vordringen von polizeilichen Spezialeinheiten zunächst verhindert bzw. zeitlich verzögert. Wer die Brücke und dadurch die Schotts des Schiffes kontrolliert – entweder die Terroristen oder die Crew und polizeiliche Spezialeinheiten – hat einen entscheidenden taktischen Vorteil in Bezug auf die Kontrolle des Schiffs. Die Kontrolle über Schotts und verschiedene Decks des Schiffs hat erheblichen Einfluss auf die Bewegungsmöglichkeit innerhalb des Schiffs und damit darauf, wie lange die Terroristen das Schiff kontrollieren und in der Zwischenzeit Passagiere und/oder Mitglieder der Crew töten und/oder verletzten können.72

68Ebd.,

Süddeutsche Zeitung (2015): Was Freitagnacht in Paris geschah. In: Süddeutsche Zeitung. 14.11.2015. 69Spiegel Online (2015). Die zwei Helden vom Bataclan. In: Spiegel Online. 17.11.2015. 70Welt online (2015). Wie die Spezialeinheit den Spuk im Bataclan beendete. In: Die Welt online, 19.11.2015. 71The New York Times (2015b) ‚Scene of Carnage‘ Inside Sold-Out Paris Concert Hall. In: The New York Times, 13.11.2015. 72Goertz (2018): Eine Analyse der Taktik und Wirkmittel islamistisch-terroristischer Anschläge; Goertz, S. (2017): Mögliche islamistisch-terroristische Angriffs- bzw. Anschlagsziele. In: Kriminalistik 12/2017, S. 723–727.

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f) Einsatz polizeilicher Spezialeinheiten Gelingt es der dem Kapitän des Schiffs, der Fähre, des Tankers bzw. seiner Crew die Sicherheitsbehörden zu alarmieren – z. B. durch einen silent alarm, per Telefonat, Funkspruch und/oder von Passagieren mit Mobiltelefonen – würden deutsche und internationale (Grenzgebiet Österreich, Schweiz, Niederlande, Dänemark, Schweden, baltische Staaten) polizeiliche Spezialeinheiten (Einsatzkommando Cobra, GSG9, SEK der Bundesländer) eingesetzt werden. Als zu identifizierender kritischer Punkt ist hierbei der Zeitansatz zwischen Alarmierung und taktischer Reaktion von polizeilichen Spezialeinheiten. Das obige Beispiel des islamistisch-terroristischen Massakers im Pariser Theater Bataclan illustriert, dass jede Minute, in der Terroristen ungehindert mit Waffen auf wehrlose – oder sich wehrende – Menschen einwirken können, die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass zahlreiche Menschen ermordet bzw. schwer verletzt werden.73 g) USBV um das Schiff/die Fähre/den Tanker zu versenken Islamistische Terroristen können taktisch-operativ darauf abzielen, das Schiff/die Fähre/den Tanker durch die Explosion einer USBV an Bord eines Schiffes/einer Fähre/eines Tankers, z. B. in einem der unteren Decks, sodass schnell viel Wasser ins Schiff/die Fähre eindringt, zum Sinken zu bringen.74 h) Einsatz von Videoaufzeichnungen und Medien als Transporteur terroristischer Gewalt Nach dem Prinzip terroristischer Logik „Angst und Schrecken in der Zivilbevölkerung“ zu verbreiten ist der Einsatz von Videoaufzeichnungen mit/ohne Ton, indem verängstigte, schreiende, verletzte, sterbende Menschen gezeigt werden, z. B. auf einer jihadistischen Website mit technischen Möglichkeiten des Streamings.75

4.2 Dschihadistische Angriffe bzw. Anschläge auf Kindergärten und Schulen Kindergärten und Schulen sind von der islamistisch-terroristischen Anschlagslogik keineswegs ausgeschlossen, wie die zahlreichen Anschläge von islamistischen

73Ebd. 74Ebd. 75Ebd.

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Terroristen auf israelische Schulbusse beweisen.76 Nach der terroristischen Logik Angst und Schrecken zu verbreiten stellen Kinder für Terroristen ein besonders lohnenswertes Ziel dar. Der islamistische Anschlag des 23 Jahre alten Selbstmordattentäters Salman Abedi auf ein Popkonzert des US-amerikanischen Sängerin Ariana Grande – deren Fans Kinder und Jugendliche sind – am 22.05.2017 in der Manchester Arena verdeutlicht, dass die islamistisch-terroristische Logik Kinder und Jugendliche keineswegs ausschließt. Der islamistisch-terroristische Anschlag auf dieses Konzert war der schwerste in Großbritannien seit den Anschlägen in London, im Juli 2005. Das Konzert hatten ca. 20.000 überwiegend Jugendliche und Kinder besucht.77 Die britische Premierministerin Theresa May erklärte, der Angreifer habe mit „kaltem Kalkül auf Kinder gezielt“.78 Durch den islamistisch-terroristischen Anschlag starben 23 Menschen, 116 Verletzte wurden in Krankenhäusern behandelt, von den 23 getöteten Menschen waren zwölf jünger als 16 Jahre alt, das jüngste bei dem Anschlag getötete Kind war acht Jahre alt.79 Von den 116 Verletzten waren 63 schwerer bis lebensbedrohlich verletzt und benötigten nach Angaben von beteiligten Ärzten „lebensrettende Operationen“ aufgrund von „life-changing injuries and will need care for years to come“, sprich lebensverändernde Verletzungen mit Folgen wie Amputationen, die jahrelange medizinische Versorgung notwendig machen.80 a) Mögliche operativ-taktische Angriffs- und Anschlagsszenarien Islamistisch-terroristische Anschläge bzw. Angriffe auf Kindergärten und Schulen können sich ganz unterschiedlicher Taktiken und Wirkmittel bedienen. Durch die besondere Verwundbarkeit der in der Regel gar nicht gesicherten Einrichtungen Kindergärten und Schulen ist kinetisches Einwirkungen, um zu verletzen oder

76https://www.haaretz.com/teen-wounded-in-hamas-strike-on-school-bus-dies-1.356519;

01.11.2017. 77http://news.sky.com/story/manchester-arena-explosion-what-we-know-so-far-10889593;

01.11.2017. 78Ebd. 79http://www.spiegel.de/politik/ausland/manchester-was-wir-ueber-den-mutmasslichen-anschlag-wissen-und-was-nicht-a-1148867.html; 01.11.2017. 80http://www.mirror.co.uk/news/uk-news/more-half-manchester-terror-attack-10512019; 01.11.2017; Goertz (2018): Eine Analyse der Taktik und Wirkmittel islamistisch-terroristischer Anschläge; Goertz, S. (2017): Mögliche islamistisch-terroristische Angriffs- bzw. Anschlagsziele. In: Kriminalistik 12/2017, S. 723–727.

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zu töten bei Kindern problematischerweise besonders einfach für Terroristen. AMOK-Szenarien wie der Amoklauf des 17-jährigen Tim Kretschmer am 11.03.2009 in der Albertville-Realschule in Winnenden, rund 20 km nordöstlich von Stuttgart – bei dem 15 Schüler und Lehrer getötet und elf weitere, einige von ihnen schwer verletzte, sind auch mit islamistisch-terroristischem Hintergrund vorstellbar.81 Auch die beiden Anschläge des rechtsextremistischen Terroristen Anders Breivik in Norwegen am 22.07.2011 gegen norwegische Regierungsmitarbeiter in Oslo und gegen Jugendliche in einem Feriencamp auf der norwegischen Insel Utøya, denen insgesamt 77 Menschen zum Opfer fielen, verdeutlicht das Bedrohungspotenzial, das von einzelnen – bzw. potenziert durch mehrere – Attentätern für Kinder und Jugendliche ausgehen kann. Das mit einer Selbstladebüchse Ruger Mini-14 verübte Massaker im Feriencamp auf der Insel Utøya dauerte ca. 90 min, dass Sicherheitskräfte es stoppen konnten.82 b) Anschläge mit USBV und/oder Sprengstoffgürteln Anschläge mit USBV und/oder Sprengstoffgürteln können aus baulichen Gründen in Kindergarten und Schulen, u. a. auch in Sporthallen besonders viele Kinder und Jugendliche zur gleichen Zeit verletzen bzw. töten. Auch die besonderen körperlichen Voraussetzungen von Kindern – u. a. erliegen sie schneller einem Blutverlust als Erwachsene – sind in diese Szenarien einzubeziehen. Das Ausmaß an getöteten und verletzten Kindern des islamistischen Anschlags des 23 Jahre alten Selbstmordattentäters Salman Abedi auf das Popkonzert am 22.05.2017 in der Manchester Arena verdeutlicht aus medizinischer Sicht die besondere Verwundbarkeit von Kindern und Jugendlichen. Durch diesen Anschlag starben 23 Menschen, von den 23 getöteten Menschen waren zwölf jünger als 16 Jahre alt, das jüngste bei dem Anschlag getötete Kind war acht Jahre alt, 116 – teilweise schwer – Verletzte wurden in Krankenhäusern behandelt (Spiegel online 2017). Ein Anschlag mit einem USBV in einem Rucksack, Koffer etc. ist hier

81https://www.polizei-bw.de/Presse/pm2008/Seiten/prim_amok.aspx;

01.11.2017; Goertz (2018): Eine Analyse der Taktik und Wirkmittel islamistisch-terroristischer Anschläge; Goertz, S. (2017): Mögliche islamistisch-terroristische Angriffs- bzw. Anschlagsziele. In: Kriminalistik 12/2017, S. 723–727. 82http://www.spiegel.de/panorama/justiz/massenmord-in-norwegen-attentaeter-begruendet-bluttat-mit-krudem-menschenhass-a-776272.html; 01.11.2017.

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ebenso denkbar, wie ein Hit-Team, das mit Sprengstoffgürteln einen Kindergarten oder eine Schule stürmt.83 c) Multiple terroristische Szenarien Wie in anderen islamistisch-terroristischen Szenarien sind hier verschiedene Taktiken und Wirkmittel denkbar, sowohl für islamistische Hit-Teams, als auch für islamistische Einzeltäter. AMOK-Lagen, Geisellagen und terroristische Massaker statt Geisellagen, die aber womöglich anfänglich so auf die Lehrer und Sicherheitskräfte wirken und diese zu falschen taktischen Reaktionen veranlassen, sind hier möglich.84 d) Terroristisches Massaker statt Geiselnahme Besonders einem Szenariorahmen wie bei einem Kindergarten oder einer Schule würden Polizei und polizeiliche Spezialkräfte womöglich zuerst von einer Geiselnahme ausgehen – falls keine ausführliche Meldung durch das Sekretariat oder einzelne Lehrer über die Täter und einen möglichen islamistisch-terroristischen Hintergrund erfolgt. Die oben aufgezählten AMOK-Fälle „Winnenden“ und „Breivik“ und das Szenario „Bataclan“ am 13.11.2015 in Paris verdeutlichen die dramatischen Konsequenzen für die Opfer solcher Szenarien.85

4.3 Weitere Szenarien von islamistisch-terroristischen Anschlägen • Das worst-case-Szenario wäre der islamistisch-terroristische Absturz in ein Atomkraftwerk, wobei nach den ähnlichen Anschlägen des 11.09.2001 diverse Sicherheitsmaßnahmen (sky marshals bzw. air marshals bzw. Flugsicherheitsbegleiter) zur Vermeidung eines solchen Szenarios getroffen wurden. Daneben sind Atomkraftwerke in der Regel gut gegen terroristische Anschläge geschützt.86

83Goertz

(2018): Eine Analyse der Taktik und Wirkmittel islamistisch-terroristischer Anschläge; Goertz, S. (2017): Mögliche islamistisch-terroristische Angriffs- bzw. Anschlagsziele. In: Kriminalistik 12/2017, S. 723–727. 84Ebd. 85Ebd. 86Im Folgenden vgl. ebd.

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• Weitere worst case-Szenarien wären der Einsatz von biologischen und/oder chemischen Waffen. Die Kriege und Konflikte in Teilen von Syrien, des Irak und in Libyen haben die Wahrscheinlich von „biologischen und chemischen Szenarien“ in Deutschland und Europa signifikant erhöht. • Giftstoffe wie beispielsweise Reizgase in geschlossene und/oder offene Räume wie Flughäfen, Bahnhöfe, Sportstadien und Veranstaltungshallen durch Lüftungen und Klimaanlagen einzubringen stellen ein weiteres terroristisches Szenario dar. Durch Reizgas wurden am 12.02.2017 68 Personen verletzt. • Anschläge auf Züge und Bahnhöfe sind signifikant wahrscheinlicher als Anschläge auf Flughäfen, da deren Sicherheit seit dem 11.09.2001 terroristischen Bedrohungen erheblich angepasst wurde. • Busbahnhöfe und Fernbusbahnhöfe sind bisher weder polizeilich noch durch privatwirtschaftliche Sicherheitsdienste geschützt. • Öffentliche Einrichtungen von symbolischem Charakter (Kirchen, Synagogen, Universitäten) sind sehr unterschiedlich gesichert bzw. geschützt. Während verschiedene Synagogen in Deutschland sehr gut geschützt werden sind Kirchen und Universitäten gar nicht gesichert. Anschläge mit USBV oder Schusswaffen auf einen universitären Audimax beispielsweise würden aufgrund der räumlichen Enge Hunderte von Menschenleben bedrohen. • Kritische Infrastrukturen mit hoher Bedeutung für die Zivilbevölkerung (Krankenhäuser, Stromversorgung, Wasseraufbereitung etc.) sind ebenfalls sehr unterschiedlich geschützt. • Politik, Ministerien, Behörden, behördliche Schulungseinrichtungen: Der Bundestag und Landesparlamente sind sehr gut geschützt, Ministerien auf Bundes- und Landesebene ebenso, zahlreiche Behörden und behördliche Schulungseinrichtungen allerdings deutlich weniger. Terroristische Anschläge auf Schulungseinrichtungen von Sicherheitsbehörden beispielsweise hätten erhebliche Auswirkungen für die personelle Zukunft der betroffenen Sicherheitsbehörde. • (Zeitlich parallele) Würfe mit Steinen oder anderen schweren Gegenständen von Brücken, oder von Gebäuden könnten zahlreiche Rettungsdienste zur gleichen Zeit binden und auf Autobahnen oder Bundesstraßen oder Straßen innerhalb großer Städte Massenkarambolagen verursachen.87

87Goertz

2018, Eine Analyse der Taktik und Wirkmittel islamistisch-terroristischer Anschläge; Goertz, S. (2017): Mögliche islamistisch-terroristische Angriffs- bzw. Anschlagsziele. In: Kriminalistik 12/2017, S. 723–727.

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5 Fazit Die Gefahr dschihadistischer Anschläge und Attentate in Deutschland und Europa ist seit den Anschlägen am 11.03.2004 auf Pendlerzüge in Madrid und am 07.07.2005 auf U-Bahnen und einen Bus in London, spätestens seit dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo am 07.01.2015 in Paris und den multiplen Großanschlägen in Paris am 13.11.2015 auf einem historisch neuen Niveau. Diese Analyse hat sowohl die Akteure von islamistisch-terroristischen Anschlägen, einerseits Hit-Teams von dschihadistischen Großorganisationen – tendenziell seit den Kleinen Kriegen in Syrien und im Irak mit immer mehr kriegserfahrenen Operateuren – und andererseits Kleinstzellen oder islamistische Einzeltäter, ­ sowie ihre möglichen Anschlagsziele, Modi Operandi sowie Wirkmittel und Methoden untersucht. Zusätzlich wurden auch zwei worst case-Szenarien aus ­operativ-taktischer Sicht analysiert. Abschließend: Die augenblickliche und zukünftige Bedrohung durch islamistisch-terroristische Anschläge in Europa ist auf einem qualitativ und quantitativ historischen Niveau und stellt die Sicherheitsarchitekturen europäischer Staaten vor ein neues Bedrohungsausmaß.

Weiterführende Literatur Andersen, U. (2011): Internationaler Terrorismus. Woyke, W. (Hrsg.). Handwörterbuch Internationale Politik. 12. Auflage. Opladen. Bewarder, M./Flade, F. (2017): Terrorgefahr IS nimmt Deutschland noch stärker ins Visier. 8.03.2017. https://www.welt.de/politik/deutschland/article162687417/IS-nimmt-Deutschland-noch-staerker-ins-Visier.html Zugegriffen: 17.1.2018. Bundesamt für Verfassungsschutz (2017): Verfassungsschutzbericht 2016. Köln. Bundesamt für Verfassungsschutz (2017): Arbeitsfelder. Islamismus und islamistischer Terrorismus. Zahlen und Fakten. IS. Reisebewegungen; https://www.verfassungsschutz. de/de/arbeitsfelder/af-islamismus-und-islamistischer-terrorismus/zahlen-und-faktenislamismus/zuf-is-reisebewegungen-in-richtung-syrien-irak; Zugegriffen: 17.1.2018. Bundesamt für Verfassungsschutz (2017): Öffentlichkeitsarbeit. Vorträge. Symposium; https://www.verfassungsschutz.de/de/oeffentlichkeitsarbeit/vortraege/rede-p-symposium-2016; 17.1.2018. Bundesamt für Verfassungsschutz (2016): BfV-Schlaglicht, 8/2016. Burke, J. (2015): The new threat from Islamic militancy. London. Die Welt/Stürmer, M. (2017): 10.000 Salafisten in Deutschland. Das ist ein Alarmzeichen. 1.4.2017. https://www.welt.de/debatte/kommentare/article163319198/10-000-Salafistenin-Deutschland-Das-ist-ein-Alarmzeichen.html. Zugegriffen: 17.1.2018.

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Deutschlandfunk (2016): „Gefährder“ in Frankreich. Politiker fordern Überwachung mit elektronischer Fußfessel. 28.12.2016. http://www.deutschlandfunk.de/gefaehrder-in-frankreich-politiker-fordern-ueberwachung-mit.795.de.html?dram:article_ id=374974; Zugegriffen: 13.1.2018. EUROPOL (2016): 211 terrorist attacks carried out in EU Member States in 2015, new Europol report reveals 211-terrorist-attacks-carried-out-eu-member-states-2015. EUROPOL (2016): European Union Terrorism situation and trend report TESAT; 16.1.2018. EUROPOL (2016): Changes Modus Operandi Islamic State Terrorist Attacks; 17.1.2018. Express (2017): Threat to Britain? More than 17,000 terror suspects monitored in France in one Month. 14.4.2017. http://www.express.co.uk/news/world/792124/Britain-ISIS-threat-terror-suspects-terrorism-France-ferry; 16.1.2018. FAZ/Buchsteiner, J. (2017): Terror in Großbritannien Ein schwarzer Tag für Londons „Antiterror-Chef“. 23.3.2017. Frankfurter Allgemeine Zeitung. http://www.faz.net/ aktuell/politik/ausland/antiterror-chef-mark-rowley-war-erfolgreich-bis-zu-dem-attentat-14939090.html; Zugegriffen: 17.1.2018. Frankfurter Allgemeine Zeitung (2011): Verfassungsschützer warnen Saudi-Arabien unterstützt Salafisten in Deutschland. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/verfassungsschuetzer-warnen-saudi-arabien-unterstuetzt-salafisten-in-deutschland-15732.html; 16.1.2018. Goertz, S. (2018): Eine Analyse der Taktik und Wirkmittel islamistisch-terroristischer Anschläge. In: SIAK-Journal 1/2018. Goertz, S. (2017): Mögliche islamistisch-terroristische Angriffs- bzw. Anschlagsziele. In: Kriminalistik 12/2017, S. 723–727. Goertz, S. (2017): Ursprünge des Islamismus und die Verbindung zu aktuellen Konflikten. In: Die Polizei 11/2017. Goertz, S. (2017): Islamistischer Terrorismus. Analyse – Definitionen – Taktik. Heidelberg. Goertz, S. (2017): Der neue Jihadismus und seine Basis. In: Die Polizei 10/2017, S. 297. Goertz, S. (2017): Der Kleine Krieg in Syrien – eine Analyse der salafistischen Akteure. In: Österreichische Militärische Zeitschrift 5/2017. Goertz, S./ Maninger, S. (2016): Der Islamische Staat als Bedrohung für Europa. In: Polizei und Wissenschaft, Ausgabe 3/2016, S. 29–43. Haaretz (2011): Teen wounded in Hamas strike on school bus dies; https://www.haaretz. com/teen-wounded-in-hamas-strike-on-school-bus-dies-1.356519; 17.1.2018. Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration des Landes Baden-Württemberg (2012). Verfassungsschutzbericht 2011. Polizei BaWü (2008): Presse Amok; https://www.polizei-bw.de/Presse/pm2008/Seiten/ prim_amok.aspx; 17.1.2018. Sky News (2017): Manchester Arena Explosion What we know so far; http://news.sky.com/ story/manchester-arena-explosion-what-we-know-so-far-10889593; 17.1.2018. South Asia Terrorism Portal (2017): Terrorist and Extremist Groups of Pakistan. http:// www.satp.org/satporgtp/countries/pakistan/terroristoutfits/group_list.htm#. Zugegriffen: 17.1.2018. Spiegel Online (2017): Manchester Was wir über den mutmaßlichem Anschlag wissen und was nicht; http://www.spiegel.de/politik/ausland/manchester-was-wir-ueber-den-mutmasslichen-anschlag-wissen-und-was-nicht-a-1148867.html; 17.1.2018. Spiegel Online (2015). Die zwei Helden vom Bataclan. In: Spiegel Online. 17.11.2015.

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Süddeutsche Zeitung (2015): Was Freitagnacht in Paris geschah. In: Süddeutsche Zeitung. 14.11.2015. Spiegel Online (2011): Massenmord in Norwegen; http://www.spiegel.de/panorama/justiz/massenmord-in-norwegen-attentaeter-begruendet-bluttat-mit-krudem-menschenhass-a-776272.html; 17.1.2018. The New York Times (2015): Three Hours of Terror in Paris, Moment by Moment. In: The New York Times, 15.11.2015. The New York Times (2015b) ‚Scene of Carnage‘ Inside Sold-Out Paris Concert Hall. In: The New York Times, 13.11.2015. Welt online (2015). Wie die Spezialeinheit den Spuk im Bataclan beendete. In: Die Welt online, 19.11.2015. ZDF (2015): Auslandsjournal. Frankreichs Anti-Terror-Einheit RAID; 25.11.2015; http:// www.zdf.de/auslandsjournal/frankreichs-anti-terror-einheit-raid-auslandsjournal-vom25.-november-2015-41139620.html; 16.1.2018.

Islamistisch-terroristische Radikalisierung: Deutsche und internationale Radikalisierungsforschung im Vergleich Stefan Goertz und Martin Holst Sowohl die Zahl als auch die Qualität der seit Januar 2015 durchgeführten und geplanten – aber von Sicherheitsbehörden vereitelten – islamistisch-terroristischen Anschläge in Deutschland und Europa haben ein historisches Ausmaß erreicht. Folgende islamistisch-terroristischen Anschläge der jüngsten Vergangenheit s­ ollen die sicherheitspolitische Wichtigkeit von Radikalisierungsforschung verdeutlichen: • • • • • • • • • • •

07.01.2015: „Charlie Hebdo“, in Paris 13.11.2015: Paris 14.02.2016: „Anschlag auf ein Kulturzentrum“, Kopenhagen 26.02.2016: „Safia S.“, Hauptbahnhof Hannover 22.03.2016: Brüssel 16.04.2016: Sikh-Tempel-Anschlag, Essen 26.06.2016: Anschlag in einer katholische Kirche in Saint-Étienne-du-Rouvray 14.07.2016: „Nizza, Lkw“ 18.07.2016: „Regionalbahn“, bei Würzburg 24.07.2016: „Ansbach“ 19.12.2016: „Anis Amri“, Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz, Berlin

S. Goertz (*)  Lübeck, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Holst  Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Freudenberg et al. (Hrsg.), Terrorismus als hybride Bedrohung des 21. Jahrhunderts, Sicherheit – interdisziplinäre Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20919-3_2

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S. Goertz und M. Holst

22.03.2017: „Westminster Bridge und Parlament“, London 03.04.2017: „Metro-Anschlag“, St. Petersburg 07.04.2017: „Lkw, Innenstadt von Stockholm“ 20.04.2017: „Anschlag auf den Champs-Élysées“, Paris 22.05.2017: „Popkonzert, Kinder“, Manchester 03.06.2017: „London-Bridge“, London 28.07.2017: „Messerangriff, Supermarkt“, Hamburg 17.08.2017: „Barcelona“ 01.10.2017: „Messer, Marseille“

Durch diese islamistisch-terroristischen Anschläge und Attentate wurden Hunderte Menschen getötet und Hunderte – teilweise schwer – verletzt, darunter zahlreiche Kinder. Was haben die Attentäter all dieser durchgeführten islamistisch-terroristischen Anschläge – und diejenigen der geplanten, aber von Sicherheitsbehörden verhinderten Anschläge – gemeinsam? Was wiederum unterscheidet sie voneinander? Warum und wie entfernen sich Menschen von demokratischen Prinzipien wie der Freiheitlichen demokratischen Grundordnung (FdGO) und wenden Gewalt an, um religiös-politische Ziele zu erreichen? Wer wird warum Islamist, Salafist und/oder islamistischer Terrorist? All diese Analysefragen sind in der Radikalisierungsforschung zu verorten. Da die Radikalisierungsforschung über Jahre einen großen Einfluss auf die gesamtgesellschaftliche Debatte über (islamistische) Radikalisierung hatte, wird einführend kurz die Radikalisierungsdebatte und ihre – wissenschaftlich bewiesen falschen – Thesen dargestellt. Danach wird die deutsche mit der internationalen Radikalisierungsforschung im Bereich islamistischer Terrorismus verglichen.

1 Islamistische, salafistische und jihadistische Radikalisierung: Neue Analysefragen Der Untersuchungsbereich von Radikalisierung kann einerseits in „Untersuchung des Prozesses, wie verläuft ein Radikalisierungsprozess?“ unterschieden werden und andererseits in „Untersuchung der Ursachen, warum radikalisiert sich ein Individuum?“. • Warum werden Individuen wissend und wollend Teil einer militanten und/oder terroristischen Organisation bzw. Gruppe, die Gewalt anwendet? • Wie schließen sich Individuen militanten und/oder terroristischen Organisationen bzw. Gruppen an?

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• Welche Rolle(n) bzw. Aufgabe(n) übernehmen Individuen, die sich einer militanten und/oder terroristischen Organisation bzw. Gruppe anschließen? • Wie und warum verändert sich die Rolle und Funktion eines Individuums in solchen militanten und/oder terroristischen Organisationen bzw. Gruppen? • Wie und warum übernehmen Individuen die ideologischen Werte und Normen einer militanten und/oder terroristischen Gruppe, wie und warum passen sie sich an die daraus entstehende „Parallelrealität“ bzw. „Scheinrealität“ an? • Wie und warum verüben individuelle Mitglieder einer militanten und/oder ­terroristischen Gruppe Gewalt? Härten Individuen durch Erfahrung ab? Wie verändert die Ausübung von terroristischer Gewalt die individuellen Mitglieder einer Gruppe und wie geht das Individuum damit um? • Wie und warum beeinflussen sie andere individuelle Mitglieder einer militanten und/oder terroristischen Organisation bzw. Gruppen? • Wie und warum verlassen manche Individuen militante und/oder terroristische Organisationen bzw. Gruppen? (Goertz 2017a)

2 Radikalisierungsforschung: Inhalt, Fragen und Ziele Die psychologische und sozialwissenschaftliche Radikalisierungsforschung im Phänomenbereich des islamistischen Terrorismus muss vor dem H ­ intergrund der islamistisch-terroristischen Anschläge seit Januar 2015 in Europa und Deutschland als von höchster Bedeutung identifiziert werden. Wie beim Phänomen „Terrorismus“ besteht in der Wissenschaft kaum Einigkeit über eine Definition des Begriffs „Radikalisierung“. Im 19. und 20. Jahrhundert wurde damit eine drastische Abwendung von den geltenden gesellschaftlichen Verhältnissen und Regeln sowie die Errichtung eines anderen gesellschaftlichen, politischen Systems assoziiert (Mandel 2009). Was genau der Prozess der Radikalisierung beinhaltet, ist wissenschaftlich umstritten. Konsens herrscht allerdings darüber, dass es sich um einen Prozess über einen gewissen Zeitraum hinweg handelt, wobei seine Zeitdauer – empirisch analysiert – sich in letzter Zeit stark verkürzt hat, bis auf wenige Monate (Baran 2005; Goertz 2017a; Moghaddam 2005). Von folgender Radikalisierungsdefinition (im Bereich islamistischer Terrorismus) geht dieser Beitrag aus: Ein Radikalisierungsprozess ist jeweils individuell, in seinem Verlauf übernehmen Individuen extreme politische, religiöse und gesellschaftliche Ideale und Ziele, wofür die Anwendung von Gewalt gerechtfertigt wird.

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Im Fall einer islamistischen, salafistischen, jihadistischen Radikalisierung kommt es zur Übernahme einer islamistischen, gewaltbereiten Ideologie. Religiös-politische Radikalisierung kann als kognitiver Veränderungsprozess der Einstellung, des sozialen Verhaltens auf der Grundlage einer (religiösen) Ideologisierung hin zur Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt verstanden ­werden. Für die zunehmende, schrittweise Übernahme der Ideologie des Islamismus, bzw. des politischen und jihadistischen Salafismus wird hier synonym der Begriff Radikalisierung verwendet (Goertz 2017a).

3 Falsche theoretische Hypothesen islamistischer Radikalisierung Psychische Krankheiten als Radikalisierungsfaktor? Die überwiegende aktuelle, internationale psychologische und sozialwissenschaftliche Forschung kommt zum Schluss, dass islamistische Terroristen im Wesentlichen „normale“ Menschen ohne psychische Krankheiten sind (Goertz 2017a; Horgan 2014; Sageman 2014). Verschiedene Studien zu Beginn des 21. Jahrhunderts zeigen, dass islamistische Terroristen in der überwiegenden Zahl der Fälle einen „normalen“ sozialen Hintergrund haben und nicht unter mentalen Krankheiten leiden (Horgan 2003; Schmid 2011). Anders als neo-freudianische Ideen annehmen, leiden islamistische Terroristen nicht unter pathologischem Narzissmus, unter Paranoia oder unter autoritären Persönlichkeitsstörungen, sondern sind nach Ansicht von Sageman „surprisingly normal in terms of mental health“ (Goertz 2017a; Sageman 2004). Allerdings werden Terroristen medial immer noch häufig als „abnorme“ Persönlichkeiten mit klinisch relevanten Auffälligkeiten dargestell (Albrecht 2016). Die klinische Psychologie allerdings lehnt psychische Störungen als Faktor für eine Radikalisierung zu islamistischen Anschlägen und ­ Attentaten als empirisch nicht bestätigt ab (DeAngelis 2009; Sageman 2014). Rational choice-Ansätze von psychologischer Ursachenforschung des islamistischen Terrorismus analysieren die strategische Wahl von Terrorismus als taktischem Mittel als Ergebnis einer rationalen Abwägung von rational entscheidenden Akteuren (Ashworth et al. 2008). Dies bestätigend kommen sozialpsychologische Untersuchungen zum Ergebnis, dass (islamistische) Terroristen alles andere als irrational sind und dass psychisch Kranke sicherlich keine komplizierten geheimen terroristischen Anschläge planen können (Sageman 2014; Silke 2004).

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Die umfassende empirische Untersuchung von internationalen Jihadisten (foreign fighters), durchgeführt von Venhaus, zeigt, dass „keinerlei Zeichen von psychischen Störungen“ vorlagen, allerdings auffälliges, unsoziales, aggressives Verhalten durchaus überdurchschnittlich beobachtet werden konnte (Venhaus 2010).

4 Sozio-ökonomische Faktoren wie Bildung, Arbeitslosigkeit und soziale Herkunft als Radikalisierungsfaktor? Zahlreiche internationale wirtschaftswissenschaftliche, politikwissenschaftliche und psychologische Studien belegen, dass die immer noch von verschiedenen politischen Parteien und verschiedenen Medien vertretene Idee, dass islamistische homegrown-Terroristen westlicher Staaten sich aus sozio-ökonomischen Gründen radikalisiert hätten, falsch ist (Bergen 2015; Krueger 2010). Das britische MI5 stellte im Rahmen einer Untersuchung von britischen islamistischen Terroristen im Jahr 2011 gar fest, dass über 60 % aus der sog. Mittelklasse oder gar gehobeneren sozialen Schichten stammen (Taher 2011). Sowohl das FBI als auch das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz ­stellen fest, dass die meisten homegrown-Terroristen aus der sog. Mittel- bzw. gar Oberschicht kommen, arbeiten und verheiratet sind (Bundeskriminalamt [BKA] & Bundesamt für Verfassungsschutz [BfV] 2016; Hunter & Heinke 2011). Zwar sind islamistische Terroristen im empirischen Durchschnitt junge Männer im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, dies gilt allerdings für die meisten Gewalttäter (Silke 2004). Auch die Untersuchung von Lebenslaufanalysen verurteilter islamistischer Straftäter und von biografischen Kenntnissen zu deutschen Jihad-Reisenden (Afghanistan, Syrien, Irak) widerlegen die Jahrzehnte populäre These, dass islamistische Täter sich wegen sozio-ökonomischer Benachteiligung und niedrigerer Bildungsabschlüsse radikalisiert hätten (BKA und BfV 2016). Es kann gar das Gegenteil konstatiert werden: Ca. 40 % von ihnen haben die Hochschulreife erlangt, 23 % verfügen über einen Realschulabschluss, 27 % der ausgereisten Personen erlangten einen Hauptschulabschluss und nur sieben Prozent haben keinen Schulabschluss (BKA und BfV 2016). Zusätzlich haben über 42 % der Vergleichsgruppe eine Berufsausbildung abgeschlossen, ca. 30 % erst vor der Ausreise eine Ausbildung begonnen haben (BKA und BfV 2016). Hier kann festgestellt werden, dass entgegen immer noch weit verbreiteter Meinungen

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i­slamische Terroristen nicht überdurchschnittlich ungebildet, arbeitslos oder ohne familiären Rückhalt sind (BKA und BfV 2016; Hunter und Heinke 2011). Die bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts dominierenden psychologischen Hypothesen Frustrations-Aggressions-Hypothese (Aronson et al. 2008; Gurr 2012), Hypothese der negativen Identität (Fend 2003; Knutson 1981) und Hypothese der narzisstischen Wut (Pearlstein 1991; Post 1990) konzentrierten sich im Wesentlichen auf die subjektiven Wahrnehmungen und Handlungsmuster des Individuums und erklärten psychopathologische Anomalien sowie frühkindliche Sozialisationsschäden für den Radikalisierungsprozess verantwortlich, sodass multikausale Erklärungsmuster für die Radikalisierung kaum in Betracht gezogen wurden. Weiterhin zeigt eine Analyse der wissenschaftlichen Literatur zum Komplex islamistischer Radikalisierung (erstaunlicherweise) eine jahrelange Dominanz und Beeinflussung des politischen Diskurses durch soziologische Erklärungsansätze wie z. B. soziale und sozioökonomische Marginalisierung, Deprivation, Entfremdung und Diskriminierung von Menschen mit Migrationshintergrund durch die europäischen Mehrheitsgesellschaften als verantwortliche Ursache für diese Radikalisierungsprozesse (Cottee 2011; Roy 2004, 2008). Diese soziologischen und sozioökonomischen Theorien interpretierten eine ­Status-Frustration sowie sozioökonomische Missstände als Ausgangspunkt für das Erschaffen ­subkultureller und parallelgesellschaftlicher Werte als Gegenreaktion auf die europäischen Mehrheitsgesellschaften (Auchter und Büttner 2003; Böllinger 2002; Fischer und Haslam 2010). Kurz: Soziale und sozioökonomische Ungleichbehandlung durch die Mehrheitsgesellschaft verantworte den Radikalisierungsprozess (Buijs et al. 2006; Taarnby 2005). Diese soziologischen Thesen können jedoch auf verschiedenen Ebenen leicht widerlegt werden. Zum einen zeigt die internationale Forschung, dass ein ­großer Anteil der Jihadisten über ein relativ hohes Bildungsniveau verfügt (Merari 2005). Auch in Deutschland ist der Anteil (weiblicher) gewaltaffiner Jihadisten mit einer Hochschulausbildung fünf Mal so hoch wie in der Gesamtheit der Muslime in Deutschland (Heerlein 2014). Zum anderen verdeutlicht das Problem der Sensitivität bzw. der Spezifität, das die sozioökonomische Desintegrationstheorie und die Subkulturtheorie nicht erklären kann, dass sich nur ein geringer Teil derjenigen Individuen, die von den sozioökonomischen Radikalisierungsfaktoren betroffen sind, tatsächlich radikalisiert (Dalgaard-Nielsen 2010; Horgan 2008; Victoroff 2005). Anders als die oben dargestellten sozioökonomischen Theorien dagegen untersucht ein psychosozialer Ansatz Muster von Radikalisierungsprozessen durch Biografieforschung und weist Gemeinsamkeiten mit wissenschaftlichen Ergebnissen der allgemeinen Jugendkriminalitätsforschung auf. So stellen dysfunktionale

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Familienhintergründe, Gewalt und psychische Unterdrückung in der Kindheit ebenso wie Auffälligkeiten und Brüche in der Schule und im Berufsleben empirische Faktoren für Radikalisierungsprozesse dar (Pantucci et al. 2015). Die bereits eingangs zitierte, von der Europäischen Union beauftragte, Studie Lone-Actor Terrorism, Personal Characteristics of Lone-Actor Terrorists aus dem Jahr 2016 führt für den Erhebungszeitraum 2000 bis 2014 innerhalb der Europäischen Union aus, dass lediglich 28 % der sogenannten lone wolves (islamistische Einzeltäter) sozial isoliert waren (Pantucci et al. 2015). In Bezug auf den Grad der Religiosität als Faktor für den Radikalisierungsprozess wird dort ausgeführt, dass streng religiöse Einzeltäter sehr selten bis gar nicht sozial isoliert sind (de Roy van Zuijdewijn und Bakker 2016). Diverse weitere internationale, qualitative und quantitative Studien der letzten zehn Jahre kommen – anders als die oben erwähnten soziologischen, sozioökonomischen Theorien – zum Ergebnis, dass Islamisten und Jihadisten verheiratete, geschiedene, ledige Männer und Frauen unterschiedlichster Nationalitäten, unterschiedlichster Berufe aus verschiedenen sozialen Schichten kommen und beweisen, dass soziale und sozioökonomische Faktoren eine bedeutend weniger wichtige Funktion für den islamistischen Radikalisierungsprozessen haben, als dies jahrelang in der breiten und politisch viel zitierten soziologischen Forschung angenommen wurde (Bakker 2006).

5 Islamismus: Ideologie oder Jugendkultur? Dass der Islamismus als aktuell und zukünftig weltweit agierende Ideologie mit der terroristischen Ausprägung des Jihadismus eine vitale Herausforderung für zahlreiche Staaten und Gesellschaften – sowohl für westliche der sog. ersten Welt als auch für Staaten der sog. islamischen Welt –, wird von internationalen Sozialwissenschaftlern wie Kepel und Wiktorowicz schon seit Ende des 20. bis Beginn des 21. Jahrhunderts eindringlich erläutert (Goertz 2017b; Kepel 1996, 2000; Wiktorowicz 2001). In der Frage nach entscheidenden Faktoren im Bereich Radikalisierung zum Islamismus geht die herrschende Meinung der englischsprachigen und französischsprachigen Radikalisierungsforschung davon aus, dass eine ganze Reihe von psychologischen und sozialen Einflussfaktoren – miteinander interagierend – für islamistische Radikalisierungsprozesse verantwortlich sind (Borum 2011; Gendron 2017; McCauley und Moskalenko 2008; Sageman 2004, 2008). Ebenso geht diese herrschende Meinung davon aus, dass islamistische Radikalisierung einen jeweils individuellen Prozess darstellt, was aber nicht mit der empirischen Feststellung kollidiert, dass in der westlichen,

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demokratischen Welt – also im Bereich homegrown – empirisch signifikant wiederholt auftretende Radikalisierungsfaktoren existieren. Diese sind sowohl nach herrschender Meinung internationaler Forschung als auch gem. der Analyse verschiedener deutscher Studien 1) Islamismus und Jihadismus als Ideologie, 2) der soziale Nahbereich, das Milieu, die Peer Group und 3) islamistische und jihadistische Angebote des Internets (Borum 2011; ­Gendron, 2017; Goertz 2017a; McCauley und Moskalenko 2008). Kurz: Dieser Teil der wissenschaftlichen Studien betont die vitale Funktion der islamistischen bzw. jihadistischen Ideologie für Radikalisierungsprozesse von Individuen. Diesen zahlreichen Studien gegenüber steht interessanterweise eine Anzahl deutschsprachiger Aufsätze, die ihren Schwerpunkt nicht auf die Ideologie Islamismus legen, sondern Islamismus als Jugendkultur mit spezifischen Ausprägungen wie „Islamische Mode in Deutschland“, „Traubentabak und Wasserpfeifencafés“ (Nordbruch 2010) und sprechen von „Pop-Dschihadismus“ als jugendkulturellem Phänomen (Biene et al. 2016; Böckler und Zick 2015; Müller 2007). Interessant ist hierbei, dass diese Aufsätze sowohl von der sehr einflussreichen Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) als auch von Mitarbeitern bekannter Institute der Universitäten Bielefeld und Frankfurt veröffentlicht werden und damit potenziell eine sehr große Leserschaft ansprechen. Wissenschaftlich analysiert, muss hierbei auf die Gefahr hingewiesen, dass zu enge Blickwinkel nur Ausschnitte der Realität beleuchten und damit große Teile der Realität nicht untersuchen. Die oben zitierte internationale und auch deutschsprachige Forschung konstatiert auch einen Zusammenhang von Islamismus und Jugendkultur, aber diese Beobachtung stellt nur einen Faktor von Dutzenden dar, wobei qualitativ gewertet die Faktoren 1) Ideologie, 2) das islamistische Milieu und 3) islamistische Angebote des Internets ganz evident entscheidender für eine umfassende Analyse des Phänomenbereiches Islamismus und islamistische Radikalisierung sind (Borum 2011; Gendron 2017; Goertz 2017a; McCauley und Moskalenko 2008). Der international anerkannte französische Sozialwissenschaftler Kepel äußerte im Rahmen seines Vortrages beim 14. Symposium des Bundesamtes für Verfassungsschutz am 29.05.2017 in Berlin seine Verwunderung über den „deutschen Analyseschwerpunkt Islamismus als Jugendkultur“ und betonte wiederholt, dass „die Ideologie des Islamismus“ entscheidend für eine umfassende und präzise Analyse der Bedrohung Islamismus sei (Kepel 2017). Als Antwort auf die Frage dieses Unterkapitels „Islamismus: Ideologie oder Jugendkultur“ kann festgestellt werden, dass Islamismus auf einer von zahlreichen Analyseebenen auch eine Jugendkultur ist, allerdings muss hier darauf verwiesen werden, dass eine Schwerpunktlegung auf diesen Aspekt ganz offensichtlich nicht der Schwerpunktlegung der herrschenden Meinung der inter-

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nationalen Forschung im Bereich Islamismus entsprecht und Gefahren birgt, (richtige) Teilschlüsse und Beobachtungen als entscheidende Faktoren zu verstehen und diese als solche einer breiten Leserschaft und Zuschauern von TV-Beiträgen zu den Themen Islamismus und islamistische Radikalisierung zu vermitteln. Abschließend muss zur Beantwortung dieser Frage und Bewertung der These „Islamismus als Jugendkultur“ noch auf das Ergebnis aktueller internationaler Forschung hingewiesen werden, dass nicht nur die islamistische Ideologie entscheidend für Radikalisierungsprozesse ist, sondern in diesem Zusammenhang auch Forschungsergebnisse vorliegen, die auf die vitale Rolle von islamistischen Predigern – sowohl mit als auch ohne formelle islamisch-theologische Ausbildung – verweisen. So kommen verschiedene aktuelle englischsprachige Studien zum Schluss, dass charismatische islamistische Prediger sowohl eine entscheidende Rolle als Radikalisierungsfaktor spielen als auch auslösender Faktor (trigger) sein können (Gartenstein-Ross et al. 2009; Gendron 2017; National Coordinator for Counterterrorism 2007; Precht 2007). Dass auch islamistische Imame in Deutschland einen Einfluss auf die Radikalisierung von Individuen haben könnten sollte nicht erst seit Studien von Gartenstein-Ross et al. (2009), sowie Gendron (2017) bekannt sein. Unter anderem aufgrund der Ergebnisse dieser Studien ist die Notwendigkeit einer Untersuchung von Islamismus als Ideologie und ihren Ursprüngen im 20. Jahrhundert evident, weil die weltweit verbreitete und sich auf dem Vormarsch befindende Ideologie Islamismus es schafft, auch unterschiedliche Radikalisierungshintergründe im Vergleich zwischen der islamistisch-jihadistischen Basis der sog. ersten Welt und diejenigen der islamistisch-jihadistischen Basis der sog. zweiten und dritten Welt zu marginalisieren.

6 Die herrschende Meinung der internationalen Forschung: Drei entscheidende Radikalisierungsfaktoren im Phänomenbereich Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus 6.1 Radikalisierung durch die islamistische und dschihadistische Ideologie Der Bundesnachrichtendienst, der deutsche Auslandsnachrichtendienst, definiert Jihadismus bzw. islamistischen Terrorismus wie folgt:

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Seine Gruppierungen agieren transnational und verfolgen häufig einen global-­ jihadistischen Ansatz, der westliche Ziele und damit auch die Bundesrepublik Deutschland ins Visier nimmt. Ideologische Grundlage islamistischer Terrorgruppierungen ist eine vorgebliche Rückbesinnung auf traditionelle islamische Werte in Anlehnung an das „Goldene Zeitalter“ zur Zeit des Propheten Muhammad. Als Ziel propagieren sie die Errichtung von islamischen Gemeinwesen nach den Grundsätzen der Sharia. Mittel zum Zweck ist für alle Gruppierungen der als heiliger Krieg („Jihad“) bezeichnete gewaltsame Kampf (Bundesnachrichtendienst [BND] 2017). Das Bundesamt für Verfassungsschutz, der deutsche Inlandsnachrichtendienst des Bundes, definiert den islamistischen Terrorismus wie folgt: Islamistischer Terrorismus ist der nachhaltig geführte Kampf für islamistische Ziele, die mit Hilfe von Anschlägen auf Leib, Leben und Eigentum anderer Menschen durchgesetzt werden sollen, insbesondere durch schwere Straftaten, wie sie in § 129 a Abs. 1 StGB genannt sind, oder durch andere Straftaten, die zur Vorbereitung solcher Straftaten dienen (BfV 2017). Die Studie Analyse der Radikalisierungshintergründe und -verläufe der Personen, die aus islamistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind. Fortschreibung 2016 des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz wertete die vorliegenden Daten der Radikalisierungshintergründe und -verläufe von 784 Personen, die bis Ende Juni 2016 aus islamistisch-jihadistischer Motivation aus Deutschland in Richtung Syrien und Irak ausgereist sind statistisch aus (BKA und BfV 2016). Bei der Frage nach der Motivation für eine aktive und/ oder unterstützende Funktion innerhalb islamistisch-terroristischer Gruppen wie dem IS oder der Al Nusra (bzw. Jabhat Fatah Al Sham) waren Mehrfachnennungen möglich (Goertz und Holst 2016). Bei den 784 Personen wurden in über 60 % der Fälle eine aktive Rolle in Moscheen bzw. Moscheevereinen, 54 % die Funktion der Familie und der Freunde (peer group), in 44 % islamistische Angebote im Internet, 27 % sog. Islamseminare, 6 % sog. Benefizveranstaltungen 3 % Kontakte in der Schule und 2 % in Justizvollzugsanstalten festgestellt (BKA und BfV 2016). Hierbei liegen zu 79 % der Islamisten Informationen zur Ausreisemotivation vor, bei denen eine islamistisch-jihadistische Ausreisemotivation angenommen wer­ den kann, konkretisiert durch das Ziel, in „das Kalifat“ bzw. den „Islamischen Staat“ auszuwandern (BKA und BfV 2016). Die Terror Management Theory aus der Sozialpsychologie beschreibt zudem die Hinwendung zu Ideologien wie dem Islamismus als Reaktion auf die Erkenntnis, dass der eigene Tod unausweichlich ist.

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Diese – aufgrund des menschlichen Selbsterhaltungstriebes erschütternde – Erkenntnis führt dazu, dass kulturelle Werte und Sichtweisen angenommen werden, die entweder tatsächliche Unsterblichkeit gewähren (hier zum Bei­ spiel: die Aussicht auf ein ehrenvolles Leben im Jenseits) oder die symbolische ­Unsterblichkeit gewähren, indem sie der eigenen Existenz Sinn und Bedeutung verleihen (dies kann z. B. den Kampf für den Gottesstaat oder die Überlegenheit der eigenen Religion gegenüber anderen umfassen) (Greenberg et al. 1986; Pyszczynski et al. 2008). Auffälligerweise werden ca. 96 % der untersuchten Personen dem salafistischen Spektrum zugerechnet, wobei über die Hälfte von ihnen vor der (erstmaligen) Ausreise in einer Moscheegemeinde, einem Moscheeverein oder -verband aktiv waren. Gar über 75 % der untersuchen Personen war vor ihrer Ausreise dem Umfeld – der den Sicherheitsbehörden bekannten – Islamisten bzw. Salafisten zuzuordnen (BKA und BfV 2016). Bei dem überwiegenden Teil der Ausgereisten war die realweltliche Anbindung an bekannte salafistische Persönlichkeiten bzw. deren Milieus offensichtlich ausschlaggebend für die Radikalisierung. Diese empirischen Ergebnisse der psychologischen und sozialwissenschaftlichen Studien des BKA und des BfV bedingen eine Untersuchung des Radikalisierungsfaktors religiös-politische Ideologie (Goertz und Holst 2016). Aus sozialwissenschaftlicher und psychologischer Sicht kann jede Religion, also auch der Islam, durch folgende fünf Funktionen, Individuen, Gruppen und ganze Gesellschaften beeinflussen, indem Religionen eine Identität ausbilden, indem sie als Glaubens-, Ordnungs- und Regelsysteme das Verhalten von Individuen und Gruppen beeinflussen, indem sie allumfassende Sichtweisen und Regeln mit doktrinärem Charakter kreieren, indem sie (individuelle und gruppenspezifische) Legitimität erschaffen und indem sie sich institutionalisieren (Fox und Sandler 2005; Goertz und Holst 2016). Aus anthropologisch-kulturtheoretischer Perspektive sind religiöse Deutungsmuster als Vorgabe für das Verständnis der Legitimität von Gewalt, speziell dazu geeignet Gewaltbereitschaft hervorzurufen bzw. zu steigern (Krech 2002). So haben Religionen die Fähigkeit, äußerste Verpflichtung bei ihren Anhängern hervorzurufen und entwickeln dafür eine Sprache, um Gewalt einem höheren Zwecke dienlich erscheinen zu lassen, wodurch Religion Gewalt in ihrem Ursprung kanalisiert (rituelle Gewalt) und dadurch eine Art von Gewaltkontrolle übernimmt, die sonst nur von einem modernen Staat mit seinem Gewaltmonopol wahrgenommen wird (Goertz und Holst 2016). In besonderen Krisen, existenziellen, kriegerischen Auseinandersetzungen und psychologischen Grenzsituationen wiederum kann im Rückgriff auf die Quellen der eigenen Religion ein ursprünglicher, archaischer Impuls reaktiviert werden, weil die Entstehungsgeschichte der großen Weltreligionen eine gewaltsame ist (Rapoport 1992).

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Aus psychologischer Perspektive bieten Islamismus und Jihadismus aufgrund ihres absoluten und exklusiven Wahrheitsanspruches ihren Anhängern eine ontologische Sicherheit (Goertz und Holst 2016). Die deutschen Verfassungsschutzbehörden definieren Islamismus als eine „Form des politischen Extremismus“, der „unter Berufung auf den Islam auf die teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland“ abzielt (BfV 2016c). Dabei basiert der Islamismus „auf der Überzeugung, dass Religion“, hier: der Islam, nicht nur eine persönliche, private ‚Angelegenheit‘ ist, sondern auch das gesellschaftliche Leben und die politische Ordnung regelt und postuliert darüber hinaus „die Existenz einer gottgewollten und daher ‚wahren‘ und absoluten Ordnung, die über von Menschen gemachten Ordnungen steht“ (BfV 2016c). Kurz: Die deutschen Verfassungsschutzbehörden analysieren Islamismus als sich auf die Religion Islam berufende Form von religiös-politischem Extremismus (Ideologie), die dort beginnt, wo religiöse islamische Gebote und Normen als verbindliche politische Handlungsweisen interpretiert werden (Goertz und Holst 2016). In Bezug auf die Frage, welches Radikalisierungspotenzial der Koran in seinem Literalsinn und die Rechtsschulen des Wahhabismus und Hanbalismus für die Entstehung von islamistischem Terrorismus besitzen, sehen einige Studien in der Religion Islam nicht nur einen Aspekt zum Verständnis von islamistisch-­ salafistischen Terrororganisationen, die eine Ideologie religiösen Ursprungs benutzen. Sie erkennen in der Religion selbst die Erklärung für die Entstehung dieser Gewaltakteure (Fair und Shepherd 2014; Holbrook 2010; Stern 2003). Die Ideologie-Theorie von Hannah Arendt und Karl Mannheim nutzend sind Ideologien sowohl abstrakter als Religionen und auch abstrakter als politische Programme, da sie abstrakte Theorien in Form einer Theologie – hier besteht die Verbindung zur Religion – in kohärente Doktrinen übersetzen, um ihre ganz eigene Utopie anzustreben (Arendt 1951; Beck 2002; Mannheim 1993). In Bezug auf das Verhältnis der religiös-politischen Ideologie Islamismus und Jihadismus zur Religion Islam bedeutet dies, dass der Jihadismus abstrakter als die Religion Islam, eine Theologieinterpretation des Islam ist und sich verschiedener Quellen des Korans und der Hadithen bedient, um seine Utopie – ein Kalifat in der zeitgenössischen Gegenwart – zu verwirklichen. Der islamistische Terrorismus ist nach der Ideologie-Theorie von Karl Mannheim also eine Partikularideologie, die im Wettstreit mit anderen islamischen Theologien liegt (Maher 2016). Im Verständnis von Eric Voegelin und seiner Konzeption der „politischen Religion“ ist der islamistische Terrorismus, der Dschihadismus eine totalitäre politische ­Religion (Gontier 2013; Voegelin 1987).

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6.2 Islamistische Radikalisierung durch den soziale Nahbereich, das Milieu, die Peer Group Weil sich quasi alle Menschen – unabhängig von ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Herkunft – über die Zugehörigkeit zu Gruppen definieren, hat die soziale Funktion von Milieus, des sozialen Nahraumes, eine entscheidende Rolle in der Analyse von Radikalisierungsprozessen (Goertz 2017a). Milieus und Gruppen stiften durch die Faktoren Freundschaft, ethnische Herkunft, Soziolekt und Religion „Lebenssinn“, so rekrutieren Salafisten einerseits in einem Umfeld, in dem sie aufgrund ihrer Biografie und/oder ihrer aktuellen Situation für eine Radikalisierung besonders anfällige Menschen vermuten (bestimmte Stadtteile, bestimmte Moscheen, bestimmte Schulen, Gefängnisse). In Deutschland sind solche salafistischen Milieus auffällig häufig in Städten wie Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Bonn, Städten des Ruhrgebietes, Bremen, Wolfsburg und Neu-Ulm zu beobachten, wobei die Bedeutung einer Stadt für islamistische Radikalisierungsprozesse vornehmlich von der Existenz einer islamistisch-salafistischen „Infrastruktur“ abhängig ist, die in der Regel aus islamistisch-jihadistisch geprägten Moscheevereinen, Imamen und Aktivisten besteht (Goertz 2017a). Gemäß aktueller internationaler Forschung sind der soziale Nahraum, also peer groups und social ties, das islamistische Milieu, die Beziehungsebene zwischen dem anwerbenden Szeneangehörigen – dem Sozialisationsagenten der extremistischen Szene – und dem zu werbenden Sympathisanten – neben der islamistischen Ideologie – entscheidende Faktoren für eine Radikalisierung (Coolsaet 2012; Meijer 2005, 2009). So schließen sich bis zu 75 % der sich Radikalisierenden aufgrund von Freundschaftsnetzwerken einer islamistischen, salafistischen bzw. jihadistischen Gruppe an (Bakker 2006; Nesser und Stenersen 2014; Roex 2014; Sageman 2004). Sowohl Rollenzwang als auch gruppendynamische Prozesse – Konzepte von ingroup love und outgroup hate – stellen zentrale treibende Kräfte einer Szene bzw. eines Milieus als Katalysator für eine Radikalisierung dar. Weil Menschen das Bedürfnis haben „dazuzugehören“, wollen sie, dass die eigene Gruppe und sie selbst positiv bewertet werden. Entsprechend hat die eigene Gruppe (Ingroup) eine große identitätsstiftende Wirkung. Wenn die Gruppe nun für eine als wichtig, essenziell, existenziell wahrgenommene Sache (Allah, der Islamische Staat als Kalifat der Gegenwart) kämpft, dann gewinnt jeder Einzelne in der Gruppe an Bedeutung. Darüber hinaus wird durch den Kampf für eine gemeinsame Sache bzw. gegen andere der Gruppenzusammenhalt verstärkt. Nach dieser Logik muss die Gruppe gegen andere Personen, die die eigene Lebensweise vorgeblich bedrohen, verteidigt werden (BfV 2016a; Goertz 2017a).

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Die eigene Gruppenzugehörigkeit ermöglicht eine Abgrenzung zu anderen Gruppen (outgroup hate), wodurch es zu einer Abwertung der anderen Gruppe kommt. Dualistisches Schwarz-Weiß-Denken in Form von „Wir gegen die Anderen“ ist eine Konsequenz. Dadurch werden in letzter Konsequenz Mitglieder der outgroup nicht mehr als Individuen wahrgenommen (De-Individualisierung) (BfV 2016a; Goertz 2017a). Diese De-Individualisierung ermöglicht die Entstehung einer Distanz zu den Mitgliedern der anderen Gruppe, da Anonymität einen ­emotionalen Rückzug ermöglicht. Wer keine Empathie für „die Anderen“ mehr empfindet, wird eher dazu neigen, Mitglieder der outgroup zu verletzen und/ oder zu töten (BfV 2016a; Goertz 2017a). Die Abwertung der Mitglieder der outgroup wird unter anderem verstärkt durch: • Kulturelle und ethnische Unterschiede: Die outgroup wird als Feind oder Sündenbock wahrgenommen. Traditionelle Gruppenunterschiede ermöglichen oft eine Diffamierung der Mitglieder der anderen Gruppe als kulturell niedere Lebensform, was sich unter anderem allein durch den Sprachgebrauch („Kuffar, Hunde, Schweine“) zeigt. Die Entmenschlichung der anderen spielt eine vitale Rolle bei der Anwendung von Gewalt (BfV 2016a; Goertz 2017a). • Die Überzeugung, moralisch überlegen zu sein und den Glauben an den Kampf für die gerechte Sache: Der Kampf ist legitime Selbstverteidigung, das Töten wird zum Akt der Gerechtigkeit (Verteidigung des Kalifats). In Gemeinschaften mit „engen“ Wertvorstellungen, wie sie beispielsweise von salafistischen und jihadistischen Gruppen vertreten werden, ist der freie Austausch von Ideen unerwünscht. Freund-Feind-Schemata werden kreiert und verstärkt, basierend auf dem typischen Schwarz-Weiß-Denken (BfV 2016a; Goertz 2017a).

6.3 Radikalisierungsangebote: Weg von der Mehrheitsgesellschaft („den Ungläubigen“), hin zu den „wahren Muslimen“ Der islamistische, religiös-politische Exklusivitätsanspruch strebt danach, auf verschiedenen Ebenen potenzielle Anhänger und potenzielle Attentäter möglichst total einzunehmen. Ein strenges Befolgen der als „einzig richtig“ dargestellten religiösen Auffassungen, Gebote und Riten wird (teilweise) aggressiv eingefordert, offensives, öffentliches Missionieren gehört zu den Aufgaben

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(BfV 2016a; Goertz 2017a). Im Rahmen der Teilnahme an (islamistischen, salafistischen) „Islamseminaren“ wird der Prozess der Indoktrinierung und weiteren Radikalisierung von charismatischen Führungspersönlichkeiten und der Peergroup gefördert und vorangetrieben. Neben den „Islamseminaren“ werden auch sog. „Benefizveranstaltungen“, also Spendensammelaktionen für „Glaubensbrüder und Glaubensschwestern in Not“ für die Verfestigung der Ideologie genutzt, indem der Glaube durch die helfende Tat „gelebt“ und die sozialen Strukturen des salafistischen Milieus weiter vernetzt werden. An den oben aufgeführten Orten wird u. a. eine zunehmende Fixierung auf das Jenseits propagiert, wodurch das eigene, irdische Leben von sekundärer Bedeutung wird, was die letzten Schritte auf einem Radikalisierungsweg zur Tat, sprich: einem Anschlag bedeuten kann (BfV 2016a; Goertz 2017a). Die Struktur der salafistischen Milieus in Deutschland und Europa sind amorph, besteht aus losen – virtuellen und realen – Personennetzwerken, u. a. in der Nähe von örtlichen, regionalen Islamvereinen und sog. „Hinterhofmoscheen“. Augenblicklich sprechen die deutschen Verfassungsschutzbehörden von mindestens 100 islamistisch-salafistischen Moscheen in Deutschland, „die in Bezug auf die Migrationsbewegungen aktiv geworden sind“ (BfV 2016b). Daraus wird gefolgert, dass es einerseits mehr als 100 islamistisch-salafistische Moscheen in Deutschland gibt und dass es sich hier um die von den Verfassungsschutzbehörden als solche identifizierten handelt, sprich: 100 islamistische-salafistische Moscheen ist das Hellfeld, die Zahl im Dunkelfeld mag deutlich höher sein. Das salafistische „Bildungsangebot“, bzw. Maßnahmen zur Indoktrinierung und Radikalisierung wird sowohl durch Online-Prediger auf Websites oder in sozialen Netzwerken durch verlinkte Videos als auch durch charismatische Predigerpersönlichkeiten als Multiplikatoren in der Realwelt ergänzt. Kombiniert wird dies mit einer kontinuierlichen Präsenz in der Öffentlichkeit, um Konfliktlinien zur deutschen bzw. europäischen Mehrheitsgesellschaft zu verdeutlichen und das „Freund gegen Feind-Prinzip“ weiter zu stärken. „Dawa“ (wörtlich: Einladung, hier: Missionierung bzw. bei bereits Missionierten eine Radikalisierung) und andere „soziale“ Maßnahmen dienen dem Ziel der Beendigung der kulturellen Verwestlichung muslimischer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Gestalt einer radikalen Abgrenzungssemantik. Die Islamisierung des sozialen Nahbereiches, des persönlichen Umfeldes und letztlich der Gesellschaft durch die Umwandlung des Bildungswesens nach salafistischen Kriterien –verbunden mit einer Abgrenzung von den nicht-salafistischen Muslimverbänden – wird ebenso direkt wie politische Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat und Politik anhand salafistischer Interpretation des Korans und der Sunna propagiert wie die Sharia als angestrebtes politisch-gesellschaftliches Ordnungsprinzip (Goertz 2017a).

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Es besteht eine hohe (gruppenbezogene) Valenz für ideologische Problemthemen und die Gruppe verstärkt die individuellen Fähigkeiten, instinktive und/ oder erlernte moralische Grenzen in Bezug auf das Verletzen Unbeteiligter zu überschreiten. Es sind markante Unterschiede zwischen ­ geistig-kognitiven und militanten Islamisten zu konstatieren, wobei die militanten Islamisten eine verstärkte Neigung aufweisen, dem Druck der Peergroup nachzugeben (­Bartlett und Miller 2012; Goertz 2017a). Sageman konzentriert sich in seiner Radikalisierungsanalyse auf die Rolle von informellen sozialen Netzwerken und führt aus, dass Menschen aufgrund von sozialen Kontakten in den Phänomenbereich des gewalttätigen islamistischen Extremismus driften und die religiös-politische Ideologie des Islamismus bzw. Salafismus den auslösenden Faktor des Radikalisierungsprozesses darstellt (Sageman 2004, 2014). Daneben muss zwischen Radikalisierung durch Gruppen und Radikalisierung durch „die Masse“ differenziert werden. Während unter Radikalisierung durch Gruppen Polarisierung und Isolierung innerhalb von Gruppen und gruppeninternen Wettkampf zu verstehen ist, ist mit Radikalisierung durch „die Masse“ Märtyrertum und Hass gemeint (McCauley und Moskalenko 2008). Der Radikalisierungsprozess durch Gruppen gliedert sich in das Auflösen alter (sozialer) Bindungen und Ideen, das Entwickeln neuer Bindungen und neuer Ideen sowie das Einfügen in ein neues Netzwerk sozialer Bindungen, die neue Werte bereitstellen und mit ihnen Taten vorbereiten (McCauley und Moskalenko 2008). Ob jemand entscheidet, sich einer Gruppe anzuschließen, die eine Gewaltstrategie verfolgt, hängt psychologisch und sozialwissenschaftlich analysiert u. a. ganz wesentlich von der Gruppe ab: „three factors determine, whether or not an individual supports violent or ­constitutional politics: ideology, social networks, and expectations of success“ (White 1992). Die aktuelle internationale Radikalisierungsforschung im Bereich Islamismus geht davon aus, dass sich bis zu 75 % der sich Radikalisierenden aufgrund von Freundschafts- und Familiennetzwerken und deren religiöser Ausrichtung einer islamistischen bzw. salafistischen Gruppe anschließen (Nesser und ­ Stenersen 2014; Sageman 2004, 2014). Sowohl sozialpsychologische Modelle als auch empirische Studien schlussfolgern, dass der Einfluss von Gruppen auf Individuen in Bezug auf Gewaltanwendung enorm hoch ist (Borum 2011; Goertz 2017a; Nesser und Stenersen 2014; Sageman 2004, 2014). Verstärkend wirkt dieser Effekt dadurch, dass Gruppenentscheidungen die Rationalität des Individuums marginalisieren, sodass individuelle Meinungen und Haltungen hin zur Gewalt verstärkt werden. Die hohe Anziehungskraft von Gruppen wird dadurch erklärt, dass sich Individuen aufgrund von erwarteten Anreizen und Nutzen Gruppen an anschließen, die sowohl auf der Ebene von

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sozialen Kontakten als auch auf der Ebene von Sinn und Aufgabe bestehen. Eine dritte Gruppe wiederum ist vornehmlich auf der Suche nach thrill. Weil Gruppen die von Individuen ausgeübte Gewalt wohlwollend als Tat „für die gemeinsame Sache“ anerkennen und honorieren, kann dadurch auch extreme Gewalt getriggert werden. Ein ideologisch-moralisch auf der „richtigen Seite zu stehen“ kann insbesondere bei denjenigen Gruppen, die sich selbst als benachteiligt erleben („Kampf gegen westliche Demokratien und ihre Sicherheitsbehörden“) zu einer Selbstaufwertung führen. Diese Tendenz zu extremer Gewalt wird noch durch die psychologisch analysierte Neigung verstärkt, dass sich Individuen als Teil einer Gruppe weniger verantwortlich für gewalttätige Aktionen empfinden (Borum 2011; Goertz 2017a; Nesser und Stenersen 2014; Sageman 2004, 2014).

6.4 Radikalisierung durch islamistische und dschihadistische Angebote des Internets Virtuelle Dawa („Missionierung“) ist ein vitaler Faktor für eine islamistischen bzw. salafistische Radikalisierung und dient strategisch und taktisch der Rekrutierung und Motivation von Mitgliedern, Anhängern und Sympathisanten. Die virtuelle Rekrutierung reicht von einer Partizipation an salafistischen Aktionen, Demonstrationen, Koran-Verteilaktionen bis zu offenen Aufrufen zur aktiven Beteiligung am militanten Dschihad (Goertz 2016, 2017). Diese virtuelle Dawa findet sowohl in sozialen Netzwerken wie Facebook, Youtube, Twitter und Instagram statt, als auch auf den Websiten der jeweiligen islamistischen und jihadistischen Organisationen.1 Wichtige Ideologen und Führungspersonen von islamistischen und jihadistischen Gruppen nutzen Audio-, Video- und Textbotschaften und auch Videos im Stil von Reportagen in den sozialen Netzwerken, aber auch Instant-Messaging-Dienste und Videos, die auf Websites und in den sozialen Netzwerken verfügbar sind, um dort propagandistische, radikalisierende Inhalte zielgruppengerecht und multilingual zu kommunizieren. Auch Einladungen zu sog. „Islamseminaren“ und Vorträgen von überregional agierenden islamistischen „Predigern“ und Aufrufe zu Spendensammelaktionen

1Beispielhaft

ausgewählte Beispiele für virtuelle Dawa sind z. B. www.way-to-allah.com/ projekte.html; Denk mal islamisch!; sharia4belgium; sharia4holland; sharia4spain; Islam4UK, SalafiMedia, Tawheed Movement, Millatu Ibrahim, Abu-Z-Projekt; Muslim Mainstream, Independent Journalists, Shababul Islam Media und Sabri Ben Abda Media.

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für „­ Muslime in Kriegsregionen“ werden in islamistischen Internetangeboten tausendfach gepostet und verlinkt.2 Nach Angaben des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz beträgt der Anteil von islamistischen online Rekrutierungsmedien für den individuellen Radikalisierungs- und Entscheidungsprozess, sich jihadistischen Organisationen wie dem IS oder der Al Qaida in Syrien, dem Irak, in Libyen oder anderswo anzuschließen, seit der Ausrufung des Kalifatstaats IS im Sommer 2014 über 50 % (BKA und BfV 2017). Al Qaida bezeichnete schon im Jahr 2007 das Internet als „activating tool to pursue jihad and resistance in secrecy and alone […] and to form a cell for the individual jihad“ (Lia 2007). Individuelle, persönliche Erfahrungen von „Dschihad-Reisenden“, sowohl ihre „spirituell-religiöse“ als auch ihre geografische Reise an Dschihad-Schauplätze in Form von Posts, Berichten und Video-Clips haben eine wichtige propagandistisch-rekrutierende Funktion. Biografische „Wege in den Dschihad“ oder das „Leben als Mudschahid“ werden in den sozialen Netzwerken mit extrem vielen Likes bewertet und haben aufgrund ihrer (angeblichen, oftmals allerdings nicht verifizierbaren) Authentizität einen besonders hohen Radikalisierungsfaktor.3 Motivierende Aufrufe zur personellen und materiellen Unterstützung „des Dschihad“ werden religiös-ideologisch begründet und „der Dschihad“ als erste Pflicht für Muslime bezeichnet.4 Die islamistisch-salafistische Propaganda zielt, wie jede effektive Propaganda, vor allem auf eine emotionale Ebene ab und bedient sich hierfür technisch bei pop- bzw. subkulturellen Formaten wie Rap-Videos, Computerspielen und Filmen und deren Soziolekt, die unterhaltungsästhetischen Anforderungen entsprechen und damit ihre (junge) Zielgruppe in deren Lebenswirklichkeit abholen. Das Gros dieser Propagandavideos wirkt wie „Pop-Dschihad“ und das Zurschaustellen von Brutalität, u. a. in menschenverachtenden Hinrichtungsvideos – in welchen enthauptet und verbrannt wird –, weil genau diese archaische Brutalität – verpackt in moderne Video-Clip-Ästhetik – die (junge) Zielgruppe anspricht (Goertz 2016, 2017a).

2Ebd. 3„Baya

to the Islamic State, Abu Talha/bai’a ila daulat Al-Islam…Abu Talha Al-Almani“, youtube.com; www.ahlu-sunnah.com/threads/20701-wer-ist-euer-Führer; www.kuthba.net; www.alhamdudillah.net; www.al-azr.com; 02.10.2017. 4www.salafihd.com/salafimedia.de2/downloads/audio-vortraege/ebu-tejma/item/1742-dievorzüge-des-jihad.html; https://twitter.com/shamcenterinfo; 02.10.2017.

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Die zahlreichen Sympathisanten dieser islamistisch-salafistischen Angebote partizipieren und „teilen“ in Form eines Schneeballsystems, indem die Inhalte auf anderen Websites veröffentlicht und zu diesen verlinkt werden, diese kommentieren sowie den Adressatenkreis durch Übersetzungen in andere Sprachen erweitern. Das Web 2.0 mit seinen islamistischen und jihadistischen Angeboten dient islamistischen und jihadistischen Organisationen, Netzwerken, Gruppen und auch islamistischen Einzeltätern als „virtuelle Universität des Islamismus“, des Salafismus und des Jihadismus. Deutsche Sicherheitsbehörden analysieren den Anteil von islamistischen online Rekrutierungsmedien für den individuellen Radikalisierungs- und Entscheidungsprozess, sich jihadistischen Organisationen wie dem IS oder der Al Qaida in Syrien, dem Irak, in Libyen und anderen Staat anzuschließen, seit der Ausrufung des Kalifatstaats IS im Sommer 2014 mit über 50 % (BKA und BfV 2016).

7 Fazit Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus gehören zu den sicherheitspolitischen Bedrohungen der inneren und äußeren Sicherheit westlicher, demokratischer Staaten, aktuell und in den nächsten Jahrzehnten. Die Analyse der Radikalisierungsprozesse sowohl von Hit-Teams islamistisch-terroristischer Großorganisationen wie der Al Qaida und des „Islamischen Staates“ als auch von islamistischen Einzeltätern gehört daher zu den wesentlichen Aufgaben der sozialwissenschaftlichen, sicherheitspolitischen Forschung, aktuell und zukünftig. Allerdings hat diese Analyse festgestellt, dass die Schwerpunkte der deutschen Sozialwissenschaft im Bereich der Radikalisierungsforschung Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus vorsichtig ausgedrückt in Randbereichen liegen. Teile der deutschen Radikalisierungsforschung und die herrschende Meinung der internationalen sozialwissenschaftlichen Radikalisierungsforschung konzentrieren sich allerdings auf die drei wesentlichen Radikalisierungsfaktoren im Bereich Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus: 1) Radikalisierung durch die islamistische und dschihadistische Ideologie, 2) Islamistische Radikalisierung durch den soziale Nahbereich, das Milieu, die Peer Group, 3) Radikalisierung durch islamistische und dschihadistische Angebote des Internets. Um individuelle Radikalisierungsprozesse im Bereich Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus präzise und umfassend zu analysieren und aus den Analysen dann präventive und repressive Maßnahmen – sowohl von Sicherheitsbehörden, als auch zivilgesellschaftlich – zu entwickeln, muss die deutsche

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Radikalisierungsforschung so schnell wie möglich ihre Schwerpunktsetzung ändern. Ein Analysevakuum existiert sowohl bei der internationalen als vor allem bei der deutschen sozialwissenschaftlichen Radikalisierungsforschung auf der Ebene der Radikalisierungswirkung von charismatischen islamistischen, salafistischen Predigern – mit und ohne formelle islamisch-theologische Ausbildung.

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Recht als Grundlage und Schranke staatlichen Handelns bei der Bekämpfung des Terrorismus Ralf Gnüchtel 1 Einleitung Staatliches Handeln zur nachrichtendienstlichen Aufklärung terroristischer Aktivitäten, zur polizeilichen Verhütung oder Verhinderung terroristisch motivierter Straftaten oder zur Verfolgung von bereits begangenen Straftaten ist im Regelfall grundrechtsrelevant und setzt infolgedessen gesetzliche Eingriffsgrundlagen voraus. Das gesetzliche Recht in diesem Sinne ist zugleich Grundlage und Schranke staatlichen Handelns. Diesem doppelfunktionalen Charakter nach ermächtigt und entmächtigt das Gesetz alle staatlichen Organe im Hinblick auf ihre Handlungsoptionen. Die vollziehende Gewalt handelt heutzutage durchgängig als gesetzesdirigierte Gewalt – folgerichtig begründet, rechtfertigt und legitimiert das Gesetz staatliches Handeln, zugleich aber definiert es dasselbe und setzt somit klare Schranken.1 Dabei sind die einzelnen gesetzlichen Befugnisse zur staatlichen Intervention vor oder nach terroristischen Aktivitäten in systematischer Hinsicht unterschiedlichen Rechtsbereichen zuzuordnen. Der äußerst heterogene Rechtsrahmen der Terrorismusbekämpfung muss daher mit einem interdisziplinären Verständnis durchdrungen werden. Dazu ist es erforderlich, die jeweiligen rechtlichen

1Denninger

in Lisken/Denninger, HdB des Polizeirechts, B 50 ff.

R. Gnüchtel (*)  Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Freudenberg et al. (Hrsg.), Terrorismus als hybride Bedrohung des 21. Jahrhunderts, Sicherheit – interdisziplinäre Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20919-3_3

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R. Gnüchtel

Determinanten der Terrorismusbekämpfung zu bestimmen, zu analysieren und miteinander ins Verhältnis zu setzen. Darauf basierend können Regelungsbedarfe, Grenzüberschreitungen oder bestenfalls Gründe für eine Konsolidierung des bereits bestehenden Terrorismusbekämpfungsrechts dargelegt werden. Dies ist Gegenstand meines Beitrags.

2 Rechtliche Determinanten der Terrorismusbekämpfung Die Bekämpfung der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK) erfordert aufgrund ihrer vielschichtigen Ursachen ein breites Maßnahmenbündel unter Einbeziehung unterschiedlicher Handlungs- und Politikfelder (vgl. dazu auch Abb. 1). Ein ganzheitlicher Bekämpfungsansatz erfordert ein Zusammenwirken von Bundes- und Landespolizeibehörden, Nachrichtendiensten, Zollbehörden, Justiz, Ausländerbehörden, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Sozial- und anderen Verwaltungsbehörden sowie anderen Stellen, wie Wirtschaft, Verbände und Vereine. Das gemeinsame Vorgehen gegen die terroristische Bedrohung ist nur dann w ­ irksam und nachhaltig, wenn es vorausschauend, konzeptionell standardisiert und präzisiert, im

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Abb. 1   Rechtliche Determinanten der Terrorismusbekämpfung

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Sicherheitsverbund abgestimmt und unter Ausschöpfung der jeweiligen rechtlichen Möglichkeiten erfolgt.2 Im Vordergrund der nachfolgenden Betrachtung stehen die jeweiligen Rechtsrahmen der Nachrichtendienste (Schwerpunkt „Verfassungsschutzbehörden“3), Polizeibehörden und Strafverfolgungsbehörden. Flankierend wird in Ansätzen auch die Bedeutung der gefahrenabwehrenden Interventionsmöglichkeiten außerhalb der klassischen Sicherheitsbehörden aufgegriffen (insb. die Rechtsmaterie des Aufenthaltsgesetzes). Freilich beinhaltet ein ganzheitlicher Bekämpfungsansatz weit mehr Determinanten, die es gleichsam intensiv zu erforschen gilt (z. B. Prävention und Deradikalisierung4), jedoch nicht zum Schwerpunkt dieser Untersuchung erhoben werden.

2.1 Nachrichtendienstliche Früherkennung Während sich der Polizeiliche Staatsschutz mit der Verhütung, der Gefahrenabwehr und der Verfolgung von Straftaten der PMK befasst, beobachten die Verfassungsschutzbehörden verfassungsfeindliche Entwicklungen insbesondere im Extremismus und Terrorismusbereich.5 Dabei unterscheidet die Rechtsordnung zwischen einer grundsätzlich offen arbeitenden Polizei, die auf eine operative Aufgabenwahrnehmung hin ausgerichtet und durch detaillierte Rechtsgrundlagen angeleitet ist, und den grundsätzlich verdeckt arbeitenden Nachrichtendiensten, die zur politischen Information und Beratung auf die Beobachtung und Aufklärung im Vorfeld beschränkt sind und sich deswegen auf weniger

2IMK,

174. Sitzung, Beschluss 1.6. Deutschland existieren auf Bundesebene drei Nachrichtendienste: der Bundesnachrichtendienst (BND) als Auslandsnachrichtendienst, das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) als Inlandsnachrichtendienst sowie der Militärischen Abschirmdienst (MAD) als bundeswehrzugehörigem Nachrichtendienst. Zudem sind in jedem der 16 Bundesländer Verfassungsschutzbehörden der Länder als lokale Inlandsnachrichtendienste eingerichtet. Die Untersuchungen in diesem Beitrag konzentrieren sich auf die Inlandsnachrichtendienste, insofern die „Verfassungsschutzbehörden“. Sofern angesprochene Rechtsgrundlagen nicht nur im BVerfSchG, sondern auch im BND-Gesetz bzw. im MAD-Gesetz enthalten sind, wird im Kontext der Begriff „Nachrichtendienste“ verwendet. 4Die Ursachen des Terrorismus im Zuge von Prävention und Deradikalisierung zu bekämpfen ist eines der Ziele der Bundesregierung, dazu vgl. Internetauftritt des Bundesministeriums des Innern unter http://www.bmi.bund.de/DE/Themen/Sicherheit/Terrorismusbekaempfung/ Terrorismus/terrorismus_node.html (Login vom 3. Oktober 2017). 5BT, WD 3 – 3000 – 248/12, S. 4. 3In

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ausdifferenzierte Rechtsgrundlagen stützen können.6 Diesem Grundverständnis folgend dürfen Nachrichtendienste keine Zwangsbefugnisse ausüben, keine Weisungen an Polizeibehörden erteilen und auch nicht im Wege der Amtshilfe um Maßnahmen ersuchen, zu denen sie selbst nicht befugt sind.7 Wie das BVerfG8 ausgeführt hat, ist nach dem informationellen Trennungsprinzip der Austausch von personenbezogenen Daten zwischen Nachrichtendiensten und Polizeibehörden für ein mögliches operatives Tätigwerden nur dann zulässig, wenn der Datenaustausch einem herausragenden öffentlichen Interesse dient, das den Zugriff auf Informationen unter den erleichterten Bedingungen, wie sie den Nachrichtendiensten im Unterschied zur Polizei zu Gebot stehen, rechtfertigt. Die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder haben nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 10b und Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG die Aufgabe, Informationen und Erkenntnisse über verfassungsfeindliche Bestrebungen und Entwicklungen zu sammeln und auszuwerten. Die diesbezüglichen Informationen beziehen sich insbesondere auf sach- und personenbezogene Auskünfte, Nachrichten und Unterlagen.9 Der maßgebliche Beobachtungsauftrag der Verfassungsschutzbehörden bezieht sich nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 BVerfSchG auf Bestrebungen, die gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gerichtet sind oder eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes oder ihrer Mitglieder zum Ziel haben.10 In zeitlicher Hinsicht ist dabei von Bedeutung, dass die Verfassungsschutzbehörden Gefahren durch politischen Extremismus, Terrorismus sowie Bedrohungen durch Spionageaktivitäten weit im Vorfeld ­polizeilicher

6BVerfG,

Urteil vom 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07 -, BVerfGE 133, 277–377, Rn. 122. BVerfG, Urteil vom 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07 -, BVerfGE 133, 277–377, Ls. 2, Rn. 119. 8Mit der Entscheidung zur Antiterrordatei, BVerfG, Urteil vom 24. April 2013 – 1 BvR 1215/07 -, BVerfGE 133, 277–377, Ls. 2, Rn. 123. 9Bergemann in Lisken/Denninger, HdB des Polizeirechts, H 14. 10Darüber hinaus erstreckt sich nach § 3 Abs. 1 BVerfSchG die Aufgabe auch auf die Sammlung und Auswertung von Informationen über (Nr. 2) sicherheitsgefährdende oder geheimdienstliche Tätigkeiten im Geltungsbereich dieses Gesetzes für eine fremde Macht, (Nr. 3) Bestrebungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden sowie (Nr. 4) Bestrebungen im Geltungsbereich dieses Gesetzes, die gegen den Gedanken der Völkerverständigung (Artikel 9 Abs. 2 des Grundgesetzes), insbesondere gegen das friedliche Zusammenleben der Völker (Artikel 26 Abs. 1 des Grundgesetzes) gerichtet sind. 7Vgl.

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Maßnahmen erkennen und einschätzen. Die Verfassungsschutzbehörden bedienen somit ein „Frühwarnsystem“, um mittels Lagebilder und Analysen die Bundesregierung und die Landesregierungen zu informieren, die ihrerseits rechtzeitig Maßnahmen zur Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die innere Sicherheit einleiten können. Ferner übermitteln die Verfassungsschutzbehörden einzelne Erkenntnisse direkt an Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften, um exekutive Maßnahmen zu unterstützen (jedoch nicht, um diese zu initiieren).11 Soweit die Erkenntnisübermittlung für die Verhinderung oder Verfolgung von Staatsschutzdelikten erforderlich ist, besteht gegenüber den Staatsanwaltschaften und der Polizei nach § 20 Abs. 1 BVerfSchG (ebenso für den BND und den MAD nach § 9 BNDG, § 11 MADG) eine Übermittlungspflicht.

2.2 Polizeiliche Straftatenverhütung und (konkrete) Gefahrenabwehr Die polizeilichen Befugnisse im Bereich der Gefahrenabwehr sind in den jeweiligen Polizeigesetzen geregelt. Die Aufgabe der Polizei, Rechtsgüter zu schützen, beginnt mit der Straftatenverhütung und endet mit der (konkreten) Gefahrenabwehr. Die Befugnisse der Polizei stellen unter Berücksichtigung der Schnittstellen zu den Nachrichtendiensten und zu den polizeilichen Strafverfolgungsaufgaben das wesentliche Instrumentarium dar, um die öffentliche Sicherheit aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Sofern die Polizei nach dem Befugnisrahmen der Strafprozessordnung tätig wird, verfolgt sie im Regelfall Straftaten und agiert nach erfolgter Rechtsgutsverletzung zur Sicherung des staatlichen Strafverfolgungsanspruchs. Die strikte Unterscheidung zwischen den beiden Aufgabenbereichen Gefahrenabwehr (i. d. S. Straftatenverhütung und konkrete Gefahrenabwehr) und Strafverfolgung ist aus unterschiedlichen Gründen unerlässlich und sollte möglichst trennscharf voneinander abgegrenzt werden. Richtet man den Fokus auf die Regelungskompetenzen, so fallen nach Art. 74 Nr. 1 GG das materielle Strafrecht, der Strafvollzug und das gerichtliche Verfahren in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung. Zum gerichtlichen Verfahren gehört auch die Tätigkeit der Polizei im straftatenverfolgenden Ermittlungsverfahren. Der Bund hat auf

11Verfassungsschutzbericht

2016, S. 16; zum „Ziel des Verfassungsschutzes“ ausführlich Roth in Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht, BVerfSchG § 1 Rn. 2 ff.

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diesem Gebiet weitgehend von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch gemacht.12 Insofern sind die Länder von der diesbezüglichen Gesetzgebung ausgeschlossen (Prinzip der Sperrwirkung nach Art. 72 Abs. 1 GG). Polizeirecht ist hingen grundsätzlich Sache der Landesgesetzgebung (Rückschluss aus Art. 30 GG). Darüber hinaus weist das Grundgesetz dem Bund polizeiliche Regelungskompetenzen in bestimmten Bereichen zu (z. B. durch Art. 73 Nr. 5 GG die Kompetenz zur Regelung des Grenzschutzes oder durch Art. 73 Nr. 10a GG die Kompetenz zur Regelung der kriminalpolizeilichen Zusammenarbeit), ferner ergeben sich kraft Sachzusammenhanges weitere Bundeskompetenzen zur polizeilichen Gefahrenabwehr.13 Die polizeilichen Aufgaben auf Bundesebene werden durch die Bundespolizei14 und das Bundeskriminalamt wahrgenommen. Ein weiterer Unterschied ist die Weisungsgebundenheit der Polizei an die Staatsanwaltschaft im Bereich der Strafverfolgung. Während die Polizei im Ermittlungsverfahren die operative Komponente dargestellt, obliegt die Gesamtverantwortung der Staatsanwaltschaft (als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“). Der Staatsanwaltschaft steht aber im Bereich der Gefahrenabwehr keine Weisungsbefugnis zu. Beim unmittelbaren Zusammentreffen von Strafverfolgungs- und Gefahrenabwehrmaßnahmen sind im Einzelfall die Regelungen in Anlage A Abschnitt B III. RiStBV15 zu beachten, d. h. nach dem Grundsatz der Güter- und Pflichtenabwägung ist zu entscheiden, in

12Dazu

differenziert Denninger in Lisken/Denninger, HdB des Polizeirechts, D 171. Denninger/Poscher in Lisken/Denninger, HdB des Polizeirechts, B 143 ff. 14Zum Aufgabenspektrum der Bundespolizei vgl. Gnüchtel in Heesen/Hönle/Peilert/ Martens, BPolG, § 1 Rn. 4 ff. 15„Ergeben sich bei einem einheitlichen Lebenssachverhalt gleichzeitig und unmittelbar Aufgaben der Strafverfolgung und der Gefahrenabwehr, so sind die Staatsanwaltschaft und die Polizei zuständig, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben notwendigen Maßnahmen zu treffen. In einem solchen Falle ist eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei in ganz besonderem Maße erforderlich. Die partnerschaftliche Zusammenarbeit gebietet es, dass jede Stelle bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben auch die Belange der übrigen sich aus dem Lebenssachverhalt stellenden Aufgaben berücksichtigt. Schaltet sich die Staatsanwaltschaft ein, so werden der Staatsanwalt und die Polizei möglichst im Einvernehmen handeln. Dies gilt auch dann, wenn die Situation die gleichzeitige angemessene Wahrnehmung beider Aufgaben nicht zulässt. In diesem Falle ist nach dem Grundsatz der Güter- und Pflichtenabwägung jeweils für die konkrete Lage zu entscheiden, ob die Strafverfolgung oder die Gefahrenabwehr das höherwertige Rechtsgut ist. Erfordert die Lage unverzüglich eine Entscheidung über die Anwendung unmittelbaren Zwanges und ist ein Einvernehmen darüber, welche Aufgabe in der konkreten Lage vorrangig vorzunehmen ist, – gegebenenfalls auch nach Einschaltung der vorgesetzten Dienststellen – nicht herzustellen, so entscheidet hierüber die Polizei.“ 13Weiterführend

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welchem Aufgabenbereich der Schwerpunkt der Tätigkeit liegt.16 Schließlich sind die handlungsleitenden Prinzipien von Bedeutung. Für die Gefahrenabwehr gilt der Grundsatz der Opportunität, d. h. die Polizei hat im Einzelfall zu entscheiden, ob (=Entschließungsermessen) und wie (=Auswahlermessen) einzuschreiten ist.17 Für die Strafverfolgungstätigkeit gilt das Prinzip der Legalität. Für die Strafverfolgungstätigkeit der Polizei ist das Legalitätsprinzip über § 163 Abs. 1 StPO sowie über §§ 152 Abs. 2, 160 und 161 StPO verankert. Der Sinn des Legalitätsprinzips erschließt sich aus den Kerngedanken des Rechtsstaatsprinzips und des Demokratieprinzips, da die Herrschaft des Gesetzes (ohne auslegbaren Ermessenspielraum) bei der Strafverfolgung ein fundamentales Gebot rechtsstaatlicher Strafgerechtigkeit darstellt.18 Während die Polizei im Rahmen der Verfolgung von Straftaten auf einheitliche gesetzliche Befugnisse zurückgreifen kann, liegt die Problematik bei der Aufgabenwahrnehmung zur Abwehr von Gefahren auf der Hand. Die jeweiligen polizeilich-präventiven Befugnisrahmen in Bund und Ländern sind höchst heterogener Natur. Die Gesetzgeber haben die Relevanz technischer, gesellschaftlicher und sicherheitspolitischer Entwicklungen unterschiedlich wahrgenommen und entsprechend die jeweiligen Polizeigesetze ausgestaltet. Unterschiedliche Entwicklungslinien sind aus dem föderativen Grundverständnis heraus nicht zu beanstanden. Auf der anderen Seite ist es jedoch gerade im Hinblick auf die überdimensionale Bedrohung durch den internationalen Terrorismus und des terroristischen Handlungsraums nicht mehr vermittelbar, dass die Sicherheitsarchitektur derart heterogen ausgestaltet ist und infolgedessen nicht in vergleichbarem Maße in jedem Bundesland die Sicherheit für Leib, Leben, Freiheit und Eigentum gewährleistet werden kann.

2.3 Strafverfolgung und Strafrechtsentwicklung Das materielle Strafrecht ist hingegen kein Zugleich-Gefahrenabwehrrecht. Bei der möglichen Bandbreite von gesetzlichen Maßnahmen stellt das materielle Strafrecht als schärfstes Schwert des Staates die Ultima Ratio des Rechtsgüterschutzes dar. Den bewusst fragmentarischen Charakter gilt es dadurch zu wahren, dass nur

16Zöller

in Gercke/Julius/Temming/Höller, Heidelberger Kommentar, § 161 Rn. 29. in Heesen/Hönle/Peilert/Martens, BPolG, § 16 Rn. 2. 18Weitergehend Denninger in Lisken/Denninger, HdB des Polizeirechts, D 183. 17Peilert

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solche Verhaltensweisen mit einer kriminalstrafrechtlichen Sanktion belegt werden, die nach weit verbreiteter Definition strafwürdig und strafbedürftig19 sind bzw. die in Anlehnung an die Radbruchsche Rechtsidee den Prüfmerkmalen der Strafgerechtigkeit, der Rechtssicherheit und der Zweckmäßigkeit entsprechen.20 Das diese verfassungsrechtlich ableitbaren, aber in ihrer Entstehung noch wesentlich älteren Prinzipien des Rechts und im Speziellen des Strafrechts nach wie vor Bestand haben und nicht durch Konstruktionen wie das sog. Feindstrafrecht (dazu unten mehr) beseitigt werden dürfen, ist meines Erachtens selbstverständlich und soll an dieser Stelle auch nicht weiter diskutiert werden. Auf den ersten Blick erscheint das Ansinnen, die Straftatbestände gleichermaßen wie die Gefahrenabwehrtatbestände an die durch den Terrorismus angespannte Sicherheitslage anzupassen, nachvollziehbar. Sofern jedoch bestimmte gefährliche Vorbereitungshandlungen weit im Vorfeld sonst erst strafbarer Versuchshandlungen unter Strafe gestellt werden und damit eine Überlagerung des materiellen und formellen Strafrechts in den ursprünglichen Bereich des Gefahrenabwehrrechts erfolgt, eröffnen sich mannigfaltige Problemfelder – nicht nur solche strafrechtsphilosophischer oder rechtsdogmatischer Art. Wenn sich die Grenzen zwischen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung über unvermeidbare Naht- und Schnittstellen hinaus vermischen, wird eine Verfahrensweise begünstigt, die einerseits nicht ihre Grenzen, andererseits nicht ihre Möglichkeiten in den bewährt getrennten Rechtssphären der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung finden kann. Im Hinblick auf die Gefahrenabwehr ist das eine Entwicklung contra Sicherheit, denn die Gewährleistung von Sicherheit ist primär genuines Polizeirecht und der präventivpolizeiliche Rechtsgüterschutz lässt tiefere Grundrechtseingriffe zu als das staatliche Interesse an einer Strafverfolgung.21 Damit einhergehend erscheint es widersinnig, wenn der vormals im Sinne des Polizeirechts als Handlungsverantwortliche (veraltet Störer) zu bezeichnende Adressat sofort zum Tatverdächtigen wird, obgleich der Gefahrenabwehrsachverhalt gegenüber der Strafverfolgung bei drohendem Schaden Vorrang hat. Dies verzerrt die rechtlich zugewiesenen staatlichen Interventionszuständigkeiten sowie -verantwortlichkeiten und überträgt die Verfahrensherrschaft für einen Gefahrenabwehrsachverhalt (der zugleich unter Strafe gestellt

19Zu

den Begriffen Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit vgl. Deckert, ZIS 2013, 266 ff. grundlegend Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 8 ff.; Vormbaum, Strafrechtspolitik, S. 29 ff.; ders. in ebenda, S. 57 ff.; Gnüchtel, JBÖS 2014/2015, S. 520 ff.; speziell im Kontext zum Terrorismusstrafrecht ders., JBÖS 2016/2017, S. 357 ff. 21Peilert, Die Kriminalpolizei 2005, 86 (86). 20Dazu

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wurde) auf die dafür unzuständige und in dieser Materie fachlich nicht aufgestellte Staatsanwaltschaft.22 Zum anderen ist die Beweisführung im Rahmen der Einlösbarkeit materieller Vorgaben bei entsprechender Ausdehnung des Strafrechts tendenziell schwieriger. Wenn anstatt konkreter Schäden (in der tatbestandlichen Ausgestaltung sog. Verletzungsdelikte) bereits abstrakte Gefährdungen oder bestimmte Vorbereitungshandlungen zum Tatbestand erhoben werden, besteht die Gefahr, dass sich die Strafverfolgungsbehörden im Subjektiven verlieren. Tendenziell kann ausgeführt werden: Je weniger prägnant die Strafnormen formuliert sind und je weitläufiger die Tatbestandsmerkmale auszulegen sind, desto größer scheint das Bedürfnis, durch umfangreiche und zeitintensive verdeckte Maßnahmen den Erfüllungsvoraussetzungen eben jener eher unbestimmten Tatbestandsmerkmale zu genügen – im Bereich der Vorverlagerung des Strafrechts in den Gefahrenabwehrbereich eine fatale Entwicklung, sofern dabei das Ziel aus den Augen verloren wird. Sinnvoller erscheint in diesen Fällen ein kombinierter Ansatz aus gefahrenabwehrenden Maßnahmen zur Verhinderung terroristischer Straftaten und rechtzeitig vorbereiteter Anschlussmaßnahmen, z.  B. „Aussteigerprogramme“ bei deutschen Staatsangehörigen oder konsequente Abschiebungen bei Drittstaatsangehörigen, insb. nach § 58a AufenthG. Schließlich steigt die Gefahr der fahrlässigen Nichterkennung von Straftaten durch Amtsträger. Der Anfangsverdacht einer Straftat ist nach § 152 Abs. 2 StPO dann begründet, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen, d. h. es müssen zumindest konkrete Tatsachen vorliegen, die es nach kriminalistischer Erfahrung als möglich erscheinen lassen, dass eine verfolgbare Straftat begangen wurde.23 Der Anfangsverdacht stellt daher einen unbestimmten Rechtsbegriff mit Beurteilungsspielraum dar.24 Dies erscheint bereits problematisch, da die Polizei gem. § 163 Abs. 1 StPO dem Legalitätsprinzip unterworfen ist und die Nichtbeachtung als Strafvereitelung im Amt nach § 258a StGB (ab dolus directus 2. Grades, darunter ggf. auch disziplinarrechtlich) sanktioniert wird. Mangels eines Ermessensspielraums ist die Polizei verpflichtet, Straftaten aller Couleur zumindest im Rahmen des sog. ersten Angriffs zu verfolgen. Die Prüfung des Anfangsverdachts mit der damit verbundenen Weichenstellung für Folgemaßnahmen obliegt in häufig zeitkritischen Situationen den handelnden Polizeibeamten.

22Dazu

ausführlich Gnüchtel, JBÖS 2014/2015, S. 516. in Gercke/Julius/Temming/Höller, Heidelberger Kommentar, § 152 Rn. 11. 24Vgl. BGH, Beschluss vom 28.2.1997 – StB 14/96 -, juris. 23Gercke

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Verknüpft mit der Ausdehnung des materiellen Strafrechts wird sich auch der polizeiliche Prüfbereich für den Anfangsverdacht erweitern, was in der praktischen Konsequenz einer anzunehmenden erhöhten Nichterkennungsquote einen Widerspruch zum Legalitätsprinzip begründen kann.

2.4 Rechtsrahmen für sonstige staatliche Interventionen Während polizeiliche Interventionen im Rahmen der Gefahrenabwehr zumeist punktuell den Schadenseintritt verhindern sollen, sind weitergehende Maßnahmen der behördlichen Gefahrenabwehr zur nachhaltigen Verhinderung von terroristischen Straftaten gleichermaßen von Bedeutung. Bei deutschen Staatsangehörigen muss mittel- bis langfristig eine erfolgreiche Abkehr von terroristischen Bestrebungen erzielt werden, um – unabhängig von etwaiger Strafverbüßung – eine gesellschaftliche Reintegration zu ermöglich. Bei solchen Personen, die in Deutschland kein Bleiberecht haben oder denen das Bleiberecht entzogen werden kann, sind Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung und – im Falle des Auslandsaufenthaltes – zur Rückreiseverhinderung erforderlich. Der gesetzliche Rahmen für Abschiebungsanordnungen bei einer terroristischen Gefahr wurde mit § 58a AufenthG geschaffen, einer Vorschrift, die nach Inkrafttreten im Januar 200525 nach über zehn Jahren das erste Mal angewendet wurde. Nach § 58a Abs. 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde gegen einen Ausländer aufgrund einer auf Tatsachen gestützten Prognose zur Abwehr einer besonderen Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder einer terroristischen Gefahr ohne vorhergehende Ausweisung eine Abschiebungsanordnung erlassen. Die Abschiebungsanordnung ist sofort vollziehbar; einer Abschiebungsandrohung bedarf es nicht. Nach Feststellung des BVerfG ist nach dieser Vorschrift die Abschiebung von Ausländern, von denen nach Einschätzung der Sicherheitsbehörden eine Terrorgefahr ausgeht, mit dem Grundgesetz vereinbar.26 Im Ausländerrecht sind weitere, sicherheitsrechtliche Elemente aufgenommen worden, so beispielsweise terrorismusspezifische Versagungsgründe für die Erteilung eines Aufenthaltstitels, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 54 Abs. 1 Nr. 2 und 4 AufenthG (insb. wenn Tatsachen die

25BGBl.

I 2004 S. 1950. erfolglosen Verfassungsbeschwerde vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 24. Juli 2017 – 2 BvR 1487/17 -, juris.

26Zur

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Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Ausländer einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er eine schwere staatsgefährdende Gewalttat nach § 89a Abs. 2 StGB vorbereitet oder vorbereitet hat). Derartige, auf die Verhinderung terroristischer Straftaten bezogene Maßnahmen sind gleichsam unverzichtbare Instrumentarien, die im Zuge des beschriebenen ganzheitlichen Bekämpfungsansatzes insbesondere rechtzeitig vorbereitet werden müssen, was eine frühzeitige Einbindung entsprechender Entscheidungsträger bedarf.

3 Gesetzgeberische Handlungsbedarfe Innerhalb der jeweiligen Rechtsrahmen der Nachrichtendienste, Polizeibehörden und Strafverfolgungsbehörden sind bei gegenwärtiger Bestandsaufnahme unterschiedliche Handlungsbedarfe erkennbar, die von der Beseitigung von Wertungsinkonsistenzen über Harmonisierungserfordernisse zur Gewährleistung eines bundesdeutschen Sicherheitsstandards bis hin zur Erschließung neuer erforderlicher Handlungsräume zur optimierten Bekämpfung des internationalen Terrorismus reichen. Dabei soll nicht der Eindruck entstehen, dass der Gesetzgeber bisher im Bereich der Rechtsetzung groben Fehleinschätzungen unterlegen ist. Ganz im Gegenteil: Deutschland verfügt bereits über ein ausdifferenziertes und effektives Terrorismusbekämpfungsrecht, welches nur in zumeist sehr speziellen fachlichen Detailbereichen Optimierungsbedarf aufweist.27 Entsprechende Handlungsfelder werden nachfolgend detaillierter beleuchtet.

3.1 Verfassungsschutzrecht Es ist schon erstaunlich, dass mit dem Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 23. August 201728 die Befugnis zur Online-Durchsuchung eingeführt wurde (§ 100b StPO), während diese Befugnis den Verfassungsschutzbehörden mangels gesetzlicher Ermächtigung nicht zur Verfügung steht. Mit anderen Worten: Diese Befugnis steht der Exekutive im Rahmen der Verfolgung von begangenen Straftaten zur Verfügung, jedoch nicht im Zuge der nachrichtendienstlichen Früherkennung solcher Straftaten. Daraus ergibt

27Vgl.

Gnüchtel, NVwZ 2016, 1113 (1119). I 2017, 3202.

28BGBl.

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sich die Kernkritik, die sich wie ein roter Faden durch diesen Beitrag zieht (und im Übrigen auch das Verhältnis zwischen polizeilicher Gefahrenabwehr und Strafverfolgung umfasst). Zum Schutze hochrangiger Individual- und Kollektivrechtsgüter sollten den Verfassungsschutzbehörden, bei gegebenem informationellem Trennungsprinzip, im Hinblick auf die Rechtsfolge dieselben Erhebungsbefugnisse zur Verfügung stehen, wie den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden. Es erscheint widersinnig, dass die Verfassungsschutzbehörden keine Maßnahmen zur Online-Durchsuchung treffen oder vorsorglich gespeicherte Telekommunikationsverkehrsdaten – auch diese Befugnis ist ausschließlich dem Aufgabenfeld der Strafverfolgung (§ 100g Abs. 2 StPO, § 113b TKG) vorbehalten – erheben dürfen.29 Erwähnenswert ist ferner die Entwicklung der sog. Terrorismusbekämpfungsgesetze. Mit dem Gesetz zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus (Terrorismusbekämpfungsgesetz) vom 9. Januar 200230 wurden insgesamt zwanzig Gesetze und Verordnungen als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 novelliert31, um dieser neuen Bedrohungslage mit neuen Befugnissen zu begegnen.32 Auf der Basis von Evaluationsergebnissen wurden diese Befugnisse durch mehrere Folgegesetze präzisiert.33 Vor Januar 2021 hat sich der Gesetzgeber wiederum aufgrund der durch Art. 1 des Gesetzes zur Verlängerung der Befristung von Vorschriften nach den Terrorismusbekämpfungsgesetzen vom 3. Dezember 201534 (Im Folgenden: Verlängerungsgesetz) mit diesem Rechtsrahmen zu befassen – nach wiederum erneuter Evaluierung. Da bereits im Rahmen des Verlängerungsgesetzes keine inhaltlichen Änderungen vorgenommen wurden, besteht die Wahrscheinlichkeit, dass der Gesetzgeber die Befugnisse 29So

auch Marscholleck, NJW 2015, 3611 (3616). I 2002, 361. 31Insbesondere erweiterte Kompetenzen für Sicherheitsbehörden, Verbesserung des Datenaustausches, Verhinderung der Einreise terroristischer Straftäter, identitätssichernde Maßnahmen im Visumverfahren, Verbesserungen bei der Grenzkontrolle, verstärkte Überprüfung von sicherheitsempfindlichen Tätigkeiten, biometrische Merkmale in Pässen und Personalausweisen, Beschränkungen für extremistische Ausländervereine, Rasterfahndung, Schusswaffengebrauch in zivilen Luftfahrzeugen nur durch Polizeibeamte, Sicherstellung der Energieversorgung. 32Als erste Reaktion nach den Anschlägen wurde bereits am 20. September 2001 im Rahmen einer von Deutschland initiierten Sondersitzung des Rates Justiz und Inneres ein umfangreicher Maßnahmenkatalog zur Terrorismusbekämpfung beschlossen, vgl. dazu BT-Drs. 14/7386, S. 35. Das dann folgende sog. Sicherheitspakte I widmete sich vorrangig der strafrechtlichen und vereinsrechtlichen Bekämpfung des Terrorismus. 33Zur Genese der Terrorismusbekämpfungsgesetze Gnüchtel, NVwZ 2016, 13 (13). 34BGBl. I 2015, 2161. 30BGBl.

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festschreiben wird. Umso wichtiger erscheint die Darlegung des Änderungsbedarfs, der nachfolgend anhand einiger Beispiele skizziert wird.35 Nach § 8a Abs. 1 BVerfSchG kann das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) bei denjenigen, die geschäftsmäßig Teledienste erbringen oder daran mitwirken, Auskunft über Daten einholen, die für die Begründung, inhaltliche Ausgestaltung, Änderung oder Beendigung eines Vertragsverhältnisses über Teledienste (Bestandsdaten) gespeichert worden sind, soweit dies zur Sammlung und Auswertung von Informationen erforderlich ist und tatsächliche Anhaltspunkte für schwerwiegende Gefahren für die in § 3 Absatz 1 genannten Schutzgüter vorliegen. In Relation zu sonstigen Befugnisnormen zur Erhebung von Bestandsdaten enthält § 8a Abs. 1 BVerfSchG mit der Eingriffsschwelle „tatsächliche Anhaltspunkte für schwerwiegende Gefahren“ erhöhte Voraussetzungen. Deutlich wird die Wertungsinkonsequenz bei Betrachtung der Befugnis § 8d Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG (Auskunft über Bestandsdaten nach §§ 95 und 111 TKG). Die Norm wurde durch das Gesetz zur Änderung des Telekommunikationsgesetzes und zur Neuregelung der Bestandsdatenauskunft vom 20. Juni 201336 eingeführt. Durch dasselbe Gesetz sind auch weitere Regelungen zur Bestandsdatenauskunft in anderen Sicherheitsgesetzen eingeführt worden. Dieser neue gesetzgeberische Standard für die Erhebung von Bestandsdaten in Anlehnung an den Beschluss des BVerfG vom 24. Januar 201237 beschränkt sich auf die Eingriffsschwelle unterhalb tatsächlicher Anhaltspunkte für schwerwiegende Gefahren (ausreichend ist vielmehr die jeweils erforderliche Aufgabenwahrnehmung). Damit wird die Wahrnehmung der öffentlichen Aufgabe der Nachrichtendienste im Rahmen der Erhebung von diesbetreffenden Bestandsdaten ohne zureichende Sachgründe beschränkt.38 Ihrem Charakter nach eine Bestandsdatenerhebung ist auch die Befugnis zur Auskunft von Kontostammdaten nach § 8 Abs. 2a BVerfSchG. Sie umfasst lediglich die Feststellung der Existenz eines Kontos, eines Kontoinhabers oder eines Kontobevollmächtigten. In Abgrenzung zur eingriffsintensiveren Erhebung von Informationen zu Guthaben, Belastungen oder Umsätzen nach § 8a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BVerfSchG sollte die Kontostammdatenauskunft nach § 8a Abs. 2a BVerfSchG an der Eingriffsschwelle für Bestandsdatenauskünfte (z. B.

35Ausführlich

bei Gnüchtel, NVwZ 2016, 13 (15 ff). I 2013, 1602. 37BVerfG, Beschluss vom 24. Januar 2012 – 1 BvR 1299/05 -, BVerfGE 130, 151–212. 38Vgl. Expertendarstellung im Rahmen der dritten Evaluation, vgl. BT-Drs. 18/5935, S. 27. 36BGBl.

66

R. Gnüchtel

§ 112 TKG, § 24c KWG, §§ 93, 93b AO, § 8d Abs. 1 Satz 1 BVerfSchG) ausgerichtet werden.39 Wertungsinkonsistenzen sind auch im Hinblick auf die Befugnisse zur Einholung von Auskünften bei Luftfahrtunternehmen, Kreditinstituten, Telekommunikationsdiensten und Telediensten nach § 8a Abs. 2 BVerfSchG offensichtlich.40 Die auf „Tatsachen“ basierende Verdachtsschwelle weist höhere Anforderungen als die häufig mit schwereren Grundrechtseingriffen einhergehende Verdachtsschwelle nach dem Artikel 10-Gesetz („tatsächliche Anhaltspunkte“) auf. So bedarf es z. B. nach § 8a Abs. 2 Nr. 4 BVerfSchG bei der Erhebung von Verkehrsdaten höheren Voraussetzungen als bei der eingriffsintensiveren Erhebung von konkreten Gesprächsinhalten nach § 3 des Artikel 10-Gesetzes. Nachrichtendienstliche Frühaufklärung bedarf einer Eingriffsschwelle, die bei Grundrechtseingriffen im Sinne des § 8a Abs. 2 BVerfSchG typischerweise auf „tatsächliche Anhaltspunkte“ ausgelegt sein sollte.41 Die gesetzgeberische Absicht, im Zuge des Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsschutzgesetzes vom 7. Dezember 201142 im Verhältnis zu den überzogenen Anforderungen an die Bestandsdatenerhebung nach § 8a Abs. 1 BVerfSchG (wie oben dargestellt = „tatsächliche Anhaltspunkte“) eine abgestufte gesetzesinterne Systematik einzuführen43, hat die Gesamtstruktur der Schwellensystematik aus den Angeln gehoben. Auch bei den Verfahrensregelungen zu besonderen Auskunftsverlangen nach § 8b BVerfSchG existieren Wertungsinkonsistenzen, die das Verfahren in sachlich nicht begründeter Weise verkomplizieren. So trifft bei der Auskunftseinholung nach § 8a Abs. 2 BVerfSchG und bei der Kontostammdatenauskunft nach § 8 Abs. 2a BVerfSchG die G 10-Kommission die Letztentscheidung. Ursprünglich wurde die G 10-Kommission eingerichtet, um einen dem gerichtlichen Rechtsschutz gleichwertigen Rechtsschutz bei nachrichtendienstlichen Eingriffen in das Grundrecht aus Art. 10 GG zu gewährleisten. Eine Zuständigkeit der G 10-Kommission bei sonstigen Eingriffen muss sich sachgerecht auf solche Maßnahmen beschränken, die von entsprechendem Gewicht sind und bei strafprozessualen oder polizeilichen Eingriffen die Einschaltung eines Richters

39Gnüchtel,

NVwZ 2016, 13 (16); BT-Drs. 18/5935, S. 41. NVwZ 2016, 13 (16); vgl. auch Expertendarstellung im Rahmen der dritten Evaluation BT-Drs. 18/5935, S. 27. 41Dazu Bergmann in Lisken/Denninger, HdB des Polizeirechts, H 40 ff. 42BGBl. I 2011, 2576; vgl. auch BT-Drs. 17/6925, S. 1 ff. 43BT-Drs. 17/6925, S. 13; Mallmann in Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht, BVerfSchG § 8a Rn. 20. 40Gnüchtel,

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erfordern ­würden.44 Die Auskunftseinholung bei Luftfahrtunternehmen nach § 8a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BVerfSchG oder bei der Kontostammdatenerhebung nach § 8a Abs. 2a BVerfSchG ist eine entsprechende Eingriffsbedeutung nicht erkennbar. Daher ist der mit der Anordnung verbundene Verfahrensaufwand nicht durch entsprechende Schutzzwecke gerechtfertigt.45 Als weiteres Beispiel für eine verquere Rechtsentwicklung im Bereich der Nachrichtendienste ist die Abschaffung der Befugnis für Auskunftsverlangen gegenüber Postdienstleistern anzuführen. Durch das Änderungsgesetz im Jahr 2011 wurden aufgrund der im Rahmen der damaligen Evaluation festgestellten geringen Fallzahlen die Befugnisse zum Abruf von Bestandsdaten zu Postdienstleistungen und zur Einholung von Auskünften zu den Umständen des Postverkehrs (§8a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BVerfSchG-alt) aufgehoben.46 Bei neuerlicher Evaluation plädierten die Nachrichtendienste für eine Wiedereinführung der Befugnis. In der Praxis der Aufklärung von rechtsextremistischen und islamistischen Strukturen sind seit Streichung der Befugnis Fälle aufgetreten, die einen entsprechenden Bedarf begründen (Netzwerkkommunikation über Postfächer zwischen inhaftierten Personen)47. Das Beispiel zeigt, dass eine Diskussion geführt werden sollte, unter welchen Bedingungen empirische Befunde der retrospektiven Gesetzesfolgenauswertung gesetzgeberische Reaktionen auslösen sollte. Ein verständiger Gesetzgeber wird zumindest notweniges Handlungspotenzial für einen erwartbaren Sachverhalt auch dann nicht aufgeben, wenn das tatsächliche Fallaufkommen gering ist. Zudem eine Rechtsbereinigung erst dann angezeigt wäre, wenn künftige Anwendungsfälle verlässlich auszuschließen sind.48 Als positives Beispiel aus dem Bereich des Ausländerrechts ist die oben erwähnte Vorschrift zur Abschiebungsanordnung § 58a AufenthG anzuführen, die obgleich ihrer zunächst über zehnjährigen Nichtanwendung eine gegenwärtig nicht mehr hinwegzudenkende Befugnis im Rahmen einer ganzheitlichen Terrorismusbekämpfung darstellt.

44Mallmann

in Schenke/Graulich/Ruthig, Sicherheitsrecht, BVerfSchG § 8b Rn. 3. NVwZ 2016, 13 (17). 46BT-Drs. 17/6925, S. 12. 47Dazu näher Experteninterviews im Rahmen der letzten Evaluation, BT-Drs. 18/5935, S. 40. 48Zur Ergebnisinterpretation bei niedrigen Fallzahlen ausführlich Gnüchtel, NVwZ 2016, 13 (14). 45Gnüchtel,

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3.2 Polizeiliches Gefahrenabwehrrecht 3.2.1 Straftatenverhütung In den Polizeigesetzen dominieren Befugnisnormen, die ein Einschreiten erst ab der Schwelle einer konkreten Gefahr ermöglichen. Der Bereich der Straftatenverhütung wird vernachlässigt, obgleich er das wichtige Bindeglied zwischen dem nachrichtendienstlichen Aufklärungsergebnis und der konkreten Gefahrenabwehr darstellt (s. Abb. 1). Das BVerfG hat in seiner Entscheidung anlässlich der Verfassungsbeschwerde gegen die Ermittlungsbefugnisse des BKA zur Terrorismusbekämpfung49 den diesbezüglich bisher nicht umfassend wahrgenommenen Handlungsspielraum des Gesetzgebers konturiert und dabei klargestellt, dass der Gesetzgeber nicht auf die Schaffung von Eingriffstatbeständen beschränkt ist, die dem tradierten Modell der Abwehr konkreter, unmittelbar bevorstehender oder gegenwärtiger Gefahren entsprechen. Der Gesetzgeber kann Befugnisse zum Zwecke der Straftatenverhütung kodifizieren, indem er die Anforderungen an den Kausalverlauf (in Relation zur konkreten Gefahrenbegründung) reduziert. Dabei sind jedoch verfassungsrechtliche Maßstäbe zu beachten. In dem Segment der Straftatenverhütung müssen die Eingriffsgrundlagen eine hinreichend konkretisierte Gefahr in dem Sinne verlangen, dass zumindest tatsächliche Anhaltspunkte für die Entstehung einer konkreten Gefahr für die Schutzgüter bestehen. Dabei reicht eine auf allgemeine Erfahrungssätze gestützte Prognose nach Darlegung des BVerfG nicht aus. Bei entsprechenden Überwachungsmaßnahmen müssen vielmehr „bestimmte Tatsachen festgestellt sein, die im Einzelfall die Prognose eines Geschehens, das zu einer zurechenbaren Verletzung der hier relevanten Schutzgüter führt, tragen. Eine hinreichend konkretisierte Gefahr in diesem Sinne kann danach schon bestehen, wenn sich der zum Schaden führende Kausalverlauf noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorhersehen lässt, sofern bereits bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall drohende Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut hinweisen.“50 In Bezug auf die Anforderungen an die bestimmten Tatsachen gilt grundsätzlich und unabhängig vom Phänomenbereich: „Die Tatsachen müssen dafür zum einen den Schluss auf ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen zulassen, zum anderen darauf, dass bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt ist, dass die

49BVerfG, 50BVerfG,

Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 -, BVerfGE 141, 220–378. Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 -, BVerfGE 141, 220–378, Rn. 112.

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Überwachungsmaßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden kann.“51 Etwas leichtere Anforderungen stellt das BVerfG für die zu verhütenden terroristischen Straftaten alternativ auf: „In Bezug auf terroristische Straftaten, die oft durch lang geplante Taten von bisher nicht straffällig gewordenen Einzelnen an nicht vorhersehbaren Orten und in ganz verschiedener Weise verübt werden, können Überwachungsmaßnahmen auch dann erlaubt werden, wenn zwar noch nicht ein seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen erkennbar ist, jedoch das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie solche Straftaten in überschaubarer Zukunft begehen wird. Denkbar ist das etwa, wenn eine Person aus einem Ausbildungslager für Terroristen im Ausland in die Bundesrepublik Deutschland einreist.“52 Durch das Gesetz zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen vom 24. Juli 201753 ist Bayern dieser Zielrichtung gefolgt und hat die Voraussetzungen für ein polizeiliches Tätigwerden zur Straftatenverhütung in Art. 11 Abs. 3 BayPAG durch die Einführung der sog. drohenden Gefahr54 als zusätzliche Gefahrenbegriffskategorie zur besseren Erfassung von Vorbereitungshandlungen geregelt: „Die Polizei kann (…) die notwendigen Maßnahmen treffen, um den Sachverhalt aufzuklären und die Entstehung einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut zu verhindern, wenn im Einzelfall 1. das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet oder 2. Vorbereitungshandlungen für sich oder zusammen mit weiteren bestimmten Tatsachen den Schluss auf ein seiner Art nach konkretisiertes Geschehen zulassen, wonach in absehbarer Zeit Angriffe von erheblicher Intensität oder Auswirkung zu erwarten sind (drohende Gefahr), soweit nicht die Art. 12 bis 48 die Befugnisse der Polizei besonders regeln. Bedeutende Rechtsgüter sind:

51BVerfG,

Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 -, BVerfGE 141, 220–378, Rn. 112. Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 -, BVerfGE 141, 220–378, Rn. 112. 53GVBl. 13/2017, S. 388. 54Drs. 17/16299, S. 2. 52BVerfG,

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1. der Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes, 2. Leben, Gesundheit oder Freiheit, 3. die sexuelle Selbstbestimmung, 4. erhebliche Eigentumspositionen oder 5. Sachen, deren Erhalt im besonderen öffentlichen Interesse liegt.“ In Art. 11 Abs. 3 Nr. 1 BayPAG fehlt der Bezug zur Verhütung terroristischer Straftaten, obgleich diese Anforderung nach Wortlautauslegung des Urteils verknüpft ist mit der alternativen Voraussetzung des verdächtigen „individuellen Verhaltens“. Sofern kein konkretisiertes und absehbares Geschehen erkennbar ist, soll aufgrund des besonderen Phänomens der konspirativen und subkulturell geprägten Vorbereitung terroristischer Straftaten diese tatbestandliche Alternative ausreichen. Wenn insofern die zu verhütenden Bezugstaten bei dieser Alternative fehlen, bedarf es zumindest vergleichbarer Straftaten bzw. gleichwertig zu schützender Rechtsgüter. Durch die Legaldefinition bedeutender Rechtsgüter nach Art. 11 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 bis 5 BayPAG kann zumindest eine verfassungsrechtlich bedenkliche Öffnung des Art. 11 Abs. 3 Nr. 1 BayPAG ausgeschlossen werden. Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die polizeilichen Eingriffsnormen im Vorfeld konkreter Gefahren wurden ferner auf Bundesebene durch das Gesetz zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes vom 1. Juni 201755 umgesetzt. Einschlägig ist § 45 Abs. 1 BKAG-neu, der die Anforderungen für den Einsatz der besonderen Mittel der Datenerhebung regelt: „Das Bundeskriminalamt kann personenbezogene Daten mit den besonderen Mitteln nach Absatz 2 erheben über 1. (…), 2. eine Person, bei der bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie innerhalb eines übersehbaren Zeitraums auf eine zumindest ihrer Art nach konkretisierte Weise eine Straftat nach § 5 Absatz 1 Satz 2 begehen wird, 3. eine Person, deren individuelles Verhalten die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie innerhalb eines übersehbaren Zeitraums eine Straftat nach § 5 Absatz 1 Satz 2 begehen wird, oder 4. (…),

55BGBl.

I 2017, 1354 (wesentliche Regelungen treten erst am 25. Mai 2018 in Kraft), zur Begründung vgl. BT-Drs. 18/11163.

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wenn die Abwehr der Gefahr oder die Verhütung der Straftaten auf andere Weise aussichtslos ist oder wesentlich erschwert wäre. Die Maßnahme kann auch durchgeführt werden, wenn Dritte unvermeidbar betroffen werden.“ Beide Normen entsprechen im Wesentlichen den Anforderungen, dass ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und absehbares Geschehen erkennbar sein muss bzw. alternativ, dass das individuelle Verhalten einer Person die konkrete Wahrscheinlichkeit begründen muss, dass sie in überschaubarer Zukunft terroristische Straftaten (oder vergleichbar schwerwiegende Straftaten) begeht. Sie gelten insoweit als mögliche Blaupause für die dringend erforderlichen verfassungsrechtlichen Anpassungen in anderen Polizeigesetzen zur Eröffnung des polizeilichen Handlungsrahmens bei der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus im Vorfeld konkreter Gefahren.

3.2.2 Präventivpolizeiliche Befugnisse zum „verdeckten“ Einschreiten Die präventivpolizeiliche Überwachung des Telekommunikationsverkehrs (Telekommunikationsüberwachung = TKÜ) ist ein gutes Beispiel, um einerseits den noch lückenhaften „ganzheitlichen Ansatz“ zu analysieren, andererseits vehement bundesweite Standards im Zusammenhang mit der Datenerhebung zu fordern. Der Rechtsetzungsbedarf in diesem Segment ist evident. Im Bereich des internationalen Terrorismus ist zu beobachten, dass Personen zunehmend moderne Kommunikationstechnologien verwenden, um Netzwerke zu knüpfen, über das Internet mit Einzelpersonen zu kommunizieren, terroristische Straftaten vorzubereiten und insbesondere um Personen für terroristische Aktivitäten zu rekrutieren.56 Die TKÜ ist in der Strafprozessordnung in § 100a StPO geregelt und ermöglicht im Kern die Überwachung und Aufzeichnung von laufenden Telefongesprächen oder anderen Formen der Telekommunikation (z. B. E-Mails, SMS usw.), also die Erhebung von Inhaltsdaten – in Abgrenzung von Verkehrs- oder Stammdaten.57 Als Gefahrenabwehrmaßnahme ist die TKÜ bisher lediglich in den Polizeigesetzen von elf Bundesländern enthalten. In Berlin, Baden-Württemberg, Bremen, Sachen, Nordrhein-Westfalen58 und im Rahmen der Aufgabenwahrnehmung der Bundespolizei ist diese Maßnahme nicht zugelassen.59 Soweit keine ausdrückliche gesetzliche Regelung besteht, ist die TKÜ, etwa durch Rückzug auf 56Vgl. Verfassungsschutzbericht

2016, S. 166 ff. in Lisken/Denninger, HdB des Polizeirechts, G 320 ff. 58Vgl. synoptische Darstellung BT, WD 3 – 3000 – 020/17, S. 12. 59Vergleich der Polizeigesetze mit Stand 6. August 2017. 57Petri

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die Generalklausel, nicht zulässig.60 Es ist diesbezüglich Aufgabe des Gesetzgebers, im Sinne der mittlerweile klar abgrenzbaren Rechtsprechung zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen spezieller präventivpolizeilicher Befugnisnormen61, entsprechende Handlungsfähigkeit der Exekutivorgane durch Rechtsetzung herzustellen. Gleichermaßen von Bedeutung als Gefahrenabwehrinstrumentarium ist die Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ). Überwacht und aufgezeichnet werden wie bei der vorherig erwähnten TKÜ Gesprächsinhalte. In Betracht kommt die Quellen-TKÜ dann, wenn der Datenverkehr zwischen den Kommunikationsteilnehmern verschlüsselt erfolgt und die Inhalte der Polizei nicht zugänglich sind, d. h. wenn der Telekommunikationsanbieter die Inhalte an die Polizei (wie bei der klassischen TKÜ) ausleitet. Die Quellen-TKÜ setzt vor der Verschlüsselung an. Dies erfordert die Installation eines Programms auf dem für die Kommunikation genutzten Endgerätes, welches die Kommunikation vor der Verschlüsselung an die Gefahrenabwehr- oder Ermittlungsbehörde übermittelt. Lediglich in den Polizeigesetzen von vier Bundesländern (Hessen, ­Hamburg, Rheinland-Pfalz und Thüringen) sowie im Bundeskriminalamtgesetz ist die Quellen-TKÜ normiert.62 Weiterer Rechtsetzungs- und Rechtsharmonisierungsbedarf besteht im Hinblick auf die Auskunft über Verkehrs- und Vorratsdaten. Verkehrsdaten nach § 96 Abs. 1 TKG betreffen die äußeren technischen Umstände einer Telekommunikationsverbindung (Rufnummern und Standortkennungen der beteiligten Anschlüsse, Datum und Uhrzeit des Beginns und des Endes der Verbindung, Kartennummern usw.).63 Überwiegend (bis auf die Polizeigesetze der Bundesländer Berlin, Bremen, Sachsen und das Bundespolizeigesetz) enthalten die Polizeigesetze Regelungen über die Auskunft über Verkehrsdaten nach § 96 Abs. 1 TKG. Zur Aufklärung terroristischer Strukturen müssen Kommunikationsstrukturen zwischen deren Akteuren auch und gerade dann erkannt werden, wenn die Kommunikationsverbindung in der Vergangenheit stattgefunden hat. Nach § 113b Abs. 1 TKG erfolgt die Speicherung von Verkehrsdaten (sog. Vorratsdatenspeicherung) gegenwärtig nur sehr kurz. Vorratsdaten dürfen zudem von den Landes- und Bundessicherheitsbehörden

60Petri

in Lisken/Denninger, HdB des Polizeirechts, G 315; BT, WD 3 – 3000 – 020/17, S. 12, Fn. 70 m. w. N. 61Insbesondere durch BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 -, BVerfGE 141, 220–378. 62Vergleich der Polizeigesetze mit Stand 6. August 2017. 63Vgl. auch BT-WD 3 – 3000 – 020/17, S. 14.

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nicht zur Gefahrenaufklärung oder Gefahrenabwehr genutzt werden, sondern lediglich zur Strafverfolgung nach § 100g Abs. 2 StPO. Das wird dem Schutz der Bevölkerung jedoch nicht umfassend gerecht. Zum einen bedarf es bereits im Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen probater Mittel zur Gefahrenabwehr, die sich auch auf solche retrograden Kommunikationsstrukturen beziehen müssen, zum anderen ist die derzeitige Speicherdauer von 4 Wochen (Standortdaten) bzw. 10 Wochen (Rufnummern) nach § 113b TKG zu beanstanden. Das BVerfG hatte befürchtet, eine übermäßige Speicherdauer könne „nachhaltige Einschüchterungseffekte auf die Freiheitswahrnehmung“64 haben. Wenn die gegenwärtige Speicherfrist von 4 Wochen für Standortdaten bzw. 10 Wochen für Rufnummern auf einige Monate verlängert werden würde, ist nicht ernstlich damit zu rechnen, dass davon die Telefonnutzung breiter Verkehrskreise qua Einschüchterung merklich beeinflusst würde. Maßnahmen des verdeckten Eingriffs in informationstechnische Systeme sind auch insoweit erforderlich, als dass Datenmengen auf Rechnern zunehmend durch kryptografische Verfahren den Sicherheitsbehörden nicht zugänglich sind, die extremistische oder terroristische Klientel jedoch zur Planung und Durchführung terroristischer Straftaten gerade solche Mittel nutzt. In technischer Hinsicht mit der oben erwähnten Quellen-TKÜ ist daher gleichermaßen die Online-Durchsuchung auch zur polizeilichen Gefahrenabwehr von Bedeutung. Soweit beispielsweise der Nutzer eines Rechners Daten in verschlüsselter Form ablegt, können solche Daten im Rahmen der Online-Durchsuchung unverschlüsselt erhoben werden. Durch die Infiltration des Rechners kann die Behörde in der Weise auf die Daten zugreifen wie der Nutzer sie zum fraglichen Zeitpunkt verwendet.65 Das BVerfG hat die verfassungsrechtlichen Grenzen für die Online-Durchsuchung hinreichend präzisiert. Die heimliche Infiltration für den Bereich der Gefahrenabwehr ist demnach verfassungsrechtlich nur dann zulässig, wenn eine konkrete Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut vorliegt. Überragend wichtig sind Leib, Leben und Freiheit der Person oder solche Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt (dringende Gefahr66). Darüber hinaus kann die Online-Durchsuchung schon dann gerechtfertigt sein, wenn sich noch nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, 64BVerfG,

Urteil vom 2. März 2010 – 1 BvR 256/08 -, Rn. 233, juris. Bedarfsbegründung vgl. BVerfG, Urteil vom 27. Februar 2008 – 1 BvR 370/07. 66Zum Begriff der „dringenden Gefahr“ BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 -, BVerfGE 141, 220–378, Rn. 110 m. V. a. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 -, BVerfGE 130, 1–51, Rn. 128. 65Zur

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dass die Gefahr in näherer Zukunft eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall durch bestimmte Personen drohende Gefahr67 für das überragend wichtige Rechtsgut hinweisen.68 Der verdeckte Einsatz technischer Mittel zur Online-Durchsuchung ist in den Polizeigesetzen der Bundesländer Bayern (Art. 34d BayPAG) und Rheinland-Pfalz (§ 31c POG RLP) sowie auf Bundesebene im Bundeskriminalamtgesetz (§ 49 BKAG) enthalten.69

3.2.3 Präventivpolizeiliche Befugnisse zum „offenen“ Einschreiten In der politischen Diskussion wurde im Zusammenhang mit offenen Maßnahmen zur Überwachung insbesondere von sog. Gefährdern die Einführung einer Befugnis zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung („Fußfessel“) nebst Begleitmaßnahmen diskutiert. Derartige Überwachungsmaßnahmen sind kein Neuland und bereits in § 68b StGB auf richterliche Weisung nach Vollverbüßung einer mindestens dreijährigen Freiheitsstraße möglich. Obgleich § 68b StGB die Weisung im Zuge der Führungsaufsicht als Maßnahme der Besserung und Sicherung vorsieht und insofern dieser Aspekt im Strafrecht eine gefahrenabwehrende Zielsetzung verfolgt, war die Intention nur folgerichtig, einen entsprechenden Befugnisrahmen im Gefahrenabwehrrecht zu erfassen. Dabei erhöht die ständige Aufenthaltsüberwachung das Risiko, bei der Begehung von Straftaten entdeckt zu werden, und kann auf diese Weise zur Straftatenverhütung beitragen. Darüber hinaus ermöglicht die ständige Aufenthaltsüberwachung das schnelle Eingreifen von Sicherheitsbehörden zum Zwecke der Straftatenverhütung. Unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten ist die elektronische Aufenthaltsüberwachung als offene Maßnahme weniger einschneidend als eine längerfristige Observation, bei der nicht nur der Aufenthaltsort, sondern auch die Tätigkeiten und Gesprächspartner der betroffenen Person wahrgenommen werden und dadurch ein sehr viel umfangreicheres Persönlichkeitsbild entstehen kann als bei der Übertragung der

67Zum

Begriff der „drohenden Gefahr“ siehe oben Ziff. 3.2.1. Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 -, BVerfGE 141, 220–378, Rn. 115; BVerfG, Urteil vom 27. Februar 2008 – 1 BvR 370/07 -, BVerfGE 120, 274–350, Rn. 242. 69Vergleich der Polizeigesetze mit Stand 12. August 2017. 68BVerfG,

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bloßen Standortdaten.70 Der Freistaat Bayern hat mit Art. 32a BayPAG sowie der Bund mit § 56a BKAG die elektronische Aufenthaltsüberwachung gesetzlich geregelt.71 Weitere Gesetzesinitiativen sind absehbar. Flankierend zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung ist die Einführung von weiteren offenen Überwachungsmaßnahmen bundeseinheitlich von Bedeutung. Dazu gehören insbesondere polizeiliche Meldeauflagen, die bisher bereits Anwendung finden, um beispielsweise wirksam Aufenthalts- oder Ausreiseverbote kontrollieren zu können. In den meisten Landespolizeigesetzen sind polizeiliche Meldeauflagen nur auf Basis der Generalklausel oder als Minusmaßnahme zur Ingewahrsamnahme denkbar. Lediglich das Bundesland Rheinland-Pfalz hat mit § 12a POG RLP bisher eine Standardbefugnis für eine längerfristige Meldeauflage für längstens zwei Monate (dieser Anordnungszeitraum wäre bei Rückgriff auf die Generalklausel problematisch) geregelt. Ein ganz wesentlicher erfolgskritischer Faktor bei der Bekämpfung des islamistischen Terrorismus ist die Erschließung eines bundesweiten (im Idealfall europaweiten) Fahndungsraums, um reisende terroristische Straftäter zu erkennen. Dazu bedarf es in rechtlicher Hinsicht in allen Polizeigesetzen eines Befugnisrahmens zur sog. Schleierfahndung. Der Begriff der Schleierfahndung umfasst allgemeinhin Befugnisse zur Identitätsfeststellung, um Personen, die in einer öffentlichen Einrichtung des internationalen Verkehrs oder auf einer Durchgangsstraße angetroffen werden, zur vorbeugenden Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität oder zur Verhinderung sonstiger Straftaten von erheblicher Bedeutung einer Identitätsfeststellung zu unterziehen.72 Die diesbezüglichen Befugnisse zur Identitätsfeststellung sind in den meisten Polizeigesetzen der Länder geregelt. In den Bundesländern mit einer Bundesgrenze sind die Befugnisse häufig räumlich auf das Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 Kilometern oder in Küstenbereichen bis zu einer Tiefe von 50 Kilometern begrenzt.73 In einigen Ländern ist die Schleierfahndung auf Durchfahrtsstraßen74 (d. h. insb. Bundesautobahnen, Europastraßen und anderen Straßen mit erheblicher Bedeutung für den grenzüberschreitenden Verkehr) zulässig. Ferner erlauben viele Landespolizeigesetze derartige Identitätsfeststellungen in öffentlichen

70Vgl.

Begründung zur neuen Vorschrift § 56 BKAG-neu, BT-Drs. 18/11163, S. 122. der Polizeigesetze mit Stand 13. August 2017. 72Dazu ausführlich Rachor in Lisken/Denninger, HdB des Polizeirechts, E 355 ff. 73Vgl. § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG; § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SachsPolG; § 180 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 LVwG SH, Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 1 BayPAG. 74Vgl. § 26 Abs. 1 Nr. 6 PolG BW; Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 BayPAG; § 18 Abs. 2 Nr. 6 HSOG; § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 SächsPolG; § 14 Abs. 1 Nr. 5 ThürPAG. 71Vergleich

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Einrichtungen des internationalen Verkehrs.75 Hingegen enthalten die Polizeigesetze der Bundesländer Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen keine Vorschriften zur Schleierfahndung.76 Der häufig in Verbindung mit der Schleierfahndung verwendete Begriff der verdachts- und ereignisunabhängigen Kontrolle ist fehlleitend, da dieser Begriff einen Eingriff suggeriert, der nicht auf eine gesetzliche Befugnisnorm mit tatbestandlichen Voraussetzungen zurückgeführt werden kann. Das ist mitnichten der Fall. Die Identitätsfeststellung im Rahmen der Schleierfahndung ist dem oben beschriebenen polizeilichen Aufgabenbereich der Straftatenverhütung zuzurechnen. Die diesbezüglich verfassungsrechtlich dargelegten Standards bei schwerwiegenden Rechtseingriffen77 sind jedoch nicht zwangsläufig auf Rechtseingriffe in der Qualität von Identitätsfeststellungen zu beziehen, da diese in ihrer Art und Intensität an sich denkbar gering ist. Verfassungsrechtlich ist es hinnehmbar, dass die Befugnisschwelle in Relation zu höherwertigen Rechtseingriffen entsprechend niedrig angesetzt wird.78 Die Vorschriften zur Schleierfahndung sehen kein vollkommen willkürliches, durch kein Ziel determiniertes Kontrollieren vor, sondern grenzen sich in ihren materiellen Anforderungen von der Zuständigkeitszuweisung tatbestandlich durch einen Orts- oder Objektbezug (z. B. Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 Kilometer, Durchgangsstraße oder Verkehrseinrichtungen) und den quantitativ und qualitativ eingegrenzten Bezugstaten, die es zu verhüten und zu verhindern gilt (z. B. grenzüberschreitende Straftaten oder deliktsdetaillierter wie in § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG „zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise“), ab. Zudem bedarf es regelmäßig – auch wenn dies nicht tatbestandlich festgeschrieben ist – im Einzelfall einer Adressatenauswahl dahin gehend, dass nur solche Personen als Adressaten der Identitätsfeststellung in Betracht kommen, die in Beziehung zu den Gegebenheiten (Ort und zu verhütende Straftat) stehen. In diesem Sinne werden vereinzelt nur solche Personen einer Identitätskontrolle unterzogen, die etwa aufgrund der Beschaffenheit

75Vgl.

§ 22 Abs. 1a BPolG; § 13 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 3 BayPAG. Übersicht BT, WD 3 – 3000 – 020/17, S. 7 f. 77Im Sinne des oben unter Ziff. 3.2.1 besprochenen Urteils, BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 -, BVerfGE 141, 220–378. 78Vgl. BVerfG, Urteil vom 15. Dezember 1983 – 1 BvR 209/83 -, BVerfGE 65, 1–71; BayVerfGH, Entscheidung vom 28. März 2003 – Vf. 7-VII-00 -, juris; BayVerfGH, Urteil vom 7. Februar 2006 – Vf. 69-VI-04 -, juris. 76Vgl.

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des Fahrzeuges (Kastenwagen, geschlossener Lieferwagen), der durch das amtliche Kennzeichen anzunehmenden Herkunft (z. B. Mietfahrzeug) oder aufgrund des auffälligen Verhaltens unmittelbar vor oder während der Identitätskontrolle in das in der Regel auf Lageerkenntnisse basierende Fahndungsprofil passen.79 Einhergehend mit der erkennenden Fahndung bedarf es auch der flächendeckenden technischen Aufrüstung, beispielsweise durch den Einsatz automatischer Kennzeichenerfassungssysteme zum Abgleich mit polizeilichen Datenbeständen. Dabei werden nach dem derzeitigen Stand der Technik von einer stationär oder mobil eingesetzten Videokamera Fahrzeuge erfasst, aus dem Bild die Buchstabenund Zeichenfolge des Kennzeichens ausgelesen und das so ermittelte Kennzeichen automatisiert mit polizeilichen Fahndungsdateien abgeglichen. Dabei werden die erfassten Daten ausschließlich mit Sachfahndungsdatensätzen (Kennzeichen von Kraftfahrzeugen) verglichen. Im Anschluss an eine Treffermeldung werden operative Kräfte an das Zielfahrzeug herangeführt, um notwenige polizeiliche Folgemaßnahmen zu treffen.80 In den Bundesländern ist der Einsatz automatischer Kennzeichenerfassungssysteme in zehn Polizeigesetzen und im Bundespolizeigesetz vorgesehen. Die Polizeigesetze der Länder Bremen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig Holstein, Saarland und Sachsen Anhalt sowie das Bundeskriminalamtgesetz verfügen über keine entsprechenden Befugnisnormen. Auch ein bedachter Ausbau der Möglichkeiten des polizeilichen Gewahrsams von gefährlichen Personen ist für das Handlungsspektrum Gefahrenabwehr von Bedeutung. Der erhebliche Rechtseingriff der Freiheitsentziehung durch Ingewahrsamnahme stellt dabei die Ultima Ratio der Gefahrenabwehr dar und grenzt sich beispielsweise von der Strafhaft dadurch ab, dass er nicht dem Schuldausgleich dient. Daher bedarf es aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht nur eines förmlichen Gesetzes und der Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen der Freiheitsentziehung im Sinne der verfassungsrechtlichen Vorgaben (u. a. bezieht sich der Richtervorbehalt nach Art. 104 Abs. 2 GG auf eine grundsätzlich vorherige richterliche Anordnung und lässt eine nachträgliche richterliche Entscheidung nur in zeitlich dringlichen Fällen zu), sondern nach Art. 5 Abs. 1 Satz 2b EMRK um das Erfordernis der „Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung“. Geht es um die Verpflichtung, keine Straftat zu begehen, muss diese Straftat bereits

79Zu

den Anforderungen an eine Schleierfahndungsbefugnis anhand des Beispiels § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG vgl. Gnüchtel, NVwZ 2013, 980 (982). 80Zur grundlegenden Funktionsbeschreibung solcher Systeme vgl. BVerfG, Urteil vom 11. März 2008 – 1 BvR 2074/05 -, BVerfGE 120, 378–433, Rn. 2; BayVGH, Urteil vom 17. Dezember 2012 – 10 BV 09.2641 -, Rn. 29, juris; BT-Drs. 18/10939, S. 13 ff.

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hinreichend bestimmt sein und der Betroffene muss sich unwillig gezeigt haben, sie zu unterlassen. Diesen Anforderungen ist genügt, wenn Ort und Zeit der bevorstehenden Tatbegehung sowie das potenzielle Opfer hinreichend konkretisiert sind und der Betroffene, nachdem er auf die konkret zu unterlassende Handlung hingewiesen worden ist, eindeutige und aktive Schritte unternommen hat, die darauf hindeuten, dass er der konkretisierten Verpflichtung nicht nachkommen wird.81 Dieser Anforderung wird bei terroristischen Gefährdern regelmäßig dadurch Rechnung getragen werden, dass beispielsweise durch polizeiliche Hinweise bei Gefährderansprachen, durch Maßnahmen wie Aufenthaltsgebote und -verbote, durch Fortsetzung ihres gefährdenden Verhaltens trotz Anordnung einer elektronischen Aufenthaltsüberwachung oder aus früheren sanktionierten Normverstößen die Notwenigkeit der Beachtung entsprechender Gebote und Verbote hinreichend verdeutlicht sein wird.82 Insbesondere bei gravierenden, personifizierbaren Gefahrenlagen bedarf es eines gesetzlichen Rahmens, der bei entsprechend hohen tatbestandlichen Anforderungen durch richterliche Anordnung eine Ingewahrsamnahme zur Verhinderung von schweren Straftaten (was durchgängig gefahrenabwehrrechtlich bereits jetzt möglich ist) auch über einen solchen Zeitraum ermöglicht wird, der maßgeblich durch die Dauer der anhaltenden Gefahr bestimmt wird (neues Element). Der bisherige Ausbau der Befugnisnormen in den Polizeigesetzen zur polizeilichen Ingewahrsamnahme von maximal 14 Tagen83 (sog. verlängerter Unterbindungsgewahrsam) wird diesem Ansinnen nicht gerecht, da in der Abwägung die den gesetzlich normierten zeitlichen Fixpunkt überdauernde Gefahrenlage nicht mit gewichtet werden kann. Bayern hat in seinem Polizeigesetz mit Art. 17 Abs. 1 Nr. 3 BayPAG die Ingewahrsamnahme zur Abwehr einer Gefahr für die in Art. 11 Abs. 3 Satz 2 BayPAG genannten bedeutenden Rechtsgüter (mit Ausnahme der Rechtsguts Eigentum) ermöglicht. Die Dauer der Freiheitsentziehung durch richterliche Entscheidung darf nach Art. 20 Nr. 3 Satz 81So

BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 18. April 2016 – 2 BvR 1833/12, 2 BvR 1945/12 -, juris. 82Vgl. BayLT-Drs. 17/16299, S. 12. 83Nach Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG sind zeitliche Obergrenzen nur für das Festhalten aus allein polizeilicher Machtvollkommenheit geregelt. Bei richterlicher Anordnung ist die Einhaltung einer Höchstgrenze von z. B. 14 Tagen verfassungsrechtlich nicht geboten. Auch die polizeilichen Regelungen in Schleswig-Holstein (§ 204 Abs. 5 und 6 LVwG-SH) und in Bremen (§ 16 Abs. 3 und § 18 Abs. 1 BremPolG) enthalten keine polizeigesetzliche Höchstfrist des Gewahrsams unterhalb der Maximalregelung des § 425 Abs. 1 und 3 FamFG.

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3 BayPAG „nicht mehr als drei Monate betragen und kann jeweils um längstens drei Monate verlängert werden“. Die mehrmalige Verlängerung ist insofern durch richterliche Entscheidung denkbar, die Maximalgrenze ergibt sich jedoch durch das nach Art. 18 Abs. 3 Satz 3 BayPAG anzuwendende Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG), dort Buch 7 (Verfahren in Freiheitsentziehungssachen), welches nach § 425 Abs. 1 und 3 FamFG die Höchstdauer der Freiheitsentziehung auf ein Jahr begrenzt.84

3.3 Verfassungsrechtliche Anforderungen an die polizeiliche Datenverarbeitung Das BVerfG hat anlässlich der Verfassungsbeschwerde gegen die präventiven Befugnisse des BKA zur Terrorismusbekämpfung die verfassungsrechtlichen Anforderungen für die Weiterverarbeitung staatlich erhobener Daten nach den Grundsätzen der Zweckbindung und Zweckänderung präzisiert.85 Für die Zweckbindung gilt, dass personenbezogene Daten, die selbst erhoben wurden, weiterverarbeitet werden können, wenn es sich um eine Verwendung der Daten durch dieselbe Behörde zur Wahrnehmung derselben Aufgabe und zum Schutz derselben Rechtsgüter oder zur Verfolgung oder Verhütung derselben Straftaten handelt.86 Eine Zweckänderung liegt hingegen vor, wenn eine Nutzung der Daten auch zu anderen Zwecken als denen der ursprünglichen Datenerhebung erfolgen soll. In diesem Fall muss bei den gesetzlichen Anforderungen der Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung beachtet werden. Danach muss die neue Nutzung der Daten dem Schutz von Rechtsgütern oder der Aufdeckung von Straftaten eines solchen Gewichts dienen, die verfassungsrechtlich ihre Neuerhebung mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln rechtfertigen könnten. Zudem bedarf es im Einzelfall eines gegebenen konkreten Ermittlungsansatzes zur Verhütung, Aufdeckung oder Verfolgung solcher Straftaten bzw. zur Abwehr von Gefahren für vergleichbar bedeutsame Rechtsgüter (eine konkretisierte Gefahrenlage

84Vgl.

dazu BayLT-Drs. 17/16299, S. 13. Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 -, BVerfGE 141, 220–378. 86BVerfG, Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 -, BVerfGE 141, 220–378, Ls. 2b und Rn. 279 ff.; dazu Gnüchtel, NVwZ 2016, 1113 (1117). 85BVerfG,

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wie bei der Datenerhebung ist jedoch nicht erforderlich).87 Umgesetzt wurden die verfassungsrechtlichen Vorgaben durch das Gesetz zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes vom 1. Juni 2017.88 Dies betreffende zentrale Vorschriften sind § 12 BKAG-neu (Zweckbindung und im Rahmen der Zweckänderung gesetzliche Kodifizierung des Grundsatzes der hypothetischen Datenneuerhebung89) sowie §§ 25 ff. BKAG-neu für die Datenübermittlung im innerstaatlichen, europäischen und internationalen Bereich. Entscheidend ist, dass die gesamtpolizeiliche Datenverarbeitung in Bund und Ländern den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechen muss, was einer Detailprüfung der einzelnen Landespolizeigesetze bedarf, um auch nach gesetzlicher Anpassung das polizeiliche Datenregime konzeptionell und technisch einheitlich zu strukturieren.

4 Strafverfolgungsrecht 4.1 Erforderliche Vorfeldstrafbarkeit (§§ 89a und 129a, 129b StGB) Der besonderen Gefährlichkeit von terroristischen Vorbereitungshandlungen durch organisatorisch gebundene Täter wird durch §§ 129a und 129b StGB Rechnung getragen. Die hervorzuhebende organisationsbezogene abstrakte Gefährdung wird begrifflich durch die Vereinigung deutlich, die ihre Zwecke oder

87BVerfG,

Urteil vom 20. April 2016 – 1 BvR 966/09 -, BVerfGE 141, 220–378, Ls. 2c und Rn. 284 ff.; dazu Gnüchtel, NVwZ 2016, 1113 (1117). 88BGBl. I 2017, 1354 (wesentliche Regelungen treten erst am 25. Mai 2018 in Kraft), zur Begründung vgl. BT-Drs. 18/11163. 89§ 12 Abs. 1 Satz 1 BKAG-Neu regelt den Weiterverarbeitung der Daten im Rahmen der Zweckbindung: „(1) Das Bundeskriminalamt kann personenbezogene Daten, die es selbst erhoben hat, weiterverarbeiten (Nr. 1) zur Erfüllung derselben Aufgabe und (Nr. 2) zum Schutz derselben Rechtsgüter oder zur Verfolgung oder Verhütung derselben Straftaten.“ § 12 Abs. 2 Satz 1 regelt die Weiterverarbeitung zu anderen Zwecken nach dem Grundsatz der hypothetischen Datenneuerhebung: „(2) Das Bundeskriminalamt kann zur Erfüllung seiner Aufgaben personenbezogene Daten zu anderen Zwecken, als denjenigen, zu denen sie erhoben worden sind, weiterverarbeiten, wenn (Nr. 1) mindestens (a) vergleichbar schwerwiegende Straftaten verhütet, aufgedeckt oder verfolgt oder (b) vergleichbar bedeutsame Rechtsgüter geschützt werden sollen und (Nr. 2) sich im Einzelfall konkrete Ermittlungsansätze (a) zur Verhütung, Aufdeckung oder Verfolgung solcher Straftaten ergeben oder (b) zur Abwehr von in einem übersehbaren Zeitraum drohenden Gefahren für mindestens vergleichbar bedeutsame Rechtsgüter erkennen lassen.“

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Tätigkeit auf die Begehung von Straftaten gerichtet hat. Tatbestandlich war die Vereinigung bisher auch in Abgrenzung zu der kriminellen Bande eine Organisation, die wegen der ihr innewohnenden gruppenspezifischen Eigendynamik und wegen ihrer auf die Begehung von Straftaten angelegten inneren Struktur besonders gefährlich ist.90 Durch das vierundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches vom 17. Juli 201791 wurde jedoch der Vereinigungsbegriff an die Vorgaben des Rahmenbeschlusses 2008/841/JI des Rates vom 24. Oktober 2008 zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität angepasst. Der erweiterte Vereinigungsbegriff bezieht sich auch auf terroristische Vereinigungen nach § 129a StGB – damit wurden zugleich die Vorgaben des Rahmenbeschlusses 2002/475/JI des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung aufgegriffen. Nach Art. 2 Abs. 1 Satz 1 des Rahmenbeschlusses-Terrorismusbekämpfung bezeichnet der Begriff „terroristische Vereinigung“ einen auf längere Dauer angelegten organisatorischen Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die zusammenwirken, um terroristische Straftaten zu begehen. Satz 2 dieser Bestimmung legt dabei ausdrücklich fest, dass der organisatorische Zusammenschluss nicht notwendigerweise förmlich festgelegte Rollen für seine Mitglieder, eine kontinuierliche Zusammensetzung oder eine ausgeprägte Struktur haben muss. Diese Definitionen sind nahezu identisch mit denen des Rahmenbeschlusses zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Vor der Gesetzesänderung verstand die Rechtsprechung unter einer Vereinigung im Sinne des § 129 StGB-alt den auf gewisse Dauer angelegten organisatorischen Zusammenschluss von mindestens drei Personen, die bei Unterordnung des Willens des Einzelnen unter den Willen der Gesamtheit gemeinsame Zwecke verfolgen und unter sich derart in Beziehung stehen, dass sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen.92 Durch diese restriktive Definition wurden z. B. hierarchisch organisierte Gruppierungen mit bloßer Durchsetzung eines autoritären Anführerwillens mangels Gruppenidentität aus dem Tatbestand des § 129 StGB ausgeschlossen.93 Gleichsam regelmäßig tatbestandlich nicht erfasst waren beispielsweise islamistische Terrorstrukturen (Zellen) in Deutschland als eigenständige Teilorganisationen nach §§ 129, 129a StGB, da nach Auffassung des

90Vgl.

dazu Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, § 129, Rn. 3. I 2017, 2240. 92In Bezug auf terroristische Vereinigungen vgl. BGH, Urteil vom 28. Oktober 2010 – 3 StR 179/10 -, BGHSt 56, 28–39; Gesamtüberblick Rechtsprechung bei Lenckner/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, § 129, Rn. 3. 93Vgl. BT-Drs. 18/11275, S. 7. 91BGBl.

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BGH eine solche „inländische Teilgruppierung ein ausreichendes Maß an organisatorischer Selbstständigkeit aufweisen und einen eigenen, von der ausländischen (Haupt-)Organisation unabhängigen Willensbildungsprozess vollziehen muss, dem sich ihre Mitglieder unterwerfen. Hierfür reichte es nicht aus, dass die Mitglieder der inländischen Teilgruppe lediglich Einigkeit darüber erzielen, sich dem Willen der Gesamtorganisation unterzuordnen; erforderlich war vielmehr, dass sich der für eine Vereinigung konstitutive, auf deren Zwecke bezogene Willensbildungsprozess in seiner Gesamtheit in der inländischen Gruppierung vollzieht.“94 Zusammengefasst wird die Gründung und Beteiligung an einer Vereinigung mit dem Ziel, Straftaten zu begehen, nunmehr weitreichender unter Strafe gestellt. Die Straftaten müssen lediglich ihrer Art nach so weit konkretisiert sein, dass eine Ausrichtung der Vereinigung auf die Begehung von Straftaten eindeutig ist. Es bedarf weder einer konkreten Tatvorbereitung noch einer konkreten Tatplanung. Durch die Legaldefinition der Vereinigung erweitert sich zwangsläufig der Anwendungsbereich der Vorschrift und damit die Strafbarkeit im Vorfeld des Versuchs einer Straftat.95 Diese Anpassung war aufgrund der europarechtlichen Harmonisierung des Terrorismusstrafrechts erforderlich. Die materiell-strafrechtliche Erschließung neuer Bereiche darf jedoch die in diesem Territorium vorherrschende polizeiliche Gefahrenabwehraufgabe aus den unter Ziff. 2.3 skizzierten Gründen nicht verdrängen. Ferner werden durch § 89a StGB (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) terroristische Vorbereitungshandlungen von organisatorisch nicht gebundenen Einzeltätern unter Strafe gestellt. Dabei sind tatbestandliche Szenarien vorstellbar, in denen die ideologisch orientierten Täter aus dem Internet Anleitungen zum Bau einer Sprengvorrichtung nutzen, Aufträge von netzwerkartig strukturierten Gruppen erhalten, die nicht die Qualität einer Vereinigung aufweisen, sporadische aber tatmotivierende Kontakte zu derartigen Gruppen unterhalten oder in einem Terrorcamp im Ausland ausgebildet werden. Dabei gilt besonderes Augenmerk den radikalisierten Rückkehrern aus den Krisenregionen Syrien und Irak, die resultierend aus ihrem dortigen Aufenthalt

94BGH, 95Vgl.

Urteil vom 28. Oktober 2010 – 3 StR 179/10 -, BGHSt 56, 28–39, Rn. 28. BT-Drs. 18/11275, S. 10.

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über eine Vielzahl von Beziehungen verfügen, aus denen nach Rückkehr transnationale Netzwerke in Europa entstehen können.96 Der BGH hat mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass mit § 89a StGB in verfassungsrechtlicher Hinsicht hart am Wind gesegelt wird. Im Fall des Islamisten, der in Frankfurt Anfang 2011 einen Sprengsatz als Selbstlaborat aus ca. 8000 Zündhölzern und Feuerwerksraketen herstellen wollte und sich bei einer unkontrollierten Umsetzung selbst schwer verletzte, gelangte der BGH zu dem Ergebnis, dass die angewendete Norm § 89a Abs. 2 Nr. 3 StGB nicht gegen das Bestimmtheitsgebot verstoße und § 89a StGB in Gänze verhältnismäßig sei. Obwohl der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit erhoben wurde, setzte der BGH das Verfahren nicht aus, um die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Strafnorm nach Art. 100 GG durch das BVerfG im Zuge des Verfahrens der konkreten Normenkontrolle entscheiden zu lassen. Die Begründung des 3. Strafsenat des BGH vermag zu überraschen, denn in der erforderlichen Gesamtschau sei „nicht zu verkennen, dass § 89a StGB auch Verhaltensweisen unter Strafe stellt, die von einer Verletzung oder auch nur konkreten Gefährdung der vom Gesetzgeber durch die Norm unter Schutz gestellten Rechtsgüter derart weit entfernt sind, dass ihre Pönalisierung – auch unter Berücksichtigung des Gewichts der Schutzgüter – die Grenze dessen erreicht, was unter verfassungsrechtlichen Aspekten noch als verhältnismäßig anzusehen ist“.97 Diese weit ins Vorfeld gerückte Strafbarkeit führe nach Ansicht des Senats noch nicht zu einer Verfassungswidrigkeit der Norm, allerdings sei „es zur Wahrung der Grundsätze des Tatstrafrechts sowie des Schuldprinzips und damit elementarer Garantien des Grundgesetzes erforderlich, dass der Täter bei der Vornahme der in § 89a Abs. 2 StGB normierten Vorbereitungshandlungen zur Begehung der schweren staatsgefährdenden Gewalttat bereits fest entschlossen ist. Bezüglich des „Ob“ der Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat genügt somit bedingter Vorsatz nicht.“98 Der Senat hat die Wertentscheidung des Gesetzgebers respektiert, indem als Korrektiv auf eine verfassungskonforme Auslegung zurückgegriffen wurde, anstatt mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit etikettierende Tatsachen zu schaffen. Somit hat das Urteil aber auch eine eindeutige Appellfunktion – mit der sich der Gesetzgeber auseinanderzusetzen hat.99

96Gnüchtel,

JBÖS 2016/2017, S. 357. Urteil vom 8. Mai 2014 – 3 StR 243/13 -, BGHSt 59, 218–243, Rn. 44. 98BGH, Urteil vom 8. Mai 2014 – 3 StR 243/13 -, BGHSt 59, 218–243, Rn. 45. 99So Gnüchtel, JBÖS 2016/2017, S. 366; ähnlich Zöller, Terrorismusstrafrecht, S. 378. 97BGH,

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4.2 Feindstrafrecht als „Sonderrecht“ für Terroristen? Abschließend bedarf es noch einiger weniger Anmerkungen zum Konzept des sog. Feindstrafrechts, da diese Thematik mittlerweile fester Bestandteil der Diskussion rund um das Terrorismusstrafrecht ist. Die Separierung am Schluss des Beitrags soll aber zugleich auch dafür stehen, dass der Theorie vom Feindstrafrecht meines Erachtens eine mahnende Funktion zukommt, sich aber hingegen eine methodische Verknüpfung mit gesetzgeberischen Realvorgängen klar verbietet – so viel sei vorweggenommen. Ausgangspunkt des umstrittenen Feindstrafrechts sind die Analysen des Strafrechtslehrers Günther Jakobs, die sich u. a. mit den Begriffen „Bürgerstrafrecht“ und „Feindstrafrecht“ auseinandersetzen.100 Dadurch wurde eine strafrechtstheoretische und auch strafrechtspolitische Debatte auf internationaler Ebene ausgelöst. Eng verknüpft ist das Konzept des Feindstrafrechts mit der von Jakobs vertretenen Straftheorie des Normgeltungsschadens (einzig und allein der Normbruch begründet die Sozialschädlichkeit des Verbrechens – es geht um die Negation der in der Gesellschaft praktizierten normativen Ordnung). Bezogen auf das Feindstrafrecht bedeutet dies: Sofern Strafe als Bestätigung der Identität der Gesellschaft verstanden werde, sei sie nur rechtlich gesonnenen Bürgern vorbehalten. „Wer als Person behandelt werden will, muss seinerseits eine gewisse kognitive Garantie dafür gegeben, dass er sich als Person verhalten wird. Bleibt diese Garantie aus oder wird sie sogar ausdrücklich verweigert, wandelt sich das Strafrecht von einer Reaktion der Gesellschaft auf die Tat eines ihrer Mitglieder zu einer Reaktion gegen einen Feind. (…) Der Feind ist ein Individuum, dass sich (…) vermutlich dauerhaft vom Recht abgewandt hat und insofern die kognitive Mindestsicherheit personellen Verhaltens nicht garantiert und dieses Defizit durch sein Verhalten demonstriert.“101 Das auf dieser Idee basierende Bürgerstrafrecht ist in diesem Sinne „rechtsstaatliches Binnenstrafrecht“. Das Feindstrafrecht folgt demgegenüber anderen Regeln. Es wird geprägt durch Vorverlagerung der Strafbarkeit, drastische Erhöhung der Strafen und Abbau prozessualer Garantien. Nach Jakobs sei insofern ein Übergang von der Strafgesetzgebung zu einer Bekämpfungsgesetzgebung festzustellen, die sich nicht zuletzt im Namen der

100Diesbezüglich hielt Jakobs den ersten Vortrag auf der Frankfurter Strafrechtslehrertagung 1985 und den zweiten Vortrag auf der sog. Milleniumstagung der Strafrechtslehrer 1999, vgl. dazu Jakobs, ZStW 1985, 751 ff. sowie Nachweise bei Asholt, ZIS 2011, 180 (180) und Vormbaum, Kritik d. Feindstrafrechts, S. VIII. 101Jakobs in: Eser/Hassemer/Burkhardt, Strafrechtwissenschaft, S. 51.

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Gesetze, wie beispielsweise „Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus“, niederschlage.102 Er bezieht das Feindstrafrecht insbesondere auf die Strafnormen im Zusammenhang mit kriminellen und terroristischen Vereinigungen, organisierter Kriminalität, Rauschgiftkriminalität oder Sexualdelikten.103 Jakobs fordert die Strafrechtswissenschaft auf, neben dem Strafrecht (insofern ist das Bürgerstrafrecht gemeint) ein Feindbekämpfungsrecht zu diskutieren und auch vom Kernstrafrecht getrennt zu kodifizieren, damit die Trennung von Rechtsstrafe und Machtstrafe, letztere muss seiner Meinung nach nicht unbedingt illegitim sein, deutlich wird.104 Genau in dieser Forderung ist die fundamentale Kritik des Feindstrafrechts angesiedelt. Sofern die Erörterung des Feindstrafrechts (lediglich) eine Deskription problematischer Elemente des aktuellen Strafrechts zur Folge hat, können Fehlentwicklungen aus dieser Perspektive durchaus analysiert werden. Insbesondere können Konflikte und Brüche im Umgang mit Straftätern erkannt werden. Somit kann die Existenz dessen, was unter Feindstrafrecht verstanden wird, nicht einfach ignoriert werden.105 Wenn jedoch das Feindstrafrecht auf der präskriptiven (also vorschreibenden) Ebene behandelt und sogar implementiert werden soll, erfolgt in der Literatur folgerichtig eine ganz überwiegende Ablehnung der Thesen.106 Wer sich als Feind des Rechtsstaates erklärt oder erweist, hat mit entsprechenden Antworten zu rechnen. Allerdings erfüllt ihm die Rechtsordnung des Grundgesetzes nicht den Wunsch nach Selbstaufgabe ihrer Fundamente durch Einführung von Sonderrechtszonen.107 Mitglieder terroristischer Organisationen würden durch die Bezeichnung „Feind“ oder „Staatsfeind“ möglicherweise sogar eine gewisse handlungslegitimierende Aufwertung erfahren. Nicht ohne Grund legten inhaftierte Mitglieder der RAF darauf Wert, nicht als gewöhnliche Verbrecher, sondern als „Kriegsgefangene“ bezeichnet bzw. anerkannt zu werden.108 Die Separierung eines vermeintlich unaufhaltsamen Feindstrafrechts auf der einen Seite und die Erhaltung eines in der strafrechtsdogmatischen und verfassungsrechtlichen

102Jakobs

in: Eser/Hassemer/Burkhardt, Strafrechtwissenschaft, S. 51 f. ZIS 2011, 180 (181). 104Vormbaum, Kritik d. Feindstrafrechts, S. XIII. 105Hörnle in Vormbaum, Kritik d. Feindstrafrechts, S. 96. 106Vgl. dazu u. a. Di Fabio, NJW 2008, 421 ff.; Lenckner/Eisele in Schönke/Schröder, Vorbem. § 13 ff., Rn. 5a; Paeffgen in Kindhäuser/Neumann/Paeffgen, Nomos Kommentar, § 32 ff., Rn. 223; Beiträge in Vormbaum, Kritik d. Feindstrafrechts. 107Di Fabio, NJW 2008, 421 (423). 108Vgl. dazu Kindhäuser in Vormbaum, Kritik d. Feindstrafrechts, S. 82. 103Asholt,

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Tradition stehenden Kernstrafrechts auf der anderen Seite wäre ein strafrechtswissenschaftliches und kriminalpolitisches Scheitern auf ganzer Linie. Die sich durch Phänomene wie Risiko- und Sicherheitsgesellschaft konkretisierenden Gegenpole von Freiheit und Sicherheit bedürfen juristischer Modelle, die die Komplexität von Realität in sich aufnehmen können. Eine aus der Ohnmachtssituation des Terrorismus gerechtfertigte gnadenlose Behandlung von Menschen über das Feindstrafrecht mag zumindest in einigen Rechtsstaaten (Guantánamo) Realität geworden sein. Im Hinblick auf die internationale Entwicklung menschenrechtsorientierter und strafrechtstheoretischer Maximen bedarf es einer Förderung national herausragender juristischer Methoden und Modelle, die den staatlichen Strafanspruch auch in schwierigen Zeiten legitimiert.109

5 Schluss Zu den wesentlichen rechtlichen Determinanten der Terrorismusbekämpfung im Sinne dieser Untersuchung gehören die im Verhältnis zueinander heterogenen Befugnisrahmen der Nachrichtendienste, Polizeibehörden und Strafverfolgungsbehörden sowie das materielle Strafrecht. Die sich daraus erschließenden Handlungsfelder (Abb. 1) bedingen sich gegenseitig und erfordern eine ganzheitliche Betrachtung und somit auch ein Ablegen kompetenzbedingter Scheuklappen. Beispielsweise können die häufig transnationalen Strukturen des islamistischen Terrorismus und die daraus erwachsenden Gefahren110 naturgemäß nur bedingt (d.  h. in bekämpfungskonzeptioneller Hinsicht unzureichend) durch strafrechtliche Ermittlungsverfahren in Deutschland verhindert werden. Vielmehr bieten häufig substanziierte Gefährdungshinweise aus dem nationalen und internationalen nachrichtendienstlichen Aufkommen eine ausreichende Grundlage, um zeitnah notwendige präventiv-polizeiliche Maßnahmen zur Verhinderung von Schadensereignissen einzuleiten. Es wäre fatal, mangels vorhandener Instrumentarien der polizeilichen Gefahrenabwehr aufgrund unterschiedlicher föderal bedingter Entwicklungen des Polizeirechts in Deutschland, den Blick allein auf die Strafprozessordnung zu richten und derartige Gefahrenabwehrvorgänge

109Diesbezüglich wurde kurz unter Ziff. 2.3 auf die Trias Strafgerechtigkeit, Rechtssicherheit und Zweckmäßigkeit als Prüfungsmaßstab m. w. N. (oben Fn. 20) verwiesen. 110Vgl. Verfassungsschutzbericht 2016, S. 161.

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vorschnell an ein – in der Gefahrensituation nicht dominierendes – Ermittlungsverfahren zu binden, welches dann der strafverfolgungsbehördlichen Fachaufsicht der Staatsanwaltschaft unterliegt, die entsprechend ihrer gesetzlichen Aufgabenzuweisung nicht als Gefahrenabwehrbehörde agiert. Es sollte somit der Weg zu einer homogeneren Sicherheitsarchitektur beschritten werden, mit möglichst reibungsarmen Übergängen und auch außerstrafrechtlichen Konsequenzen, die insbesondere lückenlos nach polizeilichen Maßnahmen der Gefahrenabwehr erfolgen sollten (z. B. konsequente Gefährderabschiebung bei Drittstaatsangehörigen). Innerhalb der nachrichtendienstlichen Aufgabenwahrnehmung bedarf es zum Schutze hochrangiger Individual- und Kollektivrechtsgüter – bei gegebenem informationellem Trennungsprinzip und entsprechend der verfassungsrechtlichen Aufgabenzuweisung unterhalb der Ebene von Zwangsmaßnahmen – eines moderaten Ausbaus des Befugnisrahmens. Es erscheint z. B. inkonsequent, dass die Verfassungsschutzbehörden keine Maßnahmen zur Online-Durchsuchung treffen oder vorsorglich gespeicherte Telekommunikationsverkehrsdaten erheben dürfen.111 Zudem wird sich der Gesetzgeber vor 2021 auf Basis der dann vorliegenden vierten Evaluation der Terrorismusbekämpfungsgesetze mit verschiedenen Befugnissen auseinandersetzen müssen. Der hierbei erforderliche Anpassungsbedarf wurde aufgezeigt. Insbesondere bedarf es der Beseitigung von Wertungsinkonsistenzen bei der Erhebung von Bestandsdaten in Relation zur Erhebung von beispielsweise Verkehrsdaten oder Kontoinhaltsdaten.112 Ferner sollten die Befugnisregelungen des § 3 Artikel 10-Gesetzes generell für die nachrichtendienstliche Informationsbeschaffung gelten und in den entsprechenden Fachgesetzen kodifiziert werden, anstatt als Sondermaterie behandelt zu werden. Die höchst heterogen polizeilich-präventiven Befugnisrahmen müssen auf ein Mindestniveau angepasst werden. Dazu bedarf es bezüglich der föderativen Einschätzungsprärogative einer sicherheitspolitischen Disziplinierung – um der standardisierten und bundeseinheitlichen Sicherheit willen. Hilfreich ist ein fortzuschreibendes Musterpolizeigesetz, welches entsprechende rechtliche Prämissen zu Maßnahmen wie TKÜ, Quellen-TKÜ, Nutzung von Verkehrs- und Vorratsdaten, Online-Durchsuchung, elektronische Aufenthaltsüberwachung, längerfristige Meldeauflagen, Schleierfahndung, Einsatz automatischer Kennzeichenerfassungssysteme und längerfristige Ingewahrsamnahme von gefährlichen Personen enthält. Gleichsam anzupassen sind die Polizeigesetze an die verfassungsrechtlichen Anforderungen zur polizeilichen Datenverarbeitung (Grundsätze der Zweckbindung und­

111So 112So

auch Marscholleck, NJW 2015, 3611 (3616). auch Gnüchtel, NVwZ 2016, 13 (17).

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Zweckänderung). Zudem muss der polizeiliche Interventionsbereich gleichermaßen auf die Handlungsfelder Straftatenverhütung (=drohende Gefahr) und Gefahrenabwehr (=konkrete Gefahr) erstreckt werden, um insbesondere den Übergang zwischen nachrichtendienstlicher Früherkennung und polizeilicher Straftatenverhütung zu ermöglichen. Die zu den vorgenannten Forderungen notwendigen Bauanleitungen hat das BVerfG mit seinem Urteil vom 20. April 2016 in wesentlichen Bereichen vorgegeben. Erste Polizeigesetze (BKAG und BayPAG) wurden angepasst – weitere sollten möglichst zügig angepasst werden. Bei der Verfolgung von Straftaten sollte es hingegen keine Maßnahmen in Monopolstellung der Strafprozessordnung geben (auf die ausschließlich in der StPO geregelte Befugnis zur Erhebung von Vorratsdaten wurde zu genüge hingewiesen, ebenso auf Befugnisse wie TKÜ, Online-Durchsuchung und Quellen-TKÜ, die in den Polizeigesetzen nicht bzw. nur vereinzelt geregelt wurden). Instrumentarien, mit denen eine begangene Straftat verfolgt werden kann, müssen erst Recht zur Verfügung stehen, um eine Straftat im Zuge der polizeilichen Gefahrenabwehr zu verhindern. Was hingegen die Entwicklung des materiellen Strafrechts anbelangt, so gelten andere Prämissen – hier ist Zurückhaltung gefragt. Eine tendenzielle Zunahme von unbestimmten Rechtsbegriffen, verfassungskonformen Auslegungserfordernissen und subjektiven Tatbestandsprägungen (mangels objektivierbarer – insofern beweisbarer – Anknüpfungspunkte) bei der Pönalisierung von Handlungen im Vorfeld sonst erst strafbarer Versuchshandlungen ist aus unterschiedlichen Gründen problematisch. Neben den nur angerissenen strafrechtsdogmatischen und rechtsphilosophischen Ansätzen, die eine staatliche Pönalisierungszurückhaltung postulieren, existieren die aufgezeigten nicht minderbeachtenswerten handfesten pragmatischen Gegenargumente. Während ich im Rahmen der ersten beiden Handlungsfelder (Verfassungsschutzrecht und Polizeirecht) für einen moderaten Ausbau plädiere, sehe ich im Bereich des materiellen Strafrechts eher das Erfordernis einer Reduzierung auf das Kernstrafrecht, bei – wie oben dargestellt – gleichzeitigem Ausbau des Gefahrenabwehrrechts. Denn die Gewährleistung von Sicherheit in der gegenwärtigen Bedrohungssituation ist primär genuines Polizeirecht. Dies kann nicht oft genug betont werden.

Weiterführende Literatur Albrecht, Peter-Alexis. Kriminologie. Eine Grundlage zum Strafrecht. 4. Aufl. 2010. München: C.H. Beck. Asholt, Martin. Die Debatte über das Feindstrafrecht in Deutschland. Aufleben eines alten Dilemmas am Anfang des 21. Jahrhunderts?; in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik (ZIS) 2011, 180–192.

Recht als Grundlage und Schranke staatlichen Handelns …

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R. Gnüchtel

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Terrorismusabwehr und -bekämpfung im Zeitalter strategischer Ungewissheit Stephan Maninger

1 Einleitung Im Jahr 2016 fanden insgesamt 142 Anschläge bzw. Anschlagsversuche in acht EU-Staaten statt, fünf davon in der Bundesrepublik Deutschland. Während die Anzahl der Anschläge im Vorjahresvergleich sank, stieg gleichzeitig die Anzahl der dschihadistischen Aktivitäten. 718 Verhaftungen fanden innerhalb der EU statt, während es 2014 noch 395 waren.1 Diese Entwicklung könnte fälschlicherweise eine Verbesserung der Terrorabwehr nach den schweren Anschlägen der vergangenen Jahre suggerieren. Galt Terrorismus in der Vergangenheit als ein eher marginales Problem, welches weder eine existentielle Bedrohung noch eine sonderlich erfolgreiche Methode darstellte, ist er in seiner jetzigen Form des „neuen Terrorismus“ ein durchaus wirkungsvolles Instrument asymmetrischer Kriegsführung. Es handelt sich daher um mehr als „unkonventionelle, unerwartete und fast unvorhersagbare politische Gewalttaten“2, denn das Ausmaß des „neuen Terrorismus“ beinhaltet inzwischen Massenvernichtungswaffen

1Terrorism

Situation and Trend Report 2017, European Union Agency for Law Enforcement Cooperation (EUROPOL) The Hague, S. 10. 2Martin, Gus, Understanding Terrorism: Challenges, Perspectives, and Issues. California State University, Los Angeles, 2013, S. 245.

S. Maninger (*)  Lübeck, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Freudenberg et al. (Hrsg.), Terrorismus als hybride Bedrohung des 21. Jahrhunderts, Sicherheit – interdisziplinäre Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20919-3_4

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und ein Potenzial zum Aufstands- und Bürgerkriegsszenario. In der Annahme seiner vermeintlichen Untauglichkeit als „existentielle Bedrohung“ liegt auch eine Neigung unter westlichen Entscheidungsträgern, sich den unbeliebten Aufgaben der Terrorismusabwehr und -bekämpfung zu entziehen. Die institutionelle Trägheit des Nationalstaates wie auch die Überschreitung der Schwelle zum multipolaren, postwestlichen Zeitalter auf der Weltbühne erschweren die erforderlichen Anpassungsprozesse. Globale Machtverschiebungen seit Ende des „Kalten Krieges“, ein exponentiell wachsendes Wirkmittelspektrum und eine abnehmende Prognosesicherheit bedeuten für westliche Staaten eine Epoche „strategischer Ungewissheit“. Die Komplexität der sicherheitspolitischen Herausforderungen hat quantitativ und qualitativ stark zugenommen, die Einschränkungen staatlicher Machtprojektion ebenso. Die Debatte wird von zwei Standpunkten aus geführt. Zum einen wird der Standpunkt vertreten, dass die Welt dauerhaft mit strategischer Ungewissheit leben wird, weil die exponentiell wachsende Rolle von Technologie und die erhöhte Mobilität der Menschheit zwei unberechenbare Machtverstärker darstellen. Zum anderen wird der Standpunkt eingenommen, dass die Angst vor der Ungewissheit das eigentliche Problem sei. Strategische Planer stehen also vor der Wahl, ob sie versuchen sollen, das Sicherheitsumfeld durch eigenes Handeln zu bestimmen oder sich verstärkt auf Anpassungsstrategien zu konzentrieren.3 Verkannt wird dabei oft das Potenzial von erfolgten Terroranschlägen, finanzielle und politische Destabilisierung zu bewirken, sogar Regierungswechsel herbei zu führen, indem radikale Parteien verstärkt Zuspruch erhalten. Außerdem stellt, neben dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen, technologisch gestützter Terrorismus zunehmend eine strategische Bedrohung dar, die auch hier, im Falle von „kritischer Infrastruktur“ wie Energieversorgung oder Kommunikationsinfrastruktur, durchaus existenzielle Dimensionen annehmen kann. Im Counterterrorism Yearbook 20174 wird dies wie folgt beschrieben: „the threat of nuclear and radiological terrorism remains one of the greatest challenges to international security and the threat is constantly evolving“.

3Popescu,

Ionut, „Are Our Strategic Models Flawed? Strategic Uncertainty, the Third Offset, and US Grand Strategy“, Parameters 46(4), Winter 2016–2017, US Army War College Quarterly, Fort Leavenworth, S. 72–73. 4Carrol, Jacinta (eds.), Counterterrorism Yearbook 2017, The Australian Strategic Policy Institute, Barton, February 2017, S. 138, https://www.aspi.org.au/publications/counterterrorism-yearbook-2017/ASPI-Counterterrorism-YB2017.pdf.

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Manche westliche Staaten tun sich daher schwer im sicherheitspolitischen Umgang mit diesen Herausforderungen und ihre Gegenmaßnahmen sind vor allem durch folgende Aspekte geprägt: • Fehleinschätzungen durch moralische Hybris. • Dimension der Terrorismusbekämpfung.

2 Fehleinschätzungen durch moralische Hybris Moralische Hybris bei gleichzeitiger Missachtung historischer Erkenntnisse erzeugt Missverständnisse und Fehleinschätzungen. Die unrealistische Erwartung westlicher Beobachter und Entscheidungsträger, dass z. B. die Entwicklung einer multiethnischen Ukraine und der eines monoethnischen Polens vergleichbar seien, liegt der jetzigen Ukrainekrise zugrunde. Auch die Annahme, dass die demografischen Verschiebungen, die Süd-Nord Migrationsbewegungen vergangener Jahrzehnte, keine Stabilitätsfragen aufwerfen würden, scheint weder die Geschichte der Menschheit, noch derer Identifikationsradien zu berücksichtigen. Idealistische oder ideologische Annahmen, bewirken Realitätsverlust und verhindern somit häufig eine wirksame Sicherheitspolitik. Historisch umwälzende Ereignisse werden oft dadurch in Gang gesetzt, dass Ideologie und Moralphilosophie die nüchterne Analyse ersetzen. Sogar dort, wo Macht projiziert wird, z. B. in Afghanistan oder Irak, werden idealistische Ziele und Maßstäbe definiert, die reich an kosmopolitischen Konvergenztheorien sind, aber arm an historischem, kulturellem und strategischem Wissen. Idealismus und Ideologie erzeugen unrealistische Erwartungen und Bestätigungsverzerrungen, die teilweise mit Denkverboten belegt werden und Kurskorrekturen erschweren oder gänzlich verhindern. Während eine amoralische Politik, wie schon der antike Historiker und Stratege Thukydides erkannte, weder praktisch noch vernünftig ist, weil sie auch auf Arroganz beruht, so ist eine Hypermoral ebenso gefährlich.5 Denn Idealismus, wie das Ideologiezeitalter im 20. Jh. gezeigt hat, wird leicht zu Fanatismus, während eine eigennützige, nationalstaatliche Realpolitik eher zum Pragmatismus neigt. Altruistische Weltbilder, oder aber jede andere generell moralisierende Politik mit Weltverbesserungsanspruch, erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Fehlkalkulationen wie auch den Preis ihrer Folgen. Insofern scheint die Annahme von Thukydides nicht falsch, der zufolge die Sicherung gesunder Selbstinteressen, 5Orwin,

C. (1994). The Humanity of Thucydides. Princeton: Princeton University Press.

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auch im nationalstaatlichen Kontext daher „­ nationaler Interessen“, nicht nur pragmatisch, sondern eben auch häufig moralisch sei.6 So hat die moralisch sehr wohl begründete Abscheu vor Menschenrechte missachtenden Despoten wie Saddam Hussein, Muammar al-Gaddafi oder Baschar al-Assad westliche Akteure dazu bewogen, deren Niedergang zu bewirken. Daraus entstandene Machtvakua wurden jedoch durch nichtstaatliche Akteure gefüllt, deren Verletzungen von Menschenrechten mindestens ebenso gravierend sind. Außerdem haben sie zu grenzüberschreitender Destabilisierung und sicherheitspolitischer Unberechenbarkeit mit globalen Auswirkungen massiv beigetragen. Somit kann eine gut gemeinte „Moralpolitik“, auch bei sorgfältiger moralphilosophischer Überprüfung, ein unerwünschtes Ergebnis herbeiführen, weil ihre gute Absicht den Blick auf das zu erwartende bzw. das wahrscheinliche Ergebnis vernebelt. Der postheroische Horizont behindert zudem eine realistische Betrachtung der Lage, weil bei Entscheidungsträgern und in der Öffentlichkeit ein fundiertes sicherheitspolitisches Wissen häufig zu wünschen übrig lässt. Die bewusste „Pazifizierung“ der Menschheitsgeschichte, darunter Mythen einer friedlichen Vergangenheit im „vorkapitalistischen Zeitalter“ oder aber Hoffnungen auf einen dauerhaften Weltfrieden, bisweilen auch nur banales Desinteresse, scheinen häufig staatliche Institutionen und Behörden zu prägen. Dies führt zu Kategorisierungsschwierigkeiten bzw. -fehlern. Terrorismus wird dadurch immer noch fast ausschließlich als Kriminalität betrachtet und weniger als Kriegsinstrument. Fehleinschätzungen liegen auch vor in den angenommenen Zielen von Terrororganisationen. Grundsätzlich werden mit ihnen die Ziele Rache, Ruhm, Reaktion und Rekrutierung verbunden.7 Angesichts dessen scheinen westliche Entscheidungsträger in ihren Abwehr- und Bekämpfungsstrategien stets bemüht, mit ihren Handlungen dem „Hass“ auf den Westen die Grundlage zu entziehen. Doch möglicherweise hassen Dschihadisten den Westen weniger für das, was er tut, als für das, was er ist. Sollte dies zutreffen, stellt sich die Frage, was getan werden kann, um deeskalierend auf Menschen zu wirken, die sich an der Existenz des Westens stören. Oft liegen den „Rachebegründungen“ der terroristischen Akteure ohnehin historische Ereignisse zugrunde, die sich außerhalb des Einwirkungsbereichs moderner Politik befinden z. B. die Kreuzzüge. Folglich konzentrieren sich Terrorabwehrmaßnahmen oft auf den Umgang mit Symptomen, wodurch sie

6Kaplan,

Robert, Warrior Politics: Why Leadership Demands a Pagan Ethos, Rando House, New York, 2002, S. 51.

7Boot,

Max, Invisible Armies: An Epic History of Guerilla Warfare from Ancient Times to the Present, Norton & Company, New York, 2013, S. 523–524.

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eher reaktiv wirken. Das „Counterterrorism Yearbook 2017“8 schreibt dazu: „In Western Europe, it seems that returning fighters have already embedded themselves into areas where sympathetic supporters provide shelter and encouragement. The challenge is to stem any further flow for fighters, and that will now have to be done amid heated internal political debates about border security and housing refugees. Europe is scrambling to make its intelligence, internal security and policing more effective by quickly exchanging information and monitoring risky individuals, who are often well known to the authorities.“ Belgien, Niederlande, Frankreich und die Schweiz berichten von Ermittlungen gegen Asylsuchende, die nahelegen, dass auch der Flüchtlingsstrom durch den „Islamischen Staat“ (IS) zur Infiltration genutzt wurde.9 Steinberg (2017) spricht hier von einem „neuen Rekrutierungspool“, was auch als unbeabsichtigte Folge einer vermeintlich moralischen Politik betrachtet werden kann. Tatsächlich sind die Täter, beispielsweise in Berlin oder in Manchester, häufig sogar durch Sicherheitsbehörden im Vorfeld detektiert bzw. eingestuft worden. Entweder war die Einstufung unzutreffend, d. h. sie waren gefährlicher als angenommen, oder sie stellte kein Hindernis für die Anschlagspläne dar. Bei allen Bemühungen, taktisch zu improvisieren, wo die strategische Analyse und Vision fehlt, scheint vielen Entscheidungsträgern der historische Kompass inzwischen fremd geworden zu sein. Der Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson10 beschreibt dies wie folgt: „Like the Roman Empire in the early fifth century, Europe has allowed its defences to crumble. As its wealth has grown, so its military prowess has shrunk, along with its self-belief. It has grown decadent in its shopping malls and sports stadiums. At the same time, it has opened its gates to outsiders who have coveted its wealth without renouncing their ancestral faith.“ Diese Entwicklung verschärft die strategische Unsicherheit und behindert eine umfassende Strategie zur Terrorismusabwehr.

3 Terrorismusabwehr Terrorismusabwehr unterscheidet sich von Terrorismusbekämpfung, indem Erstgenannte einen passiven Ansatz verfolgt, während Letztgenannte die aktiven, offensiveren und teils militärischen Maßnahmen beinhaltet. 8Carrol,

Jacinta (eds.), Counterterrorism Yearbook 2017, The Australian Strategic Policy Institute, Barton, February 2017, S. 137, https://www.aspi.org.au/publications/counterterrorism-yearbook-2017/ASPI-Counterterrorism-YB2017.pdf. 9Terrorism Situation and Trend Report 2017, S. 12–13. 10In „Paris and the fall of Rome“, The Boston Globe, 16 November 2015, https://www.bostonglobe.com/opinion/2015/11/16/paris-and-fall-rome/ErlRjkQMGXhvDarTIxXpdK/story.html.

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Die Bundesrepublik Deutschland verfügt bisher über keine Strategie der Terrorismusbekämpfung, höchstens eine der Terrorismusabwehr. Und bei Letztgenannter ist es fraglich, ob diese, mit Blick auf die Sicherheitsarchitektur, als umfassend betrachtet werden kann. Konkret bedeutet dies, dass durchaus Maßnahmen zur Anschlagszielverhärtung getroffen werden. Terroristen müssen jedoch nicht befürchten, durch deutsche Sicherheits- bzw. Streitkräfte militärisch in ihren internationalen Bereitstellungsräumen bekämpft zu werden. Folgende Maßnahmen sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung: • • • •

das „Gegennarrativ“; die Finanzierungsunterbrechung; die Einschränkung der Mobilität; die soziale Frage.

3.1 Das „Gegennarrativ“ Terrorismus ist eng mit einem „Kampf der Ideen“ verknüpft, der weitgehend durch moderne Medien seine globale Reichweite entfaltet. Der verlockenden Erzählung des „Dschihad“ mit einer überzeugenden und daher deradikalisierenden „Gegenerzählung“ zu begegnen, gilt inzwischen als wichtige Terrorismusabwehrmaßnahme.11 Dies, nachdem die vorherige Annahme, dass der islamistische Terrorismus eine marginale Erscheinungsform sei, sich als unzutreffend erwiesen hat. Während die überwiegende Mehrheit von Muslimen tatsächlich eine negative Einstellung zu Terrorismus und Organisationen wie dem IS vertritt12, gaben dennoch lediglich 34 % der britischen Muslime an, dass sie Informationen zu einer Vorbereitung eines islamistischen Anschlages der Polizei melden würden.13

11Shahid,

Aroma, „Stories of terror: The need for a counter-narrative“, Pakistan Today, 13 August 2016, https://www.pakistantoday.com.pk/2016/08/13/stories-of-terror-the-needfor-a-counter-narrative/. 12Lipka, Michael, „Muslims and Islam: Key findings in the U.S. and around the world“, Pew Research Centre, 26 May 2017, http://www.pewresearch.org/fact-tank/2017/05/26/ muslims-and-islam-key-findings-in-the-u-s-and-around-the-world/. 13„C4 survey and documentary reveals What British Muslims Really Think“, 11 April 2016, http://www.channel4.com/info/press/news/c4-survey-and-documentary-reveals-what-british-muslims-really-think.

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Ohne Medien wäre der moderne Terrorismus nicht möglich, denn es ist, neben der spektakulären Gewalt, seine implizite Gewalt, die konkrete Androhung einer gesteigerten Wiederholung des Schadensereignisses bei Nichterfüllung der gestellten Forderungen, welche als Machtverstärker gilt. Der mediale Kampf um die Darstellung ist dadurch integraler Bestandteil jeder Abwehr- bzw. Bekämpfungsstrategie. Gleichzeitig müssen die Abwehrfähigkeiten im relativ neuen Cyberraum auch dazu ausgebaut werden, die terroristische Werbebotschaft zu stören bzw. zu verhindern. Die Diskreditierung des terroristischen Akteurs muss dazu auch den kulturspezifischen Bezugsrahmen der Zielgruppe treffen. Kommunikationstechnologie sowie deren dezentrale und transnationale Natur im Rahmen der zunehmenden Globalisierung hat dem klassischen Nationalstaat das Entwicklungs- und Informationsmonopol genommen. Dieser Verlust bedeutet eine Machtverschiebung in einer strategischen Dimension („democratization of intelligence“), weg von regulären, staatlichen Organen, hin zum Individuum und nichtstaatlichen Akteuren. Das Schadenspotenzial, über welches diese Individuen, Klein- und Kleinstgruppen verfügen, ist durch eine Verdichtung von Kompetenzen, Wissen und der Erhöhung der Aktionsgeschwindigkeit stark angewachsen. Nationalstaaten, als bisherige Sicherheits–„Monopolisten“ eines Gesellschaftssystems, müssen ihre Rolle als Hauptträger des Politischen nunmehr mit raumübergreifenden Akteuren, global agierenden „Playern“ wie „Google oder Facebook, Staatengruppen oder eben Imperien“14 teilen. Die Ereignisse in Syrien, die internationale Reichweite des IS, sowie die „Arabellion“ im Nahen Osten und Nordafrika unterstreichen diese Entwicklung und zeigen auf, wie stark beispielsweise die Bedeutung von sozialen Netzwerken und neuen Medien wie Facebook, YouTube, Twitter und Snapchat für die operative Kommunikation und Propaganda terroristischer Akteure ist. 2015 gab es mehr als 46.000 IS-Twitteraccounts, das FBI schätzt 200.000 tägliche Zugriffe auf „terrorist messaging“ weltweit. Bis 2017 erzeugte der IS durchschnittlich 50 % mehr Twitterpräsenz als die Gegennarrative seiner Gegner.15 Um die damit einhergehende Rekrutierung und Steuerung zu behindern, besteht schon seit geraumer Zeit der Begriff „Gegennarrativ“ für Versuche zur

14Münkler, Herfried, Kriegssplitter: Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Rowohlt, Berlin, 2015, S. 313–314. 15Voelz, Glenn, „The Rise of I-War: Identity, Information, and the Individualization of Modern Warfare“, Strategic Studies Institute and U.S. Army War College Press, Fort Leavenworth, October 2015, S. 90.

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argumentativen Bekämpfung. Hervorzuheben wären dabei die Begriffe „Strategische Gegennarrative“ und „Ideologische Gegennarrative“. Erstgenannter Ansatz bemüht sich um die moralische Ächtung der Terrortaten. Hier wird an die menschlichen Gemeinsamkeiten appelliert und für bessere Zusammenarbeit aller Menschen plädiert. Die Schwäche dieser Herangehensweise liegt in der Annahme, dass die Zielgruppe ethisch/moralisch empfänglich ist und es ein geteiltes, d. h. universales Wertesystem bzw. Bezugsrahmen gibt. Dabei beruft sich der islamistische Kampf gegen den Westen explizit auf die Existenz einer Wertediskrepanz und es ist daher schwer vorstellbar, wie der „Sender“ beim intendierten „Empfänger“ somit glaubwürdig sein kann. Ideologische Gegennarrative versprechen erfolgreicher zu sein, denn es lässt glaubhafte „Sender“, wie Islamgelehrte oder religiöse Anführer, die inhaltliche Glaubensdebatte führen. Dabei ist es nicht unwichtig, dass westliche Regierungen dies zwar unterstützen, sich jedoch nicht selbst daran beteiligen, weil das wiederum die Glaubwürdigkeit der Botschaft beeinträchtigen könnte. Die Funktionalität dieses Ansatzes hängt weniger an der Kreativität oder der Qualität des Produktes, die durch Privatfirmen gewährleistet werden kann, als im Zusammenspiel von Faktoren wie Sprache, Zielgruppen, geografischer, ggf. ethnokultureller Zuschnitt und Medium. Die Erfahrung zeigt, dass der Erfolg der terroristischen Propaganda weniger vom „Schein“ bzw. der Darstellung oder des Mediums abhängt, sondern von der Glaubwürdigkeit der dschihadistischen Erzählung. Hierbei wird die vermeintliche Unterdrückung der Muslime durch westliche Akteure und der heldenhafte, von Gott gewollte Kampf für „Gerechtigkeit“ vermittelt. Demgegenüber haben bisherige Gegennarrative mit Demokratie, Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und humanistischer Säkularität kaum Wirkung gezeigt.16 Der westliche Ansatz ist insgesamt eher defensiv und betont in der Reaktion auf Terror grundsätzlich den Versuch, „nicht den Narrativen der Terroristen in die Hände zu spielen“, also jegliche Reaktionen zu vermeiden, die den Terroristen nutzen könnten. Dies beruht allerdings auf der Annahme, dass die Islamisten ihre Ziele für das hassen, was diese tun, und nicht dafür, was sie sind.

16Etzioni,

Amitai, „Talking to the Muslim world: how, and with whom?“, International Affairs Magazine, Royal Institute for International Affairs, November 2016, Volume 92, Number 6, https://www.chathamhouse.org/publication/ia/talking-muslim-world-how-andwhom.

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Die IS-Propaganda erlebte ab 2016 tatsächlich einen qualitativen Rückschritt, der allerdings weniger auf eine erfolgreiche Gegenerzählung oder die zunehmende Ächtung des Materials durch soziale Medien zurück zu führen ist, als auf die „Offline-Realität“ wirksamer militärischer Einwirkung auf die Propaganda-Infrastruktur.17

3.2 Die Finanzierungsunterbrechung Seit 2001 betonen westliche Regierungen, dass die Achillesferse des Terrorismus die Finanzierung sei, und haben Maßnahmen ergriffen, um diese zu unterbinden. Die Finanzindustrie hat sich bemüht, solche Maßnahmen zu unterstützen. Allerdings ist dieses Instrument möglicherweise überbewertet worden, denn eine Verminderung der Anschlagshäufigkeit kann damit kaum in Verbindung gebracht werden. Führungsloser „low-tech“ -Terrorismus ist kein teures Unterfangen, die „high-tech“ Cyber-Variante auch nicht. 40 % der Anschläge bzw. Anschlagsvorbereitungen in Europa wurden laut EUROPOL durch Kleinkriminalität der Täter mitfinanziert.18 Selbst die Anschläge mit Kriegswaffen und improvisierten Sprengsätzen haben sich als kostengünstige Optionen erwiesen, die die Täter problemlos aus eigenen Mitteln finanzieren konnten. Insofern gibt es in der Mehrzahl der kleinen bis mittleren Anschlagsszenarien keine bekämpfbare finanzielle Dimension, da die Täter sich durch Erwerbstätigkeit, Kriminalität oder staatliche Transferleistungen ausreichend ausstatten können. Die „Counter Terror Financing“ (CTF) Strukturen sind zwar beliebte Betätigungsfelder, die Regierungen und internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen (UN) einschließen, scheitern jedoch an den gleichen Faktoren wie viele andere Bereiche der internationalen Zusammenarbeit. Laut dem Direktor des „Centre for Financial Crime and Security Studies“, Tom Keatinge19,

17Lakomy,

Miron, „Cracks in the Online ‚Caliphate‘: How the Islamic State is Losing Ground in the Battle for Cyberspace“, Perspectives on Terrorism, Volume 11, Number 3, May/June 2017, http://www.terrorismanalysts.com/pt/index.php/pot/article/view/607/html. 18Terrorism Situation and Trend Report 2017, S. 12. 19„Global Counter-Terror Finance Efforts are Still Failing“, Centre for Financial Crime and Security Studies, Global Security Issues, Terrorism, Information, Terrorism, 16 November 2015, https://rusi.org/commentary/global-counter-terror-finance-efforts-are-still-failing.

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scheitern die Maßnahmen an Datenschutzgesetzen und würden eine zentrale EU – „financial intelligence“- Einheit erfordern. Außerdem müsste die „Financial Action Task Force“ (FATF) als führende internationale Geldwäschebekämpfungsinstitution dringend die Informationsbarrieren identifizieren und Vorschläge zu deren Entfernung machen. Der Bankensektor sollte seine Rolle in der Detektion von verdächtigen Finanztransaktionen erfüllen und in der Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden die „finanziellen Fußabdrücke“ des Terrorismus frühzeitig erkennen. Während solche Regulierungsvorschläge dazu beitragen können, dass Terroristen den Bereich der Banktransaktionen als Detektionsrisiko erkennen und meiden, scheint sich dies jedoch kaum auf den Bereich der Finanzierung von Terrororganisationen wie Al Kaida oder IS, ausgewirkt zu haben. Die Gegenmaßnahmen haben kaum Wirkung gezeigt, weil deren kriminelle Verstrickung als Hybridakteure eine noch nicht überwundene Hürde darstellt. Bis 2015 verfügte der IS, nicht zuletzt aufgrund seiner protostaatlichen Fähigkeit, noch über ein Budget von 1,7 Mrd. US$, und war finanziell viel mächtiger als jede andere Terrororganisation. Die finanziellen Gegenmaßnahmen ergaben lediglich 60 Mrd. US$ in eingefrorenen Vermögenswerten aller terroristischen Organisationen.20 ­Alternative Finanzierungswege, z. B. Bitcoins oder Hawala-Banking, spielen eine wichtige Rolle. Die Einnahmequellen von Organisationen wie IS sind weitaus vielfältiger und komplexer. Außerdem scheint die Annahme fraglich, der islamistische Terrorismus erfordere signifikante Finanzmittel.

3.3 Die Einschränkung der Mobilität Die erhöhte Mobilität der Menschen hat das Operationsspektrum terroristischer Organisationen global entgrenzt. Migration und Einbürgerungsverfahren, wodurch legale Mobilitätsvorteile gewonnen werden konnten, versetzen Institutionen der Terrorabwehr in die benachteiligte Position des „Handlungseunuchen“. Terroristen reisen als EU-Bürger und überschreiten Grenzen mit Leichtigkeit. Reiseeinschränkungen beim „Foreign-Fighters“-Phänomen, verbesserte Überprüfung von Flüchtlingen bzw. Asylbewerbern stoßen an die Grenzen der geringen

20Neumann,

Peter, „Don’t Follow the Money: The Problem With the War on Terrorist Financing“, Foreign Affairs Magazine, Volume 96, Number 4, July/August 2017, https:// www.foreignaffairs.com/articles/2017-06-13/dont-follow-money.

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Informationsdichte, was persönliche Daten aus den Herkunftsländern angeht. Insofern scheint eine Einschränkung der Mobilität, bei gleichzeitiger Beibehaltung von offenen Grenzen und Aufrechterhaltung bestehender Abkommen zu EU-Außengrenzen und Flüchtlingen, schwierig. Die Bedrohung durch einzelne Schlüsselpersonen, die innerhalb hochanpassungsfähiger Netzwerke operieren, wie auch die erforderlichen Abwehrmechanismen, werden mittlerweile als „I-Krieg“ (Individualism, Identity, Information) bezeichnet. Sie stellen sogenannte „hochwertige Zielpersonen“ dar. Diese frühzeitig zu identifizieren, ist die Herausforderung der Zukunft, denn sie tragen weder eine Uniform noch sind sie räumlich bzw. geografisch zwingend an ein operatives Gebiet, eine „Front“ oder ein „Schlachtfeld“ gebunden. Sie werden überall vorgefunden, im Einsatzgebiet wie auch im ­Heimatgebiet. Die „Individualisierung“ oder auch „Personalisierung“ durch die dschihadistische Bedrohung ist zu einer Datenverarbeitungs- bzw. Informationsmanagementaufgabe geworden. Sie erfordert die massenhafte Erhebung, Kategorisierung und Abgleichung biografischer, biometrischer und forensischer Datenmengen mit dem Ziel der Trennung von Gefährdern und Unbeteiligten. Datenanalyse, Identitätsfeststellung, operative Zuordnung und Netzwerkeinstufung, gerade mit Blick auf die Unauffälligkeit, mit der sich die Täter von großen Anschlägen bewegten, werden die Herausforderungen der Zukunft darstellen. Die aktuelle Flüchtlingskrise in Europa zeigt die Bedeutung von persönlichen Daten in offiziellen Dokumenten. So reisten 2015 bis zu 77 % der internationalen Flüchtlinge ohne Pass oder gültige Ausweispapiere nach Deutschland ein. Nach Angaben einer Studie des US Center for Global Development21 verfügen ca. 40 % der Kinder der sog. zweiten und dritten Welt über keinerlei offiziellen Identitätsnachweis, weder Geburtsurkunde noch Ausweisdokument. Beispiel für das Erkennen der vitalen Bedeutung von Identifizierung ist die von Großbritannien eingeführte biometrische Aufenthaltserlaubnis (Biometric Residence Permit). Zudem bedarf es der Echtzeitvernetzung und -analyse (strategisch, operativ und taktisch) von biometrischen, biografischen, forensischen Datenbanken und Erfassungssystemen zur Auswertung von Orten, Aktivitäten und Akteuren. Oft kann moderne Technologie dadurch den Mobilitätsvorteil von Terroristen zumindest begrenzen. Pakistan erlaubt z. B. nur noch biometrisch registrierte SIM-Karten, weil alle sechs Angreifer beim Angriff auf die Militärschule in

21Gelb,

Alan/ Clark, Julia: Identification for Development: The Biometrics Revolution, Washington D.C., Center for Global Development, Januar 2013, S. 7.

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Peschawar im Dezember 2014 Funktelefone nutzten, die auf eine Frau registriert waren, die keinerlei Verbindung zu den Attentätern hatte.22 Dies sind Datenüberwachungsmaßnahmen, ohne die es kaum möglich sein wird, Gefährder und Bedrohungen abzuwehren. Im Wissen, dass der Schlüssel zum operativen Erfolg in der Detektion liegt, und tatsächlich die einzige Möglichkeit bietet, einen Anschlag zu verhindern, zeigen manche Zielländer trotzdem nach wie vor eine beachtliche strukturelle Trägheit und Neigung, bei eminenten Gefahren auf eher klassische Mittel zu setzen. Man ist folglich immer vorbereitet auf das vorhergegangene Anschlagsszenario und verfolgt einen reaktiven Ansatz. Ohne allerdings die physische Mobilität des bestehenden oder zukünftigen Gefährderumfeldes, d. h. das Wachstum der Diasporagemeinden zu reduzieren, werden demografische Verschiebungen den operativen Spielraum für Terroristen kontinuierlich verbessern. Ethnoreligiöse Brückenköpfe schaffen Operationsbasen, „no-go areas“ für Sicherheitsbehörden, und ermöglichen gleichzeitig eine Entwicklung hin zu Aufstandsszenarien, die die Stabilität der heutigen Zielländer signifikant bedrohen.

3.4 Die soziale Frage Zu den hartnäckigen Denkfehlern der Terrorismusabwehr zählt, dass die Bekämpfung von „sozialen Ursachen“ oft als sinnvollste Maßnahme gilt. Dies scheint auf der Grundannahme zu beruhen, der zufolge kriminelles bzw. abweichendes Verhalten ein „Systemfehler“ sei, weil der Mensch als „unbeschriebenes Blatt“ geboren wird und nur seine vorgefundenen Umstände und Umgebung ihn verderben.23 Diese Annahme hat nicht nur Heinsohn24 infrage gestellt, der aufzeigt, dass Gewaltbereitschaft eher das Bedürfnis nach Anerkennung und weniger die Folgen von Armut spiegelt. Auch Lacquer25

22Voelz,

S. 78. Steven, The Blank Slate: The Modern Denial of Human Nature, Penguin Press, New York, 2003; Pinker Steven, Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit, S. Fischer Verlag, Berlin, 2013. 24Heinsohn, Gunnar, Söhne und Weltmacht: Terror im Aufstieg und Fall der Nationen, Piper Verlag, München, 2011. 25The New Terrorism: Fanaticism and the Arms of Mass Destruction, Oxford University Press, Oxford, 2000. 23Pinker,

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und Boot26 haben darauf hingewiesen, dass Terroristen eher selten aus der benachteiligten Schicht kommen, die sie behaupten zu vertreten. Neumann27 hingegen beruft sich auf die Tatsache, dass unter den Dschihadisten eine beachtliche Anzahl Vorbestrafter ist und verbindet dies mit der sozialen Frage bzw. der Perspektivlosigkeit potenzieller Täter. „What we have found is not the merging of criminals and terrorists as organisations but of their social networks, environments, or milieus. Criminal and terrorist groups have come to recruit from the same pool of people, creating (often unintended) synergies and overlaps that have consequences for how individuals radicalise and operate. This is what we call the new crime-terror nexus“. Die Annahme, dass es sich hier um „unbeabsichtigte Synergien“ handle, keine „systematische“ Rekrutierung stattfindet sondern eher zufällige Milieubegegnungen, scheint fraglich. Erfahrungswerte im Bereich der Deradikalisierung deuten auf eine gezielte Rekrutierung hin. Allerdings sollte differenziert werden, denn der IS ist mehr dazu geneigt, Kriminelle zu rekrutieren, als Al-Qaida dies tut.28 Ungeachtet dessen scheint zumindest die Erkenntnis gesichert, dass beim islamistischen Terrorismus die Suche nach Profilen an der schieren Vielfalt der Täter scheitert. Sozioökonomische Erklärungsmuster, neigen dazu, auch in anderen Konflikten die motivierende und mobilisierende Energie von idealistischen Ideen oder „sozialen Konstrukten“ wie Ethnizität oder Religion zu negieren. Dabei wirkt die betonte Trennung des islamistischen Terrorismus von seinen religiösen Wurzeln oft viel konstruierter als die jeweiligen Identifikationsradien seiner Anhänger. Tatsächlich sehen manche Beobachter29 darin eine westliche Einseitigkeit, eine „Unehrlichkeit“ in der Betrachtung, bei der religiöse Aspekte eher die Rolle der Begleiterscheinung zugesprochen bekommen. Eine solche westlich-säkulare Sicht misst der Religion, als Träger eigener kausaler, sinnstiftender und moralisch legitimierender Eigenschaften, nur wenig Bedeutung zu. Wie stark diese Denkströmung ist, lässt sich an der Terrorismusabwehrstrategie der Vereinten

262013,

S. 328. Rajan; Neumann, Peter; Brunner, Claudia, Criminal Pasts, Terrorist Futures: European Jihadists and the New Crime-Terror Nexus, International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence, King’s College, London, 2016, S. 3.

27Basra,

28Gökkaya,

Hasan, „‚Islamischer Staat‘: Dschihad auf Ecstasy“, Zeit Online, 18. Juni 2017, http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-06/islamischer-staat-islamisten-kriminalitaet-rekruten. 29Wood, Graeme, „What ISIS Really Wants“, The Atlantic, March 2015 Issue, https://www. theatlantic.com/magazine/archive/2015/03/what-isis-really-wants/384980/.

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­ ationen erkennen. Diese konzentriert sich primär auf „economic, social and N political conditions“, denen der Terrorismus zugeschrieben wird.30 Die an anderer Stelle beschriebenen Kausalaspekte wie „kulturelles Skript“, darunter der kulturelle Stellenwert von Gewalt in sogenannten „Schamkulturen“, wo Beleidigung, Ehre und Rache von anderer Bedeutung sind als bei demografisch erschöpften, postheroischen Gesellschaften, finden kaum Berücksichtigung. Simon Cottee31 schreibt dazu: „…so much scholarly discourse on jihadist terrorism is morally gamed toward minimizing the role of religious ideology. Scholars, who for the most part are liberal-leftist in outlook, do not want to denigrate Islam, so they relocate the causal centre of gravity away from it“. Insofern sind Versuche der Terrorismusabwehr, die Kausalfaktoren zu analysieren, oft von ideologischen Bestätigungsverzerrungen begleitet, in der philosophischen Tradition des zum Marxismus tendierenden Materialistischen. Die sozioökonomische Erklärung ist jedoch bei der Untersuchung des „Foreign- Fighter“- Phänomens eher in den Hintergrund gerückt, weil nur wenige materielle Beweggründe angeben. Im Gesamtspektrum der „Push“- und „Pull“ – Faktoren suggerieren die Typologien der Täter, wie Matt Venhaus nach 2032 Interviews sie im Jahre 2010 einteilte, dass die Suche nach Rache, Status und Identität als entscheidende Motivationsgrundlage diente.32 Noch drei Jahre zuvor gaben 43 % der gefangenen „Foreign Fighters“ im Irak an, dass sie vor ihrer Einreise Studenten waren.33 Dies legt nahe, dass weder die Behebung eines unterstellten Bildungsmangels, noch die von anderen sozioökonomischen Nachteilen entlang der Bedürfnispyramide im Bereich der Terrorismusabwehr vielversprechend sind. Die Täter sind weitgehend intrinsisch motiviert. Britische Auswertungen sozialer Medien zu Irak und Syrien zeigen auch bei den jüngsten Rekrutierungswellen keinerlei sozioökonomische Begründungen, sondern: 1. Kampf gegen den Westen und Schiiten. 2. Verteidigung der Umma gegen das korrupte und ungläubige Assadregime.

30Comras,

Victor, Flawed Diplomacy: The United Nations & the War on Terrorism, Potomac Books, Washington D.C., 2010, S. 216. 31„What ISIS Really Wants“ Revisited: „Religion Matters in Jihadi Violence, but How?“, Studies in Conflict & Terrorism, Vol. 40, No. 6, 2016, S. 448. 32„Why Youth Join al-Qaeda“, Special Report, United States Institute for Peace, 4 May 2010, https://www.usip.org/publications/2010/05/why-youth-join-al-qaeda. 33Borum, Randy and Fein, Robert, „The Psychology of Foreign Fighters“, Studies in Conflict &Terrorism, Vol. 40, No. 3, 2016, S. 258.

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3. Wut gegen das Assadregime aufgrund der begangenen Verbrechen und einer Untätigkeit des Westens. 4. Abenteuertourismus.34 Tatsächlich legen aktuelle Untersuchungsergebnisse nahe, dass die in Europa lebenden Muslime aus wohlhabenderen Schichten häufiger ihre Religion auf eine Weise ausleben, die den fundamentalistischen Auslegungen stärker ähnelt. Sie sind konservativer in Fragen der Geschlechterrollen, stehen dem politischen Islam näher und unterstützen häufiger den Einsatz von Gewalt zur „Verteidigung“ ihres Glaubens.35 Damit wäre die Relevanz der sozialen Frage geringer als bisher postuliert. Im Grunde kollidieren in der Bewertung der „sozialen Frage“ als Präventionsinstrument zwei sich bipolar gegenüberstehende Denkschulen: die eine postuliert, dass die Terroristen aus relativer Armut, bildungstechnisch oder materiell, radikal waren, bevor sie islamistisch wurden; die andere geht davon aus, dass der Islamismus die Täter radikalisiert. Die Debatte lässt sich entschleunigen, indem die Multikausalität akzeptiert wird und zunächst die Rolle von Religion als ein Bestimmungsfaktor anerkannt wird. Denn keine andere treibende Kraft ist zurzeit in der Lage, in Sachen Terrorismus den Islamisten Konkurrenz zu machen. Auch die Betonung, dass die Mehrzahl der 47 Terroranschläge 2016 in der EU durch Ethnonationalisten begangen wurden, ändert daran wenig. Denn die 142 t Toten und 379 Verletzten sind, laut EUROPOL, „nearly all“ durch 13 islamistisch motivierte Anschläge erzeugt worden.36

4 Terrorismusbekämpfung Historisch betrachtet ist die Mehrzahl der terroristischen Organisationen und aufständischer Befreiungsbewegungen blutig gescheitert. In der Moderne waren sie hingegen erfolgreicher, begünstigt durch die Mutation zu Hybridakteuren und die Wirkmittel der modernen Technologie. Veränderte Vorstellungen von Demokratie und Menschenrechten haben zudem, spätestens mit Beendigung des „Kalten

34ebd.

S. 256. Lorne and Amarasingam, Amarnath, „Talking to Foreign Fighters: Insights into the Motivations for Hijrah to Syria and Iraq“, Studies in Conflict &Terrorism, Vol. 40, No. 3, 2016, S. 206. 36Terrorism Situation and Trend Report 2017, European Union Agency for Law Enforcement Cooperation (EUROPOL), The Hague, S. 10. 35Dawson,

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Krieges“, zu einer Mäßigung der eingesetzten Abwehrmaßnahmen beigetragen. Folter, Inhaftierung ohne Prozess oder die Todesstrafe, als einst für angemessen gehaltene Mittel gegen Terrorismus, wurden geächtet. Dies nicht nur aus moralphilosophischen Überlegungen heraus, sondern auch aus Sorge, rabiate Gegenmaßnahmen könnte kontraproduktiv sein.37 Damit wurde jedoch der staatliche Akteur in die Rolle des berechenbaren, zur Reaktion verdammten „Handlungseunuchen“ versetzt, der sich in einem juristischen Regelgestrüpp und moralphilosophischen Dilemma befindet. Seine völkerrechtlichen Vorstellungen von Krieg scheinen, zumindest in Teilen, von der Wirklichkeit der „asymmetrischen Kriegsführung“ überholt. Seine Soldaten stehen vor Gegnern, die nicht uniformiert und daher selten als Gegner erkennbar sind. Terrorbekämpfungsoperationen finden meist in einem zivilen Umfeld statt, und Soldaten sterben seltener durch die Kugel eines klar erkennbaren Feindes als durch die eines Heckenschützen. Die Einsatzrichtlinien des modernen „Krieges“ sind entsprechend unklar, häufig der Lage unangemessen.38 Der terroristische Akteur ist gleichzeitig bemüht, den staatlichen Akteur zur Überreaktion, zum Regelbruch zu verleiten, um dies zur eigenen Stärkung nutzen zu können. Daher betont Boot39 die staatliche „Reaktion“ als ein Ziel von Terroristen. Diese Erkenntnis hat in westlichen Ländern dazu geführt, dass eine geringe Reaktion auf Anschläge als sinnvoll betrachtet wird, da dadurch das Risiko einer Überreaktion schwinde und durch eine „besonnene“ Terrorismusbekämpfungsstrategie, die weitere Rekrutierung verhindert werde. Für pazifistische Wohlstandsgesellschaften scheint dies außerdem der Weg des geringsten Widerstands zu sein. Dabei wird jedoch verkannt, dass bei Maßnahmen gegen Terrorismus nicht nur das Risiko von zu viel Gewalt besteht, sondern auch das Risiko von zu wenig. Die „Dosierung“ von Gewalt spielt daher eine wichtige Rolle. Entscheidungsträger in der Terrorbekämpfungsrolle bräuchten somit ein Minimum an Handlungsspielraum, bekommen diesen jedoch kaum, weil sie meistens aus regelorientierten Gesellschaften stammen und an Gesetze gebunden sind, die weder für die Lage geschrieben wurden noch leicht zu ändern sind. Unter diesen

37Dülffer,

Jost, „Alte und Neue Kriege: Gewaltkonflikte und Völkerrecht seit dem 19. Jahrhundert“, in Moderne Kriegsführung, Aus Politik und Zeitgeschichte, 35–36/2016, 29. August 2016, S. 4–10. 38Gross, Michael, Moral Dilemmas of Modern War: Torture, Assassination and Blackmail in an Age of Asymmetric Conflict, Cambridge University Press, Cambridge, 2010, S. 37. 39Boot, 2013, S. 328.

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Bedingungen führen sie ihren Kampf, in dem sie ausschließlich operativ und ohne Strategie, in folgenden drei Dimensionen planen: • Militäroperationen. • Polizeioperationen. • Nachrichtendienstliche Operationen.

4.1 Militäroperationen Die beachtlichen militärischen Fähigkeiten von Terrororganisationen wie Al-Qaida, Hisbollah, Hakkani-Netzwerk oder IS, haben gezeigt, dass Terrorismusbekämpfung auch zukünftig einen starken militärischen Baustein beinhalten wird. Abgesehen vom gewöhnlichen Spektrum der militärischen Fähigkeiten, sind westliche Soldaten in Auslandseinsätzen stark involviert in Maßnahmen der Aufstandsbekämpfung, die fließend in die Terrorismusbekämpfung übergehen oder davon kaum zu unterscheiden sind. Neben den Fähigkeiten zum ABC-Schutz nutzen allerdings immer mehr Länder ihre Soldaten zur Sicherung des öffentlichen Raumes gegen Anschläge. Damit gelingt die Verstärkung der Polizei, personell und materiell, gegen einen Gegner, dessen komplexe Anschläge verstärkt militärische Methoden und Wirkmittel beinhalten. Die Einsätze des Militärs beziehen sich jedoch in erster Linie auf die internationale Terrorismusbekämpfung, darunter in Schwerpunktregionen bzw. -ländern wie Irak, Afghanistan oder Syrien, wie z. B. die Operation „Inherent Resolve“. Dazu zählen Einsätze zur Unterstützung von Verbündeten, Angriffe auf Hochburgen und allgemeine Operationen zur Eroberung und Stabilisierung von Gebieten. Das Militär verfügt auch über die Fähigkeit zu umfassender taktischer Aufklärung und zur gezielten Tötung von Terroristen in deren Rückzugsgebieten. Im Zeitalter von „asymmetrischer Kriegsführung“, in dem Sicherheitsbehörden mit verblassenden Grenzen zwischen Krieg und Kriminalität, Kombattanten und Nichtkombattanten konfrontiert sind, sind durch Drohnen gewonnene Informationen die Grundvoraussetzung, um die Aktivitäten von Aufständischen und Terroristen aufzuklären, einzudämmen oder zu unterbinden.40

40Im Bereich der Terrorismusabwehr entstehen Drohnenstützpunkte in entlegenen Gebieten, z. B. West- und Ostafrika, wodurch die globale Aufklärungsreichweite und -qualität sehr viel höher ist als ohne den Einsatz dieser Technologie. Bei der Terrorbekämpfung wurden Aufständische und Terroristen gezwungen, im Rahmen der Drohnenprogramme, Ausbildung und Kommunikation stark einzuschränken, um sich vor Angriffen zu schützen.

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Hierbei wird auch der Ansatz der „gezielten Tötung“ verfolgt, der, jenseits der kontrovers geführten moralischen und juristischen Debatten, auch immer eine Frage der Wirksamkeit ist. Moralisch geht es um grundsätzliche Fragen des Tötens von eigenen Bürgern, die als Mitglieder von Terrororganisationen im Ausland kämpfen, aber auch der Verhältnismäßigkeit und der staatlichen Schutzpflicht. Dies ist nicht Gegenstand dieser Ausarbeitung, aber dennoch eine wichtige Debatte, denn keine Gesellschaft kann dauerhaft außerhalb ihrer eigenen Wertvorstellungen kämpfen. Gesellschaftliche Lageanpassungen müssen auch moralphilosophisch begleitet werden. Die Befürworter des Instrumentes argumentieren jedoch keineswegs amoralisch, sondern betonen, dass es verlustarm, billiger, verhältnismäßiger und für die Zivilbevölkerung vergleichsweise schonender ist als Luftschläge, eine Invasion oder Besetzung. Außerdem schütze die Reduktion der terroristischen Fähigkeiten unschuldige Menschen, indem es die Opferzahlen senke. Auf juristischer Ebene sieht Betcy Jose41 die Entstehung einer „globalen Norm“, bei der immer mehr Staaten auf dieses Mittel zurückgreifen und dadurch eine „zurückhaltende Akzeptanz“ zu beobachten sei. War die gezielte Tötung eines Al-Qaida-Funktionärs 2002 mit internationaler Kritik verbunden, wurde der gezielten Tötung von Osama bin Laden 2011 applaudiert. Außerdem gehen Staaten viel offener mit diesem Instrument um. Es umfasst inzwischen auch sogenannte „signature strikes“ gegen Gruppen. Die Verbreitung von Drohnen legt nahe, dass die Anzahl der Nutzerstaaten zunimmt und es daher zu einer „Normierung“ kommen wird. Diese wird sich an den gegensätzlichen Interessen orientieren müssen, nämlich dem Appell der Terrorismusbekämpfung an die „Schutzverantwortung“ bzw. der staatlichen Schutzpflicht einerseits, und dem Appell der davon betroffenen Staaten an die Unverletzbarkeit ihrer Souveränität bzw. an die Nichteinmischung anderseits. Im Sinne der Wirksamkeit stellen Drohnen bislang eine der wenigen dauerhaften strategischen Bedrohungen für nicht-staatliche Akteure dar; das einzige Wirkmittel mit der Fähigkeit, proaktiv, offensiv und nachhaltig deren Aktivitäten zu stören und deren Vorhaben zu vereiteln. Der ehemalige Al Qaida-Anführer Osama bin Laden schien die strategische Tragweite der Drohnen als signifikant bewertet zu haben. Er reagierte auf deren Wirkung mit folgender Notiz: „Wir könnten unsere Reserven durch feindliche Luftschläge verlieren. Wir können

41„Gezielte

Tötungen: Auf dem Weg zu einer globalen Norm? in Moderne Kriegsführung, Aus Politik und Zeitgeschichte, 35–36/2016, 29. August 2016, S. 33–38.

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­uftschläge nicht mit Sprengmitteln bekämpfen.“42 Seine Organisation hatte L zu diesem Zeitpunkt einen Großteil ihrer Führungskräfte verloren, zudem 75 % ihres Personals in Pakistan. Drohnen drückten daher sehr stark auf die Moral der verbliebenen Kräfte. Fast die gesamte Aktivität verlagerte sich auf Ausweichbemühungen und Detektionsvermeidung bzw. „Anti-Drohnen-Maßnahmen“. Dies beschränkt die Handlungsfähigkeit von Terrororganisationen sehr und wird daher oft als Bekämpfungserfolg gewertet.43 Selbst die Kritiker mussten eingestehen, dass z. B. die Gewalt im pakistanischen Grenzgebiet zwischen 2007 und 2011 aufgrund der Drohnenschläge signifikant gesunken war.44 Zur Nachhaltigkeit solcher Maßnahmen bestehen unterschiedliche Auffassungen, die sich auf ihre jeweiligen Untersuchungsergebnisse stützen. Vergleiche mit 19 Terrororganisationen und 35 Fallstudien legen nahe, dass diese sich durch die gezielte Tötung ihrer Anführer entweder deradikalisierten oder auflösten. Keine der beobachteten Gruppen wurden durch die Maßnahme radikaler. Organisationen, bei denen die Anführer getötet wurden, neigten öfter zum Scheitern als solche, bei denen der Anführer verhaftet wurde. Als zusätzliches Beispiel, neben den Auswirkungen des Enthauptungsschlages gegen Al-Qaida 2011, wird die gezielte Tötung der Hamas-Führung zwischen September 2000 und April 2004 angeführt, wodurch allerdings deren politische und spirituelle Anführer, weniger die militärischen Anführer, ausgeschaltet und somit die „zweite Intifada“ beendet wurde.45 Jenna Jordan46 führt hingegen an, dass die Wirkung von der Größe, dem Altersdurchschnitt und der Motivation der Terrororganisation abhänge. Steht hinter der Bewegung ein demografischer Druck und eine religiöse Motivation, dann verfüge diese über „organisatorische

42Bowden,

Mark, „The killing Machines – How to Think About Drones“, The Atlantic Monthly Magazine, September 2013, http://www.theatlantic.com/magazine/archive/2013/09/thekilling-machines-how-to-think-about-drones/309434. 43ebd. 44Kurth-Cronin, Audrey „Why Drones Fail: When Tactics Drives Strategy“, Foreign Affairs, Vol. 92 (4), July/August 2013, S. 45. 45Kober, Avi, „Targeted Killing during the Second Intifada: The Quest for Effectiveness“, Journal of Conflict Studies, Vol. 27, No. 1 (2007), Greg Centre for the Study of War and Society, University of New Brunswick, https://journals.lib.unb.ca/index.php/JCS/article/ view/8292/9353. 46„Attacking the Leader, Missing the Mark: Why Terrorist Groups Survive Decapitation Strikes“, International Security, Vol. 38, No. 4 (Spring 2014), pp. 7–38, Belfer Centre for Science and International Affairs, Cambridge (MA), http://www.belfercenter.org/sites/ default/files/legacy/files/IS3804_pp007-038_rev.pdf.

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­ esilienz“ und sei besser in der Lage, solche Angriffe zu überstehen. Der ausR tralische Terrorismusexperte David Kicullen spricht Drohnen die Wirkung ab und sieht die Nachteile als schwerwiegender, nämlich einen stärkeren Zulauf für Terrororganisationen.47 Eine abschließende Bewertung ist daher nicht möglich und erfordert weitere Untersuchungen.

4.2 Polizeioperationen Polizeioperationen im Bereich der Terrorismusbekämpfung ergeben sich aus der Reaktion auf Anschläge. Sie können Zugriffsoperationen oder Szenarien der Lagebewältigung umfassen, die komplexe Anschläge, Feuergefechte und improvisierte Sprengvorrichtungen beinhalten können. Während die Initiative bei Erstgenannten bei den Polizeikräften liegt, bestimmen terroristische Gegner die Mittel und Vorgehensweisen in den anderen Lageszenarien. Dabei handelt es sich um Täter, die nach den Erfahrungswerten der vergangenen Jahre mit Sprengwesten, Sturmgewehren und bis zu 1000 Schuss Munition pro Mann/ Frau, zivile Ziele angreifen. Sie präparieren ihre Wohnungen mit Abwehrvorrichtungen und Sprengfallen, um klassische Zugriffstaktiken der Polizei zu vereiteln und jeden Zugriffsversuch für die Einsatzkräfte zu einem verlustreichen Unterfangen zu machen. Dies war schon 2004 in Madrid der Fall, setzte sich fort in den Anschlägen von Paris und San Bernardino Ende 2015. In Paris verschoss allein die Polizei am 13. November 2015 in einer siebenstündigen Operation zur Bekämpfung der Täter über 5000 Schuss Munition, wodurch eine kriegsähnliche Häuserkampfsituation erreicht wurde, bei der viele Polizeien Europas taktisch und logistisch überfordert wären.48 Solche Lagen können die erstintervenierenden Polizeikräfte somit in drei Bereichen überfordern, nämlich: • Ausstattung: Westliche Polizeikräfte sind nur bedingt auf dauerhafte Feuergefechte eingestellt. • Ausbildung: Die meisten Polizeikräfte verfügen über keine oder rudimentäre infanteristische Ausbildung. 47Freedman,

Lawrence, „The Drone Revolution: Less Than Meets the Eye“, Foreign Affairs Vol. 95 Nr. 6, November/December 2016, S. 154. 48Rayner, Gordon (et al.), „Paris attacks: Seven hours and 5000 bullets – the full story of the Saint-Denis shootout“, 18 November 2015, http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/europe/france/12003186/Saint-Denis-siege-was-Paris-attacks-mastermind-Abdelhamid-Abaaoud-hiding-in-French-capital-all-along.html.

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• Mental: Streifenpolizei und Erstinterventionskräfte werden mit Gegnern konfrontiert, die im Falle von Selbstmord-Attentätern, den eigenen Tod ausdrücklich als integralen Bestandteil der Mission sehen. Aufgaben der Terrorfahndung haben in vergangenen Jahren, allein durch die demografisch bedingte Zunahme an Gefährdern, zunehmend Kräfte gebunden. Oft auch hier aufgrund technischer Einschränkungen, die der Ausstattung oder dem Datenschutz geschuldet waren. Die geografische Mobilität der Gefährder kollidiert mit der begrenzten Zuständigkeit der Polizei, was allerdings durch verbesserte Kooperation zum Teil angesprochen wurde. In Fällen von internationalen Interventionen, die fast ausnahmslos Aufstands- und Terrorismusbekämpfungsszenarien beinhalten, entstehen auch Terror- oder Kriminalitätsgeflechte zwischen Heimat- und Einsatzland, z. B. Afghanistan. Dabei ist der Einsatz der Polizei, historisch betrachtet, ein wirksames Instrument der Terrorismusbekämpfung, weil es sich hier um spezialisiertes Personal handelt. Dies ist erforderlich, da „Recht und Gesetz“ bei Terrorismusbekämpfung eine zentrale Rolle spielen und für die Bevölkerung alltäglich und sichtbar präsent sein muss (Siehe Fußnote 13). Polizisten verfügen über einen differenzierten Blick für gesellschaftliche Konflikte, unterscheiden zutreffender zwischen politischer Gewalt und Kriminalität oder erkennen gegebenenfalls die symbiotischen Dimensionen der beiden. Ihre Fähigkeiten in der Spuren- und Beweissicherung, Zeugenbefragung, dem Erkennen von Zusammenhängen und allgemeiner Ermittlungskompetenz unterscheidet sie von Soldaten. Sie sind geübt in der Verhältnismäßigkeit der eigenen Maßnahmen und können ein breites Spektrum abdecken, vom Nachbarschaftsstreit über politische Unruhen bis hin zur Niederschlagung von vorkonventionellen Aufständen.

4.3 Nachrichtendienstliche Operationen Die an anderer Stelle hervorgehobene Rolle der Detektion, d. h. externe bzw. elektronische (Cyber), biometrische und forensisch betriebene Aufklärung von Individuen, Kleinstgruppen und Netzwerken, gilt als Hauptaufgabe der Nachrichtendienste. Trotzdem haben viele westliche Nachrichtendienste keine hohe prognostische Trefferquote. Ein Grund dafür ist, dass Nachrichtendienste zwar die taktischen Lehren von knapp entgangenen Katastrophen verinnerlichen, wie z. B. dem ersten Angriff auf das World Trade Centre 1993, aber nicht „groß“ denken und

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darin den Kontext einer viel umfangreicheren Absicht der Terroristen erkennen.49 Die Bedrohung in all ihren Facetten zu erfassen, deren Bestimmungsfaktoren, strategische Ziele, Organisationsstruktur und aktive Schlüsselpersonen zu verstehen, wird als Grundvoraussetzung für eigene Gegenstrategien betrachtet. Insofern sind Nachrichtendienste die „Augen“ und „Ohren“ für Entscheidungsträger, während ihnen gleichzeitig auf allen Ebenen der Terrorismusbekämpfung eine Schlüsselrolle zukommt. In Ländern wie den USA haben sie – in diesem Fall die Central Intelligence Agency (CIA) – die Befugnis zur vollen Kooperation mit allen Sicherheitsbehörden, eigenen wie auch verbündeten oder privaten Sicherheitsfirmen und anderen nichtstaatlichen Akteuren. Diese Befugnisse umfassen die Erstellung der Bedrohungsanalyse durch aktive Informationssammlung, schließen aber auch Operationen gegen terroristische Infrastruktur, gezielte Tötungen oder Vernehmungen mit ein. Aktive Nachrichten- und Geheimdienste stehen daher bei der erfolgreichen Terrorismusbekämpfung eher im Vordergrund der Maßnahmen, während Länder mit passiven Nachrichtendiensten über geringere Fähigkeiten verfügen. Die Briten sind mit 5500 Mitarbeitern im Bereich „digital intelligence“ führend in Europa. Im Vergleich dazu, beschäftigt die Bundesrepublik lediglich 1000 Personen, Frankreich 2800.50 Letztgenannte sind daher weniger in der Lage, zu detektieren, Offensivmaßnahmen auszuführen und Terroristen adäquat zu bekämpfen. In Zeiten des grenzenlosen Terrorismus ist es daher ungewöhnlich, wenn die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland vom britischen MI6 zur Terrorismuslage informiert werden muss.51 Steinberg sieht darin ein grundsätzliche mentale und organisatorische Versäumnisse der Sicherheitspolitik und -architektur. Das historisch begründete Unbehagen der deutschen habe dazu beigetragen, dass Gefahrenaufklärung weitgehend auf die Kooperation mit anderen Nachrichtendiensten gestützt ist und die Eigendetektionsfähigkeiten bei transnationalen Bedrohungen gering ist. Er plädiert für eine stärkere Zentralisierung der Nachrichtendienste und schreibt:

49Omand,

David, „Keeping Europe Safe“, Foreign Affairs Vol. 95 Nr. 5, September/October 2016, S. 85. 50ebd. 51Hufelschulte, Josef, „Merkel ließ sich von Briten über Terrorbedrohung informieren“, Focus Online, 14.  März  2017, http://www.focus.de/politik/deutschland/ empoerung-bei-deutschen-sicherheitsbehoerden-vertraut-die-kanzlerin-ihren-eigenen-leuten-nicht-mehr-merkel-liess-sich-von-briten-ueber-terrorbedrohung-informieren_ id_6958858.html.

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„­Germany’s domestic security needs a complete overhaul in order to prepare for the terrorist threats of the coming years“. Aktive Nachrichtendienste sind außerdem das Instrument, mit dem Gegennarrative, Desinformation und Diskreditierung zum Zweck der Reduktion terroristischer Glaubwürdigkeit bzw. Kommunikationsreichweite, entwickelt und kommuniziert werden können. Zwietracht in den gegnerischen Reihen zu sähen oder zu nutzen, Quellen zu rekrutieren oder zu infiltrieren, zählen dabei zum Aufgabenspektrum.

5 Abschließende Bemerkungen Die vermeintliche Unbesiegbarkeit von Terrorismus zählt zur postheroischen Mythologie, weil es oft an historischem Kontext, Überzeugung und Zielsetzung fehlt, um die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Die Flucht in den Aktionismus durch Einsatz der Instrumente des Ausnahmezustands, wie in Frankreich, ist eine kurzfristige Antwort auf Anschläge. Terrorismusbekämpfung ist strategisch und operativ ein offensives Unternehmen. Die dazu erforderliche Kreativität, Ausdauer und Härte mag den postheroischen Horizont, den „Vorstellungsraum“ westlicher Entscheidungsträger, überschreiten. Doch erkennen Fachleute inzwischen die Schwäche der Unbesiegbarkeitsannahme an. Sie findet im Counterterrorism Yearbook 2017 ausdrücklich Erwähnung als „Mythos“. Entscheidungsträger verkennen, dass „Vorhersagbarkeit“, Detektion und Reduktion des strategischen Handlungsspielraums von Terrororganisationen die Ziele sein müssen. Der sicherheitspolitische Umgang mit der Bedrohung erfordert eine pragmatische, flexible und nachhaltige Herangehensweise. Sicherheitspolitisch wird eine grundlegende Modernisierung der Sicherheitsarchitektur zwar nicht die „strategische Unsicherheit“ beseitigen, dafür aber die Grundlagen einer wirksameren Terrorismusabwehr und -bekämpfung legen können. Eine Bedrohung für die bürgerlichen Freiheiten oder gar die Demokratie entsteht dadurch nicht, solange der Staat der Versuchung widersteht, Gesinnung und Tat nicht klar voneinander zu trennen. Vorsicht wäre geboten, wenn die Äußerung von Sympathien für Terroristen bzw. deren Ziele/Handlungen mit den Taten oder der Vorbereitung dazu gleichgesetzt würde. Zudem sind Vorstellungen von Freiheit nur so viel wert wie die Bereitschaft, deren Sicherheitsvoraussetzungen lückenlos und berechenbar zu erfüllen. Das vermeintliche oder tatsächliche Spannungsverhältnis zwischen Bürger- bzw. Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Terrorismusabwehr bzw. -bekämpfung wird weiterhin Gegenstand

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von moralphilosophischen und juristischen Debatten sein, den Konflikt daher dauerhaft begleiten.52 Dazu sind öffentliche Aussagen von Sicherheitsbehörden, „hundertprozentige Sicherheit“ gäbe es nicht, zwar zutreffend, doch kontraproduktiv. Die Grundsätze der Terrorabwehr bzw. -bekämpfung lauten daher: • Den Gegner kennen, Täter im Vorfeld detektieren (z. B. „data-mining“) und von der Bevölkerung, in der sie sich bewegen, isolieren. Terroristen haben bisher immer davon profitiert, dass sie unterschätzt wurden. • Die eigenen Fähigkeiten an den Anforderungen der Lage und der Natur des Gegners orientieren. Spezialfähigkeiten müssen proaktiv herangebildet werden, denn sie können nur schwer bei und nach Entstehung der Lage kreiert werden. • Das internationale Regelwerk zur Terrorismusbekämpfung auf Wirksamkeit prüfen und ggf. dessen Rolle immer der Entwicklung des Gegners und der Lage anpassen. • Die richtige Dosierung von Gewalt. Dabei muss auch die Auswirkung auf Verbündete bedacht werden. • Die reaktive Rolle vermeiden und durch dauerhaften Druck dem Gegner den Spielraum zum strategischen Handeln nehmen. Zudem eine dauerhafte Investition in Lokalverbündete in den Rückzugsländern terroristischer Akteure. Um die internationale Reichweite zu erweitern, erfordert dies nicht nur die Betonung der Kooperation mit internationalen Strukturen der Terrorismusabwehr bzw. -bekämpfung, sondern auch die ständige Überprüfung derer Funktionstüchtigkeit. Sind die entsprechenden Instrumente der Europäischen Union (EU) und der Vereinten Nationen (UN) tatsächlich wirksam? EUROPOL und die Einführung des Schengen III-Informationsaustauschabkommens, mit DNA-Datenbank und anderen Abgleichkategorien ist dabei eine wirksame Maßnahme. Hier sollte der Maßstab der Ergebnisorientierung gelten und keine unrealistischen Hoffnungen auf einen erzwungenen „Multilateralismus“ gesetzt werden. Denn oft ist die damit einhergehende Kompromissnotwendigkeit geneigt, immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner zu erzeugen. Ob dieser dann wirklich zu fruchtbaren Ergebnissen beiträgt, sei dahin gestellt, und lässt sich aus den gemeinsamen Operationen in Afghanistan und Irak nicht ohne weiteres ableiten. In anderen Bereichen hingegen hat

52Lazarus,

Liora, „Do Human Rights Impede Effective Counterterrorism?“, UK Constitutional Law Association, London, 17 June 2017, https://ukconstitutionallaw.org/2017/06/15/ liora-lazarus-do-human-rights-impede-effective-counterterrorism/.

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sich die Kooperation zwischen USA und EU stark verbessert. Der Austausch von Informationen und persönlichen Daten, Auslieferungsabkommen, Frachtcontainersicherheit etc. wurden stark intensiviert und sind für alle Beteiligten ergiebig.53 • Die Nutzung aller nationalen Ressourcen und Strukturen, um Hybridbedrohungen und -akteuren entgegentreten zu können. Die Sicherheitsarchitektur ständig den technologischen und taktischen Veränderungen der Rahmenbedingungen anpassen. • Nichts versprechen oder androhen, was nicht gehalten werden kann.

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53Fereirra-Pereira,

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Terrorismusabwehr und -bekämpfung im Zeitalter …

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Effekte von Terrorismus und Anarchismus als Führungsproblem Einwürfe zur Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels der inneren Einstellung von Kräften der polizeilichen und nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr Dirk Freudenberg

1 Vorbemerkung Die Einstellung von Menschen hat immer auch etwas mit der Interaktion von Handeln und Wahrnehmungen sowie der (Selbst-)Reflexion der Akteure im sozialen Umfeld ihres Wirkens zu tun. Gerade in Extremsituationen können derartige Prozesse zu Führungsproblemen werden. Dementsprechend hat Führung immer auch eine psychologische Komponente. Für Organisationen im Bereich der Gefahrenabwehr, deren Einsatzkräfte sich direkt mit Bedrohungen konfrontiert werden gilt das ganz besonders. Auch der Begriff der „Inneren Sicherheit“ ist ein Ausdruck sozialer Konstruktionsleistungen konkreter Akteure in konkreten Situationen, und als solche müssen sie stets der Prüfung unterzogen werden, für wen

D. Freudenberg (*)  Bad Neuenahr-Ahrweiler, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Freudenberg et al. (Hrsg.), Terrorismus als hybride Bedrohung des 21. Jahrhunderts, Sicherheit – interdisziplinäre Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20919-3_5

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sie in welchem Zusammenhang als „real“ und „objektiv“ gelten.1 Das gilt ganz besonders für die sicherheitspolitischen Herausforderungen, mit welchen eine moderne und offene Gesellschaft konfrontiert ist, die als hochtechnologisierte Industrienation einen Spitzenplatz in der Weltwirtschaft einnimmt. Der ­Terrorismus2 ist hier nur eine aus einer Vielzahl unterschiedlich komplexer und intensiver Bedrohungen. Was ihn gegenüber anderen Gefahren so besonders gefährlich macht, ist die Tatsache, dass er von Menschen ausgeht. Er ist also nicht als natürliche Gefahr „determiniert“ und auch nicht im Konstrukt menschlicher Werke und Anlagen angelegt, für welche immer der Grundsatz gilt, sie nach allem Stand von Wissenschaft und Technik abzusichern. In der Folge des 11. Septembers 2001, aber auch der Anschläge der folgenden Jahre in den Metropolen Europas – Madrid (März 2004), London (Juli 2005) und wiederholt Moskau (Oktober 2002, Februar, August 2004 und März 2010) sowie dann wieder in Boston, USA (April 2013), Paris (November 2015), Brüssel (März 2016) Nizza (Juli 2016) und wieder London (März und Juni 2017), Stockholm (April 2017), Manchester (Mai 2017) – sowie einiger vereitelter bzw. fehlgeschlagener Anschlagsversuche – auch in der Bundesrepublik Deutschland – wurde in den vergangenen Jahren auf dramatische Weise deutlich, inwieweit moderne Gesellschaften in ihrem Kern verwundbar sind. Mit dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt, der mittels eines Lastwagens verübt wurde, der mit hoher Geschwindigkeit in die Menge gesteuert wurde, ist der „Heilige Krieg“ des Islamismus in Deutschland angekommen und hat sich nun auch hier realisiert.3 Den Terroristen kommt es heute – anders als beispielsweise in den Zeiten der „Roten-Armee-Fraktion, (RAF)“ – nicht mehr allein darauf an, Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Finanzen des ihnen verhassten Systems zu treffen, sondern es ist ihre Absicht, ­möglichst viele Menschen auf spektakuläre Art und Weise zu töten, da diese als

1Stegmaier,

P., Feltes T. (2009) Die ganze Vernetzung der inneren Sicherheit: Wissenskrise und Effektivitätsmythos, in: Möllers, Martin H.W.; Ooyen, Robert Chr. van (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2008/2009, Frankfurt, Verlag für Polizeiwissenschaften, S. 15 ff.; 17. 2Freudenberg, D. (2008). Theorie des Irregulären. Partisanen, Guerillas, und Terroristen im modernen Kleinkrieg. Wiesbaden: VS Verlag. 3vgl. Berthold Kohler, Die Saat des Terrors, in: FAZ vom 20.12.2017, http://www.faz.net/ aktuell/politik/anschlag-in-berlin/anschlag-vor-weihnachten-die-saat-des-terrors-14584996. html; Internet vom 02.01.2017; vgl. Jasper Altenbockum, Der Albtraum ist wahr geworden, FAZ vom 20.12.2017, http://www.faz.net/aktuell/politik/anschlag-in-berlin/terror-in-berlin-mit-dem-anschlag-wird-ein-albtraum-wahr-kommentar-14583735.html; Internet vom 02.01.2017.

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Mitglieder des dekadenten Westens selbst Träger dieses Systems sind. Demzufolge sind grundsätzlich alle Orte, an denen sich viele Menschen aufhalten, potenzielle Anschlagsziele. Die Konzentration auf solche „weichen Ziele“, die nicht zuverlässig zu sichern sind, bietet für den Attentäter den Vorteil, dass er leicht an sie herankommt und er eine gute Chance hat, unentdeckt zu fliehen.4 Zu diesen „weichen Zielen“ gehören beispielsweise nicht nur bestimmte Lokalitäten in Ballungszentren, Flughäfen und Bahnhöfen, sondern auch die Verkehrsmittel und -linien selber, Theater, Sportstätten sowie Hotels und große Kaufhäuser bzw. Einkaufszentren und große Bürogebäude. Zum Kalkül der Akteure gehört es, den Schaden zu steigern und die Verunsicherung der Sicherheits- und Rettungskräfte einschließlich des Katastrophenschutzes und der Feuerwehren zu potenzieren, indem mehrere Anschläge an mehreren Orten zeitgleich durchgeführt werden („Simultananschläge“) oder mit geringer zeitlicher Verzögerung am selben Ort dem ersten Attentat unmittelbar folgen („Doppelanschläge“ bzw. „Mehrfachanschläge“). Das ist Teil der Konfliktstrategie der hierfür verantwortlichen Akteure. Auch wenn in Deutschland derartige Anschläge bis 2016 – mit Ausnahme der Erschießung amerikanischer Soldaten auf dem Flughafen in Frankfurt durch einen radikalisierten Einzeltäter – vereitelt werden konnten oder glücklicherweise gescheitert sind, stand bereits damals fest: Auch in Deutschland sind Anschläge dieses Ausmaßes möglich und wahrscheinlich.5 Der Terror wird seit längerem in Deutschland nicht nur allgemein als Bedrohung wahrgenommen, sondern ist schon seit geraumer Zeit faktisch angekommen.6 Deutschland ist somit auch längst Teil des Operationsgebiets von islamistischen Terroristen geworden.7 Diese Entwicklungen betreffen in besonderer Weise auch diejenigen,

4Neidhardt,

F. (2006). Kalkül mit der Angst. Terrorismus, Medien und die Grenzen der Gelassenheit. WZB-Mitteilungen, Heft 113, 10–13. 5Voigt, R. (2009). Sicherheit in der „Risikogesellschaft“ Wir Bürger als Sicherheitsrisiko? In M. H. W. Möllers, R. C. Van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2008/2009 (S. 27–36), Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft, S. 30. 6Möllers, M. W. (2007). „Antworten auf den internationalen Terrorismus – Gewährleistung der Inneren Sicherheit durch Bund und Länder“. Bericht von der Tagung des Landtags Rheinland-Pfalz und dem Institut für Rechtspolitik an der Universität Trier am 13. u. 14. September 2006. In M. H. W. Möllers, R. C. Van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2006/2007 (S. 211–228), Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft, S. 211. 7Möllers, R. (2009). Einheit durch Vielfalt?, Die Innere Sicherheit im „neuen“ Mehrebenensystem der Bundesrepublik aus politikwissenschaftlicher Sicht. In M. H. W. ­Möllers, R. C. Van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2008/2009 (S. 397–416). ­Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft, S. 398.

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die sich als Retter und Helfer verstehen.8 Dass Gewalt gegen die eigene Person inzwischen zum Berufsalltag von Polizeibeamten gehört, ist eine in der einschlägigen Literatur beleuchtete und veröffentlichte Tatsache.9 Gleichwohl nehmen Umfang und Qualität der Bedrohungen durch terroristische und anarchische Strukturen und ihre jeweiligen Gewaltformen inzwischen auch in Deutschland eine Dimension an, welche offensichtlich die Polizeien in Deutschland strukturell, personell, organisatorisch, ausrüstungs- und ausbildungsmäßig sowie mental bis hin zur Überforderung belasten. Dabei stellen Einsatzlagen unterhalb der Schwelle terroristischer Gewalt durch die Faktoren der Unklarheit der Lage sowie der Ungewissheit über deren Intensität und Entwicklung noch einmal eine besondere Herausforderung dar. Offensichtlich ist bei deutschen Polizeien die Auftragsdurchsetzung, soweit nicht der Einsatz die Rettung und Befreiung von Personen erfordert, sondern die Durchsetzung des Gewaltmonopols des Staates und die Wiederherstellung staatlicher Souveränität, (notfalls) den Einsatz von (Schuss-)Waffen verlangt, keine realistische und verinnerlichte Möglichkeit des Handelns.10 Bedenklich ist hierbei, dass es im Kern nicht wirklich um eine zweifelhafte Abwägung von Rechtgütern im Sinne einer Verhältnismäßigkeit geht, sondern dieses Dilemma in einer durch den Primat der Politik in Form von Vorschriften verordneten und durch entsprechende Ausbildung geprägte und verfestigte rein defensiven Mentalität der Polizeivollzugsbeamten geht. „Reaktive polizeiliche Strategien“ bedeuten allerdings im Endeffekt, dass die Initiative dem Gegenüber überlassen wird, welches der Polizei ihrerseits das Gesetz des ­Handelns aufzwingen kann. Die Folge ist, dass die Akteure durch ihr Handeln die Sicherheit der Bürger gefährden können und nach eigenem Gutdünken gesellschaftliches und wirtschaftliches Leben lahmlegen, ohne damit rechnen zu müssen, sich selbst einem wirklichen Risiko in der Auseinandersetzung aussetzen

8Freudenberg,

D. (2016). Auswirkungen von Terrorismus und Anarchismus als Führungsproblem. Einige Anmerkungen zur Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels der inneren Einstellung von Rettungs- und Hilfskräften, in: Jäger, T.; Daun; Freudenberg, D. (Hrsg.), Politisches Krisenmanagement. Wissen, Wahrnehmung. Kommunikation (S. 81–97), Springer, S. 83. 9Zietlow, B. (2013). Gewalt gegen Polizeibeamte – Die Sicht der Betroffenen, Die Polizei, 104(8), 223–230.; vgl. Bundeskriminalamt (2014). Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamtinnen/-Beamte. Bundeslagebild 2014. Wiesbaden 2014. o. VA. 10vgl. NN., „Aber nicht wir“ – Einheiten verweigerten Schanzen-Einsatz, in: DIE WELT vom 15.07.2017, https://www.welt.de/politik/deutschland/article166677350/Aber-nichtwir-Einheiten-verweigerten-Schanzen-Einsatz.html; Internet vom 20.07.2017.

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zu müssen oder im Nachgang strafrechtlich verfolgt zu werden. Doch auch für Feuerwehren und Rettungsdienste sind diese Herausforderungen etwas Ungewohntes. Auch unterhalb der Schwelle terroristischer Gewalt kommt es in den vergangenen Jahren zunehmend zu gewaltsamen Handlungen gegen Angehörige von Rettungsdiensten und Feuerwehren. Inzwischen werden Übergriffe auf Feuerwehren und Nothelfer festgestellt, was in Deutschland bisher außerhalb der Vorstellungen lag und nun auch den politisch Verantwortlichen Sorgen bereitet.11 Auch oder gerade weil Staaten in Krisenregionen wie beispielsweise Israel und verbündete Partnerstaaten wie zum Beispiel Großbritannien und Spanien intensive Erfahrungen mit derartigen Anschlägen gemacht haben, ist es zwingend geboten, dass man sich in der Bundesrepublik mit derartigen Szenarien auseinandersetzt. Hilfsorganisationen und Rettungsdienste reagieren seit einiger Zeit auf die verschärfte Sicherheitslage und mögliche Ereignisse mit entsprechenden taktischen Konzepten.12 Zumindest die Führungskräfte der Feuerwehren und des Rettungsdienstes müssen die Probleme und einsatztaktischen Reaktionsmöglichkeiten kennen und verstehen.13 Hinsichtlich Ausbildung und Einsatzkonzeptionen entstehen derzeit neue Formate. Allerdings müssen zum einen das Problembewusstsein sowie die mentale Einstellung der Akteure für den Umgang mit den Erscheinungen gestärkt werde. Daher wollen die nachstehenden Ausführungen verschiedene Aspekte der Problematik – ohne den Anspruch zu erheben, das Thema vollumfänglich zu bearbeiten – anreißen, um Ansätze für die

11DIE

WELT. (14.01.2013). Innenministerium plant Krisengipfel, http://www.welt.de/ newsticker/dpa_nt/regiolinegeo/niedersachsen/article112751790/Ministerium-plant-Krisengipfel.html; Internet vom 27.04.2013; vgl. Waskow, T. (2013). Zunehmende Gewalt gegen Rettungsdienst und Feuerwehren im Einsatz, R.u.F., 22–24; vgl. Stolt, F. D. (2012a). Untersuchung zur Gewalt gegen Feuerwehr und Rettungskräfte. CD Sicherheitsmanagement, (2), S. 88–155; vgl. Stolt, F.D. (2012b). Die Gefahr nimmt zu. Feuerwehr, (4), 6–8. 12Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (Hrsg.) (2009). Abschlußbericht Projekt HEIKAT. Handlungsempfehlungen zur Eigensicherung für Einsatzkräfte der Katastrophenschutz- und Hilfsorganisationen bei einem Einsatz nach einem Anschlag. Bonn: o. VA.; vgl. Helm, M., Hossfeld, B. (2017) Management besonderer Schadenslagen – Terroranschlag, in: Bevölkerungsschutzmagazin (2), S. 8–9; Wurmb, T, Kolibay F. (2017) Die Rolle der Krankenhäuser bei Rettungslagen, in: Bevölkerungsschutzmagazin (2), S. 13–14; vgl. Kowalzik, B., Friedrich, D., Brodala, T., Weber, M. (2017), Medizinisches Management besonderer Bedrohungs- und Schadenslagen, in: Bevölkerungsschutzmagazin (2), S. 30–31. 13Brandt,

S., Geßmann, B., Schmidt, J. (2008a). (Terror-)Anschläge als neue Bemessungsgrundlage. IM EINSATZ, (3), 40–43.

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Sensibilisierung für die geänderte Gefahrenlage aufzuzeigen sowie Verständnis für eine weitere Anpassung von Ausbildungs- und Einsatzkonzepten zu wecken. Die hier angesprochenen Fragestellungen können nicht allein als in der Psychologie verortete Probleme gesehen werden, sondern es handelt sich hier letztendlich um ein Führungsproblem. Als solches soll es hier auch erörtert werden.

2 Die Verwundbarkeit der KRITIS Deutschland gehört zu den führenden industriell und technologisch geprägten Staaten, und die Bedeutung des Wirtschaftsstandortes Deutschland sowie die Wettbewerbsfähigkeit in einer globalisierten Welt als Voraussetzungen für Wohlstand und Fortschritt sind maßgeblich vom Vorhandensein hochleistungsfähiger und funktionstüchtiger Infrastrukturen abhängig.14 Den sogenannten Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) kommt hier eine besonders herausragende Bedeutung zu. Unter Kritischen Infrastrukturen werden Organisationen und Einrichtungen mit (lebens-)wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen verstanden, bei deren Ausfall oder Störung für größere Bevölkerungsgruppen nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe oder andere dramatische Folgen eintreten.15 Insofern zählen zu den Kritischen Infrastrukturen insbesondere die Energieversorgung, die Informationstechnologien und die Telekommunikation, das Notfall- und Rettungswesen, Transport und Verkehr, die Ver- und Entsorgung, das Bankenund Versicherungswesen sowie Regierung und öffentliche Verwaltung16, Medien,

14Bundesministerium

des Inneren (2009). Nationale Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen (KRITIS-Strategie). Berlin: o. VA. S. 2. 15Bundesministerium des Inneren (2005). Schutz Kritischer Infrastrukturen – Basisschutzkonzept. Empfehlungen für Unternehmen. Berlin: o. VA. 16Bundesministerium des Inneren (2005). Schutz Kritischer Infrastrukturen – Basisschutzkonzept. Empfehlungen für Unternehmen. Berlin: o. VA., S. 1; vgl. Dunn, M.; Wigert, I. (2004). Critical Information Infrastructure Protection. An Inventory and Analysis of Protection Policies in Forteen Countries. Zürich: o. VA. S. 97; vgl. Loretan, S., Dietrich, M. (2005). Bedrohung und Schutz der Informationsgesellschaft, Land Power Revue der Schweizer Armee, (3), Beilage zur ASMZ Heft 12, S. 5–7. S. 7; vgl. Hutter, R. W. (2005). Sicherheit und Risiken vernetzter Gesellschaften. In M. H.W. Möllers, R. C. van Ooyen (Hrsg.), Jahrbuch Öffentliche Sicherheit 2004/2005 (S. 539–546). Frankfurt: Verlag für Polizeiwissenschaft. S. 542.

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Großforschungseinrichtungen, Kulturgüter, aber auch das Gesundheitswesen.17 Im Fokus stehen hierbei auch ganz besonders Wasserver- und -entsorgung sowie Ernährung.18 Das betrifft insbesondere Ballungsgebiete und Großstädte mit hoher Einwohnerzahl und -dichte. Mit dem Ausfall Kritischer Infrastrukturen könnte gleichzeitig ein enormer volkswirtschaftlicher Schaden verbunden sein. Genau dieses könnte durch schädigende Eingriffe auch bezweckt sein.19 Angriffe auf Kritische Infrastrukturen haben somit ein großes Schadenspotenzial und treffen die Lebensadern moderner Gesellschaften.20 Die Abhängigkeit von der qualitativen und quantitativen Versorgung mit Strom, Wärme, Wasser, Nahrungsmitteln, die Notwendigkeit des Offenhaltens unserer Verkehrswege (zu Lande, zu Wasser und in der Luft), die Notwendigkeit intakter Organisationsstrukturen und Kommunikationseinrichtungen macht Industrienationen erpressbar.21 Dabei stellen die Transport- und Verkehrswege – insbesondere die zu Lande – welche als „offene Systeme“ nicht hermetisch und somit absolut zu überwachen und abzusichern sind, einen besonderen Schwachpunkt moderner Industriegesellschaften und im Umkehrschluss eine Herausforderung für potenzielle Schädiger dar, denen es darauf ankommt, „weiche Ziele“ an den Nervensystemen der Gesellschaft zu treffen und diese durch den entstehenden Vertrauensverlust nachhaltig zu stören.22 Zudem

17Schulze,

T. (2006). Der Schutz Kritischer Informationsstrukturen als staatliche Aufgabe. In Alcatel SEL Stiftung für Kommunikationsforschung (Hrsg.), Sicherheitskommunikation in Großräumen (S. 16–20), Stiftungsreihe 69, o. OA: o. VA., S. 16. 18Schilling, W. R. (2002). Nontraditional Warfare Threats, In W. R. Schilling (Hrsg.), Nontraditional Warfare. Twenty-First-Century. Threats and Responses (S. 3–8). Dulles, ­Virginia: Brassey’s. S. 6. 19Augustine, N.R. (2002). Foreword. In W. R. Schilling (Hrsg.), Nontraditional Warfare. Twenty-First-Century. Threats and Responses (S. vii–xix). Dulles, Virginia: Brassey’s. S. ix. 20Ziercke, J. (2006). Innere Sicherheit in Deutschland – Bedrohung durch den internationalen Terrorismus. In Bundeskriminalamt (Hrsg.), Wirtschaftskonferenz des Bundeskriminalamtes in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft für Sicherheit in der Wirtschaft e. V. (S. 5 ff.), Berlin: o. VA. S. 6. 21Freudenberg, D. (2003). Terrorismus: Grundsätzliche Überlegungen zu einem ­komplexen Phänomen, Teil 1: Was ist Krieg heute? Notfallvorsorge, 33(3), 20–33. S. 20; vgl. ­Freudenberg, D. (2005). Terrorismus, Zivilschutz und Unternehmenssicherheit. In H. Ehses (Hrsg.), Unternehmensschutz. Praxishandbuch Werksicherheit (A4, S.1–9), 7. Ergänzung, Stuttgart, München, Hannover, Berlin, Weimar, Dresden: Boorberg. S. 4. 22Albert, H. (2007). Wie gefährlich lebt der mobile Bürger? – Öffentliche Verkehrsmittel als Ziel von Terroranschlägen. In A. Pfahl-Taughber, M. Rose-Stahl (Hrsg.), Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Schule für Verfassungsschutz und für Andreas Hübsch (S. 17–37), Brühl: o. VA. S. 17.

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stellen die wachsenden gegenseitigen Abhängigkeiten sowie die zunehmenden Wechselwirkungsbeziehungen der Systeme eine weitere besondere Qualität und Herausforderung dar. Hiermit wird deutlich, wie schnell mit mehr oder weniger komplizierten Tatplänen und –mitteln erhebliche Schäden angerichtet und dazu auch hohe Opferzahlen in der Mitte der Bevölkerung erzielt werden können. Dass Rettungs- und Hilfskräfte Teil der KRITIS sind, ist terroristischen Organisationen längst bekannt, und inzwischen gehören auch sie in das (mögliche) Zielfeld terroristischer Anschläge.23

3 Terroristische Anschläge Für Europa wird das Risiko terroristischer Anschläge und daraus entstehender Massenanfälle von Verletzten seit geraumer Zeit als „evident“ eingeschätzt.24 Aus der Sicht der Täter bieten moderne und offene Gesellschaften vielfältige Möglichkeiten, ihre Tatplanungen an vielfältigen Orten mit unzähligen „weichen Zielen“ in die Tat umzusetzen und so – auch dank einer medialen Aufmerksamkeit nahezu in „Echtzeit“ – entsprechende psychische Wirkung in weiten Teilen der Bevölkerung zu erzielen. Der Fantasie der Täter vom Anschlag mit konventionellen Sprengstoffen über improvisierte, unkonventionelle Sprengmittel, bis hin zum Einsatz sogenannter „Dirty Bombs“ sind keine Grenzen gesetzt. Die Tatmittel werden entweder illegal beschafft, oder behelfsmäßig selbst hergestellt; vor allem das Internet bietet zahlreiche Bauanleitungen für selbst gebaute Sprengsätze.25 Zudem können –

23Freudenberg,

D. (2014a). Terroranschläge – Terrorismus und Anarchismus. In H. A. Adams, C. Lange, C. Krettek, C. Unger (Hrsg.). Patientenversorgung im Großschadensund Katastrophenfall: medizinische und organisatorische Herausforderungen jenseits der Individualmedizin (S. 298–303). Köln: Deutscher Ärzteverlag; vgl. Freudenberg, D. (2016). Auswirkungen von Terrorismus und Anarchismus als Führungsproblem. Einige Anmerkungen zur Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels der inneren Einstellung von Rettungs- und Hilfskräften, in: Jäger, T.; Daun; Freudenberg, D. (Hrsg.), Politisches Krisenmanagement. Wissen, Wahrnehmung. Kommunikation (S. 81–97), Springer, S. 84. 24Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (Hrsg.) (2009). Abschlußbericht Projekt HEIKAT. Handlungsempfehlungen zur Eigensicherung für Einsatzkräfte der Katastrophenschutz- und Hilfsorganisationen bei einem Einsatz nach einem Anschlag. Bonn: o. VA., S. 331. 25Albert, H. (2007). Wie gefährlich lebt der mobile Bürger? – Öffentliche Verkehrsmittel als Ziel von Terroranschlägen. In A. Pfahl-Taughber, M. Rose-Stahl (Hrsg.), Festschrift zum 25-jährigen Bestehen der Schule für Verfassungsschutz und für Andreas Hübsch (S. 17–37), Brühl: o. VA. S. 31.

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wie inzwischen zahlreiche ­Beispiele belegen – mit dem Einsatz von Personen- und Lastkraftfahrzeugen auch „Alltagsgegenstände“ bzw. „Gegenstände des täglichen Bedarfs“ mit hoher kinetischer Energie zur Wirkung gebracht werden. Täter können sowohl transnational agierende Akteure sein, die als Vertreter entsprechender Netzwerke einreisen, als auch Aktivisten aus den Rand- und Parallelgesellschaften, wie auch sogenannte „Home-Grown-Terrorists“, also Angehörige ethnischer Gruppierungen, welche bereits unter Umständen seit Generationen im Lande leben oder Zugehörige der autochthonen Bevölkerung, die sich radikalisieren (lassen) und nun zu entsprechenden Taten schreiten. Wenn Tatmittel und Motive sowie Wille und Entschlossenheit bei diesen Akteuren zusammenfallen, kommt es zur Ausführung und zum Schadenseintritt, sofern die Mittel zur Vorfeldaufklärung und Schadensverhinderung der staatlichen Akteure, also der nachrichtendienstlichen, polizeilichen und militärischen Gefahrenabwehr nicht greifen. Insofern verschwimmen auch hier die Grenzen von Innerer und Äußerer Sicherheit. Szenarien, welche man eigentlich nur in fernen Krisen- und Kriegsgebieten verortete, werden nun vorstellbar und vor Ort Realität. Derartigen Fällen entsprechen nun auch die Zerstörungsbilder an Infrastrukturen und die Verletzungsmuster von Menschen. Rettungsorganisationen werden nun von Täterseite nicht mehr als „neutrale“ Institutionen angesehen, welche einer humanitären Aufgabe nachkommen, sondern sie stehen für den Staat und werden somit als Vertreter des Staates bzw. des Systems angesehen, das es zu bekämpfen gilt. Zugleich hat die Täterseite auch wahrgenommen, welche Rolle ein funktionierendes Rettungs- und Hilfeleistungssystem im Rahmen des Gesamtsystems, insbesondere aber auch für die Sicherheitskräfte haben. Zugleich wird auch die psychische Bedeutung ihrer Existenz und ihres Funktionierens in Krisenlagen für das Gesamtsystem wahrgenommen. Das macht sie als Ziel bedeutsam. Folglich werden auch keine Unterschiede gemacht und keine Rücksichten genommen.26

4 Rettungs- und Hilfskräfte im Fokus eines breiten Gewaltspektrums Seit einigen Jahren sind Kräfte von Feuerwehr und Rettungsdienst verstärkt zur unmittelbaren Unterstützung bei der Rettung von Personen in Geisel- oder bei Amoklagen herangezogen worden. Aber auch unterhalb der Schwelle ­terroristischer

26Freudenberg,

D. (2016). Auswirkungen von Terrorismus und Anarchismus als Führungsproblem. Einige Anmerkungen zur Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels der inneren Einstellung von Rettungs- und Hilfskräften, in: Jäger, T.; Daun; Freudenberg, D. (Hrsg.), Politisches Krisenmanagement. Wissen, Wahrnehmung. Kommunikation (S. 81–97), Springer, S. 85.

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Aktivitäten nimmt die Gefährdungslage im Bereich der öffentlichen Ordnung aufgrund einer gestiegenen Gewaltbereitschaft gegenüber staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen zu. Bei Groß- und Sportveranstaltungen – insbesondere bei Fußballspielen – breitet die verfestigte, gewaltbereite Szene ihre Aktivitäten verstärkt aus, wobei hier das gewaltbereite Spektrum sogenannte „Hooligans“, „erlebnis-/­aktionsorientierte“ Personen wie auch Angehörige der „Ultra-Fanszene“ umfasst und auch teilweise personelle Überschneidungen mit regionalen oder örtlichen rechts- oder linksextremistischen Szenen zu beobachten sind.27 Dabei sehen sich die Ordnungskräfte der Polizeien seit Jahren bereits einer wachsenden Gewaltbereitschaft gegenüber. Zunehmend werden aber auch Rettungskräfte von Feuerwehren und Hilfsorganisationen bewusst angegriffen bzw. mutwilligen Schädigungen und Körperverletzungen ausgesetzt. So wurden Feuerwehren beispielsweise während ihres Dienstes im Rahmen von Großveranstaltungen wie dem G8-Gipfel 2008 in Heiligendamm, dem NATO-Gipfel 2009 in Kehl und Straßburg, der Eröffnung der Zentrale der Europäischen Zentralbank (EZB) in Frankfurt 2015 und dem G 20-Gipfel in Hamburg 2017 von anarchischen Gewalttätern angegriffen. Im Schanzenviertel in Hamburg sowie am 1. Mai in Berlin kommt es jährlich zu Ausschreitungen und entsprechenden Übergriffen. Durch diese Entwicklungen werden die Öffentliche Sicherheit und der Innere Frieden in der Bundesrepublik Deutschland zunehmend herausgefordert. Hier entstehen wiederkehrende und eskalierende Gewaltspektakel, bei denen Hass und Ausschreitungen gegen staatliche Akteure, Polizeien, Rettungsdienste und Feuerwehren zelebriert und kultiviert werden und für die es Sympathie und offene Unterstützung aus dem politischen Raum sowie mediale Präsens und Plattformen gibt. Zugleich sind die Aktionen zunehmend generalstabsmäßig organisiert, geführt und koordiniert. Das bedeutet somit eine neue Qualität organisierter Gewalt unterhalb der Kriegsschwelle der auf eine Art Hybrider Kriegführung zusteuert. Diese Entwicklungen haben aber ebenso konkrete und unmittelbare Auswirkungen auf die Feuerwehren, die Rettungs- und Hilfsorganisationen. Diese Auswirkungen betreffen unmittelbar Konzeption und Organisationskultur der Sicherheitsakteure.28

27Ständige

Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (2009). Programm Innere Sicherheit. Fortschreibung 2008/2009, Potsdam: o. VA. S. 58. 28Freudenberg, D. (2016). Auswirkungen von Terrorismus und Anarchismus als Führungsproblem. Einige Anmerkungen zur Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels der inneren Einstellung von Rettungs- und Hilfskräften, in: Jäger, T.; Daun; Freudenberg, D. (Hrsg.), Politisches Krisenmanagement. Wissen, Wahrnehmung. Kommunikation (S. 81–97), S ­ pringer, S. 86.

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5 Die Herausforderung für die Hilfs- und Rettungskräfte Durch diese Gesamtlage wird zum einen deutlich, „… dass Notfallgeschehen keine rein individualmedizinischen Ereignisse sind …“29 und unterschiedlichste terroristische Aktivitäten und Begehungsweisen denkbar sind.30 Zum anderen sind die Helfer nun selbst im Zentrum des Geschehens. Nicht mehr nur als Retter und Helfer, sondern als ausgemachte Ziele. Insofern ist die Frage nach der Betroffenheit von Feuerwehren, Rettungsdiensten und des medizinischen Personals aufgeworfen. Traditionell ist das deutsche Hilfeleistungs- und Rettungssystem auf den Schutz der Bevölkerung vor Gefahren ausgelegt, die sich aus Unglücksfällen und Katastrophen für die Bürger ergeben.31 Die Einsatzkräfte werden nun nicht mehr unbedingt als Helfer angesehen, sondern unter Umständen erfahren sie eine feindselige Behandlung, bis hin zur körperlichen Schädigung. Diese Erfahrung steht im diametralen Gegensatz zum Willen und der Einstellung der Rettungskräfte, durch ihre Hilfe Anerkennung und nicht Ablehnung zu erfahren. Dabei verstehen sich die Kräfte selbst als „neutrale ­Helfer“32 und nicht als Akteure des Staatsapparates. Insofern ist hier der Kernbereich ihrer inneren Einstellung, ihres Selbstbewusstseins und ihres professionellen Selbstverständnisses betroffen, wobei sich der Begriff der „Profession“ hier nicht auf eine hauptberufliche Tätigkeit, sondern auf „Berufung“ im ursprünglichen Sinne des Wortes bezieht. Zugleich meint Professionalität eine hohe fachliche Kompetenz und Qualität. Somit sind auch die ehrenamtlichen Helfer und Rettungskräfte einbezogen, für die es eine besondere Zumutung darstellen muss, über die einsatzimmanenten

29Bundesamt

für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Deutsche Gesellschaft für KatastrophenMedizin e. V. (Hrsg.) (2009). Notfall- und KatastrophenPharmazie, Bd. 1, Bevölkerungsschutz und Medizinische Gesundheitsvorsorge, Bonn: o. VA. S. 194. 30Brandt, S., Geßmann, B., Schmidt, J. (2008c). Terror, Anschlag, Panikmache: Von verunsicherten Einsatzkräften und vom Umgang mit der Thematik. Rettungsdienst, (5), 33–38. 31Franke, D. (2013). Rettungsdienst und Katastrophenschutz. Ein historischer Rückblick. In C. Unger, T. Mitschke, D. Freudenberg (Hrsg.). Krisenmanagement – Notfallplanung – Bevölkerungsschutz. (S. 671–686). Berlin: Duncker&Humblot. 32Stolt, F. D. (2012a). Untersuchung zur Gewalt gegen Feuerwehr und Rettungskräfte. CD Sicherheitsmanagement, (2), S. 88–155, S. 88.

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Gefahren hinaus sich zusätzlichen mutwilligen Gefährdungen auszusetzen und hierdurch auch noch aggressive Ablehnung zu erfahren. Die Auswirkungen auf die Organisationskultur sind absehbar.33

6 Abgrenzung der Organisationskultur anderer Sicherheitsakteure An diesem Punkt unterscheiden sich Hilfs- und Rettungsdienste hinsichtlich ihrer Erwartungshaltung und Einstellung zum Dienst sowie ihrer Organisationskultur grundlegend von Polizei und militärischen Streitkräften. Dementsprechend gilt es, bestimmte organisationskulturelle Unterschiede, die sich aus der Aufgabe heraus entwickelt haben, zu berücksichtigen. Polizei agiert grundsätzlich in einem freundlichen Umfeld, wenngleich immer wieder mit gefährlichen Einzeltätern oder Gruppen gerechnet werden muss. Dieses Umfeld bestimmt die Einstellung von Polizei und das Verhalten, das grundsätzlich auf Deeskalation ausgerichtet ist. Polizei nimmt ihre Rolle umso besser wahr, je enger sie in einem Netz von externen Beziehungen und Kontakten der lokalen Bevölkerung eingebunden ist, aus dem sie funktionswichtige Informationen für ihre Arbeit bezieht. Insofern sind Polizeiorganisationen in der Regel relativ umweltoffene Organisationen, das heißt, ihre enge Integration in die soziale Umwelt vermittelt ihnen die relevanten Informationen für ihr Handeln und ist somit eine wichtige Voraussetzung für die Erfolgswirksamkeit.34

7 Streitkräftekultur Noch extremer ist an dieser Stelle der Unterschied zu Streitkräften. Militärorganisationen sind auf die Androhung und Anwendung kollektiver Gewalt gegen fremde Streitkräfte bzw. eine fremde Sozialordnung ausgerichtet, wobei das militärische Gewalthandeln auf ein von extremer Ungewissheit und U ­ nberechenbarkeit

33Freudenberg,

D. (2016). Auswirkungen von Terrorismus und Anarchismus als Führungsproblem. Einige Anmerkungen zur Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels der inneren Einstellung von Rettungs- und Hilfskräften, in: Jäger, T.; Daun; Freudenberg, D. (Hrsg.), Politisches Krisenmanagement. Wissen, Wahrnehmung. Kommunikation (S. 81–97), ­Springer, S. 87. 34Haltiner, K.W. (2001). Polizisten oder Soldaten. Organisatorische Dilemmata bei der Konstabulisierung des Militärs. ÖMZ 39(3), 291–298.

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gekennzeichnetes Umfeld zielt.35 Deeskalation durch Eskalation von extremer und tödlicher Gewalt liegt im grundsätzlichen Spektrum von militärischen Problemlösungsansätzen und ist bestimmend für Ausrüstung, Ausbildung, Organisationskultur und die innere Einstellung von Soldaten. Das Geben und Nehmen von Leben ist Wesensmerkmal soldatischen Dienens, welches sich hierdurch wie auch durch den Kampf mit der Waffe sowie der Bereitschaft zum Handeln ins Ungewisse in besonderer Weise von anderen Sicherheitsakteuren unterscheidet.

8 Polizeiliche Organisationskultur Die aktuelle Bedrohung durch Irreguläre Kräfte zwingt Bund und Länder allerdings im Bereich von Ausrüstung und Bewaffnung umzudenken und den Polizeien zur Abwehr und Bekämpfung (wieder) Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, welche denen des Militärs entsprechen. Die Bereitstellung von Helmen, Schutzwesten und automatischen Waffen allein reicht hier nicht aus. Zwingend erforderlich sind Fähigkeiten, die es erlauben, schwer bewaffnete Gegner in jedem Gelände – vor allem aber auch in urbaner Umgebung – zu binden und niederzukämpfen. Das sind dem Grunde nach infanteristische Fähigkeiten, wie sie die Polizeien, insbesondere der frühere Bundesgrenzschutz als Vorläufer der heutigen Bundespolizei, noch beherrscht hat. Aber es geht hier nicht nur um Fähigkeiten, sondern vielmehr noch um Mentalitäten, welche sich für diese speziellen Fälle anpassen müssen. Allerdings sind Änderungen an dieser Stelle das Ergebnis von Erziehung und Prägung und dauern – insbesondere bei einer Polizei, die von ihrem ganzen Selbstverständnis darauf ausgelegt ist „… Rechtsbrecher möglichst nur kampfunfähig zu machen …“ und deren „… Einsatzmittel …, das dem demokratischen Rechtsstaat am meisten entspricht [gewiss kommunikative Intelligenz ist]“36 und bei der infolge dessen eine gefährliche Schießhemmung antrainiert und anerzogen ist – einige Jahre. Das Selbstverständnis der deutschen Polizeien als Bürgerpolizei drückt sich daher in dem viel zitierten Grundsatz aus, dass die vornehmste „Waffe“ des Polizeibeamten das Wort sei sowie in einem im Kern zivilen Verständnis der Aufgabenwahrnehmung, w ­ elches im äußeren Erscheinungsbild und im Auftreten bzw. Einschreiten der B ­ eamten

35Haltiner,

K.W. (2001). Polizisten oder Soldaten. Organisatorische Dilemmata bei der Konstabulisierung des Militärs. ÖMZ 39(3), 291–298. S. 293. 36Stefan Noethen, Polizeibewaffnung, in: Hans-Jürgen Lange (Hrsg.), Wörterbuch zur Inneren Sicherheit, 2006, S. 215 ff.; 216 ff.

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zum Ausdruck kommt.37 Im Kontext der unmittelbaren Bedrohung durch Irreguläre Kräften und im Angesicht von Lagebildern, welche denen der Terroranschläge von Mumbai, Paris oder denkbar schwereren entsprechen, muss sich das zwingend ändern. Es muss auch im Verhaltensrepertoire polizeilicher Kräfte verankert werden, akuten Bedrohungen offensiv zu begegnen, Aufträge robust durchzusetzen und dieses auch zu wollen.

9 Auswirkungen auf das Ehrenamt Insofern müssen die zuvor skizzierten Entwicklungstendenzen unmittelbare Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung und innere Einstellung der Angehörigen dieser Organisationen, insbesondere von Feuerwehren und Hilfsorganisationen und damit auf das gesamte Hilfeleistungssystem in der Bundesrepublik Deutschland haben, welches auf der Freiwilligkeit der Bürger und somit dem ehrenamtlichen Engagement beruht. Das „Ehrenamt“ als solches ist dadurch geradezu in seinem Kern betroffen. Dieses könnte sich auch negativ auf die Bereitschaft niederschlagen, sich freiwillig den Rettungsorganisationen anzuschließen und in der Folge die Nachwuchsgewinnung und erforderlichen Einsatzstärken gefährden. Durch die Zunahme derartiger „Veranstaltungen“, einem damit einhergehenden Anstieg der Einsatzzahlen und Erhöhung der Einsatzdichte sowie deren -Intensität – auch aufgrund abnehmender personeller Ressourcen – steigt in gleicher Weise auch die physische und psychische Beanspruchung der Sicherheitsund Rettungskräfte. Zugleich nehmen die Regenerationszeiten der einzelnen Kräfte entsprechend ab. Diese Tendenzen müssen in ihrer Gesamtheit zwangsläufig Auswirkungen auf die innere Einstellung und die Motivation der Kräfte haben. Mithin ist hier auch eine ethische Perspektive angesprochen. Das medizinisch Machbare, als die Grundlage allen ärztlich sinnvollen Tuns, erfährt bislang seine härteste Bewährungsprobe mit der Konfrontation mit einem Massenanfall verletzter, vergifteter oder von anderen Gesundheitsschädigungen betroffener Menschen.38 Das gilt ganz besonders in der Notfall- und Katastrophenmedizin,

37Helgo Martens, Polizeiliche Intervention und finaler Rettungsschuss in Zeiten des Terrors – Teil 1, in: DIE POLIZEI 2016, S. 277 ff.; 277. 38Rabentisch, E. (2002). Ethik und Recht in der Katastrophenmedizin. In Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Katastrophenmedizin. Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall, 2. Aufl. (S. 13–24), Berlin: o. VA. S. 14.

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wo es trotz aller Zeitnot in jedem Einzelfall abzuwägen gilt, ob das Unterlassen oder Herausschieben einer medizinischen Maßnahme im Interesse des Patienten sinnvoller ist als ein wenig aussichtsreiches Handeln,, weil die frühzeitige, umfassende medizinische Versorgung nicht mehr gewährleistet ist.39 Diese ethische Perspektive wird nunmehr unter derartigen besonderen Bedingungen ergänzt um die Sorge und Fürsorge der Einsatzverantwortlichen für die Sicherheit und den Schutz ihres Personals gegen direkt gegen sie gerichtete Bedrohungen und die sich hieraus ergebenden Fragen von Sicherung und Schutz sowie Eigensicherung und Zumutbarkeit des Einsatzes bzw. die Verantwortung für dessen Vertretbarkeit. Damit ist nicht die generelle Opferbereitschaft der Angehörigen von Feuerwehren und Rettungsdiensten infrage gestellt, sich den immanenten Gefahren ihrer Profession auszusetzen und zu stellen. Wenngleich es für die Angehörigen von Feuerwehren und Rettungsdiensten – anders als bei Soldaten – keine gesetzlich kodifizierte Aufopferungspflicht gibt, ist eine grundsätzliche Opferbereitschaft, welche häufig im persönlichen Einsatz über die Grenzen des allgemein Zumutbaren geht, oftmals erkennbar. Diese Opferbereitschaft besteht auch in Wohlstandsgesellschaften.40 Allerdings erfordern die neuen Einsatzszenarien eine andere Art der persönlichen Exposition bis hin zur direkten Konfrontation. Hier geht es also nicht allein um die Frage, sich unmittelbar für die Rettung von Personen und Sachwerten aus Gefahrenlagen und zum Wohle der Allgemeinheit einzusetzen. Hier geht es nunmehr um den persönlichen Einsatz durch direkte Anfeindung. Akzeptanz steht nun direkte Ablehnung gegenüber. Das hat sehr wohl Auswirkungen auf das Denken und die innere Einstellung als Grundlage des Handelns. Die von der Gesamtheit der Helfer als besonders sinnvolle und sinnstiftende betrachtete Tätigkeit41 wird somit grundlegend infrage gestellt. Mithin sind hier auch sowohl an die physische und psychische „Robustheit“ von Einsatzkräften und Einsatzverantwortlichen als auch an die Fähigkeit

39Rabentisch,

E. (2002). Ethik und Recht in der Katastrophenmedizin. In Bundesministerium des Inneren (Hrsg.), Katastrophenmedizin. Leitfaden für die ärztliche Versorgung im Katastrophenfall, 2. Aufl. (S. 13–24), Berlin: o. VA. S. 14. 40Schmidt, H. (o. JA). Ziviler Bevölkerungsschutz als staatspolitische und wirtschaftliche Verantwortung. Vortrag des Präses der Behörde für Inneres Senator Helmut Schmidt vor der Handelskammer Hamburg am 11. Juli 1962. In Schriftenreihe der Handelskammer Hamburg, (5), S. 3–15, 14. 41Karutz, H., Richwin, R. (2013). Ehrenamtliches Engagement im Katastrophenschutz. Teil 2. Im Einsatz, 20 (2), 28–31. S. 29.

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zur Sensibilisierung und zum sensiblen Umgang mit den Mitarbeitern und Kollegen besondere Anforderungen zu stellen. Das Gleiche gilt für die persönlichen Fähigkeiten und die entsprechende Bereitschaft Risiken abzuwägen und auch gegebenenfalls einzugehen.

10 Reaktion auf den Paradigmenwechsel Das medizinische Personal sowie die Rettungs- und Hilfskräfte sind gezwungen, sich auf derartige Fälle fachlich und mental einzustellen.42 Es gilt das gesamte Einsatzverhalten auf diese Lagen hin anzupassen und gegebenenfalls zu ergänzen. Bei einer zunächst unüberschaubaren Anzahl an Verletzten sind die Grenzen regionaler Versorgungsmöglichkeiten rasch erreicht.43 Die Kräfte zur Schadensbewältigung können sich nicht mehr unbedingt auf einen möglicherweise bevorstehenden Einsatzfall entsprechend einem Krisen- und Spannungsfall vergangener Tage vorbereiten und sich entsprechend zeitlich und organisatorisch darauf einstellen. Die Fähigkeiten, Maßnahmen, Kräfte und Mittel werden eher unverhofft abgerufen und aus der Lage heraus zum Einsatz gebracht werden müssen. Folglich müssen sich die Rettungsdienste bzw. die sie tragenden Organisationen seit einiger Zeit verstärkt konzeptionell mit dieser geänderten Situation auseinandersetzten und ihre jeweiligen personellen Ressourcen, Strukturen sowie Ausstattung und Ausbildung hieran anpassen. Dieses geschieht vor dem Hintergrund knapper werdender finanzieller Ressourcen, dem Abbau personeller Kapazitäten, einem zunehmenden demografischen Wandel sowie einer sich zukünftig noch verstärkenden Konkurrenz aller Sicherheitsakteure um finanzielle und personelle Ressourcen. Der Abbau personeller und materieller Ressourcen führt nicht nur zur gleichzeitigen Verringerung von entsprechenden Überhängen und Redundanzen und zwingt zur Poolbildung von Schlüsselfähigkeiten, sondern schränkt zwangsläufig zugleich die Möglichkeiten zur Bildung von Reserven und deren Einsatz ein.

42Bundesamt

für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (Hrsg.) (2009). Abschlußbericht Projekt HEIKAT. Handlungsempfehlungen zur Eigensicherung für Einsatzkräfte der Katastrophenschutz- und Hilfsorganisationen bei einem Einsatz nach einem Anschlag. Bonn: o. VA. 43Weidringer, J. W. (2009). Konsensus-Konferenz zum Prozedere beim Massenanfall von Verletzten und Erkrankten mit der Notwendigkeit überregionaler Unterstützung (Ü-MANV). In Schutzkommission beim Bundesminister des Inneren (Hrsg.), Gefahren und Warnung. Drei Beiträge (S. 9–25). Bonn: o. VA. S. 9.

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11 Konzeptionelle Notwendigkeiten bei Rettungsdiensten und Feuerwehren Die Ausweitung des Schutzbereichs des § 114 Abs. 3 StGB auf „Notleistende der Feuerwehren und des Katastrophenschutzes“ und deren technischen Einsatzmittel sowie deren Kraftfahrzeuge in § 305a Abs. 1 Nr. 2 und 3 StGB im Jahre 2011 bedeutet in Verbindung mit den entsprechenden Strafandrohungen auch ein wichtiges rechtspolitisches Signal. Allerdings bedarf es auch verschiedener Reaktionen und Anpassungen in den Organisationen. Damit sind Maßnahmen in organisatorischer, materieller und personeller Hinsicht gemeint, welche auf die Organisationen und ihre jeweilige Organisationskultur anzupassen sind, weil sie auch unmittelbar oder mittelbar auf diese sowie auf das Selbstverständnis der Angehörigen und ihre Aufgabenwahrnehmung durchschlagen. Die Entwicklung und die Umsetzung von Krisen- und Sicherheitskonzepten in unterschiedlichen Organisationsformen bedingen immer eine Zweck-Ziel-Mittel-Rationalität, welche in besonderer Weise die Eigentümlichkeiten, Ziele und Interessen der Organisation wie auch die Zielsetzungen ihrer Mandate sowie das Milieu ihres Einsatzes berücksichtigen muss. In der Vergangenheit standen – von Ausnahmen abgesehen – eher Risiken und Gefährdungen aus dem Bereich der Arbeitssicherheit, der Gesundheitsvorsorge oder des Umgangs mit Kraftfahrzeugen in schwierigem Gelände und an schwer zugänglichen Einsatzstellen im Vordergrund (Safety-Aspekte). „Safety“ befasst sich mit Problemen der Arbeitssicherheit und vorbeugenden Maßnahmen gegen den Eintritt von Vorfällen und Unfällen, die sich aus Gefahren, durch menschliche Unzulänglichkeiten, aus beruflicher Unerfahrenheit oder technischen Mängeln ergeben.44 Inzwischen treten auch ansteigend Security-Aspekte von Sicherheit in den Fokus vorsorgender Einsatzplanungen.45 „Security“ steht für vorbeugende M ­ aßnahmen

44Seculex

Security Lexikon (2000). S. 43. für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (Hrsg.) (2010). HEIKAT. Handlungsempfehlungen zur Eigensicherung für Einsatzkräfte der Katastrophenschutz- und Hilfsorganisationen bei einem Einsatz nach einem Anschlag, http://77.87.229.200/aDISWeb/app;jsessionid=DCC0378E43E5CE27EB04C57274C640BD?service=aDISAsset/ POOLBMSD_4B00A200_26533B00/ZLAK_HTMLGL_1&sp=S%24OTPDF_1&sp=S MT00000001&requestCount=2. Zugegriffen: 09. Jul. 2010.; vgl. Mikus, S. (2008). Gefahr eines Anschlags, Handlungsempfehlungen für Einsatzkräfte. Bevölkerungsschutzmagazin, (2), S. 54–55.; vgl. Brandt, S., Geßmann, B., Schmidt, J. (2008a). (Terror-)Anschläge als neue Bemessungsgrundlage. IM EINSATZ, (3), 40–43; vgl. Brandt, S., Geßmann, B., Schmidt, J. (2008b), (3) Herausforderung „Terroranschlag“. Grundlagen des Terrorismus und Konsequenzen für die Gefahrenabwehr. BRANDSchutz. Deutsche Feuerwehr-Zeitung, (9), 658–665. S. 661. 45Bundesamt

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gegen sozial abweichende Verhaltensweisen und Angriffe von Personen gegen Organisationen, ihre Einrichtungen und Beschäftigten. Durch Maßnahmen personeller, materieller, technischer und organisatorischer Art sollen Straftaten, unerlaubte Handlungen und ordnungswidrige Zustände verhindert und Schäden verhütet oder begrenzt werden.46 Kamen die Einsatz- und Rettungskräfte in der Vergangenheit zu einer Einsatzstelle, so konnten sie dieses grundsätzlich immer im Bewusstsein tun, zwar nicht unbedingt im sicheren Raum, so doch immer im befriedeten Raum zu agieren. Mögliche Gefahren, die es für die Rettungskräfte festzustellen, zu beurteilen und zu bewerten galt, gingen seinerzeit – wenn überhaupt – von einer nicht sicheren Einsatzstelle aus, deren weiteres Gefahrenpotenzial in einer geschädigten und instabilen infrastrukturellen Beschaffenheit oder in einem in sich noch nicht vollständig abgeschlossenen schädigenden Ereignis lag. Als Beispiele können hier Erdrutsche oder auch unbeabsichtigte Gasexplosionen in Wohnhäusern angeführt werden. Hier hat sich die Lage geändert. Nun können Schadenslagen entstehen, in denen neben dem beabsichtigten Primärschaden mit den entsprechenden Ausfällen an Menschen gerade auch gezielt Einsatz- und Rettungskräfte in den Fokus der schädigenden Handlung genommen werden. Beispielhaft seien hier die sogenannten „Doppelanschläge“ genannt. Hierbei handelt es sich um Sprengstoffanschläge, welche in zeitlicher Abfolge nach einem Erstanschlag, durch Zeitzündung oder ferngesteuert, gezielt gegen die eintreffenden Einsatz- und Rettungskräfte ausgelöst werden. Der Begriff des „Doppelanschlages“ beinhaltet eine möglicherweise irreführende und somit gefährliche Fehlannahme. Tatsächlich handelt es sich bei diesen Doppelanschlägen zunehmend um Mehrfachanschläge. Das ist der Tatsache geschuldet, dass Terrorgruppierungen lernende Organisationen sind. Das heißt, sie beobachten das Verhalten und die Reaktion ihres Gegenübers, werten es aus, um ihrerseits das eigene Verhalten darauf anzupassen und für zukünftige Aktionen zu optimieren. Dementsprechend reagieren sie bei nachfolgenden Anschlägen auf das beobachtete taktische Vorgehen und Verhalten an der Einsatzstelle und zünden gegebenenfalls nicht nur einen weiteren, sondern unter Umständen mehrere Sprengvorrichtungen. Die Folge für die taktischen Konzepte von Einsatz- und Rettungsorganisationen ist, dass diese sich ebenfalls weitgehend flexibel in der Einsatzdurchführung zeigen müssen, um so wenig wie möglich berechenbar zu sein und so dieses Risiko abzumildern. Es kommt darauf an, so wenig wie möglich berechenbar und ausrechenbar zu handeln, sodass die eigene Reaktion, das eigene taktische Verhalten eben nicht voraussehbar ist. Das ist

46Seculex

Security Lexikon (2000, S. 46).

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e­xtrem schwer, da insbesondere im urbanen Gelände unserer modernen Großstädte mit ihren begrenzten Flächen und engen Verkehrsflüssen die zweckmäßigen Möglichkeiten ohnehin zumeist überschaubar sind und ein Rettungseinsatz nicht zugleich zur totalen Lähmung des Verkehrs und damit des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens insgesamt in dem betroffenen Gebiet führen sollte. Die konzeptionelle Umsetzung in Vorschriften, Handlungsanweisungen und Einsatzplänen scheint hier ein Widerspruch in sich, da diese zum einen durch vorgegebene Handlungsabläufe Handlungssicherheit vermitteln sollen, zum anderen schematisch gleiche Abläufe nicht erkennbar sein sollen. Diese Forderungen beanspruchen die Führungskräfte hinsichtlich ihrer Einsatzplanung und konkreten Einsatzführung noch einmal in ganz besonderer Weise, da hier fantasievolle und individuelle Entscheidungen verlangt sind. Insofern sollten nur grobe Leitlinien und Direktiven vorgegeben und manifestiert werden. Darüber hinaus muss sich auch gerade hier wiederum die Auftragstaktik bewähren.

12 Operativ-taktische Umsetzungen und Führungsprobleme bei den Akteuren der nichtpolizeilichen Gefahrenabwehr Damit einher geht diametral die Tatsache, dass sich die taktischen Konzepte darauf einrichten müssen, bei unklaren Lagen bzw. bei Verdacht einer Terrorlage nicht sofort mit allen Kräften in die Gefahrenstelle einzufahren, sondern besonders geeignete, ausgebildete und ausgerüstete Kräfte zur Erkundung in den Einsatzraum zu entsenden und die Hauptkräfte zunächst in einen einsatznahen Verfügungsbzw. Bereitstellungsraum zu beordern. Allerdings dürfen auch diese Räume nicht so gewählt werden, dass sie ausrechenbar sind und somit ihrerseits zum leichten Anschlagziel werden. Bei weiterhin unklaren Lagen müssen sich diese Kräfte gegebenenfalls unverrichteter Dinge wieder zurückziehen, bis entsprechende Spezialkräfte der Polizeien bzw. des Kampfmittelräumdienstes die Gefahr beseitigt sowie die Einsatzstelle gesichert und freigegeben haben. Alternativ hierzu könnten lageabhängig Verletzte und Opfer unter Vernachlässigung ihrer Verwundungen und Verletzungen auch auf die Gefahr der Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes aus der Gefahrenzone gebracht werden.47 Der G ­ rundsatz der Eigensicherung

47Brandt, S., Geßmann, B., Schmidt, J. (2008c). Terror, Anschlag, Panikmache: Von verunsicherten Einsatzkräften und vom Umgang mit der Thematik. Rettungsdienst, (5), 33–38. S. 460.

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geht somit der Fremdversorgung und Rettung vor. Die Schwierigkeit liegt im Erkennen, dass es sich nicht um eine „Normallage“ handelt und der Identifizierung der Bedrohung. Diese Abwägungen erfordern vor allem große Anforderungen an taktische Führer und die Einsatzleitung hinsichtlich der Beurteilung der Lage und der Entschlussfassung.48 Zudem ist eine große Erfahrung und die Bereitschaft, kalkulierbare Risiken einzugehen, erforderlich. Da allerdings auch bei Vorliegen aller dieser Voraussetzungen Fehleinschätzungen und demzufolge auch Fehlschläge nicht völlig auszuschließen sind, bestehen hohe Anforderungen an die psychische Belastbarkeit des Personals. Zudem ergeben sich Schwierigkeiten, welche nicht nur einsatztaktische und rechtliche Auswirkungen haben könnten, sondern die ebenso vor allem auch mental zu vermitteln und zu verarbeiten sind: Zum einen erhöhen sich die Zeiten, welche die Rettungskräfte brauchen, um an der Einsatzstelle wirksam zu werden. Das heißt: die Kräfte sind nicht sofort mit allen Fähigkeiten an der Einsatzstelle, und das Interesse gilt mitunter – anders als in einer Normallage – nicht sofort, also augenblicklich und ausschließlich den Betroffenen. Hier stehen unter Umständen die Eigensicherung und die Lagefeststellung im Vordergrund, bis das Umfeld gesichert ist. Hierbei geht möglicherweise den Opfern wertvolle Zeit verloren bzw. können unter Umständen Betroffene nicht rechtzeitig gerettet werden. Zugleich werden von allen verantwortlich Handelnden erhebliche Anforderungen hinsichtlich der Koordination von Kräften in Zeit und Raum sowie der Abstimmung mit den anderen Sicherheitsbehörden, Polizeien, Verwaltungen und ggf. betroffenen Unternehmen verlangt. Mithin ist ein koordiniertes Vorgehen aller helfenden Kräfte erforderlich.49

13 Schluss Mit einer Sicherheitsarchitektur, welche 1949 konstituiert wurde und seither nie grundlegend infrage gestellt, sondern allenfalls nachgebessert wurde, sowie einer gesellschaftlich tief verankerten postheroischen Mentalität begann mit dem 11. September 2001 ein von außerordentlichen Veränderungs- und t­hematischen

48Brandt,

S., Geßmann, B., Schmidt, J. (2008b), (3) Herausforderung „Terroranschlag“. Grundlagen des Terrorismus und Konsequenzen für die Gefahrenabwehr. BRANDSchutz. Deutsche Feuerwehr-Zeitung, (9), 658–665. S. 661. 49Brandt, S., Geßmann, B., Schmidt, J. (2008c). Terror, Anschlag, Panikmache: Von verunsicherten Einsatzkräften und vom Umgang mit der Thematik. Rettungsdienst, (5), 33–38. S. 460; vgl. Brandt, S., Geßmann, B., Schmidt, J. (2008a). (Terror-)Anschläge als neue Bemessungsgrundlage. IM EINSATZ, (3), 40–43. S. 145.

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Berührungsängsten geprägter Paradigmenwechsel, der noch längst nicht abgeschlossen ist.50 Es ist in den letzten Jahren offensichtlich geworden, dass schlichte „Anpassungen“ in Organisationen und Strukturen unzureichend sind. Ebenso ist die Absicht, sicherheitspolitische Akteure auf einer supranationalen Ebene verorten zu wollen und zugleich die deutschen Vorstellungen der Trennung und Zuständigkeiten der Akteure sowie deren sicherheitspolitischen Verortung beizubehalten, ist wenig realitätsbezogen und ebenso wenig zukunftsorientiert.51 Die Diskussion um die Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland und ihre sinnhafte Ausformung hält an. Diese Debatte ist verbunden mit Fragen der Legalitäten, Legitimitäten und Rechtfertigungen. Dabei ist die Forderung nach einer „Gesamtstrategie“ und einer „Nationalen Führungsfähigkeit“ nicht neu.52 Es kommt darauf an, diese in einem umfassenden Sinne zu gestalten. Dazu gehört die Bereitschaft, auftretende sicherheitspolitische Herausforderungen umfassend zu analysieren, und sich bei der Zuordnung und Zuweisung an die eigenen staatlichen Sicherheitsakteure zuvorderst daran zu orientieren, wer den Bedrohungen am zweckmäßigten begegnen kann. Gegebenenfalls sind vorhandene Sicherheitsstrukturen grundsätzlich zu hinterfragen und neu zu gestalten. Der Rückgriff auf bewährte Strukturen und Instrumente der Vergangenheit und ihre Zuordnung an bestimmte Zuständigkeiten ist dann nicht zweckmäßig, wenn sich die sicherheitspolitischen Grundbedingungen und die sich hieraus ableitenden Konstellationen geändert haben. Die Bedrohungen müssen die Organisationszuständigkeiten, -Strukturen und -Mittel bestimmen. Die Strukturen und Zuständigkeiten, sowie die Kompetenzen, Fähigkeiten und Mitteln müssen auf die Lage gelegt werden; die Lage wird sich ihnen nicht anpassen. Fluiden und dynamischen Bedrohungen und Herausforderungen ist nicht mit

50Freudenberg,

Dirk, Stephan Maninger (2016). Vorwort, in: Freudenberg, Dirk, Maninger, Stephan (Hrsg.), Neue Kriege – Sicherheitspolitische Rahmenbedingungen, Mentalitäten, Strategien, Methoden und Instrumente, Berlin. Miles. S. 7 f.; 7; vgl. Freudenberg, Dirk, Die zivile Sicherheitsarchitektur in Deutschland und ihre sicherheitspolitische Relevanz, in Reader Sicherheitspolitik 4/2017, S. 7.

51vgl. Freudenberg, Dirk (2014). Auftragstaktik und Innere Führung. Feststellungen und Anmerkungen zur Frage nach Bedeutung und Verhältnis des inneren Gefüges und der Auftragstaktik unter den Bedingungen des Einsatzes der Deutschen Bundeswehr, Berlin, Miles. S. 7 f. 52vgl. Erich Vad, Gesamtstrategie und nationale Führungsfähigkeit, in Europäische Sicherheit 1994, S. 289 ff. Allerdings bezog Vad damals noch im Schwerpunkt seine Ausführungen zu einer Gesamtstrategie auf das Feld der Außen- und Sicherheitspolitik und hatte somit das Verschwimmen von innerer und aüßerer Sicherheit noch nicht im Fokus seiner Betrachtung.

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starren Strukturen und Zuständigkeiten eines verregelten Systems zu begegnen, sondern nur mit entsprechend dynamisch und flexibel (re-)agierenden Akteuren einer auf Wirkungsorientierung ausgerichteten Sicherheitsarchitektur. Der Rückgriff auf bekannte Verhaltensmuster schließt nicht aus, dass Anpassungen, Modifikationen und auch Innovationen vorgenommen werden, die auch zu neuen Modi Operandi führen. Insofern dürfen Analogieschlüsse nicht die Analyse ersetzen. Die strategische Ebene ist herausgefordert, diese Entwicklungen gegenüber Bürgern und Betroffenen zu kommunizieren und letztendlich auch eine „strategische Gelassenheit“ und „mentale Härtung“ als gesellschaftliche Reaktion gegenüber Erscheinungen und Ereignissen zu entwickeln, welche sich in einem demokratischen Rechtsstaat nicht vollumfänglich verhindern lassen. „Strategische Gelassenheit“ bedeutet keinesfalls eine gesellschaftliche Paralyse, sondern professioneller und angemessener Umgang auf der politisch-strategischen Ebene im Sinne von routiniertem Handeln nach gründlicher Analyse und Abwägung der Möglichkeiten des eigenen Handelns sowie auch der Betrachtung diesbezüglicher Folgen unter Einbeziehung der gesellschaftlichen (Krisen-) Kommunikation und robuste Reaktion auf der operativ-taktischen Ebene, um Vertrauen und Zuversicht bei der eigenen Bevölkerung und den eigenen Sicherheitsakteuren zu erhalten. Verantwortungsbewusste Organisationen und vor allem Personen mit Personal- und Führungsverantwortung stellen sich nun der Tatsache, um die erforderlichen personellen, materiellen, organisatorischen und ausbildungsmäßigen Voraussetzungen für ihren Verantwortungsbereich und ihr Krisenmanagement in der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Einsatzlagen auch unter diesen Gesichtspunkten zu treffen. Voraussetzung hierfür ist aber auch eine Anpassung der inneren Einstellung zum Dienst und auch zum Teil eine völlige mentale Neuorientierung der im Feuerwehr- und Rettungsdienst handelnden Akteure. Eine derartige Veränderung der Situation hat ebenso auch Auswirkungen auf Auswahl, Erziehung und Ausbildung von Anwärtern in den Organisationen. Für Rettungsorganisationen, insbesondere Hilfsorganisationen in Auslandseinsätzen bestehen vergleichbare Extremlagen und die Notwendigkeit einer entsprechenden Bewusstseinsänderung bzw. -bildung bereits seit ­Jahren.53

53Freudenberg,

D., Reber, P. (2008). Entwicklungszusammenarbeit im Krieg. Medicus Mundi Schweiz Bulletin (108). 15–23. S. 15; vgl. Hammond, L. (2008). The power of holding humanitarian hostages and the myth of protective principles. In M. Barnett, T. G. Weiss (Hrsg.), Humanitarianism in Question. Politics, Power, Ethics (S. 172–195). New York, London: Cornell University Press. S. 172.

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Dieses erfordert physisch und psychisch robuste Menschen, die auch unter erheblichem Druck und auch unter Eigengefährdung bereit und in der Lage sind, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Für die Kräfte im Inland besteht nun die Notwendigkeit, diese geänderten Rahmenbedingungen zu akzeptieren und die notwendigen konzeptionellen, materiellen und personellen Anforderungen lageangemessen anzupassen und ebenso die hierzu erforderliche und darauf abgestimmte Ausbildung zu etablieren.54 Davon ist unter Umständen die Organisationskultur in wesentlichen Teilen betroffen. Die hier angesprochenen Erfordernisse betreffen aber keine Fragestellung, die die Betroffenen allein mit sich auszumachen haben. Dieses bedingt ein hohes gegenseitiges Vertrauen von Vorgesetzten und Untergebenen. Von den Vorgesetzten ist hier zudem eine angemessene Fehlertoleranz gefordert. Das bedingt im Übrigen auch die Fürsorgeverpflichtung der Dienstherren und der Vorgesetzten. Mithin sind die hier aufgeworfenen Problemstellungen als Führungsproblem zu betrachten und ­anzugehen.55

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54Freudenberg,

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Politisch motivierte Kriminalität mit CBRN-Tatmitteln Jan-Peter Germann

1 Einführung und Problemanzeige Die Perspektive von CBRN-Tatmitteln in den Händen von Terroristen oder anderen gewaltbereiten substaatlichen Akteuren löst nicht nur bei politischen Entscheidungsträgern und Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben traditionell Besorgnis aus. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion nimmt der Komplex aufgrund seiner analytischen Besonderheiten, die sich im Wesentlichen aus einer Ambiguität der Empirie sowie aus den in Teilen der hergebrachten Terrorismusforschung üblichen Betrachtungsökonomien ergeben, eine Sonderstellung ein. Verweise auf entsprechende Szenarien sind in sicherheitspolitischen Diskursen mittlerweile indes weit verbreitet.1 Dieser Beitrag rekapituliert den dominierenden theoretischen Zugang zur Thematik und operationalisiert ihre zentralen Begriffe. Auf dieser Grundlage wird in einem zweiten Schritt eine

1Die

Thematik ist seit 2002 in der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA verankert und wiederholt fortgeschrieben worden. In der Auflage von 2006 erklärt die Strategie den Nexus von Terrorismus und Massenvernichtungswaffen (MVW) gar zur ernstesten Bedrohung der nationalen und internationalen Sicherheit. Vergleichbare Rekurse finden sich in der Europäischen Sicherheitsstrategie aus dem Jahr 2003 sowie in der ebenfalls mehrfach aktualisierten Nationalen Sicherheitsstrategie der Russischen Föderation.

J.-P. Germann (*)  Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Freudenberg et al. (Hrsg.), Terrorismus als hybride Bedrohung des 21. Jahrhunderts, Sicherheit – interdisziplinäre Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20919-3_6

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a­ bstrakte Gefährdungsbewertung für unterschiedliche Tatmittelkategorien formuliert, ohne dabei die methodologischen Probleme zu verkennen, die dem sicherheitspolitischen Risikomanagement immanent sind, etwa die Frage nach einem möglichst rationalen Umgang mit den „schwarzen Schwänen“ der sog. High Risk Low Probability-Konstellation.

2 Konzepte und Begriffe Die Diskussion über die Frage, zu welchen Zwecken und mit welchen Erfolgsaussichten Terroristen danach streben könnten, sich CBRN-Tatmittel zu verschaffen, wird mittlerweile multidisziplinär geführt, was eine nennenswerte Literatur hervorgebracht hat. Beiträge leiden allerdings häufig unter unpräzisen Begriffen sowie unter analytischen Verkürzungen. Hierzu gehört zuvörderst die im Schrifttum, aber auch in Politik und Medien gleichermaßen praktizierte Reduktion der Gesamtthematik auf den Standard „Terrorismus mit Massenvernichtungswaffen“, der von allen denkbaren Ausprägungen des Problems zwar die potenziell kritischste, zugleich aber auch am wenigsten wahrscheinliche beschreibt. Hinzu kommt fallweise eine gewisse Nonchalance im Umgang mit politiktheoretisch etablierten sowie empirisch kohärenten Befunden der modernen Terrorismusforschung, etwa der nach wie vor stabilen Hypothese, wonach dem terroristischen Kalkül grundsätzlich ein inhibitorisches Moment der Gewaltbeschränkung eigen sei. Die Auflösung des augenscheinlichen Widerspruchs zwischen der Unterstellung eines terroristischen Wunschs nach Massenvernichtung auf der einen und dem Theorem einer terroristische Gewalt einhegenden, disziplinierenden Klammer auf der anderen Seite, ist zweifellos Aufgabe der Fachliteratur. Die hierfür heranzuziehenden Diskurse werden jedoch häufig nur gestreift. Zunächst sind also der theoretische Bezugsrahmen darzulegen sowie zentrale Begriffe zu bestimmen.

2.1 Terrorismus und Politisch Motivierte Kriminalität Aufgrund seiner schlechten Fixierbarkeit ist der Terrorismusbegriff sowohl für akademische Explorationen als auch für den täglichen Gebrauch in Politik und Verwaltung notorisch unattraktiv. Obwohl sich in der modernen Terrorismusforschung mittlerweile die Auffassung durchgesetzt hat, wonach das Phänomen grundsätzlich nicht als Ideologie, sondern vielmehr als (ideologisch neutrale) Methode gewaltsamer politischer Veränderung anzusehen sei, entzieht es sich

Politisch motivierte Kriminalität mit CBRN-Tatmitteln

149

jedoch letztlich einer trennscharfen Einordnung in analytische Kategorien.2 In deutschen Sicherheitsbehörden hat sich zur Einordnung terroristisch motivierter Straftaten das Genre der sog. Politisch Motivierten Kriminalität (PMK) etabliert, deren Bekämpfung Aufgabe des polizeilichen Staatsschutzes ist. Damit umfasst die PMK einerseits die sog. Staatsschutzdelikte (auch dann, wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht vorliegt), andererseits aber auch alle sonstigen Straftaten, sofern die Tatumstände bzw. die Einstellung des Täters Anhaltspunkte für eine politische Motivation erkennen lassen. In Abhängigkeit dieser Motivation differenziert das System der PMK Straftaten nach deren politischer Provenienz (links/rechts) sowie nach der Begehung durch Ausländer. Nach der Definition des Bundeskriminalamts (BKA) stellen sich terroristische Straftaten als „extremste Ausprägung der PMK“ dar.3 Für den hier verfolgten Zweck einer abstrakten Risikoanalyse bzgl. der Beschaffung bzw. eines Einsatzes von CBRN-Tatmitteln durch terroristisch motivierte Straftäter soll die PMK-Systematik aufgrund ihrer Verbreitung sowie ihrer vergleichsweise guten Handhabbarkeit übernommen werden. Es bleibt jedoch darauf hinzuweisen, dass es sich beim Konstrukt der PMK um eine den praktischen Bedürfnissen von Sicherheitsbehörden angepasste Abstraktion eines in der Realität hochkomplexen und multidimensionalen Problems, mithin um eine Betrachtungsökonomie handelt.

2.2 CBRN-Gefahrstoffe und CBRN-Tatmittel CBRN-Gefahren werden von chemischen (C), biologischen (B), radiologischen (R) oder nuklearen (N) Stoffen verursacht, bzw. von technischen Vorgängen, die mit diesen Stoffen in Verbindung stehen. Die noch junge Abkürzung CBRN ersetzt das früher gebräuchliche Kürzel ABC. Die dort mit dem Buchstaben A gekennzeichneten sog. atomaren Gefahren differenziert die moderne Nomenklatur nunmehr nach radiologischen und nuklearen Risiken, um unterschiedliche Ausbringungsarten radioaktiver Kontamination anzuzeigen. CBRN-Gefahrstoffe sind vielfältig und können gas- oder dampfförmig, als Aerosole, flüssig oder fest vorkommen. Chemikalien sind häufig brennbar, explosiv, ätzend oder giftig. Biologische Zubereitungen und Erzeugnisse können unter Umständen Krankheitserreger übertragen, während radiologische bzw. nukleare

2Zur

Definitionsproblematik siehe weiterführend Germann (2009, S. 15–18). (2017a).

3Bundeskriminalamt

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Stoffe energiereiche Strahlung freisetzen, die Körperzellen schädigen oder töten kann. Um CBRN-Gefahrstoffe für schädigende Zwecke nutzbar zu machen, ist ein Ausbringungsmechanismus erforderlich, der die wirksamen Bestandteile in die Umwelt abgibt, bzw. die dafür erforderlichen technisch-physikalischen Vorgänge liefert. Solche Vorrichtungen können industriellen oder improvisierten Charakters sein. Industrielle Mechanismen sind die sog. Massenvernichtungswaffen (MVW), in denen die Eigenschaften von CBRN-Gefahrstoffen in wissenschaftlich optimierten Technologien verkörpert sind und deren Zweck im Einsatz gegen einen militärischen Gegner im Rahmen einer kriegerischen Auseinandersetzung besteht. Der Begriff der „Massenvernichtung“ ist allerdings problembehaftet, da er zwar Bestandteil völkerrechtlicher Verträge ist, eine verbindliche Definition aber bislang fehlt. Er führt mindestens in zweifacher Hinsicht in die Irre: Wer von Massenvernichtungswaffen spricht, meint üblicherweise CBRN-Waffen (früher: ABC-Waffen), benutzt die Begriffe mithin synonym. Tatsächlich sind die Wirkungen solcher Waffen durchaus nicht zwangsläufig „massenvernichtend“, denn käme es in erster Linie auf das Merkmal der (physischen) Vernichtungskraft an, so unterfielen dem Begriff allenfalls die strategischen Nuklearwaffen. Materielle Schäden lassen sich mit biologischen oder chemischen Waffen dagegen kaum erzielen, weshalb für diese der Begriff „Massentötungswaffe“ geeigneter erscheint, zumal auch bereits durch den Einsatz moderner konventioneller Waffen massive Zerstörungen angerichtet werden können. Hinzu kommt, dass in einem terroristischen Szenario über die primäre physische Waffenwirkung hinaus weitere, strukturell womöglich sogar bedeutsamere, soziale Effekte erzeugt werden, die mit dem Begriff „Massenvernichtung“ kaum sinnvoll erfasst werden. Teile der Literatur haben sich aus diesen Gründen für die Nutzung einer abweichenden Terminologie ausgesprochen.4 CBRN-Gefahrstoffe können daneben durch improvisierte Mechanismen, z. B. durch sog. unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen (USBV) ausgebracht werden. Hierbei handelt es sich üblicherweise um technisch vergleichsweise wenig anspruchsvolle Designs nicht-staatlichen Ursprungs, die im Hinblick auf ihre Masse-Wirkungsrelation kaum bis gar nicht optimiert sind und deren einziger Zweck darin besteht, Chemikalien, Krankheitserreger oder ionisierende Strahlung in die Umwelt abzugeben, um schädigende Wirkungen zu erzielen.5

4Für

einen Überblick siehe Carus (2012). voraussetzungsvoll, sind auch improvisierte Anordnungen denkbar, die in der Lage sind, eine nukleare Kettenreaktion zu erzeugen und die damit an die Wirkungen von Nuklearwaffen jedenfalls theoretisch heranreichen, vgl. Abschn. 4.1.1.

5Obzwar

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151

Im Unterschied zu MVW setzen improvisierte Konstruktionen allerdings keine waffengrädigen Bestandteile frei, sondern machen sich stattdessen den ausgeprägten „Dual Use“-Charakter vieler CBRN-Gefahrstoffe zunutze: Viele chemische Substanzen sind aufgrund ihrer Toxizität oder anderer Eigenschaften zwar wenigstens abstrakt gefährlich, als Grundstoffe oder Reaktanten für industrielle Prozesse zugleich aber unverzichtbar, weshalb sie in Industriegesellschaften in großen Mengen herstellt, transportiert und gelagert werden. Ähnliches gilt für biologische Agenzien sowie für Strahlenquellen, die in unterschiedlichen industriellen, technischen oder wissenschaftlichen Kontexten zur Anwendung kommen. In vielen Staaten gelten (häufig bereits auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge) für bestimmte Dual Use-Güter daher Herstellungs- und Verwendungsbeschränkungen sowie Meldepflichten im Zusammenhang mit verdächtigen Transaktionen, erheblichem Abhandenkommen oder Diebstählen.6 Nachfolgend werden beide hier skizzierten Möglichkeiten der Ausbringung von CBRN-­ Gefahrstoffen unter dem Begriff des CBRN-Tatmittels subsumiert.

2.3 CBRN-Tatmittel im Kontext Politisch Motivierter Kriminalität CBRN-Tatmittel eignen sich als erpresserische Zwangs- und Druckmittel sowie zur unmittelbaren Begehung von Gewaltdelikten gleichermaßen, weshalb ihnen sowohl im Bereich der Allgemeinkriminalität als auch auf dem Sektor der PMK Bedeutung zukommt. Terroristisch motivierte Täter verwirklichen zwar in der Regel ebenfalls (ggf. tateinheitlich) allgemeinkriminelle Tatbestände, unterliegen aber im Zusammenhang mit der Anwendung von Gewalt spezifischen Mechanismen, was eine differenzierte Betrachtung erforderlich macht. Terroristen handeln als Protagonisten einer Strategie politischer Veränderung durch Gewalt aufgrund eines charakteristischen Kalküls, demzufolge der offensive Normbruch eines Anschlags nicht nur unmittelbar Schaden am Opfer, sondern zugleich auch öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt, womit gemeinhin ein über die unmittelbare Schädigungswirkung hinausgehendes, im weitesten Sinne politisches Anliegen transportiert werden soll. Je öffentlicher dies stattfindet, desto stärker ist die erzeugte Aufmerksamkeit und je stärker rechtliche und moralische Grenzen

6Die EU-Verordnung 98/2013 v. 15. Januar 2013 regelt etwa die Vermarktung und Verwendung von Ausgangsstoffen für Explosivstoffe.

152

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überschritten werden können, umso stärker ist die erzielte Schockwirkung. Aus diesem Grund zeichnen sich terroristische Anschläge häufig durch besondere Brutalität sowie (scheinbar) durch Willkür aus. Das erpresserische Potenzial gegenüber einem betroffenen politischen und/oder gesellschaftlichen System ergibt sich aus der Aussicht, dauerhaft mit einer gewaltsamen Kampagne konfrontiert zu sein, in der dem Angreifer bereits Einzelerfolge genügen, während der Gewaltadressat in eine ständige Abwehrhaltung gezwungen wird, was ökonomische und – jedenfalls in Demokratien – politische Kosten erzeugt. Terroristen begeben sich allerdings nicht freiwillig in diese Asymmetrie, sondern wählen ihre Strategien rational und in dem Bewusstsein, staatlichen Sicherheitsarchitekturen in qualitativer und quantitativer Hinsicht unterlegen zu sein. Terrorismus ist damit trotz seiner psychologischen Wirkungen im Grunde eine Verlegenheitsstrategie, die nur deshalb verfolgt wird, weil ein offenes Aufbegehren kaum Erfolg versprechen würde7. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Terroristen nur durch das Spektrum des konkret Machbaren limitiert, im Übrigen in der Wahl ihrer Mittel aber völlig frei wären, denn terroristische Gewalt ist vor allem „vormundschaftliche Gewalt“.8 Sie wird im unterstellten Interesse eines Dritten ausgeübt, der selbst nicht aktiv werden kann oder will, weshalb es einer externen Avantgarde zur Beförderung seiner vermeintlichen oder tatsächlichen Ziele bedarf. Hieraus ergibt sich für terroristisches Handeln eine grundsätzlich enge Koppelung operationaler und ideologischer Imperative. Das erstmals durch den US-Amerikaner Brian Jenkins beschriebene, „klassische“ terroristische Kalkül geht davon aus, dass Terroristen rational handeln, um im Umfeld eines „angeblich interessierten Dritten“9 Sympathien und Unterstützungsbereitschaft zu erzeugen.10 Um diesen vermeintlichen Nutznießer nicht zu kompromittieren (und ihm nach einer erfolgreichen Kampagne bei der Neuordnung der politischen Verhältnisse einen Platz am Verhandlungstisch zu garantieren), müssen sie stets darauf bedacht sein, einen überschießenden Gewalteinsatz zu vermeiden. Im Kontext sozialrevolutionärer oder ethnisch-nationalistischer Agenden wirkt die Bindung terroristischer Akteure an potenzielle oder tatsächliche Sympathisanten sowie ihr vergleichsweise enger Feindbegriff, der im Wesentlichen auf die Repräsentanten des angegriffenen politischen Systems oder bestimmte Personengruppen (­Politiker,

7Waldmann

(1998). (1992, S. 166). 9Ebd., S. 167. 10Jenkins (1975). 8Münkler

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Wissenschaftler) begrenzt ist, in gewissem Maße gewaltbeschränkend.11 Mit einem vergleichsweise weit gefassten Feindbegriff operieren dagegen religiös, bzw. pseudo-religiös motivierte Gruppierungen, deren Agenda etwa die Vernichtung von „Ungläubigen“, die Errichtung von Theokratien oder die Einführung bestimmter religiöser Gebote zum Ziel hat. Potenzielle Gewaltadressaten sind somit ganze Gesellschaften, die entweder einem „falschen“ Glauben anhängen oder sich der Apostasie schuldig gemacht haben. Hinzu kommt, dass religiös motivierte Gruppierungen einer Legitimation gegenüber einem diesseitigen Dritten nicht bedürfen und dem inhibitorischen Moment terroristischer Gewaltbeschränkung insoweit nicht unterliegen. Empirische Untersuchungen untermauern den Befund, wonach religiös konturierte Terrorismusformen offenbar besonders gewaltbereit sind.12 Derartig gestiegene terroristische Gewaltpotenziale koinzidieren heute mit der weltweiten Verfügbarkeit von Technologien und Wissen sowie mit Gefahren durch Proliferation von CBRN-Stoffen. Dies hat Befürchtungen wachsen lassen, wonach terroristische Gruppierungen versuchen könnten, sich CBRN-Tatmittel zu verschaffen.

2.4 CBRN-Tatmittel und terroristisches Kalkül Organisationen wie Al-Qaida oder der sog. Islamische Staat im Irak und in Syrien (ISIS) haben wiederholt öffentlich erklärt, am Erwerb insbes. einer nuklearen Fähigkeit interessiert zu sein und haben zu Anschlägen auch mit chemischen und biologischen Tatmitteln aufgerufen.13 Mehrere amerikanische Kongressabgeordnete erhielten im Jahr 2001 Briefe, die Milzbrandsporen enthielten und der japanischen Gruppierung Aum Shinrikyo gelangen in den 1990er Jahren zwei Anschläge mit dem (selbst synthetisierten) Nervenkampfstoff Sarin. Obwohl sich ein Anschlag mit MVW bis zum heutigen Tag nicht ereignet hat, existiert mittlerweile ein gewisser Bestand an Fällen, in denen terroristisch motivierte Gruppierungen oder Einzeltäter unterschiedlich erfolgreiche Anstrengungen unternommen haben, in den Besitz von CBRN-Tatmitteln zu gelangen.14 Für derartige Bestrebungen kommen unterschiedliche M ­ otivlagen

11Schneckener

(2002). (2009, S. 60). 13Litwak (2017, S. 55); Ackermann und Pinson (2014, S. 229 f.). 14Ellis (2014). 12Germann

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in Betracht: ­ Insbesondere der Einsatz einer MVW durch Terroristen würde neben den unmittelbar eintretenden Schäden ohne Zweifel nicht nur einen beispiellosen öffentlichen Aufmerksamkeitseffekt erzeugen, sondern auch nachhaltig „Angst und Schrecken“ auslösen. Letzteres wiegt umso schwerer, da Ängste vor Unbekanntem wie Toxinen, Krankheitserregern oder Radioaktivität in der Öffentlichkeit häufig stärker ausgeprägt sind, als es die davon ausgehende Gefährdung objektiv rechtfertigen würde.15 Durch Zerstörung von Agrarprodukten, Kontamination von Arzneimitteln oder durch Infizierung von Nutzvieh mit Krankheitserregern könnten Terroristen zudem erhebliche disruptive Effekte erzielen und so Wirtschaftskreisläufe u. U. erheblich beeinträchtigen. Eine Reihe von Staaten, darunter die USA und Russland, hat sich ausdrücklich vorbehalten, im Falle von CBRN-Anschlägen durch Private auch Nuklearwaffen gegen die Täter einzusetzen.16 Hinter derartigen Absichtserklärungen steht neben dem politisch-deklaratorischen Element die hoffnungsvolle Vorstellung, dass es für einen substaatlichen Akteur letztlich unattraktiv sein müsse, insbesondere die mit einer Beschaffung von MVW verbundenen Risiken einzugehen, da er sich mit einer solchen Fähigkeit unweigerlich in die hergebrachte Abschreckungslogik begäbe und damit nach einem „Erstschlag“ sicher mit der eigenen Vernichtung rechnen müsse. Aus diesem Grund könnten Terroristen eine tatsächlich vorhandene CBRN-/ MVW-Fähigkeit niemals zu offensiven Zwecken nutzen, sofern sie als strategische Akteure fortbestehen wollten. Die Frage nach einer potenziellen Abschreckbarkeit von Terroristen ist sowohl von theoretischem als auch von empirischem Interesse. Aus theoretischer Sicht ist zu fragen, ob die Theorie der (nuklearen) Abschreckung insoweit modifizierbar ist, um sie auf die Auseinandersetzung zwischen Staaten und Privaten anwendbar zu machen. Falls Terroristen einem Abschreckungsmechanismus tatsächlich unterliegen können, so ist aus empirischer Perspektive nach den konkreten politischen Maßnahmen zu fragen, die möglichst sicher zur Etablierung eines solchen Mechanismus führen. Andreas Wenger und Alex Wilner konnten zeigen, dass eine Anpassung der theoretischen Grundlagen, wenn auch unter Inkaufnahme einiger Schwierigkeiten, unter der Voraussetzung gelingen kann, dass betroffene politische Systeme über besonders tief gehende Kenntnisse hinsichtlich ihrer terroristischen Gegner ­verfügen.17 Probleme ergeben sich vor allem aus dem

15Stern

(1999, S. 32). (2009, S. 210). 17Wenger und Wilner (2012). 16Paul

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Umstand, dass für eine wirksame Abschreckung zwischen den Betroffenen Kommunikation unabdingbar ist. Diese verliert jedoch in dem Maß an Wirksamkeit, wie seitens der Beteiligten Inkongruenzen bezüglich ihrer jeweiligen Annahmen über die Realität bestehen. Hinzu kommt, dass auch rationales Verhalten nur bedingt rational sein kann, da Menschen – politischer Entscheidungsträger wie Terrorist – Entscheidungen niemals ausschließlich auf der Grundlage von Kosten-Nutzen-Kalkülen treffen, zumal sich Rationalitäten und Emotionen über verschiedene Kulturräume hinweg deutlich voneinander unterscheiden können. Eine wirksame Abschreckung verlangt ferner Kenntnisse über die Urheberschaft eines Anschlags (oder seiner Planung) und bedarf zudem einer glaubwürdigen Drohung mit Vergeltungsmaßnahmen. Da weder Täterschaft noch Tatvorbereitung stets sicher feststehen und die Frage nach militärischer Vergeltung gegenüber Privaten zudem ernste politische und (völker-)rechtliche Fragen aufwirft, ist eine Adaption der Abschreckungstheorie auf Konflikte zwischen Staaten und substaatlichen Akteuren nicht trivial und ihr Nutzen fraglich. Aber auch abseits des konkreten Einsatzes von CBRN-Tatmitteln können sich Terroristen entsprechende Dispositive nutzbar machen, etwa, um sich ein Druckmittel zur Erzwingung politischer Zugeständnisse zu verschaffen, den angeblich interessierten Dritten zu beeindrucken, gegenüber konkurrierenden Akteuren Prestige zu gewinnen oder um Ermittlungsbehörden abzuschrecken. Diese Ziele schließen nicht zwingend auch den tatsächlichen Einsatz eines CBRN-Tatmittels ein, weshalb auch solche Gruppierungen deren Erwerb erwägen könnten, die dem inhibitorischen Moment der Gewaltbeschränkung (noch) unterliegen. Da somit praktisch jedem terroristischen Akteur ein grundsätzliches Interesse an der Beschaffung von CBRN-Tatmitteln unterstellt werden muss, erscheint das Problem insgesamt ernst.18 Ihre Aneignung ist aber mit Hindernissen verbunden. Zunächst bestehen technische Hürden, die in Abhängigkeit von Art und Güte der angestrebten Fähigkeit unterschiedlich hoch ausfallen. Auch die Position, bzw. Rolle einer Terrorgruppe innerhalb eines politischen Systems kann sich hemmend auf Beschaffungsbestrebungen auswirken, nämlich dann, wenn sie dadurch beim angeblich interessierten Dritten in Misskredit gerät, etwa weil dieser eine solche Eskalation aus politischen Gründen nicht goutiert. Dieser Disziplinierungsmechanismus wirkt umso stärker, je ausgeprägter das Abhängigkeitsverhältnis zwischen „Vollmachtgeber“ und Gruppe ausfällt. Will ein terroristischer Akteur CBRN-­ Tatmittel tatsächlich einsetzen, so muss ihm zuvor die moralische Entkoppelung

18Germann

(2009, S. 75).

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von den Konsequenzen seines Handelns gelingen. Bezüglich des Einsatzes von Nuklearwaffen in zwischenstaatlichen Konflikten wird heute gemeinhin die Existenz eines Tabus, bzw. einer normativen Tradition des Nicht(erst)gebrauchs angenommen.19 Dass sich auch substaatliche Akteure, insbesondere solche, die dem inhibitorischen Moment der Gewaltbeschränkung nicht (mehr) unterliegen, an derartige soziale Normen gebunden fühlen, muss zumindest bezweifelt werden, zumal Terroristen sich typischerweise bewusst oder unbewusst psychologischer Techniken bedienen, um sich von eigenen Gewalttaten zu dissoziieren.20 Schließlich können organisationale Faktoren Terroristen im Wege stehen, etwa dann, wenn psychosoziale Dynamiken internen Dissens über die Frage einer Beschaffung von CBRN-Tatmitteln auslösen.21 Terroristische Akteure – formelle Gruppen, Netzwerke oder Einzeltäter – müssen also zunächst eine Reihe von Hindernissen überwinden, um in den Besitz von CBRN-Tatmitteln zu gelangen. Da keine dieser Hürden jedoch als unüberwindbar gelten kann, ist ein erfolgreicher Erwerbsversuch nicht sicher auszuschließen. Die Perspektive einer mit CBRN-Tatmitteln ausgestatteten Terrorgruppe kann sich somit theoretisch realisieren. Die Debatte um die potenziell katastrophalen Folgen eines Einsatzes von CBRN-Tatmitteln durch Terroristen hat die Literatur nicht zuletzt auch angesichts schmaler empirischer Bestände dazu veranlasst, verstärkt abstrakte Potenzialanalysen zu produzieren, um Eintrittsrisiken abzuschätzen und politische Entscheidungsträger bei der Allokation von Ressourcen bzw. deren Priorisierung zu unterstützen und aufgeklärte Entscheidungen über Art und Umfang zu treffender Sicherheitsvorkehrungen möglich zu machen. Solche Analysen stehen gleichwohl sämtlich vor dem Problem, dass ein terroristischer Einsatz von CBRN-Tatmitteln ein sog. Black Swan-Szenario darstellt, dessen Eintritt insgesamt zwar unwahrscheinlich, im Falle seiner Realisierung jedoch mit erheblichen Folgewirkungen verbunden wäre (auch: Low Probability High Risk-Bedrohung). Wissenschaftliche Methoden (z. B. die in den Finanzwissenschaften zur Risikoermittlung verbreitet zugrunde gelegte Normalverteilung) sind aber zur Ermittlung konkreter Eintrittswahrscheinlichkeiten grundsätzlich ungeeignet, wenn diese sehr klein sind oder sich auf Ereignisse beziehen, die sich dem bisherigen historischen, sozialen und technologischen Erfahrungshorizont entziehen.22

19Tannenwald

(2007); Paul (2009). (1999, S. 80–82). 21Taylor und Horgan (2006); McCauley und Moskalenko (2008). 22Taleb (2007). 20Stern

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3 Methodologie: Möglichkeiten und Grenzen des sicherheitspolitischen Risikomanagements Zwar hat der Einzug des Risikomanagements in das Instrumentarium der sicherheitspolitischen Analyse dem Forschungsfeld unabweisbar wertvolle Impulse versetzt. Neben unbestreitbaren Stärken besitzt das Konzept aber auch eine Reihe einzigartiger Schwächen, die dessen gegenwärtige Popularität relativieren müssen. Methodologische Probleme zeigen sich sowohl auf konzeptioneller als auch auf empirischer Ebene.

3.1 Konzeptionelle Probleme Sowohl in der Wirtschaft als auch in Politik und Verwaltung ist Risikomanagementsystemen die Prämisse gemein, wonach Unsicherheit alles menschliche Wissen bedingt, mit der Folge, dass Sicherheitsmaßnahmen stets unvollständig bleiben müssen, da sie aus Risikomanagementsystemen abgeleitet sind, die unter vielfältigen Unsicherheiten operieren.23 Aussagen über das Risiko terroristischer Aktivitäten übermitteln also typischerweise zugleich neue Unsicherheiten, da sie Behauptungen über kontingente, zukünftige Umstände enthalten, die bis zu ihrem Eintritt nicht vollständig bekannt sind und somit zugleich Wissen und Nicht-Wissen repräsentieren. Wie dargelegt funktioniert terroristische Gewalt vor allem über die Ungewissheiten, die mit der Frage über ihren Eintritt, ihre Häufigkeit sowie ihre Tragweite einhergehen. Damit führen ausgerechnet originäre Eigenschaften des Untersuchungsgegenstands dem Untersucher die Limitationen der eigenen Methode besonders eklatant vor Augen.24 Der Betrieb von Risikomanagementsystemen setzt ferner den Einsatz von Ressourcen voraus, weshalb nur eine begrenzte Anzahl von Risiken systematisch betrachtet werden kann, mithin eine Auswahl erfolgen muss. Ein solcher Priorisierungsprozess ist einerseits in sich kontingent, da die Auswahl von Risikoportfolios für gewöhnlich in ökonomisch und/oder politisch aufgeladenen Kontexten erfolgt und damit vor allem die Risikoperzeptionen der jeweiligen „Stakeholder“ reflektiert, ohne streng an probabilistischen Kriterien ­ausgerichtet zu sein.25 Andererseits bedeutet Priorisierung den Ausschluss aller

23Adams

(1995). (2006). 25Hacking (2003, S. 36 ff.). 24Ericson

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über die ausgewählten Risiken hinaus bestehenden potenziellen Risiken von einer Betrachtung. Risiken jedoch, denen keine Beachtung zukommt, produzieren neue Unsicherheit. Von Risikomanagementsystemen wie „RADR-iTE“ generierte Aussagen, mit dessen Hilfe das BKA seit 2016 versucht, die Gefährlichkeit von polizeilich bekannten und potenziell gewaltbereiten Personen des militant-salafistischen Spektrums einzuschätzen, bergen zudem die Gefahr falscher Entscheidungen infolge falsch-positiver oder falsch-negativer Beurteilungen.26 Im falsch-positiven Fall erfolgt die irrtümliche Identifizierung eines tatsächlich nicht bestehenden Risikos, woraufhin Maßnahmen ergriffen werden, die aber wirkungslos bleiben müssen. Im falsch-negativen Fall wird dagegen auf eigentlich gebotene Maßnahmen aufgrund des irrtümlichen Ignorierens eines realen Risikos verzichtet. Beide Probleme basieren auf der Tatsache, dass Wahrscheinlichkeiten lediglich Möglichkeiten anzeigen und die Auswahl von Risiken nicht objektiv sein kann. Ein prominenter falsch-negativer Fall ist der des Tunesiers Anis Amri, der am 19. Dezember 2016 bei einem islamistisch motivierten Anschlag auf die Besucher eines Weihnachtsmarkts in Berlin elf Menschen ermordete und weitere 55 zum Teil schwer verletzte. Amri war verschiedenen Sicherheitsbehörden im Vorfeld der Tat wegen unterschiedlicher Delikte bereits bekannt und wurde zudem als islamistischer Gefährder geführt. Nachdem eine Bewertung seiner Gefährlichkeit durch das Landeskriminalamt Berlin im Juni 2016 keine Hinweise auf das Bevorstehen einer schweren Straftat ergeben hatte, wurde die Beobachtung von Amri eingestellt.27 Eine typische Konsequenz aus Risikobewertungen ist der Einsatz von Technologie, mit deren Hilfe ein oder mehrere Risiken verringert werden sollen. Im Zusammenhang mit der Fahndung nach terroristischen Straftätern werden bspw. im Rahmen der intelligenten Videoanalyse vor allem an Verkehrsknotenpunkten Biometriesysteme eingesetzt, bzw. deren Einsatz erprobt. Eine Versuchsanordnung am Hauptbahnhof Mainz im Jahr 2007 produzierte verhältnismäßig zu viele Falschnegative, eine andere am Logan Airport in Boston fünf Jahre zuvor zu viele falsch-positive Ergebnisse, weswegen in beiden Fällen der Einsatz der Technik aufgegeben wurde.28 Der Gebrauch von Technologie zur Beherrschung von Risiken kann also nicht nur vergeblich sein, sondern der Umwelt u. U. sogar zusätzlich Unsicherheit hinzufügen.

26Bundeskriminalamt

(2017b). Tagesspiegel (2017). 28Tagesschau (2017); Boston.com (2003). 27Der

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Risikomanagementsysteme können zudem ungewollte Rückkoppelungen auslösen, da jeder Versuch sie reaktiver zu machen, dem interessierten Beobachter zugleich auch ihre Schwächen offenlegt. Terroristen können diese Schwächen dazu ausnutzen, um neue Risiken zu erzeugen. Der Organisationssoziologe Charles Perrow konnte zeigen, dass die meisten Hochrisikosysteme (z. B. Kernkraftwerke, Chemieindustrie, Flugsicherung, Raumfahrt, Gentechnologie) spezifische Eigenschaften besitzen, die unabhängig von ihren manifesten Gefahren Katastrophen geradezu unausweichlich machen, da aufgrund deren hoher Komplexität sowie infolge von ausgeprägten Interdependenzen zwischen einzelnen Komponenten auch Störungen in unvorhersehbarer Weise miteinander interagieren können, was im ungünstigsten Fall zu sog. normalen Unfällen führt.29 Obwohl das Risiko einer erheblichen terroristischen Gewalttat gegen die USA durch Al-Qaida bekannt war und daher Sicherheitsvorkehrungen zur Reduzierung dieses Risikos aktiv waren, konnten die Anschläge vom 11. September 2001 nicht verhindert werden.30 Zwar waren alle Elemente des Risikomanagements intakt (Luftsicherheitstechnik an Flughäfen, Flugsicherung, Luftraumüberwachung). Das Gesamtsystem war gleichwohl nicht in der Lage, einzelne Befunde logisch miteinander zu verknüpfen und so die Absichten der Täter rechtzeitig zu erkennen. Das Phänomen der normalen Unfälle kann insbesondere jene Organisationen, die aufgrund politischer Verantwortlichkeiten an der Aufrechterhaltung glaubwürdiger Kontroll- und Beherrschungsnarrative interessiert sind, zu der Schlussfolgerung verleiten, die Berücksichtigung jeder auch nur denkbaren Gefahr müsse zwangsläufig irgendwann zu einem lückenlosen und damit fehlerfreien Risikomanagement führen. Damit wird zum organisationalen Prinzip für ganze Institutionen erhoben, was lediglich bei der Organisation des Nicht-Organisierbaren helfen soll, woraus letztlich der Mythos entsteht, die Verfügbarkeit eines nur hinreichend fein granulierten Risikomanagements erlaube es, Entscheidungsverantwortlichkeiten für Situationen zu übertragen, die tatsächlich unentscheidbar sind.31 Die USA haben nach den Anschlägen vom 11. September 2001 mit zahlreichen innen- und außenpolitischen Initiativen weder ökonomische noch politische Kosten in der Hoffnung gescheut, ihre Sicherheitsumgebung beherrschbar zu machen und zu völliger Informationsbewusstheit zu gelangen. Wie dargelegt, erzeugt das Streben nach vollständiger Beherrschung

29Perrow

(1989). und Hamilton (2004). 31Power (2004, S. 10). 30Kean

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aller denkbaren Risiken aber lediglich neue Unsicherheiten. Die konzeptionelle Überdehnung des Instruments der Risikoanalyse sowie die an sie gestellten, unrealistischen Erwartungen seitens politischer Entscheidungsträger drängen ihre Praktiker zusehends in die Defensive. Michael Power vermutet, dass diese sich daher, um Schaden von sich bzw. der durch sie repräsentierten Organisation abzuwenden, potenziell eher prozeduralen und organisationalen Risiken zuwenden, also anstatt ein „reales“ Risiko zu managen, allenfalls Vorsorge dafür treffen, im Fall seines Eintritts darlegen zu können, sich an die einschlägigen Regularien gehalten zu haben.32 Dem Bericht der 9/11-Untersuchungskommission zufolge kann die Unfähigkeit der Sicherheitsbehörden, das Anschlagsgeschehen vom 11. September 2001 zu verhindern, jedenfalls teilweise mit deren defensiver Fokussierung auf das Management organisationaler Risiken erklärt werden.33 Kritisch zu bewerten ist schließlich das Risikobewertungen immanente Potenzial, für bestimmte Bevölkerungsgruppen diskriminierende und stigmatisierende Wirkungen zu entfalten und durch die Einschränkung von Grundrechten ganze Gesellschaften zu Adressaten von Verdachtgewinnungseingriffen zu machen.34 Neuere, auf die Gefahren von politisch motivierter Gewalt zielende Gesetzgebung ist typischerweise durch eine Vorverlagerung der Eingriffsschwelle (etwa für den Zugriff auf grundrechtlich geschützte Daten) charakterisiert, durch die sich eine Ausdehnung staatlicher Handlungsmöglichkeiten auf Kosten grundrechtlicher Freiheiten ergibt.35

3.2 Probleme der Empirie Risikomanagement im Zusammenhang mit dem terroristischen Einsatz von CBRN-Tatmitteln unterscheidet sich vom Management anderer Risiken in zweifacher Hinsicht: Einerseits würde etwa der Einsatz einer MVW durch Terroristen gegen eine Großstadt katastrophale Folgen haben. Andererseits konnte bis zum heutigen Tage kein solcher Fall beobachtet werden. Neben weiteren Faktoren, deren Berücksichtigung zwar zwingend wäre, Untersuchungen jedoch

32Ebd.,

S. 40. und Hamilton (2004, S. 93, 136). 34Zum Verdachtgewinnungseingriff siehe Gusy (2006, S. 115). 35Isensee (2004, S. 96). 33Kean

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rasch ü­ berkomplex werden lässt, stehen einschlägige Risikoanalysemodelle also vor allem vor dem Problem, aufgrund fehlender Ereignisse grundsätzlich nicht validierbar zu sein.36 Durch Validierung soll sichergestellt werden, dass ein Modell das Verhalten des Realsystems hinreichend genau und fehlerfrei abbildet, mithin für die Aufgabenstellung überhaupt geeignet ist: „Are we creating the right X?“.37 Um komplexe Modelle auf ihre Geeignetheit hin überprüfen zu können, ist es also erforderlich, empirisch gewonnene Daten mit den Vorhersagen dieser Modelle zu vergleichen. Eine Abwesenheit empirischer Befunde zwingt somit jedes noch so sorgfältig formulierte Modell in die Defensive. Gleichzeitig besteht vor allem angesichts der potenziell extremen Folgewirkungen eines Anschlags mit CBRN-Tatmitteln ein ausgeprägtes Bedürfnis nach entsprechenden Modellierungen. Zur Lösung dieses Problems ist vorgeschlagen worden, die Validierung von Modellen auf dem Sektor der Analyse von Gefährdungen durch Terrorismus mit CBRN-Tatmitteln nicht länger an deren Korrelation mit beobachtbaren Ereignissen zu knüpfen. Stattdessen seien sie auf ihre Eignung hin zu überprüfen, Entscheidungsträger bei der Entscheidungsfindung zu unterstützen. Eine solche Eignung kann demnach dann angenommen werden, wenn der Validationsmechanismus zwei Bedingungen erfüllt: Erstens muss die Validierung insoweit an die Realität anknüpfen, als dass sie in Ermangelung empirischer Ereignisse zumindest alle beobachtbaren sonstigen Aspekte („cues“) gewissermaßen als Teilereignisse betrachtet. Obwohl die Analyse dieser Aspekte nicht zur vollständigen Modellierung eines Risikos führen kann, erlaubt sie doch Rückschlüsse auf den Prozess seiner Entstehung. Aus diesem Grund muss zur Validierung zweitens von einem Modell gefordert werden, dass es jene Aspekte des Risikoentstehungsprozesses in den Blick nimmt, die in der Realität zugänglich sind und deren Modellierung unter bestmöglicher Nutzung verfügbarer Daten zur bestmöglichen Fundierung eines Risikomanagements beiträgt.38

36Hierzu zählen insbes. valide Annahmen über immer noch unterbelichtete Aspekte terroristischer Entscheidungspraxis in Abhängigkeit unterschiedlicher (sub-)kultureller Bedingungen sowie robuste spieltheoretische Modellierungen der Gegnerkonstellation. 37Balci (2003, S. 150). 38Lathrop und Ezell (2016, S. 663 f.).

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3.3 Sicherheitspolitik als Risikomanagement Ulrich Beck hat auf den Umstand aufmerksam gemacht, dass im Bewusstsein moderner Gesellschaften, die infolge der Konfrontation mit unkontrollierbaren und unvorhersehbaren Gefahren zu „Risikogesellschaften“ geworden sind, zukünftige Ereignisse die Vergangenheit als Determinante für gegenwärtiges Handeln ablösen. Politische (und persönliche) Entscheidungen der Gegenwart basieren damit auf projizierten Gefährdungen der Zukunft, womit etwas „Nichtexistentes, Konstruiertes, Fiktives“ das gegenwärtige Erleben und Empfinden von Menschen prägt.39 Mit transnational operierendem Terrorismus als weiterer Manifestation einer „Weltrisikogesellschaft“ erscheint es mehr denn je notwendig, Sicherheit als eine Form des Risikos und Sicherheitspolitik als das Management dieser Risiken zu begreifen.40 Weil politischer Erfolg damit fundamental von erfolgreichem Risikomanagement abhängt, bzw. beides ineinander übergeht, haben Strategien des Risikomanagements Einzug in Praxis und Analyse gehalten. Sicherheitspolitische Risikoanalysen können trotz vielfältiger methodologischer Schwächen Entscheidungsträger bei der Identifizierung und Priorisierung von Handlungsbedarfen unterstützen. Sie verkehren aber auch die Kausalität des politischen Diskurses, in dem nicht gegenwärtiges Handeln zukünftige Resultate bedingt, sondern zukünftige Resultate gegenwärtiges Handeln produzieren.

4 Abstrakte Risikoanalyse für CBRN-Tatmittel im Kontext Politisch Motivierter Kriminalität Reiht man CBRN-Tatmittel nach ihrer Eignung für den terroristischen Einsatz. bzw. nach ihrem Droh- und Erpressungspotenzial für den Fall eines „strategischen Nichteinsatzes“, so ist zuerst nach ihrer theoretischen Gefährlichkeit, mithin ihrer Letalitätswirkung zu fragen. Damit ist zunächst der Teilbereich der MVW zu betrachten. Deren Zerstörungs- bzw. Tötungspotenzial nimmt von Nuklearwaffen über biologische hin zu chemischen Waffen ab. Da improvisierte Nuklearsprengkörper sowie improvisierte Strahlungswaffen mit Nuklearwaffen jedenfalls wesensverwandt sind und zudem vielfältige technische Redundanzen bestehen, empfiehlt sich eine gruppierte Abhandlung, auch wenn dies zur Folge

39Beck 40Beck

(2003, S. 44). (2002).

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hat, dass insoweit von der durch die Abkürzung CBRN insinuierten Betrachtungsreihenfolge abgewichen werden muss.

4.1 Nuklearwaffen, improvisierte Nuklearsprengkörper und improvisierte Strahlungswaffen Nuklearwaffen zeichnen sich vor allem durch ihre Letalitätswirkung aus, die im Vergleich zu anderen Waffenkategorien unerreicht ist. Für einen terroristischen Akteur, der an der Erzeugung hoher Opferzahlen interessiert ist, können sie somit grundsätzlich von Interesse sein. Der Umstand, dass ihre Aneignung objektiv außerordentlich voraussetzungsvoll ist, erzeugt Ambivalenzen, da er zwar einerseits Gruppierungen dazu veranlassen kann, ein derartiges Unterfangen als mutmaßlich hoffnungslos aufzugeben, zugleich aber solche Gruppierungen besonders motivieren kann, die an einer Steigerung ihres Prestiges interessiert sind. In geringerem Maße gilt dies auch für Improvisierte Nuklearsprengkörper (Improvised Nuclear Device, IND), die jedenfalls auf den gleichen technischen Prinzipien beruhen. Improvisierte Strahlungswaffen (Radiological Dispersion Device, RDD und Radiological Exposure Device, RED) können einfacher hergestellt, bzw. erworben werden, stehen aber hinsichtlich ihrer potenziellen Wirkungen hinter beiden Kategorien zurück.

4.1.1 Nuklearwaffen und improvisierte Nuklearsprengkörper Die Zerstörungswirkung von Nuklearwaffen basiert auf der schlagartigen Freisetzung großer Energiemengen in Form von Wärme und Radioaktivität. Diese Energie wird im Fall von Spaltungswaffen infolge der massenhaften Spaltung bestimmter Nuklide (Atomkerne mit einer bestimmen Anzahl von Protonen und Neutronen) durch Neutronen und im Falle von Fusionswaffen (auch: Thermonuklearwaffen) durch Verschmelzung von Wasserstoffisotopen erzeugt.41 Neben verschiedenen Problemen insbes. der Zündtechnik ist für die Herstellung einer Nuklearwaffe die Verfügbarkeit einer bestimmten Menge geeigneter Spaltmaterialien unabdingbar (sog. kritische Masse). Diese müssen in möglichst reiner Form vorliegen, um die angestrebte prompte Überkritikalität der Anordnung verlässlich eintreten zu lassen. Als geeignete Spaltnuklide finden heute hoch angereichertes Uran (HEU) oder Plutonium 239 (239Pu) Verwendung, obwohl

41Zu

nuklearem Design siehe weiterführend Cirincione et al. (2005, S. 45–54).

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auch die Transurannuklide Neptunium 237 (237Np) und Americium 242 (242Am) eine Kettenreaktion aufrechterhalten können und somit in einer Nuklearwaffe funktionieren würden.42 Die Internationale Atomenergieorganisation (IAEA) publiziert Richtwerte für die zur Konstruktion einer Spaltungswaffe erforderlichen kritischen Massen und spezifiziert die „signifikanten Mengen“ auf ca. 25 kg HEU, bzw. acht Kilogramm 239Pu. Diese Mengen können in Abhängigkeit von Materialqualität, Geometrie und Verarbeitungsverfahren jedoch auch geringer ausfallen.43 Angaben über Mindestmengen unterliegen in allen Kernwaffenstaaten der Geheimhaltung. Terroristen könnten sich Nuklearwaffen durch Eigenbau, illegalen Handel, Diebstahl oder im Wege der freiwilligen Überlassung durch einen staatlichen Sponsor verschaffen. Die Funktionsprinzipien von Kernwaffen sind heute infolge der Ausstufung vieler Quellen in wesentlichen Teilen öffentlich bekannt, womit sich Probleme der Herstellung auf Spezifika der Ingenieursebene reduzieren. Militärische Nuklearwaffen bleiben jedoch hochgradig komplexe Gebilde und ihre Produktion ist selbst für Staaten schwierig. Sie basieren auf in langen Forschungs- und Entwicklungszyklen gewachsenen Designs, welche im Versuch vielfach erprobt worden sind. Nuklearwaffen sind darüber hinaus in vielerlei Hinsicht optimiert, indem die kritische Masse minimiert, die Explosionsenergie präzise vorausberechnet und verschiedene Sicherheitsvorrichtungen gegen unbeabsichtigtes oder unbefugtes Zünden integriert sind. Nuklearwaffen sind zudem widerstandsfähig gegen Hitze, Druck und Radioaktivität, wodurch die Möglichkeit eröffnet wird, sie mittels eines ballistischen Flugkörpers ins Ziel zu bringen. In der einschlägigen Literatur wird daher vermutet, dass ein substaatlicher Akteur im Gegensatz dazu allenfalls in der Lage sein könne, einen einfachen Nuklearsprengkörper zu konstruieren, der zunächst nur die Fähigkeit besäße, eine Kettenreaktion zu erzeugen und damit eine Kernexplosion auszulösen.44 Ein solches IND

42242Am wird aufgrund seiner geringen Verfügbarkeit und der daraus resultierenden Kosten weder in der Kernwaffenproduktion noch im zivilen Brennstoffkreislauf eingesetzt. Seine kritische Masse ist mit 9–14 kg allerdings relativ gering, sodass die Konstruktion sehr kompakter Anordnungen möglich wäre. Dass 237Np nicht in Nuklearwaffen verwendet wird, hat historische Gründe. Das Nuklid fällt in Kernreaktoren an und wird in Radionuklidbatterien sowie in Neutronendetektoren verwendet, seine kritische Masse liegt bei ca. 60 kg. Joseph Cirincione et al. haben insoweit zu Recht auf eine zumindest von 237Np ausgehende Proliferationsgefahr hingewiesen, vgl. Cirincione et al. (2002, S. 36). 43Cole (2011, S. 36). 44Kelle und Schaper (2001).

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wäre nicht optimiert, hätte ein vergleichsweise einfaches Design, benötigte große Mengen spaltbaren Materials und besäße in der Konsequenz eine so große Masse, dass es nur per Lastwagen, Schiff oder Flugzeug, nicht aber mit einer ballistischen Rakete transportiert werden könnte. Zieht man die hohen Entwicklungskosten in Betracht, so kann angenommen werden, dass ein IND zudem nicht erprobt worden ist, was einen Einsatzerfolg unsicher erscheinen ließe. Sofern man Terroristen ein grundsätzliches Interesse unterstellt, eine zur Durchsetzung von Forderungen ausgesprochene Androhung auch tatsächlich umsetzen zu können, erscheint die Verwendung eines ungetesteten IND zu diesem Zweck wenig attraktiv. Die conditio sine qua non sowohl der Nuklearwaffen- als auch der IND-Produktion besteht wie dargelegt in der Verfügbarkeit geeigneter Spaltstoffe. Diese Materialien kommen in der Natur jedoch nicht vor, sondern müssen in technisch aufwendigen Verfahren erst hergestellt werden, wozu eine komplexe Infrastruktur industriellen Ausmaßes erforderlich ist.45 Der Aufbau solcher Anlagen dürfte jeden Akteur, der nicht über die Ressourcen eines Staats verfügt, vor unlösbare Probleme stellen, zumal auch deren Betrieb nicht unbemerkt bleiben kann, da die HEU-, bzw. Plutoniumproduktion messbare Emissionen erzeugt, deren vollständige Abschirmung unmöglich ist. Die Eigenproduktion einer Nuklearwaffe i. S. eines Durchlaufens des klassischen Produktzirkels (Forschung, Entwicklung, Erprobung, Produktion) einschließlich der autonomen Herstellung aller erforderlichen Materialien durch eine terroristische Organisation kann somit ausgeschlossen werden. Wahrscheinlicher ist, dass Interessenten versuchen werden, sich relevante Nuklide oder gar vollständige Waffensysteme durch illegalen Handel oder durch Diebstahl, bzw. Raub zu beschaffen. Die Existenz grauer, bzw. schwarzer Märkte für Nuklearmaterial wird gemeinhin angenommen und mit Hinweis auf die chronische Unterfinanzierung des post-sowjetischen Nuklearkomplex sind wiederholt Befürchtungen vorgetragen worden, dieser müsse für illegale Abzweigungen, bzw. für Diebstähle als besonders anfällig gelten.46 Tatsächlich sind den Strafverfolgungsbehörden im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vermehrt Sachverhalte bekannt geworden, in denen radioaktive Materialien zum Kauf angeboten wurden.47 ­Seitdem konnten immer wieder Fälle von Schmuggel oder Diebstahl dokumentiert werden.48 Zwar

45Zur

Produktion von HEU werden kaskadenartige Gaszentrifugenanlagen, zur Produktion von 239Pu Brutreaktoren und Wiederaufarbeitungsanlagen benötigt. 46Germann (2009, S. 77). 47Mattausch (1994). 48Zwischen 1993 und 2013 sind weltweit 419 Fälle bekannt geworden, vgl. Koren (2013).

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wurden in keinem dieser Fälle spaltbare Materialien in Mengen entwendet, welche die Realisierung uran- oder plutoniumbasierter Anordnungen ermöglicht hätten. Es ist jedoch auch im Deliktbereich der Nuklearkriminalität von der Existenz eines Dunkelfelds auszugehen. Bis heute ist bspw. nicht bekannt, ob mutmaßliche Beschaffungsbemühungen von Al-Qaida um HEU in Südafrika Mitte der 1990er Jahre erfolgreich verlaufen sind oder ob im Jahre 1997 tatsächlich bis zu 100 tragbare, taktische Nuklearwaffen (sog. Rucksackbomben) mit einer Sprengkraft von je einer Kilotonne TNT-Äquivalent aus den Beständen des russischen Militärnachrichtendiensts GRU abhanden gekommen sind.49 Sollten tatsächlich solcherlei vagabundierende Nuklearwaffen (sog. loose nukes) auf grauen bzw. schwarzen Märkten zirkulieren, so kann angenommen werden, dass diese Systeme gegen unbefugtes Zünden gesichert sind. Einem terroristischen Akteur bliebe damit nur die Möglichkeit einer (nicht ungefährlichen) Zerlegung, um an das Spaltmaterial zu gelangen. Dieses wiederum unterliegt kernchemischen Abbauprozessen und muss regelmäßig erneuert werden, was für Waffensysteme außerhalb staatlicher Obhut aber kaum anzunehmen ist. Unter diesen Bedingungen würde bei einer Zündung nur noch eine vergleichsweise geringe Energiemenge freigesetzt werden. Zu den materiellen Proliferationsgefahren treten allerdings Gefahren vagabundierenden Know-hows hinzu. Allein im Kernwaffenprogramm der Sowjetunion waren 900.000 Personen tätig, von denen 10.000–15.000 mutmaßlich konkrete Beiträge zu einem Eigenbau liefern könnten.50 Bis heute liegen soweit ersichtlich keine Erkenntnisse über einen erfolgreich verlaufenen, illegalen Erwerb einer einsatzbereiten Nuklearwaffe bzw. von größeren Spaltmaterialmengen vor. Auch vor dem Hintergrund der vielfältigen technischen Probleme bei einer Verwertung derartiger Ankäufe erscheint die Verwendung einer illegal beschafften Nuklearwaffe, bzw. ihrer Bestandteile zweifelhaft, wenngleich nicht ausgeschlossen. Anlagen, in denen Nuklearwaffen bereitgehalten oder gelagert werden, sind militärisch bewachte, hochsensible Bereiche, zu denen sich ein terroristischer Akteur nur unter größten Schwierigkeiten Zugang verschaffen könnte. Zieht man allerdings das gegenwärtige operative Potenzial bestimmter transnationaler Netzwerke in Betracht (quasi-infanteristische Ausbildung, automatische ­Waffen, Sprengstoffe, ballistische Schutzausstattung, ggf. Bereitschaft zur Aufgabe des eigenen Lebens), so erscheint die Möglichkeit einer größeren Operation mit dem mit Ziel, in eine solche Einrichtung gewaltsam einzudringen und eine Nuklearwaffe zu entwenden, jedenfalls nicht völlig ausgeschlossen, zumal stets mit einer Unterstützung durch mögliche Innentäter gerechnet werden muss. Im

49Stern

(1999, S. 58–60). (1994, S. 464).

50Mattausch

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Zusammenhang mit Diebstählen von Spaltmaterialien aus zivilen Produktionsund Lagerstätten (insbes. Kernkraftwerken und Wiederaufarbeitungsanlagen) kam die US-amerikanische Nuclear Threat Initiative in einer Untersuchung aus dem Jahr 2016 zu dem Ergebnis, dass von den weltweit 24 Staaten, in denen relevante Mengen von Spaltnukliden gelagert werden, lediglich der Hälfte adäquate Sicherheitsbedingungen bei der Aufbewahrung zu attestieren seien, woraus ein abstraktes Risiko für Diebstähle resultiere.51 Die im Vergleich zu militärischen Einrichtungen weniger robusten Sicherheitsvorkehrungen machen kommerzielle kerntechnische Anlagen zudem grundsätzlich anfälliger gegenüber Überfällen. Insgesamt kann eine positive Korrelation zwischen der Unterhaltung (ziviler und/oder militärischer) Nuklearprogramme und dem Engagement terroristischer Organisationen um CBRN-Tatmittel angenommen werden, da die Existenz kerntechnischer Infrastrukturen mit hoher Wahrscheinlichkeit das terroristische ­Kosten-Nutzen-Kalkül beeinflusst.52 Schließlich ist die Möglichkeit einer vorsätzlichen Überlassung von Nuklearwaffen zu betrachten. Staaten könnten sich terroristischer Organisationen bedienen, um einem (gemeinsamen) Gegner im Schutze der Anonymität einen Nuklearschlag beizubringen, ohne militärische Vergeltung befürchten zu müssen. Ziel der Nonproliferationspolitik vieler Staaten ist neben der Kontrolle, bzw. der Verhinderung der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen zwischen Staaten daher vor allem auch die Verhinderung der Weitergabe von Nuklearwaffen durch Staaten an substaatliche Akteure. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Weitergabe an Private wird in der Literatur nicht zuletzt aufgrund fehlender empirischer Befunde uneinheitlich bewertet.53 Insgesamt jedoch scheinen die Nachteile einer solchen Strategie ihre Vorteile zu überwiegen, da weder die Überlasserstaaten, noch die in ihrem Auftrag agierenden Organisationen mit hinreichender Sicherheit darauf vertrauen können, dass ihre Anonymität dauerhaft gewahrt bleibt.54

51Nuclear

Threat Initiative (2016). et al. (2013). 53Für einen Überblick siehe Keir A. Lieber und Daryl G. Press (2013). 54Keir A. Lieber und Daryl G. Press konnten unter Zuhilfenahme von Daten aus konventionellen Anschlägen zeigen, dass Attributionsraten von 66 bis 97 % möglich sind (ebd., S. 83 f.). Hinzu kommt, dass nur wenige Staaten Terroristen unterstützen, somit wenige terroristische Organisationen überhaupt über staatliche Sponsoren verfügen und jede unterstützte Organisation typischerweise nur einen Sponsor besitzt. Lediglich zwei Staaten, von denen angenommen werden kann, dass sie terroristische Organisationen unterstützen, besitzen zudem Nuklearwaffen (Pakistan und Nordkorea). Ob der Iran, dem die Unterstützung unterschiedlicher terroristischer Gruppierungen im Nahen Osten (Hisbollah, Hamas) vorgeworfen wird, über einsatzbereite Nuklearwaffen verfügt, ist gegenwärtig unklar. 52Early

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Hinzu kommt das grundsätzlich ambivalente Verhältnis von staatlichen Sponsoren und terroristischen Akteuren. Letztere bemühen sich mit Blick auf die eigene Agenda generell um ein Maximum an Autonomie und scheuen die politischen Abhängigkeiten, die eine staatliche Unterstützung mit sich bringt. Demgegenüber muss der Sponsor an einem möglichst wirksamen Anweisungsverhältnis interessiert sein, um die Gruppierung für seine Zwecke nutzbar zu machen und Alleingänge zu unterbinden. Da die Zusammenarbeit zwischen Sponsor und Terrorist somit nur aufgrund von Interessenüberschneidungen, nicht aber auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens erfolgt, gefährdet sich der Sponsor mit einer Überlassung letztlich selbst, da er einerseits die Weitergabe an Dritte nicht sicher verhindern und andererseits nicht ausschließen kann, dass durch unsachgemäßen Umgang mit Nuklearwaffen, die sich außerhalb seiner Obhut befinden, Unfälle verursacht werden, die das eigene Staatsgebiet bedrohen können. Solange Staaten in erster Linie an ihrem institutionellen Überleben interessiert sind, kann eine Weitergabe von Nuklearwaffen an Terroristen als wenig wahrscheinlich gelten.55

4.1.2 Improvisierte Strahlungswaffen Improvisierte Strahlungswaffen geben radioaktive Stoffe in die Umwelt ab. In der auch als „schmutzige Bombe“ (dirty bomb) bezeichneten Konstruktionsvariante (RDD) bestehen sie aus einer Menge konventionellen Sprengstoffs, der von radioaktiven Materialien, die in Pulver- oder Kugelform sowie bei technisch höheren Varianten in Form radioaktiver Gase vorliegen, umgeben ist. Der Grad der durch ein RDD verursachten radioaktiven Kontamination ist abhängig von der erzeugten Sprengkraft, der Radioaktivität der beigeladenen Nuklide sowie von einer Reihe exogener Faktoren wie Tageszeit, Witterungsbedingungen und Art und Umfang von Bebauung.56 Die Freisetzung ionisierender Strahlung kann auch durch explosionslose Mechanismen erfolgen, etwa durch das Versprühen radioaktiver Flüssigkeiten. Von RDD abzugrenzen sind versteckt positionierte Strahlenquellen, die infolge fehlender oder nur teilweiser Abschirmung unbemerkt signifikante Mengen ionisierender Strahlung in die Umwelt abgeben (RED). Zur Kontamination von Mensch und Umwelt eignen sich vor allem starke Gammastrahler wie Kobalt 60 (60Co), Caesium 137 (137Cs) oder Strontium 90 (90Sr). Auch die Dispersion von Alphastrahlern wie Americium 241 (241Am) kann für terroristische Zwecke in Betracht kommen, da diese nach Inkorporation

55Germann 56Reshetin

(2009, S. 30–32). (2005).

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erhebliche Zellschäden anrichten und Tumorerkrankungen auslösen können. Diese Nuklide besitzen jeweils ausgeprägte Dual-Use-Eigenschaften, da sie in der Nuklearmedizin („Kobaltkanone“), zur Sterilisation von Arzneimitteln, als industrielle Prüfstrahler, in Radionuklidbatterien sowie in geringen Mengen auch in Alltagsgegenständen (z. B. in Ionisationsrauchmeldern) zum Einsatz kommen und oft nur verhältnismäßig schwacher Sicherung unterliegen.57 Die Ereignisse im Zusammenhang mit einem Unfall mit einer 137Cs-Quelle im September 1987 in der brasilianischen Stadt Goiania zeigen, dass mit einem Einsatz von RDD oder RED neben den unmittelbaren Schädigungswirkungen und der Destabilisierung des öffentlichen Lebens auch erhebliche ökonomische Folgewirkungen einhergehen können.58 Mittlerweile sind mehrere Fälle bekannt geworden, in denen terroristische Organisationen versucht haben, RDD einzusetzen. Im bekanntesten Fall verbaute eine tschetschenische Gruppierung im Jahr 1995 eine kleine Menge 137Cs mit konventionellem Sprengstoff zu einem RDD und vergrub die Anordnung in einem Moskauer Park. Anschließend informierte die Organisation die Medien über den Ort des Verstecks, sodass die Konstruktion aufgefunden und entschärft werden konnte. Im Jahr 2002 wurde bekannt, dass ein der Al-Qaida-Mitgliedschaft verdächtigter US-amerikanischer Staatsbürger wegen des Vorwurfs, er habe einen Anschlag mit einem RDD geplant, festgenommen worden war.59 RDD sind für Terroristen aufgrund ihrer verhältnismäßig wenig voraussetzungsvollen Herstellung sowie ihrer potenziell erheblichen physischen und psychischen Wirkungen grundsätzlich attraktive Tatmittel. In der Praxis ergeben sich allerdings auch Schwierigkeiten: Zunächst müssen geeignete Nuklide, bzw. Strahlenquellen durch Diebstahl oder Schmuggel beschafft werden, was mit einem Ermittlungsrisiko einhergeht. Im Rahmen des Zusammenbaus der Anordnung bestehen zudem erhebliche Strahlungsrisiken für den Durchführenden, da das radioaktive Material verschiedenen, vorbereitenden Prozeduren unterzogen werden muss. Hinzu kommt, dass die Halbwertzeit der meisten

57Das

Problem zurückgelassener bzw. nicht oder nur unzureichend dokumentierter zum Betrieb von Leuchttürmen und Wetterstationen in abgelegenen Regionen Russlands erscheint insoweit ernst. Mit erheblicher finanzieller Unterstützung aus dem Ausland haben die russischen Behörden bei der Lokalisation und Bergung derartiger Vorrichtungen zuletzt jedoch offenbar Fortschritte erzielen können, vgl. Digges (2015). 58International Atomic Energy Agency (1988). 59Jose Padilla wurde 2007 zu einer 21-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt, war jedoch nicht wegen des Verdachts der Planung eines Anschlags mit einem RDD angeklagt. 90Sr-Radionuklidbatterien

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kommerziellen Radionuklide für den Verbau in einem RDD zu kurz und ihre Strahlungsintensität ohnehin zu niedrig ist.60 Insbesondere mit langsam zerfallenden Gammastrahlern lassen sich jedoch durchaus großflächige und lang anhaltende Kontaminationen erreichen. Da deren Beschaffungsprognose jedenfalls im Vergleich zu der für spaltbares Material günstiger ausfällt, ist die Aussicht auf Anschläge mit RDD bzw. RED insgesamt ernst.

4.2 Biologische Waffen, Toxine und Pathogene Der Einsatz von Krankheitserregern in kriegerischen Auseinandersetzungen kann bis in die Antike zurückverfolgt werden und seit dem 20. Jahrhundert haben Staaten z. T. erhebliche Anstrengungen unternommen, um sich Arsenale von biologischen Waffen zu verschaffen.61 Diese setzen pathogene Mikroorganismen (Bakterien, Viren, Protozoen und Pilze) bzw. von diesen produzierte Gifte frei, um bei Mensch, Tier oder Pflanze Krankheit oder Tod zu bewirken. Im Gegensatz zu unbelebten Toxinen, die jenseits der ihnen ausgesetzten Population keine Wirkung entfalten können, bestehen mikrobiologische Kampfstoffe aus lebenden Erregern, die sich vermehren und hochgradig infektiöse Krankheiten auslösen (Milzbrand, Pest, Tularämie, Fleckfieber, etc.). Im Allgemeinen wird die Letalität im Verhältnis zur Ausbringungsmenge bei biologischen Waffen höher angesetzt, als bei allen anderen CBRN-Tatmitteln, da sich Erreger innerhalb des Wirts reproduzieren und somit bereits kleine Stoffmengen genügen, um große Populationen zu infizieren. Viele der verwendeten Pathogene und Toxine wie etwa Milzbrand, das bakterielle Toxin Botulin oder das aus dem Samen der Rizinuspflanze gewonnene Gift Rizin sind durchaus tödlich, sofern sie in Aerosolform in die Lunge eines ungeschützten Lebewesens gelangen. Von den vielen in der Natur vorkommenden Organismen und Toxinen sind allerdings lediglich zwischen 30 und 60 für eine Verwendung in biologischen Waffen geeignet, sofern man von exotischen Substanzen wie bestimmten Tiergiften absieht, die zwar häufig giftiger als Chemikalien sind, sich gleichwohl allenfalls als Mordwaffen, nicht aber zur flächendeckenden Tötung einer Vielzahl von Menschen oder Tieren eignen.62

60Palmore

(2003). ehemalige Sowjetunion hat zwischen 1945 und 1990 offenbar ein besonders ambitioniertes System der biologischen Kriegführung betrieben, siehe hierzu Alibek (1999). 62Ellis (2014). 61Die

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In jüngerer Vergangenheit ist eine Reihe von Versuchen durch nichtstaatliche Akteure zu verzeichnen, sich pathogene Erreger zu verschaffen und improvisierte Ausbringungssysteme selbst herzustellen. So existieren etwa Hinweise auf Bemühungen durch Al-Qaida, sich das Ebolavirus zu verschaffen, welches hämorrhagisches Fieber auslöst. Auch die japanische Aum-Sekte soll versucht haben, über als humanitäre Hilfseinsätze legendierte Reisen in den Kongo im Jahr 1992 in den Besitz des Virus zu gelangen. Zudem betrieb Aum Shinrikyo ein gut ausgestattetes, geheimes Labor, in dem bis 1995 mutmaßlich Milzbranderreger und Botulin hergestellt worden waren und an Q-Fieber geforscht wurde.63 Bislang sind neben einer Reihe von Versuchen allerdings nur zwei Fälle von erfolgreichem Bioterrorismus bekannt geworden: Bereits 1984 gelang es einer pseudo-religiösen Sekte in den USA, 750 Menschen mit Salmonellen zu infizieren. Im Oktober 2001 erhielten mehrere US-Senatoren sowie verschiedene Nachrichtensender Briefe, die Milzbrandsporen enthielten. In der Forschung wird die Frage, wie wahrscheinlich ein terroristischer Anschlag mit einem biologischen Agens sei, bislang noch uneinheitlich beantwortet. In einem 2008 dem US-Kongress vorgelegten Bericht einer Expertenkommission kamen die Autoren zu dem Schluss, ein solcher Anschlag sei mit Blick auf technologische und materielle Vorbedingungen sowie angesichts wissenschaftlicher Fortschritte in der Biotechnologie insgesamt wahrscheinlicher als ein nuklearer und werde sich mutmaßlich bis spätestens zum Jahr 2013 realisiert haben.64 Eine andere Auffassung dämpft die Befürchtungen und hebt stattdessen technische Hürden hervor, die den Umgang mit pathogenen Erregern für Akteure erschweren, die nicht über geeignete Infrastrukturen und fachliche Qualifikationen verfügen. Zudem weist diese Literatur auf erfolglose Versuche terroristischer Organisationen hin, Anschläge mit biologischen Tatmitteln zu begehen und argumentiert, der einzig erfolgreiche Fall aus dem Jahr 2001 sei auf die besondere Qualifikation des Täters, einem langjährigen Mitarbeiter des US-Biowaffenprogramms, zurückzuführen. Demnach gehe eine Gefahr eher von verärgerten Einzelpersonen mit mikrobiologischer Expertise als von wissenschaftlich nicht qualifizierten terroristischen Organisationen aus.65 Einigkeit besteht gleichwohl bezüglich der Einschätzung, dass Terroristen biologische Tatmittel herstellen und einsetzen könnten, sofern sie Zugang zu den relevanten Materialien und I­nformationen

63Kaplan

(2001, S. 213). und Talent (2008). 65Leitenberg (2009). 64Graham

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erhielten, zumal sie aus Täterperspektive eine Reihe von Vorteilen bieten. Ein grundsätzlicher Vorzug liegt in ihrer enormen Wirksamkeit, womit nur kleine Mengen produziert werden müssen, um zumindest theoretisch eine Vielzahl von Menschen zu töten. Dieses Vorteilsverhältnis zwischen einzusetzender Menge und Infektiosität, bzw. Toxizität dämpft sowohl die Gestehungskosten als auch Anforderungen an Komplexitäts- bzw. Reinheitsgrade. Dieser Umstand wiederum eliminiert die Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung umfangreicher personeller und materieller Infrastrukturen, was sich positiv auf Ermittlungsrisiken auswirkt. Aus taktischer Sicht ist hervorzuheben, dass biologische Tatmittel infolge der natürlichen Latenz zwischen Exposition und Wirkungseintritt zunächst unbemerkt zum Einsatz gebracht werden können, was dem Täter einerseits Fluchtmöglichkeiten eröffnet und aufgrund der initial unklaren Kausalkette andererseits öffentliche Ängste schürt. Als kritische Hürde für den erfolgreichen Einsatz eines biologischen Tatmittels gilt gemeinhin das Ausbringungsstadium. Da lebende Erreger gegenüber Umwelteinflüssen wie Austrocknung, Feuchtigkeit oder Oxidation empfindlich sind und zugrunde gehen, sobald sie UV-Licht oder Sauerstoff ausgesetzt werden, kann auch ein an sich potentes Pathogen bei suboptimaler Ausbringungen nicht seine volle Wirksamkeit entfalten.66 Im Allgemeinen wird eine Ausbringung wenigstens kurzzeitig überlebensfähiger und lungengängiger Erreger in Aerosolform als optimal angesehen. Ein einfaches Versprühen etwa von Milzbrandsporen oder Botulinbakterien (wie es die Aum-Sekte in den 1990er Jahren in Tokio in mindestens neun Fällen versucht hatte) wäre nicht effektiv, da bei dieser Vorgehensweise Tröpfchen entstehen, die zu groß für einen Eintritt in die Lunge sind. Lediglich durch sorgfältiges Waschen, Verkapseln und Elektrisieren lassen sich die erforderlichen Sporendurchmesser von ca. zwei Mikrometern erreichen.67 Angesichts einer rasanten Steigerung der kommerziellen Potenziale von Biotechnik und Gentechnologie haben die Proliferationsgefahren bei biologischen Zubereitungen seit den 1990er Jahren allerdings stetig zugenommen. Künstlich hergestellte DNA-Sequenzen sind heute im Handel erhältlich, während die zur Produktion von biologischem Material erforderlichen Kosten- und Zeitaufwände dramatisch zurückgehen. Fortschritte in der Automatisierungstechnik sowie die zunehmende Anwendung von additiven Produktionsverfahren (z. B. 3D-Druck) ökonomisieren zudem industrielle Prozesse und bewirken eine generelle Vereinfachung wissenschaftlicher Arbeit, was letztlich die Anforderungen

66Germann 67Neuneck

(2009, S. 80 ff.). (2002).

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an das Q ­ ualifikationsniveau sinken lässt.68 Gleichwohl erfordern auch durch terroristische Gruppierungen betriebene und damit kleine Programme zur Herstellung biologischer Tatmittel ein Mindestmaß an Expertise für den Umgang und das Arbeiten mit Agenzien sowie in Bezug auf ihre Ausbringung. Für effektives Arbeiten in derartigen Umgebungen ist auch für Terroristen die Herstellung einer von Zusammenarbeit und Lernen geprägten Atmosphäre unabdingbar, um gewonnene Erkenntnisse in das gemeinsame Wissen zu integrieren und angestrebte (technologische) Ziele anzupassen. Die Erreichung dieser Ziele ist bereits in stabilen Umfeldern mit erheblichem Mittel- und Zeitaufwänden verbunden und für terroristische Bemühungen unter dem Eindruck eines ständigen Ermittlungsrisikos wohl nur sehr schwer möglich. Hinzu kommt, dass das Erfordernis, nicht entdeckt zu werden, dem Erfordernis einer optimalen Nutzung von Wissen diametral entgegensteht.69 Operative Besonderheiten bei terroristischen Gruppierungen eröffnen gleichwohl neue taktische Potenziale: Stehen einer Organisation zum Suizid bereite Mitglieder zur Verfügung, so kann sie versuchen, diese Personen durch Entsendung in Seuchengebiete zu Infektionsvektoren zu machen und sie anschließend unter Ausnutzung von Inkubationszeiten in Zielgesellschaften eindringen zu lassen, was die Eigenproduktion eines Pathogens sowie seine technische Ausbringung überflüssig machen würde.70 Die Perspektive eines Einsatzes biologischer Tatmittel durch Terroristen ist damit vor allem durch die Erosion vormals unüberwindbar scheinender technisch-prozeduraler sowie taktischer Hürden gekennzeichnet.

4.3 Chemische Waffen und gesundheitsschädliche Chemikalien Chemische Waffen sind seit vielen Jahren bekannt und von zahlreichen Staaten in großen Mengen produziert worden. Durch sie werden künstlich hergestellte, gesundheitsschädliche Chemikalien als Gase oder Flüssigkeiten mit dem Ziel ausgebracht, ungeschützte Menschen zu töten oder handlungsunfähig zu machen sowie die Gangbarkeit von Geländeabschnitten oder bebauten Gebieten für

68Zu

sich aus additiven Verfahren möglicherweise ergebenden Sicherheitsrisiken siehe weiterführend Tirone und Gilley (2015). 69Ouagrham-Gormley (2012). 70Maras und Miranda (2016).

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begrenzte Zeit unmöglich zu machen, bzw. zu erschweren. Chemische Waffen werden nach ihrer Wirkungsweise in haut-, lungen-, blut- und nervenschädigende Stoffe eingeteilt und typischerweise aus Vorläuferchemikalien synthetisiert, die für sich genommen häufig ungefährlich sowie in Anwendungen der chemischen Industrie verbreitet sind. Um wirken zu können, müssen chemische Kampfstoffe eingeatmet werden oder mit ungeschützter Haut in Berührung kommen, weshalb nur die Verwendung chemisch beständiger Ganzkörperschutzanzüge in Verbindung mit Schutzmasken ausreichenden Schutz bietet. Staatliche Arsenale stützen sich heute hauptsächlich auf aus organischen Phosphorverbindungen bestehende Nervenkampfstoffe wie Sarin, Soman, Tabun und VX. Diese sind chemisch mit den Insektiziden verwandt und wirken bereits in kleinsten Mengen bei Inhalation oder Hautkontakt tödlich. Zudem sind häufig Polymere zugeben, die eine Verdickung des Kampfstoffs bewirken und so dessen Sesshaftigkeit erhöhen. Chemische Kampfstoffe ähneln biologischen insoweit, als ein erfolgreicher Einsatz wesentlich von der gewählten Ausbringungsmethode abhängt und von Witterungsverhältnissen entscheidend (mit)beeinflusst wird. Auch sie besitzen Eigenschaften, die sie für einen terroristischen Einsatz geeignet erscheinen lassen. Ihre Herstellung ist zwar nicht trivial. In grundlegenden, nicht optimierten Formen liegen sie jedoch nach Einschätzung großer Teile der Literatur innerhalb der operativen Reichweite terroristischer Organisationen und sogar von Einzeltätern.71 Da sie zudem zweifelsohne geeignet sind, erhebliche öffentliche Ängste auszulösen, ist von ihrer prinzipiellen Eignung in terroristischen Szenarien auszugehen. Vor allem auf taktischer Ebene besitzen sie jedoch auch Nachteile. Zunächst sind sie auf ihr Gewicht bezogen deutlich weniger letal als biologische Kampfstoffe oder Nuklearwaffen, weshalb zur Erzielung vergleichbarer Effekte ein Vielfaches an Kampfstoffmenge eingesetzt werden muss, was einen terroristischen Akteur vor logistische Probleme stellen kann. Da sich Kampfstoffwolken nach ihrer Ausbringung einer Kontrolle durch den Menschen entziehen und jedenfalls außerhalb geschlossener Räume meteorologischen Einflüssen unterliegen, kann sich ein Einsatz etwa infolge einer plötzlichen Veränderung der Windrichtung unkalkulierbar entwickeln und sich im ungünstigsten Fall unbeabsichtigt entweder gegen den Täter selbst oder aber den angeblich interessierten Dritten richten. Folgt man der Auffassung, wonach Terroristen daran interessiert sind, für ihre Anschläge auf bewährte, leicht handhabbare sowie hinsichtlich ihrer Wirkung kalkulierbare Mittel zurückzugreifen,72 so geht diese

71Ellis

(2014); Germann (2009, 2012). (2007, S. 40).

72Richardson

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Eigenschaft chemischer Kampfstoffe jedenfalls zulasten ihrer Attraktivität. Eine effektive Ausbringung ist zudem nur in Tröpfchen- oder Aerosolform möglich, wozu jedoch besondere Sprühvorrichtungen erforderlich sind. Die zur Herstellung chemischer Kampfstoffe in nennenswerter Qualität und Menge nötigen technischen und personellen Voraussetzungen werden unterschiedlich beschrieben. Eine Meinung betont die Möglichkeit, bereits mit handelsüblichen Chemikalien sowie der Ausstattung eines durchschnittlichen westlichen Haushalts zumindest die notwendigen Ausgangsprodukte erzeugen zu können.73 Eine andere Auffassung attestiert zwar ebenfalls die im Grundsatz vergleichsweise einfache Produktion von chemischen Kampfstoffen, stellt aber auch fest, dass zur Herstellung großer und wirksamer Stoffmengen Infrastrukturen erforderlich sind, die denen der chemischen Industrie ähneln und damit außerhalb der Reichweite jedenfalls ökonomisch nur durchschnittlich potenter Akteure liegen. Die mit erheblichen finanziellen Mitteln ausgestattete Aum-Sekte – konservative Schätzungen ihres Vermögens belaufen sich auf ca. 20 Mio. US$ – betrieb ein viergeschossiges, mit Luftschleusen, Filteranlagen und Reinräumen ausgestattetes Labor, in dem durch an japanischen Universitäten ausgebildete Chemiker neben verschiedenen Giften und Mikroorganismen auch ca. 30 kg Sarin sowie kleine Mengen VX synthetisiert werden konnten. Trotz dieser vergleichsweise guten Bedingungen konnte die Sekte bei ihren Anschlägen in Tokio und Matsumoto zwar erhebliche Panik, aber nur in beschränktem Umfang Todesopfer verursachen.74 Gemessen an der theoretischen Letalität des Kampfstoffs müssen diese somit als Misserfolge gelten, zumal eine vergleichsweise primitive Ausbringungsmethode zur Anwendung kam, die es dem Kampfstoff nicht ermöglichte, sich optimal zu verteilen und seine volle Konzentration zu erreichen. Obwohl die Obama-Administration anlässlich der Aufnahme militärischer Operationen der USA gegen den sog. Islamischen Staat im Jahr 2014 erklärt hat, dieser sei weder islamisch noch ein Staat, hat ISIS durch die Besetzung großer Gebiete im Irak und in Syrien in vielerlei Hinsicht staatliche Attribute gewonnen. Auch wenn ISIS mittlerweile durch die Erfolge insbesondere der irakischen Offensive erhebliche territoriale Einbußen hat hinnehmen müssen und kurz vor seiner (militärischen) Niederlage zu stehen scheint, hat die zwischenzeitliche Kontrolle großer Städte wie Mossul der Organisation mutmaßlich technologische und kapazitäre Gewinne in einer Größenordnung eingebracht,

73Falkenrath 74Kaplan

(1998). (2001, S. 213).

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die es ihr erlauben könnten, CBRN-Tatmittel selbst herzustellen. Es ist zudem bekannt, dass ISIS ein Programm zur Entwicklung von chemischen Waffen unterhält oder unterhalten hat, nachdem die Gruppe an der Universität von Mossul auf ein gut ausgestattetes Labor gestoßen war und dieses fortan zur Produktion von Senfgas zum Einsatz gegen kurdische Kräfte im Nordirak genutzt hat. Die ebenfalls mutmaßlich erbeuteten, erheblichen Finanzmittel könnten zudem in Bemühungen von ISIS münden oder gemündet haben, sich andere CBRN-Tatmittel auf illegalen Märkten zu beschaffen.75 Die Vernichtung großer Kampfstoffmengen aus amerikanischen und russischen Beständen aufgrund der Regelungen des Übereinkommens über das Verbot von Chemiewaffen lässt staatliche Arsenale gegenwärtig empfindlich schrumpfen, womit das Risiko von Abzweigungen und Diebstählen aus militärischen Einrichtungen insgesamt sinkt. Der Einsatz von Sarin im syrischen Bürgerkrieg durch das Assad-Regime sowie der Einsatz von Sarin und Senfgas durch den irakischen Diktator Saddam Hussein gegen die kurdische Minderheit im Nordirak in den 1980er Jahren zeigt jedoch, dass gerade in instabilen politischen Räumen Potenziale bestehen, von denen erhebliche Proliferationsrisiken ausgehen können. Im Fall einer Niederlage des Assad-Regimes im syrischen Bürgerkrieg kann bspw. nicht ausgeschlossen werden, dass Terroristen die Phase des Machtvakuums dazu ausnutzen werden, sich unbemerkt Zugang zu militärischen Arsenalen zu verschaffen. Da für terroristische Akteure eine autonome Beschaffung chemischer Waffen unter normalen Bedingungen aber schwierig ist, könnten diese stattdessen den Einsatz von Industriechemikalien erwägen. Säuren, Laugen, giftige Gase oder brennbare Flüssigkeiten können für schädigende Zwecke eingesetzt werden, sind aber zugleich kommerzielle Produkte und damit weit verbreitet. Neben einem direkten Einsatz gegen Personen kann vor allem die terroristisch motivierte Sabotage von Industrieanlagen, Gefahrstofftransporten oder Lagerstätten erhebliche Auswirkungen mit sich bringen, bspw. wird das hochgiftige, im Ersten Weltkrieg unter der Bezeichnung „Grünkreuz“ als Lungenkampfstoff eingesetzte Gas (Di-)Phosgen in großen Mengen in der Kunststoffindustrie benötigt, weshalb dort häufig entsprechend dimensionierte Transport-, Umlade- und Bevorratungsinfrastrukturen vorgehalten werden. Dass die Sabotage bzw. Zerstörung von Lagerstätten gefährlicher Chemikalien vor allem in urbanen, bzw. dicht besiedelten Räumen durchaus katastrophale Folgen haben kann, zeigt das Industrieunglück im indischen Bhopal, bei dem am 2. Dezember 1984 durch die versehentliche Freisetzung von 25 bis

75Litwak

(2017, S. 66).

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40 t Methylisocyanat aus einer Pestizidfabrik ca. 25.000 Menschen getötet wurden.76 Seit 2007 haben aufständische Gruppen im Irak wiederholt im Stadtgebiet von Bagdad mit Chlorgas beladende Lkw gesprengt. Obwohl bei den Explosionen große Anteile des Gases verbrannten, haben diese Anschläge neben den unmittelbaren Folgen erhebliche Aufmerksamkeit und öffentliche Ängste bewirkt.77 Auch das Studium von Unfällen mit Gefahrstofftransporten kann für Terroristen gewinnbringend sein: Bei einem Zugunglück in Graniteville, South Carolina im Jahr 2005 wurden ca. 60 t flüssiges Chlor freigesetzt, was neun Menschen tötete, 550 verletzte und die Evakuierung von über 5000 weiteren Personen erforderlich machte.78 Da der Gefahrstofftransport infolge einer falsch gestellten Weiche auf einen stehenden Zug auffuhr, könnten entsprechende Sabotagehandlungen an Bahnanlagen einem terroristischen Akteur die Möglichkeit eröffnen, große Mengen giftiger oder anderweitig gesundheitsschädlicher Chemikalien freizusetzen, ohne sich dieser im Vorfeld überhaupt bemächtigen zu müssen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass chemische Kampfstoffe aufgrund ihrer vergleichsweise weniger voraussetzungsvollen Herstellung für terroristische Akteure von einigem Interesse sein können. Zwar müssen sie in großen Mengen unter möglichst gleichbleibenden äußeren Bedingungen in technisch idealer Form ausgebracht werden, um ihre maximale Wirkung entfalten zu können. In diesem Fall sind chemische Kampfstoffe für ungeschützte Personen jedoch außerordentlich tödlich. Für den Einsatz von Industriechemikalien als terroristisches Tatmittel gilt, dass Täter mit der Sabotage von Gefahrguttransporten oder Lagerstätten potenziell Großschadenslagen herbeiführen können, die mit erheblichen Gesundheitsrisiken für eine Vielzahl von Personen einhergehen. Angesichts von Melderegimen und Handelsbeschränkungen beim Erwerb gefährlicher Chemikalien erscheinen derartige Sabotagehandlungen als effiziente Alternative zur Herstellung potenziell nur begrenzt wirksamer Selbstlaborate.

5 Ergebnis und Schlussbemerkungen Lange waren Terroristen dem operativen Grundsatz verpflichtet, durch einen nicht überschießenden Einsatz von Gewalt ein Maximum an öffentlicher Aufmerksamkeit zu erreichen, um ihre Anliegen zu kommunizieren, politischen

76Amnesty

International (2013). und Fadam (2007). 78Ellis (2014, S. 214). 77Cave

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Systemen Zugeständnisse abzupressen und zugleich in der Sphäre des angeblich interessierten Dritten Sympathie- und Solidaritätseffekte zu erzeugen, um ihren Fortbestand als strategische Akteure zu sichern. Konservativ in der Wahl ihrer Mittel beschränkten sich terroristische Gruppierungen auf den Einsatz von Pistole und Dynamit. Jenseits begrenzter Motive verliert dieses klassische terroristische Kalkül allerdings an Wirkungskraft. Gruppierungen mit radikal-religiösen oder pseudo-religiösen, apokalyptischen Zielsetzungen entscheiden in Abwesenheit der disziplinierenden Klammer eines diesseitigen vermeintlichen Nutznießers autonom über das Ausmaß der eingesetzten Gewalt. Ihre Zielvorstellungen liegen damit in der Regel außerhalb des Bereichs politischer Verhandelbarkeit, weil zu ihrer Erreichung die gewaltsame Dominierung ganzer Gesellschaften nötig wäre. Die zunehmende Diffusion des inhibitorischen Moments der Gewaltbeschränkung sorgt im Zusammenwirken mit einem typischerweise weit ausgelegten Feindbegriff für Befürchtungen, religiös motivierte Akteure könnten die Bedeutung der symbolischen Funktion terroristischer Gewaltanwendung zugunsten ihrer rein physischen Wirkungen vernachlässigen, bzw. völlig suspendieren. Empirische Untersuchungen haben unterdessen den Verdacht erhärtet, wonach religiös motivierte Gruppierungen bei der Planung von Anschlägen der Möglichkeit der Erzielung möglichst hoher Opferzahlen offenbar besonderen Wert zumessen. Mit dieser Umkehrung hergebrachter operationaler Imperative gerieren sich vor allem große und operativ potente Gruppierungen wie Al-Qaida oder ISIS zunehmend als quasi-militärischer Gegner, die sogar in der Lage sein können, geografische Räume zu gewinnen und zu halten. Mit dieser Militarisierung terroristischer Agenden muss die Frage nach der Attraktivität von CBRN-Tatmitteln für ihre Protagonisten grundsätzlich bejaht werden. Da vor allem terroristische Dispositive über MVW prinzipiell die Grundfesten staatlicher Existenz bedrohen, zugleich aber weniger gut eingeschätzt werden können, als bspw. militärische Potenziale eines gegnerischen Staats, setzen Wissenschaft und Politik zur Erkenntnisgewinnung u. a. auf die Instrumente des Risikomanagements, um aus abstrakten Potenzial- und Risikoanalysen Schlussfolgerungen und Legitimationsgrundlagen für eigenes Handeln zu gewinnen; dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Aussagefähigkeit empirischer Untersuchungen infolge der Seltenheit beobachtbarer Ereignisse und der daraus folgenden Probleme für ihre Validierung begrenzt ist. Sicherheitspolitisches Risikomanagement kann in Risikogesellschaften zwar den Blick für das Wesentliche schärfen, aber auch zu trügerischen Gewissheiten verleiten, da es letztlich auf der Grundlage von Annahmen über zukünftige, kontingente Ereignisse gewissermaßen präventiv auf gegenwärtige Handlungserfordernisse extrapoliert und damit die Kausalitäten des politischen Diskurses umkehrt.

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Die Risikoanalyse für CBRN-Tatmittel in der PMK zeigt unter Berücksichtigung der hier inkludierten Einflussfaktoren ein von Nuklearwaffen und improvisierten Spaltungsanordnungen über biologische und radiologische hin zu chemischen Tatmitteln ansteigendes, abstraktes Einsatzrisiko. Diese Reihung kann vor dem Hintergrund der sich weiter vollziehenden Globalisierung von Wissen, der Proliferation von Technologien sowie von Fortschritten in Wissenschaft und Forschung allerdings nur eine Momentaufnahme darstellen. Neuere Gefahren, wie etwa die Möglichkeit von Angriffen auf sensible informationstechnische Systeme einschließlich der möglichen Manipulationen von Abläufen in kerntechnischen, chemischen oder anderweitig zur kritischen Infrastruktur zählenden Anlagen konnten hier nicht betrachtet werden. Mit zunehmender Erkenntnisdichte sind auch diese Konstellationen zukünftig mit den Instrumenten des sicherheitspolitischen Risikomanagements zu untersuchen und die Gefährdungsbewertungen entsprechend anzupassen. Dies zeigt abschließend das Erfordernis auf, den Nutzen von Risikoanalysen stets sowohl im Lichte ihrer methodischen Probleme als auch in Abhängigkeit des Zeitpunkts ihrer Erstellung zu beurteilen.

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Terrorismus: Reichweite und Methodenspektrum im Zeitalter islamistischer Anschläge Stephan Maninger

Tötet sie, wie ihr wollt. Zertrümmert ihnen den Kopf, schlachtet sie mit einem Messer, überfahrt sie mit dem Auto, werft sie von einem hohen Gebäude, erwürgt oder vergiftet sie. IS-Sprecher Abu Mohammed al Adnani, Juni 2014

1 Einleitung Die Zunahme terroristischer Anschläge in Europa wird der Ausbreitung des islamistischen Terrors zugeschrieben, vor allem der Entstehung des „Islamischen Staates“ (IS).1 Zwischen 2010 und 2013 hatte sich die Anzahl der dschihadistischen Bewegungen weltweit von 31 auf 49 erhöht, die der Kämpfer von geschätzten 50.000 auf 105.000.2 Laut dem US-amerikanischen Rand National Defense Research Institute hatte sich die Anzahl der weltweit durch Terrorismus getöteten Menschen von 2007 bis 2015 um 774 % erhöht, von durchschnittlich

1Keck,

Zachary, “Suicide Bombings Spiked 94% in 2014”, The National Interest, January 6 2015, http://nationalinterest.org/blog/the-buzz/suicide-bombings-spiked-94-2014-11979. 2Jones, Seth, A Persistent Threat: The Evolution of al Qa’ida and Other Salafi Jihadists, Rand National Defense Research Institute, Washington D. C., 2014, S. 27.

S. Maninger (*)  Lübeck, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Freudenberg et al. (Hrsg.), Terrorismus als hybride Bedrohung des 21. Jahrhunderts, Sicherheit – interdisziplinäre Perspektiven, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20919-3_7

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S. Maninger

3284 auf 28.708 pro Jahr. Die militärische Bekämpfung des IS im Rahmen der Operation „Inherent Resolve“ führte im Folgejahr zu einem Rückgang auf 1441 islamistischer Anschläge und 14 356 Todesopfer.3 2016 verbuchte der IS noch 472 Anschläge mit 9340 Todesopfer und Al Kaida 30 Anschläge mit 188 Toten. Die Anzahl der dem IS zur Verfügung stehenden Kämpfer soll sich bis Ende 2016 um 75 % reduziert haben, indem circa 50.000 getötet worden seien. Die Briten schätzen diese Zahl niedriger ein und gehen von 25.000 Getöteten aus.4 Ein Niedergang des IS wird, aufgrund demografischer Verschiebungen und der technologischen Fähigkeiten nichtstaatlicher Akteure, für westliche Staaten keine dauerhafte Entspannung der Sicherheitslage bringen. Folgender Beitrag beleuchtet die Entwicklung des Terrorismus und der Gegenmaßnahmen in einer Post-IS-Sicherheitslage.

2 Reichweite Die Steigerung der terrorismusbedingten Opferzahlen ging auch mit einer geographischen Ausdehnung des Operationsgebietes islamistischer Gruppierungen einher, die weitgehend durch eine passive US-Außen- und Sicherheitspolitik (2009–2016) ermöglicht wurde. Bis 2006 waren es zehn, ab 2015 schon 18, 2016 27 Staaten, in denen islamistische Organisationen eine Präsenz aufwiesen.5 Ein zahlenmäßiger Rückgang der weltweiten Anschläge ab 2014 blieb somit auf den Nahen Osten begrenzt. Afrika und Europa verzeichneten eine Zunahme, im Jahr 2015 mit 157 % mehr Terroropfern in Niger, Kamerun und Tschad, 650 % mehr in den OECD-Ländern. Trotz militärischer Rückschläge für den IS, konnte dessen Ideologie ihren Einfluss und Reichweite vergrößern.6 Während der IS oder andere

3Storymaps,

Esri Story Maps team and PeaceTech Lab, 14. April 2017, https://storymaps. esri.com/stories/terrorist-attacks/?year=2016. 4Browne, Ryan, “UK puts number of ISIS fighters killed at half US figure”, Cable News Network (CNN), 16 December 2016, http://edition.cnn.com/2016/12/16/politics/uk-usnumber-isis-fighters-killed/. 5Emerson, Steven and Hoekstra, Peter, “Islamist Terror Growing in Lethality and Geography, IPT Analysis Finds”, Investigative Project on Terrorism, 28 March 2016, http://www. investigativeproject.org/5241/islamist-terror-growing-in-lethality#. 6Global Terrorism Index 2016 – Measuring and Understanding the Impact of Terrorism, Institute for Economics and Peace, University of Maryland, 2016, S. 2.

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Ableger der Al Kaida-Ideologie durch Radikalisierungsprozesse in den afrikanischen Raum eindringen konnten, ist Migration das Vehikel, mit dem Europa in seine Reichweite gelangt. Nicht nur die Migration der vergangenen Jahrzehnte, aus der sich das sogenannte „Foreign Fighters“ Phänomen weitgehend speist, stellt eine wachsende sicherheitspolitische Bedrohung dar, sondern auch die Flüchtlingspolitik der Gegenwart. Während der IS im Februar 2015 damit drohte, eine halbe Million Flüchtlinge nach Europa zu treiben7, schätzte Gerhard Schindler, Präsident vom Bundesnachrichtendienst (BND), noch im September die Lage wie folgt ein: „Aber es ist doch unwahrscheinlich, dass Terroristen die waghalsige Bootsflucht über das Mittelmeer nutzen, um nach Europa zu gelangen.“8 Der Leiter des Bundeskriminalamts (BKA), Holger Münch, erklärte zwei Tage nach dem Anschlag in Paris: „Wenn Sie schauen, welchen Risiken man sich auch aussetzt, wenn man zum Beispiel über das Mittelmeer nach Deutschland kommt, dann glaube ich, gibt’s einfachere Möglichkeiten, um hierher zu kommen, wenn man das planen würde. Dafür braucht man keinen Flüchtlingsstrom, den man nutzen muss.“9 Der moderne Terrorismus, wie schon seine Vorgängerversionen, überfordert staatliche Entscheidungsträger, weil er ihre Vorstellungskraft übertrifft und diese sich mental in einem unzutreffenden, regelorientierten, postheroischen Bezugsrahmen gefangen finden. Migration, jene historische Konstante des Konflikttransfers, als sicherheitspolitische Größe zu negieren, erweitert das Handlungsspektrum von IS-ähnlichen Organisationen. Sie bietet nicht nur Mobilität, sondern Rückzugs-, Versorgungs- und Rekrutierungsräume. Dabei kann der IS, wie auch andere islamistische Terrororganisationen, auf eine ausgeprägte kriminelle Vernetzung zurückgreifen. Diese dualen Fähigkeiten macht sie zu „Hybridakteuren“ und sie verfügen daher, aufgrund wachsender Migrantenpopulationen in den Zielländern, über alle Bedingungen, die zu ihrer weiteren Etablierung notwendig sind. In einer Vorlage für den Innenausschuss des britischen House of Commons, sprach die Fachexpertise 2013 noch von 3600, in multiplen Kriminalitätsbereichen

7„‚Boote

mit 500.000 Flüchtlingen‘: IS will Europa mit Migranten überfluten“, Focus Online, 19. Februar 2015, http://www.focus.de/politik/ausland/islamischer-staat/terroristen-nehmen-rom-ins-visier-erster-schritt-is-will-europa-mit-fluechtlingen-ueberfluten_ id_4487068.html. 8Stefan Meining, Ahmet Senyurt „Terrorverdacht unter Flüchtlingen: Wie Behörden Warnungen ignorierten“, ARD Report München, 17. Januar 2017, http://www.br.de/nachrichten/fluechtlinge-terrorgefahr-behoerden-report-100.html. 9Ebd.

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t­ätigen, transnationalen kriminellen Netzwerken innerhalb der Europäischen Union.10 2017 berichtete Europol von 5000 solcher Netzwerke und hob die Rolle von moderner Technologie und Menschenhandel in deren Ausbreitung hervor.11 Sie verfügen über „Söldnerfähigkeiten“, die dazu dienen, logistische Aufgaben für staatliche und nichtstaatliche Akteure zu erfüllen, darunter auch terroristische ­Organisationen.12 Das US-Department of Homeland Security (DHS) beobachtet mit Sorge den explosionsartigen Anstieg illegaler Grenzübertritte aus 35 „special interest“-­Ländern, darunter Afghanistan, Pakistan und Jemen, in denen islamistische Terroristen beheimatet oder geduldet sind. Verhaftete Islamisten, darunter der Hisbollah-Aktivist Salim Boughader Mucharaafille, bestätigen ihre Kooperation mit kriminellen Banden. Allein er hatte auf diese Weise circa 200 Hisbollah-­ Sympathisanten in die USA geschleust.13 Hybridakteure und –bedrohungen werden von Steward Kaufman14, im Kontext der Kriege in Irak und Afghanistan, folgendermaßen definiert: „elements of ethnic or tribal conflict, ideologically based insurgency, factional squabbling, and organized crime are inextricably intertwined, with the same actors playing multiple and partially conflicting roles. (…) is inherently transnational, featuring transnational crime networks, ‘migrant warriors,’ transnational diaspora links, legitimate international trade, and foreign intervention.“

3 Methodenspektrum Das Methodenspektrum des islamistischen Terrorismus erweitert sich zunehmend und beinhaltet komplexe Lagen, die infanteristische Dimensionen mit improvisierten Sprengsätzen kombinieren, letztgenannte als Sprenggürtel oder gehärtete Fahrzeuge. Auch Fahrzeuge an sich, Hochdruckkochtöpfe (wie sie beim

10Pre-Lisbon

Treaty EU police and criminal justice measures: the UK's opt-in decision: ninth report of session 2013–2014: report, together with formal minutes, oral and written evidence, Home Affairs Committee; Great Britain. Parliament. House of Commons, ­London Stationary Office, 2013, S. 13. 11European Union Serious and Organised Crime Threat Assesment 2017 – Crime in the age of technology, European Police Office, Den Haag, S. 8. 12So gilt MS-13 inzwischen als Kooperationspartner für Kartelle und Hisbollah in Mexiko und ist zuständig für die Überwindung der Grenze zu den USA. 13Longley, Robert, “Terrorists: The Òther`Illegal Immigrants”, United States Government Information, 7 June 2010, http://usgovinfo.about.com/od/defenseandsecurity/a/otmaliens.htm. 14Schroefl, Josef and Kaufman, Steward, “Hybrid Actors, Tactical Variety: Rethinking Asymmetric and Hybrid War”, Studies in Conflict & Terrorism, Vol. 37, No. 10, July 2014, S. 862–880.

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Attentat auf den Boston- Marathon 2013 zum Einsatz kamen) mit Küchenchemie und Nägeln präpariert, oder andere Gebrauchsutensilien, finden Verwendung im Terrorismus der Gegenwart. Allerdings ist der Suizidalterrorismus immer noch integraler Bestandteil und Herausstellungsmerkmal des islamistischen Terrorismus und verdient daher eine gesonderte Betrachtung im Rahmen dieser Analyse.

3.1 Selbstaufopferung 2016 war das tödlichste Jahr für Selbstmordanschläge laut Terrorism and Low Intensity Conflict Research Program am Institute for National Security Studies (INSS). 800 Täter begingen 469 Anschläge in 28 Länder und töteten dabei 5650 Menschen.15 Das waren 1320 Tote und sechs Staaten mehr als im Vorjahr, 70 % dieser Anschläge wurden durch den IS verübt.16 Dabei zeigt sich eine zahlenmäßige Zunahme der Todesopfer bei sinkenden Anschlagszahlen. 2014 wurden weltweit 592 islamistische Selbstmordanschläge verübt und damit 94 % mehr als 2013. Diese Angriffe töteten 3400 Menschen, 1200 mehr als im Vorjahr, aber weitaus weniger als 2016.17 Das Instrumentarium wandelt sich somit und wird wirksamer trotz, oder gerade aufgrund der Rückschläge und des reduzierten operativen Handlungsspielraumes der Islamisten. Diese Form des Terrorismus beeindruckt den postheroischen Westen nicht nur aufgrund seiner medial allgegenwärtigen Massentötungs-, sondern aufgrund seiner Aufopferungsbereitschaft. Denn in postheroischen Gesellschaften ist die Überwindung des eigenen Selbsterhaltungstriebes selbst für Mitglieder von Sicherheitsbehörden kaum noch verständlich. Wo diese, im äußersten Fall, den eigenen Tod in der Ausübung ihres Dienstes als Möglichkeit berücksichtigen mögen, unterscheiden sie sich von ihren suizidalterroristischen Kontrahenten dadurch, dass Letztgenannte diesen ausdrücklich anstreben. So definiert Mohammed

15Dabei

handelt es sich nur um jene Anschläge, die durch mindestens zwei Quellen bestätigt wurden. Eine unbekannte Anzahl von weniger verifizierbaren Anschlägen wäre hier noch als Dunkelfeld zu berücksichtigen. 16Schweitzer, Yoram, Mendelboim, Aviad, Rosner, Yotam, Suicide Attacks in 2016: The Highest Number of Fatalities, INSS Insight No. 887, January 5, 2017, http://www.inss. org.il/publication/suicide-attacks-2016-highest-number-fatalities/. 17Keck, Zachary, “Suicide Bombings Spiked 94% in 2014”, The National Interest, January 6 2015, http://nationalinterest.org/blog/the-buzz/suicide-bombings-spiked-94-2014-11979.

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Hafez18 diese Vorgehensweise als „ein[en] gezielte[n] Angriff, unter Einsatz des eigenen Lebens, zur Zerstörung, Tötung oder Verletzung des Gegners.“ In dieser Betrachtung ist der eigene Tod ein integraler Bestandteil der Mission und wird als „Erfolgskriterium“ gewertet. Dies als „Krieg mit anderen Mitteln“ zu bezeichnen, stellt die psychologische Dimension von Selbstaufopferung im Zusammenhang mit Terrorismus und irregulärer Kriegsführung heraus.19 Die Wirkung einer demonstrativen Selbstaufopferung in der Form eines Anschlags, hebt gerade im Medienzeitalter ein taktisches Ereignis auf die strategische Ebene. Denn das subjektive Sicherheitsempfinden der Bevölkerung wird weit über die tatsächliche Wirkung hinaus tangiert. Damit zählt das Gefühl der persönlichen oder gesellschaftlichen Verwundbarkeit zu den psychologischen Kosten, die durch solche Anschläge entstehen.20 Die Folgen reichen von panischen Überreaktionen über unzutreffende Erklärungsmuster bis hin zur sicherheitspolitischen Lähmung. Alle Kulturen kannten, zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Geschichte, Formen der Selbstaufopferung als Methode der Kriegsführung. Von vorstaatlichen Gesellschaften wie die Jäger und Sammler der Arapaho Nordamerikas bis hin zu substaatlichen Gruppen wie Banden, Sekten oder Clans, verfügten und verfügen Organisationen über Rituale der Selbstaufopferung im martialischen Kontext. In staatlichen Gesellschaften war die Selbstaufopferung ein Bestandteil rationaler, militärischer Überlegungen oder situativer Notwendigkeit und daher nicht immer freiwillig, sondern eine kollektiv „heroisch“ intendierte Demonstration des politischen oder militärischen Willens. Zu den vielen möglichen Beispielen dieser „Konstruktion des heroischen Opfers“21 zählen der Opfertod der griechischen Verteidiger an den Thermophylen 480 v. Chr. („Dann kämpfen wir eben im Schatten“), oder die Opferpiloten der japanischen „Kamikaze“, die sich auf den Ehrenkodex des Bushido (den „Weg des Kriegers“) beriefen. Heroisch-­ kriegerische Ehrenkodexe und gesellschaftliche Wertvorstellungen erzeugten Aufopferungsbereitschaft aus Überzeugung oder aus Furcht vor dem u­ nweigerlichen

18Hafez, Mohammed, Suicide Bombers in Iraq: The Strategy and Ideology of Martyrdom, United Institute for Peace, Washington D.C., 2007, S. 8. 19Vgl. Horgan, John, The Psychology of Terrorism, Routledge, London, 2014, S. 24–25. 20Vgl. Freudenberg, Dirk, „Green on Blue – Der Innentäter als spezifische Methode des Selbstmordattentats und Ansätze der Reaktion“, in Hansen, Stefan und Krause, Joachim (Hrsg.) Jahrbuch Terrorismus. 2013/2014, Verlag Barbara Budrich, Berlin, 2015, S. 136. 21Münkler, Herfried, Kriegssplitter: Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Rowohlt Verlag, Berlin, 2015, S. 80–81.

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Verlust an Sozialprestige bei Nichterfüllung der „Pflicht“ gegenüber der ­Gesellschaft. Während solche Beispiele in heroischen Gesellschaften als vorbildliche Handlungsanweisungen für aussichtlose Situationen und ultimativer „Treuebeweis“ für das „höhere Ideal“ galten, wodurch sie einen hohen Stellenwert in der Sozialisation einnahmen, waren sie häufig auch Ereignisse, die mit einem übersteigerten Ehrbegriff oder aber einer drohenden Niederlage in Verbindung standen. Doch auch nichtstaatliche Akteure der Moderne, insbesondere Ethnonationalisten, nutzten das Instrument der Selbstaufopferung mit Erfolg. Dabei wird es „Terrorismus“ genannt, wenn, z. B. durch Kombination von Sprengmitteln und Medien, eine beabsichtigte Massenwirkung erzeugt wird. Diese Wirkung entsteht dadurch, dass bevorzugt zivile Ziele angegriffen werden.22 Nicht selten diente die betonte Opferbereitschaft als Bestandteil einer asymmetrischen Kriegsführung und als psychologisches Instrument der „Machtverstärkung“ zur Zermürbung eines konventionell kämpfenden Gegners, z. B. die Selbstaufopferungskommandos der Viet Cong – Bewegung während der „Tet-Offensive“ in Vietnam 1968 oder die Selbstmordattentate der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) in der Türkei in den 1990ern. In diesen Fällen handelte es sich, im Gegensatz zu terroristischen Anschlägen, um einen Angriff gegen Sicherheitskräfte. In beiden Kategorien dient die Selbstaufopferung nicht zur Verbreitung von Schrecken in der Zivilbevölkerung sondern als irreguläre taktische Maßnahme im Kampf gegen (para)militärische Kräfte. Sie beinhaltet dabei meist eine strategische Logik bzw. eine erhoffte politische Auswirkung durch die psychologische Botschaft der spektakulären Zurschaustellung unbeugsamer Willenskraft. Zu den äußerst heterogenen Motivationsbausteinen23 für eine Selbstvernichtung im Konfliktkontext zählen martialische „kulturelle Skripte“ mit einhergehenden sozialen Sanktionen bei vermeintlicher oder tatsächlicher Feigheit, aber auch Nationalismus oder Patriotismus, ideologische Überzeugungen oder Verzweiflung und Ausweglosigkeit. Die historischen Wurzeln des islamistischen Selbstmordattentäters unterscheiden sich allerdings durchaus von den hier aufgelisteten Beispielen, weil die

22Ohne

Sprengmittel und Medien wäre Terrorismus in seiner heutigen Form nicht vorstellbar. Die Entwicklung beider war die Voraussetzung, dass das Phänomen seine Wirkung überhaupt entfalten konnte. Vgl. dazu Boot, Max, Invisible Armies: An Epic History of Guerillla Warfare from Ancient Times to the Present, Norton & Company, New York, 2013. 23Vgl. Horgan, S. 37.

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hier vorliegende religiöse Motivation nicht auf irdische Ziele begrenzt ist, sondern sich vor allem auch auf das Jenseits erweitern lässt, der Vorstellung eines „ewigen Lebens“. Eine solche Motivation ist besonders stark bindend, weil Menschen, die in ihrer Aufopferung nicht ein Mittel zum Zweck, sondern das Ziel an sich sehen, sich noch stärker einer rationalen Herangehensweise entziehen als solche, die sich zwar einer Sache bis zur Aufopferung verbunden fühlen, sich aber nicht selbst als Instrument eines göttlichen Willens wahrnehmen. Die Zahlen legen nahe, dass der so geprägte islamistische Terrorismus das Anschlagsspektrum dominiert und folglich entsteht die Frage, welche Faktoren dies begünstigen.

3.1.1 Motivation islamistischer Selbstaufopferung Eine hohe Opferbereitschaft wurde den Kämpfern des Islams schon durch die Kreuzritter nachgesagt. Papst Urban II. schaffte eine vergleichbaren religiösen Anreiz durch seinen Aufruf zum „Bußkrieg“, bei dem Heiligkeit und Erlösungsgewissheit dem christlichen Kreuzfahrer durch dessen Kampf ums „heilige Land“ in Aussicht gestellt wurden.24 Ähnliche Anerkennungen des militärischen Wertes einer erhöhten Opferbereitschaft lassen sich bis ins 20. Jahrhundert verfolgen, als wichtige Akteure des NS-Regimes die Aufnahme zehntausender Muslime in die Waffen-SS damit begründeten: „Ich muss sagen, ich habe gegen den Islam gar nichts, denn er erzieht mir in dieser Division seine Menschen und verspricht ihnen den Himmel, wenn sie gekämpft haben und im Kampf gefallen sind. Eine für Soldaten praktische und sympathische Religion!“ [Heinrich Himmler, Reichsführer SS].25 Hier stellt sich die Frage, ob es sich um eine historische Fehleinschätzung bzw. einen Missbrauch der Religion oder um eine kriegerische Prädisposition im Selbstverständnis und Tradition der Religion selbst handelte. Die im Folgenden dargestellten historischen „Marker“ dienen Selbstmordattentätern als Vorbilder, Motivationsgerüst und sind integraler Bestandteil des „kulturellen Skripts“. Neben diesen säkularen Wirkmechanismen kommt hinzu, dass Religion aufgrund des ihr grundsätzlich innewohnenden Wahrheitsanspruchs ihrer Lehren als „ergiebigste Quelle von Werten“ gilt26: Sie dient dadurch auch

24Stark, Rodney, Gottes Krieger – Die Kreuzzüge in neuem Licht, Haffmans & Tolkemitt, Berlin, 2013, S. 152–153. 25Motadel, David, „Wie die Nazis den Islam vereinnahmen wollten“, Deutschlandfunk Kultur, 4. November 2015, http://www.deutschlandfunkkultur.de/ns-geschichte-wie-die-nazisden-islam-vereinnahmen-wollten.976.de.html?dram:article_id=335932. 26Vgl. Harrison, Lawrence and Huntington, Samuel (Hrsg.), Streit um Werte – Wie Kulturen den Fortschritt prägen, Europa Verlag, Hamburg, 2002.

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und im Zusammenspiel mit anderen Bestimmungsfaktoren „der Gewaltentfaltung als Legitimation.“27

3.1.1.1 Die Assassinen Diese Sekte aus dem 11. Jahrhundert spezialisierte sich auf Anschläge gegen gut bewachte Zielpersonen in Syrien und Persien, indem sich die Täter häufig über Jahre hinweg an diese heranschlichen. Was zunächst als politische Anschläge erscheinen mag, beinhaltete mehrere Merkmale, die mit der oben erwähnten bindenden Kraft des Glaubens einhergingen. Nicht nur wie der Historiker Seewald28 schreibt: „die Legitimation ihres mörderischen Tuns gewannen die Assassinen aus dem Glauben, damit dem ‚einzig wahren Islam‘ zum Sieg zu verhelfen“, sondern auch die Selbstaufopferung als integraler Bestandteil der Mission. Im Gegensatz zu einer vergleichbaren Anschlagssekte wie die Sikarier29 waren sie eben nicht nur risikobereit, sondern suizidal in der Vorgehensweise. Wenn sie zuschlugen, kam dies völlig überraschend und die Täter nahmen den eigenen Tod als Voraussetzung für den Zugang zum Paradies in Kauf, mit Blick auf den Strafenkatalog der damaligen Zeit ein schwerer und schmerzhafter Weg. Die Täter waren oft gut gebildet, durch ihren Dienst bei der Zielperson hoch angesehen und konnten ihr Verhalten mit der Glaubensvorgabe der „Taqiyya“, des Verstellens in der Verfolgung des Glaubenszieles, begründen oder rechtfertigen. Autoren wie Sami Mukaram30 sehen darin weniger eine Verhüllungstaktik angesichts religiöser Verfolgung, sondern einen integralen Bestandteil des muslimischen Kriegsverständnisses: „Taqiyya is of fundamental importance in Islam. Practically every Islamic sect agrees to it and practices it … We can go so far as to say that the practice of taqiyya is mainstream in Islam, and that those few sects not practicing it diverge from the mainstream … Taqiyya is very prevalent in Islamic politics, especially in the modern era“.

27Heinsohn,

Gunnar, Söhne und Weltmacht – Terror im Aufstieg und Fall der Nationen, Orrel Füssli Verlag, Zürich 2003, S. 31. 28Seewald, Berthold, „Selbstmordattentäter im Namen des Islam“, Welt Online, 31. Januar 2015, http://www.welt.de/geschichte/article136957923/Selbstmordattentaeter-im-Namendes-Islam.html. 29Militanter Arm der Zeloten als jüdische Widerstandsbewegung im Kampf gegen Rom im 1. Jahrhundert. 30Ibrahim, Raymond, “How Taqiyya Alters Islam's Rules of War: Defeating Jihadist Terrorism”, Middle East Quarterly, Vol. 17 No. 1, Winter 2010, pp. 3–13, http://www.meforum. org/2538/taqiyya-islam-rules-of-war.

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3.1.1.2 Eine allgemeine Opferbereitschaft im Islam? Der Märtyrerkult im Islam unterscheidet sich von z. B. dem christlichen, indem er ausschließlich für eine kriegerische Leistung belohnt. Mit dem Kriegerethos des 7. Jahrhunderts, einem fähigen Heerführer als Religionsgründer und folglich nachahmungswürdigen „perfekten Menschen“ dient der Koran, im Imperativ geschrieben, als ergiebige Quelle von Werten. Während Christen durch die Selbstaufgabe in der Arena Roms oder am Marterpfahl diverser „heidnischer Völker“ den Märtyrerstatus erlangen konnten, ist dem Islam die pazifistische Aufopferung als nachahmenswertes religiöses Vorbild unbekannt. Eine Charakteristik, die den historischen Bewertungen sowohl seiner Feinde als auch seiner Bewunderer, siehe oben, gleichermaßen zu entnehmen ist. Der „Shahid“, der Gotteskrieger und Märtyrer, war und ist kein passiver Akteur, der den Tod hinnimmt, sondern ein aktiv Handelnder, indem er ihn zu seinen Feinden bringt. Wurde im Christentum die Opferbereitschaft religiös verklärt, gilt dies im Islam grundsätzlich für die Tat auf dem Weg Gottes. Ein weiterer moralphilosophischer Unterschied zeigt sich in den Lebensläufen der jeweiligen Religionsgründer, beide in ihrer Rolle als vermeintlich perfekte Menschen und daher, zumindest für ihre Anhänger, nachahmenswert. Während Jesus sich für die Menschen opfert und am Kreuz für die Vergebung seiner Mörder bittet, ist Mohammed ein erfolgreicher Feldherr und geistlicher sowie weltlicher Anführer. Würden Christen der Lebenseinstellung von Jesus und Muslime der von Mohammed nacheifern, wären der religiös begründbare Stellenwert von Gewalt und die Bedeutung von Selbstaufopferung daher keineswegs gleich. Die Bedeutung der Selbstaufopferung gewinnt an Gewicht, wenn man berücksichtigt, dass sie die einzige explizite Garantie für den Einzug ins Paradies bietet. Gleichzeitig bietet die Schicksalsgebundenheit des Glaubens für Täter eine Entlastung des eigenen Gewissens. Der Koran enthält nicht nur Aufforderungen zu Gewalt, darunter ausdrückliche Tötungsbefehle, sondern auch eine klare Entlastung des Täters durch die Aussage: „Und nicht ihr erschluget sie, sondern Allah erschlug sie“.31 Der Koran und die Hadithen heben Selbstaufopferung hervor, wobei der imperative Ton ausschlagegebender Unterschied zu den martialischen Passagen des im narrativen Stil geschriebenen Alten Testaments ist. Desweiteren fällt auf, dass das Instrument „Selbstmordattentäter“ mit der Ausbreitung des Islams in anderen Weltteilen einherging. So war dieses Phänomen während der „Moro Rebellion“ auf den Philippinen (1899–1913) als „Amok“ bekannt und ist, ähnlich wie der Begriff „Assassin“ zum englischen Begriff für

31Vgl.

Koran, Sure 8, 17, www.islam.de.

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Attentäter wurde, auch heute noch Synonym für einen rücksichtslosen Angriff, der erst mit der Selbstaufopferung des Täters endet. Im alltäglichen, nicht islamistischen Kontext, werden „Amokläufe“ als psychologisches Ausnahmephänomen betrachtet. Terroristische Organisationen aus dem Zeitalter des ideologischen Konfliktes, angefangen bei den russischen Anarchisten des 19. Jahrhunderts bis hin zur „Rote Armee Fraktion“ (RAF) kannten zwar die Selbstaufopferung, sahen diese jedoch eher als äußerste Notwendigkeit und nur die Wenigsten strebten dies ausdrücklich an. Dem säkularen Terroristen fehlt häufig die Selbstsicherheit und rücksichtlose Entschlossenheit, die der religiöse Extremist aus der Schicksalsgebundenheit seines Glaubens schöpfen kann und die ihm das Gefühl schenkt, ein Instrument in einem größeren, das Leben überragenden göttlichen Plan zu sein und – da er diesem folgt – in der Nachwelt belohnt zu werden. Deshalb findet der Begriff „apokalyptischer Terrorismus“ ausschließlich im Zusammenhang mit islamistischen Selbstmordattentätern und Terrorismus Verwendung. Lediglich gesellschaftlich marginalisierte Weltuntergangssekten, z. B. die japanische Aum-Sekte, verfügen über einen vergleichbaren Bezugsrahmen, während im islamischen Kulturkreis dies anscheinend auf signifikanten Zuspruch stößt. Im Ergebnis liegt die Folgerung nahe, dass die globale Ausbreitung des Islamistischen Terrorismus auch Selbstmordattentate als typischen „modus operandi“ eine bisher ungekannte Mobilität bzw. Reichweite verleiht.

3.1.1.3 Zusätzliche Motive und Rahmenbedingungen Da Motivation ein komplexes Gerüst aus intrinsischen und extrinsischen Aspekten darstellt und Menschen aus einer Kombination von Motiven handeln, ist auch bei Selbstmordattentätern ein Motivationsspektrum zu berücksichtigen. Während eine Mischung aus religiöser, nationalistischer oder patriotischer Motivation eher zu den intrinsischen Motiven zählt, nutzen terroristische Organisationen auch extrinsische Anreize wie Geld, Drohungen und Entführungen, um Selbstmordattentäter bzw. deren Familien zum Einsatz zu bewegen. Der angenommene oder tatsächliche Gewinn an Sozialprestige in heroischen Gesellschaften, als Märtyrer im kollektiven Gedächtnis verewigt zu werden oder das Ansehen der Familie zu steigern, kann genauso wichtig sein wie die materiellen Vorteile, die dadurch für die Hinterbliebenen entstehen. Gerade in sogenannten „Schamkulturen“, in denen der Islam häufig die Wertegrundlage stellt und wo traditionelle – in Europa inzwischen überholte – Vorstellungen von „Ehre“ bestehen, sind Selbstmordattentäter leichter zu rekrutieren, weil empfundene Demütigungen oder Beleidigungen stets als Grund herangezogen werden können. Die Attentäter von London, die sich nicht opferten, begründeten ihre Tat mit der vermeintlichen Beleidigung des Islam, die

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Attentäter in Paris 2015 ebenso. D. h. die Bedrohungsperzeption ist in traditionalistischen Gesellschaften deutlich ausgeprägter. Durch das sozialreligiöse Konstrukt einer weltumfassenden „Umma“, einer Gemeinschaft aller Muslime, fehlt es nicht an Begründungen für deren Verteidigung gegen „westliche Aggression“.32 Dieses Motiv spielt eine große Rolle und stößt auch jenseits des Täterspektrums auf Verständnis. So finden die öffentlich zur Schau gestellten Grausamkeiten des IS unter muslimischen Jugendlichen in Frankreich beachtliche Unterstützung und so zeigen 27 % der Befragten in der Altersgruppe 18 bis 24 Sympathie für diese ­Organisation.33 Ein weiterer Faktor bei der Bereitschaft zur Selbstaufopferung steht im Zusammenhang mit der Altersstruktur der Gesellschaft, aus der potenzielle Täter stammen. Azar Gat34 weist darauf hin, dass die Opferbereitschaft bei einem geringen Durchschnittsalter und der Anwesenheit vieler junger Männer eher hoch ist. Gunnar Heinsohn schließt sich dieser Einschätzung an und verbindet eine Vielzahl historischer Entwicklungen und auch religiöser Faktoren mit der konfliktträchtigen Dynamik eines Jugendüberschusses, indem er schreibt: „Vielleicht lässt sich Huntingtons ursprüngliche These so umformulieren, daß ein youth bulge, einmal in Bewegung geraten, sich Rechtfertigungen für sein furchtbares Tun auch aus der Religion und Moral der Herkunftsgebiete zurechtschneidert. Die Religion liefert dann zusätzlich Öl für ein Feuer, dessen Ausgangsbrennstoff nicht von ihr stammt.“35 Wo die Geburtenrate allerdings sinkt, sinkt auch die Opferbereitschaft. Ein Beleg für dieses Phänomen ist nicht nur die Verlust- und Risikoaversion der Industrieländer, sondern auch der Kollaps des Tamilenaufstandes in Sri Lanka 2009. Bekannt für ihre Selbstmordattacken, hat die Senkung der Geburtenrate in den 1980er Jahren dazu geführt, dass die Anzahl potenzieller Täter abnahm und im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zur demografischen Erschöpfung führte. Zur Fortführung des Unabhängigkeitskampfes fehlte den Tamilen die erforderliche Anzahl an Rekruten, was letztlich zu ihrer Niederlage führte. In muslimischen Ländern sinken zwar die Geburtenraten, doch verfügen diese immer noch über viermal so viele Männer im

32Vgl.

Shakaki, Khalil, „The Views of Palestinian Society on Suicide Terrorism”, in Countering Suicide Terrorism, Institute for Counter-Terrorism, S. 100–105.

33Grant, Madelein, „16% of French Citizens Support ISIS, Poll Finds”, Newsweek, 26 August 2014, http://www.newsweek.com/16-french-citizens-support-isis-poll-finds-266795. 34War in Human Civilization, Oxford University Press, Oxford, 2006. 352003, S. 31.

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­ ehrfähigen Alter wie der demografisch erschöpfte Westen. Die demografische w Dimension des Konfliktpotenzials wird also noch mindestens für eine Generation bestehen.36

3.1.2 Profile Ein einheitliches Profil fehlt bei Selbstmordattentätern genauso wie eine einheitliche Motivationslage. Allerdings gibt es einige Merkmale, die zumindest regionale, kulturelle und persönliche Zuordnungen erlauben. Ein Profiling der palästinensischen Attentäter über den Zeitraum Juli 2000 bis August 2002 ergab, dass 2/3 unter 23 Jahre alt und 14 % verheiratet waren. 77 % verfügten über einen Hochschulabschluss, alle stammten aus kinderreichen Familien. Weitere Untersuchungen ergaben bei einer erweiterten Stichprobe, dass mindestens 65 % aller Attentäter eher gebildet waren und in mittelschichtigen Erwerbsbetätigungsfeldern tätig waren, z. B. als Lehrer, Sicherheits- oder Pflegepersonal.37 Die in der öffentlichen Debatte häufig aufgeführten Faktoren „Bildung“ und „Perspektivlosigkeit“ scheinen hier kaum von Bedeutung gewesen zu sein. Auch die Attentäter von London 2005 oder in Madrid 2003, darunter Lehrer, Studenten und Sporttalente, waren weder ungebildet noch ohne Zukunftsperspektiven. Zwar lassen sich für Terroristen, die eines oder beides dieser Merkmale aufweisen genügend Beispiele finden, jedoch mangelt es auch in „normalen“ Terrororganisationen nie an einem intellektuellen Täterpotenzial. Eine ähnliche Annahme, es handle sich bei Selbstmordattentätern um psychologisch belastete oder zumindest narzisstische Menschen, die eine blutige Irrationalität ausleben, hat sich als ebenso fehlerhaft erwiesen. Die überwiegende Mehrheit der Selbstmordattentäter bewegte sich im psychologischen Normalbereich.38 Beim Einsatz von Selbstmordattentätern kommt es im Laufe der Zeit zu einer verstärkten Verwendung von gegenstereotypischen Tätern. Dabei handelt es sich um Menschen, die im Gefahrenbewusstsein der Sicherheitsbehörden eher als atypisch betrachtet werden und somit leichter ihr Ziel erreichen können. Der Einsatz von Frauen, aber auch von Kindern, hat sich als beliebtes Instrument der psychologischen Kriegsführung erwiesen und auch säkulare Organisationen haben darauf zurückgegriffen, wie z. B. die Syrische Sozialistische Nationalpartei,

36Heinsohn

(2003, S. 31). Robert, Feldman, James, Cutting the Fuse – The Explosion of Global Suicide Terrorism and how to Stop it, University of Chicago Press, Chicago, 2010, S. 246. 38 Hafez (2008, S. 8). 37Pape,

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die Tamilischen Tiger oder auch die Kurdische Arbeiterpartei. Letztgenannte setzte im Juni 1996 eine schwangere Selbstmordattentäterin ein, der sechs türkische Soldaten zum Opfer fielen. Als erste „schwarze Witwe“ des islamistischen Suizidalterrorismus, sprengte sich im Juni 2000 eine junge Frau mit 27 russischen Soldaten in die Luft. Im Januar 2002 sprengte sich eine Rettungssanitäterin für die Al-Aksa-Brigaden, im Oktober 2003 tat es ihr eine 29-jährige Rechtsanwältin gleich.39 Im Irak und Afghanistan kam dieser Trend verstärkt vor, es wurden hierbei gezielt gegenstereotypische Täterprofile zum Einsatz gebracht. Während die Beweggründe zur Selbstaufopferung auch im islamischen Kulturkreis keineswegs monolithisch zu betrachten sind, da ethnonationalistische, patriotische oder auch persönliche Gründe ebenso wichtig sein können wie religiöse, stehen beim suizidalen Terrorismus in Europa, dem sogenannten „home grown terrorism“, folgende drei Täterkategorien im Fokus: Täter aus den Diasporagemeinden Hierbei handelt es sich um zwei Migrationsbegleiterscheinungen, aus denen Selbstmordattentäter rekrutiert und damit dschihadistische Bewegungen personell versorgt werden. Zum einen die Nachfahren aus „Gastarbeitergenerationen“, die möglicherweise zwar gesellschaftlich partizipieren, sich jedoch mangels kultureller Kompatibilität durch eine ethnoreligiöse Brückenkopfmentalität auszeichnen.40 Zum anderen Zuwanderer der ersten Generation, die entweder schon als Dschihadisten einwanderten oder aber kurz nach ihrer Einreise radikalisiert wurden. Während auch hier häufig „Perspektivlosigkeit“, „Integrationsprobleme“, die Entstehung einer „muslimischen Unterklasse“41 als Erklärungen herangezogen werden, erklärt dies nicht die Radikalisierung der zahlreichen Täter, die weder bildungsschwach noch perspektivlos waren. Die Annahme, dass der Kontakt zwischen Menschen mit unterschiedlichen religiösen, ideologischen oder politischen Wertegerüsten zwingend zum Abbau von Vorurteilen beiträgt, negiert die Möglichkeit, dass der Kontakt auch ebenso gut zur Bestätigung dergleichen beitragen kann und auch reale Unterschiede hervorhebt. Voraussetzung, um

39Zendalis,

Debra, „Female Suicide Bomber“, Strategic Studies Institute, Carlisle, June 2004, http://www.carlisle.army.mil/ssi/, S. 2. 40Laqueur, Walter, The New Terrorism – Fanaticism and the Arms of Mass Destruction, Oxford university Press, Oxford, 1999, S. 228. 41Basra, Rajan, Brunner, Claudia, Neumann, Peter, Criminal Pasts, Terrorist Futures: European Jihadists and the New Crime-Terror Nexus, International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence, King’s College, London, 2016, S. 8–9.

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Diversität als Gewinn zu betrachten, ist die Anerkennung einer anderen Lebensweise als gleichwertig, bzw. sogar möglicherweise überlegen. Unter den Tätern der vielen Anschläge und Anschlagsversuche in den USA und Europa waren daher auch Menschen, die als Integrationsvorbilder gelten könnten, wie beispielsweise die sieben Ärzte und eine Medizintechnikerin, die 2007 an ihrem Versuch scheiterten, den Flughafen Heathrow mit zwei Autobomben anzugreifen.42 Eine Liste solcher Beispiele ließe sich für fast alle islamistischen Anschläge in Europa und den USA anführen, wodurch die relative Deprivationstheorie für islamistische Terroristen genauso unzutreffend scheint wie bei säkularterroristischen Gruppen, beispielsweise der RAF. Auch Ingenieure gehören zu jenen Berufsgruppen, die bei dschihadistischen Bewegungen wie IS überrepräsentiert sind.43 Die sozioökonomische Frage ist dadurch keineswegs irrelevant, nur wahrscheinlich nicht von der ihr zugemessenen Bedeutung. Vielmehr scheinen ethnokulturelle bzw. religiöse Loyalitätsmuster und Werteinkompatibilität eine Schlüsselrolle zu spielen, auch wenn dies bei vielen Beobachtern zur kognitiven Dissonanz beitragen mag. Enge Identifikationsradien und inkompatible Wertvorstellungen zwischen Zuwanderer und den Aufnahmegesellschaften stellen Hürden dar, die in der Beobachtung oft negiert werden. Sozioökonomische Erklärungsmuster werden durch den Zeitgeist präferiert und daher müssen ethnoreligiöse Erklärungsansätze in der öffentlichen Debatte oft unbegründet weichen. Dies erzeugt eine Bestätigungsverzerrung in der Problemwahrnehmung und führt gleichzeitig zu unwirksamen Gegenmaßnahmen, die weitgehend als Ersatzhandlungen betrachtet werden können. Dabei hat Gunnar Heinsohn schon 2003 nicht nur die demografische Dimension als zusätzliche Erklärung angeführt, sondern auch beleuchtet, dass Menschen eher aus „Anerkennung“ als aus „Armut“ töten.44 Damit spricht er auch das Thema „Identität“ an, jene kulturspezifische Vorstellungen von „ich“, „wir“ und „die“, von „Gut“ und „Böse“, „Recht“ und

42Landler,

Mark and Lyall, Sahrah, „Doctors at heart of U.K. terror plots“, The New York Times, 3 July 2007, http://www.nytimes.com/2007/07/03/world/europe/03iht-britain.5.6476485.html?pagewanted=all&_r=0. 43Gambetta, Diego, and Hertog, Steffen, „Engineers of Jihad“, Sociology Working Paper Nr. 2007–2010, October 2007, University of Oxford; „Uncivil Engineers, The Surprising Link Between Education and Jihad“, Foreign Affairs, 10 March 2016, https://www.foreignaffairs.com/articles/2016-03-10/uncivil-engineers. 44Heinsohn, Gunnar, Söhne und Weltmacht – Terror im Aufstieg und Fall der Nationen, Orrel Füssli Verlag, Zürich 2003.

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„Unrecht“, etc., die Staaten zerreißen können, indem sie innerhalb einer Gesellschaft die Loyalität eines Teils derselben an sich binden und gegen den anderen Teil mobilisieren können. Ein weiteres Phänomen, es ließe sich an dieser Stelle streiten ob aus sozioökonomischer Verzweiflung oder aus Tribalismus entstanden, ist die „Verslummung“ oder „Ghettoisierung“ westlicher Städte durch die Festigung internationaler krimineller Netzwerke. Die Verknüpfung zwischen organisierter Kriminalität, darunter ein beachtliches Spektrum an Ethnobanden, und Terrororganisationen, war Gegenstand der Untersuchungen des International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence (ICSRP) und wurde durch diese belegt.45 Diese Verknüpfung hat die Mutation zum nichtstaatlichen „Hybridakteur“ ermöglicht, ein Phänomen, das an anderer Stelle ausführlicher behandelt wird.Durch die Migrationskrise 2015 hat sich das Potenzial (Fähigkeiten, Reichweite und Sekundärmobilisierung) solcher Organisationen signifikant erhöht und waren Anschläge in Paris, Brüssel, Ansbach, Würzburg und Berlin direkt mit der erhöhten Mobilität der Täter verbunden. Diese Entwicklung wird flankiert durch die Ausbreitung von international agierenden Bandenstrukturen, wie oben beschrieben. Auf Dauer betrachtet, birgt eine demografische Verschiebung nicht nur das Risiko des klassischen Konflikttransfers, sondern erweitert das Mobilisierungspotenzial extremistischer Bewegungen. Dadurch können sich Terrorismusbedrohungen in Aufstandsbedrohungen verwandeln. Denn Terrorismus hält sich nicht an seine juristische Kategorisierung als „Kriminalität“, sondern kann ebenso als asymmetrisches Kriegsinstrument eingesetzt werden.46 Beispiele einer solchen Entwicklung lassen sich an einer Vielzahl von Konflikten erkennen, darunter der kurdische und der tamilische Terrorismus als Bestandteil eines erweiterten Aufstandsszenarios. Konvertiten Unter den circa 145 getöteten Dschihadisten aus Deutschland, darunter eine unbestimmte Anzahl Selbstmordattentäter, waren auch Konvertiten, die i­mmerhin

45Basra 46Vgl.

et al. (2016).

Martin, Susanne and Weinberg, Leonard, The Role of Terrorism in 21st Century Warfare, Manchester University Press, Manchester 2017.

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19 % der „Foreign Fighter“ – Gruppe ausmachen.47 Hier scheint es sich häufig um vulnerable Persönlichkeiten zu handeln und Befragungen des persönlichen Umfelds haben nahegelegt, dass die Täter sich schon zu anderen Zeiten in ihrem Leben mit Suizidgedanken befasst haben. In einigen Fällen scheint es auch einen gewissen Hang zum Extremismus zu geben. So war beispielsweise Robert Baum, der sich in der Nähe von Bagdad 2014 mit 17 anderen Menschen in die Luft gesprengt hat, vor seiner Konvertierung zum Islam ein Verfechter des Nationalsozialismus.48 Konvertiten sehen in ihrem neu gefundenen Glauben ein sinnstiftendes Glaubenskonstrukt mit klaren Vorgaben, empfinden dabei aber häufig das Bedürfnis, ihre Hingabe unter Beweis zu stellen. Dies ist weder historisch ungewöhnlich, noch auf den Übertritt zum Islam begrenzt. „Lone Wolf“ Hier handelt es sich um ein Einzeltäterphänomen, auch als „führungsloser Terrorismus“ oder „Individualterrorismus“ bekannt, bei dem Selbstradikalisierungs-prozesse unterstellt werden oder stattfinden, die im späteren Verlauf in Taten münden. Während die ersten beiden Kategorien sich organisatorisch in islamistischen Kernorganisationen, affiliierten oder auch anhängenden Netzwerken, möglicherweise aber auch in „Hybridorganisationen“ finden und bewegen, handelt es sich bei letztgenannter Kategorie um vereinsamte und inspirierte, aber unauffällige Täter, deren Radikalisierung und Vorbereitungen unbemerkt verlaufen und in Taten wie den Angriff auf US-Soldaten am Frankfurter Flughafen 2011 münden können. In diesem Fall hat eine Ladehemmung der Waffe die geplante Umsetzung des Vorhabens beeinträchtigt und konnte der Täter lebend gefasst werden. Eine Vielzahl von Taten in Frankreich, Kanada, den USA

47Heinke,

Daniel, „German Foreign Fighters in Syria and Iraq: The Updated Data and its Implications“; CTC Sentinel, Combatting Terrorism Center, West Point, March 2017, Vol. 10, No. 3, https://ctc.usma.edu/posts/german-foreign-fighters-in-syria-and-iraq-theupdated-data-and-its-implications; Sicherheitskreise: Schon acht deutsche Selbstmordattentäter“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Oktober 2014, http://www.faz.net/aktuell/ politik/is-terror-in-irak-syrien-8-deutsche-selbstmordattentaeter-13209653.html. 48Ortmann, Michael, „Der Dschihadist von nebenan“, PRO Medienmagazin, 26. Juni 2014, https://www.pro-medienmagazin.de/gesellschaft/weltweit/2014/06/26/der-dschihadist-vonnebenan/.

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und Australien haben die Bedeutung dieser Kategorie untermauert und gezeigt, dass der Mangel an organisatorischer Einbindung zu einer Reduzierung der Detektionsrisikos führt. Doch handelt es sich hier auch häufig um medial transportiere Fehlinterpretationen und haben sich angeblich „verwirrte Einzeltäter“ in den meisten Fällen als keineswegs „verwirrt“ erwiesen oder haben auch nicht alleine gehandelt. Vielmehr haben Ermittlungen im Nachhinein gezeigt, dass diese durchaus vernetzt waren oder aber zumindest nicht gänzlich in Isolation radikalisiert wurden. Dazu schreibt das Counterterrorism Yearbook 201749: „The myth of the lone-wolf attack was a persistent category error. A number of prominent attacks in France, Germany, the US and elsewhere were described as lone-wolf attacks, yet it was often the case that the individuals involved hadn’t radicalised alone but had drawn on a network of associates with similar ideological ­leanings.“ Alle drei Kategorien zählen zu den Merkmalen von multiethnischen Staaten bzw. kulturell vielfältigen Gesellschaften, die sich aufgrund ihrer Heterogenität in ständigen Rangordnungs- und Regelkonflikten befinden. Vermeintliche oder tatsächliche Benachteiligung, empfundene Beleidigung oder auch grundsätzliche Unterschiede der jeweiligen Wertvorstellungen erzeugen Zentrifugalkräfte und reduzieren die allgemeine Konsensfähigkeit einer Gesellschaft. Die kulturelle Distanz bestimmt dabei weitgehend die emotionale Distanz zum zukünftigen potenziellen Opfer und trägt damit zur Polarisierung und Radikalisierung bei.

3.1.3 Ziele Aus Sicht von terroristischen Organisationen, wie auch aus Sicht von Staaten, die ihren regulären Streitkräften den selbstaufopfernden Einsatz befehlen (z. B. NS-Deutschland oder Japan im 2. Weltkrieg), dient dies grundsätzlich dem Ausgleich militärischer Unterlegenheit (taktisch und strategisch). Wo die eigenen Kräfte nicht ausreichen, die Fähigkeiten zum konventionellen Kampf nicht oder nicht mehr vorhanden sind, bedient man sich solcher machtverstärkender und kompensatorischer Methoden, die auch im heutigen Kontext als „asymmetrische Kriegsführung“ bezeichnet werden.

49Carrol,

Jacinta (eds.), Counterterrorism Yearbook 2017, The Australian Strategic Policy Institute, Barton, February 2017, S. 137, https://www.aspi.org.au/publications/counterterrorism-yearbook-2017/ASPI-Counterterrorism-YB2017.pdf.

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Die Vorteile von Selbstmordattentaten sind dabei folgende: • Hohe Tötungsrate: Selbstmordattentate machen nur ein Prozent der Anschläge aus, erzeugen jedoch 50 % der Verluste und töten somit weit mehr Menschen als alle andere Mittel des Terrorismus. • Selbstmordattentäter sind „kluge Bomben“, indem sie den optimalen Zeitpunkt der Zündung bestimmen.50 • Die materiellen und personellen Kosten sind, im Gegensatz zur kollektiven Selbstaufopferung in interstaatlichen Konflikten der Vergangenheit, für nichtstaatliche Akteure eher gering. Die Wirkung kann hingegen historisch sein, indem beispielsweise der Anschlag auf den US-Stützpunkt in Beirut 1983 nicht nur zum Tod von 240 Soldaten geführt hat, sondern auch zum Abzug einer Supermacht. Ein solcher Abzug wäre durch den Einsatz von konventionellen Mitteln nicht zu erzwingen gewesen. • Die Minimierung des Sicherheitsrisikos: Eingesetzte Kräfte werden nur selten gefangen und können daher keine Informationen preisgeben. • Strategische Kommunikation, indem ein Selbstmordanschlag äußerste Entschlossenheit signalisiert und eine Bereitschaft zur Eskalation jenseits des eigenen Selbsterhaltungstriebes. Im Kontext des islamistischen Terrorismus findet hier auch der Begriff „psychologische Asymmetrie der Kriegsführung“ Verwendung.51 • Sie dienen der Abschreckung gegenüber Dritten, z. B. der Anschlag in Madrid 2003 und dessen Ziel, Spanien zum Bruch seiner Allianz mit den USA zu bewegen. • Sie dienen der Beleidigung und der Erschütterung des politischen Willens, indem sie signalisieren „Wir sind bereit zu sterben.“ Während zu den beliebten Erklärungen eines Selbstmordanschlags der Glaube gehört, dass es sich dabei um eine Verzweiflungsreaktion z. B. auf eine fremde Besatzung handle52, waren viele Selbstmordattentäter im Irak keine Einheimischen

50Hoffman,

Bruce, “The logic of suicide terrorism”, Terrorism and Counter Terrorism – Understanding the New Security Environment, (Ed. Hoeard & Sawyer), p. 262. 51Mansdorf, Irwin and Mordechai, Kedar, “ The Psychological Asymmetry of Islamist Warfare”, Middle East Quarterly, Vol. 15. No. 2, Spring 2008, pp. 37–44, http://www.meforum. org/1867/the-psychological-asymmetry-of-islamist-warfare. 52Pape, Robert, Dying to Win: The Strategic Logic of Suicide Terrorism, Random House, New York, 2006, S. 26.

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und die meisten Opfer keine Fremden. Ihre bevorzugten Ziele waren Heiligtümer und Menschenansammlungen der schiitischen Mehrheit. Über den Zeitraum 2003 bis Anfang 2008 kam es im Irak zur größten Anzahl von Selbstmordanschlägen in der bisherigen Geschichte der Menschheit, mit über 10.000 Toten.53 Zum Einsatz kommt diese Methode bei nichtstaatlichen Akteuren zur Realisierung eines breiten Spektrums an politischen Zielen, darunter meist: • • • • •

Den Abzug fremder Truppen zu bewirken. Die Unabhängigkeit zu erkämpfen. Die Destabilisierung einer unliebsamen Regierung oder eines Regimes. Die Intensivierung eines bestehenden Konfliktes. Die Unterbrechung bestehender Friedensprozesse.54

Weiterhin sind terroristische Organisation ausdrücklich an drei strategischen bzw. operativen Zielen interessiert: Rache, Ruhm und Reaktion.55 Letztgenanntes Ziel verbindet mit dem Anschlag die Hoffnung auf eine Überreaktion der Regierung und deren Sicherheitsorgane, um durch die Repressionserfahrungen von potenziellem Nachwuchs einer weiteren Rekrutierung und Mobilisierung zu dienen.

3.2 Komplexe Lagen Der 11. September 2001 leitete die Ära der komplexen, terroristischen Angriffe ein. Zu der Serie „klassischer“ Terroranschläge weltweit, folgten Anschläge mit hoher Täterzahl und multipler Wirkmittel. Mobilität und Technologie erweiterten den Wirkungsradius terroristischer Organisationen im Rahmen der Globalisierung. Es bedurfte bis 2015 keiner illegalen Grenzüberschreitung oder der geheimen Infiltration, sondern lediglich des Zugangs zu einer Arbeitsgenehmigung, zu einem Asylstatus oder zu Studentenvisa, um Länder zu erreichen, die zu den Zielen terroristischer Organisationen gehören. Rekrutierung und Logistik lassen sich, aufgrund

53Boot,

S. 530–531. De la Corte, Luis and Giménez-Salinas, Andrea, “Suicide Terrorism as a Tool of Insurgency Campaigns: Functions, Risk Factors, and Countermeasures”, Perspectives on Terrorism, Vol 3, No 1, 2009, http://www.terrorismanalysts.com/pt/index.php/pot/article/ view/62/html. 55Boot, Max, Invisible Armies: An Epic History of Guerillla Warfare from Ancient Times to the Present, Norton & Company, New York, 2013, S. 530–531. 54Vgl.

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moderner Medien und poröser Grenzen, aus und über großer Ferne bewirken. Dabei erweisen sich Terrororganisation als anpassungsfähig und befinden sich die „Zutaten“ komplexer Lage in einem dauerhaften Veränderungszustand.

3.2.1 Einzelanschlag, multiple Mittel Die Anschläge auf die Moskauer Staatsoper (2002) oder auf eine Schule in ­Beslan (2006), zählten zu jenen Anschlägen bei denen Terroristen die Faktoren Zeit und Medien noch stärker miteinander kombinierten. Dies erreichte seinen Höhepunkt mit dem Anschlag in Mumbai im November 2008. Die Täter griffen zwölf Ziele an und töteten 164 Menschen und verletzten 308. Die Geschwindigkeit und Verfügbarkeit von sozialen Medien ermöglichte den infanteristisch ausgestatteten Gewaltakteuren auch, während des Angriffs auf das Taj Mahal Hotel die Veränderungen der Lage fast in Echtzeit wahrzunehmen. Beobachter in Pakistan werteten die Live-Übertragungen der Fernsehsender und die Facebook-­ Einträge während der Ereignisse aus und gaben daraus gewonnene Informationen, einschließlich taktischer Ratschläge, telefonisch an die Täter weiter.56 Der koordinierte Messerangriff auf den Bahnhof von Kunming, durch neun Uiguren am 1. März 2014, führte zu 31 Toten und 140 Verletzten.57 Bei einem vergleichbaren Angriff in Kashgar, wurden ein LKW und Stichwaffen in Kombination eingesetzt, hierbei kamen 14 Menschen ums Leben, während 42 verletzt wurden. Zwischen 2010 und Ende 2016 kamen weltweit bei 22 islamistisch motivierten Messerattacken, außerhalb des Nahen Ostens, 55 Menschen ums Leben und es wurden 225 verletzt.58

3.2.2 Multipler Anschlag, multiple Mittel Anschläge in Paris 2015 zeigten eine Fortsetzung des Trends, mehrere Ziele anzugreifen und dabei mehrere Mittel einzusetzen. Die Erweiterung des Wirkmittelspektrums erfolgt zwangsläufig durch die dank moderner Kommunikationstechnologie weltweit verfügbaren Erfahrungswerte bei der Nutzung unterschiedlicher Anschlagstaktiken. Mehrere koordinierte Anschläge erweitern die Erfolgsaussichten, weil

56Hana

Levi Julian, „Terrorist Phone Transcripts Evoke Horror of Mumbai Attacks“, Israel National News, 7 January 2009, http://www.israelnationalnews.com/News/News. aspx/132160. 57„Messerattacke in KunmingChinesisches Gericht verurteilt drei Täter zum Tode“, Spiegel Online, 12. September 2014, http://www.spiegel.de/panorama/justiz/messerattacke-in-kunming-china-verurteilt-drei-taeter-zum-tode-a-991233.html. 58Eigene Zählung des Autors, beruhend auf Medienberichte.

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Sicherheitsbehörden ihre Ressourcen teilen müssen und die Verunsicherung der Bevölkerung die Wirkung potenziert. Außerdem ist die Herstellung von quasi infanteristischen Lagen, kombiniert mit Fahrzeugen, Sprengsätzen und Selbstaufopferung ein spürbarer Gewaltmultiplikator. Bei der Razzia in Folge des Pariser Terroranschlags im November 2015, verbrauchte die Polizei 5000 Schuss Munition, was ausreichte um bei Bürgern den Eindruck zu erwecken, man befände sich im „Bürgerkrieg“.59 Die Kombinierung von Methoden deckt somit das gesamte Spektrum, vom Messerangriff bis zum Einsatz von Massenvernichtungswaffen, ab. Islamistische Akteure sind mehr als nur asymmetrische Akteure, sie sind Anhänger eines pragmatischen „Kriegerethos“, jener martialischen Wertvorstellungen des 7. Jahrhunderts. In ihrer Gewaltanwendung unterscheiden sie kaum zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, sind zielorientiert und flexibel in ihrer Differenzierung zwischen Krieg und Frieden, vertreten einen fatalistischen, apokalyptischen Ansatz in der Herangehensweise, der weit über das Phänomen der Selbstaufopferung hinausgeht. Gelegenheitsziele, einhergehend mit bevorzugten Zielen von Symbolkraft, werden auch mit allen verfügbaren Mitteln angegriffen.

3.3 Der Technologiesprung Die größte Variable in der Konfliktgeschichte war der technologische Fortschritt. Ob Steigbügel, Armbrust, Schießpulver oder die Atombombe, der technologische Vorteil war häufig kriegsentscheidend. Im postnationalstaatlichen Zeitalter schwindet die Hoffnung auf eine völkerrechtliche „Bändigung“ des Krieges und seiner Mittel, und es steigt die Wahrscheinlichkeit von Großschadensereignissen durch nichtstaatliche Akteure. Wäre der staatliche Akteur möglicherweise noch geneigt, durch eine rationale „Kosten-Nutzen-Rechnung“ den Einsatz geächteter Wirkmittel zu vermeiden, so ist ein religiös motivierter nichtstaatlicher Akteur relativ unberechenbar. Technologisch bedingte Veränderungen im Wirkungsraum und der Kommunikationsgeschwindigkeit von nichtstaatlichen Akteuren erzwingen eine nachhaltige Machtverschiebung und bedrohen die internationale Ordnung.

59Razzia

bei Paris: Terrorzelle bereitete neuen Anschlag vor, Neue Züricher Zeitung, 19. November 2015, https://www.nzz.ch/international/terroranschlaege-in-paris/terrorzelle-bereitete-neuen-anschlag-vor-1.18648965.

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Internetbasierte Kriminalität und Angriffe gegen kritische Infrastruktur wertet der ehemalige US-Verteidigungsminister Leon Panetta 2014 daher als Bedrohung der nationalen Sicherheit60, während die weltweiten Wirtschaftsschäden für 2013 auf circa 400 Mrd. US$ berechnet werden.61 Panetta warnte jedoch vor direkten Bedrohungen gegen die staatlichen Infrastruktur und der Bevölkerung, einem „Cyber Pear Harbor“, indem er sagte: „An aggressor nation or extremist group could use these kinds of cyber tools to gain control of critical switches. They could derail passenger trains, or even more dangerous, derail passenger trains loaded with lethal chemicals. They could contaminate the water supply in major cities, or shut down the power grid across large parts of the country.“ Dabei deutete er aber auch die verschwimmenden Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Zielen an, indem er sich auf den Angriff gegen die Ölfirma „Saudi Aramco“ berief, die im August des gleichen Jahres durch einen Cyberangriff 30.000 ­Computer verlor.62 Organisationen, aber auch Einzelpersonen verfügen über technologische Fähigkeiten, die zuvor ausschließlich staatlichen Strukturen zugänglich waren und die es ihnen ermöglichen, ohne Kriegerklärung oder Invasion, die wirtschaftlichen und militärischen Fähigkeiten des Zielstaates zu behindern oder zu lähmen. Die zuvor erwähnte Veränderung des Stellenwerts von Geografie bzw. Territorium durch die Entstehung von „Cyberraum“, stellt den Staat sofort vor zwei schwer lösbare Fragen, nämlich die des Angriffsursprungs und die der Zuständigkeit. Weder See- noch Völkerrecht bieten Antworten auf virtuelle Bedrohungen.63 Cyberzugang, aber auch Drohnen und Herstellungsfähigkeiten für Massenvernichtungstechnologie, stellt in vielen Gebieten mehr als nur eine Waffengleichheit zwischen Staaten und nichtstaatlichen Akteuren her. Aufgrund kürzerer Beschaffungswege, weniger bürokratischen und rechtlichen Hürden, entstand

60Elisabeth

Bumiller and Tom Shanker, „Panetta Warns of Dire Threat of Cyberattack on U.S.“, The New York Times, 11 October 2012, http://www.nytimes.com/2012/10/12/world/ panetta-warns-of-dire-threat-of-cyberattack.html?_r=0. 61Net Losses: Estimating the Global Cost of Cybercrime, Center for Strategic and International Studies June 2014, http://www.mcafee.com/us/resources/reports/rp-economic-impact-cybercrime2.pdf. 62ebd. 63Hâkan Gunneriusson, „Nothing is Taken Serious Until it Gets Serious: Countering Hybrid Threats“, Defence Against Terrorism Review, Vol. 4 No. 1, Spring & Fall 2012, S. 47–70, S. 61.

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sogar ein Wettbewerbsvorteil des nichtstaatlichen Akteurs über den staatlichen. „Recent rapid technological change, which allows terrorists to reach a large audience quickly and directly, has enabled them to achieve their messaging goals without launching large-scale attacks which demand significant physical infrastructure,“ schlussfolgert das National Counterterrorism Centre der USA.64 Die Verbilligung von Forschungsprozessen, -ausrüstung und der vereinfachte Zugang zu Wissen, erhöhen die Sorge, dass Terroristen in Zukunft erleichterten Zugang zu Risikotechnologien haben werden. Abgesehen von der realen Möglichkeit, dass Staaten wie Iran oder Nordkorea einen nichtstaatlichen Akteur als „Träger“ mit Nuklearwaffen versorgen, sind Wissenschaftler besorgt über den Zugang zu „Jamming“ oder „Spoofing“-Fähigkeiten, die aufgrund der dualtechnologischen Vernetzung weitreichende Folgen für Schlüsselinfrastuktur haben können.65 Bereiche der Nanotechnologie, „synthetischer Biologie“ bzw. Biotechnologie bieten dabei ein Betätigungsfeld von solcher Brisanz, dass wissenschaftliche Veröffentlichungen zurück gehalten werden, um somit den Zugang für Terroristen zu erschweren. Durch vergleichsweise billige Minilabors, verfügbar über eBay, entsteht eine neue apokalyptische Dimension terroristischer Bedrohungen, so schreibt Ronald Nobel: „The misuse of synthetic biology and similar pioneering scientific technologies represents a multidimensional global threat that is becoming tomorrow’s reality“.66 Auf anderer Ebene sind es nicht die Datenautobahnen, die aus der Sicht nichtstaatlicher Akteure ausschlaggebend sind, sondern die Verfügbarkeit billigerer Wirk- und Transportmittel. Verbesserte Land-, Wasser- und Luftwege, im Zusammenhang der oben ausgeführten Migrationsmuster, bieten nichtstaatlichen Akteuren eine Optimierung des „traditionellen“ Handlungsspektrums. Totgeglaubte Arten von Kriminalität haben im ersten Jahrzehnt nach dem Millenniumswechsel, moderne Staaten vor Herausforderungen gestellt, die für diese nur schwer zu handhaben waren. Piraterie erlebte einen Aufschwung und bedrohte die Seewege, die Pulsadern einer zunehmend interdependenten Weltwirtschaft.

64Sarborough,

Rowan, “Exclusive: Intel report says terrorists scrap large-scale plots for stealth solo attacks”, Washington Times, 4 January 2017, http://www.washingtontimes. com/news/2017/jan/4/terror-groups-abandoning-complex-plots-concentrate/. 65Erhart, Hans-Georg (et al.), Analyse sicherheitspolitischer Bedrohungen und Risiken unter Aspekten der Zivilen Verteidigung und des Zivilschutzes. Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, 2015, S 53–54. 66„Keeping Science in the Right Hands: Policing the New Biological Frontier“, Foreign Affairs, Vol. 92, Nr. 6, November/December 2013.

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Piraten mit niedrigtechnologischen Küstenfischkuttern und Kalaschnikows wandelten sich zu high- und lowtech-Akteuren mit logistischer und informationsreicher Ausstattung. Einerseits gewannen sie wichtige Informationen durch die high-tech Mittel, wie sie oben erwähnt wurden, anderseits setzen sie Sturmgewehre und Panzerfäuste aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts ein. Als die Hisbollah sich 2006 überraschend gegen die israelische Armee behaupten konnte, geschah dies überwiegend aufgrund des asymmetrischen Einsatzes von sogenannter „RAMM-Technologie“ (Rocket, Artillery. Missile and Mortar), also eher leicht verfügbaren konventionellen Wirkmitteln, aus denen Sprengfallen, rudimentäre Luftabwehr durch „MANPADS“ und eine auf List und gelungener Ausnutzung bekannter gegnerischer Handlungsmuster gebaute Panzerabwehr gewonnen werden konnte. In Kombination mit high-tech-Fähigkeiten, bei denen eben auch moderne Panzerabwehrsysteme, Abhörmaßnahmen gegen den israelischen Funkverkehr und langfristig angelegte Täuschungsmaßnahmen zum Tragen kamen, gelang es, die überlegenen israelischen Streitkräfte zu bremsen.67

4 Fazit Die Phänomene „Suizidalterrorismus“, „komplexe Anschläge“ oder „Einzelterrorismus“ bleiben weiterhin Merkmale und wirksame Instrumente, welche überwiegend mit dem islamistischen Terrorismus in Verbindung gebracht werden und wofür es im islamischen Kulturkreis auch ein „kulturelles Skript“ zu geben scheint. Als Machtverstärker nutzen Organisationen wie der IS damit eine historisch bewährte, relativ risikoarme, asymmetrische Kriegsmethode, für die ihre postheroischen, regelorientierten, rechtsstaatlich aufgestellten Gegner kaum angemessene Antworten haben. Es ist anzunehmen, dass die Anzahl der opferbereiten Täter nur durch den demografischen Wandel, d. h. einer Alterung der muslimischen Bevölkerung abnehmen und folglich noch über Jahrzehnte eine sicherheitspolitische Herausforderung darstellen wird. Während die Mehrzahl der Anschläge in Krisengebieten stattgefunden hat, steigt die Anzahl der Anschläge und die Gefahr für Europa durch demografische Verschiebungen, der zunehmenden Reichweite nichtstaatlicher Akteure wie des IS oder auch der Hisbollah und dem damit einhergehenden Konflikttransfer.

67Mark

Perry and Alastair Crooke, „How Hezbollah Defeated Israel: Winning the Intelligence War“, Asia Times, 12 October 2006, http://www.conflictsforum.org/2006/how-hezbollah-defeated-israel/.

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Die neuen Fähigkeiten des nichtstaatlichen Akteurs rauben dem staatlichen Akteur den sicherheitspolitischen Wettbewerbsvorteil. Die Mischung aus Technologie, Migration und demografischem Wandel, aber auch gravierende Mentalitätsdefizite, darunter Denkverbote und postheroische Fehleinschätzungen, ermöglichen die Evolution des Terrorismus zur existenziellen Bedrohung westlicher Gesellschaften. Politische Entscheidungsträger und Sicherheitsbehörden westlicher Staaten haben sich an sicherheitspolitische Vorstellungen „gekettet“; zuvörderst mental, aber oft durch völkerrechtliche Verpflichtungen und internationale Abkommen kodifiziert, die nicht die Realität, sondern eher die Kantsche Moralphilosophie abbilden. Der geringe Entscheidungsspielraum der staatlichen Akteure ermöglicht Terroristen ihre Entfaltung. Mit dem Beginn des „postwestlichen Zeitalters“ kann sich dies weiter verschärfen und drohen Terrorismusszenarien sich, in Staaten mit signifikanten muslimischen Bevölkerungssegmenten, in Aufstandsszenarien zu wandeln. Dies kann eine Balkanisierung erzeugen und damit dauerhafte Destabilisierung bewirken. Solche fragmentierenden Gesellschaften sind die ideale Brutstätte – wie gescheiterte Staaten entlang der Entwicklungsperipherie immer wieder zeigen – für nichtstaatliche Akteure, die sich der Rangordnungs-, Regel- und Ressourcenkonflikte ethnokulturell vielfältiger Gesellschaften bedienen. Der Terrorismus der Zukunft kann dadurch quantitative und qualitative Dimensionen erreichen, die weit jenseits des Vorstellungsraums jetziger Abwehr- und Bekämpfungsstrategien liegen.

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