Schopenhauer und die Folgen

Unter den klassischen Philosophen gilt Arthur Schopenhauer (1788-1860) in der öffentlichen Wahrnehmung häufig als pessimistischer und menschenfeindlicher Außenseiter. Die akademische Philosophie tut sich bis heute schwer mit ihm. Andererseits gehört Schopenhauer, nicht zuletzt aufgrund seiner Verständlichkeit und seiner stilistischen Brillanz, zu den meistgelesenen deutschen Philosophen im In- und Ausland. Das vorliegende Buch wirft, in lockerer und essayistischer Form, einen differenzierten, frischen Blick auf Schopenhauer: Es wird ein anregender und vielfältiger Philosoph vorgestellt, ein Vordenker der Moderne, der mit seiner Religions- und Metaphysikkritik die kritischen Impulse der Aufklärung aufnahm, unsere Sicht vom Menschen revolutioniert und die Psychoanalyse Sigmund Freuds vorbereitet hat. Darüber hinaus hat er mit seiner Lehre von der Einheit aller Lebewesen Anstöße für ein ökologisches Denken gegeben und mit seinen Aphorismen zur Lebensweisheit einer Philosophie der Lebenskunst neue Impulse verliehen. Das Buch will dazu anregen, sich neu und unbefangen einem der kreativsten Denker der Philosophiegeschichte zu nähern.


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Robert Zimmer

SCHOPENH AUER

U N D DIE FOLG E N

Die Zugangsinformationen zum eBook finden Sie am Ende des Buchs.

Robert Zimmer

Schopenhauer und die Folgen

J. B. Metzler Verlag

Zum Autor Dr. Robert Zimmer, Philosoph, Essayist und Literaturwissen­ schaftler, lebt als freier Autor und Publizist in Stuttgart. 2010 erschien seine Biographie Arthur Schopenhauer. Ein philo­ sophischer Weltbürger.  

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese P ­ ublikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte biblio­ grafische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de ­abrufbar.   ISBN 978-3-476-04641-3 ISBN 978-3-476-04642-0 (eBook)   Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrecht­ lich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen G ­ renzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des V ­ erlages ­unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Verviel­ fältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die ­Ein­speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.   J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft ­Springer-Verlag GmbH, DE und ist Teil von Springer Nature www.metzlerverlag.de [email protected]   Einbandgestaltung : Finken & Bumiller, Stuttgart Typografie und Satz : Tobias Wantzen, Bremen Druck und Bindung : Ten Brink, Meppel, Niederlande   J. B. Metzler, Stuttgart © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ­ ­ein Teil von Springer Nature, 2018

Inhalt Schopenhauers Denken : ­ ­Welterfahrung, Weltdeutung, ­Weltdistanz  1 Das Strichmännchen  1 Welterfahrung  3 Die unbemerkte philosophische Revolution : Die Welt als Wille und Vorstellung  15 Der Solitär  30 »Buddhaist« und Mystiker  37 Aufklärer und (Beinahe-)Materialist  51 »Philosoph für die Welt« und Klugheits­ lehrer : Parerga und Paralipomena  64

Schopenhauers Nachleben 

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Schopenhauer extra muros : ­ ­Schopenhauer-­Leser und Schopenhauer-­ Gesellschaft  77

Der ›Underground‹ der Moderne : Schopenhauer als Inspiration für das philosophische Denken  93 Der Künstlerphilosoph  107 Der Lebenstherapeut und ›Öko-Denker‹  126

Literaturhinweise  134

Das Strichmännchen Ein paar Striche genügten, um das Image des Philosophen Ar­ thur Schopenhauer nachhaltig zu prägen : Wilhelm Buschs An­ fang der 1870er Jahre entstandene und seither immer wieder reproduzierte Bleistiftzeichnung vom Spaziergänger Schopen­ hauer zeigt den Philosophen mit dem Rücken zum Betrach­ ter, die Haarreste auf dem Hinterkopf kurios nach oben abste­ hend, in der linken Hand seinen Stock, in der rechten seinen Hut wie abwehrend nach hinten haltend, begleitet von dem notorischen Pudel. Da haben wir ihn : den klein gewachsenen, älteren, befrackten Herrn, den pessimistischen Weltveräch­ ter, der die Gesellschaft seines Hundes der der Menschen vor­ zieht, den Philosophen als kauzigen Sonderling, so wie ihn der Stammtisch gerne belächelt. Ob es sich hier wirklich, wie im­ mer wieder behauptet wurde, um eine »liebevolle Karikatur« handelt und ob Wilhelm Busch, durchaus ein ernstzunehmen­ der Schopenhauer-Kenner und Leser, dies wirklich im Sinn hatte, mag dahingestellt bleiben : Für die Nachwelt blieb das Image des Außenseiters, der der Welt seine Kehrseite zuwen­ det, bis heute haften.

1 Das Strichmännchen

Schopenhauers Denken : Welterfahrung, Weltdeutung, Weltdistanz

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Nur wenige klassische Philosophen haben eine so breite Leserschaft gefunden und sind gleichzeitig so marginalisiert worden wie Schopenhauer. Seine Bücher drangen in die bür­ gerlichen Wohnzimmer ein und inspirierten Generationen von Künstlern ebenso wie philosophieinteressierte Laien. Im Aus­ land blieb er einer der meist gelesenen deutschen Philosophen. Doch in den großen, medial vermittelten philosophischen Diskursen ist Schopenhauer merkwürdig abwesend geblie­ ben. Die akademische Welt tat sich von Anfang an schwer mit einem Denker, der die Emanzipation des Menschen leugnete und die Vernunft zum Dienstboten irrationaler Triebe machte. In den philosophischen Mainstream war er nie integrierbar. Auch für große Teile der Öffentlichkeit blieb er der philo­ sophische Menschenverächter, der nirgends mitmarschierte, wo der angebliche Fortschritt sich in Bewegung setzte. Scho­ penhauer gehört zu jenen, die die Welt interpretiert haben. An ihre Veränderung hat er nie geglaubt. Marxistische Theoreti­ ker schmähten ihn als Irrationalisten und Kettenhund der Re­ aktion. Hatte er nicht für jene Soldaten, die in Frankfurt 1848 die demokratische Erhebung niederschlugen, in seinem Testa­ ment einen Hilfsfond eingerichtet ? Und auch seine Äußerun­ gen über Frauen, die er als das »niedrig gewachsene, schmal­ schultrige, breithüftige und kurzbeinige Geschlecht« bezeich­ nete, machen ihn zur idealen Zielscheibe feministischer Kritik und zum lohnenden Demonstrationsobjekt jedweder Gender Studies. Kein klassischer Philosoph scheint sich der Political Correctness des 20. und 21. Jahrhunderts derartig zu verschlie­ ßen wie Schopenhauer. Doch war er wirklich der misogyne Abseitige, der, sich dem Humanismus verweigernd, grummelnd in einer Nische der Philosophiegeschichte kauert ? Er war es nicht und jeder gründ­ liche Schopenhauer-Leser weiß, dass die gängigen Schopen­ hauer-Klischees weniger als die halbe Wahrheit sind. Der wah­ ­re Schopenhauer war kein Freund des Fortschrittsdenkens,

Welterfahrung Fast wäre er als englischer Staatsbürger geboren. So jedenfalls hätte es sein Vater, Heinrich Floris Schopenhauer, ein wohl­ habender Kaufmann aus Danzigs herrschender Patriziergilde, gerne gehabt. Der aufgeklärte anglophile Times-Leser und Vol­ taire-Verehrer hatte seine schwangere Frau, Johanna Schopen­ hauer, geborene Trosiener, 1787 zu einer Reise ins westliche europäische Ausland überredet. Er war auf der Suche nach einem neuen Domizil. Polen, unter dessen Oberhoheit Danzig noch stand, war dem Zerfall nahe. Der Stadt drohte die Einnah­ ­me durch preußische Truppen. Heinrich Floris Schopenhauer fürchtete genau dies. »Point de bonheur sans ­liberté« – »Kein Glück ohne Freiheit« – dies war die Losung und die Überzeu­ gung, die ihn dorthin trieb, wo es Bürgerfreiheit und freien Handel gab. Und das Vereinigte Königreich, das damals fort­ schrittlichste und freieste Land Europas, stand hier ganz oben auf seiner Liste. Sein Sohn sollte als freier Bürger in einem freien Land geboren werden. Es kam anders. Für die schwangere Johanna Schopenhauer erwies sich die Reise als zu beschwerlich und man musste nach

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wohl aber ein Freund der Aufklärung und voller Empathie für das Leiden – nicht nur des Menschen, sondern jeder Kreatur. Er war ein klarsichtiger und realistischer Beobachter der Welt, der die Philosophie auf den Boden der Tatsachen führte. Dazu ein Ausnahmestilist, der die philosophische Sprache nicht ver­ gewaltigte, sondern sie zu großem Glanz und großer Klarheit polierte. Vor allem aber war er ein Abenteurer des Denkens, der die Philosophie auf ganz neue Wege geführt hat. Ausge­ schöpft und ausdiskutiert ist dieses Denken noch bei weitem nicht. Schopenhauer verdient ein sehr viel größeres und de­ taillierteres Porträt.

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Hause zurückkehren. Arthur Schopenhauer wurde schließ­ lich am 22. Februar 1788 doch in Danzig geboren, aber Frei­ heitsliebe und kosmopolitische Offenheit scheinen dem spä­ teren Philosophen bereits in die Wiege gelegt worden zu sein. Es sollte in der ersten Lebenshälfte ein Leben der Bewegung und der Welterfahrung werden. Bevor die preußischen Trup­ pen endgültig in Danzig einrückten, zog die Familie Schopen­ hauer 1793 in die Freie und Hansestadt Hamburg. Es war der erste von vielen Umzügen im Leben des Philosophen. Scho­ penhauer wurde nie ein Mann der ›Scholle‹, einen Heimatbe­ zug hatte er nicht. Er wurde, im mehrfachen Sinne des Wortes, ein Mann von Welt. Welterfahrung ist das Abenteuer, das jeder junge Mensch durchlebt. Doch im Falle Arthur Schopenhauers hat sie eine tie­ fere, sowohl biographische als auch philosophische Bedeutung. Und mehr als andere hat er diese Welterfahrung zur Grund­ lage seiner philosophischen Reflexion gemacht. Sein System schwebe nicht, »wie alle bisherigen, in der Luft, hoch über al­ ler Realität und Erfahrung ; sondern geht herab bis zu diesem festen Boden der Wirklichkeit«  – so oder ähnlich sollte sich der spätere Philosoph immer wieder äußern. Schopenhauer wurde nicht müde, auf den Erfahrungsgehalt seiner Philoso­ phie hinzuweisen. Und er konnte auf eine Biographie zurück­ blicken, die ihn vor allem in jungen Jahren mit der Welt ver­ traut gemacht hatte. Arthur Schopenhauer wuchs nicht in den geschützten Wänden der frühbürgerlichen Bildungsinstitutio­ nen auf. Er war viel unterwegs und sah mehr von der Welt als die meisten seiner Altersgenossen. Doch Kuno Fischers Bon­ mot aus seinem 1893 erschienenen Schopenhauer-Buch – »Ein merkwürdiges Leben : erst die Wanderjahre, dann die Lehr­ jahre« – setzt die Sache nicht ganz ins rechte Licht : Schopen­ hauers Wanderjahre waren seine Lehrjahre und das Fundament seiner Bildung. Die Welterfahrung wurde ihm zur wichtigsten Universität.

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Schopenhauers formative Jahre fallen mitten in die Epo­ che der Französischen Revolution und ihrer napoleonischen Folgen, ein Zeitalter der radikalen politischen Veränderungen, der Kriege und des erwachenden Nationalbewusstseins. In all diesen Wirren sehen wir einen jungen Mann, dessen Wege quer durch Europa führen und der die Vielfalt der Erfahrungen mit offenen Augen und hoher Sensibilität in sich aufnimmt. Es gab in Deutschland, an der Wende des 18. zum 19. Jahr­ hundert, außerhalb des Adels und des Militärs nicht sehr viele Möglichkeiten, in der Welt herumzukommen. Der Beruf des Kaufmanns war hier eine Ausnahme. Er forderte das, was man heute networking nennt, die aktive Förderung und Pflege von Kontakten in ganz Europa und zuweilen auch in Übersee. Heinrich Floris Schopenhauer hatte Handelspartner sowohl in West- als auch in Osteuropa und er wollte seinen neunjähri­ gen Sohn, der einmal sein Nachfolger werden sollte, in diese Netzwerke einführen. 1797 unternimmt er eine Geschäftsreise nach Frankreich und England und liefert dabei seinen Sohn bei der Familie seines alten Geschäftsfreundes Grégoire de Blési­ maire in Le Havre ab. Es wird Schopenhauers erste, aber nicht letzte Sozialisation in einem fremden kulturellen Umfeld sein. Er wird zwei Jahre dortbleiben, die französische Sprache und Zivilisation kennen lernen und mit dem gleichaltrigen Sohn des Hauses, Anthime, Freundschaft schließen. Als er 1799 nach Hamburg zurückkehrt, muss er mit dem Schiff fahren. Die napoleonischen Kriege haben den Landweg zu gefährlich gemacht. Wie oft hat sich der junge Schopen­ hauer bis zum Jahr 1815, dem Jahr des Wiener Kongresses, in Deckung begeben müssen, um Schlachten, Scharmützeln und marodierenden Truppen auszuweichen ? Noch 1813 brach er sein Studium in Berlin ab, als sich der preußische Landsturm mobilisierte und der Durchzug der geschlagenen napoleoni­ schen Truppen aus dem Osten erwartet wurde. Um seine Dis­ sertation zu schreiben, zog er sich in ein kleines Zimmer im

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Gasthaus »Zum Ritter« im thüringischen Rudolstadt zurück, um vor den inzwischen nach Sachsen ausgedehnten Gefech­ ten sicher zu sein. Doch 1799 war dies noch nicht die Hauptsorge des jungen Schopenhauer. Noch ging es darum, was überhaupt aus ihm werden und welche Stellung in der Welt er einnehmen solle. Seine Ausbildung war ganz auf die Übernahme des väter­lichen Erbes ausgerichtet. Er besuchte vier Jahre lang die ­pietistisch geprägte Privatschule des Dr. Johann Heinrich ­Christian Run­ ­ge, ein in den Franckeschen Stiftungen in Halle ausgebildeter Theologe, der das Curriculum seiner Schule auf die praktischen Bedürfnisse späterer Kaufleute ausgerichtet hatte. Es war ­beileibe nicht die schlechteste Schule, doch den jungen Scho­­penhauer zog es schon früh in die Welt der gedanklichen Refle­ xion und der schönen Künste. Nicht nur die elterliche Bi­blio­ thek, sondern auch die durch Reisen immer mehr erweiterte »Welt-Anschauung« zog ihn in diese Richtung. Und er wusste, dass dies den Wünschen des Vaters entgegenstand. Der Kon­ flikt zwischen dem eigenen Wunsch, in die Welt des Geistes vorzudringen, und der Absicht des Vaters, ihn zum Kaufmann ausbilden zu lassen, hat Schopenhauers gesamte Jugend be­ stimmt. Er führte dazu, dass Schopenhauer später als andere sich intensiv mit jenen Inhalten befassen konnte, die ihm am Herzen lagen. Er hatte aber auch den nicht unwesentlichen Ef­ fekt, ihm die Zeit zu gewähren, seine Welt-Anschauung mit ­Erfahrungen zu unterfüttern. So macht er von Juli bis Oktober 1800 mit seinen Eltern eine Reise, die ihn nach Niedersachsen, Preußen, Sachsen und Böh­ men führt. In Göttingen sieht er die Exponate aus Cooks Süd­ seereisen, er kommt nach Gotha, Weimar und Dresden – Orte, die in seinem Leben noch eine große Rolle spielen sollten.­ Die Reisetagebücher, die er auf Anweisung der Eltern führen musste, schulten seine Ausdrucksfähigkeit ebenso wie seine Beobachtungsgabe.

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Ganz entscheidend dafür wurde die Reise, die der 15‑jäh­ rige Schopenhauer von Mai 1803 bis August 1804 mit seinen El­ tern ins westliche Europa unternahm. Sie kam durch ein zwei­ felhaftes Angebot zustande, das auf einer väterlichen Fehlein­ schätzung beruhte : auf der Annahme des Vaters nämlich, er könne den Sohn durch das Angebot einer langen Reise von sei­ nem Wunsch, Gelehrter zu werden, abbringen. Dies war näm­ lich die Bedingung Heinrich Floris Schopenhauers gewesen : Nur wenn Arthur einwillige, anschließend eine Kaufmanns­ ausbildung zu beginnen, dürfe er an der Reise der Eltern teil­ nehmen. Der junge Arthur Schopenhauer ließ sich auf diese Bedingung ein, die Stärke seiner geistigen Neigungen wohl selbst unterschätzend. Bildungsreisen dieser Art hatten eine große Tradition : Jun­ ­ge englische Adlige pflegten, zur Vervollständigung ihrer Per­ sönlichkeitsbildung, auf die sogenannte ›Grand Tour‹ zu gehen,­ ­die nach Frankreich, Italien, in die Schweiz, und zuweilen auch nach Griechenland führte. Die Reise des jungen Schopenhauer war eine im zeitgenössischen Kontext bürgerliche und durch­ aus moderne Variante : nicht nur der ästhetischen Hochkultur, den Gemäldegalerien, Opernhäusern und Theatern, sondern auch den sozialen und ökonomischen Verhältnissen wurde große Aufmerksamkeit geschenkt. Schopenhauer lernte auf ihr das fortgeschrittene westliche Europa kennen : darunter die Niederlande, Großbritannien und Frankreich, alles ­Länder und Gesellschaften, die ökonomisch und politisch weiter ent­ wickelt waren als das damalige kleinstaatliche Deutschland, und deren Zivilisation der deutschen in vieler Hinsicht über­ legen war. Die Welt, die Schopenhauer kennen lernt, ist vor allem die Welt der großen westeuropäischen Metropolen. Schopen­ hauers Wanderjahre sind auch Lehrjahre der Urbanität. Lon­ don und Paris waren die damaligen Hauptstädte der Welt. Lon­ don wurde für Arthur Schopenhauer die erste wirklich große

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urbane Erfahrung. Die mit einer Million Einwohner größte Stadt des damaligen Europa war zehnmal größer als das heimi­­sche Hamburg und Mittelpunkt einer globalen Supermacht. Neben dem ausgiebigen Besuch der Kulturstätten hat der junge Mann jedoch auch ein Auge auf die dunklen Hintergründe die­ ser Welt. Er sieht Bettler und Invaliden, und am 8. Juni 1803 notiert er in sein Reisetagebuch : »Ich wohnte diesen Morgen einem traurigen Schauspiele bey : ich sah drey Menschen Hen­ cken […] Ich schauderte da man ihnen den Strick umband, dies war der gräßliche Augenblick  …«. Es sind Szenen wie diese, die sich dem im Geiste des Pietismus erzogenen Scho­ penhauer festsetzten und seinen Blick auf die Welt prägen soll­ ten. Es verdichtete sich das Bewusstsein, dass Leben Leiden bedeutet und erlösungsbedürftig ist. Es waren nicht die einzigen Eindrücke dieser Art auf sei­ ner Reise. Ungewöhnlich oft notiert er Szenen von Leiden, Tod und Vergänglichkeit. In Südfrankreich erweckt das Amphi­ theater von Nimes in ihm »Gedanken an die Tausende längst verwester Menschen herbey, die in diesen Mannigfaltigen Jahr­ hunderten an allen ihren Tagen, so wie ich heute, über diese Ruinen hinwegschritten.« Den Höhepunkt pessimistischer Weltbetrachtung erreichte die Reise mit dem Besuch des Ba­ gno in Toulon und seiner 6000 Galeerensklaven. Die Elendsten unter ihnen waren bei einer Kost von Wasser und Brot an die Galeeren angekettet. Schopenhauer erschütterte diese Erfah­ rung tief. Sie ließ in ihm die Überzeugung reifen, »dass diese Welt kein Werk eines allgütigen Wesens seyn könne, wohl aber das eines Teufels, der Geschöpfe ins Daseyn gerufen, um am Anblick ihrer Quaal sich zu weiden.« Der spätere Philosoph hat Jahre damit verbracht, zu ergründen, was es mit diesem »We­ sen« auf sich habe und auf welche Weise es in der Welt wirke. Welterfahrung wurde hier mit Leiderfahrung assoziiert und zum Fundament erster metaphysischer Grübeleien. ­Dabei sollte aber die praktische Seite der Reiseerfahrungen nicht

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unterschlagen werden. So werden die Schopenhauers in P ­ aris von Louis Sébastian Mercier, dem Autor des Tableau de Paris, durch die Sehenswürdigkeiten, aber auch durch die abgelege­ nen und weniger glänzenden Seiten der französischen Haupt­ stadt geführt. Wie bei seinem früheren längeren Aufenthalt in Le Havre hatte Arthur Schopenhauer hier Gelegenheit, intensiv in die französische Zivilisation und Alltagskultur einzutauchen. Aber auch die englische Sprache und Kultur wurden ihm auf dieser Reise vertraut. Ende Juni 1803 brachen die Eltern von London aus nach Schottland auf und gaben ihren Sohn für sechs Monate in eine englische Privatschule : die Internats­ schule »Eagle House« des Pfarrers Lancaster in Wimbledon, eine renommierte Bildungsstätte für Zöglinge aus den h ­ öheren Ständen. Ziel der Eltern war es, ihrem Sohn die Politur eines Gentleman und damit eine Erziehung zu vermitteln, in der sich ästhetische und soziale Persönlichkeitsbildung verband. Schopenhauers Verhältnis zur englischen Zivilisation wird immer positiv bleiben, obwohl er sich nicht mit allen ihren As­ pekten anfreunden kann. Den Puritanismus und die oft damit verbundene Bigotterie lehnt er vehement ab, die Weltläufigkeit und freie Geisteshaltung eines Landes, das in allen Erdteilen präsent war, sollte ihm aber Vorbild bleiben. In späteren Jah­ ren sucht er, ob in seinem heimischen Frankfurt oder auf Rei­ sen, immer wieder die Gesellschaft von Engländern auf, die er der Gesellschaft der eigenen Landsleute bei weitem vorzog. Noch in fortgeschrittenem Alter, als er überlegt, sich endgültig in Mannheim oder Frankfurt niederzulassen, notiert er »More Englishmen« als ein Kriterium, das schließlich die Entschei­ dung für Frankfurt beeinflusst. Vor allem aber lernte er die per­ fekte Beherrschung der englischen Sprache, was in der dama­ ligen deutschen Bildungsschicht eher selten war. Das Haupt­ augenmerk galt bei den Gebildeten den klassischen Sprachen Griechisch und Latein, während sich die Aristokratie des Fran­ zösischen als lingua franca bediente. Schopenhauer hingegen

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wird immer wieder seine Englischkenntnisse herauskehren und versuchen, sich als Übersetzer klassischer en­glischer Wer­ ­ke wie Humes Essays zur Religionskritik oder Sternes Tristram Shandy ins Spiel zu bringen. Wie sein Vater blieb er ein Leben lang ein Leser der Times. Aber auch im eigenen Land kommt der junge Schopenhau­ ­er viel herum. Zu einer ›Heimat‹ im landläufigen Sinne wird er sich nie bekennen. Die frühe Danziger Kindheit verblasst schnell und auch das Hamburg seiner Jugend hinterlässt kaum Spuren. Schopenhauer wählt seine Wohnorte gemäß seinen Lebensbedürfnissen. Mit dem Tod des Vaters 1805 fällt die Fa­ milie auseinander. Der 17‑Jährige verbringt noch einige Jahre in Hamburg, um das dem Vater gegebene Versprechen einzulö­ sen, die Kaufmannslehre abzuschließen. Gegenüber der Mut­ ter, die sich nun in Weimar ansiedelt, entwickelt er ein hart­ näckiges Ressentiment. Sie habe, so glaubt er, seinen Vater in ­seiner Krankheit und seinen Depressionen vernachlässigt, sich den gesellschaftlichen Vergnügungen hingegeben und sei jetzt dabei, das väterliche Erbe zu verschleudern. Dennoch ist es die Mutter, die schließlich einwilligt, dass er die Kaufmannslehre abbrechen kann und es ihm dadurch ermöglicht, sich einer Vorbereitung auf das Gelehrtenleben zu unterziehen. Es folgt der erste von vielen Umzügen, die seine erste Lebenshälfte bestimmen sollten. Die folgenden Jahre ver­ bringt er in Thüringen im Umkreis des neuen Wohnorts sei­ ner Mutter. Arthur Schopenhauer besucht zunächst das Gym­ nasium in Gotha, und wird anschließend, nachdem er bei dem dortigen Lehrpersonal angeeckt war, in Weimar durch Privat­ lehrer unterrichtet. In dem kleinen Residenzstädtchen Weimar lernt er die für das 18. und frühe 19. Jahrhundert typische deut­ sche Szenerie kennen. Einer hoch entwickelten geistigen Kul­ tur steht eine eher provinzielle gesellschaftliche und politische Kultur gegenüber : Geist ohne Urbanität, eine für die deutsche Kleinstaatenwelt lange Zeit typische Mischung.

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1809, mit 21 Jahren, kann er endlich das ersehnte Studium beginnen. Er geht für vier Semester nach Göttingen und an­ schließend an die junge Berliner Universität, wo er Fichte hört. Die Kriegswirren treiben ihn 1813 aus Berlin nach Rudolstadt, wo er seine Dissertation und erste bedeutende Schrift Von der vierfachen Wurzel des Satzes vom Grunde schreibt, mit der er in Jena in absentia promoviert wird. Das sei wohl eher etwas für Apo­ theker, kommentiert die Mutter, als er im November 1813 wie­ der nach Weimar zurückkehrt. Es war nur einer von vielen Stichen in einem Scharmützel, das ein halbes Jahr später in einem endgültigen Zerwürfnis enden sollte. Arthur Schopen­ hauer verzieh seiner Mutter weder ihren Hausfreund Müller von Gerstenbergk noch die in seinen Augen hohen Ausgaben, mit der sie ihr Weimarer Gesellschaftsleben finanzierte. Es war wiederum Johanna Schopenhauer, über die er mit je­ nem Mann zusammentraf, den er in der Geisteswelt am höchs­ ten schätzte. Sie hatte in Weimar mit ihrem Salon ein Stück urbane Kultur etabliert. Mit Goethe als Stammgast entwickel­ ­te sich der Salon zu einem Mittelpunkt der Weimarer Gesell­ schaft. Neben Goethe traf Schopenhauer dort auf Wieland und Zacharias Werner und machte Bekanntschaft mit dem Um­ kreis des Weimarer Hofes. Zunächst war die Bekanntschaft mit Goethe eine nur flüch­ tige. Der junge, nicht immer soziable Schopenhauer machte keinen besonderen Eindruck auf den Dichterfürsten. Doch dies änderte sich, als Goethe die Dissertation Schopenhauers in die Hände bekam. Nun wurde es zu einer Begegnung, die für Schopenhauer zur wichtigsten und einschneidendsten Er­ fahrung wurde, die er in jenem halben Jahr in Weimar machte. Er war nach seiner Jenaer Promotion zurückgekehrt mit dem übersteigerten Selbstbewusstsein eines jungen Philosophen, der überzeugt war, dass von ihm noch Großes zu erwarten sei – ganz ähnlich jenem Baccalaureus, dessen überbordendes Selbstwertgefühl Goethe im zweiten Akt des zweiten Teils des

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Faust mit den Worten : »Dies ist der Jugend edelster Beruf! / Die Welt, sie war nicht, eh’ ich sie erschuf« karikiert und der kaum verhüllte Züge des jungen Schopenhauer trägt. Goethe hatte in die Dissertation Schopenhauers hineinge­ lesen und sah in dem jungen Mann einen möglichen Anhänger und Propagandisten der eigenen Farbenlehre, die kaum ein öf­ fentliches Echo gefunden hatte. So kam es im Winter 1813/1814 zu zahlreichen Begegnungen zwischen beiden in Goethes Wei­ marer Haus und zu einem für Schopenhauer denkwürdigen und fruchtbaren, für Goethe aber eher enttäuschenden Ge­ dankenaustausch. Schopenhauer blieb zwar ein Leben lang ein Verehrer Goethes und auch ein Anhänger seiner Farbenlehre, sah diese aber doch mit etwas anderen Augen an als Goethe selbst. Er mischte seine Goethe-Verehrung mit Kritik, was die Beziehung belastete und schließlich auch beendete. Neben unterschiedlichen Deutungen in Einzelfragen ­waren es vor allem Schopenhauers erkenntnistheoretischer Idealis­ mus und sein systematischer Ansatz, mit denen er sich von Goe­­the absetzte. So war der Begriff der ›Anschauung‹ für Goethe mit dem Bemühen verbunden, theoriefrei möglichst große Objektivität zu erreichen und den Phänomenen möglichst nahe zu kommen. Er neigte zu einem erkenntnistheoretischen Realismus. Für Schopenhauer hingegen kennzeichnet er einen Teil des subjektiven Erkenntnisapparates, der es ermöglicht, Gegenstände in ihrer kausalen Verknüpfung wahrzunehmen. Für Goethe ist das Auge sonnenhaft, für Schopenhauer ist das Sonnenlicht ein Produkt des Sehvermö­gens. Vor allem aber sah der junge Schopenhauer in Goethes Farbenlehre lediglich eine Summe von zwar richtigen, aber noch nicht systematisch ausgewerteten Einzelbeobachtungen. Diese Auswertung schließlich vorgelegt zu haben, nahm er für sich selbst in Anspruch, als er kurze Zeit später in Dresden die kleine Schrift Über das Sehen und die Farben verfasste. Goethe war nicht begeistert : »Trüge gern noch des Lehrers Bürden / Wenn

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Schüler nur nicht gleich Lehrer würden« schrieb er später in »Epigrammatisches«. Er wandte sich ab und hielt hinfort Dis­ tanz zu dem jungen »Baccalaureus«, was Schopenhauer wiede­ rum tief frustrierte, der sich immer als Anwalt Goethes ver­ stand. Zwei große, aber völlig unterschiedliche Geister waren sich für kurze Zeit begegnet – mit einem für beide unbefriedi­ genden Ausgang. Zerstritten mit der Mutter und enttäuscht von Goethe sucht Schopenhauer wiederum den Ortswechsel. Er verlässt im Mai 1814 Weimar in Richtung Dresden, wo er vier Jahre lang lebt, seine kleine Farbenschrift, vor allem aber sein Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung verfasst. Die Wanderjahre waren je­ doch lange noch nicht zu Ende. In den frühen 1820er Jahren finden wir ihn, in der Bemühung um eine berufliche Stellung, in Berlin, danach zeitweise in München, Bad Gastein, Dres­ den und Mannheim. Dazwischen liegen zwei weitere Welt­ erfahrungsexpeditionen : Von 1818 bis 1819 und noch einmal zwischen 1822 und 1823 bereist Schopenhauer Italien. Es wer­ den seine letzten großen Reisen sein. Goethes »Land, wo die Zitronen blühen« war für Schopen­ hauer, anders als für den von ihm verehrten Dichter, kein ent­ scheidendes Stadium in seiner Persönlichkeitsentwicklung. Goethe hatte die italienische Erfahrung aufgesaugt wie ein Schwamm und war als Mensch und Künstler verändert nach Weimar zurückgekehrt. Die großen und prägenden Werke la­ gen noch vor ihm. Schopenhauer hingegen fuhr nach Italien mit dem Bewusstsein, die Zeit des Reifens abgeschlossen und seinen entscheidenden Beitrag zur Philosophie geleistet zu ha­ ben. Er überquerte die Alpen im Bewusstsein gefestigter Über­ zeugungen. Italien komplettierte seine Welterfahrung, verän­ dert aber nicht seine Weltsicht. Auch er widmet sich, auf seinem Weg über Venedig, Bolo­ g­na, Florenz, Rom und Neapel wie Goethe intensiv der Kunst­ betrachtung und auch er lässt sich auf erotische Erfahrungen

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ein. Doch Italien erschüttert ihn zunächst nicht und er braucht eine Weile, bis er einen Zugang zu dem Land gefunden hat. Er fühle sich, so notiert er in seinem »Reisebuch«, wie jemand, »der ins kalte Wasser gestiegen« und er bedauert, dass ihm die »Zeit zur Verdauung« fehle. Er lässt Gelegenheiten unge­ nutzt und zieht immer wieder die Distanz der Begegnung vor : Einem Treffen mit Lord Byron in Venedig weicht er aus, ob­ wohl er ein Empfehlungsschreiben Goethes in der Tasche hat. Er befürchtet, dieser könne ihm die ihn begleitende Dame aus­ spannen. Während Goethe in Rom in die deutsche Künstler­ kolonie eingetaucht war, wird Schopenhauer dort zur Unper­ son, weil er sich mit den dort ansässigen und wirkenden »Na­ zarenern« anlegt. Er verspottet ihre Mittelalterverehrung und ihr idealisiertes Christentum. Schopenhauer meidet die deut­ schen Schwärmer und zieht den distanziert-höflichen Kon­ takt mit Engländern vor. Er nähert sich der für ihn neuen Welt nicht als Enthusiast, sondern kühl beobachtend und nüchtern reflektierend. Er erweitert seinen Bildungshorizont, lernt Ita­ lienisch und absolviert das von Reisenden gebildeter Stände erwartete Pflichtprogramm an Kunst, Architektur und Musik.­ ­Aber er schaut und hört nicht mehr unbefangen : Seine Er­ fahrung durchläuft den Filter seiner philosophischen Weltan­ schauung. Schopenhauer hat nach seiner Rückkehr nach Deutschland mehrfach versucht, seinen Platz in der Gesellschaft und in der akademischen Welt zu finden. Doch man hatte dort nicht auf ihn gewartet. Auch machte er es sich mit einer Mischung aus demonstrativem Selbstbewusstsein, Eigensinn und Kompro­ missunfähigkeit selbst schwer. Er blieb ein sperriger Zeitge­ nosse, der nie in Harmonie mit seiner Mitwelt stand : »Mögt euch drum immer wie ihr wollt geberden : / Des Werkes Leben könnt ihr nicht gefährden. / / Aufhalten könnt ihr’s, nimmer­ mehr vernichten : / Ein Denkmal wird die Nachwelt mir errich­ ten«, hatte er 1819 in Rom in sein »Reisebuch« notiert. Er war

sich sicher, und nicht zu Unrecht, einst eine epochale philoso­ phische Erbschaft zu hinterlassen. Wer sehen wollte, konnte sehen : Das erste große Werk war kurz zuvor erschienen.

Die unbemerkte philosophische Revolution : Die Welt als Wille und Vorstellung 15 Die unbemerkte philosophische Revolution : Die Welt als Wille und Vorstellung

Schopenhauers pessimistisch grundierte Welterfahrung wurde Grundlage seiner philosophischen Reflexion, die in einem Geniestreich gipfelte : Die Welt als Wille und Vorstellung, 1819 als Werk eines Dreißigjährigen erschienen und dann noch einmal 1844 auf zwei Bände erweitert, liegt immer noch wie ein exo­ tischer Tanker im Hafen der westlichen Philosophie. Gott, der alte Kapitän des Idealismus und Rationalismus, ist hier nir­ gends anzutreffen und die Vernunft, bis dahin unumstrittener Steuermann auf den philosophischen Meeren, ist hier zum Schiffsjungen degradiert, der das Deck schrubben muss. Auf der Kapitänsbrücke steht ein wilder Geselle mit schlechter Re­ putation, ein unablässig aktiver und ebenso rücksichtslos zer­ störerischer Freibeuter, genannt »Wille«. Sein Tun folgt kei­ nem Plan und seine Routen lassen sich auf keinen Seekarten nachzeichnen. Mit Schopenhauer und seinem frühen philosophischen Meisterstück war in der Tat in der philosophischen Szene ein verstörender Fremdling aufgetreten, den man lange ignorierte oder mit scheelen Blicken ansah. Die Revolution, die sich mit seinem Erscheinen verband – die Akzeptanz des Irrationalen und die radikale Selbstbescheidung der Vernunft – wurde über Jahrzehnte nicht wahrgenommen. Lange Zeit blieb Schopen­ hauers Hauptwerk das Buch eines öffentlich unbemerkten phi­ losophischen Außenseiters. Der gedankliche Reichtum des Bu­ ches ist bis heute nicht ausgeschöpft. Die Ladung dieses Schif­ fes wurde – um im Bild zu bleiben – nie vollständig gelöscht.

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Aus dem Blickwinkel des 21. Jahrhunderts jedoch wird klar, dass mit diesem Buch das Territorium des Menschlichen völlig neu vermessen wurde. Schopenhauer entdeckt Territorien, die auf keiner bisherigen Karte verzeichnet waren und die das Ko­ ordinatensystem unserer Menschen- und Weltwahrnehmung völlig verschieben. Wurde der Mensch bisher als Vernunft­ wesen, als Krone der Schöpfung, Beherrscher der Natur und als Mittelpunkt der Weltordnung gesehen, so stellen sich bei Schopenhauer die Verbindungen zwischen Mensch, Welt und Natur auf eine ganz andere Art dar : Der Mensch wird wieder mitten in die Natur gesetzt und anstelle der Vernunft rückt nun das weite Feld des Unbewussten, Unterbewussten und Irratio­ nalen, von der philosophischen Tradition weitgehend igno­ riert, durch Schopenhauer in den Mittelpunkt. Schopenhauer hat die Vernunft vom philosophischen Himmel heruntergeholt und sie zur Dienstmagd eines irrationalen Willens gemacht. Schopenhauer hat Die Welt als Wille und Vorstellung jedoch nicht aus dem Hut gezaubert. Der »eine Gedanke«, der das Werk nach eigener Aussage beherrscht, dass nämlich die Welt die Selbsterkenntnis des Willens ist, reifte lange in ihm he­ ran. Hervorgegangen ist er aus einer Auseinandersetzung mit der Tradition des philosophischen Idealismus, eine Tradition, die unsere alltägliche Weltwahrnehmung als Oberflächenphä­ nomen begreift und dahinter eine wahrere und tiefere Schicht der Wirklichkeit annimmt. In seinen Göttinger Studienjahren war Schopenhauer über den durch sein Pseudonym Aeneside­ mus bekannt gewordenen Gottlob Ernst Schulze mit dem Werk Platons und Kants bekannt geworden. Beide blieben positive Orientierungspunkte seiner Philosophie. In der von Platon und Kant vorgeprägten Weise lieferte der philosophische Idealismus zunächst das Gerüst seines Den­ kens. Beide vertraten die für den Idealismus charakteristische Zwei-Welten-Theorie : Platon unterschied die ­veränder­liche, endliche Welt der Wahrnehmung von der ewigen unveränder­

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lichen Welt der ewigen Formen (auch »Ideen« genannt), wäh­ rend Kant die Welt der »Erscheinungen« von der Welt des uns unzugänglichen »Ding an sich« trennte. Bei Kant sind die Möglichkeiten der Erkenntnis der Erscheinungswelt durch Er­ kenntnisvoraussetzungen begrenzt, die in uns angelegt sind. Der Herausarbeitung dieser »Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis«, dem also, was methodisch als »transzendentaler Idealismus« in die philosophische Fachsprache eingegangen ist, hatte Kant sein philosophisches Hauptwerk, die Kritik der reinen Vernunft, gewidmet. Schopenhauers Dissertation von 1813, Über die vierfache Wur­ zel des Satzes vom Grunde, kündigt die philosophische Revolu­ tion, die mit seinem Hauptwerk verbunden war, noch keines­ wegs an. Sie enthält vielmehr eine kritische Auseinanderset­ zung und eine Modifikation des kantischen transzendentalen Idealismus. Schopenhauer übernimmt die These, dass die Welt der Ob­ jekte uns immer nur als »Erscheinungen« zugänglich ist, die bei ihm, in Anlehnung an Reinhold und Fichte, »­Vorstellungen« heißen. Seine Dissertation übernimmt auch den transzenden­ talen Ansatz Kants und widmet sich jenen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis, die das Grundgerüst unserer Vor­ stellungswelt bilden. Dabei vereinfacht er jedoch das komple­ ­xe Gerüst der Kategorien bei Kant erheblich. Fundament die­ ses Gerüsts ist für Schopenhauer der sogenannte »Satz vom zu­ reichenden Grund« : »Alles was ist, hat einen Grund, warum es ist«. Schopenhauers Anliegen ist es zu zeigen, dass der Be­ griff des Grundes bisher nur unzureichend verstanden wurde. Er kann nämlich vier verschiedene Bedeutungen annehmen : Er ist nicht nur »Grund des Werdens« im Sinne einer Kausal­ beziehung, und auch nicht nur »Erkenntnisgrund« im Sinne einer logischen Grund-Folge-Beziehung. Er kann auch »Seins­ grund« sein, der sich auf die gegebene Raum – Zeit – Struktur stützt und er kann auch als »Motiv« unser Handeln beeinflus­

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sen. Die vom Satz vom Grunde beherrschte Vorstellungswelt ist Ausdruck der Spaltung von Subjekt und Objekt : Sie setzt das Erkenntnissubjekt auf die eine Seite und ihr gegenüber all das, was für uns Objekt, d. h. Gegenstand der Erfahrung und der Wissenschaft sein kann. Die in der Dissertation vorgelegte Analyse des Satzes vom Grunde wird auch das erkenntnistheoretische Gerüst des Hauptwerks, Die Welt als Wille und Vorstellung, bilden. Doch was ist mit jener anderen, zweiten Welt, die hinter oder über den Vorstellungen liegt, jene Welt, die Platon mit der unvergäng­ lichen Welt der Ideen identifiziert und Kant als Welt des Ding an sich bezeichnet hatte ? Nach Kant ist sie keiner Erfahrung zugänglich und wir können auch keine Erkenntnisse über sie formulieren, doch wir haben eine begründete Hoffnung, dass es eine Welt gibt, in der Raum, Zeit und die Naturgesetzlich­ keit außer Kraft sind und wo die Freiheit an die Stelle der Not­ wendigkeit tritt. Eine »zweite« Welt im Sinne einer Transzendenz gibt es bei Schopenhauer nicht mehr. Als Schopenhauer mit 26 Jahren da­ ranging, sein großes Werk zu schreiben, hatte er sich von allen Jenseitsspekulationen befreit, sei es die der christlichen Reli­ gion oder die des zeitgenössischen Deutschen Idealismus à la Schelling oder Hegel. Für ihn gab es weder ein Jenseits noch einen Ersatzgott in Form einer in Natur und Geschichte geof­ fenbarten Vernunft. Schopenhauer redet und schreibt immer nur von dieser, diesseitigen Erfahrungswelt. Aber er will wis­ sen, was sie »bedeutet« : Schopenhauers Idealismus nimmt die Gestalt einer hermeneutischen Metaphysik an. Mit dem Diesseits hat es bei Schopenhauer nämlich seine besondere Bewandtnis. Denn unsere Welt ist nicht nur Vor­ stellung. Es gibt keine metaphysische Hinterwelt, sehr wohl aber einen Hintergrund der Vorstellungswelt, in dem sich das wahre Wesen der Welt zeigt. Unser Weltbewusstsein muss nicht Vorstellung bleiben. Bereits der Student Schopenhauer

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hatte sich mit der Mystik Jakob Böhmes und mit dem Begriff der »intellektuellen Anschauung« in den Schriften Schellings beschäftigt. In beiden Fällen war ihm eine Erkenntnis der Welt begegnet, die Zeit, Raum und Kausalität überschritt und die Trennung von Subjekt und Objekt aufhob. Diese Art von Er­ kenntnis weckte sein besonderes Interesse. Sie war für Scho­ penhauer mehr als nur eine Form des rationalen Durchschau­ ens : Er suchte eine Form der Erkenntnis, die gleichermaßen Einsicht wie Erlösungserfahrung war. Nicht in der Dissertation, sehr wohl aber in den Notizbü­ chern vor 1814 kreisen Schopenhauers Gedanken bereits um ein »besseres Bewusstsein« als Gegenbegriff zum »empirischen Bewusstsein«, das in der Welt von Raum, Zeit und Kausalität befangen bleibt. Das »bessere Bewusstsein« als die Möglichkeit, die Begrenzungen der Vorstellungswelt zu überwinden und zu einer anderen Welt-Sicht zu gelangen, ist Ausdruck eben jenes Schopenhauerschen Bedürfnisses nach Erlösung, das seine ge­ samte Philosophie beherrscht. Schon der frühe, noch pietis­ tisch beeinflusste junge Schopenhauer hat die Welt als Folge eines Sündenfalls und der permanenten Leiderfahrung gese­ hen. Philosophie war nicht nur analytisches Erkenntniswerk­ zeug, sondern auch die Anleitung, mit dieser Erfahrung umzu­ gehen. Theoretische Einsicht in die Welt und praktische Hal­ tung zur Welt sind bei Schopenhauer immer eng miteinander verknüpft. Seine Philosophie wird getrieben durch das Verlan­ gen, eine Alternative zu jenem empirischen Bewusstsein zu formulieren, das uns in dieser Leiderfahrung und in der Tren­ nung von Subjekt und Objekt und in den Gesetzen von Raum, Zeit und Kausalität gefangen hält. Wie Platon und viel mehr als Kant gibt Schopenhauer seiner Philosophie einen medita­ tiven und zugleich therapeutischen Charakter. Kant schätzte er als Analytiker, doch Platon schürfte in seinen Augen tiefer : »Kant kannte die Kontemplation nicht«, notierte er in seinen Aufzeichnungen.

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Ab 1814, dem Jahr, in dem Schopenhauer mit der Arbeit an seinem Hauptwerk beginnt, verschwindet allerdings der Be­ griff des »besseren Bewusstseins« aus seinen Notizen. Doch die Vorstellung eines anderen Bewusstseinszustandes, der die normale Welterfahrung übersteigt, bleibt in seinem Denken immer präsent, nimmt aber eine ganz andere Form an. Denn inzwischen hat sich ihm das geöffnet, was er als das Wesen und die Bedeutung der Welt verstehen sollte. Die Welt der Vorstellungen verstehen heißt verstehen, warum etwas ist. Doch sie erklärt uns nicht, was dieses ›Etwas‹ ist. Wir wollen nicht nur die kausalen Abläufe in der Welt verstehen, wir wol­ len Wesen und Kern der Welt selbst verstehen. Genau darum geht es für Schopenhauer in seiner hermeneutisch angeleg­ ten Metaphysik : um die Gesamtbedeutung der Welt. Schopen­ hauer übersteigt nicht das Diesseits, sondern er durchdringt es wie mit einer Sonde. Das Wesen der Welt öffnet sich für uns nicht außerhalb, sondern innerhalb der Erfahrung. Wir müs­ sen diese unsere Welt nur auf eine neue Art lesen lernen. Die Lösung des Welträtsels liegt für ihn nicht im Kopf, sondern mitten im Leben. Nicht Transzendenz, sondern Immanenz heißt die Richtung, die seine Philosophie einschlägt. Schopen­ hauer nimmt für sich in Anspruch, dass er die Deutung der Welt direkt aus ihrer empirischen Anschauung gewonnen hat. Die Welt der Vorstellung ist die Welt der Objekte. Doch was ist es, was sich in diesen Vorstellungen ›objektiviert‹ ? Wo öffnet sich die Tür, dieses ›Was‹ zu verstehen ? Der Weg, der sich ihm zum Wesen aller Vorstellungen geöffnet hat, führt nicht über die Vorstellungen hinaus, sondern tief in ihr wahres Wesen hi­ nein. Er führt über eine Erfahrung, die so alltäglich ist, dass die Philosophie ihr bisher kaum Beachtung geschenkt hatte. Es ist keine Erfahrung der Außenwelt, sondern der Innenwelt. Es ist die Erfahrung der eigenen Körperlichkeit. Der Körper kann für uns, wenn wir ihn von außen betrachten, eine ganz normale Vorstellung und damit ein ganz normales Objekt sein.

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Als solches betrachten wir ihn im Spiegel und als solches ›be­ handeln‹ wir ihn in der Medizin. Doch wir haben auch unmit­ telbare, ›innere‹ leibliche Erfahrungen wie Schmerz und Lust. Hier macht sich etwas bemerkbar, was als ›Vorstellung‹ nicht mehr zu fassen ist. Hier meldet sich etwas Drängendes, eine Kraft und eine Energie, die den ganzen Körper durchdringt und von ihm eigentlich nicht mehr zu trennen ist. Beim Menschen erreicht sie in der Sexualität ihre deutlichste Ausprägung. Für diese Kraft wählt Schopenhauer den Begriff »Wille«. Mit dem, was wir als menschlichen »Willen« kennen, hat er jedoch nicht mehr als Familienähnlichkeit. Schopenhauers Wille agiert ohne Plan, ohne Absicht, ohne Ziel. Er ist eine zu­ gleich irrationale wie universale Kraft, die überall wirkt, wo es Leben gibt. Mehr noch : Er ist Wesen und Grundlage des Le­ bens. Schopenhauer weiß zwar, dass die Gewissheit des mich durchdringenden Willens strenggenommen nicht bedeutet, dass dieser auch in anderen Menschen oder gar in anderen Wesen wirkt, doch für ihn ist der Analogieschluss unvermeid­ lich, dass wir den Willen auch in allem anderen, was lebt, sei es Mensch, Pflanze oder Tier, annehmen müssen. Der Wille ist die kosmische Lebensenergie. Er reproduziert ständig Le­ ben und bringt dabei wahllos Exemplare jeder Gattung hervor. Das Individuum gilt ihm dabei nichts. Und doch ist jedes Indi­ viduum durch den Willen in seinem Charakter vorgeformt. Die Freiheit des Willens ist für Schopenhauer eine Chimäre. Seine Weltsicht ist deterministisch. Schopenhauers Argumente in Die Welt als Wille und Vorstel­ lung bewegen sich weiterhin im Rahmen des erkenntnistheore­ tischen Idealismus. Er hat den Anspruch, seine zentrale These, dass Welt im Grunde irrationaler Wille ist, der im Menschen zur Selbsterkenntnis gelangt, in organischer Weise zu entwi­ ckeln, und zwar so, dass »jeder Theil eben so sehr das Ganze erhält, als er vom Ganzen gehalten wird, keiner der erste und keiner der letzte ist«. Die erkenntnistheoretischen, metaphysi­

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schen, ethischen und ästhetischen Partien des Buches verdeut­ lichen den zentralen Gedanken aus jeweils unterschiedlicher Perspektive. Schopenhauers Antwort auf die Frage : Was ist die Welt wirklich, wenn sie nicht bloß Vorstellung ist ? lautet also : Die Welt ist in Wahrheit Wille, auch wenn sie für unsere normale Erkenntnis immer Vorstellung ist. Was von Platons Reich der Ideen und Kants Ding an sich dabei übrigbleibt ist : Auch der Wille ist unveränderlich und steht außerhalb von Zeit, Raum und Kausalität. Doch mit Transzendenz, Geist und Rationa­ lität, den Hausgöttern des Idealismus, hat er nichts mehr zu schaffen. Er ist reiner immanenter Lebenstrieb. Er macht, was er will und nur das. Ihm gegenüber ist die Vernunft ohnmächtig. Die Vernunft, ehemals hoch gehandelt, wird bei Schopenhauer zu einem »Epiphänomen« degradiert, zu einem überschätzten Zusatzvermögen, das zwar dem Menschen als einzigem Wesen gegeben, das aber ebenfalls dem Willen unterworfen ist. Das bedeutet aber : Die Welt ist im Kern irrational und kein höhe­ res oder besseres Bewusstsein kann daran etwas ändern. Der Mensch steht nicht über dieser Welt, sondern mitten in ihr. Er ist kein Vernunftwesen, sondern selbst ein willensgesteuerter Teil dieser Irrationalität. Wenn wir die Welt richtig lesen, offenbart sie sich uns als ein Meer der Irrationalität, als ein ewig sich erneuernder und selbstzerstörerischer Wille zum Leben, der mit dem Leben un­ aufhörlich Leiden hervorbringt. Was wir Schopenhauers Pes­ simismus zu nennen gewohnt sind, gründet sich darauf, dass wir in einem unveränderbaren erlösungsbedürftigen Leidens­ zusammenhang leben. Hier war in der Tat etwas Revolutionäres passiert. Wäh­ rend der Mainstream der westlichen Philosophie glaubte, das Wesen der Welt mit Blick auf die Außenwelt, über den High­ way der menschlichen Rationalität erkennen zu können, ge­ langt Schopenhauer zum Wesen der Welt auf einem bisher we­

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nig beachteten Schleichpfad : auf dem Weg nach Innen, über die Wahrnehmungen der eigenen Willens- und Triebregungen. Dieser Willens- und Triebwelt kommt dabei eine ganz neue Be­ deutung zu. Schopenhauer hatte damit nicht nur die von der Antike bis zur Aufklärung propagierte vernünftige Weltord­ nung in Frage gestellt, sondern auch unser Menschenbild radi­ kal verändert, indem er die Rolle der rationalen Erkenntnis he­ rabgestuft und das Bewusstsein der leiblichen Existenz für das Selbstverständnis des Menschen hervorgehoben hat. Nicht nur die Welt ist Lebenstrieb, auch der Mensch wird nun neu als Triebwesen definiert. Es ist der ursprüngliche Lebensegois­ mus, der seine Handlungen motiviert und in der Sexua­lität sei­ nen stärksten Ausdruck findet. Damit stellt Schopenhauer 2500 Jahre westlicher Anthropo­ logie auf den Kopf : Was ihn gegenüber anderen Wesen hervor­ hebt, ist peripher – in seinem Kern ist er mit allem Lebenden nicht nur verbunden, sondern identisch. Dass unter der Oberfläche von Vernunft und Bewusstsein ein riesiger Berg des Vorrationalen, des Un- und Unterbewuss­ ten lauert, dass die Fäden unseres Denkens und Handelns hin­ ter den Kulissen der Rationalität gezogen werden : das musste man also nicht erst bei Freud lernen. Man konnte es schon bei Schopenhauer ein knappes Jahrhundert davor erfahren. Die Revolution hatte schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts statt­ gefunden, aber sie blieb lange unbemerkt. »Die Welt als Wille und Vorstellung« : Für unser Erkennen ist die Welt eine Welt der Vorstellungen, der den Gesetzen von Raum, Zeit und Kausalität unterworfenen Objekten. Was sich aber in diesen Vorstellungen objektiviert, ist Wille, eine univer­ sal und ziellos wirkende Kraft, die unablässig danach drängt Leben hervorzubringen. Der Wille ist unendlich fruchtbar und zugleich unendlich zerstörerisch. Er zeugt unablässig Lebens­ formen, die sich aber auch gegenseitig bekämpfen und zerstö­ ren. Mit dem Leben erzeugt er Leiden. Warum ist unsere Welt

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ein Schauplatz, in der die Wesen sich gegenseitig jagen und verschlingen und Bühne für eine Geschichte, in der Völker sich unablässig bekriegen und abschlachten ? Weil sie vom Willen beherrscht wird, ist Schopenhauers Antwort. Schopenhauer vertritt also auch einen radikalen Gegenentwurf zu jenem Ge­ schichtsoptimismus, der von vielen Aufklärern über Hegel bis Marx noch das gesamte 19. Jahrhundert beherrschte : Es gibt für ihn keine Hoffnung auf eine ideale klassenlose Gesellschaft oder auf einen Zustand, wie Kant es formuliert hatte, des »ewi­ gen Friedens«. Schopenhauer sieht in der Geschichte keinen Fortschritt, sondern ein sich immer wiederholendes Schau­ spiel der Konflikte, des Elends und der Grausamkeiten. Die Welt bleibt für ihn ein Jammertal. In diesem Punkt trifft sich Schopenhauer allerdings wie­ der mit der christlichen Sicht. Auch wenn Schopenhauer ein radikaler Kritiker des jüdisch-christlichen Theismus blieb, ist seine Philosophie doch nicht ohne religiöse Untertöne. Beson­ ders zum neutestamentarischen Weltverständnis gibt es eine erkennbare Nähe. Wie diese vertritt Schopenhauer eine pessi­ mistische Welt- und Menschensicht, in der das Leiden der Welt­ ­im Mittelpunkt steht und die mit einer Erlösungssehnsucht verknüpft wird. Mit seiner Lehre vom Willen als dem universalen kosmi­ schen, blinden und selbstzerstörerischen Lebenstrieb erklärt sich das Böse und das daraus entstehende Leiden von selbst. Der Wille wird selbst zu einem moralischen Akteur : Mit dem Leben bringt er Schuld hervor, die durch das Leiden abgetra­ gen wird. So hat auch der Mensch, indem er lebt, Anteil an die­ ser Schuld. Er muss dafür büßen, aber nicht im Jenseits, son­ dern im Hier und Jetzt : Will man wissen, was die Menschen, moralisch betrach­ tet, im Ganzen und Allgemeinen werth sind ; so betrachte man ihr Schicksal, im Ganzen und Allgemeinen. Dieses

ist Mangel, Elend, Jammer, Quaal und Tod. Die ewige Ge­ rechtigkeit waltet : wären sie nicht, im Ganzen g ­ enommen, nichtswürdig ; so würde ihr Schicksal, im Ganzen ge­ nommen, nicht so traurig seyn. In diesem Sinne können wir ­sagen : die Welt selbst ist das Weltgericht. Könnte man ­allen Jammer der Welt in eine Waagschaale legen, und alle Schuld in die andere ; so würde gewiß die Zunge ein­ stehn. [W I , S. 415 f.] 25 Die unbemerkte philosophische Revolution : Die Welt als Wille und Vorstellung

Indem er der Welt, wie sie ist, eine moralische Bedeutung zu­ spricht, überführt Schopenhauer seine Metaphysik bruchlos in seine Ethik. Die Welt ist ein erlösungsbedürftiger Schuld- und Leidenszusammenhang. Die vier großen Teile seines Werks, Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ästhetik und Ethik variieren aus unterschiedlichen Perspektiven jenen einen Gedanken : dass die Welt Produkt und Selbsterkenntnis des Willens ist. So wird die Deutung des Lebens als Leiden und die Erkennt­ nis der Einheit aller Wesen zur Grundlage der moralischen For­ derung an den Menschen, sich dem Wirken des Willens ent­ gegenzustellen. Die Erkenntnis, dass die Welt in ihrem Wesen Wille ist, fordert von uns radikale Weltdistanz. Als moralische Herausforderung nimmt diese Weltdistanz für den Menschen die Form der Willensverneinung an. Der einzig gangbare Weg der Willensverneinung ist für Schopenhauer die Selbsterkenntnis des Willens im Individuum und die daraus erwachsene Lebenshaltung. Der irrationale, im­ mer tätige, selbstzerstörerische Wille kann im Menschen zum vollen Bewusstsein seiner selbst gelangen. Es gibt für Schopen­ hauer diesen einen, sehr seltenen Fall, in dem dem Willen via menschliche Erkenntnis ein Licht über sich selbst aufgeht und diese Erkenntnis zur Selbstauslöschung des Willens im Erken­ nenden führt. Dann tritt der Mensch aus dem Zeugungskreis­ lauf des Lebens und Leidens heraus :

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Vergleichen wir das Leben einer Kreisbahn mit g ­ lühenden Kohlen, mit einigen kühlen Stellen, welche Bahn wir ­un­ablässig zu durchlaufen hätten ; so tröstet den im Wahn Befangenen die kühle Stelle, auf der er jetzt eben steht, oder die er nahe vor sich sieht, und er fährt fort die Bahn zu durchlaufen. Jener aber, der, das principium ­individuationis durchschauend, das Wesen der Dinge an sich und da­ durch das Ganze erkennt, ist solchen Trostes nicht mehr empfänglich : er sieht sich an allen Stellen zugleich, und tritt heraus. – Sein Wille wendet sich, bejaht nicht mehr sein eigenes, sich in der Erscheinung spiegelndes Wesen, sondern verneint es. [W I , S. 448 f.] Dies ist nun der neue Zusammenhang, in dem sich die Inhalte des »besseren Bewusstseins« wiederfinden : eine Erkenntnis, in der Raum, Zeit, Kausalität und das vom Willen hervorge­ brach­te principium individuations überwunden und in dem Sub­ jekt und Objekt, der Gegensatz von Betrachter und Gegen­ stand, auf­gehoben ist. Diese Erkenntnis führt uns nicht mehr in eine andere, intel­ lektuelle oder spirituelle Welt-Anschauung, sondern sie führt uns, viel radikaler, zur Negation der Welt überhaupt. An die Stelle des »besseren Bewusstseins« tritt eine Art negatives Be­ wusstsein, eine durch Willensverneinung herbeigeführte, be­ grifflich nicht mehr fassbare Weltauslöschung. Für Schopen­ hauer ist Welt das, was besser nicht wäre. Bedeutet das, wie Albert Camus und andere fälschlicher­ weise meinten, dass Schopenhauer zum Abschied aus dem Le­ ben, zum Freitod aufruft ? Keineswegs. Zwar hat Schopenhauer eine moralische Verurteilung des Freitods, wie dies von religiö­ ser Seite geschah, immer abgelehnt. Doch das vorzeitige Been­ den des eigenen Lebens ist für ihn kein Weg zur Willensvernei­ nung. Im Freitod wird nicht der Wille verneint, sondern ledig­ lich das Individuum als eine seiner Erscheinungen.

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Für Schopenhauer gibt es eine temporäre und eine dauer­ hafte Auslöschung des Willens. Die Erfahrung eines tempo­ rären Stillstellens des Willens, also jener »kühlen Stellen«, an denen wir uns aus dem Getrieben-Sein durch den Willen er­ holen, machen wir in der Kunst, in der ästhetischen Kontem­ plation. Die Kunst hat für ihn deshalb auch eine moralische und therapeutische Funktion. In ihr treten sich Subjekt und Objekt in einer ganz spezifischen Weise gegenüber : In der äs­ thetischen Wahrnehmung blendet das Subjekt alle Willensre­ gungen aus, es wird zum »willenlosen Subjekt der Erkennt­ nis« – eine Einsicht, die erkennbar nahe an Kants »interesse­ losem Wohlgefallen« liegt. Das ästhetisch wahrgenommene Objekt wiederum erscheint uns nicht als Einzelding, sondern als Repräsentant eines Allgemeinen, das Schopenhauer mit der Platonischen Idee identifiziert. Schopenhauer zieht Pla­ tons Ideenlehre aus dem philosophischen Keller hervor und gibt ihr eine neue Funktion in seinem System. Die Ideen sind das Objekt der Kunst. Ästhetische Betrachtung wird somit zu einer rein objektiven, von allen eigenen Lebens- und Bedürf­ niszusammenhängen absehenden Betrachtung. Sie ist willen­ lose Ideenerkenntnis. Eine besondere Rolle spielt bei Schopenhauer die Erfah­ rung der Musik. Schopenhauer hat den romantischen Zeitgeist mit eher skeptischen und kritischen Augen betrachtet, doch im Falle der Musik ist er ihm gefolgt : Musik bleibt für ihn im­ mer die ausgezeichnetste aller Künste, jene geheimnisvolle ­Erfahrung, die direkt ins Wesen der Welt führt. Sie ist nicht willenslose Erkenntnis der Ideen, sondern Abbild des Willens ­selber. Die Musik ist neben der Natur die Sprache, in der sich der Wille am unmittelbarsten und deutlichsten manifestiert. Die anderen Künste, so Schopenhauer, reden vom Schatten, die Musik redet vom Wesen. Daher ihre eindringliche emotio­ nale Wirkung :

Das unaussprechlich Innige aller Musik, vermöge dessen sie als ein so vertrautes und doch ewig fernes Paradies an uns vorüberzieht, so ganz verständlich und doch so un­ erklärlich ist, beruht darauf, daß sie alle Regungen unsers innersten Wesens wiedergibt, aber ganz ohne die Wirk­ lichkeit und fern von ihrer Quaal. [W I , S. 312]

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Es war diese These : Dass Musik unter allen Künsten den höchs­ ten Rang einnimmt, dass sie die Zauberkraft ist, die uns mit dem Wesen der Welt verbindet, die Schopenhauer nicht nur für Nietzsche, sondern für die gesamte Kunstwelt so ­attraktiv machen sollte. Doch Kunst enthebt uns nur zeitweise des Willenseinflus­ ses. Eine dauerhafte Verneinung des Willens manifestiert sich in der Art, wie wir uns gegenüber der Welt insgesamt verhal­ ten. Grundlage dafür ist eine Lebenshaltung, die die Einheit al­ ler Wesen verinnerlicht hat. Sie erfährt alle anderen Wesen als Mit-Leidende. Schopenhauers Ethik ist keine Ethik der Nor­ men und Normenbegründung. Es ist eine Ethik, in der eine einzige Tugend im Zentrum steht : das Mitleid. Im »Mitleid«, im Sich-Einlassen auf das Mit-Leiden mit anderen, in der Er­ kenntnis, dass alle Wesen eine Einheit sind, wird Egoismus und Selbstsucht überwunden. Dies ist für Schopenhauer auch der wahre Sinn der christlichen Forderung : »Liebe Deinen Nächs­ ten wie Dich selbst«. Der Metaphysiker Schopenhauer hat den christlichen Gott entthront. Der Ethiker Schopenhauer jedoch hat das Liebesgebot des Neuen Testaments rehabilitiert. Aber Schopenhauers Ethik enthält auch ein neues, revo­ lutionäres Element. In seiner Weltdeutung ist alles, was lebt, gleichermaßen dem irrationalen Willen unterworfen. Das be­ deutet als moralische Konsequenz, dass sich auch unser Han­ deln gleichermaßen auf alle Wesen beziehen muss. Schopen­ hauers Mensch ist nicht mehr, wie im christlichen Weltbild, Krone der Schöpfung, sondern er ist ein Tier unter Tieren.

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Alle Wesen sind Teil der Einheit des Lebens und damit Mit-Lei­ dende. Daher muss unser Mitleid allen Wesen gelten. So ist er der erste bedeutende Philosoph der westlichen Philosophie, der darauf hinweist, dass alle empfindenden Lebewesen An­ spruch auf eine moralische Behandlung haben. Schopenhau­ ers Ethik ist eine Ethik der universalen Empathie. In ihr verbin­ det sich die Weisheit der ostasiatischen Religionen mit einer zukunftsweisenden ökologischen Sicht der gesamten Natur. Doch auch nicht jeder, der das »Mitleid« und »Mit-Leiden« zum Maßstab seiner Handlungen macht, gelangt zur Willens­ verneinung. Dazu bedarf es einer radikalen asketischen Le­ bensform als Grundlage der kontemplativen Selbsterkenntnis des Willens. Diese Lebensform verwirklicht sich für Schopen­ hauer nur in ganz Wenigen. Es sind die Heiligen und Aske­ ten aller Religionen, in denen er die mitleidende Einheitser­ fahrung auf höchster Stufe verwirklicht sieht. Sie sind es, die durch Abkehr von allen Triebregungen den Willen zum end­ gültigen Stillstand gebracht haben, seien es hinduistische Gu­ rus, christliche Mönche oder islamische Sufis. In ihnen ver­ wirklicht sich das, was Schopenhauer die »Selbstaufhebung des Willens« nennt. Hier erst, in einem Zustand der Seelen­ ruhe, die auch alle Rationalität übersteigt, findet der Mensch auf Dauer »wahres Heil, Erlösung vom Leben und Leiden.« Schopenhauer war sich wohl bewusst, dass von diesen The­ sen ein direkter Weg nicht nur zur Tradition der westlichen­ ­Mystik, sondern auch zur Tradition der östlichen Religionen und Weisheitslehre führt. Erst durch diese Verbindung von westlicher und östlicher Metaphysik erhält Schopenhauers Phi­­losophie sowohl ihren pessimistischen als auch ihren quietis­ tischen und kontemplativen Charakter und wird zu jener Erlö­ sungslehre, die sie besonders für jene Leser attraktiv gemacht hat, die Philosophie als Versuch einer Antwort auf die letzten Sinnfragen verstehen. Schon im jungen Schopenhauer steckte der erste Buddhist der westlichen Philosophie. Ignoriert von

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den Zeitgenossen hat er mit Die Welt als Wille und Vorstellung den West-Östlichen Divan der neueren Philosophie geschrieben und wird bis heute zu dem vielleicht bedeutendsten Vermitt­ ler östlichen und westlichen Denkens. Schopenhauers Werk erschien 1819 im renommierten Ver­ lag Alfred Brockhaus, in dem auch seine erfolgreich schriftstel­ lernde Mutter ihre Bücher verlegen ließ. Die Veröffent­lichung­ ­fiel jedoch mitten in die Blütezeit des Deutschen Idealismus. Dessen Protagonisten, unter ihnen besonders Georg W ­ ilhelm Friedrich Hegel, beherrschten die öffentlichen und akademi­ schen Diskussionen. Hegel hatte einen ganz anderen Weg ein­ geschlagen : In seinen Werken spielte kein irrationaler Wille, sondern die Vernunft die Hauptrolle, die sich in der Geschichte und der Natur offenbart. Der von ihm propagierte vernunft­ gläubige Optimismus beherrschte den Tag, während der ver­ nunftskeptische Pessimismus Schopenhauers verloren in der Ecke stand. Dies sollte sich auch in den folgenden J­ ahrzehnten noch nicht ändern. 1819, als sein Hauptwerk erschienen war, stand Schopenhauer erst am Anfang der Erkenntnis, dass er die Radikalität, mit der er die philosophische Tradition in Fra­ ­ge gestellt hatte, mit der einsamen Existenz des Privatnach­ denkers würde bezahlen müssen.

Der Solitär Schopenhauer blieb unter den großen Philosophen des 19. Jahrhunderts der große Solitär : Er hatte nie einen Lehrstuhl oder beherrschte die akademische Szene wie Kant, Fichte, He­ gel oder Schelling. Er wurde auch nie wie Marx eine Figur im öffentlichen Meinungskampf. Selbst zum stadtbekannten Pro­ vokateur und Außenseiter wie Kierkegaard, dessen Thesen die Kopenhagener Salons skandalisierten, hat er es nicht gebracht. Er wurde schlicht nicht beachtet. Bis zur Mitte des Jahrhun­

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derts spielte er in den philosophischen Diskussionen keine Rolle. Das große Werk, das einen Wendepunkt in der west­lichen Philosophie markierte und das ihn auch in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem der großen Denker seines Jahrhun­ derts hätte machen können, brachte ihm zunächst nichts : keine akademischen Ehrungen und keine öffentliche Aufmerk­ samkeit. Es erschienen etwas mehr als eine Handvoll Rezen­ sionen, die nur von einem kleinen Kreis zur Kenntnis genom­ men wurden, darunter jene verdienstvolle von Jean Paul, einem philosophisch belesenen und besonders mit Jacobi und Fichte vertrauten Autor, der die Welt als Wille und Vorstellung als »ein genial-philosophisches, kühnes, vielseitiges Werk voll Scharf­ sinn und Tiefsinn« pries. Doch dies blieb eine leise Stimme aus dem Dunkeln des Schweigens. Die philosophische Revo­ lution fand ohne Zuschauer und ohne Unterstützer statt. Die Welt kümmerte sich weder um den Welterfahrenen noch um den Philosophen. Schopenhauer selbst äußerte immer wieder deutlich und ex­ plizit den Verdacht, die christlichen Kirchen und die von ihnen ideologisch beeinflussten Fakultäten hätten, im Bunde mit der herrschenden Philosophie Hegels, die Rezeption seines Wer­ kes blockiert. Er habe längst, so Schopenhauer viele Jahre spä­ ter, in der Vorrede zur zweiten Auflage seines Buches, auf den Beifall einer Zeitgenossenschaft verzichtet, »welche, zwanzig Jahre hindurch, einen Hegel, diesen geistigen Kaliban, als den größten der Philosophen ausgeschrien hat«. In der Tat hatte er seine philosophischen Gegner offen herausgefordert. Er hatte die Metaphysik radikal enttheologisiert und damit nicht nur der Hegelschen Philosophie den Fehdehandschuh hingewor­ fen. Doch diese fühlte sich noch nicht einmal zum Protest be­ müßigt. Die philosophische Öffentlichkeit ignorierte ihn. Und auch das Leben selbst sollte über Jahrzehnte keine Äm­ ter und Würden und auch keine dauerhaften sozialen Bindun­

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gen für ihn bereithalten : Bemühungen um eine akademische Stellung scheiterten, er fand keine dauerhaften und ebenbürti­ gen Gesprächspartner in seiner Generation und auch die Hoff­ nung auf eine Partnerschaft erfüllte sich nicht. Schon als Student hatte er sich aus sozialen Verbindun­ gen und Engagements herausgehalten. Seine Studienzeit von 1809 bis 1813 fällt in die napoleonische Besatzung weiter Teile Deutschlands, die immer wieder von politischen Unruhen be­ gleitet war. In seinem ersten Studienort Göttingen, wo er die ersten beiden Jahre seines Studiums verbrachte, war es poli­ tisch unruhig. Es kam immer wieder zu Demonstrationen deutschnationaler Burschenschaften. Göttingen war in ­dieser Zeit Hauptstadt des kurzlebigen, von Napoleon installierten Königreichs Westfalen. Der junge Schopenhauer hielt sich von allen politischen Aktivitäten fern, widmete sich ganz dem Studium seiner Bücher und versteckte eine Pistole unter dem Kopfkissen, um sich vor Überfällen zu schützen. In Berlin, wohin er 1811 nach vier Semestern wechselte, er­ reichte die antifranzösische Erregungswelle 1813 mit der Ein­ berufung des preußischen Landsturms einen Höhepunkt : Man erwartete die geschlagenen napoleonischen Truppen auf ihrer Rückkehr vom Russlandfeldzug. Universitäre Würdenträ­ ger wie Fichte heizten die nationalistische Stimmung an und ließen sich martialisch in Uniform abbilden. Schopenhauer spendete pflichtbewusst Geld für eine militärische Ausrüstung.­ ­Doch den Kampfschauplätzen entzog er sich. Auch in seinen Studien war er seinen Weg alleine gegan­ gen. Einen Lehrer, auf dessen Spuren er gewandelt wäre, gibt es nicht. In Göttingen absolvierte er ein medizinisches und na­ turwissenschaftliches Grundstudium. Gottlob Ernst Schulze blieb mehr ein Anreger als ein prägender Lehrer. Ein solcher, so dachte der Student Schopenhauer, sollte der berühmte Jo­ hann Gottlieb Fichte werden, der gerade an der neuen ­Berliner Universität einen Lehrstuhl übernommen hatte. Wegen ihm

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verließ Schopenhauer im Herbst 1811 Göttingen, wurde aber bitter enttäuscht. Elf Vorlesungssitzungen lang versuchte er geduldig, sich mit Fichtes »Wissenschaftslehre« vertraut zu machen und das Gehörte zu verstehen. Dann platzte ihm der Kragen und er notierte in seine Vorlesungshefte : »In dieser Stunde hat er [Fichte] außer dem hier Aufgeschriebenen Sa­ chen gesagt die mir den Wunsch auspreßten, ihm eine Pis­ tole auf die Brust setzen zu dürfen und dann zu sagen : Sterben mußt du jetzt ohne Gnade ; aber um deiner armen Seele willen, sage ob du dir bey dem Galimathias etwas deutliches gedacht hast oder uns blos zu Narren gehabt ?« Damit war Fichte für Schopenhauer als Lehrer erledigt. Er betrachtete ihn hinfort wie Schelling und Hegel als einen der drei »großen Sophisten«, als einen bezahlten Produzenten von Worthülsen zur Stützung der staatlich sanktionierten Religion. Wenn es je einen Lehrer gegeben hat, den Schopenhauer anerkannt und den er sich gewünscht hat, so war es Goethe. Doch philosophische Meinungsverschiedenheiten, der stolze Eigensinn des jungen Schopenhauer und die bekannte kühle Distanz, die Goethe jenen gegenüber zu zeigen pflegte, die er nicht als gleichwertig betrachtete, führten auch diese Bezie­ hung in die Sackgasse. So zog Schopenhauer 1816 in einem Brief an Goethe schließlich den resignierenden Schluss : »Ich trete die Kelter alleine«. So sollte es auch in anderen Bereichen seines Lebens blei­ ben. Er bekleidete nie ein Amt, war nie gesellschaftlich arri­ viert. Seit 1809, mit seinem einundzwanzigsten Lebensjahr, konnte er sich als finanziell unabhängig betrachten, n ­ achdem­ ­ihm ein Drittel des väterlichen Erbes überschrieben ­worden war. Als er 1819, während seines ersten Italienaufenthaltes von der Insolvenz des Danziger Handelshauses Muhl erfuhr, bei dem seine Mutter und Schwester ihr gesamtes und er ein Teil­ ­seines Vermögens angelegt hatte, ergriff ihn doch noch die Sorge um die Finanzierung seines Lebensunterhaltes. Er konn­

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­te sein Geld retten, bemühte sich aber über mehrere Jahre hin­ weg um eine akademische Anstellung. Von 1819 bis 1821 lebte er in Berlin, wo er sich an der dortigen Universität habilitierte. Seine dort angesetzten Vorlesungen hatten kaum Zuhörer und wurden schließlich aufgegeben. Versuche, in Würzburg, Hei­ delberg oder Gießen einen Lehrstuhl zu bekommen, schei­ terten. Sein Werk war weitgehend unbekannt, er hatte keine Netzwerke und galt als persönlich schwierig. Er musste sich mit dem Gedanken abfinden, als Privatgelehrter zu leben. Es wurde ein Leben ohne Familie, ohne Partner und ohne Freunde. Die Beziehung zur Mutter war bereits 1814 zerbro­ chen. Beide sahen sich danach nie mehr und lediglich w ­ enige Briefe, meist mit geschäftlichem Inhalt, wechselten hin und her. Den Kontakt zu seiner einzigen Schwester Adele hielt Schopenhauer zwar ein Leben lang aufrecht, doch bewahrte er auch zu ihr immer Distanz. Nur wenige Male ließ er es zu, dass sie ihn besuchte. Er wollte ganz seinem Werk leben und empfand alles andere als Störung. »Mein beß’res und eigent­ liches Leben ist mein philosophisches Studium, dem ist alles andere tief untergeordnet, ja, es ist nur eine leichte Zugabe dazu«, hatte er bereits 1814, nach der enttäuschenden Erfah­ rung mit Goethe, an Karl August Böttiger geschrieben. Auch deshalb blieb er unverheiratet. Die Behauptung je­ doch, Schopenhauer sei ein Frauenfeind gewesen, gehört zu den nie versiegenden Schopenhauer-Mythen. Der junge Scho­ penhauer war ein attraktiver Lockenkopf, durchaus dem weib­ lichen Geschlecht zugeneigt. Mehrere Affären sind überliefert und mindestens ein uneheliches, früh verstorbenes Kind. Die große Liebe seines Lebens war die am Berliner Theater ange­ stellte Choristin Caroline Medon, eine junge attraktive Dame mit wechselhafter erotischer Vergangenheit, die er um 1821 in Berlin kennen lernte, als er sich darum bemühte, als Privat­ dozent an der Universität Fuß zu fassen. Die Beziehung dau­ erte, mit Unterbrechungen, fast ein Jahrzehnt. Sie wurde been­

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det, als Schopenhauer sich 1833 endgültig in Frankfurt nieder­ ließ. Sein Angebot, ihm dorthin zu folgen, lehnte sie ab, weil sie sich weigerte, ihr Kind in Berlin zurückzulassen. Schopen­ hauer hatte dies zur Bedingung gemacht, da er nicht der Vater des Kindes war. Beide behielten sich ein Leben lang im Auge und Schopenhauer bedachte Caroline Medon noch in seinem Testament. Schopenhauer hat auch keine dauerhaften Freundschaften in sein Leben mitgenommen. Mit ehemaligen und später so erfolgreichen Göttinger Studienkollegen wie Christian Karl Josias von Bunsen und William Backhouse Astor tauschte er gelegentlich Briefe. Lediglich der Kontakt zu seinem frühen französischen Jugendfreund Anthime de Blésimaires, mit dem er in Le Havre und Hamburg viel gemeinsame Zeit verbracht hatte, hielt sich auch in die zweite Lebenshälfte hinein. Doch als die beiden sich im Alter in Frankfurt trafen, erlebten sie gegenseitige Entfremdung. Um 1831 herum notiert der erst knapp über 40‑jährige Scho­ penhauer in eines seiner Manuskriptbücher : »Mein ganzes Le­ ben hindurch habe ich mich schrecklich einsam gefühlt und stets aus tiefster Brust geseufzt : ›Jetzt gebt mir einen Men­ schen !‹ Vergebens. Ich bin einsam geblieben. Aber ich kann aufrichtig sagen, es hat nicht an mir gelegen«. Zu einem Zeit­ punkt, wo er noch 30 Lebensjahre vor sich hatte, war ihm be­ wusst, dass die solitäre Existenz sein unvermeidbares Schick­ sal sein würde. Nach dem Scheitern seiner akademischen Karrierepläne, vielen Reisen und Wohnortwechseln entschloss sich Arthur Schopenhauer im Jahr 1833, sich endgültig in Frankfurt am Main niederzulassen. Hier wohnte er bis zu seinem Tod im Jahr 1860 27  Jahre lang, mit seiner Bibliothek, seinem Pudel und ­ ­einer Haushälterin direkt am Mainkai mit dem Blick auf Sach­ senhausen. Bis in die 1850er Jahre waren Besucher selten und Schopenhauer stellte auch, von wenigen Ausflügen in die nä­

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here Umgebung abgesehen, das Reisen ein. »Je vis donc en so­ litaire«, schrieb er 1836 seinem alten Jugendfreund Anthime de Blésimaire. Sein stilles, von der Öffentlichkeit unbeachte­ tes Leben widmete sich ganz der Ausarbeitung und Ergän­ zung seines philosophischen Werks. Neben den veröffentlich­ ten Werken entstanden zahlreiche Notizbücher mit Titeln wie »Foliant«, »Adversaria«, »Cogitata«, »Pandectae«, »Spicilegia« oder »Senilia«, die seinen Nachlass füllen. Sein Tagesablauf war, wie der des von ihm so verehrten Kant, streng geregelt. Der Vormittag war für das Schreiben re­ serviert, danach entspannte sich der Philosoph beim Flöten­ spiel. Das Mittagsmahl nahm er im Englischen Hof am Ross­ markt ein, wo er sich gerne auf eine ungezwungene Tischkon­ versation einließ und wo er auch Gäste empfing. Dies konnte sich bis in den Nachmittag hinziehen. Danach widmete er sich einem ausgiebigen Zeitungsstudium. Es folgte, in schnellem Schritt, der obligatorische Spaziergang mit Hund. Der Abend war der Lektüre oder dem Theater- bzw. Opernbesuch zuge­ dacht. Die öffentliche Wahrnehmung des Solitärs Schopenhauer hat sich immer wieder auf das Klischee des kauzigen, weltab­ gewandten Pessimisten gestützt. Doch die Erkenntnis, dass Leben untrennbar mit Leiden verbunden ist, hat Schopenhauer nicht zur Weltflucht getrieben. Lebenspraktisch führte er eine durchaus moderne, urbane Single-Existenz, frei von familiä­ ren oder regionalen Bindungen. Auch die zu alten Freunden lockerten sich im Alter zunehmend. Aus der Erfahrung des Al­ leinlebens hat er später in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit eine Maxime der Klugheit gemacht. Es sei ratsam, »[j]edem, es sei Mann oder Weib, von Zeit zu Zeit fühlbar zu machen, daß man seiner sehr wohl entrathen könne.« Ein Lebensbegleiter jedoch, dem er nie entraten konnte und wollte, war die Welt des Geistes. Schopenhauer war kein akademischer Fachgelehrter wie Kant oder Hegel, sondern

»Buddhaist« und Mystiker In den letzten beiden Sätzen seiner Welt als Wille und Vorstellung setzt Schopenhauer einen Paukenschlag, der seine singuläre Stellung in der westlichen Philosophie in grelles Licht stellt. Alles Erkennen und Handeln hat letztlich ein einziges Ziel : das Nichts.

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ein freier Weltbeobachter, für den die Kultur Teil der alltäg­ lichen Lebenspraxis blieb. Er las Literatur in mehreren Spra­ chen und informierte sich regelmäßig über das Weltgesche­ hen. Neben dem Englischen und Französischen hatte er sich gründliche Kenntnisse des Italienischen und Spanischen an­ geeignet, sodass er auch in diesen Sprachen Werke im Original lesen konnte. Die Beherrschung des Griechischen und Lateini­ schen war im 19. Jahrhundert für einen Gelehrten ohnehin ob­ ligatorisch und Schopenhauer konnte sich in beiden Sprachen schriftlich und mündlich perfekt ausdrücken. Mit großem Interesse las Schopenhauer auch sein Leben lang religionsgeschichtliche Studien, vor allem im Bereich der christlichen Mystik und der östlichen Weisheitslehren, in denen er viel Gemeinsames mit seiner eigenen Philosophie entdeckte. 1856 ließ er sich von dem Preußischen Obergeheim­ rat Eduard Crüger eine vergoldete tibetanische Buddha-Statue aus Paris mitbringen, die in seiner Wohnung einen Ehrenplatz bekam. Zuweilen stellte er sie auch gut sichtbar aufs Fenster­ brett, zum Ärgernis des örtlichen Pastors Kalb, der, mit An­ spielung auf den in der Stadt lebenden Philosophen, gegen die Einführung des Buddhismus in Frankfurt wetterte. Ganz Un­ recht hatte der Pfarrer nicht. Den Atheisten Schopenhauer und den Religionsstifter Gautama Buddha verband in der Tat eine besondere spirituelle Nähe.

Wir bekennen es vielmehr frei : was nach gänzlicher Auf­ hebung des Willens übrig bleibt, ist für alle Die, welche noch des Willens voll sind, allerdings Nichts. Aber auch umgekehrt ist Denen, in welchen der Wille sich g ­ ewendet und verneint hat, diese unsere so sehr reale Welt mit all ihren Sonnen und Milchstraßen – Nichts. [W I , S. 487]

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Mit diesem »Nichts« betreten wir jenen Bereich der Schopen­ hauerschen Philosophie, der die Rationalität übersteigt, in dem es keine Subjekt-Objekt Trennung und auch keinen Raum, keine Zeit und keine Kausalität gibt, jener Bereich, in dem das principium individuationis aufgehoben ist und der einmal dem »besseren Bewusstsein« vorbehalten war. Mit dem Begriff des »Nichts« stellt Schopenhauer aber auch eine nicht zu übersehende Verbindung zu dem Konzept des buddhistischen Nirwana her. 1819, im Jahr des Erscheinens von Die Welt als Wille und Vorstellung, war diese Verbindung je­ doch noch nicht sehr gefestigt. Schopenhauers Kenntnisse des Buddhismus hatten zu diesem Zeitpunkt noch eher fragmen­ tarischen Charakter, was auch mit der generellen Unkenntnis zu tun hatte, die in Europa noch bezüglich der asiatischen Re­ ligionen herrschte. Es war allerdings eine Spur, die er sein ganzes Leben lang verfolgte. In der Tat gibt es keinen westlichen Philosophen, der dem Buddhismus so nahe steht wie Schopenhauer. Dazu kam die westliche Tradition der Kontemplation und Transrationali­ tät, insbesondere die christliche Mystik, über Meister Eckhardt bis zu Madame de Guyon (1648–1717), die Schopenhauer nicht nur mit größter Aufmerksamkeit, sondern auch mit Zustim­ mung zur Kenntnis nahm. Denn das Ziel christlicher Mystik ist jener »grundlose Grund« und jene »einfältige Stille« (­Meister Eckhardt), denen die Janusköpfigkeit des Schopenhauerschen Nichts entspricht : auf der Ebene unserer normalen Erkenntnis komplette Leere und Eigenschaftslosigkeit, auf der Ebene der

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willenlosen Kontemplation jedoch höchste Fülle und Wirk­ lichkeit. Schopenhauer war bekennender Atheist, doch seine Hal­ tung zur Religion blieb eng und komplex. Einerseits ist seine Philosophie der Versuch einer empirisch und rational orien­ tierten Weltbemächtigung. Es geht ihr um Wissen, nicht um Offenbarungs- oder Glaubenswahrheiten. Sie kennt auch kei­ ­ne Transzendenz. Insbesondere die von den monotheistischen Religionen, dem Judentum, dem Islam und dem Christentum, vertretene Idee eines persönlichen Gottes und Weltschöpfers lehnte Schopenhauer vehement ab. Die These einer »creatio ex nihilo«, einer »Schöpfung aus dem Nichts«, hielt er geradezu für absurd. Besonders die noch von Leibniz vertretene These von der Welt als der »besten aller möglichen Welten« blieb für ihn lebenslang Zielscheibe seines Spotts und ließ ihn Voltaires, gegen Leibniz gerichtete Satire Candide über den grünen Klee loben. Schopenhauer hat die Religionskritik der Aufklärung radikalisiert und vollendet, indem er nicht nur Gott, sondern jede rationale Weltbeschönigung vom Tisch gefegt hat. Dennoch hat Schopenhauers Lehre eine ausgesprochen spi­ rituelle Seite, die ihm bis heute Leser beschert hat, die ansons­ ten der Philosophie eher distanziert gegenüberstehen. Scho­ penhauer hat diese Seite seines Denkens auch nie geleugnet. Im Alter, als ihm Ruhm und Anhänger zufielen, wehrte er sich nicht dagegen, dass man ihn als eine Art säkularen Religions­ stifter wahrnahm. Die besonders Getreuen unter den Scho­ penhauerianern zeichnete er als »Apostel« und »Evangelisten« aus. Da war eine Menge Ironie, aber auch ein ganzer Schuss Selbstdarstellung im Spiel. Schopenhauer hatte mit seiner Philosophie neben dem sys­ tematischen Anspruch auch den eines klassischen Weisheits­ lehrers verbunden, der in das Leben und Selbstverständnis der Menschen hineinwirken wollte. Seine Philosophie hat, wie die Religion, den Anspruch einer Erlösungslehre und einer umfas­

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senden Sinnerklärung der Welt. Schopenhauer belässt es nicht bei einer Bestandsaufnahme unserer Wirklichkeit. Anders als die rationalistische und empiristische Metaphysik mündet sein Denken, wie Ludger Lütkehaus formuliert hat, in eine »nega­ tive Ontologie« mit mystischen Zügen, die auf die Selbstauf­ hebung der Rationalität hinausläuft. Die Erkenntnis der Welt ist deshalb für Schopenhauer auch unmittelbar mit dem Im­ puls verbunden, in die größtmögliche Distanz zu ihr zu treten. Schopenhauer hat die Bedeutung religiöser Welterklärun­ gen durchaus anerkannt. Nicht nur die Philosophie, sondern auch die Religion war für ihn Ausdruck des metaphysischen Grundbedürfnisses, das den Menschen als animal metaphysicum auszeichnet. Doch hielt er ihren Erklärungswert für begrenzt. Ist für Marx Religion »Opium des Volkes«, ist sie für Schopen­ hauer »Metaphysik des Volkes«. Im Gegensatz zur Philosophie stützt sie sich auf Mythen, Gleichnisse und Dogmen, die in so­ genannten heiligen Schriften niedergelegt sind. Religion be­ dient wie die Philosophie den metaphysischen Hunger, aber es bleibt doch das Fertiggericht für die metaphysisch Anspruchs­ losen. Unter allen Religionen nimmt der Buddhismus für Scho­ penhauer aber eine Sonderstellung ein. Er ist eine atheistische Religion, eine Religion ohne Gott. Das Prädikat ›göttlich‹ wird hier nicht auf transzendente Wesen, sondern auf Menschen angewandt, die einen besonderen Erkenntnisstand erlangt haben. Im Laufe seiner Studien sah er im Buddhismus zuneh­ mend das religiöse Pendant zu seiner Lehre, dass die Welt eine erlösungsbedürftige Welt des Leidens ist. Die Beschäftigung mit dem Buddhismus begann früh und sollte sein ganzes Leben lang fortdauern. Interesse am Thema hatte Schopenhauer schon während seines Studiums gezeigt, wo er in Göttingen die Vorlesungen des Historikers Arnold Heerens hörte, der sich auch mit der Verbreitung des Buddhis­ mus in Asien beschäftigte. Bereits kurz vor seinem Umzug nach

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Dresden im Jahr 1814 hatte er dann über den Herder-Schüler Gottlob Friedrich Majer das Oupnek’hat, eine lateinische Über­ setzung der Upanischaden des Franzosen Anquetil-Duperron kennengelernt, das zeitlebens für ihn ein Grund- und Andachts­­buch blieb. Mit den heute bekannten Upanischaden hat es jedoch lediglich eine Verwandtschaftsbeziehung. Es handelt sich um die Übersetzung einer persischen Vorlage, die selbst wiederum als eine vielfach modifizierte Übersetzung aus dem Sanskrit entstanden war. In ihr mischten sich hinduistische, buddhisti­ sche und islamisch-sufistische Elemente. Zentrale Begriffe die­ ses Textes identifizierte Schopenhauer mit den Grundkonzep­ ten seiner Willensmetaphysik : »Brahm« als universelle, alles durchströmende Kraft identifizierte er mit dem Willen, und »Maya«, die Welt der Mannigfaltigkeit der Dinge, der Täuschun­ gen und Illusionen setzte er mit der Welt der Vorstellungen gleich. Er sah sich gestützt durch die These, dass die Kette des Lebens eine Kette der Schuldverstrickungen ist, der man sich nur durch Lebens- und Weltverneinung entwinden kann. Lüfte ich den Schleier der Maya, erkenne ich die Vielfalt als Schein und die Einheit aller Wesen als wahre Wirklichkeit. Genau diese Erkenntnis drückt sich im »Tat tvam asi« (»Das bist du«) aus : In jedem anderen finde ich in Wahrheit mich selbst. 1816 war Schopenhauer bei einem Studium der Zeitschrift Asiatic Researches auf den buddhistischen Begriff »Nieban« ge­ stoßen und konnte hier schon große Ähnlichkeit zu seinem Konzept der Willensverneinung vermuten. Für den frühen Schopenhauer war das indische Denken noch eine Einheit. Ab 1819 entdeckte er aber zunehmend den spezifischen Charakter des Buddhismus. Er lernte buddhistische Texte aus der chine­ sischen ZEN -Tradition kennen, die im Pariser Journal Asiatique 1825 erschienen waren, und beschäftigte sich intensiv mit der Buddha-Biographie. Dies führte ihn 1832 zu der berühmten Aussage, in der er anlässlich seiner Begegnung mit den Galee­ rensträflingen im französischen Toulon seine innere Erschüt­

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terung mit der Bekehrung des Buddha vergleicht : »In meinem 17. Jahre […] wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte.« Spätestens ab den 1830er Jahren sah Schopenhauer in Bud­ dha das Rollenmodell des Heiligen, dessen inneres Wesen er als »Selbstverleugnung, Ertödtung des Eigenwillens, Askesis, ausgesprochen als Verneinung des Willens zum Leben, eintre­ tend, nachdem ihm die vollendete Erkenntniß seines eigenen Wesens zum Quietiv alles Wollens geworden.« In dieser Zeit lernte er auch die Schriften von Isaac ­Jakob Schmidt (1779–1847) kennen, einem deutschen Buddhismus­ forscher und Mitglied der Wissenschaftlichen Akademie von St. Petersburg, die ihn zusätzlich mit dem tibetanischen Bud­ dhismus vertraut machten. Schmidt wurde im Laufe der Jahre zum wichtigsten Gewährsmann Schopenhauers für die These, dass das buddhistische Sansara mit der vom Willen beherrsch­ ten Welt des Leidens und das buddhistisches Nirwana mit dem kontemplativen Zustand der Willensverneinung iden­ tisch ist. 1836, 17  Jahre nach Erscheinen seines Hauptwerks, veröf­ fentlichte Schopenhauer nach langem Schweigen die Schrift Über den Willen der Natur. Hier präsentierte er alle wissenschaft­ lichen Erkenntnisse, die er im Laufe der Jahre zur Stützung seiner Philosophie gesammelt hatte, von der Anatomie bis zum Magnetismus und zur Magie. Dazu gehörten auch seine Studien zum Buddhismus. Sie flossen in jenes Kapitel in Der Wille in der Natur ein, das er »Sinologie« nannte und wo er drei grundlegende Religionen Chinas unterschied : den Taoismus, den Konfuzianismus und den Buddhismus. Letzteren bezeich­ nete er in der zweiten Auflage der Schrift als die »Religion, wel­ che, sowohl wegen ihrer inneren Vortrefflichkeit und Wahr­ heit, als wegen der überwiegenden Zahl ihrer Bekenner, als die vornehmste auf Erden zu betrachten ist.«

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Mit Buddha teilte er die enge Verknüpfung von metaphy­ sischer und ethischer Lehre, die Einsicht, dass eine »in Sün­ den und Leiden versunkene Welt« den moralischen Impuls zur Willensverneinung herausfordert. Dass die Parallelen zum Buddhismus deshalb auch in seiner Ethik besonders sichtbar werden, ist von daher verständlich. Schopenhauers Ethik ist wie die des Buddhismus eine Ethik des Mit-Leidens und der Weltdistanz. Schopenhauer hat sich immer wieder mit religiös begründe­ ten Konzepten wie dem Sündenfall oder der Seelenwanderung auseinandergesetzt. Er glaubte, hier auf Mythen mit einem wahren Kern zu stoßen, dessen rationale Bedeutung heraus­ zuarbeiten er als eine Aufgabe seiner Philosophie ansah. An­ dererseits hat er zentrale Konzepte der Ethik, wie Freiheit oder Charakter, in einer Weise bestimmt, die eine Nähe zu einem religiösen oder zumindest mystischen Verständnis aufweisen. Die Nähe zum Buddhismus ist dabei wiederum besonders ­ ­eng. 1841 veröffentlichte Schopenhauer Die beiden Grundprobleme der Ethik, ein Buch, in dem er zwei Schriften zusammenfasste, die er jeweils an unterschiedlichen Orten als Preisschriften ein­ gereicht hatte : Über die Freiheit des Willens war 1839 von der Kö­ niglich Norwegischen Societät der Wissenschaften in Trond­ heim, zum Stolz und zur Freude des Philosophen, mit dem ers­ ten Preis ausgezeichnet worden, während Über die Grundlage der Moral 1840 von der Königlich Dänischen Societät der Wissen­ schaften, zum lebenslangen Zorn und Ärger Schopenhauers, abgelehnt worden war. In der ersten der beiden Schriften steht die Willensfreiheit, eines der umstrittensten Konzepte der philosophischen Ethik, im Mittelpunkt. Sind wir als Menschen lückenlos dem Gesetz der Kausalität unterworfen oder haben wir die Freiheit, die Kausalkette zu durchbrechen und die Richtung unseres Wil­ lens selbst zu bestimmen ? Für diejenigen, die die Willensfrei­

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heit bejahen, verbindet sich damit die Möglichkeit, dem Han­ delnden moralische Verantwortlichkeit und Schuldfähigkeit zuzumessen. Schopenhauer gehört in das Lager der Deterministen, der­ jenigen also, die an der allgemeinen Gültigkeit des Kausal­ gesetzes festhalten. Für ihn sind nicht nur alle Vorgänge der Außenwelt diesem Gesetz unterworfen, sondern auch das psy­ chische Phänomen des Willens, das für ihn unmittelbar mit Gehirnprozessen verbunden und damit ebenfalls Teil der äuße­­ren, d. h. physischen Welt ist : »Denn der Mensch ist«, so Scho­ penhauer, »wie alle Gegenstände, eine Erscheinung in Zeit und Raum, und da das Gesetz der Kausalität für diese alle a priori und folglich ausnahmslos gilt, muß auch er ihm unter­ worfen seyn.« Aus diesem Determinismus folgt für Schopenhauer auch, dass der Charakter, die grundlegende Handlungsdisposition des Menschen, von Geburt an festgelegt ist. Das, was er empi­ rischen Charakter nennt, also der Charakter, der uns in der Er­ fahrung zugänglich wird, gehört zu unserer genetischen Aus­ stattung. Dieser Charakter ist individuell, aber unveränderlich. Unser Wille ist bereits in einer bestimmten Weise geformt, wenn wir geboren werden. Er offenbart sich uns in der Erfah­ rung, die wir im Laufe unseres Lebens mit uns selber machen. Der Mensch verändert sich für Schopenhauer charakterlich nie. Das, was sich ändert, ist die Erkenntnis, die wir über unseren Charakter erwerben. In dem Augenblick, indem wir unseren empirischen Charakter erkannt haben, wird er zum »erwor­ benen Charakter«. In ihm erkennen wir das, was wir immer schon waren. Die Gegebenheit und Unveränderlichkeit des empirischen Charakters ist für Schopenhauer auch der rationale Kern reli­ giöser Konzepte wie das des Fatums oder Schicksals im Islam oder der Gnade und Vorhersehung im Christentum. Dennoch gesteht Schopenhauer zu, dass das Bewusst­

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sein der Verantwortlichkeit, das unsere Handlungen begleitet, nicht trügerisch ist und einen tieferen Grund hat. Diese Ver­ antwortlichkeit bezieht sich aber nicht eigentlich auf die kon­ krete Tat, sondern auf unseren Charakter selbst. Wir sind uns bewusst, dass wir anders hätten handeln können, wenn wir einen anderen Charakter gehabt hätten. Dieses Bewusstsein der Verantwortlichkeit für den eigenen Charakter deutet nach Schopenhauer auf eine Freiheit, die jen­ seits unserer empirischen Handlungsfähigkeit liegt. Er nennt sie »transzendentale Freiheit«. Mit ihr betritt er nicht nur den Bereich der Metaphysik, sondern auch einen mystischen Raum jenseits unserer Erfahrungswelt. In einem Akt der transzen­ dentalen Freiheit wählen wir vorgeburtlich unseren Charak­ ter, den Schopenhauer »intelligiblen Charakter« nennt, weil er nur jenseits der Erscheinungswelt, jenseits der Welt von Raum, Zeit und Kausalität existiert. »Die Freiheit«, so Schopenhauer, »ist also durch meine Darstellung nicht aufgehoben, sondern bloß hinausgerückt, nämlich aus dem Gebiete der einzelnen Handlungen, wo sie erweislich nicht anzutreffen ist, hinauf in eine höhere, aber unserer Erkenntniß nicht so leicht zugäng­ liche Region : d. h. sie ist transscendental.« In dieser »höhe­ ren Region«, dem Bereich des »Ding an sich«, wie Schopen­ hauer in Anlehnung an Kant formuliert, ist der Wille frei. Wäh­ rend wir in unserer Handlungsdisposition determiniert sind, wählen wir unser Wesen, die Grundlage dieser Disposition, in einem Akt der Freiheit. Tritt der intelligible Charakter aller­ dings »in Erscheinung«, betritt er den Bereich der Notwendig­ keit. Als Teil der Welt der Vorstellung wird er zum empirischen Charakter und unterliegt dem Gesetz der Kausalität. Wie dieser Akt der Charakterwahl vollzogen wird und wer sein Urheber ist, entzieht sich allerdings einer rationalen Er­ örterung. Denn das ›Wir‹ oder ›Ich‹, das wir kennen können, ist immer das empirische ›Wir‹ oder ›Ich‹. Außerhalb dessen ist es, auch nach den Voraussetzungen der Schopenhauerschen Phi­

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losophie, unmöglich, von handelnden oder wählenden ›Sub­ jekten‹ zu sprechen. Hier verlässt Schopenhauer also den Be­ reich der rationalen Argumentation und wagt sich in den Be­ reich der mystischen Spekulation. Allerdings kann sich Schopenhauer mit seinen Thesen durchaus auf historische Vorläufer beziehen : Mit seiner Tren­ nung von empirischem und intelligiblem Charakter nimmt er begrifflich Bezug auf Kant und mit seiner transzendenta­ len Charakterwahl knüpft er an einen Mythos an, den Platon an das Ende seines Hauptwerks Politeia gesetzt hatte. Danach werden die vom Körper getrennten und unabhängigen See­ len der Verstorbenen einer moralischen Reinigung unterzo­ gen, um sich dann eine neue Verkörperung und eine neue mo­ ralische Existenzform zu wählen. Aber auch der platonische Mythos, den er in seiner Schrift Über die Grundlage der Moral ex­ plizit erwähnt, ist für Schopenhauer nichts anderes als eine griechisch gefilterte Variation der brahmanischen und bud­ dhistischen Seelenwanderungslehren. Es ist die buddhistische Lehre vom »Karma«, von der selbst erworbenen und immer wiedergeborenen moralischen Prä­ gung, die Schopenhauer besonders nahe ist. Denn auch er glaubt daran, dass die moralische Prägung, die durch die Cha­ rakterwahl in der intelligiblen Welt vollzogen wurde, vererbt wird. Damit vertritt auch er eine Art Wiedergeburts- und See­ lenwanderungslehre. Und in der Tat hielt Schopenhauer das Konzept der Seelenwanderung, der Metempsychose, für eines der tiefsten religiösen Mythen. Allerdings zog er es vor, statt Metempsychose den Begriff »Palingenesie« zu benutzen, da es bei ihm nicht um die Wiedergeburt der ganzen »Psyche«, der Seele oder des Intellekts, also des geistigen Teils des Men­ schen geht, sondern um die Wiedergeburt der moralischen Prägung durch den Willen. Dies ist auch mit einer neuen Deutung der religiösen Lehre vom Sündenfall verbunden. Die alttestamentarische Lehre, wo­-

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­ ach der Mensch aus dem Nichts erschaffen und schuldbela­ n den geboren wird, hält Schopenhauer für absurd. Es ist für ihn die monotheistisch verunreinigte Erzählung eines Mythos, dessen Wahrheit sich dann erhält, wenn man von einer mora­ lischen Charakterwahl in einer intelligiblen Welt ausgeht. Für Schopenhauer gilt : Ich selbst habe die Schuld verursacht, mit der ich geboren werde. Diese Sicht findet er ebenfalls in der in­ dischen Philosophie wieder. Ein richtiges Verständnis des Sün­ denfallmythos erschließe sich »unter der Brahmanischen und Buddhistischen Voraussetzung der Metempsychosis, nach wel­ cher was Einer, bei der Geburt, also aus einer andern Welt und ei­nem früheren Leben mitbringt und vor den Andern voraus­ hat, nicht ein fremdes Gnadengeschenk, sondern die Früchte seiner eigenen, in jener andern Welt vollbrachten Taten sind.« Schopenhauers Ethik weist deshalb zahlreiche religiöse Konnotationen auf und ist auf vielfältige Weise metaphysisch unterfüttert. Dies gilt auch für die eigentliche Grundlage sei­ ner Morallehre, die Tugend des Mitleids, die er auch als »mora­ lisches Urphänomen« bezeichnet. Anders als Kant kennt Scho­ penhauer keine normative Ethik und keine Lehre von Rechten und Pflichten. Seine Ethik ist zunächst empirisch ausgerichtet und will den Antrieb unseres moralischen Handelns offenle­ gen. Das Charakteristikum moralischen Handelns ist für Scho­ penhauer Uneigennützigkeit. Das allgemein und als selbstver­ ständlich anerkannte Moralprinzip lautet für ihn : »Verletze niemanden ; vielmehr hilf allen, soweit du kannst«. Triebfeder des moralischen Handelns ist das Mitleid, unmittelbar moti­ viert durch das Leiden der Anderen. Doch Schopenhauers Mit­ leid ist mehr als das mitfühlende Bedauern mit der Lage des Andern. Sie ist eine Form der Identifikation, die metaphysi­ sche Wurzeln hat. Ich versetze mich als Mit-Leidender in den Andern und durchbreche damit die Scheidewand, die ein We­ sen vom anderen trennt. Im Mitleid ist das principium individua­ tionis aufgehoben. Im Mitleid erfahre ich, dass die Vielheit der

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Individuen nur Schein ist und stoße dabei, wie im Akt der Wil­ lensverneinung, in den Bereich der mystischen Einheitserfah­ rung vor. Schopenhauer beruft sich hier auf eine lange mysti­ sche Tradition, die von den Upanischaden über die Neuplato­ niker bis zu Jakob Böhme und Spinoza reicht. Dass er auch hier mit dem Buddhismus übereinstimmte, war für Schopenhauer inzwischen selbstverständlich. In den 1840er Jahren konnte er sich schon mit voller Überzeugung als »Buddhaist« bezeichnen. In dem 1844 erschienenen zweiten Band seines Hauptwerks, der ergänzende Essays zu allen vier Teilen des ersten Bandes enthält, konnte für ihn schon kein Zweifel mehr daran bestehen, dass es der Buddhismus war, der seine Philosophie vornehmlich bestätigte : »Wollte ich die Re­ sultate meiner Philosophie zum Maaßstabe der Wahrheit neh­ men, so müßte ich dem Buddhaismus den Vorzug vor den an­ dern zugestehn. Jeden Falls muß es mich freuen, meine Lehre in so großer Uebereinstimmung mit einer Religion zu sehen, welche die Majorität auf Erden für sich hat.« Und kurz vor Ende seines Lebens trug er, als Kommentar zu jenem Begriff des Nichts, in sein Handexemplar die Bemer­ kung ein : »Dieses ist eben auch das Pradschna-Paramita der Buddhaisten, das ›Jenseits aller Erkenntnis‹, d. h. der Punkt, wo Subjekt und Objekt nicht mehr sind.« Da hatte er gerade die Lektüre eines Buches abgeschlossen, das ihm endgültige Ge­ wissheit brachte : die 1840 erschiene Schrift Über das Majâhâna und Pradschnâ-Pâramita der Bauddhen von Isaac Jakob Schmidt. Schmidt hatte das »prajña paramita«, die »höchste Weisheit«, mit einem Zustand identifiziert, der jenseits der normalen Er­ kenntnis liegt und in dem es »keine Beziehung zu einem Ob­ ject, folglich auch kein Ich, kein Subject« gibt. Dies, so war sich Schopenhauer sicher, war nicht nur jener Zustand, den Bud­ dha, der »Vollendete« erreicht hatte, es war auch genau jener Zustand der Willensverneinung, die seine eigene Philosophie als moralisches Ziel formuliert hatte. Anders als sein 30 Jahre

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jüngerer Zeitgenosse Karl Marx kennt Schopenhauer keine Be­ freiung und Emanzipation des Menschen durch grundlegende gesellschaftliche und ökonomische Veränderungen. An die Stelle der gesellschaftlichen Befreiung tritt bei ihm die indivi­ duelle Erlösung. Die Menschheit bleibt auf ewig aufs Rad des Ixion gespannt : Nur der Einzelne kann sich davon lösen. Was geschieht aber mit der Mehrheit der ›Lebensbejaher‹, mit denjenigen, die nicht durch Auslöschung des Willens die endgültige Form der Weltüberwindung erreicht haben ? Gibt es für sie ein Leben nach dem Tod ? Gerade der Glaube an eine Transzendenz, an eine jenseitige Existenz nach dem Tod hat die Anziehungskraft von Religionen immer befördert. Auch dies war eine Frage, der Schopenhauer nicht auswich und die er im Rahmen seiner Willensmetaphysik beantwortet. In seinem Spätwerk Parerga und Paralipomena geht er in meh­ reren Essays, u. a. in »Zur Lehre von der Unzerstörbarkeit unse­ res Wesens durch den Tod«, auf dieses Thema ein. Das Indivi­ duum gehört für ihn jener Welt an, die die Hindus »Maya« und die Buddhisten »Sansara« nennen : zur Welt der Leiden, der Täuschung und Illusionen. Es ist für ihn Teil der Vorstellungs­ welt, also jener Scheinwelt, die uns aufgrund der Erkenntnis­ bedingungen von Raum, Zeit und Kausalität, alleine zugäng­ lich ist. Deshalb setzt der Tod zugleich mit der Vorstellungs­ welt auch jeder individuellen Existenz und jedem individuellen Bewusstsein ein Ende. Die im Judentum, in der griechischen Antike oder im Christentum vertretenen Vorstellungen einer »Auferstehung des Fleisches« oder der Weiterexistenz einer in­ dividuellen Seele lehnt Schopenhauer gänzlich ab. Auch hier steht er den östlichen Weisheitslehren näher als der europäi­ schen Tradition. Beendet wird für ihn aber lediglich die Form, in der unser eigentliches Wesen in der Vorstellungswelt erscheint. Doch dies bedeutet nicht, dass wir völlig verschwinden und uns in Nichts auflösen. Da unser Wesen nicht in der individuel­

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len Existenz liegt, wird es durch den Tod auch nicht berührt : »Zu ewiger Fortdauer ist kein Individuum geeignet : es geht im Tode unter. Wir jedoch verlieren dabei nichts. Denn dem indi­ viduellen Daseyn liegt ein ganz anderes, dessen Aueßerung es ist, unter. Dieses kennt keine Zeit, also auch weder Fortdauer noch Untergang.« Mit dem Tod kehren wir dorthin zurück, wo wir hergekom­ men waren : in einen Bereich, in dem Raum, Zeit und Kausa­ lität keine Geltung haben. Wir kehren aber nicht als Individuen zurück, sondern als Teil jenes »Ding an sich«, das i­ mmer schon war und nie vergeht. Hier, in dieser objektiven Welt ohne Raum, Zeit und Kausalität, liegt unser eigentliches Wesen. Wir werden in jenen Urzustand zurückversetzt, in dem Subjekt und ­ ­Objekt, Erkennender und Erkanntes, zu einer Einheit ver­ schmelzen. Das Bewusstsein einer individuellen Existenz gibt es hier nicht mehr. Dieser Urzustand ist eine Art Wesenspool, aus dem heraus immer wieder neue Individuen entstehen. ­Damit verknüpft Schopenhauer seine Lehre von der Unzerstör­ barkeit unseres Wesens mit seiner Vorstellung einer Wieder­ geburt : »Der Sterbende geht unter. Aber ein Keim bleibt üb­ rig, aus welchem ein neues Wesen hervorgeht, welches jetzt ins Daseyn tritt, ohne zu wissen, woher es kommt und wes­ halb es gerade ein solches ist, wie es ist. Dies ist das Myste­ rium der Palangenesie«. Solange wir nicht zur endgültigen Willensverneinung ge­ langt sind, steht uns  – oder genauer gesagt : unserem mora­ lischen Wesenskern – nach Schopenhauer eine immer wieder neue Wiedergeburt bevor. Hier bleiben viele Fragen offen, nicht zuletzt die nach dem Verhältnis des Willens als Ding an sich und Grund der Wirk­ lichkeit zu jenem erhabenen Zustand der Willen- und Erkennt­ nislosigkeit, der ebenfalls dem Ding an sich zugehört und in den man nach dem Tod eintritt. Es gehört zu den faszinierenden Eigenschaften der Scho­

Aufklärer und (Beinahe-)Materialist Schopenhauer wuchs in der Hoch-Zeit der Romantik auf und Vieles scheint ihn auf den ersten Blick mit der Weltsicht der Ro­ mantik zu verbinden : so seine Hochschätzung der Musik als höchste aller Künste, seine Hinwendung zu östlichen Weis­ heitslehren und seine Nähe zur Mystik. Vor allem aber : Schopenhauer hat wie kein Philosoph vor ihm auf die irrationalen Nachtseiten der Realität hingewiesen und dem aufklärerischen Glauben an die Kraft der Vernunft die Hörner gestutzt. Selten ließ der Pessimist – auch mit Seitenblick auf die Hegelsche Geschichtsphilosophie – die Gelegenheit aus, gegen die weit verbreitete zeitgenössische Fortschrittsgläubig­ keit zu polemisieren, gegen jene »beliebten Theorien unserer so nüchtern lächelnden Optimisten vom ›stätigen Fortschritt der Menschheit zum Bessern‹, wozu sie die deplorable Geschichte des bipedischen Geschlechts verdrehn möchten.« Der Mensch blieb ihm immer das triebgesteuerte Wesen und die Geschichte die Bühne, auf der sich das Schauspiel der menschlichen Un­ vernunft auf immer neue Weise wiederholt. Über die Annahme,

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penhauerschen Philosophie, dass sie sowohl das Bedürfnis nach rationaler Problemlösung als auch das Bedürfnis nach Sinnfindung und Lebensorientierung bedient. Zum einen ge­ hört Schopenhauer in die Tradition der Mystik : Mit dem Ziel, das menschliche Leben in einen kosmischen Zusammenhang zu bringen – den »Sinn« des Lebens zu erklären – hat er sich mit seiner Metaphysik weit in jenen Bereich vorgewagt, in dem Vorstellung und Sprache versagen. Andererseits war er im­ mer, durch die Klarheit seiner Sprache und den kritisch-analy­ tischen Anspruch seiner Philosophie, gerade jener Tradition verpflichtet, die zur Mystik die größtmögliche Distanz zu ha­ ben scheint : die Tradition der Aufklärung.

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die Vernunft werde sich im Laufe der Geschichte verwirklichen, konnte er nur bissigen Spott ausgießen. Wie die Romantiker lehnte er eine rein mechanistische Deu­ tung der Natur ab und zeigte ein starkes Interesse an ihren ver­ borgenen Kräften, an Magnetismus oder Geistererscheinun­ gen, die er als unmittelbare Erscheinungsformen des univer­ sal waltenden, irrationalen Willens deutete. Schopenhauer sah, auch darin den Romantikern verwandt, in der Natur mehr, als dem Auge zugänglich war oder der Verstand messen konnte. Formen der intuitiven, nicht-rationalen Erkenntnis wie die der Kunst, spielen in Schopenhauers Denken eine große Rolle. Der Philosoph Schopenhauer hat, ganz im Sinne der Ro­ mantik und in Abkehr von der Aufklärung, die Rationalität vom Fahrer- auf den Beifahrersitz gesetzt. Mit Schelling, dem exemplarischen Philosophen der Romantik, den er ansons­ ten zur Trias seiner philosophischen Erzfeinde rechnete, ver­ band ihn mehr als er zugeben mochte. Schelling hatte in sei­ ner Schrift Über das Wesen der menschlichen Freiheit bereits 1809 von dem »Wollen« als dem »Ursein« gesprochen und damit der Schopenhauerschen Willensmetaphysik eine Vorlage geliefert. Wie dieser schätzte er jene Traditionen, die, wie die Schriften Jakob Böhmes, sich auf eine nicht-rationale Tiefenwirklichkeit beziehen. Auch biographisch lassen sich Berührungspunkte mit der Romantik nachweisen : Der junge Schopenhauer war ein Ver­ ehrer Wackenroders und Tiecks, pflegte in Weimar enge Kon­ takte mit Zacharias Werner und begeisterte sich wie die Ro­ mantiker für die Dramen Calderons. Die pietistisch geprägte, rationalitätskritische Weltsicht eines Matthias Claudius hielt er sein Leben lang in Ehren. Diejenigen, die, wie Egon Frie­ dell, Schopenhauers Werk als die »reifste und reichste Blüte der ­Romantik« bezeichnen, haben einige Argumente auf ihrer Seite. Doch war er wirklich ein Anti-Aufklärer, ein »Zerstörer der

die größten Männer des vorigen Jahrhunderts, V ­ oltaire, Rousseau, Locke, Hume, werden verunglimpft, die ­Heroen, diese Zierden und Wohlthäter der M ­ enschheit, deren über beide Hemisphären verbreiteter Ruhm, wenn durch irgend etwas, nur dadurch verherrlicht werden kann, daß jederzeit und überall, wo Obskuranten auf­ treten, solche ihre erbitterten Feinde sind – und Ursache dazu haben. [N, S. 16] Schopenhauer mag einige Berührungspunkte mit der Roman­ tik haben, doch in Stil, analytischem Duktus und kritischer Orientierung blieb er der Tradition der Aufklärung verpflich­ tet. Mit ihr verbanden ihn biographische Prägungen, kultu­ relle Neigungen und die kritisch-rationale Ausrichtung seiner Philosophie. Als ein lebenslanger Anhänger Voltaires, Humes und Kants verstand er wie diese seine Philosophie als Kampf gegen Obskurantismus und ideologische Vorurteile. Deutlich äußerte er immer wieder seine Abneigung gegen die roman­

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Vernunft«, wie ihn Georg Lukács titulierte ? Diejenigen, die Schopenhauer ins Lager der Irrationalisten stecken, haben Vie­ les übersehen. So ist die Diagnose der Irrationalität der Welt nicht mit ihrer positiven Bewertung zu verwechseln. Schopen­ hauer war ein Diagnostiker, aber kein Anhänger des Irrationa­ len. Er hat der Vernunft zwar ihre Wirkungsmacht, aber nicht ihren Wert abgesprochen. Im Gegenteil : Schopenhauers Phi­ losophie ist eine rationale Analyse des Irrationalen. Man ist versucht zu sagen : Sie ist eine »Aufklärung« über den wahren Charakter des Irrationalen und die wahren Grenzen der Ratio­ nalität. Und in der Tat hat Schopenhauer sich in der aufklä­ rerischen Tradition gesehen und sich gegen jene, die sie de­ nunziert haben, deutlich abgegrenzt : »[D]as ehrwürdige Wort Aufklärung ist eine Art Schimpfwort geworden«, beklagte er sich,

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tisch-idealistische Philosophie eines Jacobi, Fichte, Hegel und Schelling. Schopenhauer war – trotz seiner Neigung zur Mys­ tik  – ein verspäteter, aber dessen ungeachtet radikaler Auf­ klärer, dessen aufklärerische Grundhaltung bis in die frühen Jugendjahre zurückgeht. Schopenhauer entstammt jener bürgerlichen Bildungs­ schicht, die in Deutschland die Aufklärung maßgeblich mit­ trug. Der Danziger Patriziersohn wurde sowohl von väterlicher als auch von mütterlicher Seite früh mit emanzipatorischem Gedankengut vertraut. Beide Eltern waren republikanisch ge­ sinnt und unterstützten die Ziele der Französischen Revolu­ tion. Sowohl Standesdünkel als auch Untertanengeist war bei­ den Elternteilen fremd. Der Vater, ein Anhänger Voltaires und regelmäßiger Leser der Times, lehnte es zeitlebens ab, sich unter die Herrschaft eines autokratischen Regimes zu begeben. Er war ein weltoffener Geschäftsmann, der durch seine zahl­ reichen Geschäftskontakte ins Ausland eine kosmopolitische Grundhaltung entwickelt hatte, die auch Johanna Schopenhau­ ­er, Schopenhauers Mutter, teilte. Von ­kosmopolitischen und geschäftspraktischen Motiven war auch die europäische Erzie­ hung des jungen Schopenhauer bestimmt. Er sollte ein Welt­ mann und kein Untertan werden. Auch Schopenhauer war der stolze Bürgersinn seiner Eltern eigen, wenn er auch politisch einen etwas konservativeren Standpunkt als diese einnahm. Johanna Schopenhauer, die französisch, niederländisch und englisch sprach, erweckte zudem in ihrem Sohn die Liebe zur französischen, aber insbesondere zur englischen Aufklä­ rungsliteratur. Voltaire und Sterne gehörten zu den Autoren, die Schopenhauer auf diese Weise bereits in jungen Jahren schätzen lernte und die er bis an sein Lebensende zu seinen Lieblingsautoren zählte. Doch die gesamte Aufklärungsliteratur bildete für Schopen­ hauer einen Mittelpunkt seiner kulturellen O ­ rientierungen. Unter den französischen Aufklärern schätzte er Voltaire ebenso

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wie Rousseau. Schopenhauer hatte zu beiden großen, aber in vielerlei Hinsicht gegensätzlichen Denkern ein positives Ver­ hältnis, wenn auch nicht in gleichem Maße. Rousseau galt ihm als Vorläufer seiner eigenen Mitleidsethik, während ihm Vol­ taire mit seinem Determinismus und seinem »unsterblichen Candide« und der darin enthaltenen satirischen Kritik am Op­ timismus der rationalistischen Metaphysik noch näherstand. Schopenhauers gesamte Philosophie war ja eine einzige Wi­ derlegung der Leibnizschen These von der »besten aller mög­ lichen Welten«. Der Leibnizschen Theodizee, »dieser methodi­ schen und breiten Entfaltung des Optimismus«, könne er, so Schopenhauer, »kein anderes Verdienst zugestehen, als dieses, daß sie später Anlaß gegeben hat zum unsterblichen Candide des großen Voltaire.« Voltaire gehörte wie der Marquis de Vauvenargues (1715– 1747) und Nicolas Chamfort (1741–1794) zu jenen aufkläreri­ schen Moralisten, die den Blick auch für die vernunftabgewand­ ­te Seite des Menschen schärften. Zu jenen Menschenkennern und »eminenten Geistern« zählte er in Deutschland Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), ein erfahrungsorientierter, scharfzüngiger Stilist, auf dessen Aphorismen und Äußerun­ gen Schopenhauer immer wieder Bezug nahm. Die wichtigste Verbindung zur deutschen Aufklärung war aber zweifellos die zu Kant. Kant blieb für Schopenhauer ein lebenslanger, stän­ diger Bezug. Er hat dabei nicht nur unmittelbar an Kants trans­ zendentalphilosophischen Ansatz, sondern auch an seine Kri­ tik einer theologisch inspirierten Metaphysik angeknüpft. Die idealistische nachkantische Philosophie galt ihm als Rückkehr zu einer Barbarei, die die von Kant bereits erledigten religiö­ sen Dogmen wie die Unsterblichkeit der Seele wieder rehabi­ litieren wollte. Schopenhauer sah sich selbst als einzig legi­ timen Nachfolger und Fortsetzer Kants. »Ich bin«, schrieb er 1837 an Karl Rosenkranz, den Herausgeber der Werke Kants, »meinem Herrn und Meister treu geblieben […] habe von da,

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wo er die Sache hingeführt, Einen Schritt weiter gethan, aber nicht in die Luft, wie alle die Luftspringer meiner Zeit, son­ dern auf festem Grund und Boden«. Nicht Revision, sondern Vollendung der Aufklärungsphilosophie Kants war Schopen­ hauers Projekt. Der Seitenhieb gegen die »Luftspringer« – gemeint ist die Begriffsartistik des Deutschen Idealismus – trifft dabei durch­ aus etwas Wesentliches : Schopenhauer hat, in der Tradition der Aufklärung, immer für sich in Anspruch genommen, dass seine Philosophie sich auf eine Erfahrungsbasis stützt, ja, dass sie nichts anderes sein kann als eine Deutung der Erfahrungs­ welt. Er sieht sich hier in der großen Tradition derjenigen, die die Augen für die Welt geöffnet und die Grenzen der reinen Büchergelehrsamkeit überschritten haben : »Die Gelehrten sind Die, welche in den Büchern gelesen haben ; die Denker, die Genies, die Wetterleuchter und Förderer des Menschenge­ schlechts sind aber Die, welche unmittelbar im Buche der Welt gelesen haben«, wird er später schreiben. Insofern darf es nicht überraschen, dass für den erkennt­ nistheoretischen Idealisten Schopenhauer der britische Empi­ rismus der Aufklärung immer eine große Rolle gespielt hat. Anders als Nietzsche hatte er von Locke, den er als »wahren summus philosophus« bezeichnet, eine ausgesprochen hohe Meinung. Lockes Ablehnung angeborener Ideen und sein Grundsatz, dass Begriffe aus der Abstraktion von Erfahrung entstehen, machte er sich zu eigen. Noch enger war sein Be­ zug zu David Hume. Hume war ein Aufklärer ganz nach Scho­ penhauers Geschmack : Er hatte eine skeptische Weltsicht, be­ tonte den Einfluss der Leidenschaften auf die Vernunft und war ein konsequenter Religionskritiker. Anders als der einer baro­ cken Systematik zuneigende Kant war Hume auch ein glänzen­ der Stilist, der seine Philosophie in essayistischer und öffent­ lichkeitswirksamer Form präsentierte. Auch hierin galt er Schopenhauer als Vorbild.

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Schopenhauer, auch ein großer Belletristikleser, war nicht nur Philosoph, sondern philosophischer Schriftsteller, des­ sen Stil sich an der clarté der Aufklärungsprosa geschult hatte. Klarheit und Verständlichkeit waren für ihn unverzichtbare Merkmale auch der philosophischen Prosa : »Man brauche ge­ wöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge« war seine Maxime. Mit dem suggestiven Sprachnebel romantischer Pro­ venienz konnte er nichts anfangen. Es war vielmehr, wie Alfred Schmidt dies formulierte, die »Verstandeshelle des 18. Jahrhun­ derts«, in der sich Schopenhauer sprachlich wie philosophisch zu Hause fühlte, während ihm die schreibenden Zeitgenossen eher fremd blieben. Zu Schopenhauers literarischen Lebensbegleitern der bri­ tischen Aufklärung gehörte auch Lawrence Sternes Tristram Shandy, ein experimenteller, frühmoderner Roman, in dem die Humesche Assoziationstheorie zu einem struktur­bildenden Element gemacht wurde. Neben dem Don Quijote, Rousseaus Heloise und Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre gehörte es zu sei­ nen vier literarischen Lieblingsbüchern. Sein Vorhaben, das Buch ins Deutsche zu übersetzen, wurde allerdings nie ver­ wirklicht. So blieb er in seiner kulturellen Ausrichtung ein Mann der Spätaufklärung und in seinem Habitus ein bürgerlicher Herr des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Der französische Graf Ale­ xandre Foucher de Careil, der ihn 1859, ein Jahr vor seinem Tod in Frankfurt besuchte, erinnerte sich an ihn als einen Mann, dessen »Kleider, der Spitzenkragen, die weiße Halsbinde, an einen Alten aus dem Ende der Regierungszeit Ludwig  XV. er­ innerten«. Als Richard Wagner dem alten Schopenhauer 1855 nach Frankfurt Grüße ausrichten und ihm die »Nibelungen« überreichen ließ, gab der Philosoph dem Besucher auf den Weg : »Sagen Sie ihrem Freunde Wagner in meinem Namen Dank für die Zusendung seiner Nibelungen, allein er solle die Musik an den Nagel hängen, er hat mehr Genie zum Dichter.

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Ich, Schopenhauer bleibe Rossini und Mozart treu.« Nicht nur hierin waren Schopenhauer und Nietzsche Welten voneinan­ der entfernt. Was Schopenhauer jedoch vor allem zum Aufklärer macht, ist die kritische Ausrichtung seiner Philosophie. Die Aufklä­ rung dabei auf unkritische Vernunftvergötterung und blinde Fortschrittsverehrung reduzieren zu wollen, ist eine grobe Ver­ zerrung ihrer wahren Intentionen. Auf Vernunft gründende Humanisierung stand sehr wohl als Ziel am Horizont. Doch das Projekt der Aufklärung war im Kern kritisch, es ging, wie Kant es formulierte, um »Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit«. Die Aufklärung richtete sich gegen die Bevor­ mundungen durch Religion, Metaphysik und Politik. Sie übte Kritik am christlichen Dogmenapparat, an den Postulaten der rationalistischen Metaphysik und am Unterdrückungsapparat des Absolutismus. Die politische Seite der Aufklärung hat Schopenhauer nicht mitgetragen. Auch hat er nie eine eigene politische Philoso­ phie vorgelegt. Aufstände und Revolutionen betrachtete er vor allem aus der Sicht individueller Schicksale. Sowohl in seiner Jugend, während der napoleonischen Kriege, als auch wäh­ rend der 1848er Revolution hatte er Lynchmorde beobachtet, die ihn auf die Seite derjenigen treten ließ, die Ruhe und Ord­ nung propagierten. Anders als Hegel sah er im Staat j­ edoch keine Verkörperung der Weltvernunft, sondern eine Institu­ tion, deren Aufgabe es ist, Besitz und Leben der Bürger zu schützen. Die metaphysik- und religionskritischen Anliegen der Auf­ klärung jedoch hat Schopenhauer nicht nur aufgenommen, sondern radikalisiert. Er hat sowohl an Humes Erkenntniskri­ tik als auch an Kants Projekt einer »Kritik der reinen Vernunft« angeknüpft und beide fortgesetzt. Schopenhauer propagierte Erfahrungsorientiertheit und radikale Selbstbescheidung der Vernunft, um sich – wiederum mit Blick auf den nachkantischen

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Idealismus  – von den »Possen« abzugrenzen, »welche in den letzten fünfzig Jahren sämmtliche Philosophaster in Deutsch­­land mit dem Begriff der Vernunft getrieben haben, indem sie, mit unverschämter Dreistigkeit, unter diesem Namen ein völ­ lig erlogenes Vermögen unmittelbarer, metaphysischer, soge­ nannter übersinnlicher Erkenntnisse einschwärzen wollten«. Wo die Vernunft zu angeblich übersinnlichen Wahrhei­ ten oder Ideen führt, wird sie missbraucht. Sie ist deshalb bei Schopenhauer nicht mehr, wie in der gesamten idealistischen Tradition von Platon bis Kant, eine Brücke zur Transzendenz, dasjenige, was die Menschen über die Natur hinaushebt. Sie ist kein quasi religiöses Erkenntnisorgan, sondern ein Instru­ ment und Produkt des Willens, eine Orientierungskompetenz zur Durchsetzung der Lebensinteressen. Schopenhauer be­ zeichnet sie auch als »Waffe« im »Daseinskampf«. Wollen ist keine Funktion des Intellekts, sondern umgekehrt : Der Intel­ lekt ist Funktion des Wollens, auch wenn er sich in Kunst oder philosophischer Selbstvergewisserung, wenigstens zeitweise, davon zu lösen vermag. Schopenhauers radikale Vernunftkritik bedeutete damit auch eine Revision des christlich und rationalistisch geprägten Welt- und Menschenbildes. Die Welt ist keine vernunftgemäße Ordnung von Zwecken und kein Ort  – wie bei Leibniz  – der prästabilierten Harmonie. Sie ist auf allen Ebenen ein Lebens­ kampf, ein ewig brodelndes Wechselspiel von Lebenserzeu­ gung und Lebensdestruktion. Der Wille bringt L ­ eben hervor, das sich wiederum gegenseitig bekämpft und zerstört. Er ist in sich zerstritten. Auch der Mensch ist weder »Krone der Schöpfung« noch animal rationale, also ein vernunftbestimmtes Wesen, wie ihn die Religion und die rationalistische und idealistische Philo­ sophie jahrhundertelang definierte. Er ist nach Schopenhauer keine Kreatur über allen anderen, sondern ein normales Natur­ wesen neben anderen Naturwesen. Den Skandal, den Jahrzehn­

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­te später das Menschenbild der Evolutionstheorie provozierte, hätte es schon bei Schopenhauer geben können – wenn man ihn denn gelesen hätte. Die »Aufklärung« über die Grenzen der Vernunft hatte da­ mit aber auch eine ideologiekritische Seite. Vernunft steht im­ mer in Diensten von Bedürfnissen, Interessen und Wünschen. Bereits die von Schopenhauer so geschätzte moralistische Ent­ larvungspsychologie – so vor allem La Rochefoucauld – hatte immer wieder auf die irrationalen Motive unserer scheinba­ ren Vernunftentscheidungen hingewiesen. Für Schopenhauer ist klar, dass unsere Handlungen und Urteile oft emotionale und unbewusste Ursachen haben und die Vernunft dabei nur die Rolle des ausführenden Instruments spielt. Jahrzehnte vor Nietzsche und Freud hat Schopenhauer auf die Macht des Un­ bewussten und auf das Phänomen hingewiesen, das die Psy­ choanalyse später Verdrängung nannte : Wir sind Meister in der Fabrikation von Wunschdenken und Illusionen. Der Wille steuert einen Apparat, der unsere Erkenntnisse filtert. In Scho­ penhauers Worten : »Was dem Herzen widerstrebt, lässt der Verstand nicht ein.« Schopenhauers Metaphysik- und Vernunftkritik mündet di­ rekt in seine Religionskritik. Schopenhauer ist einer der radi­ kalsten Religionskritiker in der Tradition der Aufklärung, ein lupenreiner Atheist, der weit über den rationalen Deismus eines Voltaire hinausgeht und sich in seiner Konsequenz allen­ falls mit La Mettrie vergleichen lässt. Allerdings hat sein Athe­ ismus eine moralische Färbung. Seine Welt ist eine Erschei­ nung des Willens und als solche eine genaue Entsprechung seiner Beschaffenheit : Sie ist ewig, aber schlecht, nämlich »mit einem Uebergewicht von Noth, Leiden und Quaal, von Zwiespalt, Bosheit, Verruchtheit und Verkehrtheit«. Dieser Pessimismus lässt sich nicht mit einem persön­ lichen, allwissenden und allgütigen Gott in Einklang bringen. Die Frage, wie sich ein solcher Gott mit dem u ­ niversalen Lei­

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denszustand der Welt vereinbaren lässt, hat Schopenhauer der christlichen Theologie immer wieder vorgelegt. Mit der Lehre vom allmächtigen und zugleich allgütigen Gott hatte man den unlösbaren Knoten geknüpft : Warum schafft der allgü­ tige Gott das Böse ? Und wenn es geschaffen ist : Warum ge­ währt ihm der allmächtige Gott so viel Raum ? Schopenhauer hat dieses sogenannte Theodizeeproblem, das die im christ­ lichen Weltbild befangene Philosophie bis heute umtreibt, mit einem Federstrich vom Tisch gewischt. Schopenhauer ver­ bannte den allmächtigen und allgütigen Gott ins Reich der re­ ligiösen Phantasie. In der vom Willen beherrschten Natur ist kein Platz mehr für einen Gott. Schopenhauers Philosophie kennt weder Gott noch Transzendenz. Die Religionskritik verband ihn mit den aufklärerischen französischen Materialisten, von denen sich Schopenhauer aber immer abzugrenzen bemühte. Er hat sich zeitlebens am Idealismus festgehalten, an der Auffassung also, dass die wahr­ genommene Welt nur Vorstellung und deshalb auch die Materie nur eine »Erscheinung« ist. Doch gibt es beim späten Schopen­ hauer auffällige Annäherungen an den Materialismus. Seine Äußerungen über das Verhältnis des »Willens« zur Materie und zur Rolle des Intellekts werfen das Problem auf, ob der von Kant übernommene transzendentale Idealismus in der Spät­ phase nicht mehr als ein Korsett ist, unter dem sich eine ma­ terialistische Grundansicht hervordrängt. Vertreter der Frank­ furter Schule wie Max Horkheimer oder Alfred Schmidt haben genau dies immer vermutet und sich für den ›materialistischen‹ Schopenhauer besonders interessiert. War Schopenhauer ein materialistischer Wolf im idealistischen Schafspelz ? Tatsache ist, dass sich Schopenhauer nach seiner endgülti­ gen Niederlassung in Frankfurt 1833 über Jahre hinweg gründ­ lichen naturwissenschaftlichen Studien widmete, mit dem Ziel, seine Willensmetaphysik wissenschaftlich zu unterfüttern. Was ursprünglich als erweiterndes und erläuterndes Material

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in die zweite Auflage von Die Welt als Wille und Vorstellung einge­ arbeitet werden sollte, erschien 1836 als eigene kleine Schrift mit dem Titel Ueber den Willen in der Natur. Die Rede von »Na­ turkräften«, »Lebenskräften« oder »Willensäußerungen« als Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnismöglichkeit, die er in der zeitgenössischen Physiologie, Anatomie, aber auch Astrologie fand, waren für ihn eine Bestätigung dafür, dass er mit seiner Konzeption des universal wirkenden Willens rich­ tig lag, die die wissenschaftliche Erkenntnislücke metaphy­ sisch auffüllen konnte. Als 1844 schließlich die zweite Auflage seines Hauptwerks zusammen mit dem neuen umfangreichen, zweiten Band er­ scheinen konnte, fanden sich darin Formulierungen, die Ele­ mente einer materialistischen Naturphilosophie enthielten. So entwickelt Schopenhauer hier unter dem Einfluss des fran­ zösischen Physiologen und Arztes Pierre Jean Georges ­Cabanis (1757–1808) die Auffassung vom Intellekt als einer »Gehirn­ funktion«. Damit würde der Intellekt zu einem Phänomen dritter Ordnung herabgestuft. Er wäre ein Produkt der Materie, die wiederum ein Produkt des Willens ist. Stellt man dem nun die transzendentalidealistische Auffassung entgegen, dass das Gehirn als materielles Objekt selbst wiederum Produkt des vom Willen erzeugten subjektiven Erkenntnisvermögens ist und zu der erst durch den Intellekt erzeugten Vorstellungs­ welt gehört, scheint man bei dem immer wieder diskutierten »Gehirnparadox« Schopenhauers angekommen zu sein. Scho­ penhauer selbst hat die ontologische Rolle des Subjekts kei­ neswegs paradox gesehen : »Dass der Kopf im Raume sei hält ihn nicht ab, einzusehn, daß der Raum doch nur im Kopfe ist«, kommentierte er. Offenbar kämpfte Schopenhauer mit der grundlegenden Frage : Wie real ist die Außenwelt ? Dass dabei die Rolle der Materie aufgewertet und dass ihre Beziehung zum Willen nun sehr viel komplexer wurde, wird z. B. dort deutlich, wo er sich

gegen den vom nachkantischen Idealismus propagierten Ver­ nunftgott namens »das Absolute« wendet :

Liest man diese Stelle unabhängig von der Kenntnis der Wil­ lensmetaphysik, enthält sie die lupenreine Beschreibung einer materialistischen Weltsicht. Alles ist aus der Materie entstan­ den und kehrt in sie zurück. Sie selbst ist ewig und »wirklich unabhängig«. Es ist die Substanz Spinozas, materialistisch re­ duziert. Für einen universal wirkenden Willen scheint onto­ logisch kein Platz mehr zu sein. Doch in Wahrheit ist Schopenhauer den letzten Schritt zum Materialismus nicht gegangen. In Kapitel 24 des zweiten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung, betitelt »Von der Materie«, wird die Materie als das »Wirken« im Sinne der Kausalität definiert – und als solche ist sie eine »Form unseres Verstandes«, also kei­ nesfalls »wirklich unabhängig«. Schopenhauer hat den »trans­ zendentalen Vorbehalt« (Alfred Schmidt), nach dem die Materie Teil der Welt der Vorstellungen bleibt, nie wirklich aufgegeben. Er ist ein Idealist geblieben und dabei ein Beinahe-Materialist geworden. Der späte Schopenhauer bewegt sich an der Grenz­ linie zwischen Idealismus und Materialismus, wobei idealis­ tische und materialistische Weltdeutung sich zuweilen in die Quere kommen. Dass er jedoch an die aufklärerischen Impulse ­ ­anknüpft, die von einem wissenschaftlich gestützten Materia­ lismus ausgingen, ist unverkennbar.

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Wollen die Herren absolut ein Absolutum haben, so will ich ihnen eines in die Hand geben, welches allen Anforde­ rungen an ein solches viel besser genügt, als ihre erfabel­ ten Nebelgestalten : es ist die Materie. Sie ist unentstanden und unvergänglich, also wirklich unabhängig und quod per se est et per se concipitur : aus ihrem Schooß geht ­Alles hervor und Alles in ihn zurück : was kann man von einem Absolutum weiter verlangen ? [W I , S. 574]

Ein Aufklärer blieb er auch in seiner Physiognomie als Au­ tor : Er schrieb nicht nur über Themen, bei denen die trans­ zendental gestimmten Philosophenköpfe rauchen, und er schrieb auch nicht im vertrackten Fachchinesisch der akade­ misch eingemauerten Spezialisten : Mit seinen Parerga und Para­ lipomena demonstrierte er endgültig, dass er ein »Philosoph für die Welt« war.

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»Philosoph für die Welt« und Klugheitslehrer : Parerga und Paralipomena Bis zum Jahre 1851 war Arthur Schopenhauer allenfalls ein Ge­ heimtipp, aber ansonsten ein völlig unbekannter Philosoph. Mit dem Erscheinen des Spätwerks Parerga und Paralipomena änderte sich dies grundlegend. Rezensionen im In- und Aus­ land erschienen, es entstand eine treue Schopenhauer-Leser­ gemeinde und Schopenhauer wurde plötzlich sogar so etwas wie der Modephilosoph der spätbiedermeierlichen Restaura­ tion. Bis heute wird die Frage, warum der Ruhm ausgerech­ net mit diesem Werk einsetzte, ganz unterschiedlich be­ant­wor­­tet. Dabei macht das zweibändige Werk auf den ersten Blick einen etwas dissonanten Eindruck. Neben größeren, zentralen systematischen Problemen der Philosophie gewidmeten Essays stehen Sammlungen von Aphorismen, Gleichnissen und Para­ beln, reflektierende Kurzprosa und auch immer wieder Kurz­ essays zu Themen, die die Systemphilosophie als peripher und der argumentativen Auseinandersetzung unwürdig aussortiert hatte. Dazu gehören ebenso berühmte wie zuweilen belächelte Essays wie den »Ueber die Weiber«, »Ueber Schriftstellerei und Stil« oder der »Ueber Lerm und Geräusch«. »Parerga« bedeutet ›Nebenwerke‹, »Paralipomena« ›Nachge­ lassenes‹. In der Tat hat Schopenhauer sein gesamtes philoso­

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phisches Leben Gedanken und Entwürfe zu den unterschied­ lichsten, auch lebens- und alltagsbezogenen Themen in philo­ sophischen Notizbüchern niedergelegt, die er mit Titeln wie »Specilegia«, »Brieftasche« oder »Senilia« versah und die ge­ sammelt in seinem Nachlass vorliegen. Manches wurde aus­ gearbeitet, floss in seine publizierten Werke ein, manches ist Fragment geblieben und manches wurde posthum veröffent­ licht. Bis heute werden Texte aus diesem riesigen Konvolut neu herausgegeben. Aus diesem Steinbruch bediente sich Schopen­ hauer auch bei der Zusammenstellung seiner Parerga und Parali­ pomena : Ist die Schrift also nichts weiter als die Resterampe des Schopenhauerschen Denkens, ein Reader’s Digest für die philoso­ phisch Bedürftigen und gerade deshalb so populär, weil sie die Ansprüche an den Leser heruntergeschraubt hat ? Oder war es, wie man seit Kuno Fischers Schopenhauer Buch immer wieder geäußert hat, der Zeitgeist, die Abkehr vom Geschichtsoptimismus Hegelscher Prägung und die pes­ simistische Grundstimmung nach dem Scheitern der 1848er Revolution, der Schopenhauer ins Bewusstsein der Öffentlich­ keit gespült hat ? Diese Sichtweise hat sich vor allem bei jenen optimistischen, auf dem marxistischen Pferd galoppierenden Fortschrittsreitern durchgesetzt, die in Schopenhauers Pessi­ mismus und seiner Weltdistanz nichts anderes zu sehen ver­ mochten als die Ideologie der Reaktion, die den gescheiterten Citoyen mit seiner Entfremdung versöhnen wollte. Das alles trifft es wohl doch nicht ganz. Was die philosophi­ sche Zeitstimmung anging, passte Schopenhauer nie hinein. Sein Pessimismus und seine Weltdistanz ließ sich zu keinem Zeitpunkt an das Jahrhundert eines Marx, Comte und Spencer anschließen, das den Fortschritt des Wissens und die Huma­ nisierung der Lebenswelt für unausweichlich hielt. Sein Spät­ werk erreichte vielmehr das Publikum, weil er seine Philoso­ phie in einer Form präsentierte, die auch für den normalen ­Leser zugänglich war.

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Den wichtigsten Hinweis zum Verständnis seines Spätwerks hat Schopenhauer selbst gegeben, als er seinem Verleger Brock­ haus in einem Brief vom 3. September 1850 das Manuskript an­ bot : Dieses sei von allen seinen Werken »das populärste, gewis­ sermaßen mein ›Philosoph für die Welt‹.« Schopenhauer spielt hier auf ein publizistisches Projekt der Berliner Aufklärung an, einer von Johann Jakob Engel 1775 bis 1777 herausgegebenen Sammlung von populärphilosophischen Essays mit eben die­ sem Titel Philosoph für die Welt an, in der Philosophen wie Chris­ tian Garve, Moses Mendelssohn, aber auch Immanuel Kant für ein breiteres gebildetes Publikum schrieben. Die Parerga und Paralipomena sind ein in der Aufklärungs­ essayistik wurzelndes populärphilosophisches Werk. Mit ih­ nen begibt sich Schopenhauer endgültig außerhalb der akade­ mischen Mauern. Schopenhauer wendet sich an den mündigen Selbstleser und versucht Brücken zwischen philosophischer Reflexion und Alltagserfahrung zu bauen. Er baut diese Brücken nicht nur durch seine breit gefächer­ ten und oft alltagsbezogenen Themen, sondern auch durch seine Sprache. Die Parerga und Paralipomena sind auch ein Stück Literatur. Hier pflegt Schopenhauer einen der aufklärerischen clarté verpflichteten Stil, der Verständlichkeit mit Esprit verbin­ det und die Schwerfälligkeit der deutschen Professorenspra­ che weit hinter sich lässt. So sehr sich Schopenhauer mit Kant verbunden fühlte : Sprachlich liegen zwischen beiden Welten. Kant steht auch sprachlich immer mit dem Zeigestock hinter dem Katheder : Er spricht und schreibt die Sprache der Syste­ matisierungen, der Definitionen und Ableitungen. Noch viel mehr trennt Schopenhauer jedoch sprachlich von den von ihm so verachteten Vertretern des Deutschen Idealis­ mus, namentlich Fichte, Schelling und Hegel. Deren Art, phi­ losophische Argumentation sprachlich derart zu vernebeln, dass nicht nur die Verständlichkeit, sondern auch die Logik außer Blick gerät, trieb ihn zu seinen immer wieder ausbre­

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chenden Invektiven. »Am längsten hält die Maske der Unver­ ständlichkeit vor«, schreibt Schopenhauer in seinem Essay »­Ueber Schriftstellerei und Stil«, »als wo sie, von Fichte einge­ führt, von Schelling vervollkommnet, endlich in Hegel ihren höchsten Klimax erreicht hat […] Und doch ist nichts leich­ ter, als so zu schreiben, daß kein Mensch es versteht ; wie hin­ gegen nichts schwerer, als bedeutende Gedanken so auszudrü­ cken, daß Jeder sie verstehen muß.« Genau dies war sein aufklärerisches Projekt, nicht nur in den Parerga : Das Bedeutende dem Leser auf verständliche Art zu vermitteln. »Was ein Mensch zu denken vermag«, so Scho­ penhauer, »läßt sich auch allemal in klaren, faßlichen und un­ zweideutigen Worten ausdrücken.« Verständlichkeit war das eine, stilistische Brillanz das andere. Auf diese Weise wurde Schopenhauer der erste wirkliche Literat unter den deutschen Philosophen, ein eleganter, bildreicher Formulierer, der sich dabei unerschöpflich aus der Welt- und Bildungserfahrung be­ diente. Er erlöste die deutsche Philosophensprache aus dem akademischen Getto und machte sie weltläufig. Er blieb für den Common Reader immer ein lesbarer, aber auch ein lesenswerter Philosoph. Denn nicht nur seine stilis­ tische Brillanz zog den Leser an, sondern auch seine breite ­Themenpalette. Schopenhauer war einerseits ein klassischer Systemphilosoph, der sich an den großen metaphysischen, er­ kenntnistheoretischen und moralphilosophischen Fragen ab­ arbeitete. Er hatte aber auch den Blick für die kleinen, aber si­ gnifikanten Dinge des Lebens. Dies sahen schon die Zeitgenossen. Ein früher Hamburger Rezensent fühlte sich sowohl an Montaigne als auch an »alle Früchte, die wir den edlen Geistern des 18. Jahrhunderts ver­ danken« erinnert und auch der Engländer John Oxenford, dem das Verdienst gebührt, Schopenhauer in Großbritannien be­ kannt gemacht zu haben, bemerkte eine Kraft und Klarheit, die »Deutschland seit den Tagen Kants noch nicht gesehen

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hat.« Mit seinem essayistisch angelegten, populärphilosophi­ schen Werk hatte Schopenhauer zuletzt doch noch seine Le­ ser gefunden. Der erste Band des Buches enthält, grob gesprochen, die »Parerga« : Es sind größere, ausformulierte Texte, die das Hauptwerk ergänzen, aber auch neue Akzente setzen. Zwei die­ ser Essays, die »Skitze [sic !] einer Geschichte vom Idealen und Realen« und die »Fragmente zur Geschichte der Philo­sophie« dienen dazu, Schopenhauers eigene Position innerhalb der­ ­Philosophiegeschichte noch einmal zu verdeutlichen. Schopen­ hauer weist daraufhin, dass das »Reale«, also die wahre Wirk­ lichkeit des »Ding an sich«, nicht über die Welt der Vorstellun­ gen vermittelt erkannt werden kann, sondern erst in der »in­ neren« leib­lichen Erfahrung zugänglich wird. Anders als in der gesamten rationalistischen Tradition haben für Schopenhauer Begriffe also keinen unmittelbaren Zugang zu dieser Wirklich­ keit. Der Aufsatz »Ueber die Universitätsphilosophie« gehört zu den bekanntesten Beiträgen des Buches und fasst Schopen­ hauers Distanz zur akademischen Welt zusammen. Wie Kierke­­gaard, Marx und Nietzsche gehört Schopenhauer zu den gro­ ßen, außerhalb der Universität wirkenden Philosophen des 19. Jahrhunderts. Doch bei keinem dieser Denker ist die Abnei­ gung gegen die öffentlich gelehrte Philosophie so ausgeprägt wie bei Schopenhauer. Der hier abwertend gebrauchte Begriff »Universitätsphilo­ sophie« wurde vermutlich von Schopenhauer selbst geprägt und meint Vertreter und Lehre der vom Staat bezahlten, an Universitäten institutionalisierten Philosophie, die, aufgrund ihrer »Stallfütterung«, daran gehindert wird, sich der kompro­ misslosen Wahrheitssuche zu widmen und sich stattdessen ge­ drängt sieht, sich den Vorgaben der Brotgeber zu beugen und die offizielle Ideologie von Kirche und Staat theoretisch zu be­ festigen. Gerade die Landeskirchen hatten im Verbund mit

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den staatlichen Autoritäten großen Einfluss auf die Besetzung universitärer Stellen und es kam immer wieder zur Entlassung ideologisch unliebsamer Dozenten. Eine besondere Neigung der Philosophie als »Brotgewerbe« sah Schopenhauer darin, die christliche Gottesvorstellung phi­ losophisch zu legitimieren und »unter Benennung und Firma der Philosophie und in fremdartigem Gewande die Grund­ dogmen der Landesreligion« vorzutragen. Es überrascht nicht, dass für ihn hier wiederum Hegel und seine Anhänger in den Blick kamen, die außerdem noch als bevorzugtes Beispiel für eine durch unkritische Staatsverehrung korrumpierte »Kathe­ derphilosophie« herhalten müssen. Schopenhauer hatte hier sicherlich einige Argumente auf seiner Seite. Ideologisch unliebsame Kandidaten hatten, vor allem wenn sie im Geruch des Atheismus standen, an deut­ schen Universitäten kaum eine Chance, einen Lehrstuhl zu be­ setzen. Andererseits diente seine Abgrenzung von der akade­ mischen Philosophie auch dazu, sich mit der eigenen Existenz als Privatgelehrter extra muros zu versöhnen und die Außensei­ terstellung als Möglichkeit zu präsentieren, für die Philosophie und nicht von der Philosophie zu leben. Mit den beiden Essays »Transscendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des E ­ inzelnen« und »Versuch über das Geistersehn und was damit zusammen­ hängt« begibt sich Schopenhauer auf die Grenzlinie zwischen empirisch orientierter Metaphysik und transzendenter Speku­ lation. Dabei fasst er im ersten Essay eine jenseits der Erschei­ nungswelt, der mundus phaenomenon, liegende mundus ­intelligibilis (Verstandeswelt) ins Auge, in der ein jenseits der Natur existie­ rendes »Metaphysisches« die Fäden zieht und das, was wir Zu­ fall nennen, zu einem vom Willen mit Notwendigkeit insze­ nierten Schicksal gehört. Das Interesse für Erscheinungen des »animalischen Magne­ tismus« und den Erfahrungen des »Geistersehens« wiederum

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teilte Schopenhauer mit vielen seiner philosophischen Zeit­ genossen. Schopenhauer deutet diese Phänomene im Lichte seiner Willensmetaphysik : Im Geistersehen sind die Schran­ ken von Raum und Zeit temporär durchbrochen und die Tren­ nung zwischen den drei Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufgehoben. Dem Hellsehenden wird so ein Blick hinter die Erscheinungswelt ermöglicht. Schopenhauer ge­ hört zu jenen Philosophen, die parapsychologische Prozesse und Grenzerfahrungen nicht als Hirngespinst abtaten, son­ dern er entwickelte immer ein besonderes Interesse für sie und bemühte sich, sie in seine rationale Weltdeutung zu integrie­­ren. Eine ganz besondere Rolle innerhalb der Parerga und Parali­ pomena spielen die Aphorismen zur Lebensweisheit, mit denen der erste Band abschließt und die, als eigene Schrift aufgelegt, bis heute zu den verbreitetsten Werken Schopenhauers gehört. Zuweilen als »Hausbuch des gebildeten Bürgertums« (­Rüdiger Safranski) bespöttelt, hat sie in Wahrheit eine wichtige Funk­ tion innerhalb der praktischen Philosophie ­Schopenhauers : Sie ergänzt seine Ethik durch eine Klugheitslehre. Schopen­ hauer war sich bewusst, dass der Weg der völligen Weltvernei­ nung nur wenigen »Heiligen« offensteht und dass auch das Prinzip des Mit-Leidens mit Anderen noch nicht zu einer prag­­matischen Lebensbewältigung genügt. Auch der normale Mensch möchte sein Leben so führen, dass es nicht zu irrepa­ rablen Konflikten mit der Umwelt kommt und er sein Leben insgesamt als gelungen ansehen kann. Zwar hält Schopenhauer weiterhin daran fest, dass es Glück nur in einem negativen Sinne, nämlich als Abwesenheit von Unglück, geben könne. Dennoch formuliert er den Zweck der Schrift im konstruktiven Sinn, nämlich Ratschläge zu geben in der Kunst, »das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen.« Schopenhauer widmet sich also hier einem Anliegen, mit dem sich der Leser von jeher nicht nur an die

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Religion, sondern auch an die Philosophie gewandt hatte : Wie soll ich mein Leben in dieser Welt vernünftig und klug einrich­ ten ? Die Ausformulierung einer lebenspraktischen Klugheits­ lehre gehört zu den zentralen Anliegen und den Neuerungen, die die Parerga und Paralipomena in Schopenhauers Werk einbrin­ gen. Klugheitsreflexionen haben in der Philosophie eine lange Tradition. In den Schriften der antiken Philosophenschulen wa­ ren sie eng mit den moralischen Tugendlehren ­verbunden, da, anders als später bei Kant, das moralisch gute und das glück­ liche Leben miteinander identifiziert wurden. Eine besonders wichtige Rolle spielte dabei die Ethik des ­Aristoteles, die mit ihrer Unterscheidung von phrónesis und sophía, von Klugheit und Weisheit, den Grundstein für eine e­ igenständige Klug­ heitslehre legte. Die berühmte aristotelische mesótes-Lehre, also die Lehre vom richtigen Maß und der richtigen Mitte, war­ ­weniger eine Morallehre, als vielmehr eine Anleitung zu einem klugen Sozialverhalten. Schopenhauer hat sich mit diesem Thema nicht erst in seiner Spätphase auseinandergesetzt. Be­ reits 1814 notierte er : »Des Aristoteles Grundsatz, in allen Din­ gen die Mittelstraße zu halten, passt schlecht zum Moralprin­ cip, wofür er ihn gab : aber möchte leicht die beste allgemeine Klugheitsregel seyn, die beste Anweisung zum glücklichen Le­ ben.« In der Neuzeit waren es die Moralisten, die in ihren Apho­ rismen und Essays das Thema aufgenommen und in aphoris­ tischer und essayistischer Form in ihren Brevieren der Welt­ klugheit weitergeführt haben. Ein besonders enges ­Verhältnis hatte Schopenhauer zur Aphoristik und Moralistik des 17. und ­ racián, 18. Jahrhunderts. Dazu gehörten der Spanier Baltasar G La Rochefoucauld mit seinem illusionslosen Blick auf die egoistische und triebbestimmte menschliche Natur, Helvetius, Chamfort, und auch Vauvenargues, der Günstling Voltaires, dessen Forderung nach sprachlicher Klarheit Schopenhauer

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übernahm und der wie Schopenhauer die Bedeutung der af­ fektiven Natur des Menschen betonte. Chamforts Satz : »Das Glück ist keine einfache Sache : es ist sehr schwierig es in uns und unmöglich es außerhalb zu finden«, stellt er als Motto sei­ nen Aphorismen voran. Unter den Moralisten, mit denen sich Schopenhauer, neben seinen publizierten Werken, über Jahrzehnte beschäftigte, spielte der spanische Jesuitenpater Baltasar Gracián (1601– 1658) eine ganz besondere Rolle. Wie Schopenhauer selbst war der »philosophische Gracián«, den er sogar zu seinem »Lieb­ lingsschriftsteller« erkor, ein pechschwarzer ­Pessimist, der sei­­ne Schriften als Überlebensbreviere für eine durch und durch unheilige Welt verfasste. Schopenhauer übersetzte kleinere Teile des Ideenromans El Criticón (1651–1657), vor allem aber be­ fasste er sich mit den Aphorismen des Oráculo manual y arte de prudencia, dem Handorakel oder Kunst der Weltklugheit (1647). Wie bei allen moralistischen Klugheitsbrevieren geht es hier da­ rum, zunächst Menschen- und Weltkenntnis zu erwerben, ein Prozess, der für Gracián mit »desengaño«, also Desillusionie­ rung oder »Ent-Täuschung« verbunden ist. Sie ist die Voraus­ setzung dafür, die »Lebens-Kunst« zu lernen, »saber vivir«. 1828 begann Schopenhauer mit der Übersetzung, die er schließlich 1832 abschloss. Versuche, die Übersetzung publi­ zieren zu lassen, scheiterten. Sie erschien erst posthum und ist bis heute die klassische deutsche Übersetzung des Gracián-­ Textes geblieben. Man sagt vermutlich nicht zu viel, wenn man die Beschäftigung mit Graciáns Oráculo manual als Vorlage und Anstoß für die Entstehung der Aphorismen zur Lebensweisheit an­ sieht. Denn parallel zu dieser Übersetzung begann Schopen­ hauer, eigene Lebensregeln zu verfassen, die unter dem Titel »Die Kunst, glücklich zu sein oder Eudämonologie« im Nach­ lass überliefert sind und teilweise auch in die Parerga und Para­ lipomena einflossen. Die Übersetzung des Oráculo manual Graci­ ans und die Entstehung der Aphorismen zur Lebensweisheit stehen

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somit in einem engen zeitlichen und inhaltlichen Zusammen­ hang. In den Aphorismen hat Schopenhauer ein lange vernachläs­ sigtes Thema der Philosophie rehabilitiert und den Deutschen einen Klassiker der Moralistik in der Tradition eines Montai­ gne, Gracián, La Rochefoucauld und Chamfort geschenkt. Es handelt sich um ein Brevier der Lebenskunst, in dem Weltdis­ tanz mit pragmatischer Weltklugheit verbunden wird. Während Gracián seine Lebenskunst ganz auf die Bedingun­ gen der absolutistischen, von Günstlingswirtschaft bestimm­ ten Hofgesellschaft ausgerichtet hatte, zielen S­ chopenhauers Aphorismen auf die Existenz des frühbürgerlichen Privatiers, der das individuelle »Sein« dem gesellschaftlichen »Schein« vor­ zieht. Es geht darum, die Erfahrungen von Schmerz und Lan­ geweile abzuwenden, den beiden Grundübeln, die mit der menschlichen Existenz verbunden sind. Klug sein, heißt für Schopenhauer vor allem, sich nicht auf das zu konzentrieren, was einer hat (Besitz) oder einer vorstellt (Ruf und Ruhm), sondern auf das, was einer »ist«, womit der »innere Reichthum, der Reichthum des Geistes« gemeint ist. Was Schopenhauer empfiehlt, ist ein solitäres, der Kultivierung des Geistes gewid­ metes Leben. »Denn je mehr Einer an sich selber hat, desto we­ niger bedarf er von außen und desto weniger auch können die Uebrigen ihm seyn.« Geselliges und geistiges Leben schließen sich für ihn aus, denn die Geselligen bleiben für ihn die »geis­ tig Armen«. Die Einsamkeit hingegen schützt vor »Geselligkeit, Weiberliebe und Geschlechtstrieb«, die den Menschen unwei­ gerlich in die Leidensmühle des Willens verstricken. Von dem Autor solcher Zeilen wird man deshalb auch nicht erwarten können, dass er sich zu Themen wie Liebe, Galanterie oder Ehe positiv äußert. Für ihn war die Frau ein ­Wesen zwei­ ter Klasse, das zu höheren künstlerischen und geistigen Leis­ tungen unfähig und mit dem eine geistige Lebensform nicht zu verwirklichen war. Die Ehe erschien ihm als eine Zwangs­

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veranstaltung, die dem Mann die lebenslange Verpflichtung auferlegt, die Frau finanziell zu versorgen. »Zu dem, was Einer hat« schreibt er in den Aphorismen, »habe ich Frau und Kinder nicht gerechnet, da er von diesen vielmehr gehabt wird.« Sein im zweiten Band der Parerga erschienener Aufsatz »Ueber die Weiber«, in welchem er den Mann als den »eigentlichen Men­ schen« bezeichnet und in der Frau, »das in jedem Betracht zu­ rückstehende zweite Geschlecht« sieht, dessen einzige und eigentliche Bestimmung die »Propagation des Geschlechts« sei, hat notorische Berühmtheit erlangt und seinen Ruf als phi­ losophischer Frauenfeind Nr. 1 begründet. In der Tat gibt es an Schopenhauers Thesen zur Rolle der Weiblichkeit nichts zu beschönigen oder zu rechtfertigen. Doch weder stehen seine Bemerkungen über das weibliche Ge­ schlecht in einem inneren Zusammenhang mit seiner philo­ sophischen Weltdeutung, noch kann dem Autor eine Frauen­ feindschaft ab ovo nachgewiesen werden. »Was die Weiber be­ trifft, so war ich diesen sehr gewogen«, äußert noch der alte Schopenhauer gegenüber einem seiner Anhänger, Carl Georg Bähr, als von der Italienreise des 30‑Jährigen die Rede war. Seine Bemerkungen über Frauen scheinen vielmehr in einem Ressentiment zu wurzeln, das sich im Lauf seines Le­ bens durch die Erfahrungen gebildet hat, die er mit einzelnen Vertreterinnen des anderen Geschlechts machen musste. Spu­ ren hinterließ sicherlich die gescheiterte Beziehung mit Caro­ line Medon. Schopenhauers frauenfeindlicher Furor wurde je­ doch vor allem dort geweckt, wo es an seinen Geldbeutel ging. So im Falle seiner Berliner Nachbarin, der Näherin Caroline Marquet, die er in einem Wutanfall die Treppe hinuntergesto­ ßen hatte und ihr dafür über Jahrzehnte Schmerzensgeld zah­ len musste. Noch nachhaltiger waren die Erfahrungen mit der eigenen Mutter. Ihr unterstellte er, das vom Vater verdiente Vermögen durch die Finanzierung gesellschaftlicher Vergnü­ gungen und Liebschaften verschleudert zu haben. »Dass das

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von Männern, durch große und fortgesetzte Arbeit und Mühe schwer erworbene Eigentum nachher in die Hände der Wei­ ber geräth, welche, in ihrer Unvernunft, es binnen kurzer Zeit durchbringen, oder sonst vergeuden, ist ein eben so großes, wie häufiges Unbild, dem man durch Beschränkung des weib­ lichen Erbrechts vorbeugen sollte«, schreibt er in dem Essay »Ueber die Weiber« – mit deutlicher Anspielung auf die Mutter. Deren geistige Leistungen als erfolgreiche Reise- und Roman­ schriftstellerin traten dahinter offenbar zurück. Schopenhauers Bemerkungen über das weibliche Ge­ schlecht gehören sicher nicht zu den Höhepunkten der Parer­ ­ga und Paralipomena. Sie schmälern die Bedeutung des Werkes aber nicht, das eine Fülle brillanter philosophischer Kurzprosa mit Einsichten in alle Bereiche des Schopenhauerschen Den­ kens enthält. Anthropologisch und psychologisch orientierte Bemerkun­ gen in der Tradition der Moralistik finden sich an mehreren an­ dern Stellen des zweiten Teils des Buches, u. a. in den Beiträgen »Über Physiognomik«, »Über Erziehung« oder den »Psycholo­ gischen Bemerkungen«. Es ist dieser zweite Band, der durch seine thematische Vielfalt und lockere essayistische S­ truktur am ehesten mit den Essays Montaignes verglichen werden kann. Der Leser kann diesen Band frei und ungebunden bege­ hen wie einen philosophischen Themenpark, ohne sich auf einen umfangreichen und komplexen Argumentationsaufbau einlassen zu müssen. Schopenhauer greift hier Alltags- und le­ benspraktische Themen auf, beschäftigt sich in mehreren Bei­ trägen mit dem Verhältnis von Autor, Sprache und Öffentlich­ keit, aber er widmet sich auch Fragen, die auf das existenzielle Selbstverständnis des Menschen eingehen und für diejenigen, die in der Philosophie grundsätzliche Lebensorientierung su­ chen, immer von größtem Interesse waren. Dazu gehören der bereits erwähnte Essay »Zur Lehre von der Unzer­störbarkeit unseres Wesens durch den Tod« oder die nicht minder be­

rühmten Bemerkungen »Über den Selbstmord«. Es waren ge­ rade solche Themen, die nach Erscheinen des Werks 1851 dem Philosophen eine zunehmende Leserschaft bescherten und seinen späten Ruhm begründeten. Dass die öffentliche Wahr­ nehmung Schopenhauers durch sein spätes populärphiloso­ phisches Werk angestoßen wurde, sollte die gesamte Schopen­ hauer-Rezeption bis zur Gegenwart bestimmen.

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Schopenhauer extra muros : Schopenhauer-Leser und Schopenhauer-Gesellschaft Das Werk Schopenhauers hat immer polarisiert. Auffällig ist die zum Teil aggressive Ablehnung, die ihm bis heute ent­ gegenschlägt. Über die Gründe dafür ist viel räsoniert worden. War er der akademischen Philosophie nicht wissenschaftlich genug, weil er seine Metaphysik auf intuitive Einsichten, auf, wie er es formulierte, »anschauliche Auffassung« der realen Welt stützte ? Dem könnte man entgegenhalten, dass an den Universitäten ungeheuer populäre Philosophen wie Nietzsche oder Heidegger in ihrer Art zu philosophieren sehr viel we­ niger ›wissenschaftlichen‹ Ansprüchen genügen, wie immer man ›wissenschaftlich‹ auch bestimmen mag. Oder war es nicht vielmehr die Grundrichtung seiner Philo­ sophie, der Pessimismus, die Weigerung, diese Welt zu beja­ hen und sie für veränder- und verbesserbar zu halten ? Es gibt einige Anzeichen dafür, dass die pessimistische Grundeinstel­ lung für viele dem nahe kam, was das Weihwasser für den Teu­ fel ist : Man wollte damit nicht in Berührung kommen. Das ›Schopenhauer-Tabu‹ galt einträchtig für die verschiedensten

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Schopenhauers Nachleben

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philosophischen Richtungen : für die liberalen Neukantianer ebenso wie für die Marxisten, für die analytische Philosophie ebenso wie für die Existenzphilosophie. Ein Beispiel für letztere ist Karl Jaspers, der ansonsten Vie­ les aus der Philosophiegeschichte aufnahm und dem sowohl Grenzsituationen als auch der Blick in Abgründe wohl ver­ traut waren. Er spricht von Schopenhauer wie von einer vergif­ teten Süßigkeit : »Schopenhauer habe ich seit meiner Jugend als einen gefährlichen Gegner empfunden«, schrieb Jaspers als Antwort auf eine Anfrage, einen Vortrag zum 100. Todestag Schopenhauers zu halten. Dieser grosse Schriftsteller […] ist natürlich einst von mir verschlungen worden, bis ich mich nach einiger Zeit in der Grundstimmung radikal abstieß […]. Er ist ein Zaube­ rer falscher, weil existenzieller Metaphysik für Leute mit ­Unbehagen, die doch ihr Leben nicht ändern. Ich erkenne ihm nicht zu, was er als einzigen unangreifbaren Punkt behauptet : das redliche intellektuelle Gewissen. In seinen ­ ­Wirkungen scheint er mir ein großes Unheil zu sein. [­Jaspers zitiert in Wilke 2018, S. 98] Die Größe des Geistes bedeute in diesem Fall wenig und sei, »wenn sie auf dem Grunde existenzwidriger Motive sprach, ein schlimmes Verhängnis.« Hier lugt die Katze aus dem Sack : Was Schopenhauer ungenießbar macht, sind die »existenzwid­ rigen Motive«. Dieser Tenor wiederholte sich : Es kann nicht sein, dass je­ mand die Welt grundschlecht macht, und wenn er es tut, ist er unredlich, denn er müsste sich eigentlich sofort ­umbringen. In die gleiche Kerbe schlägt Albert Camus (1913–1960), der sich darüber hinaus noch die Fehlinterpretation zu eigen macht, Schopenhauer selbst habe den Selbstmord gepriesen, sei ihm aber ausgewichen : »Man zitiert oft, um sich darüber lustig

So erhebt sich das […] System Schopenhauers wie ein schönes, mit allem Komfort ausgestattetes modernes ­Hotel am Rande des Abgrundes, des Nichts, der Sinnlosig­ keit. Und der tägliche Anblick des Abgrundes, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten und Kunstproduktio­ nen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur ­erhöhen. [Lukács 1984, S. 198] Auch die von Schopenhauer immer heftig kritisierte Kathe­ der-, sprich : akademische Philosophie ließ die Finger vom »Ho­­tel am Rande des Abgrunds«. Als zu Beginn des 21. Jahrhundert an der Mainzer Universität eine Schopenhauer-Forschungs­ stelle eingerichtet wurde, war dies die erste Institution dieser

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zu machen, Schopenhauer, der an einer gutgedeckten Tafel den Selbstmord pries.« Der Geruch des Pessimismus war un­ erwünscht. Dies gilt insbesondere für Vertreter des Marxismus. Für die meisten von ihnen blieb Schopenhauer das reaktionäre ideo­ logische Bollwerk, das die Bourgeoisie zur Verhinderung des gesellschaftlichen Fortschritts errichtet hatte. Ihr bekanntes­ tes Sprachrohr ist Georg Lukács (1885–1971), für den Schopen­ hauer nicht nur ein Fortschrittsfeind, sondern ein Zerstörer der Vernunft blieb, der »erste Irrationalist auf rein bürgerlicher Grundlage«. Für Lukács stand »SCHOPENHAUER« in großen Lettern auf den Barrikaden des Klassenfeinds. Dessen Philoso­ phie ist für ihn »ein ideologischer Schutz für jede Gesellschafts­ ordnung, die das bürgerliche Privateigentum wirksam zu ver­ teidigen imstande ist.« Und die auch bei Camus noch wider­ klingende persönliche Diffamierung durfte nicht fehlen, der satte Bourgeois Schopenhauer habe Wasser gepredigt und Wein getrunken und darüber hinaus raffinierterweise die Sinn­ losigkeit der Welt zum ästhetischen Genuss erhoben. So habe er es sich unter dem Dach des Pessimismus bequem gemacht :

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Art an einer deutschen Hochschule – 150 Jahre nach Schopen­ hauers Tod ! Nur ganz selten schaffte es Schopenhauers Lehre, Gegen­ stand seriöser akademischer Auseinandersetzung zu werden. Eine frühe Ausnahme ist Paul Deussen (1845–1919), der Stu­ dienfreund Nietzsches und spätere Begründer der Schopen­ hauer-Gesellschaft, der nach seiner Berufung 1889 nach Kiel eine erste akademische Schopenhauer-Forschung in Gang setzte. Im späteren 20. Jahrhundert waren es ausgerechnet zwei dem Marxismus nahestehende Philosophen, Max Horkhei­mer (1895–1973), der Begründer der Frankfurter Schule, und sein Schüler Alfred Schmidt (1931–2012), die sich beide an ihrem Frankfurter Lehrstuhl um Schopenhauer und seinen »hellsich­ tigen Pessimismus« (Horkheimer) kümmerten. 1988 schließlich konnte der Mainzer Philosophieprofessor Joachim Kopper in einem Aufsatz mit dem etwas provokanten Titel »Ist Schopenhauers Philosophie kathederfähig ?« die Fest­ stellung treffen : »Mit Selbstverständlichkeit gehört Schopen­ hauers Philosophie heute weltweit in das philosophische Lehrund Forschungsprogramm der Universitäten.« Doch über ein Jahrhundert lang hat die akademische Beschäftigung mit Scho­ penhauer nicht die Hauptrolle in der Schopenhauer-Rezeption gespielt. Schopenhauer blieb ein Philosoph extra muros. Umso stärker war seine Wirkung auf den philosophieinte­ ressierten Laien. Schopenhauer blieb bis heute ein Philosoph für den Leser und einer der meist gelesenen deutschen Philo­ sophen überhaupt. Die Gründe dafür liegen nicht in den Zeit­ umständen : Sie liegen im Werk selbst. Schopenhauer schreibt keine akademische Fachsprache, sondern besticht durch eine ebenso verständliche wie literarisch elegante Feder. Auf in­ haltlicher Ebene verbindet er analytische Problemdiskussio­ nen mit den großen Sinnfragen : die nach der Natur des Men­ schen und nach dem Sinn des Lebens. Er gibt diskussionswür­ dige Antworten auf die großen Existenzfragen.

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Es sollte ein Muster für die gesamte Schopenhauer-Rezep­ tion bleiben : Schopenhauer wurde ein Liebhaber-Projekt und ein Weltanschauungsphilosoph für die Gebildeten. Nicht nur seine Lektüre, auch die Herausgabe und Erforschung seines Werks fanden weitgehend außerhalb der akademischen Mau­ ern statt. Den naserümpfenden Professoren standen die be­ geisterten Leser gegenüber. Bereits kurz nach Erscheinen der Parerga und Paralipomena im Jahr 1851 entstand eine große Lesergemeinde. Neuauflagen seiner Werke wurden gedruckt, es erschienen Aufsätze und Rezensionen im In- und Ausland. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde Schopenhauer zu einem der meist gelesenen europäischen Philosophen überhaupt. Die »Komö­ die seines Ruhms«, wie Schopenhauer selbst sie nannte, hatte begonnen. Er kommentierte sie ironisch, genoss sie aber den­ noch. Der Nil, so sein Fazit, sei bei Kairo angelangt. Unter den Eifrigsten seiner Anhänger befanden sich jene, die sich selbst publizistisch betätigten und ihre Feder in den Dienst des Meisters stellten. Schopenhauer scharte sie als »Evangelis­ ten und Apostel« um sich und hatte auch keine Scheu, sich von ihnen als eine Art säkularer Religionsstifter verehren zu lassen. Inzwischen sind die Schopenhauer-Exegeten dazu übergegan­ gen, sogar von einer »Schopenhauer-Schule« zu sprechen. Der Magdeburger Jurist Friedrich Dorguth (1776–1854) hat­ ­te Schopenhauer schon in den 1830er Jahren entdeckt und in seinen Publikationen auf ihn aufmerksam gemacht. Er durfte sich deshalb auch »Urevangelist« nennen lassen. ­Wenig ­später stieß der »Erzevangelist«, der Berliner Privatdozent, Hausleh­ rer und Autor Julius Frauenstädt (1813–1879) auf Schopenhau­ ers Werk und sollte ihm fortan sein intellektuelles Leben wid­ men. Er suchte Schopenhauer bereits 1846 in Frankfurt auf und stand von da an in ständigem Kontakt mit ihm. 1854 veröffentlichte Frauenstädt die Briefe über die Schopen­ hauersche Philosophie, die Schopenhauers Werk einem breiteren

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Publikum bekannt machten. Frauenstädt übernahm die Rolle des philosophischen Famulus. Er wurde vom Meister in Fragen der öffentlichen Werkinterpretation brieflich instruiert und schließlich auch zum literarischen Nachlassverwalter bestellt. 1873/74 besorgte er die erste, textkritisch nicht unumstrittene Gesamtausgabe der Schopenhauerschen Werke. Beide waren die Ersten in einer Reihe nachfolgender Scho­ penhauer-Forscher und Gelehrter, die dem Werk ohne univer­ sitäre Bestallung und Unterstützung dienten. Beamten, Juris­ ten, Lehrer, Mediziner, Privatgelehrte und nicht zuletzt Künst­ ler verschafften dem Werk Verbreitung. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens rissen die Besucher, die Schopenhauer in seiner Frankfurter Wohnung aufsuchten, nicht ab. Zwei weitere ›Apostel‹ wandten sich Schopenhauer nach Er­ scheinen der zweiten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung 1844 zu : zum einen der Alzeyer Jurist Johann August Becker (1803–1881), der sich den Titel »gelehrtester Apostel« dadurch verdiente, dass er als Einziger von Schopenhauer so ernst ge­ nommen wurde, dass er mit ihm einen Briefwechsel über phi­ losophische Fragen führen konnte. Zum Evangelisten brachte es Becker nicht, denn er veröffentlichte nicht. Ganz anders jener, der als »Apostel Johannes« in die Ge­ schichte der Schopenhauer-Rezeption eingehen sollte. 1849 bekam Schopenhauer Besuch von dem jungen bayrischen Juris­­ten Adam von Doß (1820–1873). Er beeindruckte Schopen­ hauer dadurch, dass er offenbar jede Zeile von und über Scho­ penhauer gelesen hatte  – oder lesen wollte. Wie ein Trüffel­ schwein spürte er unablässig Schopenhaueriana auf. Schopen­ hauer bezeichnete ihn – durchaus wohlwollend – als »Fanaticus«. Von Doß verfasste unermüdlich Briefe und Sendschreiben im Dienste der Schopenhauerschen Philosophie. Er wäre im di­ gitalen Zeitalter der Schopenhauer-Super-Blogger geworden. Es waren vornehmlich die Apostel und Evangelisten, die in den ersten Jahren nach Schopenhauers Tod seinen Ruhm ver­

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breiteten. Sie schrieben und handelten im Verehrungsmodus : eine kritische Auseinandersetzung mit dem Werk war von ih­ nen nicht zu erwarten. Auch bei der Herausgabe der Schopenhauerschen Schrif­ ten war nicht immer der kritische Blick am Werk. Dass Scho­ penhauers Bibliothek und Nachlass nach seinem Tod weder an einem wissenschaftlichen Institut noch an einem gemeinsa­ men Ort gesammelt und aufbewahrt werden konnte, führte dazu, dass den verschiedenen Herausgebern seines Werks ver­ schiedene Textgrundlagen zur Verfügung standen. Auch die Herausgeber selbst arbeiteten extra muros und brachten ganz unterschiedliche Voraussetzungen mit. Frauenstädt war noch im Besitz sämtlicher Schopenhauer-­ Manuskripte gewesen. Nach seinem Tod konnte der Bestand nicht zusammengehalten werden. So wanderten u. a. die so wichtigen Handexemplare Schopenhauers in den Antiquitäten­ handel. Sie waren somit dem nächsten Herausgeber der Werke, Eduard Grisebach (1845–1906), nicht mehr zugänglich. Er konnte in seiner 1891 bis 1895 erschienenen Ausgabe lediglich die Editionsfehler Frauenstädts korrigieren. Ein Jahrzehnt spä­ ter sicherte sich der 1904 gegründete Piper Verlag die Heraus­ geberschaft Paul Deussens für eine geplante 10‑bändige Aus­ gabe. Die Editionsarbeit erstreckte sich, auch über den Tod Deussens 1919 hinaus, über drei Jahrzehnte, von 1911 bis 1942, und konnte nicht ganz vollendet werden. Teile des Nachlasses blieben unediert. Die Deussen-Ausgabe fand bereits unter dem Dach jener Or­ ganisation statt, die fortan nicht nur die Schopenhauer-Rezep­ tion, sondern auch die Schopenhauer-Forschung maßgeblich prägen sollte. 1911 gründete Paul Deussen in Kiel, zusammen mit einer kleinen Anzahl Mitstreiter, die Schopenhauer-Gesell­ schaft. Gerade weil die akademische Welt Schopenhauer wei­ ter ignorierte, übernahm sie viele jener Aufgaben, die bei an­ dern Klassikern der Philosophie von wissenschaftlichen For­

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schungsinstitutionen übernommen werden. Sie prägte auch das Schopenhauer-Bild – und dies z. T. in einer durchaus kon­ troversen Weise. Abspaltungen oder Abspaltungsversuche, die es in der Geschichte der Gesellschaft mehrmals gegeben hat, endeten immer in der Nische der Bedeutungslosigkeit. Scho­ penhauers Nachleben bleibt ganz entscheidend mit der Ge­ schichte der Schopenhauer-Gesellschaft verknüpft. Ihre Mitglieder unterschieden sich erheblich von den Mit­ gliedern anderer philosophischer Organisationen : Hier versam­ melte sich kein elitärer Zirkel von Fachwissenschaftlern, son­ dern eine bunte Laienspieltruppe aus verschiedensten weltan­ schaulichen Lagern und unterschiedlichster Berufstätigkeit. Sie alle einte eins : Sie waren begeisterte Schopenhauer-Leser. Als Diskussionsplattform für die Schopenhauer-Community im deutschen Sprachraum, aber auch im Ausland, erlangte sie eine Bedeutung, die weit über die einer rein wissenschaftlich orientierten Gesellschaft hinausging. Zentrale Anliegen der Gesellschaft war die Gründung eines Schopenhauer-Archivs und die Herausgabe des Schopenhauer-Jahrbuchs. Das Jahrbuch spiegelte von Anfang an die Diversität der Schopenhauer-Leserschaft, zum Teil um den Preis, dass auch kuriose Beiträge wie Gedichte oder Verehrungssentenzen ab­ gedruckt wurden. Das Jahrbuch blieb immer auch ein Tummel­ platz für ›Dilettanti‹ im ursprünglichen Sinne des Wortes. Die Diskussion darüber, wie wissenschaftlich das Jahrbuch sein und welchen Ansprüchen es genügen müsse, begleitet die Schopenhauer-Gesellschaft bis in die Gegenwart. Politisch wurde die Schopenhauer-Gesellschaft natürlich nie ein Sammelbecken der Linken. Schopenhauers eigene Fort­ schrittsskepsis, sein pessimistisches Menschenbild und die auch häufig enge Verbindung von Schopenhauer- und Nietz­ sche-Lesern brachte es naturgemäß mit sich, dass Leser mit einem eher konservativen Profil sich besonders angezogen fühlten. Der langjährige Vorsitzende der Schopenhauer-Ge­

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sellschaft, Arthur Hübscher (1897–1985), ein Nationalkonser­ vativer mit einer ausgeprägt demokratieskeptischen Haltung, steht für diese Gruppe repräsentativ. Für sie galt sowohl der Li­ beralismus als auch die gesamte Hegel-Marx-Tradition als Ana­ thema. Dennoch wäre es grundfalsch, alle in der Schopenhau­ er-Gesellschaft organisierten Leser und Forscher in die rechte Ecke abzuschieben. So war einer von Hübschers Vorgängern, der Danziger Jurist Hans Zint (1882–1945), ein aktiver Sozial­ demokrat, der Schopenhauers scharfen Blick auf das Elend der Welt für die Forderung nach sozialen Reformen in Anspruch nahm. Zint nahm damit einen Interpretationsansatz vorweg, den später jene vertraten, die eine ideologische Verbindung zwischen Marx und Schopenhauer herstellen wollten. Nichtsdestoweniger gehört zur Geschichte der Schopen­ hauer-Rezeption auch die politische Rolle, die die Schopen­ hauer-Gesellschaft während der Weimarer Republik und ins­ besondere während des Nationalsozialismus gespielt hat. In der Gesellschaft gab es von Anfang an offen antisemitische Mitglieder wie Maria Groener, die sich später der rechtsradi­ kalen und antisemitischen »Neuen Deutschen Schopenhau­ er-Gesellschaft« anschloss. Sie stützten sich auf immer wieder im Werk auftauchende judenfeindliche Äußerungen Schopen­ hauers, die sich allerdings auf die religiöse, theistische Tra­ dition des Judentums und nicht auf die Ethnie bezogen, und bauschten diese im Dienste ihres völkischen Weltbildes auf. Schopenhauer, der Philosoph des Mitleids und der Empathie, hat keinerlei Berührungspunkte mit völkischem Denken oder mit einem selbst ernannten Herrenmenschentum. Andererseits waren führende Vertreter der Gesellschaft Ju­ den, wie der Frankfurter Jurist Leo Wurzmann (gest. 1842) oder der studierte Philosoph Franz Mockrauer (1889–1962), einer der besten intellektuellen Köpfe, die in der Gesellschaft wirkten. Hier waren Konflikte vorprogrammiert. Nach dem Tod Deussens verlegte die Schopenhauer-Gesell­

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schaft ihren Sitz nach Frankfurt, wo sie bis heute beheimatet ist. Wurzmann wurde zum neuen Vorsitzenden bestellt und Mockrauer wurde bezahlter Geschäftsführer und gleichzeitig Schriftführer. Mockrauer, der an führender Stelle die Heraus­ geberschaft der begonnenen Deussen-Ausgabe übernahm, war der Erste, der versuchte, der Schopenhauer-Gesellschaft einen stärker wissenschaftlichen Anstrich zu geben, doch er stieß, wie spätere Versuche dieser Art, auf Widerstände. Er löste einen jener Konflikte aus, die für die Schopenhauer-Community ty­ pisch waren : Verehrer und Laien-Leser beanspruchten glei­ chermaßen ihren Platz wie wissenschaftlich geschulte Fach­ philosophen. Mit der Wahl von Hans Zint zum Vorsitzenden 1924 wurde der Konflikt wieder entschärft. In der Zeit bis zur Machtübernahme der Nazis 1933 pro­ filierte sich die Gesellschaft als Ausrichter von weit über die Grenzen Deutschlands hinaus beachteten Kongressen. So tra­ ten auf dem Kongress zum Thema »Philosophie und Religion« 1929 in Frankfurt u. a. Martin Buber und Albert Schweitzer auf. Schweitzer führte in einem viel beachteten und umstrittenen Beitrag Schopenhauers asketische Ethik auf Paulus zurück und stellte damit eine Verbindung zwischen Schopenhauer und dem neutestamentarischen Christentum her, auf die Schopen­ hauer selbst bereits hingewiesen hatte. Die mit den großen Schopenhauer-Kongressen verbunde­ nen Bemühungen, dem Werk Schopenhauers stärkere wissen­ schaftliche und auch internationale Aufmerksamkeit zu si­ chern, wurden 1933 jäh beendet. Damit begann auch für die Schopenhauer-Gesellschaft die problematischste Zeit ihrer Ge­ schichte. Man kann nicht sagen, dass sie diese unbeschadet überstanden hätte. Schopenhauer war in der Nazi-Zeit kein geächteter Philo­ soph. Hitler schätzte ihn als ›Künstlerphilosoph‹. und auf der offiziellen Feier zum 150. Geburtstag des Philosophen 1938 in Danzig hielt der NS ‑Chefideologe Alfred Rosenberg die Fest­

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rede. Von einem möglichen Verbot der Schopenhauer-Gesell­ schaft – wie dies bei der Kant-Gesellschaft der Fall war – konnte keine Rede sein. Auch die Vorstellung, die Gesellschaft aufzu­ lösen oder mit ihr ins Exil zu gehen, war für die führenden Vertreter der Gesellschaft keine Option. Insgesamt segelte das Schopenhauer-Schiff während der Nazi-Zeit im Windschatten der Nietzsche-Rezeption : geduldet, zuweilen gewürdigt, ins­ gesamt nicht sehr beachtet, aber auch nie wirklich gefährdet. Die politisch missliebigen und die jüdischen Mitglieder, darunter einige der prominentesten Vertreter der Gesellschaft, kamen jedoch unter existenziellen Druck. Hans Zint musste seine berufliche Tätigkeit aufgeben. Franz Mockrauer emigrier­­te nach Dänemark, später nach Schweden. Andere führen­­de Mitglieder wie Karl Wollf, Hans Taub und Leo Wurzmann blie­ ben in Deutschland, wurden nun aber sowohl staatlicherseits als auch von der Gesellschaft selbst ausgegrenzt, in der es viele aktive Nazis gab. »Es waren«, so schreibt Andreas Hansert in seiner Geschichte der Schopenhauer-Gesellschaft, »weniger die staatlichen und parteiamtlichen Organe, durch die man unter Anpassungsdruck geriet, problematisch waren unter Umständen der Eifer und die Aktivitäten von Anhängern des Nationalsozialismus, die man in den eigenen Reihen oder im direkten Umfeld der Schopenhauer-Forschung hatte.« Die Haltung der Schopenhauer-Gesellschaft gegenüber dem Nazi Regime wurde maßgeblich von Arthur Hübscher mitbe­ stimmt. Hübscher ist die beherrschende Figur der Schopenhau­ er-Szene im 20. Jahrhundert. Seit 1934 im Vorstand, übernahm er 1936 den Vorsitz der Gesellschaft, den er bis 1982 innehatte. Von da an bis zu seinem Tod 1985 fungierte er als Alterspräsi­ dent. Für die über die Schopenhauer-Gesellschaft vermittelte Schopenhauer-Rezeption ist er die zentrale Figur schlechthin. Hübscher war ein in München ansässiger, nationalkonser­ vativer Publizist mit monarchistischen Neigungen, der die Weimarer Republik abgelehnt hatte. Auch zur gesamten Kunst

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und Kultur der Moderne hatte er ein gestörtes Verhältnis. Er war ein Reaktionär im Wortsinn. Als Schopenhauer-Experte war er jedoch unumstritten. Sowohl seine Verehrung Scho­ penhauers als auch seine Kenntnisse des Werks waren immens. Weniger ein philosophisch systematischer Kopf, als vielmehr ein begnadeter Jäger und Sammler, spürte er die letzten Win­ kel auf, wo es etwas von oder über Schopenhauer zu entde­ cken gab. Seine Publikationen zum Thema sind Legion. Mit dem 1973 erschienenen Buch Denker gegen den Strom legte er die Summa seiner Schopenhauer-Lektüre vor. Ein Denkmal setzte er sich durch seine sorgfältige Editions­ arbeit : Neben der Herausgabe des handschriftlichen Nachlas­ ses, der Briefe und der Gespräche Schopenhauers war es vor allem die von ihm edierte Schopenhauer-Gesamtausgabe, die seinen Ruf als Schopenhauer-Forscher begründete. Sie orien­ tierte sich in der Konzeption wieder stärker an der Frauenstädt­ schen Ausgabe. Dabei griff er auch mit Korrekturen in Scho­ penhauers Ausgabe letzter Hand ein, begründete dies aller­ dings in einem textkritischen Anhang. Die Ausgabe erschien zwischen 1937 und 1941 und wurde jeweils 1948, 1972 und 1988 neu aufgelegt. Sie ist die maßgebende Ausgabe Schopenhau­ ers geworden, aus der in der Regel zitiert wird. Ebenfalls im Jahr 1988 erschien eine von Ludker Lütkehaus herausgegebene Schopenhauer-Werkausgabe, die sich wort- und zeichengetreu an des Autors Ausgaben letzter Hand hält. Für Leser, die sich intensiv mit Schopenhauer auseinandersetzen wollen, emp­ fiehlt es sich, beide Ausgaben zur Hand zu haben. Arthur Hübscher war kein Antisemit und kein Rassist, aber er war auch alles andere als ein Oppositioneller. Er war ein Mit­ läufer, trat 1937 in die NSDAP ein und fuhr einen Kurs der tak­ tischen Anpassung. Dabei bediente er sich immer wieder der Hilfe aktiver Nazi-Mitglieder, wie z. B. des Juristen Carl August Emge (1886–1970), um staatliche Stellen günstig zu stimmen und deren Eingriffe zu verhindern. Er knüpfte Kontakte zur ab­

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trünnigen rassistischen »Neuen Deutschen Schopenhauer Ge­ sellschaft« und orchestrierte die Ausgrenzung der jüdischen Vorstandsmitglieder. Gegenüber Wollf, Taub und Wurzmann, die noch im Vor­ stand saßen, wählte Hübscher – wohl wissend, dass sich die Betroffenen kaum wehren konnten  – die ebenso subtile wie perfide Strategie, sie entweder zum Verzicht zu bewegen oder sie, wie im Falle Wurzmanns, im Zuge einer schriftlichen Wahlprozedur schlicht von der Kandidatenliste zu streichen. Wurzmann war durch diese Form der Ausbootung tief getrof­ fen. Mockrauer, der politisch Klarsichtigste unter allen ehema­ ligen Vorstandsmitgliedern, war nach der Wahl Hübschers aus der Gesellschaft ausgetreten, hatte sich aber dann dennoch überreden lassen, in den Vorstand zurückzukehren. Nun er­ eilte ihn das gleiche Schicksal : Er wurde von Hübscher von der Liste gestrichen, worauf er ein weiteres Mal austrat. Mockrauer hatte sich nie Illusionen über die Nazis und auch nicht über die Rolle Hübschers gemacht, weswegen er auch sehr früh Deutschland verlassen hatte. Er ist ein Beispiel für die moralische und politische Integrität, die es auch unter den tra­ genden Figuren der Schopenhauer-Community gab. Zu den be­ deutendsten Stimmen der Schopenhauer-Leser im Exil gehörte zweifellos auch Thomas Mann, der den Philosophen 1938 in einem großen Essay würdigte. Kein Schopenhauer-Leser und kein Schopenhauer-Anhänger war gezwungen, sich den Nazis anzubiedern. Wie politischer Anstand in diesem Falle ausgese­ hen hat, haben Franz Mockrauer und Thomas Mann demonst­ riert. Sie zahlten den Preis der Verfolgung und des Exils. Das Verhalten des damaligen Vorstands unter Führung Hübschers dagegen war ein Akt vorauseilenden Gehorsams und des Opportunismus. Hübscher besaß zudem die Imperti­ nenz, sich nach dem Krieg durch seinen Anwalt als klugen Wi­ derstandskämpfer präsentieren zu lassen, der die nationalso­ zialistische Politik bewusst sabotiert habe. Dass seine Urne auf

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dem Grabfeld Schopenhauers, und somit quasi als ›Untermie­ ter‹ des Meisters, bestattet wurde, muss man schließlich als eine Mischung aus Hybris und Geschmacklosigkeit werten. Die Schopenhauer-Gesellschaft hat sehr lange gebraucht, bis sie begann, ihre Rolle in der Nazi-Zeit aufzuarbeiten. Unter der Ägide Hübschers wurde alles getan, um dies zu verhindern. Noch 1961 wurde dem ehemaligen Nazi und Angehörigen der SS , Friedrich Kormann, die Ehrenmitgliedschaft verliehen. Der rechtskonservative Mief saß noch lange in den Mauern der Gesellschaft. Unter den 68ern galten die Schopenhauerianer entsprechend als Fundamentalreaktionäre, und Schopenhauer verschwand erst einmal völlig aus dem öffentlichen philoso­ phischen Diskurs. Für Hübscher blieb Schopenhauer der schalldicht gezim­ merte kulturpessimistische Schutzraum, in den er sich vor den – wie er sie verstand – Verwerfungen der Moderne flüch­ ten konnte : die liberale Demokratie, die atonale Musik und die abstrakte Kunst sowie die Konsumgesellschaft und die Unter­ haltungsindustrie. Von Hübscher war nicht zu erwarten, dass er auf die Rolle Schopenhauers als einem der bedeutendsten Impulsgeber der Moderne hinwies. Eine internationale Lesergemeinde hatte Schopenhauer je­ doch schon sehr früh. Dabei handelte es sich aber eher um eine segmentierte Liebhaberrezeption, die sich in Nischen, außer­ halb der Entwicklung der Philosophie der Moderne bewegte. Zwei Beispiele können dies verdeutlichen : Schopenhauer ist immer ein Lieblingsautor derjenigen ge­ wesen, die sich mit östlichen Weisheitslehren wie dem Hindu­ ismus oder Buddhismus beschäftigten oder sich damit identifi­ zierten. Er war philosophischer Stammgast in ­buddhistischen Zirkeln des Westens und wurde im Osten philosophisch ein­ gebürgert. Über die Vermittlung Max Müllers (1823–1900) und Deussens wurde seine Philosophie auch in Indien schon Ende der 1890er Jahre im Rahmen der »Comparative Philosophy« re­

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zipiert. In Indien entstand folgerichtig auch eine Sektion der Schopenhauer-Gesellschaft. Das zweite Beispiel betrifft die Aphorismen zur Lebensweisheit, die, separat veröffentlicht, den Weg in viele bildungsbürgerli­ che Bücherschränke fanden – als Zitatenschatz, der geeignet war, Festtagsanlässen ein philosophisches Kolorit zu geben. Es war ein Steinchen, das man aus Schopenhauers Krone heraus­ gebrochen hatte und ihn nun als solitären Gebrauchsschmuck verkaufte. Die Tradition und Zielrichtung des Buches als mora­ listische Weltklugheitslehre fielen dabei unter den Tisch. Die Aufgabe war also, Schopenhauer wieder in eine leben­ dige philosophische Problemdiskussion einzubeziehen. Am Ende der Amtszeit Hübschers kündigten sich entsprechende Veränderungen an. Von der Schopenhauer-Gesellschaft spalte­­te sich, im Streit mit Hübschers Vereinspolitik, die »Internatio­ nale Schopenhauer Vereinigung« mit Sitz in Hamburg ab, die aber keine größere Öffentlichkeitswirksamkeit erreichen konn­ ­te. Doch es zeigte sich, dass es auch immer ganz andere Stim­ men innerhalb der Schopenhauer-Gesellschaft gegeben hatte. Nach dem Tod Hübschers, unter der Führung von Rudolf Malter (1937–1994), Heinz Gerd Ingenkamp (geb. 1938) und seit 2000 unter Matthias Koßler (geb. 1960), bemüht man sich, Schopenhauer wieder anschlussfähig an die zeitgenössische philosophische Diskussion zu machen. Eine der wichtigsten Stimmen der neuen Schopenhauer-Diskussion innerhalb der Gesellschaft war die des Horkheimer-Schülers Alfred Schmidt (1931–2012). Max Horkheimer (1895–1973) selbst hatte bereits zu den Vorkriegsmitgliedern der Schopenhauer-Gesellschaft gezählt und sich nach dem Krieg, aus dem Exil in den USA zurückgekehrt, bereit erklärt, auf Tagungen der Gesellschaft aufzutreten. Er wies bereits auf die progressiven und huma­ nistischen Seiten Schopenhauers hin : auf seine enge Anleh­ nung an die empirischen Wissenschaften sowie seine auf alle leidenden Wesen ausgedehnte Ethik der Empathie. Dass Hork­

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heimer als Vertreter der Kritischen Theorie auch eine Schwä­ che für Schopenhauers pessimistische Geschichtsdeutungen hatte, verwundert nicht. Schmidt nahm die Fäden, die Horkheimer gesponnen hatte, auf. Ausgerechnet aus den Impulsen der 68er Theoriedebatten heraus entstand in den 70er Jahren sein großer Essay »Scho­ penhauer und der Materialismus«, einer von vielen Arbeiten Schmidts, in denen er auf das aufklärerische Potential in Scho­ penhauers Philosophie hinwies. Schopenhauers radikale Re­ ligionskritik und die Tatsache, dass er seine Metaphysik aus dem, wie Schmidt formuliert, »leiblichen Weltinhalt« ableitet, verweist für Schmidt auf seine Verwandtschaft mit Marx und den Materialisten der Aufklärung. 1980 schließlich erschien, unter der Herausgeberschaft von Hans Ebeling und Ludger Lütkehaus, der Sammelband Schopenhauer und Marx, der mit­ half, Schopenhauer aus der reaktionären Nische zu holen und eine Debatte über die Vereinbarkeit zweier so scheinbar unver­ einbarer Denker anschob. Philosophen wie Dieter Birnbacher (geb. 1946), der langjäh­ rige Vizepräsident der Schopenhauer-Gesellschaft und Schrift­ leiter des Schopenhauer-Jahrbuchs, oder Martin Morgen­stern (geb. 1953), trugen Probleme und Instrumente der analytischen Philosophie an Schopenhauer heran und machten seine Rele­ vanz für wissenschaftstheoretische Fragestellungen, aber auch für ein wissenschaftlich orientiertes Metaphysikverständnis deutlich. So weist Birnbacher Schopenhauer als einen frühen Vertreter einer empirisch überprüfbaren, »induktiven« Meta­ physik aus, wie sie von Oswald Külpe propagiert und u. a. von Alfred North Whitehead und Karl Popper aufgenommen wurde. Neue Biographien über Schopenhauer, wie Rüdiger Sa­ frans­kis Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie (1987) oder David E. Cartwrights Schopenhauer. A Biography (2010) tru­ gen ebenfalls dazu bei, Schopenhauer wieder in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung zu bringen.

Die Schopenhauer-Leserschaft im 21. Jahrhundert ist, ein­ schließlich der Schopenhauer-Gesellschaft, schon lange keine verschnarchte kulturkonservative Sammlungsbewegung mehr. Dies hätte sie auch nie sein müssen, wenn man den Einfluss in Rechnung gestellt hätte, den Schopenhauer auf die Philoso­ phie und die Kunst der Moderne ausgeübt hat.

Denn : Der akademischen Nichtbeachtung zum Trotz ist Scho­ penhauers philosophische Wirkung weitaus größer als ge­ meinhin angenommen. Schopenhauer hat das philosophische Menschen- und Weltbild des 20. Jahrhunderts maßgeblich mit­ geprägt, wenn auch nicht überall – wie in der Psychoanalyse – Schopenhauer draufsteht, wo Schopenhauer drinsteckt. Schopenhauers Jahrhundert war ein wissenschafts- und geschichtssüchtiges Jahrhundert, das sich um die Losung des »wissenschaftlichen Fortschritts« scharte. Hegel und Marx hatten in der ersten Hälfte des Jahrhunderts dem Zeitgeist den neuen eschatologischen Impuls gegeben : Die Verwirklichung von Freiheit und Vernunft schien in die DNA der Geschichte ein­ geschrieben. Die Weltgeschichte wurde säkularisiertes Heils­­geschehen, wie Karl Löwith später richtig erkannte. Mit dem Aufblühen der empirischen Wissenschaften schien auch der Fortschrittsglaube eine unerschütterliche Grundlage ­gefunden zu haben. Comte und Spencer sahen wie Hegel und Marx in eine helle, gesetzmäßig vorprogrammierte Zukunft, in der die materiellen wie moralischen Probleme der Menschheit gelöst sind. »Ordem e progresso« schrieben die Brasilianer, Comte zitierend, sogar auf ihre Staatsflagge. Und auch der in der zwei­ ten Hälfte des 19.  Jahrhunderts so dominante Historismus,

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Der ›Underground‹ der Moderne : Schopenhauer als Inspiration für das philosophische Denken

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der sich gegen jede metaphysische geschichtsphilosophische Konstruktion à la Hegel wandte, sah die Welt durch die histori­ sche Brille : Mensch und Welt waren das, was sie waren, durch die Geschichte. In diesen vom Fortschrittsdenken gesättigten Jahrhundert­ geist sickerte Schopenhauers Denken ein. Für die frühen Scho­ penhauerianer war es vor allem der Pessimismus, der ihren Blick auf Welt und Geschichte trübte. Auf lange Sicht wirkungsvoller war jedoch Schopenhauers Weltbild : Die Vernunft erhielt eine irrationale Tiefendimension, die unsere Wirklichkeitssicht er­ heblich erweiterte. Auf diese Weise unterminierte in den Jahr­ zehnten ab 1860 Schopenhauers Philosophie zunehmend das Denken des 19. Jahrhunderts und wurde zu einem entscheiden­ den Ferment der heraufziehenden Moderne. Die Philosophie des späten 19. und frühen 20. Jahrhundert hat einen Schopen­ hauerschen Untergrund, der bis in die Gegenwart wirkt. Sehr bald schon nach Schopenhauers Tod meldeten sich jene, die man als erste Pioniere dieser Entwicklung ansehen kann und die man auch »Schopenhauers wilde Söhne« (Richard Reschika) genannt hat. Von den Anhängern Schopenhauers im engeren Sinne unterscheiden sie sich dadurch, dass sie zwar auf Schopenhauer aufbauen, aber eigenständige philosophi­ sche Ansätze entwickelt haben. Es sind die Selbstdenker in­ nerhalb der »Schopenhauer-Schule«. Die drei wichtigsten, Ju­ lius Bahnsen (1830–1881), Philipp Mainländer (1841–1876) und Eduard von Hartmann (1842–1906), übernahmen zwar Scho­ penhauers voluntaristischen Pessimismus, aber nicht immer sein ahistorisches Denken. Hartmann und Mailän­der passten das Konzept des Willens, dem hegelianisch infizierten Zeit­ geist folgend, in eine historische Entwicklungsperspektive ein. Ihre Wirkung blieb zunächst auf die Zeitgenossen beschränkt und auch die Philosophiegeschichte stellte sie in die zweite Reihe. Doch sie waren die ersten, die Schopenhauersches Ge­ dankengut philosophisch eigenständig verarbeiteten.

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Neun Jahre nach Schopenhauers Tod erschien Eduard von Hartmanns voluminöse Philosophie des Unbewussten (1869), ein Bestseller, der auf den Teetischen des Bildungsbürgertums Platz nahm und den Erfolg der Schopenhauerschen ­Schriften noch in den Schatten stellen sollte. Hartmann rezipierte Scho­ penhauer mit dem teleologischen Gerüst des Hegelschen Ge­ schichtsdenkens : Der Schopenhauersche Wille, als unbewuss­ ter Geist gefasst, wird mit Hegelscher Gesetzmäßigkeit auf Rei­ sen geschickt. Das Unbewusste wird zum bestimmenden und gleichermaßen irrationalen Faktor des Weltgeschehens. Da die Welt eine negative Lustbilanz aufweist, strebt das Unbewusste klugerweise auf ihre Selbstaufhebung im Nichts hin. Schopen­ hauers Denken hatte das teleologische Denken unterwandert und begonnen, die Hegelschen Festungen zu schleifen. Philipp Mainländer entdeckte das Werk Schopenhauers wie auch später Nietzsche in einem Leipziger Antiquariat. Sein kur­ zes Leben widmete er ganz der Ausarbeitung eines zweibändi­ gen Werks, das die Schopenhauerschen Anregungen in eine Philosophie der Erlösung (1876/1886) verarbeitete. Auch Main­ länder übernimmt Schopenhauers pessimistische Erkenntnis, dass es besser wäre, wenn die Welt nicht existierte. Doch wie Hartmann ist er noch ein vom historischen Geist Infizierter, der dem Entwicklungsgedanken anhängt. Die Welt Mainlän­ ders ist, wie Richard Reschika es formulierte, eine »gigantische ­ ­Selbstzerstörungsmaschine«, die sich nach dem Gesetz der Entropie so lange schwächt, bis sie ins Nichts zerfällt – womit das Sein sich von sich selbst erlöst hat. In Bahnsens Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt (1880/1882) schließlich gibt es keinen Willen als große kosmi­ sche Kraft mehr, sondern eine Ansammlung individueller Wil­ lenspartikel, die sich in einem ewigen antagonistischen Kampf befinden. Auch für Bahnsen ist Leben Selbstzerstörung, aber ohne jede Erlösungsperspektive. Der Schmerz »ist endlos und die Welt unrettbar«.

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Der Einfluss des Schopenhauerschen Pessimismus ver­ blasste zwar im 20. Jahrhundert, förderte aber dennoch einige bemerkenswerte philosophische Meisterstücke zu Tage wie die negative Anthropologie Ulrich Horstmanns (geb. 1949) in sei­ nem Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht (1983) oder Ludger Lütkehaus’ negative Ontologie in seinem Nichts. Abschied vom Sein. Ende der Angst (1999), die beide den Anspruch erheben, die von Schopenhauer formulierte Forderung der Aufhebung des Mensch- und Weltseins konsequent zu Ende gedacht zu haben. Schopenhauers weitreichender und nachhaltiger Einfluss auf die Philosophie der Moderne war aber viel umfassender : Er bestand vor allem in der Öffnung des Wirklichkeitsraums, in der Bedeutung, die die im Begriff des »Willens« zusammen­ gefasste irrationale Tiefenwirklichkeit für die Anthropologie und die Ontologie gewann. Weder Nietzsche, noch Heidegger, noch die Postmoderne gaben den Anstoß dafür, dass die Rolle der Rationalität für unser Menschen- und Weltverständnis zu­ nehmend kritisch hinterfragt wurde. Es war Schopenhauer, der diesen Stein ins Rollen brachte. Hartmann, Mainländer und Bahnsen waren jedenfalls nur Vorspiel. Noch während sie ihre apokalyptischen Ontologien ausbrüteten, war schon der Gigant der Schopenhauer-Re­ zeption am Werk : Friedrich Nietzsche (1844–1900). Zuweilen scheint es sogar, als ob jeder Weg zurück zu Schopenhauer zwangsläufig über Nietzsche führt. Nietzsches Schatten ist so groß, dass einige seiner Anhänger glauben, Schopenhauers Bedeutung bestehe vor allem darin, Nietzsche zur Philosophie geführt zu haben. In Wahrheit ist es eher umgekehrt. Nietzsche, der zu einem europäischen Ereignis werden sollte, ist ohne Schopenhauer überhaupt nicht denkbar. Und anders, als Nietzsche dies sei­ nen Lesern selbst glauben machen wollte, hat er sich nie wirk­ lich von Schopenhauer gelöst. Es war keinesfalls so, wie Nietz­

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sche in seiner dritten Unzeitgemäßen Betrachtung, »Schopen­ hauer als Erzieher«, suggerierte, dass Schopenhauer für ihn nur als redlicher, unbestechlicher Wahrheitssucher, als gegen den Strom schwimmender Außenseiter und tapferer Nonkon­ formist der Philosophie von Bedeutung gewesen sei und dass es darum gehe, wie Nietzsche selbst formuliert, »wie wir Alle durch Schopenhauer uns gegen unsere Zeit erziehen können«. All dies ist wohl wahr : Nietzsche hat auch den Typus des phi­ losophischen Freigeists und außerakademischen Provokateurs von Schopenhauer übernommen. Aber er hat sich auch, wie Martin Morgenstern in einer sehr sorgfältigen Studie gezeigt hat, in allen Phasen seines Werks an Schopenhauer abgearbei­ tet. Schopenhauer hat ihn bis zum Ende begleitet. Es beginnt wie in einem Roman : 1865 stößt Friedrich Nietz­ sche, damals Student der klassischen Philologie, in einem Leipziger Antiquariat auf ein Exemplar der Welt als Wille und Vorstellung. 14 Tage lang widmet er sich der Lektüre des Scho­ penhauerschen Hauptwerks, das ihn nicht nur intellektuell, sondern auch emotional ergreift. Schopenhauer wird das ent­ scheidende philosophische Bildungserlebnis seines Lebens. Später wird er über ihn schreiben : »Dass ein solcher Mensch geschrieben hat, dadurch ist wahrlich die Lust auf dieser Erde zu leben vermehrt worden.« Nietzsche wird zum Philosophen als Schopenhauer-Süchtiger. So übernimmt Nietzsche in seiner frühen Phase noch den Schopenhauerschen Pessimismus : Auf dem dunklen Grund der griechischen Kultur entdeckt er das Dionysische, das ihn aber schon sehr früh in seiner schwarzen Vitalität fasziniert. Und ähnlich wie Schopenhauer weist er der Kunst eine the­ rapeutische Wirkung zu ; aber während Schopenhauer sie als eine Form der Weltbefreiung sieht, ist sie für Nietzsche die ein­ zig mögliche Form der Weltrechtfertigung. In seiner mittleren Periode, der Periode des »freien Geis­ tes«, scheint Nietzsche sich von Schopenhauers ­Metaphysik

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gelöst zu haben. Doch er wird von Schopenhauer in einer ganz anderen Weise beeinflusst, die ihm möglicherweise selbst nicht bewusst war. Die mit psychologischer Analyse verknüpf­ ­te aphoristische Schreibweise, die mit Menschliches, Allzumensch­ liches beginnt und an die französischen Moralisten erinnert, war ihm von Paul Rée (1849–1901) nahegebracht worden, der mit seinen Psychologischen Beobachtungen von 1875 selbst einen wichtigen Beitrag zur moralistischen Tradition geleistet hat. Rée war wie Nietzsche ein aufmerksamer Leser Schopenhau­ ers, aber anders als auf Nietzsche hatten auf ihn auch die Men­ schenbeobachtung und die Klugheitslehre der Aphorismen zur Lebensweisheit großen Einfluss ausgeübt. Dass Rée eine wich­ tige Station der Schopenhauer-Rezeption des 19. Jahrhunderts war und dass diese Rezeption auch über die Aphorismen verlief, wird gemeinhin unterschlagen. Nietzsche führt in seiner mittleren Phase, über Paul Rée vermittelt, die Tradition der Schopenhauerschen Aphorismen fort. Er teilt das skeptisch-pessimistische Menschenbild der moralistischen Tradition und sieht wie La Rochefoucauld oder auch Schopenhauer den instrumentellen Gebrauch der Ver­ nunft im Dienst des eigenen Egoismus. Auch der in der mittle­ ren Phase hervortretende Aphoristiker Nietzsche ist mit Scho­ penhauer, wenn auch nur mittelbar, verwandt. Natürlich war Schopenhauer inzwischen für Nietzsche längst zum Antipoden, zum Vertreter eine christlich ­geprägten, quietistischen »Sklavenmoral« geworden. Aber auch in sei­ ner Spätphase knüpft der emphatische Weltbejaher Nietzsche noch an den emphatischen Weltverneiner Schopenhauer an. So ist Nietzsches Gegenentwurf zur Hegelschen Geschichts­ philosophie, seine Lehre von der Ewigen Wiederkehr des Glei­ chen, ohne Schopenhauers ahistorische Perspektive nicht denkbar. Es ist die endgültige Abkehr von der hegelianischen Geschichtsdeutung. Ebenso ist Nietzsches »Wille zur Macht« nichts anderes als

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eine ins Positive gewendete Umdeutung des Schopenhauer­ schen Willens zum Leben. Nietzsche bleibt ein Vertreter der Willensmetaphysik, die es ohne Schopenhauer nie gegeben hät­­te. Der dunkle ›Whirlpool‹ der ewigen Lebenserzeugung, den Nietzsche schließlich positiv deutete und den er gegen die an­ gebliche Dekadenz der christlich korrumpierten rationalisti­ schen Zivilisation ins Feld führte : Ihn hatte Schopenhauer auf­ gedeckt. Es war auch Schopenhauer, der Nietzsches Blick auf den überall wirkenden irrationalen Untergrund gelenkt hat, eine Perspektive, die Nietzsches Analyse der christlichen Moral und des Ressentiments gesteuert hat. Und Nietzsches Aussa­ ­ge, »Moral verneint das Leben«, trägt bis in die Formulierung hinein Schopenhauersche Züge  – mit dem Unterschied, das Schopenhauer auf Seiten der Moral und Nietzsche auf Seiten des Lebens steht. Nietzsche blieb immer ein Schopenhaueria­ ner malgré lui. »Leben« sollte in den Jahrzehnten um die Jahrhundert­ wende zu einem philosophischen Schlüsselbegriff werden. Da­ bei ist Nietzsche die Schaltstelle, über die Schopenhauer in die Lebensphilosophie transportiert wurde. Schopenhauers Wille wird als eine die rationale Welterfahrung übersteigende Tiefen­­wirklichkeit übernommen, aber wie bei Nietzsche d ­ urchgehend positiv bewertet. Auch wenn unterschiedliche Begrifflichkei­ ten gewählt werden – wie élan vital bei Bergson – Schopenhau­ ers »Wille« schwebt über den lebensphilosophischen Wassern. Bei Henri Bergson (1859–1941), dem auf europäischer Ebe­ ­ne einflussreichsten Lebensphilosophen überhaupt, ist dies ganz offensichtlich  – obwohl gerade in seinem Fall darüber gestritten wird, ob es sich dabei wirklich um einen ›Einfluss‹ Schopenhauers handelt. Es ist dies aber eine eher akademi­ sche Diskussion, die noch Spuren aus jener Zeit trägt, in der Bergson seine Hauptwerke publizierte. Es handelt sich um die Jahrzehnte vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in denen der

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deutsch-französische Gegensatz sich bis in die kulturellen Dis­ kussionen hinein auswirkte. Auf den von deutscher Seite erho­ benen Vorwurf, Bergson sei lediglich ein Plagiator Schopen­ hauers, reagierte die französische Seite mit der These der völli­ gen Unabhängigkeit Bergsons von Schopenhauer. Beides kann in das Reich der nationalistischen Mythenbildung verwiesen werden. Bergson bewegt sich in genau jenen denkerischen Bahnen, die Schopenhauer geöffnet hat. In jedem Fall hat Bergson, nach eigener Aussage, Schopen­ hauer gründlich gelesen, und die Ansätze seiner ­Weltdeutung sind denen Schopenhauers ganz offensichtlich verwandt. Berg­­sons zentraler Begriff, der élan vital, ist wie der Wille ein die Rationalität übersteigendes universales Lebensprinzip. Wie Schopenhauer kehrt auch Bergson das Verhältnis zwischen Wille/Trieb einerseits und Intellekt um : Es ist der Wille und nicht die Vernunft, der das Wesen der Welt und den Wesens­ kern des Menschen ausmacht. Die ›gedachte‹ und rational er­ fasste Welt, einschließlich unserer Vorstellung von Raum und Zeit, ist eine Oberflächenwelt, eine Welt zweiter Ordnung. Der élan vital strebt, wie Schopenhauers Wille, unaufhörlich, er produziert immer mehr Leben und er findet nie ein Ende. Die Welt ist kein statisch ausbalanciertes Gebäude. Sie ist ein Pro­ zess. Wie Schopenhauer wendet sich Bergson gegen Versuche, diesen Prozess des Lebens als rational gesteuert, als zweckge­ bunden oder zielgerichtet zu begreifen und wie dieser nimmt er von jeder Art mechanistischer Naturdeutung Abschied. Die Frage, ob Bergson die Schopenhauersche Fracht be­ wusst transportiert hat, ist eher zweitrangig. Die Revolution jedenfalls, die Schopenhauers Philosophie für die westliche Philosophietradition bedeutet, ist von Bergson nicht revidiert, sondern fortgesetzt worden. Nicht nur das Erbe des platoni­ schen Denkens, das in der Vernunftwirklichkeit der ewigen Ideen die wahre Wirklichkeit sah, wird hier, wie bei Schopen­ hauer, über Bord geworfen, sondern auch die von Hegel in die

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Welt gesetzte Deutung eines die Geschichte durchwirkenden Vernunftgesetzes. Allerdings bleiben zwei wichtige Unterschiede zwischen beiden Denkern bestehen : Bergsons élan vital ist eine evolutio­ när wirkende Kraft, die immer neue Arten und Gattungen in der Natur hervorbringt, während Schopenhauer sich dem Ge­ danken einer Evolution nur zögerlich öffnete und in den Gat­ tungen noch Ausdruck platonischer Ideen sah. Der zweite und wichtigste Unterschied ist aber natürlich der, dass Berg­ son, wie Nietzsche, dem Pessimismus abgeschworen hat : Er sieht im élan vital eine positiv wirkende Lebenskraft, die wir nicht verneinen, sondern der wir uns öffnen sollen. Bergson schließt sich der Schopenhauerschen Weltsicht an, ohne die Wertung Schopenhauers zu übernehmen. Bergson ist, obwohl seine Rezeption vor allem in Deutsch­ land hinter derjenigen Nietzsches zurücksteht, keine philoso­ phische ›Laufkundschaft‹. Er gehört vielmehr zu jenen philo­ sophischen Klassikern der Moderne, die in die gesamte kul­ turelle Landschaft, insbesondere in die Literatur und Kunst, hineingewirkt haben. Auch über Bergson hat also Schopenhau­ erscher Geist an den ästhetischen Revolutionen der Moderne mitgewirkt. Auf europäischer Ebene bleibt Bergson der für die Schopen­ hauer-Rezeption wichtigste Lebensphilosoph. Für die lebens­ philosophische Rezeption Schopenhauers in Deutschland steht dagegen Georg Simmel (1858–1918) im Zentrum. S­ immel er­ kannte die mit der Schopenhauerschen Weltdeutung verbun­ dene Revolution der philosophischen »Denkungsart«  – wie Kant sich ausgedrückt hätte – sehr früh. Für ihn gehört Scho­ penhauer zu den »großen philosophischen Schöpfern, zu den Entdeckern einer neuen Möglichkeit, das Dasein zu deuten.« Es ist die Deutung der Welt als eines dynamischen Lebenspro­ zesses. Bereits 1906 erschien Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vor­ tragzyklus, in dem Simmel sich mit der geistesgeschichtlichen

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Bedeutung beider Denker auseinandersetzt. Er hält zwar Scho­ penhauer für den bedeutenderen Philosophen, in der Wertung des Lebensprozesses steht er jedoch mehr auf Seiten Nietz­ sches, der über Darwin den Gedanken der Entwicklung aufge­ nommen habe. Auch Simmel sieht in der Entwicklung, in dem »Immer mehr« des Lebens etwas Positives, die Möglichkeit der Selbsterhebung und die Erweiterung der Wirklichkeitserfah­ rung. Dass Schopenhauer auf die Tätigkeit des Willens sozu­ sagen den Deckel draufmachen, d. h. diese Tätigkeit zum Still­ stand bringen wollte, ist eine für ihn grundfalsche Konsequenz. Diese unterschiedliche Haltung zum »Leben« wirkt sich auch auf die Kunstbetrachtung aus. Beide, Schopenhauer und Simmel, haben eine enges und intensives Verhältnis zur Kunst und beide sehen in ihr eine ganz besondere Form des Wirklich­ keitszugangs, in dem der Lebensstrom quasi stillgestellt und kontemplativ zur Anschauung gebracht werden kann. Wäh­ rend Schopenhauer aber in der ästhetischen Wahrnehmung eine Form der Abkehr vom Willen, eine temporäre Form der Willensverneinung sieht, ist sie für Simmel die Möglichkeit, das Leben sozusagen aus dem Lebensstrom herauszuschnei­ den und exemplarisch als Ganzes zu erfassen. Simmel hat, wie Nietzsche und Bergson, vom Schopenhauerschen Pessimis­ mus gänzlich Abschied genommen und sieht in der Kunst eine besondere, erkenntnisfördernde Zuwendung zum Leben. Mit Nietzsche und der Lebensphilosophie war Schopenhau­ ers Willensmetaphysik in Bewegung geraten und die Welt zum schöpferischen Lebensprozess geworden. Aber auch das von Schopenhauer fundamental veränderte Menschenbild begann geistesgeschichtliche Wirkung auszuüben. Auch der Mensch ist für Schopenhauer nichts anderes als eine Ausdrucksform des Willens – eine Erkenntnis, die den gesamten Bereich der Psyche mit ihren unbewussten, triebhaften Dimensionen ins Zentrum der Anthropologie rückt. Schopenhauer hat deshalb Zeit seines Lebens ein brennen­

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des Interesse an psychologischen Fragen gezeigt, ein I­ nteresse, das in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Willens­ metaphysik steht. Er glaubte, dass es Fenster gibt, durch die man, wenn auch nur kurzzeitig, aus der Vorstellungswelt he­ raus auf das metaphysische Wesen der Dinge schauen kann. Und diese Fenster findet man in jenen Räumen, aus denen die Rationalität ausgezogen ist. Schon als Berliner Student besuchte er psychisch Kranke. Er interessierte sich für parapsychologische Phänomene und für jene Zustände, in denen die Vernunft schläft. In seinem be­ rühmten Aufsatz »Über das Geistersehn« beschäftigt er sich ausführlich mit dem Traum und der Art und Weise, wie Gesetze der Vorstellungswelt hier außer Kraft gesetzt werden. Scho­ penhauer hat, vor Nietzsche und Freud, die ­metaphysische Be­ deutung der Psychologie neu entdeckt. Das hat auch den psychologischen Blick selbst verändert. Wenn es uns heute selbstverständlich erscheint, psychische Probleme nicht als Probleme des Denkens, sondern als etwas wahrzunehmen, das mit unserem Unbewussten, mit verdräng­ ten Erfahrungen und Wünschen, kurz : mit einer Wirklichkeit zu tun hat, die jenseits unserer bewussten Erkenntnis liegt, so liegt das an einer im Schopenhauerschen Geiste vollzogenen Revolution der Psychologie, die vor allem mit dem Namen der Psychoanalyse verbunden ist. Die Psychoanalyse, die gleichzeitig mit der Lebensphiloso­ phie auf die Bühne des europäischen Geistes trat, bewegt sich von Anfang an ganz in den Bahnen, die von Schopenhauer und Nietzsche vorgezeichnet wurden. Sigmund Freud (1856–1939) kann als derjenige betrachtet werden, der in das Haus der Scho­ penhauerschen Anthropologie einzog und es möblier­­te. Scho­ penhauer hat die Tür zum Unbewussten geöffnet, ­während Freud, wie Günter Gödde formuliert, »auf der Basis umfang­ reicher klinischer Erfahrungen eine eigenständige und syste­ matisierte Psychologie des Unbewussten entwickelt hat.«

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Doch wie im Falle Bergsons ist die Frage eines direkten »Einflusses« bis heute nicht abschließend geklärt. Freud, ein hoch gebildeter und umfassend belesener Mann, hat immer behauptet, Schopenhauer vor 1919 nicht gelesen zu haben, zu einem Zeitpunkt also, wo einige seiner wichtigsten Werke be­ reits erschienen waren. Man wird dies nicht widerlegen kön­ nen. Spuren Schopenhauers gibt es jedoch, wie vor allem Günter Gödde in seinen Arbeiten zu diesem Thema nachgewiesen hat, in allen Phasen des Freudschen Werks, wenn auch nicht im­ mer sicher nachweisbar ist, ob sie aus Primär- oder Sekundär­ quellen stammen. Schon in den vor 1919 publizierten Werken ist Freuds Nähe zu Schopenhauer deutlich erkennbar. Wenn der Mensch in seinem Wesen Wille, also Triebwesen ist, dann ist der Kern seines Wesens nicht rational, sondern unbewusst. Bereits in seiner Traumdeutung von 1900 bezeichnet Freud das Unbewusste entsprechend als »das real Psychische«. Wie bei Schopenhauer ist die Sexualität der Motor dieses Psychischen, und wie bei diesem sieht auch Freud im menschlichen Leben eine unbewusste Determiniertheit am Werk. Schopenhauers These, dass der Trieb der Herr im psychi­ schen Haus ist und dem Intellekt die Rolle des Knechts ver­ bleibt, wird von Freud übernommen. So zeigt die Einführung der Instanzen des psychischen Apparats in Form des Struktur­ modells »Ich, Über-Ich, Es« in den beiden Instanzen des »Ich« und »Es« auffallende Gemeinsamkeiten mit der Beziehung von Intellekt und Wille bei Schopenhauer. Das »Es« ist wie Scho­ penhauers »Wille« das anthropologisch Tiefere und Ursprüng­ lichere und auch für den Prozess des Nicht-Wahrnehmen-Wol­ lens verantwortlich, den Freud Verdrängung nennt. Am Beispiel der Kulturtheorie und Religionskritik wird deut­ lich, dass Freud in einem noch umfassenderen Sinne Schopen­ hauer verpflichtet ist als Nietzsche oder die Lebensphilo­sophie. Freud ist wie Schopenhauer ein Atheist, der aber in der Re­

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ligion das metaphysische Bedürfnis der Menschen anerkennt. Und in seiner Kulturphilosophie schließt er sich Schopen­ hauer an, indem er dem Lustprinzip Grenzen setzen und damit das Triebleben unter Kontrolle halten will. Kunst und Kultur sind wie bei Schopenhauer Möglichkeiten, die Leidenserfah­ rung durch Ausschaltung des Triebfaktors in positive Glücks­ momente umzuwandeln. Aus der Vogelperspektive der Geistesgeschichte ragt Freud als der bedeutendste Kopf im Geist Schopenhauers hervor, ob er dies sich selbst zugestehen mochte oder nicht. Aber Scho­ penhauersches Gedankengut hat sich auch dort ­ausgebreitet, wo man es kaum suchen würde und wo der Name ›Schopenhau­ ­er‹ eher ein Fremdwort geblieben ist. So vermutet man auf dem Feld der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts keine Spuren der Schopenhauerschen Willensmetaphysik. Und doch hat sich Schopenhauer in die Sakristei der analytischen Meta­ physikkritik eingeschlichen : in das Werk Ludwig Wittgen­ steins (1889–1951). Zu besichtigen ist dies in Wittgensteins frühem Tractatus Logico-Philosophicus (1921), der als Programm- und Gründungs­ schrift des Logischen Positivismus gelesen wurde  – ein kno­ chentrockener, in nummerierte Thesen und Unterthesen ein­ geteilter Text, dessen Sätze wie Hagelschläge auf das Hirn des Lesers einprasseln. Wer würde unter der spiegelglatten Mee­ resoberfläche dieses von allen metaphysischen Unschärfen ge­ reinigten Textes metaphysische Wucherungen im Geist Scho­ penhauers vermuten ? Wittgenstein vertritt im Tractatus die sogenannte »Bildtheo­ rie« der Sprache : Die logische Struktur der Sätze bildet die Be­ ziehung von Objekten in der Wirklichkeit ab. Was wir »Welt« nennen, erfahren wir nur über Sprache : »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« – Und : »Die Lo­ gik erfüllt die Welt ; die Grenzen der Welt sind auch ihre Gren­ zen.« So weit, so analytisch.

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Doch auf den letzten Seiten des Tractatus entpuppt sich Wittgenstein als ein zutiefst metaphysisch infizierter Mensch, für den die eigentlich wichtigen Fragen die nach dem »Sinn der Welt«, nach der Bedeutung des Todes und nach der Möglich­ keit von Glück sind. Offenbar hat Wittgenstein nur die G ­ renzen unserer erkennbaren Welt abgesteckt, um sein ­eigentliches In­ teresse an dem zu offenbaren, was er nur außerhalb dieser Grenzen finden kann : »Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen.« Und : »Die Lösung des Rätsels in Raum und Zeit liegt außerhalb von Raum und Zeit.« Dabei hat der Sinnbegriff für Wittgenstein eine ethische Färbung : Mit dem Sinn der Welt ist ihr Wert verbunden. Die Welt hat eine moralische Qualität, deren Ursprung und Ziel nicht in der Welt selbst liegen. Entsprechend ist die Ethik – in Wittgensteins Worten »transcendental«  – und die Sinnfrage innerhalb der Grenzen von Sprache und Logik nicht zu lösen : »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schwei­ gen.« Wittgensteins Tractatus endet in Mystik. Wer sieht hier nicht den Schopenhauerschen Geist heftig winken, zumal bekanntermaßen Wittgenstein ein aufmerksa­ mer Schopenhauer-Leser war ? Auch Schopenhauers Philoso­ phie zielt auf die mystische Weltüberwindung im Nichts, und auch für ihn hat die Welt eine moralische Bedeutung, die außer­ halb der uns erkenntnismäßig zugänglichen Welt liegt. Doch während Schopenhauer diese Themen vielfach metaphorisch umschreibt, setzt Wittgenstein hier ein mystisches Schweigen. Dabei kommt Schopenhauer nicht nur dort ins Spiel, wo Wittgenstein vom ›Transzendenten‹, vom außerweltlichen Sinn der Welt spricht. Er ist auch schon in der Struktur der Witt­ gensteinschen Argumentation präsent, in der Abgrenzung zwi­ schen der durch Sprache vermittelten Welt und dem Bereich des Transzendenten, in dem Wittgenstein die »Lösung des Rätsels der Welt« zu finden glaubt. Erstere entspricht in ihrem Status genau der über Raum, Zeit und Kausalität vermittelten Welt der

Der Künstlerphilosoph Es ist bemerkenswert, dass Schopenhauer, der in den öffent­ lichen Weltanschauungsdiskursen kaum eine Rolle gespielt hat, in den Kreativabteilungen der europäischen Moderne zu einem inspirierenden Faktor wurde. Dies gilt in besonderem Maße für die Kunst. So ist es nicht übertrieben, wenn man be­ hauptet, dass Schopenhauer derjenige war, der Philosophie und Kunst wieder miteinander versöhnt hat. Über Jahrhun­ derte führte sich die Philosophie gegenüber der Kunst wie ein Erziehungsberechtigter auf, der die Kunst herablassend bei ihrer ästhetischen Sandkastenspielerei beobachtet. Die klassi­ sche, rationalistisch orientierte Philosophie hat die Kunst wie ein Kind behandelt, das noch nicht reif genug ist, zur höheren, sprich begrifflichen Erkenntnis der Wirklichkeit zu gelangen. Man erinnere sich an Platon, für den Kunst eine Wirklichkeits­ erkenntnis dritter Ordnung war : nämlich die Darstellung der Wahrnehmungswelt, die selbst wiederum nur ein Abklatsch der wahren Welt der Ideen war. Platons rationalistische Kunst­ auffassung setzt sich bis zu Hegel fort, für den der »absolute Geist«, wie er in seiner Enzyklopädie schreibt, nicht in der »Ein­

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Vorstellung bei Schopenhauer. Letzteres entspricht der Scho­ penhauerschen Welt als Willen. Wittgenstein hat die Schopen­ hauersche Zwei-Weltentheorie in anderer Verpackung, aber mit ganz ähnlichen Merkmalen übernommen : einer rational zu­ gänglichen Welt – die Welt unserer Alltagswahrnehmung und die der Wissenschaft zugängliche Welt  – steht eine sinnkon­ stituierende Tiefenwirklichkeit gegenüber. Auch Wittgensteins Tractatus hat einen Schopenhauerschen Untergrund. Wo wir zwei unterschiedliche philosophische Welten vermuteten, finden wir zwei philosophisch verwandte Geister.

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zelheit der Gestalten« expliziert werden kann. Kunst repräsen­ tiert für Hegel ein noch »an Sinnlichkeit gebundenes«  – und damit noch nicht in der reinen begrifflichen Form angekom­ menes Wissen. Und auch beim Hegel-Schüler Marx, der die ontologischen Wertungen umkehrte und die materiellen ge­ sellschaftlichen Bedingungen an die Spitze der Wirklichkeits­ hierarchie setzte, bekam die Kunst lediglich einen Fahrschein zweiter Klasse : Sie blieb ein Überbauphänomen, das die wahre Wirklichkeit nur in gebrochener Form spiegelte. Wie anders doch Schopenhauer. Denn bei ihm vermag die Kunst etwas Einzigartiges, etwas, was der Begriff gerade nicht leisten konnte : den direkten Blick ins Wesen der Welt. Die Kunst verlässt das abstrakte Denken, gibt sich ganz der An­ schauung hin und versenkt sich in der Kontemplation einer reinen, vom Willen unabhängigen Gegenständlichkeit. Da­ bei wird der Kunstbetrachter selbst zum »reinen, willenlosen, schmerzlosen, zeitlosen Subjekt der Erkenntnis«. Die Dinge erscheinen als das, was sie in ihrem, von ihren individuellen Besonderheiten freien Wesenskern sind. Kunst als privilegier­ ter Weltzugang : Das kam bei den Kunstschaffenden gut an und machte Schopenhauer zum philosophischen Darling der Künstlerszene. Dazu kam, dass das Werk Schopenhauers selbst ästhetischen Ansprüchen in jeder Weise entgegenkam : Scho­ penhauer war ein glänzender Stilist und wurde auch als Pro­ saschriftsteller gewürdigt. Für Thomas Mann blieb Schopen­ hauers Philosophie die »Künstlerphilosophie par excellence«. Dabei nahm sein Einfluss ganz unterschiedliche Formen an : In der Literatur nahm man seinen Pessimismus auf, aber auch seine metaphysische Auseinandersetzung mit den großen Sinnfragen ; in der bildenden Kunst faszinierte Schopenhauers Hinweis auf eine nicht-rationale Tiefenwirklichkeit, die man ins Bild zu setzen suchte. Aber gerade diese These von einer untergründigen, nicht raum-, zeit-, oder kausalitätsgebunde­ nen Wirklichkeit, die philosophisch u. a. von Nietzsche und

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Bergson weitertransportiert wurde, hatte viel weiterreichende Folgen : Sie beförderte die ästhetische Revolution der Moderne. In der Literatur geschah dies im sogenannten ›Bewusst­ seinsroman‹, der die lineare, kausal verknüpfte Handlungs­ struktur auflöste und einen assoziativen Bewusstseinsstrom (stream of consciousness) in Szene setzte. Autoren wie James Joyce und Virginia Woolf im englischsprachigen Raum, Marcel Proust in Frankreich oder Alfred Döblin in Deutschland tauch­ ten, inspiriert von der Idee einer alternativen Zeit- und Wirk­ lichkeitsauffassung, in die Untergründe der Bewusstseins­ wirklichkeit ein und versuchten sie zu gestalten. Analoge Revolutionen fanden in der bildenden Kunst und in der Musik statt. Wenn in der ästhetischen Betrachtung, wie bei Schopenhauer, das betrachtete Objekt in seiner Individua­ lität aufgelöst und in reine Objektivität überführt wird, kann dies künstlerisch zu einer Gestaltungsidee werden, die von der Darstellung einzelner Gegenstände ganz absieht. Genau dies geschah, u. a. in den Bildern von Kasimir Malewitsch (1878– 1935) oder Piet Mondrian (1872–1944). Die nicht gegenständli­ che, ›abstrakt‹ genannte Kunst lenkt den Blick von einer indi­ vidualisierten Welt der Dinge weg hin zu einer Kontemplation von Gegenständlichkeit überhaupt. Sehr viel mehr als seine Künstlerkollegen musste sich der schopenhauerlesende Komponist in der Rolle des privilegier­ ten ›Weltdurchblickers‹ sehen. Denn Musik war für Schopen­ hauer nicht irgendeine Kunst, sondern jenes ästhetische Me­ dium, das den Willen selbst zur Darstellung bringt. Die Schale der Vorstellungswelt sprengen : Das bedeutete für die musika­ lische Moderne, für die sich spätestens seit Adorno der Begriff ›Neue Musik‹ eingebürgert hat, den Abschied von traditionel­ ler Harmonik und Melodik. Von Arnold Schönberg (1874–1951) bis Helmut Lachenmann (geb. 1935) : Die atonale Musik hat die Hörgewohnheiten radikal in Frage gestellt, wobei den meisten zeitgenössischen Komponisten gar nicht bewusst sein dürfte,

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dass ihre Auseinandersetzung mit Zeit- und auch Raumstruk­ turen (z. B. in Videoinstallationen) ihren Ursprung in jenen kul­ turellen Bewusstseinsveränderungen haben, die von Schopen­ hauers Philosophie ihren Ausgang nahmen. Im Werk eines der Klassiker der Neuen Musik, Bernd Alois Zimmermann (1918– 1970), hat diese Auseinandersetzung jedoch einen explizit phi­ losophischen Hintergrund. Seine Vorstellung einer »Erlebnis­ zeit« im Unterschied zur physikalischen Zeitdauer knüpft un­ mittelbar an Bergson an, während er mit der These der wahren »Kugelgestalt der Zeit« genau jenes Zusammenfallen von Ver­ gangenheit, Gegenwart und Zukunft bezeichnet, das Schopen­ hauer hinter der Vorstellungswelt vermutet : »Das Zugleichseyn vieler Zustände aber macht eigentlich das Wesen der Wirklich­ keit aus«, schreibt Schopenhauer entsprechend im ersten Band der Welt als Wille und Vorstellung. Wobei selbstredend der revolutionäre Denker Schopenhau­ ­er vor der revolutionären Neuen Musik die Flucht ­ergriffen hät­ ­te. Das innovative Potential seines Denkens konnte er selbst kaum in seiner zukünftigen Wirkung überblicken. Schopen­ hauer war ein eher konservativer Musikhörer, der an ­Rossini festhielt und schon mit Wagner nicht mehr viel anfangen konn­ ­te. Und doch war er es, der mit seiner Philosophie den ästheti­ schen Revolutionen am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahr­ hunderts die theoretische Vorlage gegeben hat. Schopenhauer, von den selbst ernannten Gralshütern des Fortschritts immer als Reaktionär gebrandmarkt, ist in Wahrheit einer der großen Inspiratoren der Moderne. Man konnte ihn auch auf viel direktere Weise rezipieren und sogar ins Bild setzen. Schopenhauer war im Alter zu einem be­ kannten Frankfurter Original geworden und seine täglichen Spaziergänge mit Pudel gehörten zur Stadtfolklore. Es war ein Motiv, dem viele Karikaturisten nicht widerstehen k­ onnten. So Wilhelm Busch in seiner erwähnten Bleistiftzeichnung, aber auch Jakob Ettling in seinem Holzschnitt aus dem Jahr 1888,

Da nun aber der Rat sofort nach links fuhr, standen beide wieder voreinander, und der Alte mit dem Pudel grunzte um ein bedeutendes grimmiger und sprach dazu leise ein

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oder, in jüngerer Zeit, Nikolaus Heidelbach, der in seiner Co­ ver-Version des Buschschen Bildes den Pudel durch einen spre­ chenden Raben ersetzt. Immer wieder hat man Schopenhauer auf diese Art etwas klein gemacht, immer wieder hat man ihn in die Rolle der nicht integrierbaren Randfigur gescho­ ben. »Schopenhauer ist als grob und unzugänglich verrufen«, schrieb Friedrich Hebbel (1813–1863), einer der ersten literari­ schen Verehrer Schopenhauers. In Wilhelm Raabes (1831–1910) 1875, 15  Jahre nach Scho­ penhauers Tod, erschienener Erzählung Eulenpfingsten, die in Frankfurt angesiedelt ist, begegnet einer der Hauptfiguren, der Legationsrat Alexius von Nebelung, auf einem Spaziergang auf der südlichen Mainseite einem »klaräugigen Alten«, den er »zu gut vom Lesezimmer des Kasinos und der Table d’hôte im Eng­ lischen Hof her« kannte, den er aber, wohl aus ehrfürchtiger Zurückhaltung, nicht anzusprechen wagt : »Dieser die Straße herabschreitende Spaziergänger war ein alter, frischer Herr mit weißem Backenbart, weißer Halsbinde, im Frack und beglei­ tet von einem braunen Pudel. Er trug gleichfalls ein spanisch Rohr mit einem Goldknopf«. Man erkennt ihn sofort : Der un­ genannt bleibende Spaziergänger alias Arthur Schopenhauer war eine ebenso belächelte wie gefürchtete Zelebrität, die, im Stile des Empire gekleidet, jeden Mittag im Englischen Hof am Roßmarkt zu speisen pflegte, um sich nachmittags zur Lek­ türe in den wenige Schritte davon entfernten Lesesaal der Ca­ sino-Gesellschaft zu begeben, deren Mitglied er war. Beide, der Legationsrat und der Philosoph, haben Pro­bleme ­ ­einander auszuweichen und es kommt zu einer etwas unglück­ lichen, von gepressten Höflichkeitsbekundungen begleiteten Begegnung :

englisches Wort. Mit einer deutschen Entschuldigung ­ z­ og der Legationsrat den Hut, und der Alte, seinem Grund­­satze »Give the world its due in bows« nach, hob mit ­wütendster Höflichkeit den seinigen gleichfalls von der breiten Stirn, schritt kurz und schnell weiter dem zorn­ wütigen Sachsenhausen zu und schnurrte das Wort »­Bipes !«, indem er wie zu seiner Selbstberuhigung und ­Besänftigung hinzufügte : »Die Klötze werden es nicht ­lernen, nach rechts auszuweichen !« [Raabe 1955, S. 39]

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Raabes Kurzporträt vermeidet die Karikatur und ist durch­ aus realistisch : Der immer etwas unwirsch wirkende Schopen­ hauer war dafür bekannt, dass er englische Redewendungen und englische Gesprächspartner bevorzugte, aber auch dafür, dass er nicht geneigt war, sich sozialen Verbindlichkeiten hin­ zugeben, auch wenn sie nichts kosteten. Er schuldete der Welt nichts und ließ es sie auch spüren. Wilhelm Raabe hat es nicht bei dem literarischen Porträt be­ lassen. Er war ein intensiver und aufmerksamer Schopenhau­ er-Leser und sein gesamtes Spätwerk ist in einem d ­ oppelten Sinne von Schopenhauerschem Geist geprägt : »Wilhelm Raabe beschreitet einen willensmetaphysischen Sonderweg durch die Landschaft des Realismus«, schreibt Søren R. Fauth in sei­ ner umfangreichen Studie über Raabes Schopenhauer-Rezep­ tion, die sowohl die formalen Brechungen als auch die pes­ simistische Grundierung der Raabeschen Texte untersucht. Denn auch Raabe, lange als Biedermeier-Autor unterschätzt, hat in späten Erzählungen wie Höxter und Corvey und Das Odfeld die Erzählebenen vermischt und die lineare Erzählstruktur sys­ tematisch unterlaufen. Raabes sperriges Spätwerk gehört zur Frühmoderne, in dem es den Rahmen der Erscheinungswelt, Raum, Zeit und Kausalität, immer wieder durchbricht. Aber auch Raabes Themen greifen immer wieder Schopen­ hauersche Motive auf. In einer seiner letzten Erzählungen, Al­

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tershausen, macht sich die Hauptfigur, Fritz Feyerabend, auf, die »dumme Verkleidung durch Zeit und Raum« abzuwerfen und seine Ich-zentrierte Weltsicht zu überwinden. Die Welt als Schlachtfeld und Bühne des Leidens ist Thema in Das Odfeld und auch im Roman Der Schüdderump zeichnet Raabe die Welt ganz mit der Feder des Schopenhauerschen Pessimismus : Das Erscheinen des »Schüdderumps«, eines Karrens zum Trans­ port Pestkranker aus dem 17.  Jahrhundert, leitet ein Hand­ lungsgefüge ein, in dem alle Fäden zu Tod und Unglück führen. Raabe ist nicht der einzige deutsche Autor, der von Scho­ penhauers pechschwarzem Pessimismus geprägt wurde. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ragen hier vor allem zwei Autoren hervor : Arno Schmidt (1914–1979) und Thomas Bern­ hard (1931–1989). Schmidt blieb zeit seines Lebens ein Anhän­ ger des Schopenhauerschen Menschen- und Weltbilds : »Mit 16 ARTHUR SCHOPENHAUER«, schrieb er in einem Essay über Jules Verne, »ein ausgesprochener Mann, dessen gewaltige Ehr­ lichkeit & bullige Wucht mich auf ewig für NIETZSCHE ver­ dorben haben.« So stellt er sich in seiner frühen, in den letz­ ten Kriegstagen spielenden Erzählung Leviathan oder Die beste der Welten ganz auf die Seite der Schopenhauerschen Kritik am Optimismus à la Leibniz. Die Schilderung einer Flucht vor dem Kriegsgeschehen ist durchsetzt mit Schopenhauer-Zitaten und der Erfahrung einer aus den Fugen geratenen Welt, die vom »Gesamtwillen des Leviathan« beherrscht wird. Auch bei Thomas Bernhard, ebenfalls ein großer weltkriti­ scher Grantler, irrlichtert Schopenhauers Pessimismus durch das Erzählwerk, ganz besonders in seinem letzten Roman Alte Meister, wo sich die Hauptfigur Reger an Schopenhauer wen­ det, um sich über die Leidenserfahrung des Lebens hinweg­ zutrösten und in eine erneuerte geistige Existenz zu gelangen. Gleichzeitig benutzt Bernhard Schopenhauer in seinen späten Texten als Gewährsmann seiner vernunftkritischen philoso­ phisch-literarischen Zeitdiagnose.

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Thomas Mann (1875–1955) spielt, was die Rezeption Scho­ penhauers im deutschsprachigen Raum angeht, eine absolute Sonderrolle. Schopenhauer wurde für ihn, neben Nietzsche, zur wichtigsten philosophischen Lektüre, die ihn über die Dauer seines gesamten Werks hin begleitete. Für keinen ande­ ren deutschsprachigen Autor war Schopenhauer eine so ent­ scheidende und prägende geistige Erfahrung und gleichzeitig ein immer präsenter geistiger Bezugspunkt. Für Mann blieb Schopenhauer lebenslang »ein ganz großer Schriftsteller […], ein Schöngeist und Sprachmeister von umfassendsten literari­ schen Wirkungsmöglichkeiten, ein europäischer Prosaist, wie es deren vorher unter Deutschen vielleicht zwei, drei und kei­ neswegs unter deutschen Philosophen gegeben hatte«. Thomas Mann lernte Schopenhauer im Fin de siècle kennen, einer Zeit, als dieser als Philosoph des Weltschmerzes und an­ gesagter Modephilosoph galt. Schopenhauer war Schwermuts­ musik in Form von Philosophie. In den Betrachtungen eines Un­ politischen (1918) schildert er seine erste Begegnung mit dem Werk als ein philosophisches Initiationserlebnis : Das kleine, hochgelegene Vorstadtzimmer schwebt mir vor Augen, worin ich, es sind sechzehn Jahre, tagelang hin­­gestreckt auf ein sonderbar geformtes Langfauteuil oder ­Kanapee, »Die Welt als Wille und Vorstellung« las. Einsamunregelmäßige, welt- und todsüchtige Jugend – wie sie den Zaubertrank dieser Metaphysik schlürfte […] So liest man nur einmal. Das kommt nicht wieder. ­ ­[Mann 2009, S. 79] Den Eindruck der Lektüre verarbeitete Mann gleich in seinem ersten Roman Buddenbrooks (1900), wo der Senator Thomas Buddenbrook auf Schopenhauers Essay »Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens an sich« stößt und ihn zu Reflexionen über den Sinn des Todes anregt.

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Doch Schopenhauer wurde für Mann weit mehr als philoso­ phische Untermalung von Todessehnsucht und Weltschmerz. Schopenhauer prägte seine Weltsicht und floss motivisch und strukturbildend in sein Werk ein. Dass die Welt einen dunklen, triebbestimmten Untergrund hat, die die zivilisatorische Fas­ sade jederzeit untergraben kann, dass »natürliche« Neigungen sich gegen normative Ansprüche durchsetzen, wird z. B. in der Novelle Tod in Venedig, aber auch in der Roman-Tetralogie Joseph und seine Brüder behandelt. Im Zauberberg wiederum wird die Re­ lativität der Zeit, ihre Beschleunigung und ihr Eintauchen in eine »Ewigkeitszeit« zu einem beherrschenden Thema. Scho­ penhauers Gegensatz zwischen »Vorstellung« und »Wille« ist hier überall präsent. Doch Mann setzte sich nicht nur erzählerisch, sondern auch essayistisch mit Schopenhauer auseinander. Sein 1938 erschie­ nener Schopenhauer-Essay geht weit über die ursprünglich schwärmerische Schopenhauer-Verehrung hinaus und zeich­ net sich durch eine Verbindung von scharfsinniger Charakte­ ristik, positiver Würdigung, aber auch durch einen distanziert kritischen Blick aus. Mann sieht sehr genau die Janusköpfig­ keit Schopenhauers, »ein sowohl mystischer wie auch äußerst moderner und mit Naturwissenschaft genährter Geist«, eine Mischung aus Böhme und Voltaire, aus Mystik und Aufklärung, der Meditation mit analytischer und rationaler Klarsicht ver­ bindet. Er erkennt in ihm aber auch ein Beispiel einer eher ver­ hängnisvollen deutschen Tradition, eines »apolitisch-antipoli­ tischen« Konservatismus, der sich um die Verbesserung der Welt nicht kümmert, weil er auf »Erlösung« und nicht auf »Be­ freiung« aus ist. In der Tat ist politisches Denken bei Schopen­ hauer nicht zufällig abwesend. »Wie sollte ein Denken, für das die Freiheit jenseits der Erscheinung liegt, mit der Idee politi­ scher Freiheit viel anzufangen wissen ?«, fragt Mann zu Recht. Schopenhauers »Fremdheit gegen jeden demokratischen Prag­

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matismus« hat, wie Mann in der Zeit des Nationalsozialismus erfahren musste, eine eher negative Wirkung auf das deutsche Bildungsbürgertum ausgeübt und ist symptomatisch für eine kulturelle Mentalität, die weder dem wilhelminischen Obrig­ keitsstaat noch dem faschistischen Totalitarismus viel ent­ gegenzusetzen hatte. Thomas Mann, in seiner frühen Phase selbst ein »Unpolitischer«, hat dies klar erkannt, und bei kei­ nem anderen literarischen Autor hat die Auseinandersetzung mit Schopenhauer ein solches Niveau erreicht. Wenn man den Panoramablick auf die europäische Litera­ tur richtet, sieht man auch außerhalb des deutschsprachigen Raums Schopenhauer-Rezipienten überall an prominenter Stelle aufragen. In der Literatur war Schopenhauer ein europä­ isches Ereignis. Der Einfluss Schopenhauers zeigt sich auf vie­ len Ebenen : in der pessimistischen Weltsicht, in der Annahme einer Mitleidsethik, aber auch in einer vertieften Realitätsauf­ fassung und einer komplexeren Figurengestaltung, die Leben immer als Leben auf doppeltem Boden begreift. Die Literaten schrieben in dem Bewusstsein, dass unsere Welt von einer tie­ feren, dunklen Realitätsschicht grundiert wird. Es kann hier nur auf einige der Prominentesten unter den Schopenhauer-­ Rezipienten hingewiesen werden. In Skandinavien war es, wie im Falle Nietzsches, der däni­ sche Literaturkritiker Georg Brandes (1842–1927), der mit sei­ nem 1884 erschienenen Schopenhauer-Essay der Schopenhau­ er-Rezeption zum Durchbruch verhalf. Deren prominentestes Beispiel ist August Strindberg (1849–1912). In seinem Traum­ spiel (1902), ein gleichzeitig metaphysisches und zugleich zu­ tiefst pessimistisches Stück, steigt die Tochter des indischen Gottes Indra auf die Erde hinab und erfährt dort die Welt der Menschen, ganz im Geiste Schopenhauers, als eine Welt des Leidens und des Scheiterns : »Jetzt weiß ich«, so eine ihrer letz­ ten Worte, »wie es ist, Mensch zu sein – // dieses immerwäh­ rende Suchen // diese unverständliche Schuld –«. Die Erlebnis­

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sequenzen folgen der Logik des Traums und durchbrechen die Wahrnehmungsbedingungen von Raum, Zeit und Kausalität. Was die Göttertochter erfährt, ist die zeitlose und ewige condi­ tion humaine : Leben selbst ist die Urschuld des Menschen, ein immerwährendes zielloses Streben, das nie erfüllt wird. Visu­ alisiert wird dieses Streben durch die Tür mit dem Luftloch in der Form eines vierblättrigen Kleeblatts, ein kleiner bühnen­ technischer Geniestreich Strindbergs, in dem die menschliche Sehnsucht nach Glücks- und Sinnerfüllung vergegenständlicht wird. Diese Tür bleibt allen Figuren zunächst verschlossen. Als sie sich schließlich am Ende des Stücks öffnen lässt, erscheint dahinter : nichts. Schopenhauers Geist dominiert das gesamte Stück : Menschliches Leben kennt weder Sinn noch Erfüllung, es findet seine Befreiung nur im Nicht-Leben, im Nichts. In Russland nahmen neben vielen anderen Iwan Turgenjew (1818–1883) und Lew Tolstoi (1828–1910) Schopenhauers Philo­ sophie auf. Im Falle Tolstois war diese Aufnahme besonders intensiv, da er sich nicht nur als erzählender Autor, sondern auch als Lebenslehrer mit einer moralischen Botschaft ver­ stand. Für Tolstoi war Schopenhauer der »genialste Mensch« und er übernahm Kernthesen der Schopenhauerschen Ethik für seine eigene Lehre : die Forderung nach Askese, die Über­ windung des principium individuationis und die Identifizierung mit allem Lebenden im Mitleid. Aber auch in der Gestaltung seiner Romanhandlungen und seiner Romanfiguren ist überall der Einfluss Schopenhauers sichtbar : Tolstoi sieht wie Schopenhauer sowohl in der Ge­ schichte als auch im individuellen Leben den irrationalen Le­ benstrieb und nicht die Rationalität am Werk. Tolstois Figuren werden entsprechend durch ihre Haltung zum beherrschen­ den Lebenswillen gezeichnet, in dessen Mittelpunkt, wie bei Schopenhauer, die Sexualität steht. Ein Beispiel dafür ist Anna Karenina. So setzt sich in Anna und Wronski der natürliche Le­ benswille gegen rationale Überlegungen und gesellschaftliche

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Konventionen durch, während Lewin das Mitleidsprinzip und Willensverneinung verkörpert. Die englischsprachige Literatur ist nicht dafür bekannt, dass sie besonders bereitwillig Einflüsse aus der deutschen Meta­ physik aufnimmt. Doch auch hier hat Schopenhauer sichtbare Spuren hinterlassen. Neben George Eliot (1819–1880) und Jo­ seph Conrad (1857–1924) ist es vor allem Thomas Hardy (1840– 1928), dessen pessimistisches Weltbild tief von Schopenhauer geprägt ist. In seinen beiden großen späten Romanen Tess of the d’Urbervilles (1891) und Jude the Obscure (1895) sehen sich die beiden Hauptfiguren, Tess und Jude Fawley, in ein unentrinn­ bares tragisches, von einer fortschreitenden Desillusionierung offen gelegtes Lebensschicksal verstrickt, das der individuellen Entscheidungsfreiheit entzogen ist und für das es nur im Tod Erlösung gibt. Bei Hardy liegt das Problem, wie bei Schopen­ hauer, nicht nur in den Umständen. Es liegt im Leben selbst. Dass der vielleicht pessimistischste Autor der W ­ eltliteratur des 20. Jahrhunderts, Samuel Beckett, von Schopenhauer be­ einflusst wurde, kann kaum verwundern. Beckett studierte Schopenhauer schon Ende der dreißiger Jahre intensiv. ­Bereits in seiner frühen Prosaschrift über Proust benutzt er Schopen­ hauers Ästhetik, um der Kunst den Rang einer metaphysischen Erkenntnisleistung zuzusprechen. Und in seinen Stücken schil­­dert er das Leben als ewigen Kreislauf von Sinnlosigkeiten. Seine Figuren leben in einer Endlosschleife existentieller Ab­ surdität. In Waiting for Godot (1952), Endgame (1957) oder Krapp’s Last Tape (1958) leben die Figuren in einem Kosmos, in dem räumliche und zeitliche Strukturen außer Kraft gesetzt werden und nur noch ein unendliches Rauschen hörbar wird, das der rastlos und um sich selbst kreisenden Tätigkeit des Schopen­ hauerschen Willens abgelauscht ist. Beckett steht exemplarisch für eine ganze Reihe von literari­ schen Nonkonformisten, die, mit Schopenhauer in der Tasche, gegen den Strom des Zeitgeists anschrieben. Darunter André

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Gide (1869–1951), der, wie Schopenhauer, die Oberflächenrea­ lität für eine Illusion hielt : »Schopenhauer und kein anderer ist es«, schrieb er in seinen Tagebüchern, »dem ich meine Einwei­ hung in die Geheimnisse der Philosophie verdan­­ke«. Und sein Landsmann Michel Houellebecq (geb. 1958), der gegen Tabus aus allen politischen Lagern anschreibt, widmete seinem phi­ losophischen Gewährsmann sogar ein Buch. 2017 erschien sein schmales Bändchen In Schopenhauers Gegenwart, eine Sammlung von kommentierten Schopenhauer-Zitaten. Er wolle, so Hou­ ellebecq, »anhand einiger meiner liebsten Stellen aus Die Welt als Wille und Vorstellung zeigen, warum Schopenhauers Geistes­ haltung in meinen Augen noch immer dazu geeignet ist, allen nachfolgenden Philosophen als Vorbild zu dienen«. Auch für Houellebecq spielt der ›Künstlerphilosoph‹ Schopenhauer eine entscheidende Rolle. Schopenhauer liefert ihm die Argumente, mit denen er gegen den kommerziellen und öffentlichkeitsbe­ zogenen Kunstbetrieb zu Felde zieht. Schönheit, so Houelle­ becq mit ausdrücklichem Verweis auf Schopenhauer, sei keine technisch herstellbare Eigenschaft von Gegenständen, sondern eine spezifische Form der Wahrnehmung, nämlich die »ruhige, von aller Reflexion und aller Begierde losgelöste Betrachtung der Dinge der Welt in ihrer Gesamtheit.« Kunst ist eine intui­ tionsgeleitete metaphysische Kontemplation. Genau diese Kunstauffassung steht hinter vielen ästheti­ schen Projekten der Moderne. Es verwundert daher nicht, dass Schopenhauers Einfluss auf die bildenden Künstler der Mo­ derne nicht minder groß ist als der auf die Literaten. Dies gilt vor allem für die Bilder des Symbolismus und Surrealismus, in denen versucht wird, den Wirklichkeitsraum sichtbar zu ma­ chen, der hinter der von Schopenhauer so genannten Vorstel­ lungwelt liegt und nicht mehr dem Satz vom Grunde unterwor­­fen ist. Dazu gehört die Welt der Traumsequenzen, Fabelwesen und verfremdeten Landschaften, wie sie die Bilder von Max Ernst (1891–1976) oder Salvador Dali (1904–1989) bevölkern.

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Darüber hinaus gibt es unter den Künstlern der Moderne einige, die in ihren Werken in unmittelbarer Weise an ihre Schopenhauer-Lektüre anknüpfen. Dazu gehören Max Klinger (1857–1920), Max Beckmann (1884–1950) und Giorgio de Chi­ rico (1888–1978). In den Bildern Klingers und Beckmanns ist es vor allem der von Schopenhauer im Rahmen seiner Wil­ lensmetaphysik behandelte Zusammenhang zwischen Leben, Liebe und Tod, der die bildlichen Konzeptionen bestimmt. Klinger besaß seit 1883 eine Ausgabe der Schopenhauerschen Werke und hat insbesondere die Parerga und Paralipomena als sein »tägliches literarisches Futter« bezeichnet. In graphischen Zyk­ len wie Eine Liebe, Vom Tode und Vom Tode II werden immer wie­ der Sexualität als Ausdruck der Verstrickung in das Wirken des irrationalen Willens, und der Tod als Erlösung von dieser Ver­ strickung thematisiert. Auf Blatt 6 des Zyklus Eine Liebe, betitelt mit »Intermezzo«, sieht sich ein nacktes Paar nach dem Koitus der Gestalt des Teufels gegenüber. Wie Thomas Röske zurecht demonstriert hat, kann man hier kaum vermeiden, den Bezug zu den in den Parerga enthaltenen »Nachträgen zur Lehre von der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben« herzu­ stellen, in denen Schopenhauer den »Generationsakt« als ein vom Willen orchestriertes Gattungsgeschehen beschreibt, des­ sen Instrument das Individuum ist. Was wir individuell erle­ ben, ist, bildlich gesprochen, in Wahrheit das Spiel des Teu­ fels : »Es könnte uns jedoch auch bedünken, der Teufel habe nur sein Spiel dabei verstecken wollen : denn der Beischlaf ist sein Handgeld und die Welt sein Reich. Hat man denn nicht be­ merkt, wie illico post coitum cachinnus auditur Diaboli ?« [man gleich nach dem Koitus das Lachen des Teufels hört, R. Z.]. Auf Blatt 4 des Zyklus Vom Tode, betitelt Der Tod als Heiland, sieht man auf der linken Blattseite die stehende Gestalt des Todes, vor der sich ein Mensch niedergeworfen hat, während auf der rechten Blattseite eine Gruppe von Personen die Flucht ergreift. Wäh­ rend letztere vor der Gestalt des Todes flieht, hat die einzelne,

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am Boden liegende Gestalt den Tod selbst als Erlöser aus der Verstrickung des Willens erkannt. Der Zusammenhang zwischen Triebbestimmtheit, Zerstö­ rung und Tod beherrscht auch die Bildwelten Max Beckmanns. Beckmann las Schopenhauer schon in jungen Jahren, doch erst nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und des faschisti­ schen Totalitarismus wird Beckmann von einer düsteren Welt­ sicht geprägt und es entstehen Welt-Bilder im Geist des Scho­ penhauerschen Pessimismus. Dies gilt insbesondere für die das Spätwerk beherrschenden Triptychen, in denen die Tradi­ tion der mittelalterlichen Altarbilder und deren Allegorik re­ vitalisiert werden. Beckmann steht für eine gegenständliche ­Moderne. Sein Bezug zu Schopenhauer findet sich deshalb vor allem in der Gestaltung von Szenen und Figuren. Schopenhauers Verknüpfung von Sexualität und Leidens­ erfahrung ist überall in den Triptychen präsent. So wird in Ver­ suchung (1936/37) eine grell ins Bild gesetzte Sinnlichkeit mit Szenen der Qual und der Folter verbunden. Beckmanns Bild­ welt wird bevölkert von mit Keulen, Messern und Schwertern bewaffneten Figuren und Szenen der Bedrohung, der Marter und der Gewalt. In Wahrheit sind es zwei miteinander ver­ schränkte Welten : Hinter den im Vordergrund feiernden und sich vergnügenden Figuren lauert das Grauen und stehen sinistre Vollstrecker des Schicksals. Beckmann selbst hat den unmittelbaren Bezug seiner Bil­ der zu einer philosophischen Weltdeutung und einer ZweiWelten-Sicht immer wieder hergestellt, indem er seine künst­ lerische Absicht als Versuch beschrieb, »eine elegante Beherr­ schung des Metaphysischen zu erreichen« und eine »Brücke zum Unsichtbaren« zu schlagen. Ein besonders auffälliges Beispiel für eine »elegante Beherr­ schung des Metaphysischen« im Geist der Schopenhauerschen Metaphysik ist das späte Triptychon Abfahrt (1949/50). Auf den beiden Seitenflügeln ist die pessimistische Deutung der condi­

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tion humaine ins Bild gesetzt : gefesselte, gequälte Figuren, von einem keulenschwingenden Folterer traktiert oder von einem der in Beckmanns Bildern immer unheilverkündenden bell boys bewacht. Im Mittelteil dagegen die Darstellung einer gänzlich ruhigen, fast erhabenen Szene : eine königliche Familie auf einem Schiff inmitten eines völlig beruhigten Meeres. Die Seitenflügel gestalten das Leben als Leiden : »Die Welt ist eben die Hölle und die Menschen darin sind einerseits die gequälten Seelen und andererseits die Teufel darin«, schreibt Schopenhauer in den Parerga und Paralipomena. Im gleichen Sinn äußert sich Beckmann in einem Brief zur Darstellung auf den beiden Seitenflügeln : »Was Sie rechts und links sehen, ist das Leben. Das Leben ist Marter, ist Schmerz aller Art.« Zum Mit­ telteil äußert sich Beckmann ebenso explizit : »Der König und die Königin haben sich selbst von den Qualen des Daseins be­ freit – sie haben sie überwunden.« In Beckmanns Abfahrt geht es, im Schopenhauerschen Sinn, um die Welt als Wille, und im Mittelteil, um die Welt als ge­ wendeten Willen. In dieser »zweiten«, im Mittelteil dargestell­ ten Welt, ist die Zeitgebundenheit aufgehoben und der Mensch vom Willensstreben erlöst. Hier herrscht jener Friede, der, nach Schopenhauer, »höher ist als alle Vernunft, jene ­gänzliche Meeresstille des Gemüts, jene tiefe Ruhe, unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit, deren bloßer Abglanz im Antlitz, wie ihn Raphael und Corregio dargestellt haben, ein ganzes und sicheres Evangelium ist : nur die Erkenntnis ist geblieben, der Wille ist verschwunden.« Beckmann erneuert die ikono­ graphische Tradition, auf die Schopenhauer hier hinweist : Der Mensch kann sich über die Welt des Leidens erheben. Er ist dann nicht mehr Sklave des Willens, sondern König einer wie­ dergewonnenen Freiheit. Einen expliziten metaphysischen Anspruch verbindet auch Giorgio de Chirico mit seinen Bildern. Doch anders als bei Klinger oder Schopenhauer geht es bei ihm weniger um eine

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pessimistische Weltdeutung, sondern vielmehr um die Öff­ nung des Wahrnehmungshorizonts auf eine Welt, die räum­ liche und zeitliche Schranken durchbricht. So finden wir in de Chiricos Bildern genau jene Durchbre­ chung der Grenzen unserer Vorstellungswelt, die Schopen­ hauer in seinem »Versuch über das Geistersehen und was da­ mit zusammenhängt« als »Schlafwachen« oder »Wachträu­ men« bezeichnet, eine Form des Traums, »in dem wir die uns umgebende Wirklichkeit selbst träumen.« Rätselhaften Cha­ rakter nimmt diese Art von Träumen dadurch an, »daß der Gesichtskreis des Träumenden sich noch etwas erweitert, nämlich so, daß er über das Schlafgemach hinausreicht, – in­ dem die Fenstervorhänge, oder Läden aufhören Hindernisse des Sehns zu seyn […] so setzen auch Vorhänge, Thüren und Mauern ihr [dieser sonderbaren Art der Wahrnehmung, R. Z.] keine Schranken mehr.« Für de Chirico war Schopenhauers Essay über das Geister­ sehen, den er in der französischen Übersetzung las, wie eine Anleitung zur Konstruktion seiner »metaphysischen Malerei«. De Chirico gestaltet die dem Wachtraum entsprungenen rät­ selhaften Traumwelten : leere Plätze und Stadtlandschaften, in sich versunkene, wie festgefrorene Figuren und Stillleben von völlig disparaten Gegenständlichkeiten. Räumlich und zeitlich Unvereinbares wird zusammengefügt – wie in Die Heimkehr des Odysseus (1968), wo der auf dem Meer rudernde Odysseus sich mitten in einem möblierten Zimmer befindet – oder wo, wie in den Archäologen (1927/1929), aus dem Innern der Personen ganze Welten hervorgehen und damit das Unter-Bewusstsein ins Bewusstsein gehoben wird. De Chirico öffnet bildlich die Blickwelt des Somnambulen. Es ist Schopenhauers lange vor Freud vorgelegte Analyse des Traums und der Realitätserwei­ terung, die sein gesamtes Werk inspiriert hat. Dass Komponisten häufig begeisterte Schopenhauer-Leser waren, verwundert nicht. Schließlich war die Musik für Scho­

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penhauer keine Kunstform unter anderen, sondern nimmt bei ihm unter allen Künsten den höchsten Rang ein. Nur in der Musik wird die Welt des Willens unmittelbar, nicht über den Umweg der Darstellung von Objekten, erfahrbar. Musikalische Erfahrung ist tiefer und direkter. Damit hat Schopenhauer die musikalische Komposition auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht geadelt. Johannes Brahms (1833–1897), Gustav Mahler­ ­(1860–1911) und auch Arnold Schönberg (1874–1951) gehören zu jenen Komponisten, die Schopenhauer intensiv gelesen ha­ ben und auch von ihm beeinflusst wurden. Die Unmittelbarkeit musikalischer Erfahrung ist aber ih­ rerseits ein Grund dafür, dass man ›philosophische Einflüsse‹ nicht in dem Sinne nachweisen kann, wie dies bei der Darstel­ lung von Figuren, Szenerien und Handlungen der Fall ist. Die große Ausnahme ist die Oper, die als musikalische Gestaltung eines Bühnengeschehens auch Inhalte transportiert. Deutlich sichtbar sind Schopenhauers Spuren hier bei Ri­ chard Wagner (1813–1883) und Hans Pfitzner (1869–1949), bei­ des Komponisten, die ihrem künstlerischen Schaffen aller­ dings ausgesprochen antisemitische Untertöne beimischten. Pfitzner war dazu ein bekennender Antimoderner und sym­ pathisierte offen mit dem Nationalsozialismus. Schopenhauer wirkte bei beiden über seine Willensmetaphysik und seine Weltdistanz. Richard Wagner lernte Schopenhauers Werke 1854 k­ ennen, zu einem Zeitpunkt, als Schopenhauer noch lebte. Sein Ver­ such, persönlich mit dem ›Meister‹ Kontakt aufzunehmen, scheiterte allerdings. Wagner blieb dessen ungeachtet ein An­ hänger Schopenhauers, doch Schopenhauer wurde nie ein An­ hänger Wagners. Mit Wagners Versuchen, Musik und Drama zu einem Gesamtkunstwerk zu vereinen, konnte er sich nicht anfreunden. Wagner hat Schopenhauer nicht immer in Reinform ver­ arbeitet, sondern mit Anschauungen verbunden, die er aus der

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Philosophie Ludwig Feuerbachs übernahm. Das gilt vor allem für Tristan und Isolde. Beide Hauptfiguren überwinden in ihrer Liebe das principium individuationis, aber sie schreiten nicht zur Willensverneinung fort, sondern fügen sich in den Strom des universellen Weltwillens ein. Diese positive Deutung des Welt­ willens läuft Schopenhauer gerade entgegen – sie ist das Erbe der Feuerbachschen Weltvergöttlichung und weist auf Fried­ rich Nietzsche voraus. Der ganze Schopenhauer steckt jedoch in den Meistersingern und im Parsifal. Hans Sachs erkennt in den Meistersingern die Welt als »Wahn« und im Traum einen Zugang zu einer tieferen Schicht der Realität. Parsifal geht den Weg der Schopenhauer­ schen Ethik bis zu Ende : Er verwirklicht die Existenz des Hei­ ligen, der durch Mitleid den Willen wendet und durch Askese der Welt völlig entsagt. Es war diese im Parsifal propagierte Weltentsagung im Geiste Schopenhauers, die den Bruch zwi­ schen Wagner und Nietzsche besiegelte. Die Schopenhauersche Weltentsagung steht auch im Zen­ trum von Hans Pfitzners Oper Palestrina. Pfitzner war der ver­ mutlich leidenschaftlichste unter allen Schopenhauer-Anhän­ gern in der Musikszene. Er trat früh in die Schopenhauer-­ Gesellschaft ein und legte 1938 ein explizites Bekenntnis zu Schopenhauer ab, das den Charakter eines Gelöbnisses hat (»denn ich werde nie von ihm abfallen«). In Pfitzners Oper verschmäht der Komponist Palestrina den kirchlichen Auftrag, eine Messe zu komponieren und zieht stattdessen den Weg der Weltflucht und Einsamkeit vor. Dort erlebt er schließlich un­ bewusst gesteuerte, ästhetische Visionen. In einer Raum und Zeit überwindenden Ekstase schafft er schließlich sein großes Werk. Dessen Vollendung verschafft ihm schließlich den Zu­ stand der Seelenruhe und endgültigen Willensüberwindung. Wagner und Pfitzner stehen für eine unmittelbare weltan­ schauliche Adaption Schopenhauers im Bereich der Musik. Längerfristiger und nachhaltiger jedoch sind die Spuren, die

Schopenhauers Theorie einer Tiefenwirklichkeit in der gesam­ ten Kunst der Moderne hinterlassen hat. Schopenhauer hat insgesamt immer auf zweierlei Weise gewirkt : als Raumöffner, der unsere Welt-Sicht erweitert, und als praktischer Wegwei­ ser, der uns lehrt, mit der Welt umzugehen. Wie keine andere Philosophie der letzten zweihundert Jahre ist Schopenhauer zu einem Vademecum der Lebensbewältigung geworden.

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Der Lebenstherapeut und ›Öko-Denker‹ In dem Roman Die Schopenhauer-Kur des amerikanischen Psy­ choanalytikers und Bestsellerautors Irvin D. Yalom (geb. 1931) versucht der Psychotherapeut Julius Hertzfeld, als er erfährt, dass er unheilbar erkrankt ist, eine Bestandsaufnahme s­ einer Lebensarbeit vorzunehmen. Er nimmt Kontakt zu einem frü­ heren Patienten auf, den er wegen Sexsucht therapieren wollte und bei dem jeder Therapieversuch gescheitert war. Was macht Philip Slate, der damalige Patient, heute ? Vielleicht gab es doch langfristige Therapiewirkungen ? Was er entdeckt, ist überraschend : Slate hat seinen frühe­ren Beruf aufgegeben, Philosophie studiert und sich inzwischen selbst therapiert  – mit Hilfe seiner großen philosophischen Entdeckung : Arthur Schopenhauer. »Schopenhauer machte ­ ­mir bewusst«, so Slate im Roman, »dass wir dazu verurteilt sind, uns endlos auf dem Rad des Wollens zu drehen : Wir wünschen uns etwas, wir bekommen es, wir genießen einen kurzen Moment der Befriedigung, die sich rasch zur Lange­ weile abschwächt, auf die dann unweigerlich das nächste ›Ich will‹ folgt. Das Verlangen zu stillen ist kein Ausweg  – man muss ganz von dem Rad abspringen. Das tat Schopenhauer, und das habe ich auch getan.« Slate erkennt mit Schopenhauer, dass die Macht des Trie­ bes über ihn kein persönliches, sondern ein anthropologisches

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Problem ist, dem man nur mit einer grundsätzlich ›gewende­ ten‹ geistigen Einstellung begegnen kann  – nämlich mit der systematischen Abkehr vom Wollen insgesamt. Ob Schopen­ hauer als Person wirklich »vom Rad abgesprungen«, sich also von der Willensabhängigkeit gelöst hat, sei einmal dahinge­ stellt. Klar ist, dass dies die Richtung ist, in die die Schopen­ hauersche Ethik verweist und der Slate folgt. Schopenhauer als Lebenstherapeut, der hilft, einen existen­­tiellen Knoten zu lösen, in den man sich verstrickt hat : Diese Art der Schopenhauer-Rezeption ist auch in der Literatur nichts Neues. In Thomas Manns frühem Roman Buddenbrooks ist es der Senator Thomas Buddenbrook, der sich in einer Sinn- und Lebenskrise befindet und auf Schopenhauer stößt. Die Scho­ penhauersche Erkenntnis, dass alle Menschen in einer tieferen Einheit miteinander verbunden sind, dass der Tod zwar unsere Individualität, nicht aber das Wesen des Menschen zerstört, vermag ihn wieder mit dem Leben zu versöhnen. Auch Otto A. Böhmer (geb. 1949) stellt in seinem »philoso­ phischen Roman« Frei nach Schopenhauer mit dem freischaffen­ den Philosophen Egidius Fitzroy eine Figur in den Mittelpunkt, die Schopenhauers Lehre zur Grundlage einer lebenstherapeu­ tisch orientierten »Philosophischen Praxis« macht und an dem er sich im Laufe des Buches abarbeitet. Und Michel Houelle­ becq betont ausdrücklich, dass er keinen Philosophen kenne, »dessen Lektüre auf Anhieb so ansprechend und trostreich ist wie die Schopenhauers.« Kann der Pessimist Schopenhauer ein philosophisches Trostpflaster sein ? Um die Attraktivität Schopenhauers als Lebenstherapeut zu begreifen, ist es nicht nur wichtig, den Charakter und Inhalt seiner Schriften zu kennen, sondern auch einen kurzen Blick auf seine Stellung in der Philosophiegeschichte zu werfen. Le­ bensbewältigung mit Hilfe der Vernunft war eines der zent­ ralen Anliegen der antiken Philosophie. Erkenntnis stand im Dienst der Weisheit und nicht umgekehrt. In der Antike ging

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es nicht um moralische Regeln und Normen, sondern um ver­ nunftgemäße Lebensformen. Dieses Verständnis von Philoso­ phie als primär vernunftgeleitete Lebenskunst ist in der Neuzeit verloren gegangen. Philosophie beschränkte sich zunehmend auf theoretische Problemdiskussionen. In der Philosophie Im­ manuel Kants (1724–1804) schließlich wurde Glück als Hand­ lungsziel zugunsten eines pflichtorientierten Handelns ganz aus der Ethik verbannt. So konzentrierte sich Ethik als philo­ sophische Disziplin mehr und mehr auf die Begründung mora­ lischer Normen. In Folge gab die Philosophie eines ihrer zent­ ralen Themen aus der Hand. Lebensberatung und Nachdenken über das ›gute Leben‹ wanderten in die Psychologie ab. Unter den klassischen Philosophen der Neuzeit ist es vor allem Schopenhauer, der diese Orientierung nicht m ­ itvollzog und der sich wieder dem Thema der vernunftgeleiteten Le­ bensform zuwandte. Bei Schopenhauer ließen sich wieder Vor­ schläge für ein richtiges und gelungenes Leben aus philosophi­ scher Sicht einholen. Seine Werke ließen sich in der gleichen Weise als »Lebensbreviere« lesen wie die uns überlieferten le­ benspraktisch ausgerichteten Werke der Spätantike und knüp­ fen z. T. auch direkt an diese an. Es ist kein Zufall, wenn Scho­ penhauers Bücher oft neben denen Epiktets, Marc Aurels oder Ciceros stehen. Schopenhauer erfüllte damit ein Bedürfnis, mit dem viele an die Philosophie herantreten, und das von den Problemstellungen der neueren philosophischen Ethik nicht mehr befriedigt wurde. Er war es, der das Thema des ge­ lingenden Lebens für die Philosophie rehabilitierte. Ihm sind inzwischen, von Nietzsche bis Foucault, eine ganze Reihe pro­ minenter Denker gefolgt. Schopenhauer eignet sich auch deshalb besonders als phi­ losophischer Krisenmanager, weil er das Leben insgesamt als Krise, als durchgehende Enttäuschungserfahrung interpre­ tiert, die zu ihrer Bewältigung der Selbsterkenntnis und der philosophischen Reflexion bedarf. Der Mensch ist ein Getrie­

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bener : Jedem scheinbar erfüllten Bedürfnis folgt die Entste­ hung eines neuen unerfüllten Bedürfnisses. Das Rad des Wol­ lens dreht sich unaufhörlich. Der Lebenstherapeut Schopenhauer glaubt nicht an die Möglichkeit des Glücks, sondern will dieses Rad zum Still­ stand bringen. Seine gesamte Konzeption des gelungenen Le­ bens steht unter dem Motto ›Unglück und Leiden minimie­ ren !‹ Schopenhauers Lebenskunst ist realistisch, weil sie völlig illusionsfrei ist – in ihr gibt es keine rosa Wölkchen. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Forderung nach Willensüber­ windung durch ästhetische Kontemplation, Mitleid oder Aske­ ­se. Es ist ein Disziplinierungsprogramm der Triebkontrolle und Triebverneinung. Ergänzend dazu zeigt die in den Aphorismen zur Lebensweisheit entwickelte Klugheitslehre auch positive Glücks­ möglichkeiten in der Alltagsbewältigung auf. Sie liegen vor al­ lem in der Kultivierung geistiger und schöpferischer Tätigkei­ ten. Es sind die großen Grundfragen unseres Lebens : Unser Wesenskern als Mensch, unsere Haltung zum Tod, unsere Fä­ higkeit des Mitleidens und Mitfühlens, die Schopenhauer im­ mer wieder auf den Tisch legt. Dabei gehört er zu jenen Philo­ sophen, die die Sinnlosigkeit der Welt nicht mit religiösen ­Mythen zukleistern, sondern rationale Lösungen anbieten, die auf die Selbsteinsicht des Einzelnen setzen. Schopenhau­ ers Lebenstherapie zielt auf Autonomie, nicht auf Harmonie. So ist es nicht überraschend, dass gerade jene Richtungen in der Psychologie und Psychotherapie sich Schopenhauer zu­ wenden, die den Kontakt zur philosophischen Lebenskunst­ ­suchen. Dies gilt z. B. für die sogenannte ›Existenzielle Psychothe­ rapie‹, zu deren Vertretern Irvin D. Yalom zählt und die die Be­ wältigung existenzieller Grundprobleme wie Tod, Sinnlosig­ keit, Einsamkeit und Freiheit in den Mittelpunkt ihrer Therapie stellt. In Deutschland haben sich Günter Gödde und Jörg Zir­

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fas, zwei erfahrene Praktiker und ausgewiesene Brückenbauer zwischen Philosophie und Psychologie, u. a. in ihrem grund­ legenden Werk Therapeutik und Lebenskunst (2016) ausführlich mit Schopenhauer auseinandergesetzt und versucht, dessen Thesen in vielfacher Weise für therapeutische Überlegungen fruchtbar zu machen. So kann man grundsätzlich die Erfahrung der Desillusionierung zum Ausgangspunkt eines Lernprozes­ ses der Selbsterkenntnis machen. Auch kommt Schopen­hauer dort besonders ins Spiel, wo Formen der Selbstkonzentration und Meditation eine Rolle spielen : So kann das Konzept der ästhetischen Kontemplation mit der Einübung einer »gleich­ schwebenden Aufmerksamkeit« in Verbindung gebracht wer­ den. Für das Verhältnis zum Anderen wiederum werden For­ men der Empathie wichtig, wie sie in Schopenhauers Konzept des Mitleids angelegt sind. Auch die praktische Philosophie der Gegenwart hat, so z. B. im Werk Martha Nussbaums, die Empathie wieder als den moralischen Grundstoff des Zusam­ menlebens entdeckt. Die Psychologie hatte seit dem 19. Jahrhundert die Wohn­ gemeinschaft mit der Philosophie aufgekündigt. Die Philoso­ phie Schopenhauers ist ein wichtiges Motiv dafür, dass man nun wieder nach neuen Formen des Zusammenlebens sucht. Die Schopenhauersche Abkehr von der Willensbestimmt­ heit hat aber noch eine weitere Dimension : unsere Haltung gegenüber anderen Wesen und gegenüber der Natur ­insgesamt. Für Schopenhauer sind alle Wesen in ihrer Willensbestimmt­ heit eins. Im Mitleid wird diese Einheit als Einheit der Leidens­ gefährten bestätigt. Schopenhauers Ethik ist eine Ethik der Empathie und Solidarität mit allem Lebenden. Genau in die­ sem Geist sollten wir nicht nur unsere Mitmenschen, sondern alle anderen Wesen und die Natur insgesamt behandeln. Scho­ penhauer war ein Grüner avant la lettre, lange bevor der Begriff ›Ökologie‹ den Raum des gesellschaftlichen Diskurses betrat. Zu Schopenhauers grünen Bonuspunkten gehört vor allem

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seine Tierethik. Im Gegensatz zu anderen Kulturkreisen ist das Tier in Europa lange Zeit als moralisches Wesen zweiter Klasse oder sogar als eine disponible ›Sache‹ angesehen worden. Für Schopenhauer dagegen sind Tiere keine Sachen und sie sind auch nicht unbegrenzt im Dienste unseres Nützlichkeitsden­ kens verfügbar. Entsprechend engagierte er sich in der Praxis. Er ist einer der philosophischen Väter des Tierschutzes und er hat sich explizit gegen Tierversuche gewandt. Auch gehörte er 1841 zu den Mitbegründern des Frankfurter »Vereins gegen Tierquälerei«. Schopenhauer hat innerhalb der westlichen Kul­ tur hier eine Änderung der moralischen Blickrichtung einge­ leitet. Als solcher hatte er unmittelbaren Einfluss auf Albert Schweitzer (1875–1965), der ihn als ersten europäischen Denker bezeichnete, der die »Idee der Verbundenheit des M ­ enschen mit der Kreatur wirklich in die Weltanschauung« aufgenom­ men habe. Alle anderen Wesen als »Mit-Leidende« zu begrei­ fen, ist eine der Konsequenzen aus Schopenhauers Willens­ metaphysik : »Die wichtigste und nachhaltigste Konsequenz, die Schopenhauer aus seiner Mitleidsethik für die Sozialmo­ ral zieht, ist seine differenzierte Einbeziehung der Tiere in die Ethik und die aus seinen Grundprinzipien abgeleitete Forde­ rung nach angemessenem Schutz der leidensfähigen und ins­ besondere der in Gemeinschaft mit dem Menschen lebenden Tiere vor Quälerei, Ausbeutung und Überforderung«, schreibt Dieter Birnbacher, einer der führenden zeitgenössischen Um­ weltethiker. Wenngleich Schopenhauer Tiere als empfindungs- und lei­ densfähige Wesen in den Bereich der Ethik einbezieht und sich für den Tierschutz engagiert, ist er doch kein Befürworter eines Tötungsverbots von Tieren und auch kein Vordenker des Vegetarismus oder Veganismus. Mit der These, dass wir mo­ ralische Verpflichtungen gegenüber allen leidensfähigen We­ sen haben, hat er allerdings eine Diskussion angestoßen, die

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die Ethik bis heute bestimmt und weit in die politisch-gesell­ schaftliche Sphäre hineinreicht. Philosophinnen und Philoso­ phen wie Ursula Wolf (geb. 1951) und Jean-Claude Wolf (geb. 1953) haben die Schopenhauerschen Ansätze aufgegriffen und teilweise erweitert. Jean Claude Wolf dehnt die Schutzfunk­ tion und das Tötungsverbot sogar auf alle Tiere aus. Und auch Vertreter ganz anderer philosophischer Richtungen, so z.  B. der Utilitarist Peter Singer (geb. 1946), diskutiert inzwischen ernsthaft die Frage, welche Rechte man Primaten zugestehen kann und welche Verpflichtungen wir ihnen gegenüber haben. Auf dem Boden einer Metaphysik, die alles Leben als Einheit begreift, hat auch die Frage hohe Brisanz, wieweit der Mensch sich die natürlichen Ressourcen zunutze machen darf. Dabei hat Schopenhauer einen etwas anderen als den modernen öko­ logischen Blick : Die Natur ist für ihn zunächst Schauplatz des Willens und seiner selbstzerstörerischen Energie, und sie ist daher auch keineswegs an sich gut und s­ chützenswert, wie dies unter Naturromantikern angenommen wird. Auch die Ak­ tivität des Menschen, die darauf aus ist, für sich selbst mög­ lichst viel Nutzen aus der Natur zu ziehen, ist für Schopen­ hauer ein Teil dieser leiderzeugenden, selbstzerstörerischen Willensaktivität. Von daher hat Schopenhauers Philosophie durchaus eine gesellschaftspolitische Dimension und eignet sich auch – man reibt sich die Augen  – zur Kapitalismuskritik. Hat der ewi­ ­ge Kreislauf der Bedürfniserzeugung keine Ähnlichkeit mit dem Wachstumsdenken, das die ständige Ankurbelung neuer­ ­Konsummöglichkeiten erschließen will ? Der egoistische Wille kann auch ökonomisch, nämlich als Produktions- und Be­ reicherungswahn auftreten. Die gesamte Diskussion um die Selbstzerstörungsdynamik des Turbo-Kapitalismus ist in Scho­ penhauers These vorgeprägt, dass der Wille blind und selbst­ zerstörerisch und der Mensch nur ein Instrument des Wil ­lens ist.

Vergessen wir das Strichmännchen. Schopenhauer ist keine Ka­ rikatur. Auch wenn dies in den akademischen Hörsälen noch nicht wahrgenommen wurde : Schopenhauers Geist ist in den Diskussionen der Gegenwart auf eine durchdringende Weise präsent. »Das Denken Schopenhauers ist unendlich aktuell«, schrieb Max Horkheimer. Dem ist nichts hinzuzufügen.

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Als ökologischen Kritiker des Kapitalismus hat Jan Stehl Schopenhauer bereits in einer Studie von 1982 gewürdigt. Stehl sieht, dass es der im Willen angelegte Egoismus ist, der das Wachstumsdenken unablässig befeuert. Er empfiehlt auf gesellschaftlicher Ebene das, was Schopenhauer in seiner Lebenskunst fordert : statt des ›größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl‹, wie es der klassische Utilitarismus for­ dert, eine »Verminderung des Leid«, ein Weg, dem Fortschrittsund Wachstumsdenken Zügel anzulegen. Wer mit Schopenhauer Gesellschaftskritik betreibt, richtet sich aber nicht allein gegen soziale und ökonomische Struk­ turen : Er richtet sich gegen die anthropologischen Grundla­ gen unserer Existenz. »Was er von den Individuen behauptet hat«, so Max Horkheimer über Schopenhauer, »daß sie ein Ausdruck blinden Willens zu Dasein und Wohlsein seien, tritt in der Gegenwart zu den sozialen, politischen und rassischen Gruppen in der ganzen Welt hervor«. Gesellschaft als Raub­ bau von Ressourcen ist kein Sündenfall des ursprünglich gu­ ten Menschen, sondern ein Spiegel seiner Natur. Der Mensch muss sich selbst in seiner Willensbestimmtheit zurückneh­ men, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse und unser Ver­ hältnis zur Umwelt sich verändern sollen. Ökologisches Den­ ken in den Fußstapfen Schopenhauers fängt dort an, wo an die Stelle sozialer Utopien der realistische Blick auf die Natur des Menschen tritt.

Literaturhinweise

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Arthur Schopenhauer : Werke in zehn Bänden. Zürich 1977 (Nachdruck der 3. Auflage der Hübscher-­ Ausgabe). Arthur Schopenhauer : Werke in fünf Bänden. Hg. von Ludger Lütkehaus. Zürich 1988. Arthur Schopenhauer : Gesammelte Briefe. Hg. von Arthur Hübscher. Bonn 1978. Arthur Schopenhauer : Gespräche. Hg. von Arthur Hübscher. Stutt­ gart 1971. Arthur Schopenhauer : Reise-Tage­ bücher. Hg. von Ludger Lütkehaus. ­Zürich 1987. Schopenhauer-Bildnisse. Eine Ikono­ graphie von Arthur Hübscher. Frankfurt a. M. 1968.

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Hans Ebeling/Ludger Lütkehaus (Hg.) : Schopenhauer und Marx. Philo­ sophie des Elends – Elend der Philo­ sophie ? Königstein/Ts. 1980. Søren R. Fauth : Der metaphysische ­Realist. Zur Schopenhauer-Rezeption ­ ­in Wilhelm Raabes Spätwerk. ­Göttingen 2007. Lászlo F. Földenyi : »Ein wenig von dieser langweiligen Erde loskom­ men«. In : Arnold Böcklin. Georgio de Chirico. Max Ernst. Ausstellungs­ katalog. Hg. von Guido Magna­ guagno/Juri Steiner/Angelika ­Wesenberg. Bern 1997, S. 185–193. Egon Friedell : Kulturgeschichte der ­Neuzeit. München 1965. Günter Gödde : Traditionslinien des ›­Unbewußten‹. Schopenhauer, Nietzsche, Freud. Tübingen 1999. Günter Gödde : »Zur Kontroverse um Schopenhauers ›Einfluss‹ auf Freud«. In : Aufklärung und Kritik 2 (2016), S. 133–147. Günter Gödde/Jörg Zirfas : ­Therapie und Lebenskunst. Eine psychologisch-­ philosophische Grundlegung. ­Gießen 2016.

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