Idea Transcript
Bernhard Welte Zur Frage nach Gott
Bernhard Welte Gesammelte Schriften im Auftrag der Bernhard-Welte-Gesellschaft und in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsbereich Christliche Religionsphilosophie der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg herausgegeben von Bernhard Casper Band III/3 Zur Frage nach Gott
Bernhard Welte
Zur Frage nach Gott Eingeführt und bearbeitet von Holger Zaborowski
H E R D E R F R E I B U R G • BASEL
WIEN
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2008 Alle Rechte vorbehalten www.herder.de Umschlaggestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: fgb • freiburger graphische betriebe www.fgb.de Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-451-29212-5
Inhalt
Einführung
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von Holger Zaborowski Hinweise zur Edition
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Die Grenze als göttliches Geheimnis (1958)
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Die philosophische Gotteserkenntnis und die Möglichkeit des Atheismus (1966)
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Ein Experiment zur Frage nach Gott (1972)
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Versuch zur Frage nach Gott (1972/75)
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Glaube an Gott und Entfremdung (1975)
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Über die verschiedenen Bedeutungen des Nichts (1975)
. . . .
Der Atheismus: Rätsel - Schmerz - Ärgernis (1978)
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Über zwei Weisen des philosophischen Denkens und deren Folgen für die Religionsphilosophie (1980)
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Das Licht des Nichts. Von der Möglichkeit neuer religiöser Erfahrung (1980)
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Inhalt
Anhang Nachweise der Erstveröffentlichungen
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Personenregister
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Sachregister
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Einführung
Gegenwärtig wird wieder viel über die sogenannte Gottesfrage gestritten, die Frage also, ob Gott existiere und was dies eigentlich bedeute. Der Glaube an Gott, so einige Stimmen, sei eine Illusion; Religion sei gefährlich, und es gelte, den Menschen aus der Unmündigkeit des Glaubens zur Reife eines selbstbewussten Nicht-Glaubens zu führen. Für diejenigen, die mit der Philosophie des 19. Jahrhunderts und damit auch mit der sogenannten »Religionskritik« vertraut sind, klingen viele der Argumente, die erneut gegen den Glauben an Gott und die Religion vorgebracht werden, sehr vertraut. Aber es kann kaum genügen, darauf hinzuweisen, daß das, was die heutigen Religionskritiker vorbringen, bereits - und oft auf viel höherem Denkniveau - von Feuerbach, Marx, Freud und Nietzsche artikuliert wurde. Denn die Frage, die mit der Gottesfrage artikuliert wird, bleibt eine nach wie vor wichtige Frage, die sich auch dem an Gott Glaubenden immer wieder stellt. Angesichts des Bösen und des Leidens in der Welt, angesichts der Genozide und Kriege, angesichts der Erfahrung des »Fehls« oder »Schweigens« Gottes in der Moderne, angesichts der zerbrochenen Gewissheiten - kann man angesichts all dessen noch so einfach von der Existenz Gottes sprechen? Ist die Erfahrung, daß Gott tot sei oder daß zumindest seine Existenz fraglich und unsicher geworden sei, nicht viel verbreiteter als die Erfahrung, daß Gott existiert? Die moderne Nicht-Erfahrung Gottes ist eine Erfahrung, von der auch Bernhard Welte sehr oft ausging; das Fraglich-Werden überlieferter Gewißheiten war ein wichtiger Anstoß für sein religionsphilosophisches Denken. Immer wieder hat er sich daher mit der Frage nach Gott beschäftigt und versucht, aus philosophischer Sicht eine Antwort zu formulieren. Sein Denken zur Gottesfrage hat dabei den Charakter von Versuchen oder Experimenten: Es handelt sich um sehr vorsichtige Denkbewegungen, die den Leser einladen, mitzudenken und seine eigenen Erfahrungen - auch die, daß die Erfahrung Gottes in unserer heuti7
Einführung
gen Situation erst einmal ausbleibt - ernst zu nehmen. Wir können nämlich nicht einfach die »Zeichen der Zeit« ignorieren. Wir können aber auch eine andere Erfahrung nicht leugnen: daß es uns sterblichen Menschen letztlich in all unserem Handeln um etwas geht, darum, daß unser Leben Sinn hat, und daß wir immer auch die Erfahrung von Sinn machen. Es ist vor allem die Begegnung mit anderen Menschen, an die Welte hier denkt: »Es ist der lebendige Ernst des Ethischen, der in diesem Kontext zur Erfahrung wird, eine Erfahrung, die uns lehrt, daß das Gute wirklich Sinn hat, und die uns auch verwehrt, nicht daran zu glauben.« Wir können daher, so Welte, wenn wir unsere Erfahrungen wirklich ernst nehmen, vorsichtig darauf setzen und hoffen, daß in der Erfahrung des Nichts ein Licht auftaucht - das »Licht des Nichts« - , daß also unser Leben zuletzt Sinn hat, weil es getragen ist von jener sich gerade auch in ihrer Abwesenheit zeigenden Macht und Fülle, die wir »Gott« nennen. Daher muss, so Weltes These in den verschiedenen Aufsätzen dieses Bandes, unsere Sehnsucht nach Sinn nicht in die Leere gehen, sondern es kann uns Gott - der wahrhaft göttliche und nicht ein von Menschen gemachter oder ein dem menschlichen Denken unterworfener Gott - in unserem Leben begegnen. Im Modus der vernünftigen Hoffnung, so Weltes These daher, können wir in intellektueller Redlichkeit auf Gott setzen. Der Atheismus, die Leugnung der Existenz Gottes, hat, so ernst wir auch die Erfahrungen nehmen müssen, die sich in den verschiedenen Formen des Atheismus aussprechen, nicht das letzte Wort. Das letzte Wort ist, so Welte, ein Wort des Zu-Spruchs Gottes. Daß das Denken Weltes auch Dimensionen eines im Vergleich mit der philosophischen und theologischen Tradition »andersanfänglichen« (Martin Heidegger) oder »neuen« (Franz Rosenzweig) Denkens hat, zeigt Weltes Aufsatz »Über zwei Weisen des philosophischen Denkens und deren Folgen für die Religionsphilosophie«, in dem er den Anspruch und die Weise seines religionsphilosophischen Denkens darstellt und im Zusammenhang der Geschichte der Philosophie rechtfertigt. Das »Verhältnis« und das »Ereignis« stehen im Vordergrund dieser von Welte für das christliche Denken fruchtbar gemachten Denkweise - einer Denkweise, deren Bedeutung in den Jahren seit Weltes Tod nicht ab-, sondern vielmehr zugenommen hat. Hier bietet Weltes Denken wichtige Anstöße für ein fruchtbares Weiter-Denken und Weiter-Versuchen. Für ihre freundliche Mithilfe bei der Herausgabe dieses Bandes danke 8
Einführung
ich sehr herzlich Frau Daniela Nebel, Frau Rosmarie Rückert und Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Bernhard Casper. Washington, D.C., im Mai 2008
Holger Zaborowski
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Hinweise zur Edition
Eigenheiten Weltes in der Zeichensetzung sowie die von Welte genutzte alte Rechtschreibung wurden bis auf wenige Ausnahmen beibehalten. Die Fußnoten Bernhard Weltes wurden überprüft, formal vereinheitlicht und, wo nötig, ergänzt. Offensichtliche Druckfehler, Fehler in Zitaten und bei Quellenangaben in den Fußnoten wurden stillschweigend korrigiert. Angaben in eckigen Klammern stammen vom Herausgeber dieses Bandes. Klassische Autoren werden nach den üblichen Ausgaben und in den gebräuchlichen Zitationsweisen zitiert. Bei Zitaten aus den Werken oder Hinweisen auf die Werke Heideggers oder Nietzsches wird entweder zusätzlich zu den von Welte gemachten Angaben in eckigen Klammern auf die entsprechende Stelle der Gesamtausgabe oder nur auf die Stelle in der Gesamtausgabe - mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl - verwiesen. Dabei wurden die folgenden Siglen verwendet: KGA
Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, begründet von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin und New York 1967ff. GA Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Frankfurt am Main 197 5 ff. BWGS Mit dieser Sigle wird die hier vorliegende Ausgabe von Bernhard Welte, Gesammelte Schriften, unter nachfolgender Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl zitiert. r
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Die Grenze als göttliches Geheimnis
Auf mannigfaltige Art und in unterschiedlicher Funktion ergeben sich Fragen der Grenze im Leben der Wissenschaft. Dazu soll einleitend eine Besinnung angestellt werden, darüber, was Grenze überhaupt ist und bedeutet im Leben der Wissenschaft im ganzen und im Antlitz der der Wissenschaft zugrunde liegenden wißbaren Welt. Wir versuchen, diese Besinnung in drei Stufen durchzuführen. Es wird zuerst ein Umblick anzustellen sein im Kreise der Wissenschaften, der uns darüber belehren soll, wo in diesem Kreise Grenzen verlaufen. Es wird dann und darüber hinaus ein Einblick versucht werden in das, was die Grenze in sich selber ist. Schließlich wird am Rande alles Begreifbaren ein Versuch gewagt zum Verstehen des Sinnes von Grenze überhaupt aus ihrem Ursprung.
I. Daß es im Leben der Wissenschaft vielfach Grenzen gibt, ist zunächst eine beinahe banale Tatsache. Eine Wissenschaft ist nicht die andere, sie sind also gegeneinander abgegrenzt, und so gibt es Grenzen zwischen allen Wissenschaften und im ganzen Kreise ihres Lebens. Warum aber gibt es solche Grenzen, die Wissenschaft gegen Wissenschaft abgrenzen? Wo kommen diese Abgrenzungen her, wo ist ihr Ursprung? Es gibt Grenzen zwischen Wissenschaft und Wissenschaft, weil das zu Wissende, das, was ist, wie in großen Familien gesammelt und geordnet erscheint, deren jede ihr eigenes Gepräge und Antlitz hat und darin geschieden und abgegrenzt ist von jeder anderen. Die Wissenschaft hat es mit dem zu tun, was ist, und so gründen ihre, der Wissenschaft, Grenzen, in jenen Grenzen, die im Bereiche dessen, was ist, Re11
Die Grenze als göttliches Geheimnis
gionen je eigentümlicher Art um- und abgrenzen. Das Physikalische, als Versammlung vieler Erscheinungen dessen, was ist, hat ein eigenes Gesicht und Gepräge, und dieses ist anders als das des Chemischen, anders als das des Lebendigen und das des Menschlichen, und im Räume des Menschlichen ist anders das Gepräge des Sprachlichen, des Rechtlichen, des Geschichtlichen, der Kunst, der Religion usf. Das Leben der Wissenschaft hat es mit regionalen Ab- und Umgrenzungen, und darin mit eigengeprägten Bereichen des Seienden je und je zu tun. In diesen Bereichen des Seienden zuerst sehen wir um- und abgrenzende Grenzen. Wir übersehen dabei für den Augenblick die Frage: Welche Um- und Abgrenzungen im Gesamt des Seienden als regionale eine eigene Wissenschaft konstituieren und welche nicht. Es genügt für uns zunächst zu sehen: Um- und abgrenzende Grenzen der Wissenschaft gründen in Grenzen der Bereiche des Seienden, durch die eben dieses Seiende in regionalen Grenzen geordnet erscheint. Diese regionalen Grenzen des Seienden sind es, die im eigentlichen Sinne Grenzen in der Wissenschaft begründen und ihren Gesamtbereich gleichsam unterteilen. Dann aber gibt es noch die schwerer wahrzunehmenden Grenzen anderer Art, die gleichwohl auch, ja noch wesentlicher zum Leben der Wissenschaft gehören. Es sind jene, welche nicht innerhalb des Bereiches der Wissenschaft verlaufen, sondern an den Grenzen der Wissenschaft selber. Nicht zwischen Wissenschaft und Wissenschaft also, sondern zwischen Wissenschaft und dem, was noch nicht oder nicht mehr (oder nicht mehr im selben Sinne) Wissenschaft ist. Es sind Grenzen, die gleichsam hinter der Wissenschaft und vor der Wissenschaft liegen. Hinter der Wissenschaft liegen Grenzen in jener Gegend, aus der eine jede Wissenschaft ihre Herkunft bezieht. Die Naturwissenschaft z.B. kommt daher, daß sich Natur selbst als eine eigene Region dem Wissen gezeigt hat. Die Wissenschaft von der Natur geht aber nicht auf das zu, was Natur selbst als ein eigenes Gepräge ist oder was Natur zur Natur macht. Dies ist keine naturwissenschaftliche Frage. Es liegt als Frage gleichsam im Rücken der Naturwissenschaft, welche in ihrem Gange wohl auf die Erscheinungen in der Natur zugeht, eben damit aber jene Frage immer schon hinter sich hat: was Natur als Natur sei und woher sich diese als solche konstituiere. Solche Wissenschaft von der Natur ist immer und nicht zufällig abgegrenzt gegen ihr Woher und ihren Grund, gegen das, was Natur selbst ist und konstituiert. Diese eigentümliche Grenze im Rücken der Naturwissenschaft ist aber wiederum nur deswe12
Die Grenze als göttliches Geheimnis
gen als Grenze da, weil sich offenbar die Konstitution der Natur selbst als Region des Seienden von je abgegrenzt und abgelöst hat von der Fülle der Erscheinungen in der Natur. Wie bei der Wissenschaft von der Natur so ist es bei allen Wissenschaften im eigentlichen und engeren Sinne: Sie leben ihr Leben in Abgrenzung von dem, woher sie kommen und was ihren Bereich als solchen konstituiert. Die Fragen: was die Natur sei oder das Recht oder die Sprache: diese Fragen fallen nicht in den Bereich der Wissenschaften der Physik oder der Jurisprudenz oder der Philologie. Es sind vielmehr Fragen philosophischer Art. Die Philosophie aber, welche solche Fragen bedenkt, ist nicht eine Wissenschaft im selben Sinne wie jene Einzelwissenschaften. Hier ist eine Grenze spürbar eigener und grundsätzlicher Art. Sie grenzt Wissenschaften im ganzen von ihren Voraussetzungen und damit vom Bereiche der Philosophie ab. Gibt es nicht auch Grenzen, die vor der Wissenschaft liegen, also in der Richtung ihres Ganges? Liegt Wissenschaft als Forschung nicht immer gerade an dieser Grenze, die vor ihr liegt, an der Grenze des Ungewußten als des noch nicht Gewußten, welche Grenze die Wissenschaft als Forschung bedrängt und inspiriert zugleich? Das Nicht-Gewußte ist bedrängend, aber es ist auch der Antrieb allen Fortschrittes. Alle Forschung lebt darauf zu, es aufzuhellen und damit die Grenze des Wissens vor- und immer weiter vorzuschieben. Wie weit? Gibt es das Nicht-Gewußte vielleicht nicht nur als das noch nicht Gewußte, sondern am Ende auch als das Unwißbare schlechthin, als diesen äußersten Horizont, der vor unserem wissen wollenden Zugriff immer entfliehen wird und an den wir doch denken können? Denn wie könnten wir sonst auch nur - denkend doch! - von der Möglichkeit des Unwißbaren sprechen, das an den Grenzen der Menschheit sich ankündigt, indem es entflieht? Grenzen also in den Wissenschaften, weil Grenzen in den regionalen Ordnungen des Seienden; Grenzen hinter den Wissenschaften in jenem Bereich, in dem diese regionalen Ordnungen entspringen; Grenzen vor den Wissenschaften, an der Schwelle des immer Gesuchten und immer fliehenden noch nicht Gewußten. Solches sehen wir bei unserem ersten Umblick nach Grenzen im Kreise der Wissenschaften. Wir sehen im Überblick, wo da Grenzen verlaufen im Inneren der Wissenschaften und um die Wissenschaften herum.
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Die Grenze als göttliches Geheimnis
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Durch diese Überlegung wissen wir indes noch nicht, was die Grenze selbst ist, wir kennen das Was und Wesen der Grenze noch nicht. Wir sind erst, und das vorläufig genug, darüber orientiert, wo solche Grenzen verlaufen. Es ist eigentümlich: Wer von Grenzen spricht, dem kommt, so wie es uns soeben ging, immer zuerst anderes als die Grenze selbst in den Mund: das Umgrenzte und Abgegrenzte und also das, woran oder worin oder wozwischen die Grenze verläuft, aber nicht die Grenze selbst. Was ist die Grenze selbst, von der wir sagen, daß sie an verschiedenen Stellen durch das Wissen, weil zuerst durch das Seiende verlaufe? Stellen wir die Frage so, dann kommen wir schnell in Schwierigkeiten, und wir sehen bald, daß uns entflieht, was uns zunächst als leicht greiflich schien. Das Denken kommt mit dieser Frage durch wenige Schritte in einen Bereich, in dem es ihm schwindlig werden kann. Was ist das an ihm selbst, was zwischen einem Bereich und einem anderen Bereich - betrachten wir die Grenze einmal in dieser ihrer einfachsten Stellung - ver-läuft? Was läuft denn da? Nichts läuft da. Wenn Botanik von Zoologie, wenn Rechtswissenschaft von Volkswirtschaft und so fort abgegrenzt ist: dann ist die Grenze nicht noch einmal eine zu beschreibende Pflanze, ein zu wissendes Tier, ein Gesetz, ein Wirtschaftsfaktum. Ist sie nicht vielmehr nur das Aufhören, das Nicht-mehr-sein des Bereiches der Tiere oder der Pflanzen oder der Gesetze usf.? Ist sie nicht bloß Nicht-Tier, Nicht-Pflanze und am Ende gar Nicht-Etwas überhaupt? Das Nicht-Etwas aber, dies ist eben das Nichts. Auch Grenzen zwischen Ländern sind ja nicht ein drittes Niemandsland - ein solches müßte ja dann wieder seine Grenzen haben - , sondern auch diese Grenze ist gar kein Land und in diesem Sinne ein Nichts! Die Grenze an ihr selbst ist im ersten Blicke betrachtet ein wahrhaftiges Nichts. Und doch ist die Grenze auch nicht nichts. Denn sie grenzt ja doch die Bereiche des Seienden und im Gefolge dessen die Wissenschaften um und ab. Darin konstituiert sie gerade die Wissenschaft. Wie könnte sie dann nichts sein, da solches Konstituieren doch nichts weniger als nichts ist? Die Grenze selbst scheint ein Nichts zu sein, das etwas ist. Sie scheint ein Rätsel zu sein. Oder ist sie vielleicht gar ein Wunder? 14
Die Grenze als göttliches Geheimnis
Wir werden an dieser Stelle spüren: Wenn wir die Grenze selbst zu denken versuchen, dann müssen wir auf eine ganz andere Art zu denken beginnen gegenüber der Weise des Denkens, die in den Wissenschaften selbst gebraucht wird und gebraucht werden muß. Denn wo wir es mit der Grenze zu tun haben, da haben wir es nicht mehr mit einem Etwas im Sinne eines Gegenstandes von Wissenschaft zu tun, aber auch nicht mit einem Nichts im Sinne der bloßen Negation solcher Gegenständlichkeit. Da müssen wir also über diese wahrhaftigen Säulen des Herkules, über Etwas und Nichts, hinausfahren in ein ganz neues und anderes Gewässer jenseits der bewohnten Ufer. , Was ist dieses Nichts, das etwas ist, dieses Etwas, das nichts ist? Es waltet doch jedenfalls. Es ist ein Waltendes jenseits aller Gegenständlichkeit und aller Negation von Gegenständlichkeit. Wir können das Walten dieses Waltenden aber wohl in den Blick eines neuen Denkens nehmen. Und dann können wir vielleicht sehen, wie das waltet, was wir Grenze nennen; und am Ende können wir vielleicht sogar durch dieses Wie hindurch verstehend zu ahnen beginnen, was da waltet, indem Grenze waltet. Grenze waltet als Bestimmung. Alles Seiende ist in einer bestimmten Bestimmung, die es als ein solches prägt und in dieser bestimmten Prägung festhält und darin mit vielem seinesgleichen versammelt. Überall blickt uns geprägte versammelnde Bestimmtheit an, aus jedem Seienden und aus jeder Region des Seienden, und in dieser Bestimmtheit ist ein jedes das, was es ist, und eine jede Region ist die, die sie ist: Tier ist Tier, und Mensch ist Mensch, und Sprache ist Sprache usf. Überall ist ein gefügtes Gefüge, überall ist ein gezeichnetes Antlitz. Gefüge und Antlitz sind immer bestimmt und deutlich. Immer ist ein Tier oder eine Kultur oder eine Krankheit oder was es sein mag eben dieses Bestimmte und Deutliche, was es ist. Wäre diese Bestimmtheit nicht, dann flösse alles chaotisch, wüst und wirr ineinander und durcheinander, und es gäbe dann wie keine Bestimmtheit, so keine mögliche Wissenschaft. Ist dieses Unscheinbare nicht eigentlich wunderbar: daß jegliches in seiner Bestimmtheit deutliches Antlitz hat und darin steht und uns so anblickt! Es waltet wunderbar überall Bestimmung als dieses Deutliche und Feste und zugleich damit als das, was alle zerstreute Vielheit in solche feste Deutlichkeit sammelt. Dieses bestimmende und sammelnde Walten, das, jenseits von Etwas und Nichts, doch alles, was ist, durchwaltet und damit dem Wissen darbietet und zum Wißbaren macht: Es ist 15
Die Grenze als göttliches Geheimnis
das, was Grenze selbst zuerst ist. Sie ist determinare als Einweisen in das stehende und sammelnde Gepräge. Das in solcher Einweisung Bestimmte wird in der Wissenschaft in seiner Bestimmung erforscht und gedacht und nachvollzogen. Die Macht der Grenze, als bestimmendes Walten begriffen, macht Wissenschaft allererst möglich und erhebt ihre Weisen des Denkens und Arbeitens aus der Regellosigkeit und Planlosigkeit zerstreuter Einzelbemerkungen. Indessen: Die Bestimmung ist immer zugleich auch Negation, also anscheinend, nämlich vom Etwas und Nichts her gerechnet, das Gegenteil von Bestimmung. »Omnis determinatio est negatio.« Was als Bestimmendes waltet, waltet auch als Nichtendes, und von daher nennen wir es recht eigentlich erst Grenze. Was bestimmt ist, ist dieses und nicht das andere, sonst wäre es nicht bestimmt. Es scheidet sich so negativ ab vom anderen seiner. Die Natur ist Natur - und nichts anderes. Das Recht ist Recht - und nichts anderes. Eine jegliche Washeit ist bestimmt in dem Nichten oder der Negation anderer Washeiten, eine jegliche Region in der Absetzung von anderen. So ist das Grenzende als das alles Durchwaltende zugleich nichtend, und so hält es die Regionen des Wißbaren negativ auseinander - ohne doch etwas zu sein. Die Unterscheidung, das reine Geschehen des Nichts, das alles auseinanderhält: Diese distinctio finden wir in eines mit der determinatio im einen waltenden Wesen der Grenze. Sollten wir uns nicht auch darüber einmal wundern, daß alles in seiner Bestimmtheit auseinandergelegt ist durch dieses überall waltende wunderbare Nicht der Grenze, welches Seiendes von Seiendem, Washeit von Washeit und Region von Region scheidet und in solcher Scheidung allererst die Welt zu einer deutlichen macht, zu einem mundus distinctus und weil distinctus intelligibilisl Grenze waltet also zunächst als Position, d.h. als Bestimmung, sie waltet auch als Negation, d.h. als Unterscheidung. Aber wir müssen nun dem hinzufügen: als eine Unterscheidung, die überall zugleich vereint. Das Disjunktive der Grenze ist auch konjunktiv. Wer z.B. sagt: »Historie ist nicht Rechtswissenschaft«, der sagt beide Bereiche zusammen, die er durch das Nichts trennt. Er sagt im Grunde: »Das Geschichtliche ist das Geschichtliche und nicht das Rechtliche«, und er sagt also »und«. Die Grenze, die die Bereiche trennt, ist auch das ihnen beiden Gemeinsame. Ihrem Laufe entlang liegen die Bereiche, wie sie auseinanderliegen, auch aneinander, und dieses so nahe, daß nur »nichts« dazwischen liegt. Die 16
Die Grenze als göttliches Geheimnis
Grenze waltet, indem sie zusammenhält, verknüpft und benachbart, was sie zugleich trennt. Sie sammelt nicht nur das Umgrenzte in seiner Bestimmung, sie versammelt auch das Unterschiedene und Abgegrenzte über alle Unterschiede und Abgrenzungen hinweg in eine nirgends ganz zerreißende Einheit des Geschiedenen. Es liegt am scheidenden Wesen der Grenze selbst, daß dieses mit geheimnisvoller Notwendigkeit unverbrüchlich auch ein Verbindendes ist. Darum kann nichts auseinanderfallen in leere Isolation, darum bleibt alles im Grunde benachbart, und zwar kraft desselben, was alles bestimmt und alles scheidet, und nur deswegen kann es Grenzfragen geben, die es ja an allen Ecken und Enden im Gange der Wissenschaften gibt. Gehört nicht auch dieses wiederum zu den anfänglichen Wundern im Sein des Seienden: daß alles gefügt ist in eine Geschiedenheit, die als Geschiedenheit auch alles versammelt und verbindet? Was ist das, die Grenze? Bei ihr ist das Positive zugleich das Negative und das Negative zugleich das Positive, ihr Trennendes ist zugleich einend, und ihr Einendes ist zugleich trennend, ihr discretum ist zugleich continuum und ihr continuum zugleich discretum. Was ist das? So aber, im Walten dieses Waltenden, das wir Grenze nennen, begegnet uns und unserem Wissen, was immer ist. Nichts fällt aus diesem alles Durch- und Umwaltenden heraus, nichts ist noch kann sein, und nichts ist für Wissenschaft zu wissen noch kann wißbar werden, es sei denn ein Eines und damit ein Bestimmtes und nicht ein Anderes und damit ein Unterschiedenes, und nicht ein Anderes und damit ein Vereintes und Gesammeltes. Grenze ist so das Einssein von allem in der Scheidung von allem. Die Grenze, das als Grenze waltende Wesen, ist alles durchwaltend und überwaltend. Sie ist so selber un-begrenzt. Sie hat alles Seiende und alles Mögliche immer schon eingeholt und überholt. Was ist das, die Grenze? Dieses eine und einfache Waltende, das wir in solchen sich immer neu verschlingenden Worten von Bestimmung, Scheidung und Einung im Denken zu fassen und uns vor Augen zu führen suchen und das doch kein Dreifaches, sondern ein Einfaches ist, einfacher noch sogar als Etwas und Nichts, einfacher als Ja und Nein, in sich selbst nicht zusammengestückt aus einer Mehrheit von Stücken und doch nur in spannungsreichen und von anfänglichen Gegensätzen durchzogenen Bestimmungen sich fassenlassend, um zuletzt doch unfaßbar zu bleiben! Was ist das: die Grenze? Diese Frage, nun immer größer sich aufrichtend, fragt schließlich ins 17
Die Grenze als göttliches Geheimnis
Geheimnis des Seins selbst hinein. Sie kann keine Antwort haben im gewöhnlichen Sinne von Antwort. Was Grenze eigentlich sei, kann man nicht dadurch sagen, daß man ihr Was auf weitere Gründe und Voraussetzungen gegenständlicher und faßlicher Art zurückführt, auf ein Dies oder Das, das früher als sie wäre. Man kann das als Grenze Waltende wohl in der Meditation des Denkens umkreisen, wie wir es versuchten in Begriffen wie: »dieses« (Bestimmte), »nichts« (nichts anderes), »und«. Dieses sind aber Urbegriffe, die am Anfang allen Begreifens stehen, prima Simplicia, die nicht mehr auf weitere Begriffe reduzierbar sind. Und doch sehen wir, daß auch diese anfänglichen Begriffe noch und das, was sie zu begreifen suchen, abkünftig sind und herkünftig aus dem, was als Grenze unscheinbar waltet und durchaus einfach ist und darin in noch intensiverem Sinne ein primum simplex. Es ist in seiner eigensten unscheinbaren Einfachheit nicht mehr direkt faßbar. Wer da noch zu fassen sucht und über die Urworte zurückfragt, der fällt fragend und suchend in den Abgrund des Unergründlichen, in den nie begriffenen Anfang vor allem Anfang, aus dem sich unbegreiflich und doch sichtbar immer fort erhebt, was immer ist, als Gestalt und Gebild: vom Anfang und im Anfang stehend in der Klarheit wie in einem Morgenlicht, welches sofort und im Anfang und in einem Bestimmung, Scheidung und Versammlung zugleich ist. In solchem anfänglichen Lichte aber stehend, ist das Seiende mundus intelligibilis, und so allererst und anfänglich begründet es und belebt es das Leben der Wissenschaft. Wer über das Wesen der Grenze nachdenkend ihre unbegreifliche Abgründigkeit und Anfänglichkeit schließlich wahrnimmt, der wohnt in solchem Wahrnehmen vielleicht dem großen Anfang selbst denkend bei, jenem Anfang, der wohl immer noch am besten mit den einfachen und freilich nicht in der Weise der Wissenschaft sprechenden Worten des Anfangs der Bibel benannt wird: Das alte Heilige Buch sagt, am Beginne des 1. Mosesbuches: Im Anfang. Es spricht in einer 2. Strophe, diesen Anfang bedenkend, von »Irrsal und Wirrsal und Finsternis«. Und es spricht in der 3. Strophe von dem anfänglichen Licht, welches das Irre und Wirre klärt und so allen Anfang vollendet: »Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde. Die Erde war Irrsal und Wirrsal. Finsternis über Urwirbels Antlitz. Braus Gottes, schwingend über dem Antlitz der Wasser. 18
Die Grenze als göttliches Geheimnis
Gott sprach: Licht werde! Licht ward. Gott sah das Licht, daß es gut war. Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis. Gott rief dem Licht: Tag! und der Finsternis rief er: Nacht! Abend ward und Morgen ward: Ein Tag!« 1
Vielleicht ist das die Grenze: Wie Gottes anfängliches Sprechen die Welt anfänglich klärt und lichtet, indem er in schöpferischem Ausspruch ein Jegliches aus- und anspricht und nennt als das, was es ist, darin ein Jegliches zugleich scheidet, Licht und Finsternis, und das Geschiedene zugleich sammelt, auf daß es sei: ein Tag.
III. Ist die Grenze die Weise des schöpferischen Anfangs und Aufgangs der lichten und darin wißbaren Welt aus dem unbegreiflichen und nie nachzurechnenden Wesen Gottes, dann ist sie freilich selbst unbegreiflichen Wesens. Es entspringt einfach und unbegreiflich die Welt, und sie entspringt so, daß gleich ursprünglich Grenze entsprungen ist als die alles umwölbende und alles durchstrahlende Klarheit und Scheidung und Verknüpfung. Was aber als das durchaus Anfängliche nicht mehr begreiflich ist, nicht mehr faßlich und aus weiterem erklärlich, nur schließlich entgegenzunehmen aus dem stets großen Anfang, das muß deswegen doch nicht in jeder Hinsicht unverständlich sein. Es gibt einen möglichen Einklang des Verstehens im Vernehmen des Anfänglichen aus erster Hand, gerade auch dort, wo es kein Erklären mehr gibt und kein Begreifen. Wenden wir uns dem Versuch eines solchen Verstehens des Unbegreiflichen der Grenze schließlich zu. Es gibt vielleicht ein Verstehen des anfänglichen und unbegreiflichen Wesens der Grenze, weil es im Menschen selbst so etwas wie ein Schöpfertum gibt und eine ursprüngliche Produktivität, so etwas also wie einen lebendigen Spiegel und Abglanz des ersten vor- und übermenschlichen Schöpfertums. 1
Vgl. Die fünf Bücher der Weisung, verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit
Franz Rosenzweig, Köln und Ölten 1 9 5 4 , 9.
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In seinen großen Stunden sind aus dem Menschentum immer wieder die großen und merkwürdigen Werke hervorgegangen, die man Kunstwerke nennt. Ihr Hervorgang gehört ebenso ursprünglich zum Wesen des Menschen wie die Wissenschaft, aber er ist anderer Art. Die Kunstwerke kommen zuweilen über das Herz von Menschen nicht wie ein menschliches Gemachte, sondern wie ein göttliches Geschenk, wie ein unsterbliches Leuchten. Sie gehen dann in unbegreiflicher Anfänglichkeit, aber gleichwohl licht und in ihrer Lichtheit verstanden aus des Menschen Herz hervor. Sie gehen so zuweilen daraus hervor, daß dieses Herz des Menschen sich darin im Einklang weiß mit dem unsterblichen Leben, welches der Anfang der Welt ist. Darum ist es kein leichtfertig gesagter Satz, vielmehr ein in den wesentlichen Erfahrungen des Künstlertums sich immer wieder ausweisender, wenn gesagt wurde: Das menschliche Schöpfertum künstlerischer Art ist ein lebendiger Spiegel und Abglanz des ersten vor- und übermenschlichen Schöpfertums. Von diesem Spiegel als dem zwar nicht begreiflichen, aber verständlichen und uns Menschen näheren aus kann darum auch jene erste Unbegreiflichkeit und damit das Unbegreifliche der Grenze vielleicht verstanden werden. Wie geht es denn zu, wenn der Sänger singt und wenn der Tänzer tanzt und wenn der Bildner bildet? Was geschieht in immer wieder unbegreiflichem Ursprung von Lied, Tanz und Gebild aus dem Herzen des Menschen? Es geschieht zuerst eine unbegreifliche, aber verständliche und in sich helle Lust des Über-sich-hinaus-Gehens. Des Künstlers Lebensfülle überspringt leicht, als ob dies gar nichts wäre, die Grenze des »nur Ich«, sie unterscheidet im reinen Aufbruch, und es ist gerade darin erst des Lebens Fülle ungeschieden mit sich eins, viel lebendiger und ununterschiedener als in allem gehemmten und geizigen Sichsparen. Es ist da mit dem ersten Sprunge des Lebens schon Unterschied und Grenze entsprungen, Unterscheidung als Einheit des Lebens, Einheit als Unterscheidung des Lebens. Was aber da ging und sprang, das ging und sprang ganz leicht, und das verstand sich darin ganz gut. Was geschieht dann weiter im Ursprung von Lied, Tanz und Gebild, nachdem die erste Grenze so ursprungsleicht und ursprungsnah sich bildete? Es geschieht weiter, daß solches Leben sich aus der einfachen Inspiration seines inneren und innerlich hellen Gesetzes und Ursprungs heraus wie von selbst auseinanderwirft in ein Vieles von Tönen oder 20
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Bewegungen oder Farben und so auseinander, daß jedes Element dieses Vielen klar und bestimmt ist für sich und zugleich alle Elemente unverloren gesammelt: ein Leben, in allem ungeteilt. Der Sänger oder der Tänzer oder der Bildner, sie wissen wohl, warum es so sein muß, mögen sie es gleich nie begreifen oder sagen können: warum dieses Einige auseinandergehen muß und dieses Auseinanderliegende Eins sein muß. Und da sind ja, in dem, was sie wohl wissen und verstehen, wenngleich sie es nicht sagen können, die zweiten Grenzen leicht entsprungen, jene, die einen jeden Ton, einen jeden Schritt, eine jede Farbe bestimmen, die dieses Viele zugleich unterscheiden und dies alles zugleich in der Einheit halten und sammeln: alle Töne ein Lied, alle Schritte ein Tanz, alle Farben ein Bild. Leicht und selbstverständlich und sich selbst durchsichtig sind diese zweiten Grenzen entsprungen, die unterscheidend alles in Einheit halten, Lied, Tanz und Bild, und die auch eins bleiben mit dem in sich hellen Strome des schöpferischen Lebens, aus dem alles dies in erster Unterscheidung entsprang. Eines ist und ungeteilt das Lied, das Singen und der Sänger. Denn was sollte der Sänger als Sänger anderes sein als: Singen, und was sollte das Singen anderes sein als: Lied, und was sollte das Lied anderes sein als: unterschiedene Töne. Von Anfang bis zu Ende ist ein einziges Leben, doch lebt dieses Leben so, daß es als unterscheidend und Unterschied setzend hervorgeht und in sich spielt. Hier, und hier wie nirgends sonst, läßt sich, was als Grenze anfänglich waltet, verstehen: aus dem begeisterten und darin schöpferischen Mitvollziehen des Anfangs, das den Menschen im Anfangen ihrer menschlichen Kunstwerke geschenkt wird. Von da aus kann vielleicht schließlich auch ein Blick gelingen auf den Sinn solchen grenzenden Waltens im Anfang allen Seins. Was ist der Sinn des schöpferischen Anfangs, der frei sich selbst überschreitet, ohne sich darin zu teilen? Was der Sinn dieser unbegreiflichen Produktivität, die sich in ihrem Hervorgebrachten in viele Stimmen und Momente auseinanderwirft, ohne daß im Auseinander je irgendetwas isoliert und verloren wäre; die jede Stimme und jedes Antlitz in offener Klarheit festsetzt, ohne daß darin das Leben erstarrte; die alles zugleich eint und sammelt, ohne daß die Einheit je zum Einerlei zusammensänke? Was ist der Sinn dieses Schöpfertums, das überall genau ist, aber nirgends eng, überall verbindend und einend, aber nirgends verwischend? Ist der Sinn nicht so etwas wie Freiheit, Heiterkeit, Lust, Spiel?
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Die Grenze als göttliches Geheimnis
»Ars aeterna in qua rerum universitas existit«, »ewige Kunst und ewiges Spiel, worin der Dinge All und Einheit steht«! Diese große Formel Bonaventuras ist gewiß keine zufällige und beliebige Fügung. Sie ist, auf den Spuren augustinischer Texte sich bewegend, aus einer echten Intuition des Denkens geboren. Sie steht als echte denkerische Intuition ebenso hinter den großen theoretischen Entwürfen des Mittelalters über das, was alles ist im Anfang, wie hinter der Neuschöpfung der großen Kathedralen des 13. Jahrhunderts. »Ars aeterna«, ewige Kunst und ewiges Spiel, worin der Dinge All und Einheit steht: In solchen Worten ist vielleicht Sinn und Wesen des Grenzhaften alles Seins und damit der wißbaren Disposition der Welt auf eine wohl zwar menschliche, aber doch wesentliche Weise ausgesagt. Hegel hat von Ähnlichem gesprochen in seinem immer denkwürdigen Ikarusflug ins Unbegreifliche, jedoch heftiger und mit anderem Temperament: »Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist, und [...] ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe [,..].« In einer demgegenüber viel sanfteren und früheren Sprache aber klingt noch einmal anders dasselbe aus der großen Frühzeit des abendländischen Denkens von Heraklit her an unser Ohr in jenem Wort, das von gegenwärtigsten und uns nächsten Denkern neu genannt wurde, von Martin Heidegger und von Eugen Fink: »Der AION ein spielend Kind, Steine setzend: des Kindes ist das Königtum.« In solchen Worten ist vielleicht wie in größten ahnenden Intuitionen der eigentliche Sinn des anfänglichen Wesens der Grenze gedacht und genannt und jenseits des Begreifens doch verstanden, der Sinn des göttlichen Schöpfertums, in dem alles steht. Damit aber auch der eigentliche 2
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Nach Bonaventura, Itinerarium mentis in Deum, Kapitel 1, 2 und 3. Vgl. dazu
meinen Aufsatz »Die Zahl als göttliche Spur. Eine Bonaventura-Interpretation«, in: Bernhard Welte, Auf der Spur des Ewigen. Philosophische Abhandlungen über verschiedene Gegenstände der Religion und der Theologie, Freiburg im Breisgau 1 9 6 5 , 4 9 61 [jetzt in: BWGS II, 1, 3 4 1 - 3 5 3 ] . 3
G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (= Gesammelte Werke 9), herausgegeben
von Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Hamburg 1 9 8 0 , 35. 4
Vgl. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, 1 8 8 [GA 10, 1 6 8 ] .
Eugen Fink, Oase des Glücks, Freiburg im Breisgau/München 1957, 50f. Vgl. auch Heraklit, Fragment 52, in: Hermann Diels, Die Fragmente derVorsokratiker, hrsg. von Walther Kranz, Band 1, Berlin
22
10
1 9 6 1 , 162.
Die Grenze als göttliches Geheimnis
Sinn dessen, was Wissenschaft leben läßt. Denn sie lebt vom heiteren, freien, geordneten und gestalthaften, vom intelligiblen Antlitz der Welt. Dann aber leuchtet aus solchen Worten wohl auch der Sinn des Lebens der Wissenschaft, der mehr ist als Wissenschaft und früher als diese. Dann ist es diesem Sinn entsprechend Aufgabe der Wissenschaft: das anfängliche Spiel forschend, denkend und wissend in Frömmigkeit des Geistes mit- und nachzuspielen im Achten auf das Anfängliche und damit auf die Grenzen, die nie trennen, ohne zu verbinden, nie verbinden, ohne zu scheiden, nie bestimmen, ohne die Bestimmung auch zu überschreiten, und nie überschreiten, so daß sie darin unbestimmt würden. Es wird Aufgabe der wissenschaftlich lebenden Menschen sein, aus der offenen Heiterkeit und Helle des gottgeborenen Geistes je das Bestimmte genau zu vollbringen und doch nie des Spieles zu vergessen, das alles Genaue leicht macht und ins eine Ganze fügt. Und es wird dabei freilich die Achtsamkeit stets am Platze zu sein haben gegenüber einem stets möglichen Sich-Verspielen der Wissenschaft im Ungenauen, Verschwommenen und Einseitigen. Was in der Grenze spricht, wird vom Menschen her das Leben der Wissenschaft sein können, wenn des Menschen Geist sich offen einzuspielen vermag auf das, was aus dem ersten Anfang als ein anfänglich Gefügtes sich ihm immerfort zuspielt, und wenn der Mensch darin nie das Anfängliche durch eigene Gewaltsamkeit überspielt. Denn größer als aller Witz des Menschen ist Gottes Anfang.
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Die philosophische Gotteserkenntnis und die Möglichkeit des Atheismus
Wir versuchen in dieser Abhandlung, uns über die Möglichkeit der philosophischen Gotteserkenntnis klar zu werden, und dies mit der besonderen Hinsicht, in diesem philosophischen itinerarium mentis in Deum jene Stellen zu finden und zu deuten, aus denen so etwas wie Atheismus grundsätzlich als möglich erscheint. Wir haben daher zuerst die philosophische Gotteserkenntnis zu erläutern. Die philosophische Gotteserkenntnis ist die theoretische Fassung jenes Grundverhältnisses, von dem her die Natur des menschlichen Geistes vor aller positiven Offenbarung schon Veranlassung hat, zum Ewigen aufzublicken. Wir suchen dieses Grundverhältnis dann so zu erläutern, daß aus ihm die Möglichkeiten des Atheismus sichtbar werden. Dies wird im zweiten Teil dieser Abhandlung zu betrachten sein. Wir werden dabei das eine wie das andere in einer starken Vereinfachung darstellen müssen, so daß nur die Grundzüge sichtbar werden. Dies kann, wenn es gut geht, den Vorzug haben, die Sache selber, um die es geht, in besonderer Prägnanz hervortreten zu lassen.
1. Möglichkeit der philosophischen Gotteserkenntnis Die Sache der philosophischen Gotteserkenntnis hat eine verwickelte Geschichte, auf die wir hier nicht eingehen können. Wir wollen vielmehr aus den Möglichkeiten, die die Geschichte des Denkens darbietet, den wichtigsten Typus auswählen, und wir suchen ihm in seinen entscheidenden Elementen nachzudenken. Dieser Typus läßt sich in fünf Stufen knapp darstellen. 1. Auf der ersten Stufe betrachten wir das, was sich uns in unserem Dasein in der Welt als Nächstes darbietet, d. h. als unmittelbar sich Bezeugendes. 24
Die philosophische Gotteserkenntnis und die Möglichkeit des Atheismus
Als Nächstes, was sich uns bezeugt und was wir als Wirkliches zu erfassen bekommen, sehen wir vielerlei Bilder und Gestalten unserer Welt, dazu das, was wir selber sind inmitten der vielen Bilder und Gestalten, die wir unsere Welt nennen. Die Größe, die den Namen Gott trägt, kommt in diesem Kreis, in dem wir immer schon angetreten sind und in dem wir uns wie selbstverständlich bewegen, zunächst nicht vor. Diese unsere Welt zeigt in jedem einzelnen Punkte ebenso wie im ganzen einen zunächst unscheinbaren, aber für alles weitere entscheidenden Grundzug, auf den es zu achten gilt. Das in unserer Welt uns Erscheinende zeigt sich überall als eines, das ist. Es ist der Himmel, und es ist die Erde, es ist der Baum, und es ist der Strauch, es sind die Mitmenschen, die nahen und die fernen. In diesem, was das Wort »ist« sagt, scheint alles Seiende unserer Umwelt übereinzukommen. Dieser Grundzug zeigt sich nicht nur an den Gebilden unserer Umwelt, auch an uns selber: Auch wir sind je und je, auch das, was wir selber sind, ist und zeigt sich als eines, das ist. Und auch die Bezüge, die in diesem offenen Zueinander schwingen und leben: Sie sind. Es ist, daß wir manches sehen, manches begehren oder fürchten, auf diese und jene Weise Umgang haben mit den Dingen und Wesen unserer Welt. Es ist, daß diese Dinge und Wesen uns anblikken, daß sie uns locken oder schrecken und auf manche Weise sich auf uns beziehen und uns begegnen. Es ist auch, daß die Gebilde der Welt auf viele Weisen als untereinander Bezogene auftreten. Alle Dinge und alle Bezüge aller Dinge, all dies ist. Das, was das Wort »ist« sagt, ist ein alles durchziehender Grundzug unseres Daseins. Es zieht sich durch jedes einzelne Ding und jeden einzelnen Bezug, es waltet aber auch so, daß es das Ganze umfängt, ich in meiner Welt, meine Welt für mich. Es ist, daß ich überhaupt da bin in meiner Welt, daß überhaupt Welt da ist für mich, daß überhaupt, alles umgreifend, ist, was ist. Alles meiner Welt und alles, was ich selber bin, und alle Bezüge in diesem Räume von Ich und Welt: Alles dies tritt als seiend hervor, d. h. es zeigt sich in seinem Sein. Dies ist das Äußerste, Umfassendste und Grundlegendste, was in der Unmittelbarkeit unseres Daseins in der Welt für uns an den Tag kommen kann. 25
Die philosophische Gotteserkenntnis und die Möglichkeit des Atheismus
2. Auf dieser ersten Stufe, in der uns die Elemente der Welt und die Welt im ganzen als seiend begegnen, bleibt nun weder unsere Welt noch unser Denken und der Umgang mit ihr stehen. Vielmehr bricht aus dem Ursprünge unseres Daseins eine charakteristische Unruhe auf, und aus dieser Unruhe eine Bewegung. Wir können sie fassen als die Bewegung des Fragens (von uns aus gesehen) oder als die Bewegung des Fragwürdigwerdens (von unserer Welt her gesehen). Mit dem Ausbruche dieser Bewegung des Fragens gelangen wir in die zweite Phase unseres Denkweges. Es zeichnet den Menschen unter allen Wesen, die wir kennen, aus, daß ihm das Seiende der Welt nicht einfach in seiner Positivität genügt, daß es ihm vielmehr zum Fragwürdigen und Fragebedürftigen und also Fraglichen wird und ihn zur Frage herausfordert. Die Frage kann im einzelnen verschieden laufen. Was ist es um dieses, daß das so ist? Was darum, daß es so steht mit mir? Warum so? Wozu so? U. s. f. Wir können uns für unsere Überlegung an die wichtigste dieser Fragen halten, an die, die »Warum?« fragt. Demgemäß bedenken wir die Situation, in der uns das Seiende unserer Welt oder auch das Seiende, das wir ja selber sind, zu der Frage herausfordert: Warum ist das so? Wir befragen jetzt diese Frage selber: Was geschieht in ihr? Und wir befragen die ihr zu Grunde liegende Fragewürdigkeit: Was zeigt sich in ihr? Immer, wo uns Seiendes fraglich wird, ist ein Unterschied aufgebrochen, eine Differenz. Es ist die Unmittelbarkeit des Das-da in einem neuen Lichte erschienen. Es läßt sehen, daß dieses Das-da in seinem puren Dasein als unklar für uns und als unentschieden in seinem Sein zu gelten hat. Dies jedoch so, daß es der Erklärung und der Entscheidung bedarf. Damit zeigt sich die Differenz: Das Unmittelbare ist nicht das, wonach die Frage fragt, das, wovon das Unmittelbare Klarheit und Entschiedenheit empfangen könnte, ist das von ihm sich Unterscheidende, auf das der Blick der Frage sich richtet. Die Frage fragt ja nach der Erklärung des Unmittelbaren, und sie findet diese im Unmittelbaren selber nicht. Wohl aber schaut sie auf diese vor. Die Frage blickt suchend nach dem Moment, das das Sein des Seienden erst erklärte und entscheiden würde. Von woher ist der Aufbruch dieser Differenz und damit die Frage möglich? Von woher ruft uns in der Situation der Fraglichkeit und der Frage das, was den Sinn des Seins des Unmittelbaren erst klärte und entscheiden würde, aus der Ferne, und aus der Ferne doch winkend und 26
Die philosophische Gotteserkenntnis und die Möglichkeit des Atheismus
ziehend, an? Woher kommt die Vor-vertrautheit mit dem erklärenden und entschiedenen Sinn des Seins des Seienden, welche alle Frage erst ermöglicht? Die empirisch begegnenden Dinge und Wesen geben uns den erklärenden Sinn nicht her, wir aber wissen fragend schon nach solchem zu fragen im einzelnen wie im ganzen. Wir wissen schon, wonach es zu fragen gilt, und so sind wir schon vor aller Begegnung mit dem Empirischen auf eine eigentümliche Weise vertraut mit diesem Wonach des möglichen Fragens als dem, was es uns, wenn es gefunden würde, erlaubte, im Begreifen dieses Wesens oder dieses Dinges fraglos und beruhigt mit uns selbst eins zu sein. Es zeigt sich, daß der in aller Frage auf verschiedenerlei Weise erfragte Sinn des Seins des Seienden vor allem Seienden schon in der Natur des Denkens selbst aufleuchtet so, daß wir diese Vertrautheit aus dem ersten Anfange unseres Daseins her immer schon mitbringen. Der entscheidende Sinn des Seins des Seienden leuchtet dem Wege unserer Fragen aus dem inneren Quell des Denkens her immer schon voraus, und ohne dies vorauslaufende Licht würden wir keine Fragt stellen können, da wir ja nie wüßten, wonach zu fragen wäre. Dies zeigt, daß der Sinn des Seins des Seienden unserer Natur immer schon beiwohnt, und zwar im apriorischen Grunde unseres Denkens, freilich so, daß dieser von da aus unseren möglichen Fragen die Bahn des Weges eröffnet, sich selber aber entzieht und so erst zu finden ist. Dies ist das Wesentliche, was uns auf der zweiten Stufe unseres Weges auffallen muß. 3. Von diesem merkwürdigen Befunde aus, den wir in der Frage und ihrem Fragwürdigen fanden, tasten wir uns weiter voran in der Richtung unseres Weges, indem wir dem Gange des Fragens zu seiner sich findenden Antwort im Zuge unseres Weltdaseins nachdenken. Damit treten wir in die dritte Stufe unseres Weges ein. Für gewöhnlich sind es einzelne Züge an einzelnem Seienden, die uns zu Fragen veranlassen. Zu solchen Fragen finden wir zumeist auch eine Antwort, welche wiederum auf einen einzelnen Zug am einzelnen Seienden hinweist, der den erst befragten erklären kann. Von ihm her wird also das Befragte zunächst klar, und das Denken ist zufrieden. Nun zeigt sich, daß jede Antwort dieser Art, sei es in welchem Felde
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Die philosophische Gotteserkenntnis und die Möglichkeit des Atheismus
des Wissens auch immer, weitere neue Fragen ermöglicht, auslöst und anfordert. Jede Antwort ist der Anfang neuer Fragen. Wenn also in diesem Bereiche der Antworten so etwas wie Sinn und erklärter Grund erfragt wurde, so hat sich dieser Sinngrund zwar entlang den Antworten in je einzelnen Zügen erhellt, aber im ganzen ist er doch auf dieser Stufe noch nicht gewonnen, er hat sich vielmehr um ein weiteres Stück zurückgezogen und ruft nun das fragende Denken aus noch größerer Ferne und zugleich mit noch größerer Dringlichkeit an. Jedes »Warum«, das erklärt werden konnte, ruft neue Rätsel und neue Fragen auf, in der Natur wie in der Geschichte, und es sieht so aus, als ob des Fragens kein Ende sei. Der ganze, den Sinn des Seins des Seienden überhaupt erklärende Sinn zieht sich auf diesem endlos scheinenden Gange der Fragen nicht nur immer weiter zurück, je mehr sich an einzelnen Antworten fand, der immer ferner enteilende Sinn erweckt immer mehr und immer bedeutendere Fragen. Je mehr sich die Front der Wissenschaft gegen das nicht Gewußte, das wir wissen möchten und sollten, vorschiebt, je mehr und je erstaunlichere Antworten sie gewinnt: desto mehr und desto größere und schwerer wiegende Fragen werden möglich, nicht etwa weniger. So ist nie Aussicht, daß das noch zu Erfragende schließlich zu einem belanglosen Reste zusammensinken und vollends aufgearbeitet werden könnte, jedenfalls dann nicht, wenn wir nach dem Ganzen fragen. Wer wenig weiß, mag versucht sein zu denken, er wisse demnächst alles. Wer aber sehr viel weiß, der weiß auch, wieviel er nicht weiß und wie unabsehbar das Heer und der Horizont der offenen Fragen ist. Mit der Masse der Antworten wächst die Erstaunlichkeit, die Fragwürdigkeit, die Fraglichkeit der Welt. Je mehr wir dem Dunkel Licht abgewinnen, um so mehr wächst das Dunkel an. Alle Einzelantworten können immer nur einen kleinen Lichtkreis ausleuchten in einem immer größer und dichter sich zeigenden Ozean des Nicht-Gewußten, in dessen Tiefe und Weite der Sinn im ganzen entzogen bleibt. 4. Indem wir den ebenso notwendigen wie in letzter Absicht erfolglosen Gang des Fragens im einzelnen zu den Antworten im einzelnen verfolgen, indem wir ferner in solchem Verfolgen einsehen, daß dieser Gang nie an sein eigentliches Ende kommen kann, vermag sich ein Umschlag des Fragens im ganzen vorzubereiten, der gleichwohl, wenn er eintritt, nicht einfach in der Verlängerung der vorher verfolgten Richtung des 28
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Fragens liegt. In diesem Umschlage allein vermögen wir auf die entscheidende vierte Stufe unseres Weges zu kommen. Der Umschlag läßt sich ungefähr so darstellen: Die fragende Bewegung des Denkens kann vom endlosen Umgang mit dem Einzelnen zugleich erfüllt und ermüdet werden. Sie kann sich darum verwandeln derart, daß sie sich schließlich nicht mehr auf dieses und jenes, d. h. nicht mehr auf einzelne Momente am Seienden richtet, vielmehr auf das Sein des Seienden selbst. Dann kann die Frage die Form annehmen: Was ist dieses, daß überhaupt etwas ist? Was ist es mit dem Sein des Seienden? Warum ist überhaupt etwas? Wird solchermaßen das Sein des Seienden selber fraglich und dessen entscheidender Sinn das Erfragte, dann ist dem Bisherigen gegenüber alles verwandelt. Die Verwandlung zeigt sich zunächst darin, daß nun nicht mehr dies und jenes Einzelne fraglich ist, vielmehr alles in einem. Indem das Sein des Seienden fraglich ist als solches, ist eben dieses fraglich, was alles umfaßt. Wo diese Fraglichkeit und Fragwürdigkeit sich ernstlich vor uns aufrichtet, da wird also mit einem Schlage die Welt im ganzen fragwürdig, und dies so sehr und so gründlich, daß alle Einzelauskünfte davor belanglos werden. Wird dieses, daß überhaupt etwas ist, für uns fragwürdig und damit auffällig, dann muß solches Auffallen das Denken und den Denkenden selber auf unvergleichliche Weise angehen und betreffen. Denn ich muß mich ja dann selber als Denkender mit allem meinem Denken als einbezogen erfahren in dem Überfall der großen Frage nach dem, daß überhaupt etwas ist. Auch ich bin ja, und auch mein Denken ist ja. Wo also dieses, daß überhaupt etwas ist, in Frage steht, kann ich mich selbst nicht draußen halten. Die Frage: »Hat überhaupt alles, was ist, einen Sinn und einen Grund?« wird von selber auch zur Frage: »Habe ich einen Sinn, einen Grund? Mein Dasein, mein Denken, alles, worum es mir geht?« Die neu gewonnene Gestalt der Frage, wenn anders ich ihr denkend ihren Wesensraum gewähre, wird also mich selbst und mein Denken durchdringen und durchstimmen müssen. Die Frage ist nun in jedem Sinne eine totale geworden, insofern das Fragliche das Ganze ist. Wohin aber blickt diese Frage, was ist das von ihr Erfragte? Die so sich stellende Frage kann ja nicht mehr und nie mehr sinnvoll mit dem Hinweis auf Seiendes beantwortet werden. Denn sie umfaßt und ergreift in einem jegliches Seiende als das Fragliche. Antworten wir also solcher Frage in der Art, daß wir etwa sagen, es liege daran, daß dieses oder jenes 29
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so ist, wie es ist, so sind alle Antworten dieses Typs keine eigentlichen Antworten auf unsere Frage und können es nicht sein. Denn die Frage nach dem, warum überhaupt etwas ist, hat ja alles, was ist, auch das, was als Antwort genannt werden könnte, schon in sich einbezogen und also wiederum in Frage gestellt. Mit anderen Worten: Die Fragwürdigkeit und damit die Erstaunlichkeit des Seins des Seienden wird durch den Hinweis auf anderes Seiendes überhaupt nicht berührt. Es wird also sichtbar, daß infolge solcher Fraglichkeit des Seienden als solchen die Frage selber ausblickt in einen Bereich jenseits alles Seienden und damit jenseits alles dessen, was in irgendeinem Sinne ist. Was soll aber das sein, was nicht Seiendes ist und also überhaupt nicht »ist«? Etwa nichts? Nichts im Sinne einer leeren Nichtigkeit scheint es auch nicht zu sein. Denn könnte ein leeres, nichtiges Nichts uns so betreffen? Könnte ein leeres Nichts das Anwesen der Welt im ganzen so verwandeln? Könnte es die Erstaunlichkeit und die Befremdlichkeit des Seins so steigern? Was blickt uns also hier aus der Ferne anwesend an, wo die Frage aufsteht: »Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?« Was ruft uns da, alles Seiende hinter sich zurücklassend, an, ihm zu folgen? In welche Gegend werden wir da gerufen? Es ist eine Gegend, in der Worte wie »seiend« oder »nicht seiend« keinen Platz und keine Angriffsfläche mehr haben. Das Geheimnisvollste aber an dieser Situation ist dies, daß wir denkende Menschen, vor der großen Fragwürdigkeit des Seins des Seienden in die große Frage genommen, offenbar schon das Sein des Seienden im ganzen messen oder gemessen haben an einem Maßstabe, der uns also vertraut sein muß und den wir doch nicht zu fassen vermögen. Wir würden nie fragen und nie fragen können: »Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?«, wenn wir dieses, daß etwas ist, nicht abständig fänden von dem uns immer bewegenden Maße des Verstehens des Seins des Seienden, als dieses Maß nicht erfüllend und doch anfordernd. Also wartet und lebt im innersten Grunde unseres Denkens das, vor dem die Worte seiend oder nicht seiend abgleiten und nichts mehr sagen. Es ist uns auf geheimnisvolle Weise schon vertraut, was wir nie begreifen und aussprechen können und was uns zugleich aus allem Seienden und über allem Seienden unfaßbar anruft. 5. Wohin gelangt das Denkende des Menschen dort, wo es über alles Seiende hinausblickt, um in diesem Darüber-Hinaus schließlich das zu 30
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finden, was das Sein des Seienden zu allererst erklären und entscheiden kann für es und was es zugleich erst mit seinem innersten Grunde in Übereinstimmung führen kann? Es gelangt über alles das hinaus, was »ist«, denn nun fragt das Dasein ja gerade danach, warum überhaupt etwas ist. Es gelangt damit auch über alle was-hafte Bestimmung hinaus, denn alle Bestimmung dieser Art bestimmt ja: Dieses ist so oder so. Damit aber gelangt das Denken in einen Raum, in dem es keinerlei Anhalt mehr finden kann. Das Denken kann sich nur halten an etwas, das ist, es kann sich nur fassen an dem Gedanken, dies ist so oder so, also an einer faßlichen Bestimmung. Wo aber alles »ist« und damit auch alle Bestimmung entfällt, da entfällt für das Denken aller Halt. Damit entfällt freilich auch alles Anhalten als Aufhören und Halt-Machen. Alle Bestimmung ist ja auch eine Grenze. Überall, wo wir bestimmen, dieses ist so, begrenzen wir auch: Es ist so und nicht anders. Das Denken, das denkt: »Warum ist überhaupt etwas?«, gelangt ins Endlose und Unbegrenzte. Es ist, als fiele es in einen Brunnen, der keinen Boden hat, man kann in ihn immer weiter fallen. Das Dasein gelangt und fällt ins Unendliche. Das Unendliche, in das das Denken in seiner äußersten Frage fällt, muß aber das Denken selber zum Stillestehen bringen. Denkbar in präzisem Sinne ist nur, was in der Form des Urteils, also des »ist«, faßbar und bestimmbar ist. Dieses urteilende Bestimmen ist die Grundform des Fassens und darum auch des sich selbst fassenden Denkens. Wo dieses keinen eigentlichen Sinn mehr hat, muß das Denken stillestehen, da muß der Verstand verstummen und seine Sprache schweigen. Da ist das Denken an das Unausdenkliche gekommen als an das Unaussprechliche. Das Denken, das im Ernste in die Frage eintritt, was ist es mit dem, daß überhaupt etwas ist, betritt das Unendliche als das Unausdenkliche und Unaussprechliche. In diesem Sinne ist das Denken an das ihm Fernste und Entlegenste gekommen. Aber das Fernste und Entlegenste scheint andererseits zugleich auch sein Innerstes und Anfänglichstes und in diesem Sinne sein Nächstes zu sein. Fand das Denken nicht in sich selber das Maß und den Antrieb, welche es bewegten, an keinem Seienden Genüge zu finden und erfülltes Maß? Hätte das Denken sich überhaupt je auf den Weg des Denkens, d.h. des Fragens, gemacht und hätte es dann diese Fragen immer wieder und immer wieder von neuem gestellt, wenn nicht dieses Unfaßliche, das über allem Seienden liegt, immer schon es gerufen 31
Die philosophische Gotteserkenntnis und die Möglichkeit des Atheismus
hätte und wenn das Denken nicht immer schon insgeheim damit vertraut gewesen wäre und also gewußt hätte, wonach zu fragen sei? Das Äußerste des Denkens ist auch sein Innerstes und Anfänglichstes, weil alles erst in Bewegung Setzendes. Wir halten den Weg unseres Gedankens an diesem Punkte an. Es ist so etwas wie ein erster Umriß des Umrißlosen, weil Grenzenlosen und Unendlichen, in den Blick gekommen, des Unendlichen, von dem alles Endliche und Seiende erst seine Erklärung und seinen Sinn für sein Dasein empfangen kann. Damit so etwas wie ein erster Umriß dessen, was in der Sprache der Religion der lebendige Gott genannt wird. Es sind auch erste Umrisse dessen in den Blick gekommen, was einen Menschen veranlassen kann, an dieses Unbegreifliche zu glauben und ihm alle Welt und sich selber glaubend anzuvertrauen.
2. Dreifache Möglichkeit des Atheismus Der Weg unseres Gedankens in diesem ersten Umriß hat uns einige entscheidende Momente gezeigt im Verhältnis des endlichen Menschen zum unendlichen und unbegreiflichen Ende und Anfang alles Seienden. Er hat einerseits gezeigt, wie ein Mensch Anlaß und Grund finden kann, an die unendliche Macht zu glauben. Er hat aber auch gezeigt, wie ein Mensch auf den Gedanken kommen kann, es gäbe keine unendliche Macht am Anfang und am Ende und in der Mitte aller Dinge, wie ein Mensch also auf den Gedanken des Atheismus kommen kann. Indem wir nun darauf eingehen, kommen wir zum eigentlichen Thema dieser Abhandlung, nämlich zu der Möglichkeit des Atheismus. Eine dreifache Möglichkeit des Atheismus hat sich gleichsam am Rande unseres Weges bemerkbar gemacht, und wir werden sie erkennen, indem wir diesen Weg noch einmal bedenken.
a) Der negative Atheismus Es hat sich gezeigt, daß das endliche Menschenwesen auf das Seiende der Welt als das für ihn zunächst entscheidende Wirkliche und Begreifbare sich verwiesen findet. So orientiert es sich wie von Natur aus in seinem
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Seinsverständnis an diesem seienden Begreiflichen der Welt als dem eigentlichen Sein. Der ewige Grund liegt jenseits dieser Region. Daraus folgt, daß eben dieser ewige Grund und das Unendliche und das Unfaßliche zunächst wie nichts erscheinen müssen für den Menschen, der solchermaßen am Seienden als dem eigentlichen Sein sich orientiert. Für ihn wird es immer naheliegend sein zu denken: Nichts Seiendes, also nichts überhaupt. So entsteht der Schein, als ob die Frage: »Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?« zu nichts führe, da sie über das Seiende hinaus führen muß. Sie scheint eine unnütze Frage zu sein. Denn mit ihr bekommt ja das Denken nichts mehr zu fassen und zu begreifen. In ihrer Richtung ist nichts mehr zu sehen, das den Menschen zwänge, es anzuerkennen, so wie ein handgreifliches Seiendes dieser Welt, auf das wir stoßen, durch den Stoß seiner Handgreiflichkeit den Menschen zwingt, es anzuerkennen. Auch das Argument als die Artikulation des Gedankenganges, der zu jenem ewigen Grunde führt, hat nicht den zwingenden Charakter einer eindeutigen endlichen Rechenregel, deren Konsequenz niemand nicht einsehen kann, der ihre Termini eingesehen hat. Auch das Argument scheint ins Nichtige zu verschweben, vergleicht man es mit der immanenten Konsequenz logischer und empirischer Verhältnisse. So scheint nichts den Menschen zu zwingen, den Weg des Fragens bis zum Ende zu gehen und das Ende der äußersten Frage als die alles entscheidende Wirklichkeit anzuerkennen. Sowohl der Weg wie das Ziel treten in den Schein des Nichtigen. Von daher kann der Mensch darauf kommen, sich ausschließlich an das Greifbare und Kontrollierbare und Zwingende des Seienden dieser Welt zu halten und alles, was darüber hinaus führt, als Nichtiges und Unnützes zu unterlassen. Auf diese Weise wird dann das Ewige wie auch der Weg und schon die Frage nach ihm aus dem Horizonte des Menschen verabschiedet. Es muß dann etwas entstehen wie ein negativer Atheismus. Seine Grundhaltung ist: Es gibt das, was ich begreifen kann, und sonst nichts. Diese Haltung ist freilich im wesentlichen Sinne kurzsichtig, weil ihr gemäß der Mensch nur dessen noch ansichtig wird, was nahe vor seinen Augen liegt. Aber diese Kurzsichtigkeit ist gleichwohl begreiflich aus der Grundorientierung des Menschen auf das empirisch Faßliche dieser Welt. Überdies ist es von diesem Ansätze her verständlich, daß dieser nega33
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tive Atheismus sich umso nachdrücklicher ausbilden und ausbreiten muß, je mehr das Menschenwesen sich im geschichtlichen Gange seines Geistes auf das Begreifen des Begreiflichen einläßt und dieses als die für ihn entscheidende und umfassende Wirklichkeit ausbaut.
b) Der kritische Atheismus Von unserem Gedankengange her wird aber darüber hinaus eine zweite Möglichkeit einer zweiten Art von Atheismus sichtbar. Dieser ist um eine Stufe weniger kurzsichtig als der erstgenannte und darum auch um eine Stufe schwerer in seiner eigentlichen Natur zu erkennen. Er weicht der letzten Frage nicht aus wie der erstgenannte. Er wagt den Blick auf das Unendliche und Unausdenkliche und Unbedingte. Indessen schaltet sich in diesem Hinblick nun wiederum, aber jetzt an einer späteren Stelle, die Orientierung des menschlichen Seinsverständnisses am Seienden und als seiend Begreiflichen dieser Welt ein. Dies führt dazu, daß nun das, was das Sein alles Seienden und das Begreifen alles Begreiflichen übersteigt, als ein Seiendes und als ein als seiend Begreifliches interpretiert wird. In der Folge dieser Interpretation erhält das Menschenwesen so einen seienden und begreiflichen Gott als sein Erstes, Höchstes und Letztes. Es bekommt als Höchstes das ens perfectissimum, und Leibniz war durchaus konsequent, dieses in seiner Gedankenfolge gleichsam durchzukonstruieren. So etwas sieht dann freilich nach nichts weniger aus als nach Atheismus. Ja, dieses Verfahren muß sogar unter einer bestimmten Voraussetzung als legitim und unvermeidlich angesehen werden. Wie sollten Menschen anders vom Ewigen und einzig Notwendigen reden können, wenn nicht so, daß sie es nennen und also nennend als ein Seiendes aussagen? Es muß als legitim angesehen werden, insofern der nennbare Name Gottes, der im Begriffe des seienden Gottes rufbare und vorstellbare Gott, dem Menschen unerläßlich ist, soweit es auf dessen Denken und Aussagen ankommt. Die Bedingung der Legitimität solchen Begreifens ist aber die, daß der nennbare Gott etwas wie ein Zeiger bleibt und, als solcher genommen, über sich selbst hinaus ins Unnnennbare und Unaussprechliche jenseits alles Seienden zeigt. Der nennbare Gott als ein höchstes Seiendes ist im Gebrauch des Menschen legitim, solange dieser Gebrauch
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die Nennbarkeit selbst transzendiert und den ewigen Namen wie ein Symbol gebraucht, durch das hindurch er ins Unnennbare blickt. Die Sache wird aber anders, sobald der seiende und begreifliche und nennbare Gott in seiner Begreiflichkeit und Faßlichkeit vom Menschen gefaßt und festgestellt und also von seiner alles Fassen überschreitenden Hinweisfunktion transzendierenden Charakters abgeschnitten wird. Dies ist möglich und zu Zeiten besonders naheliegend um der angedeuteten Neigung des Menschen willen, sich am Seienden zu orientieren und dieses in seiner begreiflichen Fassung zu fassen und fest- und sicherzustellen, welche Neigung wiederum in ausgezeichneten geschichtlichen Zeiten des Menschen auf eine besondere Weise zum Herrschen kommen kann. Dann wird Gott für das menschliche Denken zu einer in ihrem Begriffe vor- und sicherstellbaren Sache. Er wird damit, freilich ohne daß das Denken dies zunächst zu bemerken braucht, zu einer endlichen Sache, um die das Denken gleichsam herumgehen, die es von außen betrachten und die es beurteilen kann als das so und so und nicht anders Bestimmte. Er wird gleichzeitig, freilich wiederum ohne daß das Denken darauf aufmerksam werden müßte, zu einem dem Denken unterworfenen Gegenstande, dem gegenüber das Denken des Menschen das Obere, also das Beherrschende ist. Das menschliche Denken als das beherrschende hat dann zu sagen, als was dieser Gott zu gelten habe, es unterwirft ihn seinem eigenen Urteil. Es entwickelt sich das, was die griechischen Väter die idololatria kataleptike genannt haben. Dies hat dann aber weiter die mögliche Folge, daß das Denken des Menschen sich in seine zunächst unbemerkte und ausdrückliche Herrschaft über den von ihm vorgestellten Gott eigens und ausdrücklich erheben kann. Es fängt dann etwa an, diesen Gott kritisch zu befragen und zu untersuchen, ob er auch allen Fragen standhalte. Warum ist er überhaupt? Ist die Welt wirklich nicht ohne ihn erklärbar? usw. Sofern das Denken Gott als sein Gedachtes und von ihm Bestimmtes aufstellen kann, insofern kann es dieses auch kritisch zersetzen, und es wird dies auch eines Tages tun. Darin aber wird der Mensch erfahren, daß der in seiner Begrifflichkeit festgestellte Gott gegen solches Tun gar keinen Widerstand leistet. Es geschieht dann das, was Heidegger in seiner Abhandlung »Nietzsches Wort >Gott ist tofc« ausgesprochen hat. Das subjektive 1
1
Martin Heidegger, »Nietzsches W o r t >Gott ist totSeinGott ist totDie andere Möglichkeit aber ist die, daß die Philosophie selber zu einer Art objektiven Wissenschaft wird, etwa in den Formen der analytischen Logik oder der Sprachanalytik und in anderer Weise in den verschiedenen Formen des Strukturalismus und ähnlicher Typen des Denkens. In diesem ganzen Bereich ist entscheidend die kritische, logische Objektivität, und überall ist das, was einmal Substanz genannt wurde, zum objektiven und auch objektivierbaren Bestand geworden, und dies bisweilen so ausschließlich, daß das Subjekt ganz dahinter verschwindet. So z.B. hat Wittgenstein darauf hingewiesen, daß das Subjekt nicht zur Welt, nämlich zur wissenschaftlichen Welt gehört. Und die französischen Strukturalisten haben von ihrem Standpunkt aus mit Recht gesagt: Man solle nicht davon sprechen, daß »ich denke«, sondern daß »es denkt«. Religionsphilosophie und damit das Denken über Gott scheint aus solchen Gedanken überhaupt ausfallen zu müssen. Und so ist es ja auch in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle gekommen. Gegen die Alleinherrschaft dieser Art des Denkens haben sich allerdings Einwände erhoben. Ihr Signal ist der sogenannte Positivismusstreit. Adorno und mit ihm die ganze kritische Schule sahen die Aufgabe des Denkens gerade nicht darin, dem, was an sich ist, durch theoretisch kritische Methoden sich anzunähern, vielmehr darin, durch konkrete Analysen des geschichtlich-gesellschaftlichen Zustandes und Prozesses dessen Negativitäten aufzudecken, das, was an ihm schlecht ist und überwunden werden sollte. Und damit sollte ein Beitrag zur Veränderung gewonnen werden. Dies ist eine wichtige Richtung der Phi23
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Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, 5.632.
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Vgl. dazu Maurice Nedoncelle, Intersubjectivite et ontologie. Le defi personaliste,
Louvain 1 9 7 4 . 25
Vgl. Theodor W. Adorno, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, D a r m -
stadt 1974. 3
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losophie geworden. Und sie scheint sich nicht in die von uns entworfenen Gesichtspunkte einordnen zu lassen. Doch ist in diesem Zusammenhang auf zwei Umstände aufmerksam zu machen. Das eine ist dies: Die kritische Theorie scheint nicht so tief im geistigen Bewußtsein der Zeit verwurzelt zu sein wie das, was man kritischen Rationalismus oder analytische Theorie nennen kann. Sie scheint nach wenigen Jahrzehnten doch schnell an Interesse zu verlieren, während alle objektiven und an der modernen Wissenschaft in dieser oder jener Form ausgerichteten Theorien unangefochten weiter bestehen und weiter entwickelt werden. Ferner verdient es Aufmerksamkeit, daß vor allem K. Popper in diesem Zusammenhang deutlich gemacht hat, daß seine Wissenschaftstheorie hinter Hegel zurückgehen will, um weiter zu kommen. Darin wird sehr deutlich, daß die großen Gedanken des deutschen Idealismus in der Gesamtentwicklung doch eine Episode blieben, die zwar immer noch und immer wieder bewundernswert ist, aber das Denken im ganzen ging in seinem führenden Strom dort weiter, wo es vor Hegel schon angesetzt hat. Es ist jenes Denken, dessen Leitbegriff der neuzeitlich verwandelte Begriff der Substanz ist als dessen, was an sich ist. Darum hat z.B. Wittgenstein ausdrücklich auf den Begriff der Substanz zurückgegriffen. Das Ziel dieses Denkens ist also die methodisch gesicherte Objektivität. Und die Methode ist die logisch-rationale und kritische Weise des Vorgehens. Und dahinter steht ein Begriff von Wahrheit, der, wenn auch nur in Annäherung erreichbar, ein zeitloser ist und in der Übereinstimmung des Denkens mit der Sache besteht. Auch dies kann man bei Wittgenstein ausdrücklich lesen: »In der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung seines Sinnes mit der Wirklichkeit besteht seine Wahrheit oder Falschheit.« Wenn auf diesem Weg des Gedankens auch der Schein entstanden ist, das Denken habe es mit Religion oder mit Gott überhaupt nicht mehr zu tun, so ist dies doch keine notwendige Konsequenz. Gott hält sich trotz dieses Scheins hartnäckig im Denken, hartnäckiger als es nach den angedeuteten Ansätzen zu erwarten wäre. Aber für dieses Denken Gottes 26
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Vgl. Theodor W. Adorno, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1 5 2 .
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Vgl. Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, 2.024.
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Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, 2.222.
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hat sich die Geschichte des Denkens und damit die Bedeutung des Begriffes Substanz und seiner Folgebegriffe und die Bedeutung des logos als eines kritisch-objektiven Denkens gleichwohl und mit nicht geringem Recht ausgewirkt. Das heißt also: Der Gedanke muß kritisch und rational vorgehen, und es muß versucht werden, seinen »Gegenstand«, Gott, in seinem An-Sich zu denken. Der Satz »Gott ist« oder »Gott existiert« heißt dann: Er besteht an sich und für sich und durch sich nach Analogie einer Substanz. Oder: Er existiert objektiv. In der Tat sind so nicht wenige neuere Denker vorgegangen, die sich mit der Sache der Religion und Gottes beschäftigt haben, und dies gewiß nicht ohne Grund. Einerseits sind sie mit einer möglichst großen kritischen Rationalität vorgegangen, andererseits haben sie sich überwiegend an dem Begriff der Substanz orientiert, und dies auch dort, wo dieser Begriff ausdrücklich abgelehnt wird. Am deutlichsten ist dies bei Denkern, die an der katholischen Tradition orientiert sind, wie z.B. bei G. Smith. Darin geht es ausdrücklich um die objektive Existenz des Seienden, das wir Gott nennen. Aber auch bei anders orientierten Denkern, denen es um die Sache der Religion geht, kann man durchaus Ähnliches beobachten, wenn auch in anderer begrifflicher Form. So fragt S. Holm nach der transzendentalen Notwendigkeit der religiösen Grundkategorie, nach dem, was sowohl gilt als ist. Es geht um Realitätserkenntnis. Es geht auch ausdrücklich um die »zeitlose Bedeutsamkeit des Seins als Ewigkeitskategorie«, und in alle dem kann man die Nachwirkung des verwandelten Gedankens der Substanz finden, obwohl Holm die Kategorie der Substanz im alten Sinne für Gott ablehnt und sagt, es gäbe für ihn kein demonstrare wohl aber ein intelligere. P. Tillich hat in seiner Religionsphilosophie die »metalogische Methode« entworfen. Sie ist als metalogische Methode auf die logische zurückbezogen, wenn sie diese auch bewußt überschreiten will. Und Til29
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Gerard Smith, Natural Theology. Metaphysics II, New York 1 9 5 1 .
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Vgl. Gerard Smith, Natural Theology. Metaphysics II, 57, 64, 7 5 .
31
S0ren Holm, Religionsphilosophie, Stuttgart 1 9 6 0 , 6 8 .
32
S0ren Holm, Religionsphilosophie, 7 1 .
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Soren Holm, Religionsphilosophie, 9 8 .
34
S0ren Holm, Religionsphilosophie, 1 1 2 .
35
Soren Holm, Religionsphilosophie, 1 1 3 .
36
Paul Tillich, Religionsphilosophie, Stuttgart 1 9 6 9 .
37
Paul Tillich, Religionsphilosophie, 34.
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lieh unterscheidet grundlegend an der Sache der Religion die Form und den Gehalt. Dadurch wird diese Sache auf sich selbst zurückbezogen, und so kann gerade dieser Unterschied wieder als ein Abkömmling des Substanzbegriffs betrachtet werden, wiewohl R Tillich andererseits auch sehr grundsätzlich darüber hinaus geht. Darauf müssen wir noch zurückkommen. Jedenfalls macht sich bei Tillich und mehr noch bei U. Mann und W. Trillhaas auch noch eine ganz andere Bewegung des Denkens bemerkbar. Um sie zu verstehen, müssen wir noch einmal auf eine andere Seite der neueren Geschichte des Denkens zurückkommen. 38
iL Diese grundsätzlich neue Weise des Denkens ist durch E. Husserl eröffnet worden. Husserl hat unter den neueren Denkern als erster deutlich gesehen, daß Begriffe wie Substanz und alle damit zusammenhängenden Begriffe nicht selbstverständlich sind. Zwar ging auch er zunächst von ähnlichen Begriffen aus, vor allem in seinen Cartesianischen Meditationen und in seinem Versuch, Philosophie als strenge Wissenschaft zu entwerfen. Aber in seiner berühmten Epoche klammert er alle begrifflichen Formen ein, die nicht in der Erscheinung als der Sache selbst ausgewiesen sind. Damit klammert er auch den Begriff der Substanz und alle ihm folgenden Begriffe ein. Und mit einer Gründlichkeit ohnegleichen hat er sich in das Verhältnis vertieft, in dem das Denken zum Gedachten und das Wahrnehmen zum Wahrgenommenen und das Erleben zum Erlebten steht. In den Ideen hat er dies terminologisch als das Verhältnis von Noesis und Noema gekennzeichnet. Er konnte dabei einerseits zeigen, daß das Noema gegenüber der Noesis eigenen Gesetzen folgt. Dadurch konnte er den Psychologismus überwinden. Aber er konnte zugleich zeigen, daß diese beiden Seiten korrelativ zueinander sind und daß in dieser ursprünglichen Korre39
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Paul Tillich, Religionsphilosophie, 37.
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Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen
Philosophie. Band 1: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (= Husserliana ULI), hrsg. von Walter Biemel, Den Haag 1950, 2 1 9 .
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lation alle Kategorien und alles Weltverständnis sich allererst konstituieren. Das heißt, hier wurde ein Verhältnis, eine Relation entdeckt als die Grundlage aller Formen des Verstehens und des Verstandenen in der Welt der Menschen. Hieß es einst: Alle Verhältnisse (im kategorialen Sinn) sind nur im Bezug auf die Substanz zu verstehen, so mußte es also jetzt heißen: Alle Substanzen und auch alle übrigen Formen des Denkens und der Orientierung sind von einem Verhältnis aus zu verstehen. Allerdings nicht von einem, das in der Reihe der gegenständlichen Kategorien steht wie bei Aristoteles, vielmehr von einem, das allen diesen Kategorien - sowohl der Substanz wie der Relation - zugrundeliegt. Die scheinbare Umkehrung der kategorialen Ordnung des Aristoteles ist also eigentlich gar keine Umkehrung, sondern eine Rückführung auf einen tieferen Grund, einen Grund allerdings, der terminologisch nur mit Ausdrücken zu fassen ist, die sonst von der letzten und schwächsten aller Kategorien galten, der Kategorie der Relation. Auf dem tieferen Grund wird gerade sie die erste und grundlegende Bestimmung. Gewiß ist über dieses grundlegende Verhältnis auch schon früher und gerade auch bei Aristoteles nachgedacht worden. Aber doch ist es noch nie in dieser Weise in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Dieser Neuansatz wurde von Heidegger aufgenommen und radikalisiert. Darum sind alle grundlegenden Bestimmungen bei Heidegger Relationsbestimmungen. So die Bestimmung des In-der-Welt-seins aus Sein und Zeit Es ist dort die Grundbestimmung des menschlichen Daseins. So auch die erst später in dieser Schärfe entwickelte Bestimmung des Daseins, nämlich als des Da des Seins, d.h. als des Ortes« seiner Erscheinung oder auch seiner Verbergung. Auch dies ist der Form nach eine relationale Bestimmung, und sie wird als grundlegend betrachtet. Und die mit solchen Worten angedeuteten Beziehungen sind bei Heidegger der Grund aller möglichen Formen des Denkens und überhaupt des Daseins. Darum wird ja auch bei Heidegger das Denken zum Danken, wie 40
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Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen
Philosophie. Band 1: Allgemeine Einfuhrung in die reine Phänomenologie, 2 1 6 ff. 41
Vgl. den Satz aus dem »Humanismusbrief«: »Das Sein selber ist das Verhältnis,
insofern Es die Ek-sistenz in ihrem [...] ekstatischen Wesen [...] hält [...]« (Martin Heidegger, Piatons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den >HumanismusWozuErfahrung