Räume der Gesellschaft

Der Band versammelt die zentralen Texte von Markus Schroer zur soziologischen Raumtheorie aus den letzten zehn Jahren. Alle Beiträge widmen sich dem engen Zusammenhang von Raum und Gesellschaft. Sie zeigen die vielfältige Verwendung des Begriffs auf und werben dafür, die räumliche Organisation sozialer Beziehungen in den Mittelpunkt soziologischer Aufmerksamkeit zu rücken. In der Summe sollen sie einen Beitrag für die Etablierung der Raumkategorie in der Allgemeinen Soziologie und Soziologischen Theorie leisten.

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Markus Schroer

Räume der Gesellschaft Soziologische Studien

Räume der Gesellschaft

Markus Schroer

Räume der Gesellschaft Soziologische Studien

Markus Schroer Universität Marburg Marburg, Deutschland

ISBN 978-3-658-21963-5 ISBN 978-3-658-21964-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhalt

Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 VII

Teil I Theoretische Perspektiven Raum als soziologische Kategorie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



3

Raum im Poststrukturalismus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 27

Space-Studies  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 43

Raum aus praxissoziologischer Perspektive  . . . . . . . . . . . . . . . .

 71

Geosoziologie: Raum als Territorium  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 97

Teil II Raumkonstellationen Raum, Zeit und soziale Ordnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 127

Raum und Kultur 

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 143

Raum und Wissen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 157

Raum, Wohnen und Mobilität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 167 V

VI Inhalt

Teil III Der gebaute Raum Der Raum der Schule  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 181

Räume der Religion. Zum Wandel sakraler Architektur 

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 199

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 217

Grenzen – ihre Bedeutung für Stadt und Architektur  . . . . . . . . . . . .

 247

Grenzen – ihre Dissemination und Diversifizierung 

 257

Räume des Sports. Zur Architektur des Stadions 

Teil IV Grenzen

. . . . . . . . . . . .

Textnachweise  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  267

Einleitung

Raum ist allgegenwärtig. Wir sind mit der Rede vom Weltraum, Lebensraum und europäischen Raum ebenso vertraut wie mit der über den Konferenzraum, den Vorratsraum oder den Strafraum. Wir kennen Raumausstatter und Raumpfleger, die Raumfahrt und Raumschiffe, sprechen von Raummangel und Raumersparnis, Raumempfinden und Raumanschauung. Wir leben an bestimmten Orten, nehmen Platz und räumen (etwas) ein. Uns ist geläufig, dass wir hier etwas tun dürfen, was dort verboten ist. Manche Dinge sind uns nah, andere liegen uns fern. Wir entfernen uns voneinander oder nähern uns einander an. Täglich betreten wir Räume, halten uns in ihnen auf und verlassen sie wieder. Wir empfinden Räume als eng oder weit, hell oder dunkel, unterscheiden zwischen offenen und geschlossenen, gefährlichen und sicheren Räumen. Angsträume werden gemieden, rechtsfreie Räume geschaffen, Freiräume gefordert. Wir kaufen Autos, die als » Raumwunder « angepriesen werden und sollen Banken vertrauen, die uns u. a. » mehr Raum « versprechen. Und selbst dort, wo wir scheinbar von allem Physisch-materiellen enthoben sind, dem Internet, suchen wir » Chat-rooms « auf oder stellen » Homepages « ins Netz. Durch » Windows « schauen wir in virtuelle Räume. Angesichts dieser Allgegenwart von Räumen, räumlichen Qualitäten und Maßeinheiten, ist die von verschiedenen Fächern der Sozial- und Kulturwissenschaften seit den 1990er Jahren angezeigte Vernachlässigung des Raums nur schwer nachzuvollziehen. Wie ist es zu erklären, dass die Beschreibung geschichtlicher Verläufe und gesellschaftlicher Verhältnisse ohne Bezug auf den Raum auskommen ? Ohne Zweifel spielt die herausgehobene Rolle des Raums in der national­ sozialistischen Ideologie, die Priorisierung der Zeit gegenüber dem Raum in klassischen Modernisierungstheorien und die Etablierung des Fachs Geographie als exklusive Raumwissenschaft eine entscheidende Rolle bei der auffälligen Aussparung alles Räumlichen im soziologischen Denken insbesondere nach 1945. Hinzu kommt seine scheinbare Selbstverständlichkeit als schlichte Faktizität und nicht VII

VIII Einleitung

eigens zu thematisierender Rahmen des Sozialen sowie sein Image als Bewahrer des Bestehenden und Widerpart von Veränderungen und sozialem Wandel.1 Trotz solcher Vorbehalte kann inzwischen von einer Vernachlässigung keine Rede mehr sein. An ihre Stelle ist vielmehr eine verstärkte Hinwendung zum Raum über Fächergrenzen hinweg getreten, die sich in einer kaum mehr zu überblickenden Liste von Publikationen niedergeschlagen hat. Die Beschäftigung mit Raum wird mittlerweile so intensiv betrieben, dass längst von einem » spatial turn «2 der Sozial- und Kulturwissenschaften die Rede ist und sich mit den » spacestudies «3 ein spezifisches Forschungsfeld herauskristallisiert hat. Die in diesem Buch vorgelegten Aufsätze können als ein Teil und Ausdruck dieses neu erwachten Interesses an den Fragen des Raums angesehen werden, weil sie ohne Ausnahme aufgrund von Einladungen zu Tagungen bzw. Sammelbänden entstanden sind, die Raum in den Mittelpunkt sozial- und kulturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt haben. Sie haben mir die Möglichkeit geboten, einige meiner raumsozio­ logischen Überlegungen, die ich in meinem Buch Räume, Orte, Grenzen4 vorgelegt habe, weiter auszubauen und an verschiedenen Themenfeldern zu erproben. Ausgangspunkt dieser Untersuchung war die These, dass es sich beim Raum um eine vernachlässigte Kategorie soziologischen Denkens handelt. Entgegen der äußerst wirkungsmächtigen Vorstellung, dass der Raum im Laufe des Modernisierungsprozesses zunehmend irrelevant werde, wird im Durchgang durch verschiedene Theorieangebote (Emile Durkheim, Georg Simmel, Pierre Bourdieu, Anthony Giddens, Niklas Luhmann) und anhand einiger spezifischer Räume (Politische Räume, Urbane Räume, Virtuelle Räume, Körperräume) der nach wie vor hohe Stellenwert herausgearbeitet, der dem Raum als Einflussgröße auf das soziale Geschehen zuerkannt werden muss. Schon in dieser Schrift wird eine in den folgenden, hier versammelten Arbeiten, weiter ausgebaute Perspektive eingenommen: Statt für einen bestimmten Raumbegriff zu votieren, wird der Raumsoziologie die Aufgabe zugewiesen, sich für die Raumverständnisse zu interessieren, die von verschiedenen Akteuren entwickelt werden. Statt die Vorstellungen eines Container- bzw. Behälter-Raums zugunsten eines relationalen Raumverständnisses rigoros zu verwerfen, wird nach Gründen für seine anhaltende Attraktivität gefragt. Statt eine abnehmende Bedeutung des Raums zu behaupten, wird die 1

Vgl. dazu Markus Schroer: Räume, Orte. Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt/M. 2006, S. 17 – ​28. 2 Doris Bachmann-Medick: Spatial Turn, in: Dies.: Cultural Turns Neuorientierung in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 2006, S. 284 – ​328; Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008. 3 Siehe dazu den gleichnamigen Beitrag in diesem Band. 4 Vgl. Fn. 1.

Einleitung IX

umfassende Transformation von Räumen in den Blick genommen. Auch wird die Verbindung sozialer und physischer Räume ausdrücklich nicht gekappt. Vielmehr geht es immer wieder darum auszuloten, welche Folgen das Verwenden bestimmter Raumbegriffe für die Deutung sozialer Phänomene hat. Im Gegensatz zu einer konstruktivistischen und voluntaristischen Perspektive, die sich allein für die Hervorbringungs- und Gestaltungsmöglichkeiten von Räumen interessiert, wird dabei viel Wert auf die Wirkungen des Raums auf das soziale Geschehen gelegt, ohne einem deterministischen Raumverständnis das Wort zu reden: » Raum prägt unser Verhalten und drückt ihm seinen Stempel auf. Räume helfen uns zu entscheiden, in welcher Situation wir uns befinden. Sie strukturieren […] Interak­ tionsabläufe, machen einige wahrscheinlich, andere unwahrscheinlich. «5 Die im Folgenden präsentierten Beiträge, die alle im Anschluss an das Erscheinen dieses Buches erschienen sind, nehmen diese raumsoziologische Grundlegung zum Ausgangspunkt für weitere Auseinandersetzungen mit dem Raumthema. Die erste Gruppe von Aufsätzen versammelt theoretische Zugänge zum Thema Raum. Der erste Beitrag wirbt für eine verstärke Hinwendung der Soziologie zum Raum und analysiert die Zusammenhänge zwischen Raum und Gesellschaft, Raum und Zeit, geographischem und sozialem Raum. Der Vernachlässigung des Raums in der Moderne wird eine Hinwendung zum Raum in der Postmoderne gegenübergestellt. Der zweite Beitrag thematisiert den Stellenwert des Raums im Poststrukturalismus. Im Mittelpunkt stehen hier die raumtheoretischen Überlegungen von Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Gilles Deleuze und Felix Guattari. Der dritte Beitrag widmet sich den » space-studies « und lotet dabei vor allem die Möglichkeiten kultursoziologischer Raumforschung aus. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Vorstellung und Prüfung von Methoden einer für den Raum sensibilisierten empirischen Kulturforschung. Der vierte Beitrag setzt sich nachdrücklich dafür ein, nicht in substantialistischer bzw. essentialistischer Weise danach zu fragen, was der Raum ist, sondern Praktiken des Verräumlichens konkret zu untersuchen. Der fünfte und jüngste Beitrag plädiert für die Konstituierung einer Geosoziologie, die mit Hilfe eines neomaterialistischen Raumbegriffs auf die Herausforderung des Anthropozän reagiert. Explizit wird dabei für die Einbeziehung des physischen Raums in den soziologischen Aufmerksamkeitsfokus plädiert, von dem sonst gerne mit der Folge abstrahiert wird, dass von Raum nur in einem eher abstrakten Sinne die Rede ist. Die zweite Gruppe – » Raumkonstellationen « überschrieben – spürt dem Zusammenhang von Raum, Zeit und sozialer Ordnung, Raum und Kultur, Raum und 5

Ebd., S. 172

X Einleitung

Wissen sowie Raum, Wohnen und Mobilität nach. Im Mittelpunkt des ersten Beitrags steht der Gedanke, dass spezifischen Praktiken spezifische Räume zugewiesen werden. Anhand einiger Beispiele wird der Nachweis erbracht, dass die moderne Gesellschaft sich nicht zuletzt auf eine räumlich fundierte Sozialordnung stützt. Alltägliche Routinen zeichnen sich durch die Wiederholung bestimmter Tätigkeiten in eigens für sie geschaffenen Räumen aus. Die funktional differenzierte Gesellschaft der modernen Gesellschaft stabilisiert sich insofern u. a. durch räumliche Differenzierung. Der zweite Beitrag zeigt die enge Beziehung zwischen Kultur und Raum, kulturellen und räumlichen Praktiken in mehreren Schritten auf. Der gebaute Raum als primäre Kulturleistung wird ebenso thematisiert wie die städtische Kultur im urbanen Raum und die De- und Reterritorialisierungsprozesse im Zuge der Globalisierung. Der Beitrag schließt mit Überlegungen zur Entstehung neuer Geographien und vielfältiger Geopraktiken, die mit Hilfe einer kultursoziologisch ausgerichteten Geosoziologie systematisch zu untersuchen wären und knüpft damit an den programmatischen Beitrag zur Geosoziologie im ersten Block an. Der dritte Beitrag geht dem Zusammenhang von Raum und Wissen nach. Obwohl gerade Wissen gerne als eine ubiquitär zur Verfügung stehende Ressource behandelt wird, wird hier argumentiert, dass die Aneignung, Verbreitung und Bewahrung von Wissen immer schon einen räumlichen Bezug aufgewiesen haben, Archive, Bibliotheken, Labore, Schulen und Universitäten klassische Orte der Generierung, des Austauschs und der Vermittlung von Wissen sind. Nicht trotz, sondern aufgrund der Verbreitung des Internets und der Digitalisierung, kämpfen heute etwa Bibliotheken und Universitäten mittels auffälliger Spektakelarchitektur um ihre Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Im vierten Beitrag dieses Themenblocks wird entgegen der modischen Rede von einem neuen Nomadentum dafür plädiert, den Nomaden nicht länger gegen den Sesshaften und die Mobilität und das Reisen nicht länger gegen die Architektur und das Wohnen auszuspielen. Der starren Gegenüberstellung, die im Laufe der Geschichte entweder die Sesshaftigkeit oder das Nomadentum prämiert, werden zwei Trends gegenübergestellt, die zeigen, das auf jeder der beiden Seiten sich immer auch der Einfluss der jeweils anderen Seite findet: Die Verhäuslichung der Fortbewegungsmittel und die Mobilisierung des Wohnens. Die dritte Gruppe widmet sich dem gebauten Raum und seiner Architektur. Hier geht es um den Raum der Schule, die Räume des Sports und der Religion. Der erste Beitrag knüpft unmittelbar an die Überlegungen zu Sesshaftigkeit und Nomadentum des vorherigen Beitrags an. Am Beispiel der Schule wird das Spannungsverhältnis zwischen räumlicher Fixierung und Bewegung aufgezeigt, dem mit Hilfe einer Mobitektur (mobilen Architektur) begegnet wird. Der zweite Beitrag widmet sich den materiellen Formen des Sozialen im Sinne der sozialen Morpho-

Einleitung XI

logie, wie sie von Emile Durkheim konzipiert und von Maurice Halbwachs weiter ausgebaut wurde. Die Einsichten dieser soziologischen Schule werden anhand eines konkreten architektonischen Phänomens – des Fußballstadions – auf ihre Aussagekraft hin überprüft. Da die von Halbwachs betriebene soziale Morphologie grundsätzlich davon ausgeht, dass sich gesellschaftliche Strukturen in die materielle Welt einschreiben, erweist sie sich als eine zentrale theoretische Grundlage für eine Soziologie des Raums, der Stadt und der Architektur. Der dritte Beitrag argumentiert, dass die räumliche Ordnung der Gesellschaft, nach der bestimmte Praktiken an je spezifischen Orten ausgeführt werden, zwar weiterhin Bestand hat, zunehmend aber auch unterlaufen wird, da sich bestimmte Praktiken auch außerhalb der traditionell von ihnen eingenommenen Plätzen auf‌fi nden lassen, die räumliche Differenzierung also durch eine räumlichen Entdifferenzierung herausgefordert wird. Dieses Phänomen einer räumlichen Diffusion wird am Beispiel der Religion plausibilisiert: Auch religiöse Praktiken werden nicht mehr nur an den ihnen exklusiv zugedachten Plätzen ausgeübt, sondern finden auch an profanen Orten und in neu errichteten Gebäuden statt, wo sie sich neben anderen, zeitgleich stattfindenden Praktiken behaupten müssen. Zeitgleich zu dieser Öffnung des Sakralen zum Profanen orientieren sich Profanbauten an sakralen Vorbildern. Infolge dieser räumlichen Inversion ist Gebäuden nicht immer mehr länger von außen anzusehen, welche Praktiken hier bevorzugt stattfinden, womit die Lesbarkeit der Gebäude erschwert und die Orientierungs- und Deutungsanstrengungen der Nutzer deutlich erhöht werden. Die vierte Gruppe präsentiert Überlegungen zum Thema Grenze. Während der erste Beitrag nach der Bedeutung der Grenze für Stadt und Architektur fragt, thematisiert der zweite Beitrag die gegenwärtige weltweite Dissemination und Diversifizierung der Grenze. Ähnlich wie dem Raum ist auch der Grenze im Zuge des Globalisierungsprozesses eine abnehmende Bedeutung bescheinigt worden. Im Zuge der Entwicklung von Technologien, die den Raum immer schneller überwindbar machen, waren auch Grenzen dafür bestimmt, zunehmend von der Bildfläche zu verschwinden. Die Globalisierung stellte eine grenzenlose Gesellschaft in Aussicht. Der weltweite Austausch von Waren sollte so wenig durch nationalstaatliche Grenzen aufgehalten werden wie international agierende Unternehmen und ihre Mitarbeiter. Der Ausbau des weltweiten Kommunikationsnetzes (Internet) sollte zusätzlich dazu beitragen, Grenzen wie Relikte aus einer vergangenen Epoche erscheinen zu lassen. Entgegen dieser Versprechen und prognostizierten Entwicklungen haben wir es heute mit einer kaum zu übersehenden Wiederkehr von überwunden geglaubten Grenzziehungen zu tun. Noch vorhandene Grenzanlagen werden wieder in Betrieb genommen, aufgerüstet und verstärkt. In einem kaum mehr für möglich gehaltenen Ausmaß sind wir Zeuge von sich zunehmend

XII Einleitung

hinter Mauern und Stacheldraht verschanzenden Nationalgesellschaften, die ihr Selbstbestimmungsrecht gegen internationale Konventionen massiv verteidigen. Insgesamt dokumentieren alle hier versammelten Beiträge die intensive Ausein­ andersetzung mit dem Raum in den vergangenen zehn Jahren. In der Summe – so die Hoffnung des Autors – sollen sie einen Beitrag für die Etablierung der Raumkategorie in der Allgemeinen Soziologie und Soziologischen Theorie leisten und einer Abschiebung in eine spezielle Soziologie vorbeugen. Markus Schroer Marburg, im April 2018

Teil I Theoretische Perspektiven

Raum als soziologische Kategorie

Die vermehrt angezeigte Rückkehr des Raums in den sozialwissenschaftlichen Diskurs ist ebenso unbestreitbar wie umstritten. Unbestreitbar ist die neue Aufmerksamkeit gegenüber Raum und Räumlichkeit als Thema, Begriff und Kategorie. Sämtliche Kultur- und Gesellschaftswissenschaften haben den Raum inzwischen für sich entdeckt. Umstritten dagegen ist, ob es bei der Wiederbelebung des Begriffs im sozialwissenschaftlichen Kontext um eine begrüßenswerte und notwendige Entwicklung handelt, weil » räumliche Konfigurationen des sozialen Lebens […] ebenso von grundsätzlicher Bedeutung für die Sozialtheorie wie die Dimensionen der Zeitlichkeit «1 sind, oder ob es sich dabei eher um einen Irrweg der Sozialwissenschaften handelt, weil Modernisierung die Emanzipation vom Raum gleichsam eingeschrieben ist. Warum sich also mit Atavismen beschäftigen ? Zusätzliche Nahrung erhält die Skepsis gegenüber der Raumthematik durch die noch wache Erinnerung an seine nationalsozialistische Verbrämung einerseits und durch den Verweis auf die institutionelle Arbeitsteilung zwischen den Sozial­ wissenschaften, die zur exklusiven Behandlung des Raums in der Geographie geführt hat, andererseits. Warum ihn also nicht den Geographen überlassen ? Ist er dort etwa nicht mehr gut aufgehoben ? So abwegig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, ist diese Vermutung nicht. Denn gerade von geographischer Seite stammen die wohlmeinenden Warnungen an die Adresse der Soziologie, nicht auch noch in jene » Raumfalle «2 zu treten, aus der man sich selbst mühsam zu befreien versucht. Die Frage, ob die Hinwendung zum Raum eher zu begrüßen oder zu befürchten ist, soll im Folgenden keineswegs offen gelassen bleiben. Vielmehr wird argumentiert, dass wir es derzeit mit einschneidenden gesellschaftlichen Umbrüchen 1 2

Giddens: » Die Konstitution der Gesellschaft «, S. 422. Lippuner/Lossau: » In der Raumfalle «.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Schroer, Räume der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2_1

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Raum als soziologische Kategorie

zu tun haben, die das Thema Raum unweigerlich auf die Tagesordnung setzen, was eine Überprüfung der bisher scheinbar selbstverständlichen Raumvorstellungen geradezu erzwingt, will sich Soziologie die Arbeit mit » Zombiekategorien «3 nicht weiter zumuten. Allerdings sollte sie sich im Umkehrschluss ebenso wenig dazu hinreißen lassen, durchaus noch rüstige Kategorien und Begriffe gleichsam lebendig zu begraben. Im Widerspruch zu den Aussagen und Prognosen manch euphorischer Globalisierungstheorie schwindet die Bedeutung von Räumen und Grenzen keineswegs, sondern nimmt im Gegenteil noch zu. Beim Raum handelt es sich jedenfalls weder um ein bloßes Modethema (fall es so etwas überhaupt gibt), das schon bald wieder vergessen sein wird, noch um ein zufällig von der Soziologie vernachlässigtes Thema, das gewissermaßen in einem Akt der Wiedergutmachung endlich zum Gegenstand soziologischer Forschung erhoben werden sollte. Es geht hier weder um Mode noch um Moral. Es geht vielmehr darum, dass in die Grundbegriff‌lichkeiten und Basisannahmen des Sozialen räumliche Vorstellungen eingelassen sind, die angesichts der unter dem Namen Globalisierung geführten Veränderungen aufgedeckt und analysiert werden müssen.4 Ein Missverständnis innerhalb der neuen Raumdiskussion dabei ist, dass die These von der Vernachlässigung des Raums sein völliges Ausbleiben im soziologischen Denken meinen würde, was sich leicht widerlegen lässt.5 Gemeint ist vielmehr, dass es sich bei Raum um eine zumeist nur implizit verwendete Kategorie handelt, die nur selten eigens thematisiert wird, in vielen Diskursen aber durchaus ein subkutanes Dasein fristet. Die folgenden Überlegungen verfolgen das Ziel, die Relevanz des Raumthemas für die Soziologie aufzuzeigen und die grundlegenden Raumbegriffe zu erläutern, die im gegenwärtigen Raumdiskurs kursieren. Dafür wird in einem ersten Schritt die These von der Verabschiedung des Raums vorgestellt (Kap. 1), die in einem zweiten Schritt mit der These der Wiederkehr des Raums konfrontiert wird (Kap. 2). Der Vergleich beider Thesen zeigt, dass die diametral entgegen gesetzten Perspektiven aus ihren differenten Raumbegriffen resultieren. Dies führt in einem dritten Schritt zur Analyse der verschiedenen Raumbegriffe und Raumverhältnisse, die zumeist in Form von Gegensatzpaaren präsentiert werden: Physischer Raum/sozialer Raum (Kap. 3.1), Behälterraum/Beziehungsraum (Kap. 3.2), Gesellschaft/Raum (Kap. 3.3), Raum/Gesellschaft (Kap. 3.4), Raum/Zeit (Kap. 3.5). Im Durchgang durch die verschiedenen Unterscheidungen wird dabei nicht – wie in der Raumdiskussion allgemein üblich – für eine der beiden Seiten optiert, sondern dafür plädiert, das Zusammenspiel der scheinbar gegensätzlichen Begriffs3 Beck/Willms: Freiheit oder Kapitalismus ?, S. 17 f. 4 Vgl. Berking: » › Global Flows and Local Cultures ‹ «. 5 Vgl. Schroer: Räume, Orte, Grenzen.

Raum als soziologische Kategorie 5

paare zu analysieren. Der Beitrag schließt mit der Frage, ob wir es innerhalb der Sozialwissenschaften tatsächlich mit einem spatial turn zu tun haben (Kap. 4).

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Die Moderne und das Verschwinden des Raums

Eine weit verbreitete These innerhalb der Globalisierungsdiskussion besagt, dass Raum zunehmend keine Rolle mehr spiele. Die Liste der Verabschiedungsformeln ist lang: Die Rede ist vom » death of distance «6, von der » time-space-compression «7, vom » Ende der Geographie «8 und dem » Ende des Raumes «9. Die These von der Entterritorialisierung, der Ortlosigkeit, der Aufhebung und Vernichtung des Raums hat durch das Aufkommen des Internets enormen Auftrieb erhalten, ist aber nicht erst im Zuge der Verbreitung dieses neuen Kommunikationsmediums aufgekommen. Sie ist vielmehr steter Wegbegleiter eines jeden neuen Transport- oder Kommunikationsmediums. So hielt es beispielsweise schon der Erfinder des elektromagnetischen Schreibtelegrafen Samuel Morse um 1837 für eine ausgemachte Sache, dass der Telegraf den Raum überwinde und dazu führen würde, zumindest die gesamten USA in one neighborhood zu verwandeln.10 Und Heinrich Heine notierte angesichts der Verbreitung der Eisenbahn, dass der Raum getötet werde und nur noch die Zeit übrig bleibe.11 Spätestens seit dieser Zeit ist die These von der » Aufhebung des Raumes «12, wie es bei McLuhan heißt, ein stetig wiederkehrender Topos in der Medien- und Kommunikationsforschung. Doch nicht nur in der Medien- und Kommunikationsforschung findet sich die Vorstellung, dass der Raum seinen ehemaligen Einfluss verliert. Die These von der zunehmenden Irrelevanz des Raums scheint vielmehr auch den Theorien der Moderne insgesamt eingeschrieben zu sein. Von Emile Durkheim und Georg Simmel über Talcott Parsons bis Niklas Luhmann und Zygmunt Bauman wird dem Raum im Laufe des Modernisierungsprozesses eine immer kleine werdende Rolle zugesprochen.13 Durkheim zeigt sich überzeugt, dass die Bindung an den Nahraum immer geringer werden wird und sich die Aktivitäten und Tätigkeiten weit über die territorialen Einheiten von Dorf, Destrikt und Stadt hinaus orientieren wer6 Cairncross: Death of Distance. 7 Harvey: The Condition of Postmodernity, S. 240 ff. 8 O’Brien: Global Financial Integration. 9 Baudrillard: Subjekt und Objekt: fraktal, S. 5. 10 Vgl. Wenzel: Die Abenteuer der Kommunikation. 11 Vgl. Heine: » Lutetia «, http://homepages.compuserve.de/fricew/heine/lutetia57.htm [01. 08. ​ 2007] 12 McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 150. 13 Vgl. Schroer: Räume, Orte, Grenzen.

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Raum als soziologische Kategorie

den. Ebenso geht Simmel von einer fortschreitenden Emanzipation vom Raum aus, die durch die Entstehung der Geldwirtschaft ermöglicht wird. » Das Geld «, so Simmel, » steht vermöge der Abstraktheit seiner Form jenseits aller bestimmten Beziehungen zum Raum: es kann seine Wirkungen in die weitesten Fernen erstrecken, ja es ist gewissermaßen in jedem Augenblick der Mittelpunkt eines Kreises potenzieller Wirkungen. «14 Niklas Luhmann, der an diese Idee anknüpft, sieht Gesellschaft bereits als derart unabhängig von räumlichen Bezügen funktionieren, dass seine Theorie von Anbeginn antiräumlich angelegt ist. Raum kommt in den Grundbegriff‌lichkeiten der Theorie schlicht nicht mehr vor. Neben der Sach-, Sozial- und Zeitdimension gibt es auffälligerweise keine Raumdimension. Wenn überhaupt von Raum die Rede ist, dann folgt auch hier der Hinweis, dass der Einfluss des Raums im Abnehmen begriffen sei.15 Die These von der zunehmenden Irrelevanz des Raums ist insofern jedoch keine reine Verfallsgeschichte, weil sich in den meisten der genannten Positionen der Relevanzverlust des Raums zugunsten der Zeit auswirkt. Dass die Zeit im Lauf des Modernisierungsprozesses gegenüber dem Raum die Oberhand gewinnt, ist so etwas wie eine Basisannahme von Modernisierungstheorien. Einschlägig ist dabei die Vorstellung, dass sich die Moderne vor allem durch eine enorme Beschleunigung sozialer Prozesse und Entwicklungen auszeichne.16 Raum ist gewissermaßen ein Opfer der Beschleunigung, die als Grunderfahrung der Moderne gelten kann. Gesellschaft, Geschichte, Kultur, ja das Leben und die Zeit selbst beschleunigen sich in atemberaubendem Tempo. Nichts bleibt wie es war. Was sich nicht an das Tempo des modernen Lebens anpasst, geht unter. Auch der Raum. Dabei sind es vor allem die Transport- und Kommunikationsmedien, die herhalten müssen, um die These vom Ende des Raums zu belegen. Im Einklang mit zahlreichen Positionen aus der Medienforschung und in Übereinstimmung zu den Einlassungen der Klassiker zu diesem Thema notiert auch Luhmann: Der Widerstand des Raums nimmt ab » im 18. Jahrhundert durch Verbesserung der Straßen und Kutschen, im 19. Jahrhundert durch Eisenbahnbau, im 20. Jahrhundert durch Flug und im 21. Jahrhundert vermutlich durch Ersetzung des Reisens durch Telekommunikation. «17 Die immer wieder nicht nur der » Körper «- und » Raum «-, sondern auch der » Technikvergessenheit «18 gescholtene Soziologie nimmt Technik also immerhin so ernst, dass sie in ihr den entscheidenden Grund für den Bedeutungsverlust des 14 Simmel: Philosophie des Geldes, S. 704. 15 Vgl. Schroer: » Jenseits funktionaler Differenzierung ? «. 16 Vgl. Rosa: Beschleunigung. 17 Luhmann: Soziale Systeme, S. 526. 18 Rammert: Technik aus soziologischer Perspektive, Bd. 2, S. 14.

Raum als soziologische Kategorie 7

Raums ausmacht. Daneben ist es vor allem die Ökonomie, der unterstellt wird, dass sie unabhängig von lokalen Bedingungen und örtlichen Gegebenheiten agiere. Die These von der » Vernichtung des Raums durch die Zeit «19, bedingt durch den Siegeszug der kapitalistischen Wirtschaftsform, findet sich schon bei Karl Marx und wird heute auch in vielen ökonomisch orientierten Globalisierungstheorien vertreten. Wenn Raum in gegenwärtigen Globalisierungstheorien verabschiedet wird, so zeigt sich darin nicht zuletzt eine Ökonomisierung des Gesellschaftlichen, denn es ist klassischerweise die Ökonomie, der eine Unabhängigkeit vom Raum bescheinigt wird. Wo immer Raum verabschiedet wird, handelt es sich entweder um eine Apotheose der Transport- und Kommunikationsmedien (im Stile eines Virilio) oder um eine Selbstbeschreibung des Ökonomischen, die sich oft als eine der Gesellschaft insgesamt ausgibt.

2

Die Postmoderne und die Wiederkehr des Raums

So sehr die Zeit mit den Theorien der Moderne verbunden ist, so sehr taucht der Raum in den Theorien der Postmoderne wieder auf. Der » spatial turn « ist insofern tatsächlich ein » Kind der Postmoderne «.20 So geht etwa Marc Augé davon aus, dass der Bezug zum Raum » heute die Oberhand gewonnen «21 habe. Michel Foucault spricht davon, dass wir in der » Epoche des Raumes «22 leben, was für ihn vor allem bedeutet, dass wir in einer Epoche des Simultanen und des Nebeneinander leben. Frederic Jameson schließt sich dem an und postuliert, dass » unsere physischen Erfahrungen und die Sprachen unserer Kultur heute […] eher von Kategorien des Raumes als von denen der Zeit beherrscht werden «23. Und bei Bruno Latour heißt es kurz und bündig: » Der Raum hat die Zeit als prinzipielles Ordnungsprinzip abgelöst. «24 Ähnlich wie Foucault hat er dabei vor allem Raum als » Ordnung der Gleichzeitigkeiten «25 im Blick. Zusätzliche Unterstützung hat diese Perspektive durch den Globalisierungsdiskurs erhalten, der nach Martin Albrow » von der Ersetzung der Zeitproblematik durch die Raumproblematik «26 handelt. Und Manuel Castells schließlich erklärt: » Anders als die meisten klas19 Harvey: The condition of postmodernity, S. 60. 20 Bachmann-Medick: Cultural turns, S. 284. 21 Augé: » Die Sinnkrise der Gegenwart «, S. 34. 22 Foucault: » Andere Räume «, S. 34. 23 Frederic Jameson zitiert nach Noller u. a.: » Zur Theorie der Globalisierung «, S. 14. 24 Latour: Von der Realpolitik zur Dingpolitik, S. 74. 25 Ebd., S. 76. 26 Albrow: » Auf dem Weg zu einer globalen Gesellschaft ? «, S. 425.

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Raum als soziologische Kategorie

sischen Gesellschaftstheorien, die annehmen, der Raum werde von der Zeit dominiert, stelle ich die These auf, dass in der Netzwerkgesellschaft der Raum die Zeit orga­nisiert.  «27 Selbst wenn sich Albrows und Latours Positionen zunächst wie eine schlichte Umkehrung der These vom Verschwinden und dem Ende des Raums lesen, stößt man hier gleichwohl nicht auf die These vom Verschwinden oder dem Ende der Zeit. Auch bei Augé, Foucault, Jameson und Castells wird die Vorherrschaft des Raums nicht kurzerhand mit einem Verschwinden der Zeit in Verbindung gebracht, sondern eher auf eine Veränderung des Kräfteverhältnisses aufmerksam gemacht. Und in der Tat gibt es in der soziokulturellen Evolution Hinweise darauf, dass Raum und Zeit als Leitkategorien einander abgelöst haben.28 Die Dominanz des Raums in vormodernen Gesellschaften scheint der Dominanz der Zeit in modernen Gesellschaften gewichen zu sein.29 In der Postmoderne nun deutet vieles darauf hin, dass wir es mit einer erneuten Dominanz des Raumes zu tun bekommen. Die speziell in den Sozialwissenschaften vorherrschende Perspektive scheint mir allerdings nach wie vor die, einer Vormachtstellung der Zeit gegenüber dem Raum zu sein, während dem Raum – wenn überhaupt – nur eine marginale Rolle zugestanden wird.30 Um Missverständnisse zu vermeiden scheint es allerdings erforderlich zu sein, darauf hinzuweisen, dass es bei der These von der Vernachlässigung des Raums um die Behauptung geht, dass er kaum explizit zum Thema gemacht wurde. Diese These ist durchaus kompatibel mit der Beobachtung, dass in der Soziologie gleichwohl ein impliziter Gebrauch räumlicher Kategorien nachweisbar ist.

27 Castells: » Der Raum der Ströme «, S. 431. 28 Vgl. Stichweh: » Raum und moderne Gesellschaft «, S. 4. 29 Diese Entwicklung auf der Ebene der Phylogenese scheint sich in der Ontogenese zu wiederholen. Wie bereits Piaget (1980) gezeigt hat, entwickelt sich der Raumsinn bei Kindern wesentlich früher als der Zeitsinn. Zeitliche Orientierungen sind gegenüber den primären Raumdifferenzierungen sehr viel abstrakter und bilden sich deshalb ontogenetisch zumeist erst während der Pubertät. Dabei ist es der Körper, der die Raumorientierung vermittelt: » Mein Körper «, so schreibt Alfred Schütz im Anschluss an Merleau-Ponty, ist » nicht ein Gegenstand im Raum, sondern die Bedingung für alle meine Erfahrung der räumlichen Gliederung der Lebenswelt. In jeder Situation wirkt mein Körper als ein Koordinatenzentrum in der Welt, mit einem Oben und Unten, einem Rechts und Links, Hinten und Vorn « (Schütz: Strukturen der Lebenswelt, S. 152). Dass diese Perspektive nicht dazu geführt hat, dem Raum eine ebenso große Rolle zuzubilligen wie der Zeit mag damit zusammenhängen, dass auch der Körper gegenüber dem Bewusstsein nur eine untergeordnete Rolle in den einschlägigen Sozial- und Gesellschaftstheorien gespielt hat. Nicht zufällig erleben wir im Moment die parallele Wiederentdeckung sowohl des Körpers (vgl. Schroer: Soziologie des Körpers) als auch des Raums. 30 Vgl. jüngst erst wieder Rosa: Beschleunigung.

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Gegenüber den aktuellen Verabschiedungen des Raums, die vor allem im Kontext des Globalisierungsdiskurses formuliert werden, ist vor allem darauf hinzuweisen, dass Globalisierung nicht nur für die Auflösung räumlicher Strukturen sorgt, sondern auch neue Räume hervorbringt. Entgegen den Thesen der Globalisierungseuphoriker schaffen Ökonomie und die neuen Kommunikations- und Transportmedien Räume nicht einfach ab, sondern bringen auch neue Räume hervor. Was wir derzeit erleben ist deshalb nicht das Ende des Raums, sondern eine Diversifizierung räumlicher Bezüge. Die Räume und Orte für diverse Aktivitäten sind nicht mehr länger alternativlos vorgegeben, sondern werden mehr und mehr zu einer Option. Wirtschaftsunternehmen streiten über den angemessenen Standort ihrer Produktionsanlagen, Regierungen von Staaten und Städten heben die besondere Tauglichkeit ihres Standorts hervor, so dass Orte in einen Wettbewerb treten, der den Blick für deren jeweilige Besonderheiten schärft. Statt von einem Obsoletwerden des Raums auszugehen, gilt es deshalb den Mehr­ebenencharakter und die Pluralität räumlicher Bezüge in den Blick zu nehmen. Was es heißt, im Zeitalter des Raums und damit nicht mehr der Diachronie, sondern der Synchronie zu leben, mag man schon daran ermessen, dass wir es immer weniger mit einer klaren Ablösung eines Zustand durch einen anderen, sondern mit einem Nebeneinander der verschiedensten Regime, Kulturen, Lebensstile, Werte, Moden usw. zu tun haben, die nicht mehr in einem Behälter namens Nationalstaat enthalten sind, sondern selbst Räume hervorbringen – vielfältig miteinander verflochtene, sich überlagernde Räume unterschiedlicher Reichweite und Ausdehnung, die durch keine vereinheitlichende Klammer mehr zusammengehalten werden, sondern gleichberechtigt nebeneinander existieren. Das räumliche Prinzip des Neben einander hat damit gewissermaßen den Raum selbst erfasst, der nun nicht mehr im Singular, sondern nur noch im Plural zu denken ist. Selbst die Überlegungen zur Verabschiedung und zur Wiederkehr des Raumes lösen keineswegs einander ab: Vielmehr stehen sie gleichberechtigt und gleichzeitig nebeneinander. Globalisierung wird zum einen im Sinne der klassischen Modernisierungstheorie so gelesen, dass Raum zu einer zunehmend irrelevanten Kategorie wird, da Entfernungen mühelos überbrückt werden können, Grenzen damit obsolet werden, sodass wir mehr und mehr in einer » grenzenlosen Gesellschaft « leben. Globalisierung wird zum anderen als Entwicklung gelesen, in der Grenzen und Räume nicht einfach verschwinden, sondern sich verändern, einen Gestalt- und Bedeutungswandel durchlaufen. Globalisierung führt zu einer neuen Aufteilung der Räume bzw. zum Aufbau neuer Räume mit neuen Grenzen. Doch wenn der Raum in dieser Weise einmal als irrelevant und ein anderes Mal als relevant dargestellt werden kann, so stellt sich die Frage, um welche Art von Raum es sich dabei eigentlich handelt ? Mit welchen Räumen haben wir es zu tun ?

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Raumkonzepte in den Sozialwissenschaften

3.1 Geographischer Raum/sozialer Raum Obwohl Raum keineswegs zu den klassischen Themen der Soziologie gehört, ist die Liste derer, die sich mit Raum auseinandergesetzt haben, dennoch überraschend lang: Bei der Suche nach Raum wird man bei Emile Durkheim, Maurice Halbwachs, Georg Simmel, Alfred Schütz, Siegfried Kracauer, Leopold von Wiese und Pitirim A. Sorokin ebenso fündig wie bei Henri Lefebvre, Talcott Parsons, Norbert Elias, Anthony Giddens, Pierre Bourdieu, Niklas Luhmann, Richard Sennett und Zygmunt Bauman. Insofern lässt sich wohl nicht von einer generellen » Raumblindheit «31 der Sozialwissenschaften sprechen. Das Problem ist weniger, dass von Raum nie die Rede gewesen wäre, sondern dass Raum als derart selbstverständlich vorausgesetzt wurde, dass eine nähere Auseinandersetzung mit ihm unnötig erscheinen musste. Er ist eben jenes Gehäuse in dem oder die Bühne auf der sich Gesellschaftliches ereignet. Diese mangelnde Thematisierung des Raums hat zum einen sicher mit seiner Ideologisierung durch die Nationalsozialisten zu tun, die ihn nach 1945 auf die Liste der Unworte beförderte.32 Zum anderen aber wohl auch damit, dass die Beschäftigung mit Raum an eine andere Disziplin delegiert wurde: der Geographie. Insofern ist die beklagte Raumblindheit weniger eine zufällige als eine durchaus gewollte und gewissermaßen selbst verordnete Blindheit, die mit dem Kampf der Soziologie um ihre Autonomie zu tun hat. Sich als Soziologe mit dem Thema Raum zu beschäftigen, ist deshalb keine Selbstverständlichkeit und war es nie. Anders als bei anderen vernachlässigten Themen der Soziologie – dem Krieg, dem Tod oder dem Körper – führt die Beschäftigung im Falle des Raums unmittelbar zur Konfrontation mit einer Disziplin, die die Erforschung des Raums als ihr ureigenstes Feld für sich beansprucht. Dass dies als Aufruf zur interdisziplinären Zusammenarbeit aufgefasst wird, wie beispielsweise bei Anthony Giddens, ist jedoch eher der Ausnahmefall. Weil sich Soziologie nicht zuletzt durch eine Reihe von » Unabhängigkeitserklärungen «33 gegenüber anderen Disziplinen konstituiert – allen voran der Biologie, der Ökonomie, der Psychologie und der Geographie34 –, droht die Beschäftigung mit Leben, ökono­ mischen Austauschbeziehungen, psychischen Systemen und Raum bzw. der Re31 32 33 34

Läpple: » Essay über den Raum «, S. 163. Vgl. Köster: Die Rede über den » Raum «, S. 7. Stichweh: » Raum und moderne Gesellschaft «, S. 93. Stichweh lässt die Geographie als Kontrahenten allerdings nicht gelten, » da es keine signifikante Episode in der Geschichte soziologischen Denkens zu geben scheint, in der die Geographie ein bedeutsamer Kontaktpartner und Konkurrent war « (ebd., S. 94). Diese Beobachtung ist mindestens dahingehend zu korrigieren, dass wir es gegenwärtig mit einer nicht zu

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duzierung des Sozialen auf diese Bereiche als Rückfall hinter historisch herausgebildete Disziplingrenzen interpretiert zu werden, was durch die Rede von der Biologisierung bzw. Naturalisierung, Ökonomisierung, Psychologisierung und » geographischen Wende «35 der Soziologie angezeigt wird. Doch es ist nicht allein die Scheu in fremden Gewässern zu fischen, sondern auch der unbedingte Wille, sich vom scheinbar natürlich Gegebenen abzusetzen, der die Soziologie dazu veranlasst, » nichts mit dem Raum zu tun haben «36 zu wollen. Der Raum, der dabei stets gemeint ist, ist der physisch-materielle Raum, der Raum der Entfernungen und Verkehrswege. In den Einlassungen zum Raum in soziologischen Zusammenhängen wird daher stets betont, dass es sich bei Raum nicht um etwas natürlich Gegebenes, sondern um etwas sozial Hergestelltes handelt. Erst mit dieser Annahme kann er zum Gegenstand der Soziologie avancieren, so die vorherrschende Meinung. Allerdings wird der Konstruktionscharakter des Raums lange Zeit allein für den sozialen Raum reserviert, während der natürliche Raum als gegeben erscheint. Vor allem in den Einlassungen der klassischen Soziologie erkennt man ein förmliches Ringen um einen sozialen Raum, den man trennscharf von einem natürlichen unterscheiden will. Während der natürliche Raum dabei der Geographie zugeschlagen wird, wird der soziale Raum als der Raum der Soziologie definiert.37 Dennoch ist unübersehbar, dass sich bisher noch jeder soziologische Versuch zum physisch-materiellen Raum irgendwie verhält. Statt ihn im Laufe der Geschichte hinter sich lassen zu können, wie sie es durchaus erhofft hatte, muss auch die Soziologie seine Persistenz zur Kenntnis nehmen. Die für die Moderne konstitutive Trennung von Gesellschaft und Natur schlägt sich in der Raumdiskussion also als Trennung des physischen vom sozialen Raum nieder. Dabei zeigt sich, dass es zumeist der physische Raum ist, dessen Relevanz für den Aufbau und das Funktionieren der modernen Gesellschaft bezweifelt wird. Insofern ist es die Gleichsetzung des Raums mit dem physischen Raum, die dazu führt, ihn im soziologischen Zusammenhang für eine zu vernachlässigende Kategorie zu halten – eine Vorstellung, von der die klassischen Modernisierungstheorien ebenso leben wie zahlreiche Globalisierungstheorien.38 In der Verabschiedung des physischen Raums manifestiert sich gewissermaßen der Sieg der Gesellschaft über die Natur. Entgegenzuhalten ist dieser Annahme, dass die Überwindung des physischen noch nichts über den sozialen Raum aussagt,

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übersehenden Annäherung zu tun haben, in der sich die Geographie durchaus als bedeutsamer Kontaktpartner erweist. Berking: » › Global Flows and Local Cultures ‹ «, S. 382. Vgl. Stichweh: » Raum und moderne Gesellschaft «, S. 93. Vgl. von Wiese: System der Allgemeinen Soziologie als Lehre von den sozialen Gebilden der Menschen (Beziehungslehre). Vgl. Schroer: Räume, Orte, Grenzen, S. 85 ff.

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der freilich nicht gänzlich vom physischen Raum zu trennen, sondern mit diesem immer schon vermengt ist. Der physische Raum ist als unbearbeitet und frei von sozialen Wahrnehmungsschemata nicht vorstellbar, sondern im Sinne Pierre Bourdieus nur als stets schon angeeigneter Raum zu verstehen.39 Im Sinne Bruno Latours könnte Raum als Hybrid bezeichnet werden,40 ist doch der physische Raum als Raum an sich so wenig zu haben wie ein sozialer Raum, der ohne materielle Basis oder physische Anbindung bliebe. Es gibt beide nicht in Reinkultur, es sei denn man benutzt Raum bloß metaphorisch. Obwohl es damit keinen anderen als sozial konstruierten Raum gibt, ist auffällig, dass die meisten soziologischen Versuche, Raum zu behandeln, dem sozialen Raum einen weiteren Raum gegenüberstellen: den physischen bei Simmel und Bourdieu, den geometrischen bei Pitirim A. Soro­kin usw. Dieses Vorgehen ist so lange legitim, wie man nicht den physischen Raum per se als eins zu eins übereinstimmend mit dem sozialen Raum vorstellt. Es wäre eine ebenso verführerische wie allzu schlichte Vorstellung, sich die physische Welt als ein getreues Abbild der sozialen Wirklichkeit vorzustellen. Wichtig bleibt vielmehr festzuhalten, dass es keinerlei Automatismus gibt, der dafür sorgt, dass sich Soziales räumlich niederschlägt. Das Verhältnis ist nicht generalisierbar, sondern bedarf der Überprüfung von Fall zu Fall. Wenn man die These vom Verschwinden und die These von der Wiederkehr des Raums miteinander vergleicht, so wird schnell deutlich, dass überall dort, wo von seinem Verschwinden die Rede ist, zumeist vom natürlichen bzw. geographischen Raum die Rede ist, dem dadurch, dass er in immer höherem Tempo immer müheloser überwunden werden kann, keine Relevanz mehr zugesprochen wird. Angeführt wird dabei zumeist der nationalstaatliche Raum, verstanden als Territorium, der auf die vielen ihn umspülenden und unterhöhlenden Ströme von Waren, Daten und Menschen keinerlei Zugriff mehr hat und damit als politisch-räumliches Ordnungsmodell ausgedient habe. Dort, wo von der Wiederkehr des Raums die Rede ist, ist dagegen zumeist nicht nur vom physischen Raum die Rede, sondern vom sozialen Raum, von virtuellen Räumen, transnationalen Räumen, Identitätsräumen, ethnischen Räumen usw. Ohne dass hier der physische Raum gänzlich vernachlässigt würde, ist doch mit Raum stets mehr gemeint als nur ein Territorium oder ein physisch-materielles Gebilde. Die These von der Verabschiedung und von der Wiederkehr des Raums stehen sich also deshalb so diametral und unversöhnlich gegenüberstehen, weil sie mit unterschiedlichen Raumkonzepten arbeiten. Während die These vom Ende des Raums offensichtlich auf einem verengten und verkürzten Raumbegriff beruht, der sich zumeist allein auf geographische Räume bezieht oder die Vorstel39 Vgl. Bourdieu: » Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum «. 40 Vgl. Latour: Wir sind nie modern gewesen.

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lung des Nationalstaats als Containerraum impliziert, basiert die These von der Wiederkehr des Raums auf einem erweiterten Raumbegriff, der sich vor allem auf den relationalen Raumbegriff stützt.

3.2 Behälterraum/Relationaler Raum ? Neben der Differenz von geographischen und sozialen Räumen haben wir es in der aktuellen Raumdebatte mit der Unterscheidung von absoluten oder relationalen Räumen zu tun. Blickt man auf die aktuelle Auseinandersetzung rund um den Begriff Raum, so gibt es eine Mehrheit von Stimmen, die den relationalen Raum präferieren und den sog. Containerraum verabschieden. Dabei steht das Container-Modell für die seit der Antike bekannte Vorstellung vom Raum als Behälter, in dem Dinge und Menschen aufgenommen werden können und ihren festen Platz haben. Die Übertragung dieses Modells in die Sozialwissenschaften hat zu der Annahme geführt, dass soziale mit politischen und ökonomischen Räumen zusammenfallen und an den jeweiligen territorialen Grenzen der Staaten enden. Diesem substantialistischen bzw. absolutistischen Raummodell steht spätestens seit Einsteins Relativitätstheorie ein relationales Raummodell gegenüber, demzufolge Raum als » relationale Ordnung körperlicher Objekte «41 verstanden wird. Nach diesem Raumverständnis lassen sich Raum und wie immer gearteter Inhalt des Raums nicht voneinander trennen. Raum und körperliche Objekte sind vielmehr untrennbar aufeinander bezogen. Obwohl gerade im soziologischen Kontext vieles für die relationale Raum­ auffassung spricht, da sie die aktive Entstehung des Raums betont statt von einem bereits bestehenden, absoluten Raum auszugehen, gilt es dennoch vor der Verabsolutierung des relationalen Raumverständnisses zu warnen. Denn unabhängig von den physikalischen Erkenntnisgewinnen, die eine Verabschiedung des Behälterraumkonzepts nahe legen mögen, geht es in einer soziologischen Per­spektive doch weniger um eine universale Gültigkeit beanspruchende Definition von Raum als vielmehr um eine Beobachtung der Raumkonstitutionen- und konstruktionen verschiedenster Akteure. Gerade aber wenn man sich für die ak­tive Hervorbringung und Produktion des Raumes durch Akteure interessiert, wird man zur Kenntnis zu nehmen haben, das Räume immer wieder als Behälterräume vorgestellt und konstruiert werden – ganz unabhängig von naturwissenschaft­lichen Plausibilitäten. So mag sich beispielsweise – angesichts der Souveränitätseinbußen des Nationalstaates im Zuge der Globalisierung – das Bild des Nationalstaats als Behälter zwar 41 Läpple: » Essay über den Raum «, S. 189. Vgl. auch Löw: Raumsoziologie; Jammer: Das Problem des Raumes.

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als Illusion entlarven lassen, doch es handelt sich dabei um eine offenbar äußerst wirkungsmächtige Illusion mit durchaus realen Folgen. So sehr die These von der Verabschiedung des Raums übertrieben und voreilig ist, so kurzsichtig verfährt auch die Idee, die glaubt, dass es auf der politischen Ebene in Zukunft auf Territorien nicht mehr ankäme, man zwar über soziale, nicht mehr aber über physische Räume reden solle. Gerade vor dem Hintergrund einer als Grenzauflösung interpretierten Globalisierung und der Entstehung flüssiger Räume, lässt sich ein verstärkter Bedarf an neuen Grenzziehungen und Grenzbildungen beobachten, der sich in der Tendenz zur Abkapselung, zum Einigeln, zum Cocooning auch räumlich Ausdruck verschafft. Und im Zuge dieser Entwicklung erlangt auch das Verständnis des Raums als Behälter erneut Auftrieb. Die Attraktivität dieses Raummodells liegt gerade darin begründet, dass es klare Grenzen zwischen innen und außen, zugehörig und fremd zu ziehen vermag. Wer als zugehörig anerkannt wird, dem wird ein Platz zugewiesen, wer nicht, wird als Fremder ausgeschlossen. Es ist kein Zufall, dass wir überall dort, wo wir es mit der Beziehung von Macht und Raum zu tun haben, auf das Behälterraumkonzept stoßen – bei Bourdieu ebenso wie bei Foucault und bei Giddens, bei dem etwa vom » Machtbehälter Schule « (Giddens 1992, 189) die Rede ist. Nach der Erläuterung Einsteins geht das Behälterraumkonzept davon aus, dass der Raum » zwar auf alle körperlichen Objekte wirkt «, aber ohne » daß diese auf ihn eine Rückwirkung ausüben «.42 Es eignet sich damit vortreff‌lich für eine Perspektive, die die Herrschaft über Individuen beschreiben wollen, die nicht zuletzt mittels einer bestimmten Architektur erreicht wird. Liegt also nach diesem Modell die Betonung auf der Zurichtung der Körper, so betont das relationale Konzept des Raumes gerade umgekehrt die kreativen Anteile der Individuen mittels ihrer Körper bei der Konstitution räumlicher Strukturen.43 Einer Perspektive, die einseitig betont, dass Räume immer wieder neu hervorgebracht werden, also ständig im Werden begriffen sind,44 ist zu erwidern, dass jede Produktion zu einem – und sei es auch noch so vorläufigen – Abschluss kommt: auch die Raumproduktion. Wenn es also das Produzieren von Raum gibt, dann gibt es auch das Produkt Raum. Zwar mögen Räume niemals ein für allemal fertig, starr und unveränderbar sein. Aber Räume sind eben auch nicht permanent im Fluss und beliebig veränderbar. Individuen machen die Erfahrung, dass sie in Räume eintreten, die sie nicht (mit)geschaffen haben und die sie nicht verändern können. 42 Einstein: » Vorwort «, S.  XIV. 43 Eine parallele Argumentation lässt sich in der Körpersoziologie nachweisen. Während die klassische, auch bei Bourdieu und Foucault vorzufindende Perspektive die auf den Körper wirkende Macht im Blick hat, fragt eine konkurrierende Perspektive nach den Raum konstituierenden Leistungen der Körper (vgl. Schroer, Soziologie des Körpers). 44 Vgl. Massey: » Spaces of Politics – Raum und Politik «, S. 36.

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Die Verfechter einer relationalen Raumperspektive neigen dazu, dem Raum seine ihm traditionell zugeschriebenen Charakteristika abzusprechen, indem sie ihn nun mit Charakteristika versehen, die traditionell der Zeit zugeschrieben werden: Nun sollen Räume dynamisch, flüssig usw. sein. Aber warum Raum überhaupt in der einen oder anderen Weise festlegen ? Nimmt das dem Raum nicht gerade seine Möglichkeiten und seine Pluralität ? Räume können sowohl offen als auch geschlossen sein, sie können sowohl statisch als auch dynamisch sein. Keine dieser Qualitäten ist Raum gleichsam eingeschrieben. Es kommt vielmehr auf den jeweiligen Kontext an und darauf, in welche gesellschaftlichen Strukturen er eingelassen ist. Räume sind zwar nicht immer schon da, können aber durchaus den Eindruck erwecken, als seien sie immer schon da gewesen und sozusagen stabil und unerschütterlich. Auch wenn sich gerade dies als Illusion herausstellen sollte, macht es doch einen Teil ihrer Attraktivität und Faszination aus. Die Rede von Räumen jedenfalls macht nur Sinn, so lange es zu einer gewissen Verfestigung und Kontinuität kommt – und sei sie auch noch so kurzfristig und fragil. Ziel einer raumsoziologischen Perspektive ist es meiner Einschätzung nach nicht, die lange Zeit vorherrschende Container-Theorie durch eine relationale Raumauffassung schlicht zu ersetzen. Ziel wäre es aus meiner Sicht vielmehr, ein Verständnis des Raums zu entwickeln, das dem Raumdeterminismus des Behälter­ konzepts ebenso entgeht wie dem Raumvoluntarismus des relationalen Raumkonzepts.

3.3 Gesellschaft/Raum Spätestens mit Henri Lefebvre hat sich die Position durchgesetzt, dass es sich bei Raum nicht um einen immer schon vorhandenen, natürlich gegebenen Raum handelt, sondern um einen sozial hervorgebrachten Raum: » (Social) space is a (social) product «.45 Nicht Raum insgesamt, sondern allein der physisch-mate­rielle Raum als gegebener natürlicher Raum verliert bei Lefebvre für den Vergesellschaftungsprozess zunehmend an Bedeutung. Der natürliche Raum verkommt zum bloßen Hintergrundbild, an das sich die Akteure zwar erinnern, dass sie in ihrer täglichen Praxis jedoch nicht mehr vorfinden. Lefebvre bricht aus dem binären Schema von physischem und sozialem Raum aus, indem er zwischen der räumlichen Praxis, den Repräsentationen vom Raum und dem Raum der Repräsentation unterscheidet.46 Der erste Raum (spatial practice/l’espace percu) ist der wahrgenommene, erlebte und benutzte Raum, den die 45 Lefebvre: The production of space, S. 30. 46 Vgl. ebd., S. 33, 38 ff.

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Akteure in ihrem alltäglichen Leben produzieren und reproduzieren. Der zweite Raum (representation of space/l’espace concu) meint den Raum des Wissens, der Zeichen und der Codes. Es ist der instrumentelle Raum der Technokraten, Stadtplaner und Wissenschaftler. Hierher gehören die von Raumexperten ersonnenen, theoretischen Raummodelle und Raumkonzepte, die auf die Wahrnehmung des Raums in der Praxis einwirken. Eine klassische Repräsentation des Raums in diesem Sinne ist die Karte. Der dritte Raum (spaces of representation/l’espace vecu) schließlich ist der imaginierte Raum der Bilder und Symbole, in dem auch widerständige und alternative Raummodelle und Raumnutzungen ihren Platz haben. Entscheidend für das Raumverständnis Lefebvres ist das dialektische Zusammenspiel aller drei Raumebenen. Raum ist ein sowohl mentales und physisches als auch symbolisches Konstrukt. Anhand dieser drei Ebenen soll die gesellschaftliche Produktion des Raums untersucht werden, die stets verschieden ausfällt, da jede Gesellschaft ihren je spezifischen Raum hervorbringt.47 Raum ist damit für Lefebvre gerade nicht jenes Gefäß bzw. jener Container, in dem sich das gesellschaftliche Leben abspielt, sondern selbst ein Produkt gesellschaftlicher Prozesse. Der Gedanke von der Herstellung des Raums durch die Aktivitäten von Akteuren, der sich zwar in Ansätzen bis zu Durkheim und Simmel zurückverfolgen lässt,48 erst jedoch bei Lefebvre in den Mittelpunkt der Analyse gestellt wird, hat die soziologische Beschäftigung mit dem Raum enorm beflügelt. Denn mit der Verabschiedung eines immer schon vorhandenen Raums im Sinne eines Rahmens, in dem sich Handlungen und Kommunikationen abspielen, ist der Weg bereitet für das Interesse an den sozialen und kulturellen Praktiken, durch die Räume hervorgebracht werden.49 Allerdings muss man wohl konstatieren, dass sich diese Einsicht nur langsam Bahn bricht und in empirische Forschungsdesigns Einlass findet. Denn immer wieder ist zu beobachten, dass nach der Herstellung der Räume durch Akteure und ihre Aktivitäten nicht gefragt, der Raum, in dem sich Soziales abspielt, vielmehr nach wie vor häufig vorausgesetzt wird. Etwa dann, wenn es in stadtsoziologische Zusammenhängen um die Erfassung der benachteiligten Wohngebiete geht, werden die aus der Medienberichterstattung sattsam bekannten Begriff‌lichkeiten ebenso übernommen wie die entsprechende Verortung der Ghettos und Problembezirke. Statt den medialen wie administrativen Vorgaben zu folgen, wäre es dagegen die Aufgabe der Soziologie, sich etwa im Sinne einer ethnografischen Analyse städtischer Quartiere für die Deutungen und Aneignungsweisen der Bewohner zu interessieren, die sich täglich in diesen Räumen bewegen. Denn » die 47 Vgl. ebd., S. 31. 48 Vgl. Schroer: Räume, Orte, Grenzen. 49 Vgl. Löw: » Die Rache des Körpers über den Raum ? «

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Bewohner der Armutsviertel sind den Fährnissen der Ökonomie zwar in besonders drastischer Weise unterworfen, doch hören sie damit nicht auf, die sozialen Bedingungen, unter denen sie leben, in einem Prozess sinnhafter Aneignung auch selbst zugestalten «50. Darüber aber erfährt man nur sehr selten etwas. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten soziologischer Texte über Banlieus, Favelas, Ghettos und Slums, die ausweglose Lage der Bewohner zu beschreiben und mit einem Ruf nach Politik, die die Verhältnisse zu verändern habe, zu beschließen. Dieser Perspektive liegt zumeist ein substantialistisches Raumverständnis zugrunde, das die benachteiligten Wohnräume zu Fallen erklärt, aus dem es kaum ein Entrinnen gibt. Die Behandlung von Ghettos, Favelas, Banlieus und benachteiligten Wohngebieten begnügt sich in weiten Teilen der soziologischen Literatur mit dem Nachweis der prekären Lebensverhältnisse in diesen räumlichen Agglomerationen. Woran es dagegen fehlt, ist das Interesse an den für die Bewohner dieser Lebensräume tatsächlich relevanten Räumen. Es fehlt am Interesse für die Einschätzungen der Bewohner selbst darüber, welchen Einfluss die räumliche Infrastruktur ihres Viertels auf ihre Lebenssituation hat. Die Individuen werden nur allzu oft zu passiven Erduldern und Opfern der durch die Eigenschaften des Raums, in dem sie leben, vorgegebenen Möglichkeiten erklärt. Auch für den Exklusionsbereich gilt es dagegen stark zu machen, dass Räume nicht einfach Gegebenheiten sind, die dem Sozialen gewissermaßen vorgelagert sind, sondern als soziale Phä­nomene zu betrachten sind, die im Handeln und Erleben von Akteuren, also durch soziale Praxis, erst entstehen. In einer solchen Perspektive würden die Bewohner der benachteiligten Wohnbezirke nicht mehr länger zu passiven Erduldern ihrer Situation stilisiert, sondern als handelnde Individuen ernst genommen.51

3.4 Raum/Gesellschaft In der soziologischen Erforschung des Raums lässt sich leicht das Ziel ausmachen, Raum nicht den Status einer erklärenden Variablen für soziale Prozesse zu verleihen. Vor allem in den Anfängen insbesondere der deutschen Soziologie ist das Bestreben unverkennbar, nicht in das Fahrwasser des raumdeterministischen Denkens der geopolitischen Schule zu geraten, die den Raum selbst als Verursacher und Akteur des sozialen Geschehens angesehen hat. Bei Georg Simmel heißt es beispielsweise ausdrücklich, dass es sich bei der Rede von der » Macht des Raumes « um eine vereinfachende Formel handelt, die über die wahren Gründe und Ursachen hinwegtäuschen, die den entsprechenden Ereignissen tatsächlich zu50 Neckel: » Zwischen Robert E. Park und Pierre Bourdieu «, S. 79. 51 Vgl. Pott: » Der räumliche Blick «.

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grunde liegen.52 Ähnlich begegnen wir bei Bourdieu der eindringlichen Warnung, den Raum selbst als einen Verursacher sozialen Leids anzusehen.53 Man könnte in der Verweigerung, Raum einen eigenständigen Einfluss auf soziale Prozesse zuzubilligen, beinahe einen soziologischen common sense ausmachen, wären da nicht die vielen Versuche, die Einflüsse räumlicher Gegebenheiten auf das Soziale dennoch in die Untersuchungen mit einzubeziehen. Georg Simmels Untersuchungen zum Raum stehen beispielsweise dafür, sowohl die Erzeugung des Raums durch menschliche Aktivitäten als auch die Wirkungen räumlicher Konfigurationen auf menschliche Aktivitäten analysieren zu wollen. Auf der einen Seite entstehen räumliche Strukturen überhaupt erst durch menschliche Aktivitäten und auf der anderen Seite haben diese so geschaffenen Strukturen ihrerseits Rückwirkungen auf menschliche Aktivitäten.54 Simmel scheut sich auch nicht, den Einfluss geographischer Gegebenheiten auf gesellschaftliche Entwicklungen geltend zu machen,55 etwa wenn er dem Meer die Verbindung der Länder und den Gebirgen ihre gegenseitige Isolierung zuschreibt. Nicht zuletzt hat gerade Georg Simmel gezeigt, welche Auswirkungen die besondere Siedlungsform Stadt auf die Mentalität ihrer Einwohner hat.56 Auch in der sozialen Morphologie von Maurice Halbwachs stoßen wir auf die Idee einer gegenseitigen Beeinflussung von Raum und sozialer Gruppe. So betont er etwa ausdrücklich: » Eine Gruppe, die in einem bestimmten räumlichen Bereich lebt, formt ihn nach ihrem eigenen Bild um; gleichzeitig aber beugt sie sich denjenigen materiellen Dingen, die ihr Widerstand leisten. «57 Und weiter: » Der Ort hat das Gepräge der Gruppe erhalten und umgekehrt. «58 Es ist dieser, bei Simmel wie Halbwachs anzutreffende Gedanke einer wechselseitigen Beeinflussung, der beide vor raumdeterministischen Argumentationen bewahrt. Für beide ist es nie der Raum selbst, der entsprechende Wirkungen auf Soziales zeitigt, sondern die ihm zugeschriebenen Eigenschaften. Im Einklang mit diesen klassischen Vorgaben ist mit Bernd Hamm und Ingo Neumann davon auszugehen, dass Raum nicht nur in sozialen Interaktionen, durch Handlungen oder Kommunikationen hergestellt wird (was auch konstruktivistische Positionen betonen), sondern dass Raum » auch umgekehrt prägend,

52 Simmel: Soziologie, S. 687. 53 Vgl. Bourdieu: » Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum «. Vgl. dazu auch Schroer: » Zwischen Engagement und Distanzierung «, S. 244 ff.; Schroer: » Mobilität ohne Grenzen «. 54 Vgl. Schroer: » Jenseits funktionaler Differenzierung ? «. 55 Vgl. Simmel: Hauptprobleme der Philosophie, S. 301. 56 Vgl. Simmel: » Die Großstädte und das Geistesleben «. 57 Halbwachs: » Soziale Morphologie «, S. 129. 58 Ebd., S. 130.

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kanalisierend auf soziales Verhalten einwirkt «59 (was konstruktivistische Positionen vernachlässigen). Unsere Handlungen und Kommunikationen werden durch räumliche Arrangements geprägt und vorstrukturiert: Eine universitäre Vorle­ sung beispielsweise entfaltet keineswegs überall die gleiche Wirkung, sondern muss durch räumliche wie zeitliche Arrangements entsprechend vorbereitet und flankiert werden. Natürlich kann man ein Seminar auch unter freiem Himmel abhalten. Der Verlauf der Sitzung aber wird ein anderer sein: Es kommen Außeneinflüsse hinzu, die gegenseitige Wahrnehmung ist eine andere, die thematische Kanalisierung der Kommunikation wird erschwert usw. Mit anderen Worten: Raum prägt unser Verhalten und drückt ihm seinen Stempel auf. Aber Räume helfen uns auch zu entscheiden, in welcher Situation wir uns befinden. Sie kanalisieren, in welche Situationen wir kommen und welche Erwartungen wir haben können, sie strukturieren Interaktionsabläufe, machen einige wahrscheinlich, andere unwahrscheinlich. Räume dienen insofern der Komplexitätsreduktion. Freilich ist es in all diesen Beispielen nie der Raum selbst, der ein bestimmtes Verhalten gleichsam automatisch, unter Umgehung des Bewusstseins der Akteur hervorruft: Räume (Bauten, Orte, Plätze), die eine eindeutige dominante Valenz aufweisen, induzieren dieser Valenz entsprechende Verhaltens- und Interaktionsmodi. Nicht also physikalische Raumstrukturen als solche determinieren […] menschliches Verhalten, sondern die Bedeutungen und Wertigkeiten, die Menschen bestimmten Strukturen und Orten attribuieren, legen auch das ihnen entsprechende Verhalten nahe.60

Die Bedeutungen und Wertigkeiten aber, die Individuen bestimmten Orten und Räumen attribuieren, werden nicht in jeder Situation immer wieder aufs Neue vorgenommen. Vielmehr entlasten vorgegebene räumliche Arrangements gerade von Situationsdefinitionen, weil in ihnen die Bedeutungen und Wertigkeiten bereits eingeschrieben sind. Räume dienen insofern der Komplexitätsreduktion.

3.5 Raum/Zeit Als alter Widersacher des Raums erscheint traditionell die Zeit. Während Zeit traditionell für das Mobile, Dynamische und Progressive, für Veränderung, Entwicklung und Geschichte steht, steht Raum für Immobilität, Stagnation und das Re-

59 Hamm/Neumann: Ökologische Soziologie, Bd. 2, S. 54. 60 Kruse/Graumann: » Sozialpsychologie des Raumes und der Bewegung «, S. 190.

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aktionäre, für Stillstand, Starre und Festigkeit.61 Und es ist diese Konnotation von Raum, die ihn innerhalb eines an sozialem Wandel, Fortschritt und Beschleunigung interessierten Wissenschaft wie der Soziologie von Anfang an nicht nur zu einer zu vernachlässigenden, sondern auch zu einer zu überwindenden Kategorie gemacht hat. Doch was nach den traditionellen Auffassungen des Raumes undenkbar erscheint, scheint sich heute gerade zu vollziehen: Nicht mehr nur die Dinge im Raum, sondern auch der Raum selbst gerät in Bewegung. Man kann diesen Trend bis hinein in die Architektur verfolgen, wo es auf leichte und veränderliche Baumaterialien und Formen ankommt, wir es mit einer Art mobilen Architektur zu tun bekommen, die nicht mehr länger mono-, sondern multifunktional ausgerichtet ist.62 Man kann dies aber auch an Castells Begriff vom » Raum der Ströme « oder den transnationalen und virtuellen Räumen ablesen, die in der Tat nicht mehr länger als Gehäuse vorstellbar sind, sondern eine äußerst flexible und fluide Gestalt aufweisen. Raum ist damit nicht mehr länger das Hindernis und das Widerstand bietende Element, sondern wird nun selbst verflüssigt, um ungehindert überall hin gelangen zu können. Wenn das so ist, dann lässt sich darin einerseits die ungebremste Macht der Zeit erkennen, die auch vor dem Raum nicht länger Halt macht, sondern ihn mitreißt in den Strudel der Beschleunigung, der die Moderne von Anfang an charakterisiert. Andererseits lässt sich dies auch so lesen, dass die Beschleunigung gewissermaßen einen Grad der Sättigung erreicht, der eine Entschleunigung in Gang setzt, was den Raum in seiner ursprünglichen Gestalt (und seinen klassischen Konnotationen) wieder auf den Plan bringt, als Hindernis und Widerstand gegen eine sich permanent beschleunigende Entwicklungsspirale. Unterliegt im ersten Fall der Raum der Zeit, so ist im zweiten Fall die Zeit der Verlierer. Man könnte sich dies als immer wiederkehrende Dynamik von Beschleunigung und Entschleunigung, Bewegung und Beharrung vorstellen, so dass einmal Raum und dann wieder Zeit alternierend vorherrschend wären. Momentan scheint es so, also gerieten die Räume in Bewegung, während die Zeit still steht. Damit hätten Raum und Zeit ihre klassischen Funktionen und Charaktereigenschaften gleichsam getauscht. Wir müssten Starrheit auf die Seite der Zeit und Bewegung auf die Seite des Raums schlagen. Zumindest aber hätten wir es mit einer Temporalisierung des Raums und einer Spatialisierung der Zeit (» Kristallisation «) zu tun (Abb. 1). Beides lässt sich aber nur so lange wahrnehmen und diagnostizieren, wie die Unterscheidung von Raum und Zeit aufrecht erhalten wird, entgegen der gegenwärtigen Tendenz, sie bis zur Unkenntlichkeit miteinander zu vermengen. 61 Vgl. Foucault: » Power, Knowledge «, S. 70; Soja: » Geschichte, Geographie, Modernität «, S.  74 ff. 62 Vgl. Schroer: » Mobilität ohne Grenzen «.

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Abbildung 1

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Raum/Zeit

• • • •

Mobilität Beschleunigung Flüssige Moderne Offene Räume

• • • •

Kristallisation Erstarrung Ende der Geschichte Geschlossene Räume

Verräumlichung

Verzeitlichung

Zeit

Raum

4

Turn, turn, turn … spatial turn ?

Die Rede vom spatial turn, der oft als Ablösung des linguistic turn angeführt wird, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es auch hinsichtlich der verschiedenen turns, die in den vergangenen Jahren für Aufsehen in den Sozial- und Kulturwissenschaften gesorgt haben,63 nicht mehr länger mit einander ablösenden turns zu tun haben, sondern mit einem Nebeneinander verschiedener turns, die gleichzeitig diskutiert werden. Neben dem spatial turn sind es dabei vor allem der pictorial turn64, der somatic turn65 oder body turn66. Mit gleichem Recht ließe sich wohl auch von einem nature turn, einem thing turn oder einem material turn sprechen. Wie viele von diesen turns auch immer ihre Berechtigung haben mögen, fest scheint mir zu stehen, dass sie keineswegs ohne Zusammenhang untereinander sind. Vielmehr lassen sie sich als eine Art Gegenbewegung zu einigen vorherrschenden Trends in der Sozialwissenschaften verstehen: Gegen die Einschränkung des Sozialen auf die Beziehungen zwischen Menschen werden die Objektbeziehungen stark gemacht, gegen die Orientierung an zeitlichen Parametern wird der Raum wieder ins Feld geführt, gegen die Dominanz von Texten wird auf die Bedeutung von Bildern hingewiesen und gegen die Betonung des Bewusst63 64 65 66

Vgl. Bachmann-Medick: Cultural Turns. Vgl. Mitchell: » Der Pictorial Turn «. Vgl. Turner: The Body and Society. Vgl. Gugutzer: Body Turn.

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seins wird wieder auf den Körper Bezug genommen. Wie man es auch drehen und wenden mag, artikuliert sich in all diesen turns zusammengenommen ein gewisses Unbehagen gegenüber einem eingeschränkten Verständnis von Sozialität und auch eine gewisse Sehnsucht nach Konkretisierungen. Es hat tatsächlich den Anschein, als gäbe es einen neuen Bedarf am Greifbaren, Materiellen, Konkreten und Evidenten. Wie kaum ein anderer Gegenstand scheint gerade der Raum – und in ähnlicher Weise auch der Körper – geradezu ein Garant für das Reale darzustellen, dem man sich – gleichsam ohne Umwege – wieder zuwenden möchte. Dabei gibt es durchaus die Tendenz, sich nicht mehr länger mit der Rede über den Raum, den Körper usw. zu begnügen, sondern sich ihnen selbst zuzuwenden. Die Gefahr dieser Tendenz besteht darin, einer Art Unmittelbarismus das Wort zu reden, der souverän ignoriert, dass wir keinen unmittelbaren, sondern einen immer schon vermittelten Zugang zu den Dingen, Räumen und Körpern haben. Für eine soziologische Perspektive scheint mir jedoch wichtig zu sein, das offensichtliche Bedürfnis nach dem Konkreten und Greifbaren ernst zu nehmen, scheint sich darin doch eine tiefe Verunsicherung darüber zu artikulieren, was unter den gegenwärtigen Bedingungen noch unter Wirklichkeit verstanden werden kann.67 Obwohl der Raum unbestreitbar wieder auf der Agenda auftaucht, ist nach wie vor eine gewisse Scheu und Skepsis vor der Thematisierung des Raums zu beobachten. Insofern scheint es mir verfrüht, von einem bereits durchgesetzten spatial turn in den Sozialwissenschaften zu sprechen. Allerdings wäre die Soziologie gut beraten, sich umfassend mit Raum zu beschäftigen, handelt doch Globalisierung von nichts anderem als von der » räumlichen Organisationsformen sozialer Beziehungen «68. Entgegen den Befürchtungen, dass das neue Interesse am Raum unmittelbar in eine » Raumfalle « hineinführe, scheint es mir ebenso möglich wie lohnend zu sein, sich jenseits von Raumdeterminismus und Raumvoluntarismus mit der sozialen Formierung des Räumlichen und den Rückwirkungen des Räumlichen auf das Soziale zu beschäftigen.

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Raum im Poststrukturalismus

Der Begriff des Raums spielt in der Soziologie eine eher marginale Rolle. Läßt man die verschiedenen Theorieschulen Revue passieren, wird schnell deutlich, daß er nicht zu ihren Leitkategorien gehört. Es gibt zahlreiche Gründe für diesen Befund, die an dieser Stelle jedoch nicht weiter behandelt werden können.1 Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist, daß die marginale Thematisierung des Raumthemas nicht mit einem völligen Fehlen räumlicher Kategorien im sozialwissenschaftlichen Denken zu verwechseln ist. Vielmehr lässt sich konstatieren, daß » allem Reden und Verständnis des Sozialen eine Raum-Vorstellung inhärent «2 ist. Und gerade dies scheint einer der wesentlichen Gründe für die mangelnde Reflexion des Begriffs zu sein. Die nicht explizit behandelte, eher subkutan wirkende Raumvorstellung, die in den Sozialwissenschaften lange Zeit Gültigkeit für sich beanspruchen konnte, ist die Vorstellung vom Raum als Container. Dabei steht das Container-Modell für die seit der Antike bekannte Vorstellung vom Raum als Behälter, in dem Dinge und Menschen aufgenommen werden können und ihren festen Platz haben. Die Übertragung dieses Modells in die Sozialwissenschaften hat zu der Annahme geführt, daß soziale mit politischen und ökonomischen Räumen zusammenfallen und an den jeweiligen territorialen Grenzen der Staaten enden. Diesem substantialistischen bzw. absolutistischen Raum­modell steht spätestens seit Einsteins Relativitätstheorie ein relationales Raummodell gegenüber, demzufolge Raum als » relationale Ordnung körperlicher Objekte «3 verstanVgl. dazu Markus Schroer: Räume Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M. 2007, 2. Auflage. 2 Ludger Pries: » Neue Migranten im transnationalen Raum «, in: Ders. (Hg.): Transnationale Migration, Soziale Welt-Sonderband 12. Baden-Baden 1997, S. 15 – ​44; hier S. 18. 3 Vgl. Dieter Läpple: » Essay über den Raum «. Für ein gesellschaftwissenschaftliches Raumkonzept, in: Hartmut Häußermann u. a. (Hg.): Stadt und Raum. Soziologische Analysen, Pfaffenweiler 1991, S. 157 – ​207.

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Schroer, Räume der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2_2

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Raum im Poststrukturalismus

den wird. Nach diesem Raumverständnis lassen sich Raum und wie immer gearteter Inhalt des Raums nicht voneinander trennen. Raum und körperliche Objekte sind vielmehr untrennbar aufeinander bezogen. Statt von einem bereits bestehenden, absoluten Raum auszugehen, wird nach diesem Verständnis gerade die aktive Entstehung des Raums durch soziale Praxis, Handlungen oder Kommunikationen betont. Aktuell scheint die ehemalige Dominanz des Containerraums durch eine Dominanz des relationalen Raums ersetzt zu werden.4 Der Bezug des Strukturalismus bzw. Poststrukturalismus zum Raum erscheint zunächst nicht offensichtlich, haben doch beide die Orientierung an linguistischen und semiotischen Modellen gemeinsam, die den Text und die Sprache in den Mittelpunkt stellen. Leicht kann dabei übersehen werden, daß sich schon die frühen Strukturalisten dem Raum zugewandt haben. Allerdings galten ihnen Strukturen vor allem deshalb als räumlich, weil sie a-temporal konzipiert wurden.5 Damit partizipiert auch der Strukturalismus an der weitverbreiteten Idee, Raum mit Stagnation und Unbeweglichkeit gleichzusetzen.6 Die poststrukturalistischen Positionen zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, mit diesem Raumverständnis zu brechen und ein relationales Raumverständnis zu etablieren, das jedoch ebenfalls schon im Strukturalismus angelegt zu sein scheint.7 Wie im folgenden gezeigt werden soll, läßt sich von Pierre Bourdieu (1.) über Michel Foucault (2.) bis Gilles Deleuze und Félix Guattari (3.) ein zunehmendes Abrücken von der Vorstellung des absoluten Raums zugunsten eines relationales Raumverständnis beobachten. Pierre Bourdieus Arbeiten werden zumeist nicht im engeren Sinn zum Poststrukturalismus hinzugezählt.8 Wenn man jedoch davon ausgeht, daß sich der Poststrukturalismus » aus einer komplexen Revision und Neudefinition des […] insbesondere französischen Strukturalismus (Claude Lévi-Strauss, Ferdinand de Saussure, Roman Jakobson, Louis Althusser) «9 entwickelt, dann kann Bourdieu durchaus als Poststrukturalist bezeichnet werden, ist doch die Kritik am Strukturalismus für Bourdieus Selbstverständnis von elementarer Bedeutung. Bezeich4 Was nicht unproblematisch ist, vgl. dazu Markus Schroer, Räume Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M. 2007, 2. Auflage, S. 177 ff. 5 Vgl. Doreen Massey: » Spaces of Politics – Raum und Politik «, in: Hans Gebhardt, Paul Reuber, Günter Wolkersdorfer (Hg.): Kulturgeographie. Aktuelle Ansätze und Entwicklungen, Heidelberg, Berlin 2003, S. 33 – ​46; hier S. 35. 6 » Space was treated as the dead, the fixed, the undialectical, the immobile. Time, on the contrary, was richness, fecundity, life, dialectic. « (Michel Foucault: Power, Knowledge. Selected Interviews and Other Writings 1972 – ​1977, Edited by Colin Gordon. New York 1980, S. 70.) 7 Vgl. Gilles Deleuze: Woran erkennt man den Strukturalismus ? Berlin 1992, S. 15 ff. 8 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Transformation der Kulturtheorien, Weilerswist 2000, S. 263, Fn. 119. 9 Hanjo Berressem: Poststrukturalismus, in: Ansgar Nünning (Hg.): Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, Stuttgart, Weimar 2005, S. 184 – ​187; hier S. 185.

Raum im Poststrukturalismus 29

nend für sein Werk aber scheint mir vor allem seine Zwischenstellung zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus, Moderne und Postmoderne10 zu sein, die sich auch in seinem Raumverständnis niederschlägt.

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Pierre Bourdieu: Physischer und sozialer Raum

Schon zu Beginn von Bourdieus Arbeit11 spielt die Kategorie des Raums eine zentrale Rolle. In noch streng strukturalistischer Manier wird in einer an Claude Lévi-Strauss anknüpfenden ethnologischen Arbeit über die Kabylen in Algerien gezeigt, wie sich aus der Dichotomie von Mann und Frau eine ganze Kette weiterer Unterscheidungen ergeben, die sich auch in räumlichen Differenzierungen niederschlagen. So ist der männliche Raum mit dem Versammlungsort, dem Markt und den Feldern assoziiert, der weibliche Raum dagegen mit Haus und Garten als Refugium. Selbst im Hausinneren, aus dem der Mann ausgeschlossen und in den die Frau eingeschlossen ist, teilen sich die » Tätigkeiten nach ihrer Zugehörigkeit zur männlichen Welt des Trockenen, des Feuers, des Oberen, des Gekochten oder des Tages « im Gegensatz zur » weiblichen Welt des Feuchten, des Wassers, des Unteren, des Rohen oder der Nacht «.12 Ausgehend von einem einzigen Gegensatzpaar – das ist eine der Grundlagen der strukturalistischen Methode, an der Bourdieu festhält – können die verschiedenen Teilungen der Sozialwelt, etwa nach Geschlecht, Alter oder Klasse, rekonstruiert werden. Bourdieus grundsätzliche theoretische Annahme lautet, daß die soziale Welt aus einem mehrdimensionalen Raum besteht, der sich als ein » Ensemble objektiver Kräfteverhältnisse «13 verstehen läßt. Der soziale Raum besteht aus einzelnen Teilräumen, die Bourdieu manchmal auch Felder nennt. Diese Felder, etwa das politische, das wissenschaftliche, das universitäre, das journalistische oder das wirtschaftliche Feld, die über ihre je eigenen Funktionsgesetze verfügen, sind nicht nur » Kraftfelder «, sondern auch » Kampffelder, auf denen um Wahrung oder Veränderung der Kräfteverhältnisse gerungen wird. «14 Die von den Akteuren eingenommene soziale Position innerhalb des sozialen Raums und seiner verschiedenen Felder ergibt sich aus ihrer je spezifischen Anhäufung der einzelnen 10 Vgl. zu dieser Einschätzung übereinstimmend Scott Lash: Sociology of Postmodernism, London 1990, S. 237 ff. und Markus Schwingel: Bourdieu zur Einführung, Hamburg 1995, S. 143 ff. 11 Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1976. 12 Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M. 1987, S. 142. 13 Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und › Klassen ‹: Lecon sur la lecon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 10. 14 Ebd., S. 74.

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Raum im Poststrukturalismus

Kapitalsorten. Dem sozialen Raum liegen nach Bourdieu » bestimmte Unterscheidungs- bzw. Verteilungsprinzipen «15 zugrunde. Die sozialen Akteure und Gruppen sind aufgrund ihrer jeweiligen » relativen Stellung innerhalb dieses Raums «16 definiert. Sie verteilen sich in der ersten Raumdimension entsprechend ihres Gesamtumfangs an Kapital; in der zweiten Dimension entsprechend der Zusammensetzung ihrer Kapitalsorten, also je nach ihrem Anteil an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital; als dritte Dimension fungiert schließlich die Zeit, bei der es um die diachrone Entwicklung der sozialen Position, um die Laufbahn geht.17 Jeder Akteur hat jeweils nur eine Stellung im Raum inne. Für Bourdieu erfüllt der Raum damit die Funktion, Unterscheidungen und Unterteilungen vorzunehmen, also Grenzen zu ziehen, dank deren Wirksamkeit die Möglichkeit einer Begegnung zwischen zwei mit Kapital ungleich ausgestatteten Akteuren so gut wie ausgeschlossen ist: » Sozialer Raum: das meint, daß man nicht jeden mit jedem zusammenbringen kann – unter Mißachtung der grundlegenden, zumal ökonomischen und kulturellen Unterschiede. «18 Der Raum erfüllt somit nicht nur eine Ordnungsfunktion, er ist auch ein Garant für die Stabilität der sozialen Ordnung. Doch Bourdieu beläßt es nicht bei der Bestimmung des soziale Raums. Ihm geht es vor allem um die Verbindung von sozialem und physischem Raum. In Umkehrung der traditionellen Sichtweise ist bei Bourdieu jedoch gerade nicht der physische Raum der » reale « Raum, während der soziale nur eine Abstraktion darstellt. Vielmehr ist der soziale so real wie der physische: » Was existiert, das ist ein Raum von Beziehungen, ebenso wirklich wie der geographische, worin Stellenwechsel und Ortsveränderungen nur um den Preis von Arbeit, Anstrengungen und vor allem Zeit zu haben sind (…). Entfernung bemißt sich auch hier in Zeit. «19 Sozialer wie physischer Raum verdanken sich folglich den gleichen Konstitutionsbedingungen, in ihnen wirken die gleichen Kräfte und herrschen die gleichen Gesetze. Die Verbindungen zwischen beiden Räumen sind so eng, daß » der von einem Akteur eingenommene Ort und sein Platz im angeeigneten physischen Raum hervorragende Indikatoren für seine Stellung im sozialen Raum abgeben «20, denn das Soziale schlägt sich nach Bourdieu unmittelbar im Physischen nieder. Diese für Bourdieus Raumverständnis grundlegende These, hat zweierlei 15 Ebd., S. 9. 16 Ebd., S. 10. 17 Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1987, S. 196. 18 Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und › Klassen ‹. Lecon sur la lecon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt/M. 1985, S. 14. 19 Ebd., S. 13. 20 Pierre Bourdieu: » Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum «, in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume, Frankfurt/M. 1991, S. 25 – ​34; hier S. 25.

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Effekte, die als eine Art Grundmelodie Bourdieus gesamtes Werk begleiten: Zum einen ergibt sich die immer wieder betonte » Trägheit der für den sozialen Raum konstitutiven Strukturen « gerade aus dem Umstand, daß sie » dem physischen Raum eingelagert sind «21 und sich nur unter erheblichem Aufwand verändern lassen. Zum anderen ruft » die Einschreibung der sozialen Realität in die physische Welt « einen » Naturalisierungseffekt «22 hervor, der die sozial geschaffenen Unterschiede wie natürlich bestehende Unterschiede erscheinen lässt. Die räumliche Objektivierung sozialer Tatbestände verfestigt also nicht nur bestehende soziale Ungleichheiten, womit sie sich als Hemmschuh für sozialen Wandel erweist, sie trägt zusätzlich noch zur Verschleierung sozial hergestellter Realitäten bei, indem diese der » Natur der Dinge «23 zugeschrieben werden. Unschwer erkennbar bedient sich Bourdieu mit dieser Verwendung des Raumbegriffs der klassischen Konnotationen des Raums als dauerhaft, starr, reaktionär und unbeweglich.24 Die dem physischen Raums zugeschriebenen Eigenschaften werden auf den sozialen Raum übertragen und äußern sich darin, daß soziale Mobilität nur in geringem Umfang feststellbar ist, soziale Veränderungen nur schwer in Gang zu setzen sind und sozialer Wandel sich nur äußerst langsam vollzieht. Das Konzept des Raums übernimmt bei Bourdieu die Funktion, seine These von der Stabilität und Kontinuität der gesellschaftlichen Strukturen zu stützen.

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Michel Foucault: Räume und Gegenräume

In Michel Foucaults Schriften nimmt der Raum einen prominenten Stellenwert ein, auch wenn er sich nur in einigen wenigen Texten der begriff‌lichen Bestimmung des Raums gewidmet hat. Doch selbst diese kurzen Einlassungen haben – neben denen Bourdieus – zu einem erheblichen Maß zu jenem » spatial turn « in den Sozial- und Kulturwissenschaften beigetragen, der seit einigen Jahren lebhaft diskutiert wird.25 Dabei ist es neben seiner zeitdiagnostischen Aussage, daß wir in einem » Zeitalter des Raumes «26 leben, vor allem seine Zurückweisung der traditionellen Attribute des Raums, die den Anstoß zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Raum gegeben haben, als es zuvor in den Sozialwissenschaften üb21 Ebd., S. 26. 22 Ebd., S. 27. 23 Ebd. 24 Vgl. Fn. 6 25 Vgl. dazu jetzt Jörg Döring: Spatial Turn, Bielefeld 2007. 26 Michel Foucault: » Von anderen Räumen «, in: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2006, S. 317 – ​329, hier S. 317.

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lich war. So wendet sich Foucault explizit gegen die Vorstellung, Raum mit dem Toten, Fixierten, Undialektischen und Immobilen gleichzusetzen, Zeit aber mit Reichtum, Fruchtbarkeit, Leben und Dialektik zu assoziieren.27 Dem in der Sozialwissenschaft weit verbreiteten Verständnis des Raums als leerem Behälter, auf den sich diese Konnotationen beziehen, setzt er ein relationales Raumverständnis entgegen: » Anders gesagt, wir leben nicht in einer Leere, die wir mit Menschen und Dingen füllen könnten. […] Wir leben vielmehr innerhalb einer Menge von Relationen, die Orte definieren, welche sich nicht aufeinander reduzieren und einander absolut nicht überlagern lassen. «28 Trotz seiner These von der im 20. Jahrhundert gestiegenen Bedeutung des Raums will Foucault damit nicht sagen, daß die für das 19. Jahrhundert typische Vorherrschaft der Zeit und der Geschichte nunmehr durch eine Vorherrschaft des Raums abgelöst wird. Ihm geht es vielmehr um den Nachweis des Zusammenhangs von Raum und Zeit, der sich schon allein daraus ergibt, daß der Raum in der abendländischen Erfahrung seine eigene Geschichte hat. Die Berücksichtigung des Raums in der Geschichte führt nicht zur Leugnung, sondern zu einem anderen Verständnis von Zeit und zu einer anderen Form der Geschichtsschreibung. Statt der Vorstellung von einander ablösenden Epochen und Ereignissen, eines bloßen Hintereinanders also, bekommt man es mit der Vorstellung eines Gegenübers und Nebeneinanders von Elementen und Ereignissen zu tun: » Wir leben in einem Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und des Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten. Die Welt wird heute nicht so sehr als ein großes Lebewesen verstanden, das sich in der Zeit entwickelt, sondern als ein Netz, dessen Stränge sich kreuzen und Punkte verbinden. «29 Der Strukturalismus steht bei Foucault dabei für den Versuch, zwischen den isoliert erscheinenden Ereignissen Beziehungen herzustellen, die sie als » etwas ineinander Verschachteltes, kurz als Konfiguration «30 ausweisen. Die Geschichte des Raums lässt sich nach Foucault in drei Abschnitte unterteilen: Er unterscheidet zwischen einem Raum der Lokalisierung bzw. einem Ortungsraum im Mittelalter, einem Raum der Ausdehnung, der seit dem 17. Jahrhundert mit Galilei auf den Plan tritt und einem Raum der Lagerungen (bzw. Relationen) im gegenwärtigen Zeitalter. Entscheidend für den Raum des Mittelalters war die Hierarchie der Orte, nach der zwischen heiligen und profanen, geschützten oder schutzlosen, städtischen oder ländlichen Orten streng unterschieden wurde. Hier 27 Vgl. Michel Foucault: Power, Knowledge. Selected Interviews and Other Writings 1972 – ​1977, Edited by Colin Gordon. New York 1980, S. 70. 28 Michel Foucault: » Von anderen Räumen «, in: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2006, S. 317 – ​329, hier 319 f. 29 Ebd., S. 317. 30 Ebd.

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herrscht noch die Vorstellung vor, daß sich die Dinge im Zustand der Ruhe an ihrem natürlichen Platz befinden, sofern sie nicht gewaltsam von dort entfernt wurden. Abgelöst wurde sie durch die Vorstellung eines unendlichen und unendlich offenen Raums, in dem » der Ort eines Dings nun nur noch ein Punkt auf seiner Bahn war und Ruhe nur noch unendlich verlangsamte Bewegung bedeutete. «31 Für die aktuelle Raumauffassung schließlich ist die » Lage « entscheidend, die » durch Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten oder Elementen «32 bestimmt wird: » Wir leben in einer Zeit, in der sich uns der Raum in Form von Relationen der Lage darbietet. «33 Diese drei Raumtypen unterscheiden sich offensichtlich durch ihr je verschiedenes Verhältnis zu den Kategorien Ruhe und Bewegung, das sich im Laufe der Zeit immer deutlicher in Richtung Bewegung verschiebt: » Im Gegensatz zum Raum der hierarchisierten Orte und zum Raum der unendlichen Ausdehnung ist in diesem Verständnis von Raum Bewegung immer bereits mitgedacht. «34 Die Geschichte der einander ablösenden Raummodelle ist insofern auch das Ergebnis zunehmender Beschleunigung. Während im ersten Fall die Dinge und Menschen durch den Ort charakterisiert waren, an dem sie sich befanden, wird im zweiten Fall der zurückgelegte Weg zum Charakteristikum. Im dritten Fall schließlich ist ein Element durch die Relation zu einem anderen Element charakterisiert. Zur entscheidenden Frage wird hier, welche der im Raum verteilten Elemente man wie miteinander in Beziehung setzt. Da es keine vorgegebene Ordnung mehr gibt, muss dies von Fall zu Fall entschieden werden. Die Beziehungen sind folglich nicht immer schon da, sondern müssen erst hergestellt werden. Der als Konfiguration oder Netzwerk vorgestellte Raum bringt Menschen und Dinge zwar noch immer in eine bestimmte Ordnung – aber in eine nur vorübergehende, zeitlich befristete, fragile, letztlich kontingente Ordnung, die jederzeit eine andere Gestalt annehmen kann. Damit gerät, gegenüber der Ordnung als Ergebnis, der Akt des Ordnens, des Herstellens von Ordnung in den Vordergrund. Foucaults eigentliches Interesse gilt nun jenen Räumen, » die in Verbindung und dennoch im Widerspruch zu allen anderen Orten stehen «35. Das sind zum einen die Utopien und zum anderen die Heterotopien. Utopien sind, verstanden als » Orte ohne realen Ort […], entweder das vervollkommnete Bild oder das Ge-

31 Ebd., S. 318. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Martina Löw: Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001, S. 148. 35 Michel Foucault: » Von anderen Räumen «, in: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2006, S. 317 – ​329, hier S. 320.

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genbild der Gesellschaft. «36 Im Gegensatz zu diesen » zutiefst irreale[n] Räumen « sind Heterotopien » reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen […] all die anderen realen Orte zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. «37 Foucault geht davon aus, daß es sich bei der Existenz von Heterotopien um eine Konstante innerhalb der kulturellen Entwicklung handelt. Es gibt demnach keine Kultur, die keinerlei Hetero­topien hervorgebracht hätte. Kasernen, Gefängnisse und Friedhöfe gehören ebenso dazu wie Museen, Bibliotheken und Jahrmärkte, Feriendörfer, Saunen und Bordelle. Allerdings unterscheiden sie sich hinsichtlich ihrer Funk­tionsweise, die von Gesellschaft zu Gesellschaft variieren kann. So hätten etwa die so­genannten primitiven Gesellschaften die Form von » Krisenheterotopien «38 hervorgebracht, die in unserer Zeit zunehmend durch die » Abweichungsheterotopien «39 abgelöst würden. Krisenheterotopien sind für Menschen vorbehaltene Orte, die sich in einem (vorübergehenden) Krisenzustand befinden. Foucault nennt Heranwachsende, Frauen im Kindbett, Greise usw. Obwohl er diese Kri­senheterotopien als im Schwinden begriffen definiert, ragen doch noch einige dieser Räume bis weit in unsere Gegenwart hinein. So stellt etwa die Eisenbahn oder das Hotel für Hochzeitsreisende, » jener geographisch nicht weiter bestimmbare «40 Ort, jenes » Nirgendwo «41, an dem die Defloration der jungen Frau stattfinden soll, eine Krisen­ heterotopie unserer Tage dar. Das ist nur eines von mehreren Beispielen, mit denen Foucault unterstreicht, daß es sich bei seiner Raumtypologie nicht um gänzlich einander ablösende Raumkonfigurationen handelt. Vielmehr geht er davon aus, daß auch unsere heutige Zeit bestimmte Einteilungen des Raums, etwa in den privaten und den öffentlichen Raum, den familiären und den gesellschaftlichen Raum, den Arbeits- und den Freizeitraum, weiterhin für sakrosankt zu halten scheint. Charakteristisch für unsere Gegenwartsgesellschaft sind für Foucault jedoch die Abweichungsheterotopien, worunter er Sanatorien, psychiatrische Anstalten, Gefängnisse und Altersheime faßt, wobei Altersheime an der Grenze zwischen Krisen- und Abweichungsheterotopien stünden, da das Alter » in unserer Freizeit­gesellschaft  «42 sowohl als Krise wie auch als Abweichung wahrgenommen werde. Obwohl es sich bei der » Heterotopologie «43 nach Foucault um eine erst 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 322. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 321.

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noch zu konstituierende Wissenschaft handelt, hat er sich in seinen Werken doch exakt mit diesen Räumen der Abweichung beschäftigt. Ob in » Wahnsinn und Gesellschaft «44 oder in » Überwachen und Strafen «45: Die Ausschließungspraktiken, die Foucault in den Mittelpunkt seiner ebenso historisch fundierten wie zeitdia­gnostisch interessierten Sozialtheorie stellt46, sind immer auch räumlich organisierte Ausschlüsse.47 Das Panoptikum ist das Musterbeispiel einer Überwachungsarchitektur, die auf alle abweichenden Elemente einer Gesellschaft ebenso angewendet werden kann wie auf diejenigen, die man zu einer bestimmten Leistung oder Funktionsübernahme antreiben will. Es geht um eine immer feingliedrigere Rasterung des Raums zur möglichst lückenlosen Erfassung der Objekte zum Zwecke ihrer Klassifizierung, Individualisierung und Disziplinierung. Sein Interesse an eine Heterotopologie unterstreicht, daß Foucault sich nicht damit begnügt, daß Funktionieren der » realen « Räume zu beschreiben. Seine Suche gilt vielmehr gerade den anderen Räumen, die diesen gleichsam als Korrektiv gegenübergestellt werden. Mit der im Spätwerk angetretene » Reise nach Griechenland « will er vor allem zeigen, » daß das Vorhandene noch lange nicht alle möglichen Räume [Hervorhebung, M. S.] ausfüllt. «48 In Anlehnung an seine Überzeugung, daß, wo Macht ist, auch Widerstand ist49, ließe sich formulieren: Wo (Real-)Räume sind, da sind auch Gegenräume. Es ist dieses Interesse, daß er mit Gilles De­ leuze, der sich intensiv mit Foucaults Werks auseinandergesetzt hat50, teilt.

44 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1989, 8. Auflage. 45 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 46 Im Gegensatz zur klassischen Frage der Soziologie nach dem Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, fragt Foucault: » Durch welches Ausschließungssystem, durch wessen Ausmerzung, durch die Ziehung welcher Scheidelinie, durch welches Spiel von negation und Ausgrenzung kann eine Gesellschaft beginnen zu funktionieren ? « (Michel Foucault: Mikrophysik der Macht. Michel Foucault über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, Berlin 1976, S. 57). 47 Als Versuch, diese Perspektive fortzusetzen, vgl. Markus Schroer: » Die im Dunkeln sieht man doch ? Inklusion/Exklusion und die Entdeckung der › Überflüssigen ‹ «, in: Mittelweg 36, H. 5 (2001), S. 33 – ​46. 48 Michel Foucault: Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch, Berlin 1984, S. 93. Vgl. dazu Markus Schroer: » Ethos des Widerstands. Michel Foucaults postmoderne Utopie der Lebenskunst «, in: Rolf Eickelpasch/Armin Nassehi (Hg.): Utopie und Moderne, Frankfurt/M. 1996, S.  136 – ​169. 49 Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Frankfurt/M. 1991, 4. Auflage, S. 116. 50 Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt/M. 1987.

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Gilles Deleuze/Felix Guattari: Glatter und gekerbter Raum

In kaum einen anderen Text des französischen Poststrukturalismus steht Raum so sehr im Mittelpunkt wie in Georges Deleuzes und Felix Guattaris » Tausend Plateaus «51. Und das betrifft nicht nur den Inhalt des Buches, sondern auch seine Form. Tausend Plateaus funktioniert nicht wie ein herkömmliches Buch. Es hat keinen Anfang und auch kein Ende. Es ist weder chronologisch aufgebaut noch entfaltet es systematisch ein klar eingrenzbares Thema oder eine Problematik. Auch verschreibt es sich nicht einer einzelnen Wissenschaft. Vielmehr gliedert es sich in exakt datierte Ereignisse (1440, Das Glatte und das Gekerbte; 1914 Ein Wolf oder mehrere ?), die in beliebiger Reihenfolge gelesen werden können. Der Einstieg ist somit überall möglich. Statt einer Abfolge von Kapiteln, enthält es ein Nebeneinander einzelner » Plateaus «, die miteinander in Beziehung gesetzt werden. » Tausend Plateaus « ist insofern ein » Patchwork «52, das zerstreute und auf den ersten Blick nicht zusammengehörende Ereignisse scheinbar beliebig miteinander kombiniert, heterogene Aussagen und Begriffe aus den verschiedensten Quellen zusammenführt und Verbindungen zwischen ihnen herstellt. Deleuze und Guattaris Begriff für diese räumliche Form lautet » Rhizom «53. Sie führen das Rhizom als Alternative zur Metapher des Baumes ein, der von der Abstammungslehre der Biologie über die Psychoanalyse bis zur modernen Linguistik, dem Strukturalismus und der Informatik als Ordnungsraster benutzt wird. Der Baum verfügt über Wurzeln, die in einen Stamm münden, aus dem zahlreiche Äste heraustreten. Klar erkennbar verdankt sich hier die Vielheit der einzelnen Teile der Einheit › Baum ‹, die alle Differenzen umfasst. Der Baum symbolisiert eine hierarchische Ordnung und ein organisches System. Seine Struktur ist genealogisch, enthält eine binäre Logik und besteht aus bifurkalen Verzweigungen. Das Rhizom dagegen kennt keine klar voneinander unterscheidbaren, hierarchisch gegliederten Einheiten. Es gleicht vielmehr einem sich permanent weiterverzweigenden Wurzelgeflecht, das in alle Richtungen auseinander strebt und dabei bisher Unverbundenes miteinander verbindet – » semiotische Kettenglieder, Machtorganisationen, Ereignisse aus Kunst, Wissenschaften und gesellschaftlichen Kämpfen. «54 Das Rhizom gleicht 51 52 53 54

Georges Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus, Berlin 1997. Ebd., S. 660. Ebd., S. 11 ff. Ebd., S. 17. An anderer Stelle heißt es: » Wir bilden ein Rhizom mit unseren Viren, oder vielmehr, unsere Viren veranlassen uns, ein Rhizom mit anderen Tieren zu bilden. « (Ebd., S. 21) In großem Ausmaß geht es bei Guattari und Deleuze um das Verketten und Verbinden, die Konnexion. Und dabei wird offensichtlich, welch großen Einfluss dieses Buch auf das Werk Bruno Latours gehabt hat, vgl. dazu Markus Schroer: » Vermischen, Vermitteln, Vernet-

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einem weit verzweigten Netz mit relationaler Struktur, ohne Anfang und ohne Ziel: » Das Rhizom selber kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von der verästelten Ausbreitung in alle Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Zwiebeln und Knollen. «55 Die Vorstellung vom Rhizom bricht radikal mit herkömmlichen Vorstellung vom Raum. Ein Rhizom lässt sich nicht mehr länger als euklidischer Raum verstehen. Allerdings konstruieren Deleuze und Guattari keine evolutionäre Ablösung der Euklidik, sondern das Nebeneinander zweier Raummodelle, die den euklidischen Containerraum mit dem Riemannschen Raum56 konfrontiert. Ebenso wie sich der Rhizom und die Wurzel als gleichzeitig existierende Raum- und Wissensmodelle gegenüberstehen, bilden auch der » glatte Raum « auf der einen und der » gekerbte Raum « auf der anderen Seite ein Oppositionspaar, an das weitere Dichotomien anschließen. So steht der glatte Raum für den deterritorialisierten Raum des Nomaden, während der gekerbte Raum den reterritorialisierten Raum des Seßhaften bezeichnet. Der Staat, der das Prinzip der Sesshaftigkeit verkörpert, strebt danach, ein Territorium einzugrenzen und es nach Außen hin als das seinige zu verteidigen. Er stellt Bindungen her und schafft Verbindlichkeiten, Gesetze, Zwänge. Die » Kriegsmaschine «57 dagegen, die nicht nur kriegerisch, sondern auch revolutionär oder künstlerisch sein kann, repräsentiert das Prinzip der Deterritorialisierung. Sie lässt wieder fließen, was die Territorialisierung verfestigt hat, sie versucht zu glätten, was der Staat an Einkerbungen vorgenommen hat. Als Beispiel par exellence für den glatten Raum gilt den beiden Autoren das Meer, während die Stadt den gekerbten Raum par exellence darstellt. Das Meer war allerdings nur so lange ein glatter Raum, wie es noch nicht vermessen, kartographiert und in einzelne Regionen eingeteilt war. Sukzessive jedoch ist das Meer, zunächst von den Handelsstädten und dann von den Staaten, mit einem Raster überzogen und in Besitz genommen worden, so daß sich der ehemals glatte längst in einen gekerbten Raum verwandelt hat.58

55 56 57 58

zen. Latours Soziologie der Gemenge und Gemische im Kontext «, in: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt/M. 2007. Ebd., S. 16. Ebd., S. 672 ff. Ebd., S. 13. Diese Unterscheidung erinnert an Carl Schmitts Unterscheidung von Land und Meer, vgl. Carl Schmitt: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Köln-Lövenich 1981, wo es etwa heißt: » Die Ordnung des festen Landes besteht darin, daß es in Staatsgebiete aufgeteilt ist; die hohe See dagegen ist frei, d. h. staatsfrei und keiner staatlichen Gebietshoheit unterworfen. « Ebd., S. 86. Vor diesem Hintergrund macht es Sinn, das Internet als eine Heterotopie zu beschreiben. Vgl. dazu Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M. 2007, 2. Auflage, S. 260 ff.

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Konträr zur üblichen Darstellung wird bei Deleuze und Guattari nicht die seßhafte Lebensweise als die überlegene und die nomadische als die » primitive « angesehen. Eher im Gegenteil sympathisieren Deleuze und Guattari mit der noma­dischen Denk- und Lebensweise, propagieren folgerichtig ein nomadisches Denken und eine zu etablierende nomadische Wissenschaft, die » Nomadologie «59. Zumindest ist für sie alle bisherige Geschichtsschreibung eine Darstellung aus Sicht der Seßhaften, so daß es Zeit wird, den gegenteiligen Standpunkt einzunehmen. Dabei geht es Deleuze und Guattari freilich weniger um eine Art alternative Geschichtsschreibung, die der vorherrschenden Perspektive nur eine andere Sicht der Dinge gegenüberstellen würde, ebenso bemüht um eine homogene Darstellung der Ereignisse. Ihnen geht es vielmehr darum, die Heterogenität der Ereignisse und die Vielfalt möglicher Anknüpfungs- und Anschlussmöglichkeiten herauszuarbeiten, die der Verdichtung zu einer einheitlichen Perspektive zuwider laufen. Da sie – im Gegensatz zur Heideggerschen Orientierung am » Sein « – von einem permanenten » Werden «60 ausgehen, » das eher geographisch als geschichtlich ist «61, soll auch jeglicher Verfestigung von Strukturen, Begriffen und Denkschemata entgegengewirkt werden. Die ständigen Veränderungen, Umwälzungen und Transformationen müssen sich folglich auch in der Begriff‌lichkeit niederschlagen. Zwar sind vorübergehende Fixierungen und Zentrierungen unvermeidlich, das Ziel aber besteht in der Auflösung des Fixierten durch das Auf‌fi nden von Linien und Fluchtlinien62, die neue Differenz zu erschließen vermögen. Freilich muss um die Vielheit und Vielfalt der Differenzen gerungen werden – » Es genügt […] nicht zu rufen Es lebe das Mannigfaltige «63 –, denn Tatsache ist, daß sich eine majoritäre Sicht auf die Dinge (die Perspektive der Seßhaften) herausgebildet hat, die mit einem minoritären Gegenmodell (die Perspektive der Nomaden) konfrontiert werden soll. Freilich sind die Gegensätze nicht immer so klar, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. So existieren etwa der glatte und der gekerbte Raum nur aufgrund » ihrer wechselseitigen Vermischung «64. Man kann die beiden Räume nicht im Sinne eine binären Schemas trennen, so als habe man es mit zwei exakt voneinander unterscheidbaren Substanzen zu tun. Allerdings gilt: » Die faktischen Vermischungen sind […] kein Hindernis für eine Unterscheidung 59 Ebd., 39. 60 Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie ? Frankfurt/M., S. 128. 61 Ebd. 62 Zur Bedeutung des Konzepts der Fluchtlinien vgl. Friedrich Balke: Gilles Deleuze, Frankfurt/M., New York 1998, S. 119 ff. und Ingeborg Breuer/Peter Leusch/Dieter Mersch: » Fluchtlinien aufspüren. Das anarchistische Denken des Gilles Deleuze «, in: Dies.: Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie, Hamburg 1996, S. 61 – ​74. 63 Ebd., 16. 64 Ebd., 658.

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in der Theorie. «65 Denn erst durch ihre analytische Unterscheidung wird sichtbar, daß sie sich in einem permanenten Konflikt befinden: » Der glatte Raum wird unaufhörlich in einen gekerbten Raum übertragen und überführt; der gekerbte Raum wird ständig umgekrempelt, in einen glatten Raum zurückverwandelt. «66 Wir haben es mit permanenten De- und Reterritorialisierungsprozessen zu tun, die die aktive Umgestaltung des Raums in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Nicht die jeweilige Beschaffenheit der Räume ist letztlich entscheidend, sondern die Art und Weise ihrer Nutzung: » Das liegt daran, daß die Unterschiede nicht objektiv sind: man kann eingekerbt in Wüsten, Steppen oder Wüsten wohnen; man sogar geglättet in Städten wohnen, ein Stadt-Nomade sein. «67 So können sich etwa im gekerbten Raum der Stadt glatte Räume in Gestalt von Elendsvierteln ausdehnen, weil sie » nicht einmal mehr für die Einkerbungen des Geldes, der Arbeit oder des Wohnungsbaus interessant sind. «68 Insofern gibt es weder einen stillgestellten Gegensatz zwischen glatt und gekerbt noch eine lineare Entwicklung, nach der sich alle glatten in einen gekerbten Raum verwandeln würden. Ebenso wenig gibt es die Hoffnung auf eine vollständige Umwandlung der gekerbten in glatte Räume im Sinne einer umfassenden Umwälzung oder Revolution. Was es gibt, das ist die immerwährende Transformation, Konfrontation und Neukombination alles Werdenden, die dafür sorgt, daß jede Rückverwandlung eines gekerbten in einen glatten Raum durch neue Einkerbungen beantwortet wird, die von der Kriegsmaschine wiederum in einen glatten Raum zu verwandeln versucht wird. Auf jede Deterritorialisierung folgt eine Reterritorialisierung, auf die wieder eine Deterritorialisierung folgt usw. Das Leben vollzieht sich im Modus der Bewegung: » Nichts ist jemals zuende. «69

Schluß Der Durchgang durch die Raumkonzeptionen von Pierre Bourdieu, Michel Foucault und Gilles Deleueze/Félix Guattari hat gezeigt, daß Raum in sehr unterschiedlicher Weise behandelt wird, obwohl der Strukturalismus den Bezugspunkt aller drei Positionen ausmacht. Wenngleich Bourdieus Arbeit mit ihrer unbedingten Betonung des Relationalen geradezu prädestiniert zu sein scheint, mit einem relationalen Raumbegriff zu arbeiten, zeigt sich doch gerade hier eine starke Ver65 Ebd. 66 Ebd. 67 Ebd., 668. 68 Ebd., 667. 69 Ebd., 674.

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bindung mit dem Konzept des absoluten Raums. Raum ist hier in erster Linie die passive Leinwand, in die sich soziale Strukturen einschreiben. Bei Foucault stoßen wir zunächst auf eine historische Einordnung verschiedener Raumbegriffe und die zeitdiagnostische Aussage, daß wir gegenwärtig im Zeitalter des Raums leben. Entschiedener als Bourdieu wendet sich Foucault einem relationalen Raumbegriff zu, auch wenn sich in seinen Arbeiten ebenso Anklänge an eine absolutistische Raumvorstellung auf‌fi nden lassen. Die konzeptionelle Hinwendung zum relationalen Raum wird sowohl in Bourdieus als auch in Foucaults materialen Arbeiten nicht immer konsequent eingelöst. Anders als Bourdieu interessiert sich Foucault jedoch nicht allein für die Reproduktion der gesellschaftlichen Strukturen, ihre Stabilität und Kontinuität, von der sich Bourdieu immer wieder fasziniert zeigt70, sondern darüber hinaus immer auch für die Möglichkeit der Gegenmaßnahmen, der Alternativen zum Bestehenden und den möglichen Veränderungen. Das Interesse an Gegenräumen und der Umgestaltungsmöglichkeiten der Räume durch soziale Praxis steigert sich jedenfalls von Bourdieu bis Foucault und wird von Deleuze und Guattari noch einmal übertroffen. Ihre Aufmerksamkeit gilt nicht der Suche nach Stabilität und festen Strukturen, sondern dem Fragilen, der Verwandlung und der Dynamik, die durch permanent stattfindende De- und Reterritorialisierungsprozesse in Gang gehalten wird. Zu allen drei Ausrichtungen finden sich entsprechende Fortsetzungsversuche. Während Bourdieus Raumbegriff vor allem in der Theorie sozialer Ungleichheit Anwendung findet und dort ganz in seinem Sinne als Faktor für die Verfestigung sozialer Ungleichheitsstrukturen gelesen wird71, haben Foucaults Einlassungen zum Raum vor allem im Werk Giorgio Agambens72 eine Fortsetzung gefunden, während Deleuzes und Guattaris Überlegungen zum glatten und gekerbten Raum insbesondere in der Politikwissenschaft Anklang gefunden haben. Wenn Michael Hardt und Antonio Negri schreiben: » Im schöpferischen Vermögen der Multitude, der Menge, die das Empire trägt, liegt gleichermaßen die Fähigkeit, ein Gegen-Empire aufzubauen, den weltweiten Strömen und Austauschverhältnissen eine andere politische Gestalt zu geben «73, dann wird der Einfluß von Deleuze und Guattari, auf die sie sich auch explizit berufen, überdeutlich. Daß Deleuze und Guattari darüber hinaus einen 70 Vgl. dazu Markus Schroer: » Zwischen Engagement und Distanzierung. Zeitdiagnose und Kritik bei Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann «, in: Armin Nassehi/Gerd Nollmann (Hg.): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich, Frankfurt/M. 2004, S. 233 – ​270. 71 Vgl. Markus Schroer: » Raum, Macht und soziale Ungleichheit. Pierre Bourdieus Beitrag zu einer Soziologie des Raums «, in: Leviathan (2006), H. 1, S. 105 – ​123. 72 Vgl. etwa Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002. 73 Michael Hardt/Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/M., New York 2002, S. 13.

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entscheidenden Einfluß auf das Werk Bruno Latours gehabt haben, wurde bereits vermerkt.74 Noch immer uneingelöst erscheint dagegen das von Foucault skizzierte Programm einer Heterotopologie, » die es ich zur Aufgabe machte, in einer bestimmten Gesellschaft diese andersartigen Räume, diese anderen Orte, diesen zugleich mythischen und realen Gegensatz zu dem Raum, in dem wir leben, zu erforschen, zu analysieren, zu beschreiben und zu › lesen ‹. «75 Was spricht dagegen, mit diesem Projekt endlich zu beginnen ?

Auswahlbibliographie Agamben, Georgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frank­ furt/M. 2002. Bourdieu, Pierre: » Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum «, in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume, Frankfurt/M. 1991, S. 25 – ​34. Foucault, Michel: » Von anderen Räumen «, in: Jörg Dünne und Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2006, S. 317 – ​329. Balke, Friedrich: Gilles Deleuze, Frankfurt/M., New York 1998. Deleuze, Gilles: Woran erkennt man den Strukturalismus ? Berlin 1992. Deleuze, Gilles/Felix Guattari: Tausend Plateaus, Berlin 1990 (Paris 1980). Günzel, Stephan: » Philosophie «, in: Fabian Kessl/Christian Reutlinger/Susanne Maurer/Oliver Frey (Hg.): Handbuch Sozialraum, Wiesbaden 2005, S. 89 – ​110. Löw, Martina: Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001. Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M. 2007, 2. Auflage. Stäheli, Urs: Poststrukturalistische Soziologien, Bielefeld 2000.

74 Vgl. Fußnote 52. 75 Michel Foucault: » Von anderen Räumen «, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M. 2006, S. 321.

Space-Studies (zusammen mit Laura Kajetzke)

Abkehr von der Kehrtwende: Vom spatial turn zu den space studies Obwohl der spatial turn in der jüngeren Vergangenheit der Kulturforschung eine überaus prominente Stellung einnimmt,1 gibt es bis dato kein einheitliches Verständnis vom Anspruch und den zentralen Charakteristika dieses turns.2 Der als Erfinder des Begriffs geltende amerikanische Humangeograph Edward Soja hält die damit bezeichnete Hinwendung zum Raum für » one of the most important philosophical and intellectual developments of the 20th century «3. Die Wiederentdeckung des räumlichen Denkens, das man allzulange von einer bevorzugten Behandlung der Zeitperspektive behindert sah,4 treibt allerdings nicht nur die postmodern geprägte Humangeographie5 und Stadtplanung um, sondern wird auch von anderen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen gefordert.6 Einige gesellschaftliche Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit begünstigen dieses neu erwachte Interesse am Raum: der Zusammenbruch der Sowjetunion und die deutsche Wiedervereinigung; die Erschließung neuer Kapitalmärkte rund um den 1 Bachmann-Medick, Cultural turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbeck bei Hamburg 2006, S. 284 ff. 2 Vgl. Döring, Jörg/Thielmann, Tristan, » Einleitung. Was lesen wir im Raume ? Der Spatial Turn und das geheime Wissen der Geographen «, in: dies (Hrsg.), Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 7 – ​45, hier S. 13 ff. 3 Soja: Thirdspace, a. a. O., S. 169. 4 Vgl. Soja, Postmodern Geographies, a. a. O., S.  12 ff. 5 Neben Edward Soja z. B. Derek Gregory, David Harvey und Doreen Massey. Vgl. Gregory, Derek, Ideology, Science and Human Geography, London 1978; Harvey, David, Social Justice and the City. Geographies of Justice and Social Transformation, Athens u. a. 2009; Massey, Doreen, Space, Place and Gender, Cambridge 1994. 6 Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, a. a. O., S. 285.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Schroer, Räume der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2_3

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gesamten Globus; die Verbreitung des Internet und damit einhergehende Ausweitung der weltweiten Telekommunikation.7 All diese Phänomene legen eine Auseinandersetzung mit dem Raum nahe. Doch der spatial turn soll nach diesem Verständnis weitaus mehr sein als eine zeitdiagnostische Neubewertung geopolitischer räumlicher Verhältnisse: Der Anspruch zielt auf die Notwendigkeit raum­bezogenen Denkens in den gesamten Sozial- und Kulturwissenschaften unter postmodernen Vorzeichen ab.8 Mittlerweile wird jedoch bezweifelt, daß überhaupt von einer grundlegenden Kehre zum Raum gesprochen werden kann, die das Denken maßgeblich umgeprägt und neugestaltet hat.9 Die vorgebrachte Kritik gegen den spatial turn richtet sich sowohl gegen seinen Entstehungsmythos als auch seine angenommene einheitliche Rezeption und Verbreitung. Es handelt es sich um einen hausgemachten turn, der nicht retrospektiv beobachtet und dessen Genese ausführlich hergeleitet wird, sondern durch die beständig wiederholte Behauptung seiner Existenz performativ hervorgebracht wird. Döring und Thielmann bezeichnen diesen Vorgang als » Verweiskette mit Selbstverstärkereffekt «.10 Auch könnte von einem turn erwartet werden, daß eine gewisse Einheitlichkeit in Zielen und Reichweite festzustellen ist. Im Bezug auf den spatial turn unterscheiden sich diese zwischen den Fächern, vielfach aber auch bereits intradisziplinär. Weigel verweist auf den für die Kultur- und Literaturwissenschaften ihrer Auffassung nach wichtigeren Begriff des topographical turn, dem sie mehr Erklärungskraft zuspricht, da in diesem die entscheidende Wortendung » -graphie « enthalten sei: » Der Raum ist hier nicht mehr Ursache oder Grund, von der oder dem die Ereignisse oder deren Erzählung ihren Ausgang nehmen, er wird vielmehr selbst als eine Art Text betrachtet, dessen Zeichen oder Spuren semiotisch, grammatologisch oder archäologisch zu entziffern sind. «11 Inzwischen könne zwischen spatial, topographical und topological 7 Vgl. Maresch, Rudolf/Werber, Niels, » Permanenzen des Raums «, in: dies. (Hrsg.), Raum, Wissen, Macht, Frankfurt am Main 2002, S. 7 – ​30, hier S. 9 ff.: 8 Dies war der Annahme geschuldet, daß in der Postmoderne die soziale Wirklichkeit am besten in Kategorien des Raums beschrieben werden könne. Vgl. Foucault, Michel, » Das Auge der Macht «, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden, Bd. 3: 1976 – ​1979, Frankfurt am Main 2003, S. 250 – ​271. 9 Vgl. Günzel, Stephan, » Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn. Über die Unterschiede zwischen Raumparadigmen «, in: Döring/Thielmann, Spatial Turn, a. a. O., S.  219 – ​ 238. Siehe auch Lippuner, Roland/Lossau, Julia, » In der Raumfalle. Eine Kritik des spatial turn in den Sozialwissenschaften «, in: Mein, Georg/Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.), Soziale Räume und kulturelle Praktiken, Bielefeld 2004, S. 47 – ​64; vgl. ferner Schroer, Markus, » spatial turn «, in: Günzel, Stephan, Philosophisches Raumlexikon, Darmstadt 2011 (i. E.). 10 Vgl. Döring/Thielmann, » Einleitung «, a. a. O., S. 11. 11 Weigel, Sigrid, » Zum › topographical turn ‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften «, in: KulturPoetik, Bd. 2.2, 2002, S. 151 – ​165, hier S. 160.

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turn differenziert werden, so Günzel.12 Freilich stellt sich die Frage, ob der Begriff des turns nicht an Schlagkraft verliert, wenn aus einer großen Denkwende eine Vielzahl kleinerer und unterschiedlicher Raumkehren wird.13 Ebenso ist mit dem spatial turn keine grundlegende gesamtgesellschaftliche Wende benannt, die neue Denk- und Handlungsgewohnheiten erfaßt und die sich in jedermanns (Wissenschafts-)Alltag bemerkbar macht. Mit einer widerständigen Haltung gegen die Diagnose eines grund­legenden spatial turn werden dennoch nicht alle in diesem Zusammenhang getroffenen Beobachtungen obsolet. Daß sich innerhalb der Kulturforschung zahlreiche Disziplinen dem Raum gewidmet haben und vor allem über den Poststrukturalismus eine verräumlichende und verräumlichte Perspektive Einzug in die theoretischen und methodologischen Annahmen gefunden hat, zeigt das Potential eines am Raum orientierten Denkens auf. Um den oben genannten Kritikpunkten gerecht zu werden, erscheint es jedoch sinnvoll, diesen Versuch unter den Begriff der space studies zu fassen. Im Gegensatz zum spatial turn stellen die space studies stärker auf die wissenschaftliche Praxis der Kulturforschung ab. Es wird keine abstrakte Kehre mit paradigmatischem Charakter angenommen, deren Existenz genauso schwierig zu be- wie zu widerlegen ist, sondern vorrangig geht es schlicht um die vorgelegte raumbezogene Forschung der sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen. Ferner trägt der Sammelbegriff › studies ‹ einer zunehmenden Interdisziplinarität Rechnung. Innerhalb und zwischen den verschiedenen Diszi­ plinen finden sich zwar verschiedene Raumvorstellungen und Forschungsgegenstände, die mit Hilfe einer räumlichen Perspektive bearbeitet werden, jedoch gibt es auch gemeinsame Nenner. So weist Moebius im Hinblick auf die diversen, hier versammelten studies darauf hin, daß diese einen ähnlichen methodologischen Ausgangspunkt nehmen, zuvorderst in einem gesteigerten Interesse für die Materie, dem Körper und die Artefakte, die in der früheren Phase postmodernen Denkens häufig zugunsten einer ausschließlichen Betrachtung symbolischer Ordnungen und Textlichkeit ins Hintertreffen gerieten. In der gegenwärtigen Forschungspraxis besteht kein zwingender Gegensatz mehr zwischen dem Symbolischen und dem Materiellen, es wird vielmehr ihre Verwobenheit in den Blick genommen: » Die Einbettung sozio-kultureller Praktiken, Subjektivierungsweisen und Wissensordnungen in materielle Artefaktarrangements wird in der aktuellen 12 Vgl. Günzel, » Spatial Turn – Topographical Turn – Topological Turn «, a. a. O. 13 Vgl. Schlögel, Karl, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003. Schlögel hebt hervor, daß sich eine Pluralisierung und Differenzierung in verschiedene turns befruchtend auf die Wissenschaftslandschaft auswirken könne und außerdem die Ansprüche an solche Kehren damit auf ein realistisches Niveau gesenkt würden. Wenn aber von einer alles ergreifenden Kehre eigentlich nicht mehr gesprochen werden kann – wozu noch das Konzept des › turns ‹ beleihen ?

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kulturwissenschaftlichen Diskussion mit Bezug auf Räumlichkeit von den Space Studies hervorgehoben. «14 In Anlehnung an poststrukturalistische Erkenntnisse werden Kultur und Natur dabei jedoch nicht kausalistisch gedacht und so einem Erstarken des naturalistischen und deterministischen das Wort geredet, im Gegenteil wird der Raum als » Kultur und Natur vermischender Effekt sozialer und kultureller Praktiken «15 angenommen. Im folgenden sollen zunächst die Gemeinsamkeiten der space studies vorgestellt werden, die es überhaupt plausibel machen, einen solchen Sammelbegriff für ein intern hochkomplexes und differenziertes Feld von Kulturforschung bereit­ zustellen. Aus diesem Grund soll sich mit Blick auf den theoretischen Hintergrund (1) der space studies zunächst dem relationalen Raumverständnis gewidmet werden. Ein zentrales Werk, das von Bachmann-Medick zu Recht als » Keimzelle «16 einer poststrukturalistisch orientierten Beschäftigung mit dem Raum in den verschiedenen Disziplinen angesehen wird, ist dabei das von Henri Lefebvre verfaßte » The Production of Space «17 von 1974. Daran anschließend wird auf die poststrukturalistische Fundierung der space studies Bezug genommen. Wie ändert eine solche Perspektive den Blick auf den Raum ? Welche Erkenntnismittel ergeben sich aus der verräumlichten Sichtweise ? Sodann sind die methodologischen Grundannahmen der space studies zu erläutern (2), um daraufhin anhand von zwei Studien zu veranschaulichen, wie unterschiedlich die Forschungspraxis der raumorientierten Kulturforschung aussehen kann, obwohl sie auf ähnlichen theoretischen und methodischen Annahmen fußt (3). Mit einem Resümee und einen Ausblick auf methodische Erweiterungsmöglichkeiten sowie künftigen Herausforderungen schließen die Ausführungen ab (4).

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Das theoretische Raumverständnis der Space Studies

Zwei Raumvorstellungen konkurrieren in der raumbezogenen Kulturforschung. Hinter der Container-Theorie steht die Auffassung, daß der Raum unabhängig von äußeren Dingen immer gleich, unbeweglich und damit unveränderlich bleibe. Er sei wie ein allumfassendes Gefäß, das mit Inhalt gefüllt werden könne.18 Die Vorstellung eines relationalen Raumes setzt diesem Modell entgegen, daß weder Zeit noch Raum dingliche Existenz besäßen, sondern sich der Raum über die Lage ei14 Moebius, Stephan, Kultur, Bielefeld 2009, S. 181. 15 Ebd. 16 Bachmann-Medick, Cultural Turns, a. a. O., S. 291. 17 Lefebvre, Henri, The Production of Space, Oxford 2005. 18 Vgl. Schroer, Markus, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main 2006, S. 36 f.

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nes jeden Körpers zu einem anderen ergebe.19 Folgt man dem Containerdenken, so wird vernachlässigt, die Konstitutionsbedingungen der Räume zu thematisieren. Die sich im Behälterraum befindlichen Objekte werden somit zu bloß passiven Elementen, die nichts zu dessen Entstehung beitragen. In der Vorstellung des relativen Raumes hingegen wird der kreative Anteil des Menschen berücksichtigt, sie bilden ein aktives Moment der Verräumlichung. Hier besteht jedoch die Gefahr, die Bedeutung des Handelnden zu überschätzen und die Macht räumlicher Arrangements auf das Handeln zu unterschätzen. Gegenwärtig erstarkt das relationale Raumkonzept in der Kulturforschung, wohingegen die Aussagekraft des Container-Modells in Frage gestellt wird. Doch sollte es den space studies nicht darum gehen, diese Auseinandersetzung endgültig zugunsten einer Raumvorstellung zu entscheiden, sondern vielmehr zur Kenntnis zu nehmen, daß beide Auffassungen in der sozialen Welt ihren Platz finden und handlungs- und strukturbildende Wirkungen entfalten.20 Wichtig für das theoretische Fundament der space studies ist die Einsicht einer sozialen Bedingtheit des Raumes. » Initialzündung «21 für diese Annahme, die inzwischen einen common sense in der Kulturforschung darstellt, ist die Wiederentdeckung des Neomarxisten Henri Lefebvre und seines Hauptwerkes » La production de L’espace « durch die Humangeographie. Die Herstellung des Raumes durch die Vorstellungen und Handlungen der Akteure ist der Ausgangspunkt seiner Überlegungen.22 Er unterscheidet drei Formen der Räumlichkeit,23 die eine Konzeption des Raumes als › Verräumlichung ‹ nahelegen: räumliche Praxis (pratique spatiale), Raumrepräsentationen (représentations de l’espace) und Repräsentationsräume (espaces de représentation). Bei ersteren geht es um die Verknüpfung des von den Akteuren wahrgenommenen Raumes (l’espace perçu) mit der Alltags­ praxis und der räumlichen Infrastruktur. Die räumliche Praxis produziert und reproduziert Orte und (Gesamt-)Räume. Die Raumrepräsentationen ergeben sich durch den konzipierten Raum (l’espace conçu), den Raum des Wissens, der Zeichen und der Codes, also denjenigen Raum, der von Planern und Experten ersonnen wird. Schließlich werden die Repräsentationsräume mit dem › gelebten ‹ Raum (espace vécu), dem imaginierten Raum der Bilder und Symbole zum Ausdruck gebracht. Die Phantasie der Raumnutzer ist hierbei zentral. Durch die Ima­gination der Akteure können auch alternative Raummodelle entstehen, die das Po­tential haben, den konkreten Raum zu verändern. Mehrere Raumaspekte rücken mit 19 Vgl. ebd., S. 39 f. 20 Vgl. ebd., S. 179 f. 21 Döring, » Spatial turn «, a. a. O., S. 91. 22 Lefebvre, The Production of Space, a. a. O., S.  26 f. 23 Vgl. im folgenden ebd., S. 33 ff.

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Lefebvres Konzeption in den Vordergrund: die Abkehr von einer dualistischen Unterscheidung in physischen und sozialen Raum, die Betonung der Rolle des Körpers für die Konstitution von Räumen und schließlich die Kontingenz von Räumlichkeit, die eher als Verräumlichungsvorgang zu denken ist.24 Dank Lefebvre kommt die folglich Prozeßhaftigkeit von Räumen in den Blick. So vermeiden die space studies einen naheliegenden Fehler: Die angenommenen Strukturen und Räume werden demnach nicht als ahistorische Entitäten vorgestellt. Hierdurch wird auch die theoretische Nähe zum Poststrukturalismus offensichtlich, der in der Betonung des historisch-prozeßhaften Charakters und der › Verzeitlichung ‹ von Strukturen über den ahistorisch argumentierenden Strukturalismus hinausgeht.25 Letzterer würde den Raum zu einem statischen und unbeweglichen Gebilde degradieren. Vergleicht man die Sichtweise des Strukturalismus mit einem Schachbrett und den darauf befindlichen Figuren26, so wendet der Poststrukturalismus seinen Blick auf das Schachspiel. Der Poststrukturalismus erhebt den Raum zu einer Forschungsperspektive, die für die gesamte kultur- und sozialwissenschaftliche Praxis den Anspruch allgemeiner Theorie vertritt, d. h. gesamtgesellschaftlich anwendbar ist. Historischkulturelle Zusammenhänge werden also verräumlicht und verräumlichend aufgefasst. Übernommen wird das topologische Denken27 des Strukturalismus, ohne dabei jedoch die Zeitlichkeit und die Bedeutung der Praxis zu vernachlässigen.28 24 Vgl. Kajetzke, Laura/Schroer, Markus, » Verräumlichung «, in: Günzel (Hrsg.): Raum, a. a. O., S. 192 – ​203, hier S. 195 f. 25 Vgl. Moebius, Stephan, » Strukturalismus/Poststrukturalismus «, in: Kneer, Georg/Schroer, Markus (Hrsg.), Handbuch Soziologische Theorien, Wiesbaden 2009, S. 419 – ​444, hier S. 425. Auch gehen die space studies die strukturalistische Annahme eines » methodologischen Objektivismus, das heißt die Annahme, dass die Totalität der Strukturen wichtiger als die Individuen und deren Praktiken sind «, nicht mit, siehe ebd., S. 424. 26 Vgl. Deleuze, Gilles, Woran erkennt man den Strukturalismus ?, Berlin 1992. Deleuze selbst steht allerdings – kontraintuitiv zum Titel – in diesem Text aber gerade für eine verbesserte, da historisierte Variante des Strukturalismus ein, die retrospektiv treffender mit dem Label › Poststrukturalismus ‹ beschrieben ist. Zur Sicht des Poststrukturalismus als durchgearbeiteter und radikalisierter Strukturalismus, für die Deleuze hier lediglich pars pro toto steht, vgl. Moebius, Stephan, Die soziale Konstituierung des Anderen. Grundrisse einer poststrukturalistischen Sozialwissenschaft nach Lévinas und Derrida, Frankfurt am Main/New York 2003. 27 Dazu exemplarisch Deleuze: » Es handelt sich nicht um einen Platz in einer realen Ausdehnung, noch um Orte in imaginären Bereichen, sondern um Plätze und Orte in einem eigentlich strukturellen, das heißt, topologischen Raum. Was struktural ist, ist der Raum, aber ein unausgedehnter, prä-extensiver Raum, reines spatium, das allmählich aus der Nachbarschaftsordnung herausgebildet wurde (…). « Vgl. Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus ?, a. a. O., S. 15 (Herv. im Orig.). Siehe auch Schroer, Markus, » Raum oder: Das Ordnen der Dinge «, in: Reckwitz, Andreas/Moebius, Stephan (Hrsg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main 2008, S. 141 – ​157. 28 Vgl. Kajetzke/Schroer, » Verräumlichung «, a. a. O., S. 196.

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Weiterhin schärfen die poststrukturalistischen Theorien den Blick für Machtverhältnisse in und zwischen Räumen. Wie wird Raum affirmiert und damit reproduziert, wie wird Widerstand gegen Raumstrukturen ausgeübt und wie verändern sich Räume durch diese Widerstandsbewegungen ?29 So werden z. B. über die Architektur des Panopticons neue Formen der Macht möglich und sichtbar. Auf diese Weise entsteht ein Gefängnisdispositiv aus Handlungen, visuellen Zuständen, Architekturen und Körpern, im Hintergrund wirken wissenschaftliche wie juristische Institutionen – diese Verkettung ermöglicht neue Wissensbestände, die wiederum Machtwirkungen zur Folge haben.30 Machtausübung kann dabei weder vollständig dem Raum z. B. in Form einer alles determinierenden Machtarchitektur zugeschlagen werden – was wäre das Panopticon ohne Wächter, ohne zu dressierende Körper ? – noch dienen die Räume als bloße Kulisse für die vorgenommenen Disziplinartechnologien. Die Verschränktheit von Räumen, Körpern und Praktiken ist komplizierter als es die einseitige Annahme eines Raumdeterminismus verstehbar machen könnte.31 Wo Macht ist, da muß auch Widerstand bzw. ein Andershandeln potentiell möglich sein. Der Begriff der » Heterotopie « ist als ein Versuch Foucaults zu sehen, diese Widerständigkeit nicht nur Akteuren zuzuschreiben, sondern auch als mögliche Raumqualität zu konzipieren: » Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, (…) in denen die realen Orte, all die anderen rea­ len Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. «32 Schwebte Foucault eine ganze Heterotopologie33 vor, welche sich den gesellschaftlich hervorgebrachten Gegenräumen widmen soll, um über diese Teilungs­ praktiken etwas über die gesamtgesellschaftliche Verfaßtheit zu erfahren,34 so 29 Vgl. Foucault, Michel: » Von anderen Räumen «, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hrsg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 317 – ​329. Siehe auch Kajetzke, Laura/Schroer, Markus, » Schulische Mobitektur: Bauen für die Bildung «, in: Böhme, Jeanette (Hrsg.), Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs. Territorialisierungskrise und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums, Wiesbaden 2009, S. 299 – ​314, hier S. 310 f. 30 Vgl. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt am Main 1977, S. 256 ff. Zum Verhältnis von Wissen und Macht bei Foucault siehe auch Kajetzke, Laura, Wissen im Diskurs. Ein Theorienvergleich von Bourdieu und Foucault, Wiesbaden 2008, S. 33 ff. 31 Vgl. Schroer, Räume, Orte, Grenzen, a. a. O., S.  175 ff. 32 Foucault, » Von anderen Räumen «, a. a. O., S. 320. 33 Vgl. Foucault, Michel, Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt am Main 2005. 34 » Ich möchte einen Weg in Richtung einer neuen Ökonomie der Machtverhältnisse vorschlagen, der empirischer und direkter auf unsere gegenwärtige Situation bezogen ist (…). Sein Ausgangspunkt sind die Formen des Widerstands gegenüber den verschiedenen Machttypen. (…) Um zum Beispiel herauszufinden, was unsere Gesellschaft unter vernünftig ver-

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erhoff‌ten sich Deleuze und Guattari eine Wissenschaft, der sie den Namen Noma­ dologie35 geben. Diese setzt auf zwei Ebenen an: Sowohl die klassifizierenden Begriff‌lichkeiten und Denkschemata in den Wissenschaften als auch die gesellschaftlichen Strukturen werden als wandelbar, » nomadisch « begriffen und im Sinne einer kritischen Theorie immer wieder hinterfragt und korrigiert. Wie No­maden den Raum durchqueren, so soll auch das Denken rastlos bleiben und sich nicht niederlassen. Wissenschaftlich ist dies als eine Absage an eine vereinheitlichende Perspektive zu verstehen. Räumlich bedeutet dies einen beständiger Kampf zwischen zwei Räumzuständen, ein Werden, das zwischen » glatten « und » gekerbten « Räumen changiert. Der gekerbte Raum entsteht durch das Vermessen, Kartographieren, Eingrenzen, Territorialisieren, durch das Definieren eines Innen und eines Außen. Die Praktiken, mit denen der geglättete Raum erzeugt wird, wirken deterritorialisierend, sind nomadisch umherschweifend und lassen Raumstrukturen wieder » fl ießen «.36 Nicht nur Macht und Raum hängen unmittelbar miteinander zusammen: Wer von Macht spricht, kann vor allem vom Wissen nicht schweigen. Das komplexe Verhältnis von Macht, Wissen und Raum kann auf vielen Ebenen angesiedelt werden: Wissen über Räume (z. B. das Wissen über angemessenes Verhalten), Wissen, das in spezifischen Orten vermittelt wird (z. B. Schulen, Universitäten, Salons), Wissen, das durch Räume erzeugt wird (z. B. durch Beobachtung im Panopticon, experimentelle Arrangements in Laboratorien),37 aber auch Wissen als ein Denken in einer bestimmten Räumlichkeit können hierbei angesprochen werden.38 steht, sollten wir vielleicht analysieren, was im Feld der Unvernunft vor sich geht. Wir sollten untersuchen, was im Feld der Illegalität vor sich geht, um zu verstehen, was wir mit Legalität meinen, und um zu verstehen, worum es bei Machtverhältnissen geht, sollten wir vielleicht die Widerstandsformen und die Versuche zur Auflösung dieser Verhältnisse untersuchen. « Foucault, Michel: » Warum ich die Macht untersuche. Die Frage des Subjekts «, in: Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1994, S. 241 – ​250, hier S. 245. 35 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin 1992, S. 39 und S. 481 ff . 36 Ein anschauliches Beispiel für solche Deterritorialisierungspraktiken und » glättender « Praktiken innerhalb eines dominant gekerbten Raumes (Stadt, Schule) stellen Bewegungsleistungen jugendlicher Skater dar. Vgl. Böhme, Jeanette/Brick, David, » Nomadische Raumpraktiken und schulische Raumordnungen «, in: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik, H. 4, 2010. 37 Vgl. Schroer, Markus, » Raum und Wissen «, in: Engelhardt, Anina/Kajetzke, Laura (Hrsg.), Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme, Bielefeld 2010, S. 281 – ​291. 38 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg/Hagner, Michael/Wahrig-Schmidt, Bettina (Hrsg.), Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997. Siehe auch Matthiesen, Ulf, » Wissensformen und Raumstrukturen «, in: Schützeichel, Rainer (Hrsg.), Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung, Konstanz 2007, S. 648 – ​661.

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Mit diesem letzten Aspekt ist eine weitere Leistung des Poststrukturalismus angesprochen, die darauf abzielt, wie das Denken selbst räumlich vorstellbar gemacht werden kann. Ein solch räumliches Wissensmodell stellt das » Rhizom « dar, das in Anschlag zu dem traditionellen Wissensmodell bzw. Wissenschaftsmodell des » Baumes « gebracht wird. Der Baum steht für das traditionelle Verständnis von Räumen und Wissensformen und für eine hierarchische Ordnung und Ausdifferenzierung nach binären Schemata, die Vielheit leitet sich von der Einheit des Baumstammes ab. Das Rhizom hingegen strebt als weitverzweigtes Wurzelgeflecht ohne erkennbaren Anfang/Ursprung in diverse Richtungen und verbindet sich in unvorhersehbarer Weise zu neuen Strukturen.39 Aus den theoretischen Grundannahmen ergeben sich Konsequenzen für die Untersuchung von Räumen als Gegenstandsbereich sowie für den Raum und damit verbundener Konzepte als Erkenntnismittel. Wie sieht eine Umsetzung in methodische Analyseinstrumente und konkrete Forschungsprojekte aus ?

2

Methodologie

Eine Vielzahl von Disziplinen versammelt sich unter dem Label der Kulturforschung. Aus den einzelnen Fächern kommen ganz unterschiedliche methodologische Annahmen und methodische Kompetenzen zusammen, welche die space studies als mitunter heterogene Forschungsrichtung auszeichnen. Im folgenden gilt es der Frage nachzugehen, was die space studies nun in methodologischer Sicht verbindet. Zunächst weisen die beteiligten Wissenschaften eine hohe hermeneutische Sensibilität auf. Sie reflektieren selbstreferentiell ihre eigenen raumtheoretischen Grundannahmen bereits im Vorfeld der empirischen Umsetzung. Hinzu kommt, daß auch die Raumannahmen der beforschten Akteure berücksichtigt werden: Wird » das Lokale « beispielsweise mit Konkretion und Unmittelbarkeit verbunden, » das Globale « hingegen mit Abstraktion und Vernetzung ?40 Weckt » Mobilität « die Idee von Freiheit, Flexibilität und Ungebundenheit, » Sesshaftigkeit « eher 39 » [I]m Unterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen; jede seiner Linien (…) bringt sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel und sogar nicht-signifikante Zustände (…). Das Rhizom läßt sich weder auf das eine noch auf das Viele zurückführen. (…) Eine Vielheit variiert ihre Dimensionen nicht, ohne sich selbst zu ändern und zu verwandeln. « Deleuze, Gilles/Guattari, Félix, Rhizom, Berlin 1977, S. 34. 40 Vgl. Bauriedl, Sibylle, » Räume lesen lernen: Methoden zur Raumanalyse in der Diskursforschung « [86 Absätze], in: Forum Qualitative Sozialforschung, 8 (2), 2007. Art. 13, http://nbnresolving.de/um: nbn:de:0114-fqs0702139, Abschn. 27.

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Eindrücke von Borniertheit, Kontinuität und Fixiertheit ?41 Der Umstand, daß die space studies sich ausschließlich aus Wissenschaften zusammensetzen, die im Vorfeld ihrer Forschung als auch in der Interpretation ihrer Ergebnisse auf re­flektierte hermeneutische Kompetenzen zurückgreifen kann – dies ist die erste Gabe der space studies. Sodann ist eine weitere methodologische Gemeinsamkeit der space studies –  die zweite Gabe – in der Absage an die rein quantitative Forschung zu finden. Diese kann freilich ein nützliches Mittel zur Untersuchung der Raumproblematik darstellen, allerdings immer nur in Kombination mit qualitativer Forschung. Bei der Annäherung an den Gegenstand › Raum ‹ haben wir es mit einer komplexen Gemengelage von Materialitäten, Körpern, Akteuren, Handlungen und Symbolisierungen zu tun, die eine qualitative Einzelfallanalyse herausfordert. Ferner soll ein in der quantitativen Forschung verbreiteter » naiver Empirismus «42 vermieden werden, da sonst dem Container-Verständnis von Raum durch die Hintertür wieder Einlaß gewährt wird. Im Hinblick auf die Befragung der raumkonstituierenden und -erleidenden Akteure eignen sich standardisierte Fragebögen nur bedingt und keineswegs als einziges Mittel, um den vielfältigen, differenten und diffusen Raumwahrnehmungen gerecht werden zu können. Die dritte Gabe der space studies läßt sich am ehesten als Bereitschaft zu methodischen Grenzüberschreitungen beschreiben. Die space studies leben vom und gedeihen durch interdisziplinären Austausch. Der Imperativ, dem die space studies verpflichtet sind, lautet: » Use mixed methods ! «. Im folgenden werden die ausgewählten Studien exemplarisch für eine erfolgreiche theoretische und empirische Umsetzung des Programms der space studies herangezogen. Sie stehen für eine interdisziplinär angelegte, methodenkombinierende Vorgehensweise.

3

Empirische Umsetzungen: Zwei Wege der verräumlichten Kulturforschung

Wie verräumlichte Zusammenhänge in ihrer Komplexität mit einem Bündel qualitativer Methoden – von der teilnehmenden Beobachtung über Dokumentenanalyse bis hin zu Interviewführung – untersucht werden können, soll anhand zweier Beispiele aus der Praxis der raumorientierten Kulturforschung anschaulich ge41 Vgl. Kajetzke, Laura, » Machtbewegungen. Eine raumsoziologische Perspektive auf die Schule «, in: Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik, H. 4, 2010, S. 427 – ​439. 42 Bauriedl führt dazu genauer aus: » Besonders bei ausschließlich quantitativ ausgerichteten Forschungen werden i. d. R. Raumausschnitte bzw. Territorien betrachtet, die durch Punkte charakterisiert und durch diese mit Daten verbunden werden. « Bauriedl, » Räume lesen lernen «, a. a. O., Abschn. 12.

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macht werden. Die beiden Vorgehensweisen vermitteln einen Eindruck von dem Methodenmix, der von den space studies angestrebt wird. Diese › Zugangsoptionen ‹ stehen nicht nur für eine produktive Untersuchung von Räumen, sondern auch für eine Verräumlichung des kulturforschenden Denkens.

3.1 Das ethnomethodologische Verfahren Die Ethnomethodologie ist ein Forschungsprogramm, das mit Namen wie Harold Garfinkel und Aaron Cicourel verbunden wird.43 Die Grundidee der Ethno­ methodologie lautet kurz gefaßt, daß der bzw. die Forschende einen verfremdeten Blick auf die eigene Kultur wirft und damit versucht, die impliziten Regeln des Alltags aufzudecken: » Wie muß dieses Wissen, das Wissens eines jeden Mitgliedes einer jeden Gesellschaft, strukturiert sein, damit Handeln möglich ist ? «44 Ethno­methodologie ist eine Forschungshaltung, die den einzelnen Akteur und seine Handlungen ernst nimmt, in der Methodik stark auf teilnehmende Beobachtung, Gespräche und Interviews sowie » dichte Beschreibungen «45 im Sinne einer Ethno­graphie setzt und dabei das implizite Wissen und die unbewußten Strategien der Akteure besonders berücksichtigt. O’Toole und Were, die Autoren der hier exemplarisch behandelten Studie46, kritisieren an der gängigen ethnomethodologischen Forschung, daß Raumaspekte und materielle Kultur selten Eingang in die Untersuchungen gefunden haben, obwohl dadurch tiefere Einsichten in das soziale Leben und die dahinterliegenden Machtstrukturen gewonnen werden könnten. O’Toole führte eine ethnomethodologische Untersuchung in einer Technologiefirma in Adelaide durch, die einer größeren Organisation mit Dependancen in Australien, Irland und den Vereinigten Staaten von Amerika angehört, um Erkenntnisse über Wissensstrukturen in technisch innovativen Organisationen zu erlangen. Zehn Monate erforschte er die Belegschaft in den unterschiedlichen Abteilungen. Räume wurden dabei nicht lediglich als Kulisse für ablaufende Aktionen verstanden. Die Akteure, die sie um43 Vgl. Cicourel, Aaron, Methode und Messung in der Soziologie, Frankfurt am Main 1974; vgl. Garfinkel, Harold, Studies in Ethnomethodology, Cambridge 1984. 44 Joas, Hans/Knöbl, Wolfgang, » Siebte Vorlesung. Interpretative Ansätze (2): Ethnomethodologie «, in: dies., Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt am Main 2004, S. 220. 45 Geertz, Cliffort, Dichte Beschreibung, Frankfurt am Main 1978. 46 Vgl. O’Toole, Paddy/Were, Prisca, » Observing Places. Using Space and Material Culture in Qualitative Research «, in: Qualitative Research, 8 (5), 2008, S. 616 – ​634, http://qrj.sagepub. com/content/8/5/616. Zur ausführlichen Studie vgl. O’Toole, Paddy, Retaining Knowledge Through Organiziational Action, Adelaide 2004.

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gebenden Objekte und Gebäude sowie die Wechselwirkungen zwischen all diesen Elementen stellten sein Untersuchungsobjekt dar. Als methodisches Hauptinstrument diente ihm die teilnehmende Beobachtung, weiterhin führte er Interviews mit den Angestellten durch, arbeitete mit Photographien räumlicher Arrangements sowie mit Grundrissen und Bauplänen. Ferner war von Interesse, in welcher Stadt, in welchem Vorort das Gebäude der Technologiefirma steht, welche benachbarten Gebäude und Anlagen es umgeben. Wie ist die Firma selbst aufge­baut, wie stehen die Abteilungen zueinander, wie sieht es innerhalb der Abteilun­gen aus und wie stark sind welche Örtlichkeiten frequentiert ? Seine erstellten Beobachtungen und Beschreibungen kodierte er anhand der Leitlinien der Grounded Theory47. Über einen Vergleich zweier Abteilungen können O’Toole und Were herausarbeiten, daß die räumlichen Objektarrangements » (…) the work habits and character of the occupational group represented «48 reflektieren. Die Buchhaltungs­ abteilung stellte sich für die Forschenden als ein » haven of neatness and order «49 dar, in der jedes Objekt einen ihm zugewiesenen Platz hatte, wohingegen sich die Forschungs- und Entwicklungsabteilung, der Hort der › kreativen Köpfe ‹ des Unternehmens, als ein chaotischer Bereich mit verstreuten Werkzeugen und Bauteilen entpuppte. Beide Abteilungen werden als komplementäre Welten mit je eigenen Logiken beschrieben. Selbst Kleinigkeiten dienen den Forschern als Hinweise auf weitreichendere Veränderungen im Machtgefüge des Unternehmens. Eine blockierte Tür wird dabei genau examiniert: Versperrt durch Regale, verhindert sie den Zugang zu einem Reparaturraum für die Mitarbeiter aus der Forschungs- & Entwicklungs­ abteilung. Wie sich herausstellt, ist die Blockade durchaus beabsichtigt, da sich sonst genau jene Mitarbeiter unter Mißachtung der üblichen Regeln ungefragt am Material bedienen würden. Aus dieser scheinbar unbedeutenden und für die Forscher zunächst kaum sichtbaren Veränderung des Raumgefüges kann so auf den schleichenden Machtverlust eben dieser Abteilung für Forschung & Entwicklung geschlossen werden.50 Welche Macht qua Visibilität auf einzelne Angestellte ausgeübt werden kann, wie diese sich aber dennoch als widerständige und findige Subjekte erweisen, die sich ihre noch so kleinen Freiräume zur Wahrung einer ihnen wertvollen Identi47 Vgl. Strauss, Anselm L./Corbin, Juliet, Grounded Theory. Grundlagen qualitativer Sozialforschung, Weinheim 1996. 48 O’Toole/Were, » Observing Places «, a. a. O., S. 623 (Herv. im Original). 49 Ebd. 50 Die häufig unkonventionell agierende Abteilung für zeichnet zwar verantwortlich für das immense Wachstum der Firma in den letzten drei Jahren, doch beförderte gerade dieser Erfolg das Erfordernis einer Effizienzsteigerung und eine zunehmende Disziplinierung der Mitarbeiter. Vgl. ebd., S. 625.

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tät schaffen, ermittelt die Forschungsgruppe dieser Studie u. a. über das Verhältnis von Rezeptionistin und Rezeption im Eingangs- und Empfangsbereich der Technologiefirma. An diesem Vermittlungsglied zwischen Innen- und Außenwelt der Firma befindet sich die dort tätige Angestellte am Punkt allerhöchster Sichtbarkeit, vergleichbar mit den von Foucault beschriebenen panoptischen Verhältnissen.51 Die Rezeptionistin kann von überall her gesehen werden, sieht selbst aber nicht, wer sie beobachtet. Widerständig ist ihr Handeln allerdings insofern, als sie sich › eigenmächtig ‹ einen kleinen persönlichen Raum, einen Bereich auf ihrem Schreibtisch schafft, der immerhin nicht von den Besuchern einsehbar ist. Der persönliche Charakter dieses Bereichs zeigt sich vor allem durch eine Fülle von Photographien und › Nippes ‹: » These objects were a strategy to help her cope with disadvantages of her role, and to maintain a preferred identity while having to cope with her workplace role and can be seen as an act of resistance to control mechanisms. «52 Raum, Machtwirkungen und Identitätsbildung werden hier in einen Zusammenhang gestellt. An einer Zeitarbeiterin, die für einige Wochen die Rezeptionistin vertritt, wird die Korrelation von sozialem Status und Möglichkeiten der Raumaneignung noch deutlicher: Der persönliche Bereich dieser nur kurzfristig im Betrieb tätigen Frau schrumpft zusammen auf eine Handtasche. In dieser befindet sich ein Umschlag mit Photos von ihr wichtigen Menschen. Diese fungieren, räumlich-metaphorisch gesprochen, als » window to a world peopled by friends and family «53. Die dargestellte ethnomethodologische Studie verfährt multitheoretisch und -methodisch. Der qualitative Methodenmix erzeugt ein detailreiches Wissen über die Wechselwirkungen zwischen Akteuren und Räumen, ohne dabei Aspekte wie Körperlichkeit oder Routine zu vernachlässigen – und damit das tacit knowledge der Akteure, die häufig › praktisch ‹ mehr wissen, als sie › diskursiv ‹ zu äußern in der Lage sind.54 Auch die mit Affekten und Ideen besetzten Objekte sowie deren geplante und ungeplante Anordnungen werden bei diesem Verfahren berücksichtigt. Theoretisch wie empirisch ließe sich ein solches Vorgehen in verschiedene Richtungen weiterspinnen, z. B. mit der Akteur-Netzwerk-Theorie, indem mit ihr beobachtete Wechselwirkungen zwischen Menschen, Dingen und Gebäuden präzisiert werden könnten.55 Mit dieser Sichtweise würde der Akteursstatus nicht Vgl. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen, a. a. O., S.  251 ff. O’Toole/Were, » Observing Places «, a. a. O., S. 628. Ebd., S. 630. Vgl. Giddens, Anthony, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, Frankfurt am Main/New York 1994, S. 91 ff. 55 Vgl. Latour, Bruno, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die AkteurNetzwerk-Theorie, Frankfurt am Main 2007. Siehe auch ders., Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 2008.

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nur menschlichen Wesen, sondern potentiell allen Vermittlern einer Handlung zukommen. Diese theoretisch vorgenommene Symmetrisierung kann dazu beitragen, der Vernachlässigung des Raums und der Artefakte entgegenzuwirken.56

3.2 Das diskursanalytische Verfahren Bei der Diskurstheorie und Diskursanalyse handelt es sich um ein vielgestaltiges Feld vorrangig qualitativer57 Forschung, die spätestens seit den 1990er Jahren eine zunehmende Verbreitung, Ausarbeitung und Systematisierung als theoretisch fundierte Forschungsperspektive erfährt.58 Die Diskursforschung zeichnet sich durch eine enge Verzahnung von Theorie und Methodik aus, ohne sich dabei auf eine konkrete Theorie festzulegen.59 Trotz dieser prinzipiellen Offenheit besteht der kleinste gemeinsame theoretische Nenner der Diskursanalyse im Rekurs auf die Diskurskonzeption Michel Foucaults, der unter Diskursen nicht nur sprachliche oder schriftliche Ausdrücke versteht, sondern diese als Praktiken konzipiert, » die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen «,60 und damit die produktive Seite der Diskurse hervorhebt. In diesem Verständnis sind Diskurse als dynamische Wissen-Macht-Komplexe zu verstehen, innerhalb derer es Kämpfe um Deutungen gibt, die Strukturen ausbilden, die Regeln des Sag- und Denkbaren aufweisen und die subjektkonstituierende Wirkungen entfalten können.61 Diskurse weisen ferner eine materielle Seite auf, sind also weitaus 56 Latour betont einerseits das Verdienst der Ethnomethodologie, die Interaktion und die Akteure als eine der wenigen sozialwissenschaftlichen Theorien ernst zu nehmen. Andererseits verunglimpft er sie jedoch als » Paviansoziologie «, welche die gesellschaftsstabilisierende Funktion von Technik, Architektur, ja: der gesamten Objektwelt ignoriert, indem die Bedeutung des Menschen an gesellschaftlichen Prozessen überbetont wird. Vgl. Latour, Bruno, » Eine Soziologie ohne Objekt ? Anmerkungen zur Interobjektivität «, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 2, 2001, S. 237 – ​252. 57 Dies gilt vor allem für den deutschsprachigen Bereich, jedoch nicht für alle Länder, vgl. zu den nationalen Ausprägungen der Diskursanalyse Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/ Schneider, Werner/Viehöver, Willy, » Zur Aktualität sozialwissenschaftlicher Diskursanalyse. Eine Einführung «, in: dies. (Hrsg.), Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Band 1: Theorien und Methoden, Opladen 2001, S. 7 – ​27, hier S. 10 ff. 58 Bührmann, Andrea/Schneider, Werner, Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008, S. 9 f. 59 In der exemplarisch behandelten Studie ergänzt Bauriedl u. a. theoretische Annahmen Foucaults mit der Wissenssoziologie Bergers und Luckmanns sowie den Machtgeometrien Masseys. 60 Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981, S. 74. 61 Vgl. Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann, München 2001.

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mehr als nur symbolischer Überbau: Sie prägen Körper und Räume, und, vice versa, erzeugen Raum-Körper-Verhältnisse Macht und Wissen, womit Diskurse wiederum stabilisiert oder verändert werden können, wie Foucault unter anderem an der Genese des modernen Strafsystems (» Gefängnisdispositiv «) sowie der » Geburt der Klinik « und der damit verbundenen Sicht auf Leben, Krankheit und Tod verdeutlicht.62 Sowohl die Berücksichtigung dieser materiellen gesellschaftlichen Aspekte als auch das historisierende Vorgehen eignen die Diskursanalyse als Vorgehen der space studies, nicht zuletzt auch deswegen, da es sich um eine interdisziplinär angelegte Forschungsperspektive handelt, die in den Einzelwissenschaften bereits Fuß gefaßt hat.63 Dennoch ist zu konstatieren, daß › Raum ‹ bislang noch keine allzu große Rolle in den empirischen Umsetzungen der Diskursanalyse gespielt hat bzw. eher der Niederschlag von Diskursen in speziellen Räumen untersucht wurde als die Wirkung von Räumen auf Diskurse.64 In der hier vorzustellenden exemplarischen Studie versucht die Autorin Bauriedl, diesen Mißstand zu beheben. Ihr Anliegen ist es, eine Differenzierung der Raumdimensionen für die Diskursforschung vorzunehmen und ein » empirisches Programm für eine raumsensible Diskursforschung «65 zur Verfügung zu stellen. › Raum ‹ kann Bauriedl zufolge auf vier verschiedenen Ebenen der Diskursanalyse zum Einsatz kommen: Als Sozialgefüge, d. h. als Anordnung von Subjektpositionen66 im sozialen Raum, als konkreter Ort, d. h. als soziale Konstruktion des physischen Raumes, als Diskurslandschaft, hierbei wird die räumliche Konzentration in den Blick genommen, d. h. die Nähe und Distanz von Wissen, Akteuren und Ressourcen, sowie als Maßstabsebene, d. h. als Bezugsgröße zwischen global und lokal produktiven Diskursen.67 Ihre Untersuchung zu verräumlichten Nachhaltigkeitsdiskursen68 kann als richtungsweisende Studie angesehen werden, die aus der diskursanalytischen Perspektive heraus qualitative und quantitative Metho62 Vgl. Foucault, Michel, Überwachen und Strafen, a. a. O., vgl. ders.: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Frankfurt am Main 1988. 63 Vgl. Keller, Reiner/Schneider, Werner, » Projektbericht: Arbeitskreis › Sozialwissenschaftliche Diskursforschung ‹ «, in: Forum Qualitative Sozialforschung, 8 (2), 2007, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0702P57 (Abruf 12/2010). 64 Vgl. Bauriedl, » Räume lesen lernen «, a. a. O., Abs. 2. 65 Vgl. ebd., Abs. 7. 66 Unter Subjektpositionen werden in der Diskursanalyse » Im Diskurs konstituierte Subjektvorstellungen und Identitätsschablonen für seine möglichen Adressaten (z. B. angeborene Kollektiv-Identität; Modelle des › umweltbewussten Bürgers ‹) « verstanden, aber auch » Positionierungsvorgaben für Akteure, auf die ein Diskurs Bezug nimmt bzw. über die er spricht (bspw. als › Problemverursacher ‹, › Helden ‹). « Siehe Keller, Reiner, Wissenssoziologische Diskursanalyse. Grundlegung eines Forschungsprogramms, Wiesbaden 2005, S. 230. 67 Vgl. ebd., Abs. 5. 68 Zur ausführlichen Studie vgl. Bauriedl, Sybille, Spielräume nachhaltiger Entwicklung. Die Macht stadtentwicklungspolitischer Diskurse, München 2007.

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den miteinander kombiniert und den Raum sowohl als Gegenstand, als bedingenden Kontext und als Analyseinstrument berücksichtigt. Bauriedl distanziert sich explizit von einer Container-Auffassung des Raumes und versteht Konzepte wie » Stadt « und » Region « sowie » global « und » lokal « als » raumzeitlich gebundene Konstrukte «69, die sich aus historisch kontingenten materiellen Bedingungen und Deutungen ergeben. Ihr Untersuchungsfeld stellt dabei die Hamburger Stadtentwicklungspolitik dar. Innerhalb dieses Rahmens untersucht sie ausgewählte Quellen nach Metaphern und Deutungsmustern, die bei der Ausformulierung nachhaltiger Stadtentwicklung verwendet werden.70 Zunächst ermittelt Bauriedl verschiedene lokale Nachhaltigkeitsdiskurse über eine qualitative Analyse von Schlüsseldokumenten Hamburger Stadtentwicklungs­ politik im Zeitraum 1990 – ​2004.71 Die Autorin weist dabei die Existenz pluraler Diskurse mit unterschiedlicher lokaler Verortung nach, die jeweils eigene Verständnisse vom Konzept › Nachhaltigkeit ‹ transportieren. Sie unterscheidet u. a. einen » Naturbewahrungsdiskurs «, der Nachhaltigkeit als » umweltgerechte Entwicklung « thematisiert, und einen » Win-Win-Diskurs «, der unter Nachhaltigkeit vorrangig » ökonomische Verträglichkeit « faßt.72 Von großer Relevanz für die space studies ist dabei die Erkenntnis, daß die vermittelten Bilder von Nachhaltigkeit immer in einem sehr konkreten Zusammenhang zu lokalen Projekten standen, gleichzeitig jedoch in diesem Fall wenig Bezug auf internationale Ereignisse genommen wurde. Als Konsequenz aus diesem empirischen Befund ist auf methodischer Ebene von einer Vielzahl zu ermittelnder lokaler Diskursordnungen auszugehen. Diese geben vor, was in einem bestimmten Zusammenhang sag- und denkbar ist und welche Deutungen dominieren. Um lokale Diskursordnungen analysieren zu können, führt Bauriedl das Konzept der local stories ein. Diese bezeichnen » raumspezifische Deutungszusammenhänge, die thematisch an konkrete Orte geknüpft sind. (…) Local stories entsprechen (…) nicht allein tradiertem lokalen Wissen, sondern passen die von ihnen transportierten Erzählungen in die lokale Diskurs­

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Bauriedl: » Räume lesen lernen «, a. a. O., Abs. 22, vgl. ebd., Abs. 26. Vgl. ebd., Abs. 38. Ebd., Abs. 39 ff. Weitere lokale Diskurse, die Bauriedl benennt, sind der » Integrationsdiskurs «, der Nachhaltigkeit vor allem als sozial gerechte Entwicklung versteht, der » Governance-Diskurs «, der Nachhaltigkeit unter dem Gesichtspunkt der Partizipation als Deutung in Anschlag bringt, der » Effizienzdiskurs «, der wie der Naturbewahrungsdiskurs ebenfalls Nachhaltigkeit als umweltgerechte Entwicklung faßt, dies aber mit anderen Kernaussagen wie z. B. einer gesteigerten Ressourcenproduktivität in Verbindung bringt, sowie einen » Standortdiskurs «, der Nachhaltigkeit mit einer regional ausgewogenen Entwicklung gleichsetzt. Vgl. ebd., Abs. 45 (Herv. im Orig.).

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ordnung ein. «73 Eine solche local story rankt sich um das Städtebauprojekt » HafenCity «, welches die Autorin anhand von Planungs- und Werbedokumenten74 sowohl auf Textebene als auch auf Bildebene untersucht.75 Leitend ist dabei die Frage, wie der Standort HafenCity symbolisch und materiell im Hinblick auf die Stadtentwicklung Hamburgs und in Bezug auf das Thema › Nachhaltigkeit ‹ in Szene gesetzt wird. Dabei werden auch » supralokale ökonomische Prozesse «76 berücksichtigt, die Deutungen und Handlungsstrategien maßgeblich verändert haben, z. B. das Platzen der Dotcom-Blase oder auch die weltweite Finanzkrise. Diese Entwicklungen führten zu neuen Strategien des Projektmarketings: Wurden vorher für den Bereich der HafenCity eher Firmen aus dem Bereich der Neuen Medien angeworben, wurde dieser Sektor nun häufiger als Wohnraum vermietet. Entsprechend änderten sich die hervorgehobenen Vorzüge des Standortes. Vor der Bankenkrise war eine abwechslungsreiche Bebauung dieses Bereiches eingeplant, die » kleinteilig « und » abwechslungsreich « sein sollte; jüngere Entwicklungen weisen aber eher auf eine » großflächige Bebauung « und eine kommerzialisierte Nutzung hin.77 Mit einer Bildanalyse kann die Autorin vor allem künftige Visionen der HafenCity in den Blick nehmen, da über Visualisierungen gerade die verschiedenen Bebauungsmöglichkeiten dieses Standorts imaginiert werden. Das zuvor ermittelten lokalen Narrativ des » Win-Win-Diskurses « beeinflußt die graphischen Entwürfe der zukünftigen HafenCity maßgeblich. Mit › Nachhaltigkeit ‹ wird hier vor allem ökonomisch argumentiert, die Förderung von Umweltprojekten als wirtschaftlich rentabel unterstrichen. Textargumentation und Bildmaterial stützen sich gegenseitig. Materielle Gegebenheiten dieses Gebietes werden neben ihren offensichtlich funktionalen Aspekten mit symbolischen Deutungen überzogen: » Einerseits dient sie [die Elbe, d. V.] als Verkehrsinfrastruktur (…). Andererseits dient sie als Träger symbolischer Aufladungen. Gerade die Schwankungen der Wasserstände werden zur besonderen Attraktion des Lebens in der HafenCity erklärt. Wind, Weite, Offenheit, Licht, Wellen und auch der Geruch der Elbe sollen einen maritimen Charakter hervorrufen, der noch bis in die 1980er Jahre die Stadtbewoh­ nerInnen davon abgehalten hatte, sich am Hafenrand niederzulassen (…). «78 Ver73 Vgl. ebd., Abs. 58. 74 Hier verwendete » Diskursfragmente « sind auf sowohl auf textliche Medien bezogen, z. B. Masterplanentwurf, Landschaftspläne, Bebauungspläne und dazugehörige Publikationen, bildliche Quellen stellen naturalistische Zeichnungen, Videoanimationen, Photomontagen, Modellbauten und Computeranimationen dar. 75 Vgl. ebd., Abschn. 60 ff. 76 Ebd., Abschn. 67. 77 Vgl. ebd. 78 Ebd., Abschn. 69.

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gangenes – die materielle Beschaffenheit des Standortes und dessen immer wieder textlich aufgearbeitete Geschichte –, gegenwärtige Ausgestaltungen und Zukünftiges – Leitbilder einer noch zu realisierenden HafenCity – werden diskursiv ineinander verschränkt. Anschlußfähig ist die dargestellte Studie nicht nur im Hinblick auf die local stories, die als ein Verräumlichung erfassendes Konzept Eingang in die Diskurs­ analyse finden, sondern auch wegen eines weiteren methodologischen Schachzugs: Die local stories werden geographisch rückgebunden. Anhand einer kartographischen Visualisierung verdeutlicht Bauriedl so die räumlichen Beziehungen verschiedener local stories zueinander:79 » Die kartographische Verortung vielfältiger Nachhaltigkeitsdiskurse zeigt die Beziehung zwischen Raumstruktur und Diskursstruktur und lässt damit die (Re-)Produktion von Machtbeziehungen in räumlichen und sozialen Fragmentierungen nachvollziehbar machen (power geometries). «80 Das Abtragen der ermittelten Diskurse auf einer Landkarte bezeichnet die Autorin als Diskurslandschaft. Bezogen auf das Hamburger Stadtfor­ schungsprojekt kann sie mit Hilfe dieses Vorgehens zeigen, daß es eine Verbindung zwischen der Dichte von Großprojekten am Hafenrand und der Dichte dort zu verortender lokaler Diskurse gibt, die auf verschiedene Nachhaltigkeitsverständnisse rekurrieren. Die Studie liefert ein Indiz für die sukzessive Verbreitung des topologischen Denkens in der Diskursforschung. Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Intergration des verräumlichten Denkens sind vorhanden: So bieten die theoretische Offenheit, die Raumaffinität des Foucaultschen Denkens81, die interdisziplinäre Ausrichtung der Forschungsperspektive, eine qualitative Orientierung sowie die machtkritische Grundhaltung die Diskursanalyse für die space studies in besonderer Weise an. Ein nächster konsequenter Schritt ist möglicherweise in der Ausweitung der Diskursanalyse zu einer Dispositivanalyse zu sehen, da es sich bei dem Dispositiv um den umfassenderen Begriff handelt, der gerade die Verkettung von » Diskurse[n], Institutionen, architekturale[n] Einrichtungen, reglementierende[n] Entscheidungen, Gesetze, administrative[n] Maßnahmen, wissenschaftliche[n] Aussagen, philosophische[n], moralische[n] oder 79 Vgl. ebd., Abschn. 73 ff. 80 Ebd., Abschn. 74. 81 So äußert sich Foucault: » Man müßte eine ganze Geschichte der Räume schreiben – die zugleich eine Geschichte der Mächte wäre –, von den großen Strategien der Geopolitik bis zu den kleinen Taktiken des Wohnens, der institutionellen Architektur, dem Klassenzimmer oder der Krankenhausorganisation und dazwischen den ökonomisch-politischen Einpflanzungen. Es überrascht, wenn man sieht, welch lange Zeit das Problem der Räume gebraucht hat, um als historisch-politisches Problem aufzutauchen. « Siehe Foucault, Michel, » Das Auge der Macht «, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften in vier Bänden. Band 3: 1976 – ​1979, Frankfurt am Main 2003, S. 250 – ​271, hier S. 253.

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philosophische[n] Lehrsätze[n] «82 in den Blick nimmt. Erste Anstrengungen in diese Richtung wurden sowohl methodologisch83 als auch empirisch unternommen und es ist wahrscheinlich, daß sich die an theoretischer und methodischer Tiefe gewinnende Diskursforschung von ihrer bislang vorherrschenden › Raumblindheit ‹ vollends verabschiedet.84

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Fazit und Ausblick

Der Streifzug durch die neue Forschungsperspektive der space studies sei kurz rekapituliert: Über eine Kritik an einem umfassenden spatial turn im Sinne eines Paradigmenwechsels sind wir zu den etwas bescheideneren, aber dennoch ambitionierten space studies gelangt, die sich zum einen mit Verräumlichung als sozialem Prozeß befassen, zum anderen aber auch in ihrer Theorie und Methodik bereits ein verräumlichtes Denken aufweisen. Das geteilte theoretische Grundverständnis umfaßt drei Elemente: ein Bewußtsein über koexistierende Raumkonzepte (» Container « vs. relationales Raumverständnis), ein Verständnis von einer sozialen Produktion des Raums, wie sie Lefebvre in die Raumkulturforschung gebracht hat, und schließlich eine poststrukturalistisch geprägte Theorieauffassung, die ein historisiertes topologisches Denken voraussetzt, die Praktiken der Akteure in den Blick nimmt sowie Wissen und Macht als konstitutive Elemente verräumlichter sozialer Strukturen ansieht. So unterschiedlich die disziplinären Ausgangspunkte zu den Themen der space studies auch sein mögen, so ließen sich doch einige gemeinsame methodologische Nenner herausarbeiten: Eine hohe hermeneutische Sensibilität, die sich aus dem Fächerkanon der Kulturforschung fast zwangsläufig ergibt, trifft sich dabei mit einem Bekenntnis zur qualitativen Forschung und der Bereitschaft zu methodischen Grenzüberschreitungen. 82 Foucault, Michel, » Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräch mit Angehörigen des Départe­ ment de Psychanalyse der Universität Paris/Vincennes «, in: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 118 – ​175, hier S. 119 f. 83 Vgl. Jäger, Siegfried, » Diskurs und Wissen. Theoretische und methodische Aspekte einer Kritischen Diskurs- und Dispositivanalyse «, in: Keller/Hirseland/Schneider/Viehöver (Hrsg.), Handbuch Sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, a. a. O., S. 81 – ​112; vgl. Bührmann, Andrea D./Schneider, Werner, » Mehr als nur diskursive Praxis ? – Konzeptionelle Grundlagen und methodische Aspekte der Dispositivanalyse «, in: Forum Qualitative Sozialforschung, 8 (2), 2007, Art. 28, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0702281; vgl. dies., Vom Diskurs zum Dispositiv, a. a. O. 84 Hoffnungen weckt dabei z. B. der angekündigte Band von Hoffarth, Britta/Kumiega, Lukasz/ Caborn Wengler, Joannah (Hrsg.), Raum – Bildung – Politik. Forschende Verortungen des Dispositiv-Begriffs, Wiesbaden 2011 (i. E.).

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Die vorgestellten Studien veranschaulichten, wie bislang ebenfalls häufig » raumblinde « Vorgehensweisen um den materiellen Aspekt der Räumlichkeit sowie der Wechselwirkung zwischen Ort und Akteur ergänzt werden können. Dies weitete den Blick für die die Menschen umgebenden und in Interaktionen eingebundene Objekte, die (Macht-)Architekturen sowie die Pläne und Modelle räumlicher Arrangements. Das ethnomethodologische Verfahren profitierte im konkreten Beispiel von der Raumperspektive, da so Machtkonstellationen offengelegt werden konnten, die eine Engführung auf soziale Interaktion oder die Kommunikation der Akteure untereinander nicht zum Vorschein gekommen wären. Das diskursanalytische Verfahren konnte die enge Verbindung zwischen Diskursen und Räumen aufzeigen, die wechselseitig aufeinander einwirkten. › Raum ‹ wird sowohl als Gegenstand, als Analyseinstrument, aber auch als Maßstabsebene für die Diskursforschung relevant – und damit im Umkehrschluß auch die Methoden der Diskursforschung für die space studies. Die beiden Studien geben einen Vorgeschmack darauf, welche Formen der Forschung möglich sind, wenn die Grenzen verschiedener Wissenschaftstraditionen überschritten werden und eine gemein­ same Verständigungsebene jenseits disziplinärer Sprachspiele hergestellt wird. Ein weiteres Angebot zur Untersuchung räumlicher Arrangements findet sich in der neueren Architektursoziologie. Methodisch steckt diese Forschungsperspektive noch in den Kinderschuhen,85 das Potential für die empirische Arbeit innerhalb der space studies ist aber bereits zu erkennen. Die Architektursoziologie versteht sich selbst nicht als weitere Bindestrichsoziologie, sondern hegt einen sehr viel allgemeineren Anspruch. Sie kritisiert die » antitechnische und anti­ ästhetischen Haltungen in der soziologischen Theorie «86 und fordert zu einer intensiveren und reflektierten Auseinandersetzung mit dem Materiellen auf. Ein weit gefaßter Begriff von Architektur liegt ihren theoretischen Annahmen und ihrem Gegenstandsbereich zugrunde: » [E]s geht nicht nur um Gebautes. Eine Architektursoziologie kann sich ebenso auch für das Gewebte, für das nicht in der Erde Verwurzelte, nicht Gemauerte und nicht Betonierte interessieren: für die Zelte, Hütten, Iglus und die in die Erde gegrabenen Häuser der nicht modernen und nicht urbanen Gesellschaften. «87 Architektursoziologie befaßt sich mit

85 Zu ersten Anstrengungen in diese Richtung vgl. Schubert, Herbert, » Empirische Architektursoziologie «, in: Die Alte Stadt, 32, 2005, S. 1 – ​27. Siehe auch Delitz, Heike, » Materialität und Bildlichkeit in der Architektur. Tagungsbericht «, in: Soziologie, H. 3, 2008, S. 462 – ​470. 86 Vgl. Eßbach, Wolfgang, » Antitechnische und antiästhetische Haltungen in der soziologischen Theorie «, in: Lösch, Andreas/Schrage, Dominik/Spreen, Dierk/Stauff, Markus (Hrsg.), Technologien als Diskurse. Konstruktionen von Wissen, Medien und Körpern, Heidelberg 2001, S. 123 – ​136. Vgl. auch Delitz, Heike, Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 11 ff. 87 Delitz, Architektursoziologie, a. a. O., S. 19.

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» Baukörpergrenzen «88, mit der Schaffung eines Innen und Außen. Sie zielt damit auf für die Kulturforschung zentrale Konzepte wie » Raum «, » Körper «, » Soziales «, » Artefakte « und » Interaktion «. In diesem Verständnis hängt Architektur sowohl mit » dem Sozialen « als auch mit » dem Individuum « zusammen, ist der gesellschaftliche Kitt, der die Mitglieder sozialer Gruppen verbindet.89 Architektur beeinflußt den Möglichkeitsspielraum von Handlungen und kann an der Ausbildung gesellschaftlicher Strukturen beteiligt sein. Der Gegenstand der Untersuchung stellt aber nicht nur das Gebaute, sondern auch die Entwürfe, ja: der gesamte Entstehungsprozeß dar, sogar das › Ungebaute ‹, das die Phase der Planung nie überschritten hat, kann für die Architektursoziologie von Interesse sein. Der Um- und Abbau von Gebautem gibt ebenso Aufschluß über die Gestalt der Gesellschaft. Zu erforschen ist das Netzwerk der Texte, Rituale bzw. Routinen, Bilder und der architektonischen Artefakte sowie der Körper. Die drängende Frage der Architektursoziologie ist auch die der space studies: Wie wird » die Identität des Sozialen erzeugt (…), welche Kämpfe [werden] dabei ausgefochten «90 ? Ähnlich wie die bereits vorgestellten Methoden ist das architektursoziologische Vorgehen gleichermaßen offen für verschiedene Theorieansätze. So kann mit dem Ansatz von Maurice Halbwachs eine » soziale Morphologie « der Fußballstadien91 erstellt, mit einer system- und formtheoretischen Analyse der Abriß des Palasts der Republik in Berlin92 beleuchtet oder nordamerikanische Vorstädte93 aus der Perspektive der Gender Studies als Geschlechterarchitektur historisiert werden. Zwar steht eine systematische Ausarbeitung methodischer Umsetzungen, die mit Hilfe der Architektursoziologie vollzogen werden können, noch aus, doch könnte die Architektursoziologie sich die in den space studies angelegte Interdisziplinarität in Zukunft

88 Ebd., S. 54 89 Vgl. Schroer, Markus, » Materielle Formen des Sozialen. Die › Architektur der Gesellschaft ‹ aus der Sicht der sozialen Morphologie «, in: Fischer, Joachim/Delitz, Heike (Hrsg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien der Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 19 – ​48, hier S. 27. 90 Delitz, Architektursoziologie, a. a. O., S. 64. 91 Vgl. Schroer, » Materielle Formen des Sozialen «, a. a. O.. Zur Verwendung weiterer soziologischer Theorien auf die Thematik des Fußballstadions vgl. ders., » Vom › Bolzplatz ‹ zum › Fußballtempel ‹. Was sagt die Architektur der neuen Fußballstadien über die Architektur der Gegenwart aus ? «, in: Klein, Gabriele/Meuser, Michael (Hrsg.), Ernste Spiele. Zur politischen Soziologie des Fußballs, Bielefeld 2008, S. 155 – ​173. 92 Vgl. Baecker, Dirk, » Bauen, Ordnen, Abreißen im Formmodell des Sozialen. Die › Architektur der Gesellschaft ‹ aus system- und formtheoretischer Sicht «, in: Fischer/Delitz, Die Architektur der Gesellschaft, a. a. O., S. 195 – ​222. 93 Vgl. Frank, Susanne, » › The beautiful source of suburban womanhood ! ‹ Die › Architektur der Gesellschaft ‹ aus Sicht der Gender Studies «, in: Fischer/Delitz, Die Architektur der Gesellschaft, a. a. O., S. 253 – ​287.

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noch weiter zunutze machen und von anderen Disziplinen lernen, z. B. der Archäologie und der Kunstgeschichte.94 Die Ausführungen in toto haben gezeigt, daß auch ohne einen angenommenen spatial turn das wissenschaftliche Handwerk der space studies für die ge­samte Kulturforschung eine immense Bedeutung hat. Ohne den Raum bzw. genauer: ohne die Verräumlichung geht es nicht mehr, will man nicht hinter wichtige Erkenntnisse der space studies zurückfallen. Gerade die Beispiele aus der Forschungspraxis haben gezeigt, daß die Komplexität sozialer Zusammenhänge wesentlich präziser gefaßt und besser verstanden werden kann, wenn › Raum ‹ als Gegenstand und Analyseinstrument einbezogen wird. Die Verräumlichung des Denkens ist freilich häufig unbequem, fordert zu einer höheren theoretischer Reflexion der eigenen Grundannahmen auf. Ein Defizit ist allerdings noch mit den erst spärlich ausgearbeiteten Methoden der empirischen Raum-Kulturforschung zu beklagen, die bislang noch in einem Anfangsstadium begriffen sind. Hier liegt noch ein gutes Stück systematischer Arbeit vor den space studies. Die enge Verwobenheit der space studies u. a. mit den visual studies, den postcolonial studies, den gender studies, den governmentality studies und den science studies ist ein erstes Zeichen dafür, daß innerhalb der Kulturforschung ein reflektiertes Raumverständnis Fuß gefaßt hat. Doch die space studies öffnen nicht nur gastfreundlich die Grenzen innerhalb der Kulturforschung bzw. schwärmen dort in interdisziplinäre Forschungszusammenhänge aus, sondern sie sind auch grundsätzlich bereit für die Kommunikation mit anderen Wissenschaftskulturen, freilich ohne ihren eigenen identitären Kern preiszugeben. Der nächste naheliegende Schritt ist eine Hinwendung zu den Lebens-, Technik- und Naturwissenschaften, um sich beispielsweise den Körperräumen der Medizin, den kortikalen Karten der Neurowissenschaften oder den virtuellen Räumen der Informatik zu widmen und hier in einen echten Austausch auf Augenhöhe mit den beteiligten Disziplinen zu treten. Dabei sollte ein epistemologisches roll back vermieden werden: Ein unreflektiert-geopolitisches Raumverständnis ist von den space studies endgültig ad acta gelegt. Für selbstreferentiell-aufgeklärte Wissenschaften gleich welchen Erkenntnisinteresses ist die Hinwendung zum Raum eine Notwendigkeit und damit die Arbeit der space studies unverzichtbar.

94 Diese Austauschprozesse finden bereits statt, vgl. dazu Trebsche, Peter/Müller-Scheeßel, Nils/Reinhold, Sabine, Der gebaute Raum. Bausteine einer Architektursoziologie vormoderner Gesellschaften, Münster/New York/München/Berlin 2010. Ein anderes Beispiel für gelungene interdisziplinäre Kommunikation auf Grundlage eines den Disziplinen gemeinen » Raumproblems « aus dem Bereich der Bildungsforschung findet sich im Sammelband von Jeanette Böhme, vgl. Böhme, Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs, a. a. O.

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Raum aus praxissoziologischer Perspektive (zusammen mit Laura Kajetzke)

Das Feld der Praxistheorien In den sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen ist das Konzept der » Praxis « in den letzten Jahren intensiv (vgl. Hörning u. Reuter 2004; Reckwitz 2003 u. 2008; Schatzki et al. 2001, Bongaerts 2007) diskutiert worden. Bei diesem praxisorientierten Zugriff auf die soziale Wirklichkeit handelt es sich nicht um ein vollkommen neues Theoriekonzept, das auf den Markt der bereits vorhandenen Ansätze drängt; ebenso verbirgt sich hinter dem Label » Praxistheorie « (bislang jedenfalls noch) kein weiterer Versuch, verschiedene existente Ansätze zu einem übergeordneten Theorieparadigma zu synthetisieren, die auf alle denkbaren sozialen Phänomene anwendbar wäre. Vielmehr werden unter diesem Begriff theoretische Perspektiven subsumiert, die bestimmte » Familienähnlichkeiten « aufweisen. Dies bedeutet, dass die Ansätze über ähnliche analytische Stärken, Ansprüche und Prämissen verfügen, ohne jedoch die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Theorien ignorieren oder gar einebnen zu wollen (vgl. Schmidt u. Volbers 2011, S. 25). Zu den prominenten Vertreterinnen und Vertretern der Praxistheorien – über deren Zugehörigkeit aber nicht zwingend ein Konsens besteht – zählen u. a. Klassiker wie Karl Marx und Norbert Elias, (spät-)moderne Soziologen wie Pierre Bourdieu und Anthony Giddens, aber auch poststrukturalistische bzw. -konstruktivistische Denkerinnen und Denker wie Judith butler, Michel de Certeau, Michel Foucault, Bruno Latour, Karin Knorr Cetina und Theodore Schatzki (vgl. Hillebrandt 2009; Reckwitz 2003). Zentrale philosophische Bezugstheorien sind die Theorie der Sprachspiele nach Wittgenstein sowie der Pragmatismus – etwa John Dewey und William James (vgl. Schatzki 2008; Bogusz 2009). Ehe wir uns dem Kernanliegen, der Frage nach dem Verhältnis von Praxistheorie und Raum, widmen, soll zunächst skizziert werden, was den kleinsten gemeinsamen Nenner dieser und anderer divergenten Theorien darstellt, der es plausibel macht, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Schroer, Räume der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2_4

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Raum aus praxissoziologischer Perspektive

von einer Praxisperspektive zu sprechen. Welche Aspekte sind den sogenannten Praxistheorien gleichermaßen wichtig, auch wenn diese dann je nach theoretischer Ausrichtung unterschiedlich angegangen und bearbeitet werden ? Anschließend wird ein Übertrag auf den Raum vorgenommen, verbunden mit der Frage, was es praxistheoretisch bedeutet, von » Verräumlichung « (Schroer u. Kajetzke 2010) zu sprechen. Vorweg genommen werden kann, dass eine solche Perspektive den Blick auf lokalisierbare relationalen Anordnungen menschlicher und dinglicher Akteure, ihre Zusammenwirkungen, gegenseitigen Transformationen sowie den damit verbundenen Macht-Wissen-Verhältnissen lenkt. Statt in substantialistischer bzw. essentialistischer Manier Fragen nach » dem Raum « zu stellen, geht es darum, Praktiken des Verräumlichens zu thematisieren. Einzelne Theorien sollen daraufhin nach ihrem Beitrag zum Verhältnis von Praxis und Raum befragt werden. Die Auswahl beschränkt sich auf exemplarische Autoren, die zunehmend in der kulturtheoretisch orientierten Raumsoziologie wahrgenommen werden. Diese bieten theoretische und empirische Anschlussmöglichkeiten für trans- und interdisziplinäre Raumforschung, d. h. für die Etablierung von sogenannten » Space Studies « (vgl. Moebius 2009a, S. 181 ff.; Kajetzke u. Schroer 2012).

Die Perspektive praxistheoretischer Ansätze und ihr Übertrag auf den Raum Der Begriff der Praxis verweist auf ein anderes Erkenntnisinteresse sowie auf eine andere theoretisch-methodologische Annäherung an soziale Phänomene als es Begriffe wie » Handlung «, » Individuum «, » Intentionalität « – an einem handlungs­ theoretischen bzw. individualistischen Pol – und » Struktur «, » System «, » Semantik « – am entgegengesetzten gesellschaftstheoretischen Pol – tun. » Site of the So­ cial « (Schatzki 2002), der › Ort des Sozialen ‹ aus der Perspektive von Praxistheorien, ist weder das sinnsetzende Subjekt noch eine überindividuelle Struktur, sondern aufeinander bezogene, vernetzte, regelmäßig auftretende, jedoch nie völlig gleichbleibende Praktiken: » Soziale Praktiken (…) sind an bestimmte Umstände, Orte, Kontexte und materielle Rahmungen gebunden. Sie vollziehen sich überwiegend im Modus des Gewohnten und Selbstverständlichen. Sie haben kollektiven Zuschnitt, das heißt, sie involvieren Teilnehmerschaften und Praktikergemeinschaften (…). In sozialen Praktiken spielen körperliche Performanzen und Routinen, ein gemeinsam geteiltes praktisches Wissen und die beteiligten Artefakte eine wichtige Rolle. « (Schmidt 2012, S. 10) Praxistheorien wenden sich sowohl gegen essentialistische als auch kognitivistische sowie rein strukturalistische Annahmen, lehnen also ein Denken in festen Substanzen und Wesenheiten ab, negieren eine Unterteilung in Körper vs. Geist und opponieren gegen die Idee einer » Welt als

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Text «, wie sie in strengeren strukturalistischen Varianten der Diskurstheorie vertreten wird. Positiv formuliert zeichnen sich diese Ansätze dadurch aus, dass sie Akteure als Handelnde mit Entscheidungsspielräumen zwar ernst nehmen, diese aber nicht als alleinige Ursache des Zustandekommens koordinierter Praktiken, » am Beginn der Praxis stehend « (Moebius 2012, S. 8), ansehen. Der Fokus der Betrachtung und des methodischen Zugriffs wird auf die Logik der Praxis und aller an ihr beteiligten Elemente verlagert. Dazu gehört auch die Materialität der Situation, d. h. zum einen die involvierten Körper, zum anderen die eingebundenen Artefakte, die in der Theorievariante der Akteur-Netzwerk-Theorie sogar zu eigenmächtigen Akteuren avancieren, da sie Situationen maßgeblich mitgestalten (vgl. Latour 2001 u. 2010). Das Soziale wird konzipiert als » Verkettung von Praktiken über Zeit und Raum hinweg « (Schmidt u. Volbers 2011, S. 25 f.). Praxistheorien richten ihr Forschungsinteresse an der Frage aus, warum Praktiken sich dauerhaft und auf eine bestimmte Weise – die Kontingenz alternativer Praktiken einschränkend – etablieren konnten. Zudem ist relevant, ob es sich wirklich durchgängig um ähnliche Praktiken handelt oder ob nicht subtile Veränderungen bis hin zur vollständigen Umgestaltung zu verzeichnen sind. Neben den sichtbaren Situationen, in denen das Ausführen der Praktiken für die Forschenden beobachtbar wird, interessieren sich diese aber auch für die unmittelbar nicht sichtbaren Bedingungen dieser Situation, d. h. eingeschriebene Handlungsprogramme der Artefakte, die bestimmte Weisen der Nutzung nahelegen, inkorporierte, implizite Wissensbestände der menschlichen Akteure sowie vergangene oder zeitgleich an anderen Orten stattfindende Situationen, die mit dieser Situation verknüpft sind und diese prägen. Dabei verfolgen sie das Ziel, den Mustern gesellschaftlicher Praktiken auf die Spur zu kommen, aber auch der Eigenlogik, Kreativität und Ereignishaftigkeit verschiedener Akteure und Situationen gerecht zu werden. Überträgt man die Praxisannahmen auf die Kategorie » Raum «, können folgende Aspekte hervorgehoben werden: 1) Im Sinne der Praxistheorien sind Räume nicht lediglich als Rahmungen von stattfindenden Interaktionen konzipiert, sondern sind elementarer Bestandteil der Praktiken selbst. Damit wird – auf der Ebene der praxistheoretischen Forschung – von der Vorstellung des Raumes als » Container «, als Raum-Behälter, der unabhängig von den in ihm enthaltenen Körpern existiert, Abschied genommen (vgl. Einstein 1960, S. XIII). Wer vom Raume spricht, sollte von dessen Relationalität nicht schweigen (vgl. Löw 2001, S. 24 ff.; Schroer 2006, S.  39 ff.). 2) Zudem sind Räume aus dieser Perspektive nicht mehr nur auf die unmittelbare face-to-face-Situation bezogen, sondern mit einer Vielzahl von anderen Situationen und mit früheren Zuständen ihrer selbst verbunden. Räume – ge-

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dacht als vernetzte Praktiken der Raumerzeugung – sind also multilokal und müssen prozesshaft betrachtet werden. All jenes, das die (Raum-)Praktiken und Raummaterialitäten beeinflusst und durch diese beeinflusst wird, ist Teil der Räumlichkeit. 3) Ferner sind Praxistheorien auch am Wissen über Räume und am Wissen der Räume interessiert (vgl. Schroer 2010). Ein Wissen über Räume findet sich in den menschlichen Akteuren verankert, z. B. ein Wissen über an­gemessenes Verhalten in öffentlichen Räumen. Bei dem Wissen der Räume geht es um Wissen, das in spezifischen Orten vermittelt (Schulen, Universitäten, Salons) sowie um Wissen, das durch Räume und mit ihnen verbundene Qualitäten und durch die Anordnung, die sie darstellen, erzeugt wird (z. B. das Benthamsche Panopticon, Laboratorien) (vgl. Rheinberger et al. 1997; Matthiesen 2007). Wissen und Räumlichkeit sind eng miteinander verwoben. Dies legt nahe, die in den Köpfen der Menschen wirksamen alltäglichen Raumtheorien ernst zu nehmen, zu denen auch die Container-Theorie gehören kann. Die Vorstellungen vom Raum beeinflussen das Tun der Akteure und damit die vorfindliche koordinierte Praxis. Aus der Perspektive der Praxistheorien ist es sinnvoll, statt von » dem Raum « von der Praxis des Verräumlichens bzw. von » Verräumlichung « (Schroer u. Kajetzke 2010, S. 193) zu sprechen, da Räumlichkeit erst über das Zusammenwirken von Körpern, Materialitäten und Wissensbeständen entsteht. Jedoch ist wichtig, hieraus keine essentialistischen Trugschlüsse zu ziehen: Keinesfalls wird eine vorhandene, » feste « Identität nachträglich » ver-räumlicht «, quasi aus einem vorräumlichen in einen räumlichen Zustand versetzt, sondern durch das Zusammenwirken und Aufeinanderwirken der einzelnen belebten und unbelebten Elemente verändern sich diese gegenseitig. Wenn hier also überhaupt von » Identität « (einer Sache, eines menschlichen Akteurs) gesprochen werden kann, dann nur insofern, als dass es sich um eine fluide Identität handelt, die in permanenter Auseinandersetzung mit anderen Elementen gebildet, gestaltet und verändert wird: » [A spatial arrangement, d. V.] (…) is a layout of entities in which they relate and take up places with respect to one another. (…) As elements of the arrangement, these entities also possess identities (who someone is) or meanings (what something is). For something’s meaning/identity is a function of its relations, just as conversely its relations are a function of its meaning/identity. « (Schatzki 2001, S. 43) Alternativ kann Verräumlichung auch als » space as a doing « bezeichnet werden, wie es beispielsweise von der feministischen Humangeographie angeregt wird (vgl. Massey 1998 u. 1999). » [Space, d. V.] (…) is practised, a matrix of play, dynamic and iterative, its forms and shapes produced through the citational performance of self-other relations. Which is not to say that space is infinitely plastic. Certain

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forms of space tend to recur, their repetition a sign of power. « (Rose 1999, S. 248). Roses Hinweis auf den Aspekt der Macht, der in stabilisierten Verräumlichungspraktiken steckt, ist von elementarer Bedeutung für die Praxistheorien, da dieser nahelegt, dass Stabilität und Institutionalisierung von räumlichen Zusammenhängen keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Ergebnis von Aushandlungs- und Deutungskämpfen sind. Trotz dieses Kerns gemeinsamer Aspekte sind die theoretischen Wege, die jeweilige Ansätze der Verräumlichung beschreiten, vielgestaltig. In manchen Fällen verhalten sie sich zueinander wie Öl und Wasser, z. B. im Fall der Akteur-Netzwerk-Theorie Latourscher Prägung und der Praxeologie Pierre Bourdieus (vgl. Latour 2001, S. 251; ders. 2010, S. 430 ff.). Der Theorienpluralismus der Praxisansätze erfordert, dass sich der oder die Forschende aus dem Fundus der Theorien eine problemorientierte Variante auswählt. Mit der gewählten Perspektive gehen dann ein bestimmtes Raumverständnis und ein analytisches Vokabular einher. Eine Auswahl von Begriffen wird im Folgenden vorgestellt. Diese sollen als Inspiration für raumbezogene Forschung in den Sozial- und Kulturwissenschaften im Sinne einer » Werkzeugkiste « theoretischer Analyseinstrumente dienen, die bei Bedarf auch aus ihrem Theoriekontext gelöst werden können (vgl. Foucault 1976, S. 45). Es ist schwierig, wenn nicht unmöglich, einen Nullpunkt der soziologischen Beschäftigung mit dem Raum auszumachen, schon die Gründungsväter der Diszi­ plin – namentlich Émile Durkheim und Georg Simmel – haben dazu beigetragen, die heute so selbstverständlich angenommene soziale Bedingtheit des Raums erst denkbar zu machen (vgl. Simmel 1995, Durkheim 1984, vgl. auch Schroer 2006, S. 48 ff.). Der Fokus auf Praxistheorien legt hier aber nahe, mit dem neomarxistischen Ansatz Henri Lefebvres zu beginnen, der die Humangeographie und Raumsoziologie maßgeblich beeinflusst hat (1). Darauf folgt eine Auseinandersetzung mit der Praxeologie Pierre Bourdieus und der Strukturierungstheorie von Anthony Giddens (2). Sodann sollen poststrukturalistische Positionen zu Wort kommen. Das machtanalytische Raumkonzept von Michel Foucault steht dabei im Vordergrund, ergänzt um die raumtheoretischen Einlassungen Michel de Certeaus und Judith Butlers (3). Anschließend widmen wir uns den raumtheoretischen Implikationen zweier Vernetzungstheorien, der Rhizomatik von Gilles Deleuze und Félix Guattari einerseits und der Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour und anderen andererseits (4). Nach einem knappen Fazit wird ein Ausblick auf methodologische Konsequenzen gegeben und eine neue Perspektive auf das Konzept der Identität angeregt (5).

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Verräumlichung (neo-)marxistisch Obwohl er in vielen Überblicksartikeln zu praxistheoretischen Ansätzen fehlt, kann Karl Marx problemlos als » Klassiker der Praxistheorien « bezeichnet werden. Die menschliche Praxis ist für ihn das soziale Bindemittel par excellence: » Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. « (Marx 1953, S. 341) In Auseinandersetzung mit der materiellen und menschlichen Umwelt bilden sich menschli­ che Identitäten und, sobald die grundlegenden Bedingungen des Lebens gesichert sind, eine sich stetig differenzierende Sozialstruktur. Der Begriff der Praxis ist dabei eng an den Begriff der Produktion (von Dingen, Lebensweisen, Verhältnissen zu anderen Menschen) gekoppelt: » Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. (…) Die Tatsache ist also die: Bestimmte Individuen, die auf bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese bestimmten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ein. « (Ebd., S. 347 f.) Marx’ gesamtes Werk lässt sich praxistheoretisch lesen, ob es um das Verhältnis von Basis und Überbau, die Entstehung und Bewusstheit von Klassen oder den Fetischcharakter der Ware geht, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Jedoch findet man keinerlei an seine eigenen praxistheoretischen Überlegungen anknüpfenden Einlassungen zum Thema Verräumlichung, abgesehen von einigen zeitdiagnostischen und -prognostischen Thesen zur Eroberung und Ausbeutung des physisch-geographischen Raums im Rahmen der Zuspitzung kapitalistischer Entwicklungen. Diesem theoretischen Desiderat hat sich – aus neomarxistischer Perspektive – Henri Lefebvre angenommen. Sein Werk » La production de l’espace « ist ein Meilenstein der sozial- und kulturwissenschaftlichen Raumforschung. Anders als Marx wendet er sich gegen die gängige Vorstellung, es gebe zum einen den Raum sozialer Beziehungen und zum anderen einen physischen Raum, der losgelöst von diesem existiere. Analytisch unterscheidet Lefebvre eine materielle (a), eine gedachte (b) und eine symbolische (c) Ebene (vgl. Moebius 2009a, S. 182; Schroer u. Kajetzke 2010, S. 195 f.). Diese Ebenen sind in der Lebenswirklichkeit miteinander verwoben. a) Die menschliche Praxis (pratique spatiale), die Lefebvre zufolge zugleich immer auch eine räumliche Praxis ist, verbindet Handelnde und ihre Vorstellungen untrennbar mit der materiellen Welt. Akteure nehmen ihre materielle Umwelt wahr (l’espace perçu) und reagieren auf sie bzw. interagieren mit ihr in ihren alltäglichen Praktiken. Durch deren regelmäßiges Auftreten, der Alltagsroutine, werden Räume immer wieder aufs Neue, wenngleich verhältnismäßig stabil, reproduziert.

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b) Die gedachte Ebene bezieht sich auf das Feld der Raumrepräsentationen (répresentations de l’espace). Hier geht es um den Bereich der Raumplanung. Ein Raum des Wissens, der Zeichen und der Codes dient als kollektiver Wissensvorrat für Expertinnen und Experten, die diesen mit Ideen und Konzepten wiederum bereichern und erweitern. Lefebvre bezeichnet diesen Raum auch als konzipierten Raum (l’espace conçu). c) Die symbolische Ebene wiederum rekurriert auf den » gelebten Raum « (l’espace vécu), dem Raum der Phantasie und Imagination. Akteure können durch alternative Raumvorstellungen und Raumnutzungen Räume aktiv verändern bzw. neue Räume entstehen lassen. So finden schließlich, in einem Wechselspiel zwischen den drei Ebenen, auch Transformationen auf materieller, gedachter und planerischer Ebene statt. (Vgl. Lefebvre 2005, S. 33 ff.) Es ist Lefebvres Verdienst, auf das praktische Entstehen und Bestehen von Räumen und vor allem auf die Kontingenz von Verräumlichungsprozessen aufmerksam gemacht zu haben. Das marxistische Grundinteresse, gegenwärtige Lebensbedingungen in Bezug auf mögliche Hierarchisierungen zu hinterfragen, aber auch auf praktische Veränderungsmöglichkeiten hinzuweisen, schlägt sich hier deutlich nieder. Eine andere Verräumlichung als die unmittelbar vorgefundene Weise sei immer möglich – so zumindest eine naheliegende Lesart des Lefebvreschen Werkes. Gegenwärtig kann wohl David Harvey (2001; 2013) als der wichtigste zeitgenössische neomarxistische Raumtheoretiker bezeichnet werden. In Anschluss an Marx und Lefebvre konzipiert er den Raum als menschliche Praxis und verbindet die Frage der Verräumlichung mit jener nach sozialer Gerechtigkeit unter den Bedingungen des globalen Kapitalismus.

Verräumlichung praxeologisch und strukturierungstheoretisch Auch Pierre Bourdieu und Anthony Giddens gewähren in ihren Großtheorien dem Begriff der Praxis eine prominente Stellung. Bourdieu benennt die Stoßrichtung seiner theoretischen Unternehmungen als Praxeologie und sieht darin eine Überwindung subjektivistischer, d. h. handlungstheoretischer und interpretativer Positionen und objektivistischer, d. h. strukturalistischer und gesellschaftstheoretischer Positionen (vgl. Bourdieu 1992). So distanziert er sich zum einen von den » unmittelbaren Anschauung der Alltagserfahrung « (ebd., S. 138), betont also den Mehrwehrt einer soziologischen Betrachtung, will aber zum an­deren nicht in den objektivistischen Irrtum verfallen, die menschliche Praxis lediglich als » Aktualisierung eines vorweg wirksamen Regelwerkes « (Fuchs-Heinritz u.

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König 2005, S. 245) zu degradieren. Als inkorporiertes Denk-, Wahrnehmungsund Handlungsschema fungiert der Habitus als Vermittler zwischen Individu­ um und Gesellschaft, als Erzeugungsprinzip von Praxis. Verbunden mit diesem ist ein » praktischer Sinn « (sense pratique) für die Verhaltenserfordernisse in spezifischen sozialen Feldern. Unter Feldern versteht Bourdieu relativ autonome Mikrokosmen, die bestimmten Gesetzen und einer bestimmten Logik folgen. Auf diesen Machtfeldern konkurrieren Akteure um Status und Ressourcen (vgl. Bourdieu 1993b). Sowohl Habitus als auch praktischer Sinn sind Bourdieu zufolge vorbewusst, d. h. der Reflexion des Akteurs in der Situation nicht direkt zugänglich: » Die Konditionierungen (…) erzeugen die Habitusformen als Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d. h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewußtes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen, die objektiv › geregelt ‹ und › regelmäßig ‹ sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein (…). « (Bourdieu 1993a, S.  98 f.) Im Gegensatz zu Lefebvre betont Bourdieu vor allem die Persistenz von Räumen, auch wenn kontingente Praktiken des Verräumlichens im Rahmen des Möglichen liegen. Doch die Beharrungskräfte des Habitus sorgen für eine eigentümliche Kongruenz von sozialem – dem Raum der sozialen Positionen – und physischem Raum. Für ihn ist es ein zentrales Kennzeichen von Gegenwartsgesellschaften, » daß man nicht jeden mit jedem zusammenbringen kann « (Bourdieu 1985, S. 14). Demnach ist es kein Zufall, an welchen Plätzen Menschen sich aufhalten und welche sie vermeiden, wo sie wohnen und auf wen sie treffen. Bevor es überhaupt zu einer gemeinsamen Interaktion kommt, haben schon vielfältige Selektionsprozesse stattgefunden. Mit Bourdieu (1991, S. 25) lässt sich von einer heimlichen Komplizenschaft zwischen physisch-materiellem und sozialem Raum ausgehen, denn beide nehmen Unterscheidungen und Grenzziehungen vor, die Begegnungen zwischen sozialräumlich nahestehenden Personen eben auch im physischen Raum wahrscheinlicher machen und das Zusammenwirken so­ zial­räumlich entfernterer Personen verhindern (vgl. auch Schroer u. Wilde 2010, S. 186 ff.). Problematisch daran sei, dass die räumliche Objektivierung sozialer Tatbestände soziale Ungleichheiten naturalisiert und den Akteuren als selbstverständlich erscheinen lässt. Bourdieus theoretischer Beitrag zur Erforschung von Verräumlichungsprozessen liegt vor allem in der Aufdeckung solcher Naturalisierungstendenzen. Mit dem von ihm angebotenen Analyseinstrumentarium, d. h. seiner Unterscheidung von Sozialraum und physischem Raum, dem Habituskonzept und der Feldtheorie, lässt sich nachzeichnen, warum Räume sich durch Prak-

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tiken immer wieder in ähnlicher Weise reproduzieren, alternative Nutzungen aber erschweren (vgl. Schroer 2006, S. 82 ff.). Mehr noch als Bourdieu hat Anthony Giddens (1995) im Rahmen seiner » Theorie der Strukturierung « die systematische Berücksichtigung von Raum und Zeit in der soziologischen Theorie eingefordert (vgl. Schroer 2006, S. 106 ff.). Auch dieser Ansatz erhebt den Anspruch, jenseits von Handlungs- und Systemtheorie eine Perspektive anzubieten, die gängige Dichotomien der Soziologie überwindet. Statt von einem Dualismus, einem unüberwindlichen Graben zwischen Handlung und Struktur, auszugehen, plädiert Giddens für eine Dualität von Handlung und Struktur. Damit ist gemeint, dass Handlungen Strukturen bilden, die zeitlich und räumlich ausgreifen, und – bei besonderer Stabilität, d. h. Erwartbarkeit einer Wiederholung – sich zu Systemen verfestigen (vgl. Giddens 1995, S. 77). Strukturen – in diesem Sinne also über Raum und Zeit hinweg produzierte und reproduzierte Handlungen – strukturieren wiederum Handlungen. Strukturen stehen dem Einzelnen entsprechend nicht mehr als reiner Zwang gegenüber, sondern fließen unmittelbar in die Handlungen ein. Analog zu Bourdieus Vorstellung eines praktischen Sinns geht Giddens von einem praktischen Bewusstsein aus. Es enthält das im Verlauf des Sozialisationsprozesses angeeignete implizite Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge, funktioniert als » reflexive Steuerung des Handelns « und lässt Akteure kompetent und routiniert handeln (vgl. ebd., S. 91 ff. u. S. 431). Giddens versucht also gleichermaßen der Wirkmacht von Strukturen als auch der Handlungsmächtigkeit von Akteuren in seiner Theorie der Strukturierung gerecht zu werden. Theorie der Strukturierung und das Konzept des Verräumlichens gehen Hand in Hand. Akteure stehen der Zwangsarchitektur von Gebäuden nicht hilflos gegenüber, werden durch diese nicht geknechtet und diszipliniert. Gemeinsam mit den Gebäuden und den innenarchitektonischen Artefakten bilden die Akteure vielmehr eine Anordnung, die erst durch das Zusammenwirken in der Praxis als Verräumlichung bezeichnet werden kann. Räume entstehen durch aktives Organisieren und Positionieren der Einzelnen, dem spacing (vgl. ebd., S. 129; vgl. auch Schroer 2006, S. 114; Löw 2001, S. 271). Solche Konstellationen haben, wie Giddens am Beispiel des » Machtbehälters « Schule illustriert, durchaus analysierbare Machtwirkungen. Die Architektur der Gebäude, die Sortierung und Platzierung von Schülerinnen und Schülern sowie dem Lehrpersonal, die die Außenwelt aussperrenden Gebäudegrenzen und der rigide Zeitplan verräumlichen das schulische Geschehen auf eine erwartbare Weise. Doch geht es ihm gerade darum zu zeigen, dass diese Interaktionsordnung keineswegs so fest ist, wie sie auf den ersten Blick scheint. Akteure setzen sich mit den an sie gerichteten Vorgaben auseinander, ihr Handeln ist nicht determiniert. Räumlich-soziale Ordnungen können durch alltägliche Praktiken reproduziert, oder aber durch findige

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Winkelzüge geschickt unterlaufen werden (vgl. Giddens 1995, S. 188 ff.; Kajetzke u. Schroer 2009, S. 306 f.). Giddens kann zu den wenigen Soziologen gezählt werden, die sich explizit auf geographische Wissensbestände beziehen, z. B. auf die Zeitgeographie Torsten Hägerstrands. Entsprechend ist das Begriffsinstrumentarium, das er anbietet, an vielen Stellen differenzierter als das raumtheoretische Vokabular Bourdieus. Den Kontext der Interaktion von Anwesenden, d. h. unter Bedingungen von Kopräsenz, bezeichnet Giddens als Ort. Orte zeichnen sich durch Regionalisierung aus, d. h. sie unterteilen sich in verschiedene Zonen mit je eigenen Regeln und Kontrollen sowie damit verbundenen Vorstellungen von Privatheit (rückseitige Regionen) und Öffentlichkeit (vorderseitige Regionen). Zeitdiagnostisch stellt Giddens (1996, S. 33 ff.) jedoch eine Entwicklung fest, die den konkreten Ort als kopräsent stattfindende Praxis immer weniger benötigt, vorangetrieben durch die Erfindung technischer Innovationen, die Ausweitung von Expertensystemen sowie durch die Verbreitung weltweit gültiger symbolischer Zeichen, z. B. in Form von Geld. Soziale Beziehungen erfahren eine Entbettung aus ortsgebundenen Zusammenhängen, d. h. › Raum ‹ und › Ort ‹ fallen nicht mehr zwingend zusammen. Doch handelt es sich hierbei um keinen modernistisch konzipierten, irreversiblen Prozess. Mit Entbettungstendenzen treten gleichzeitig auch Formen der Rückbettung auf, neue Formen sozialer Praxis, die zumindest partiell und temporär an Orte rückgebunden sind. Giddens wehrt sich somit gegen die Idee einer globalisiert ortlosen, » atopischen « Gesellschaft, wie sie in vielen Globalisierungstheorien prognostiziert worden ist (vgl. Schroer 2006, S. 161 ff.). Zusätzlich zu den bereits genannten Aspekten und zeitdiagnostischen Einlassungen weitet Giddens’ Theorie der Strukturierung den analytischen Blick für die Tatsache, dass auch das Erstellen wissenschaftlicher Raumkonzepte eine Praxis unter vielen darstellt. Die Begriff‌lichkeiten und Vorstellungen, die z. B. in der Stadtsoziologie entwickelt werden, können direkt oder massenmedial vermittelt in andere gesellschaftliche Zusammenhänge eingespeist werden. Schlagworte wie › Ghetto ‹ und › Problembezirk ‹ finden so Eingang in individuelle Selbstbeschreibungen städtischen Lebens und beeinflussen das weitere Handeln, das wiederum Einfluss auf die soziologischen Konzepte haben kann. Diese gegenseitige Stimulation, in der wissenschaftliche Erkenntnis durch Reflexion gesellschaftlicher Praxis entsteht, in einem nächsten Schritt in die soziale Wirklichkeit diffundiert, um dann dort reale Wirkungen zu zeitigen, die wiederum erneut Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis werden, bezeichnet Giddens (1995, S. 49) als » doppelte Hermeneutik «. Forschende sollten daher beachten, welche Performanzen mit ihren Konzepten einhergehen – und sich von der Idee verabschieden, einen für alle Fälle gültigen, » richtigen « Raumbegriff unabhängig von den Raumkonzepten gesellschaftlicher Akteure finden zu können. Verräumlichung zu untersuchen

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bedeutet in diesem Verständnis, in wissenssoziologischer Manier die Deutungen und Aneignungsweisen von Räumen durch die Akteure und ihre Wechselwirkung mit bereits vorhandenen Raumtheorien zu berücksichtigen (vgl. Schroer 2006, S. 10, 179 f.; Kajetzke u. Schroer 2012).

Verräumlichung poststrukturalistisch Poststrukturalistische Theorien erheben den Anspruch, eine verbesserte Version des Strukturalismus im Sinne einer » Durcharbeitung und Radikalisierung strukturalistischen Denkens « (Moebius 2009b, S. 425) auf den Weg zu bringen, d. h. erkenntnistheoretische Vorteile wie z. B. das relationale Denken beizubehalten, aber bestimmte Nachteile wie eine gewissen Akteursvergessenheit und eine nicht von der Hand zu weisende Ahistorizität theoretisch zu überwinden. In diesem Verständnis wird der Fokus also weg von einer universalen Grammatik, die Handeln determiniert, hin zu einer prozessualen, praxisorientierteren Sicht auf die Wirklichkeit verschoben, in der Strukturen » gemacht « werden und prinzipiell veränderbar sind. Denker wie Michel Foucault haben zudem die Sensibilität dafür erhöht, dass die Entstehung und Verfestigung dessen, was sag- und sichtbar ist, die soziale Wirklichkeit, von einem Netz aus Machtverhältnissen durchzogen ist. Macht wird dabei definiert als ein » Handeln auf ein Handeln «, d. h. als Einwirkung auf einen Möglichkeitsspielraum (Foucault 1994b, S. 254). Macht ist Bestandteil jeglicher Praxis, existiert » nur in actu « (ebd.) und geht dabei immer mit der Möglichkeit zum Widerstand einher. Foucaults Hauptinteresse liegt nach eigenen Angaben in der Beantwortung der Frage, was uns zu Menschen mit bestimmten Verhaltensweisen, Identitäten und Körperverhältnissen werden lässt, der Frage nach Subjektivierung. » Identität « ist somit ein unabgeschlossener Prozess, ein Ringen innerhalb von Machtverhältnissen, eine permanente Formung und Umformung in und durch Praktiken. Foucaults theoretisches und methodisches Hilfsmittel zur Untersuchung seiner Frage ist ein ausgearbeitetes Konzept des Diskurses (vgl. Foucault 1991). Dieser zielt bei ihm nicht auf eine Welt der zeichenhaften Repräsentationen einer der Sprache vorgängigen Wirklichkeit ab, sondern es geht gerade um die hergestellten Verbindungen zwischen den sprachlichen Signifikanten und der materiellen Welt. Das Denk- und Sagbare steht somit in unmittelbarer Beziehung und Wechselwirkung mit sozialen Beziehungen und dinglichen Zuständen und folglich auch nicht-diskursiven Praktiken: » Die enge Verschränkung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken führt zu einem Diskursbegriff, der nicht nur die Macht hat, Materialitäten, Körper und Subjekte zu konstituieren (…), er verweist zudem auf die historische Erzeugung und Formgebung von Materialitäten sowie auf eine eigene Materialität des Diskursiven. « (Moebius 2009b, S. 431 f.)

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Foucaults Frage nach der Subjektivierung spielt sich folglich in einem Nexus von Mächten, Wissen, Körpern, Materialitäten und eben – als Verbindungsmittel – Praxis ab. Wie Raum im Verlauf der Geschichte gedacht, konzipiert und genutzt wird, hängt untrennbar mit diesen Variablen zusammen. Auch hier ist es sinnvoll, den Begriff der Verräumlichung zu verwenden, die im historischen Verlauf immer wieder in anderen Formen auftritt. Foucault (2006) un­terscheidet drei Phasen der Verräumlichung: Im Mittelalter ist ein Raum der Lokalisierung vorherrschend. In dieser Ordnung der Dinge hat alles und jeder seinen gottgegebenen Platz in der Welt. Verräumlichung als sich daraus ergebende räumliche Praxis bedeutet in diesem Zusammenhang, der Hierarchie der Orte Rechnung zu tragen und Menschen und Dinge an ihrem Ort zu belassen. Eine andere Sicht bahnt sich ab dem 17. Jahrhundert den Weg. Foucault bezeichnet das nun dominante Raummodell als Raum der Ausdehnung. Verräumlichung gerät an diesem Punkt in Bewegung und wird als permanente lokale und temporäre (als aufeinander folgende Epochen) Grenzüberschreitung konzipiert. Dieses Denken wie­derum ist vom gegenwärtigen Raum der Lagerungen bzw. Relationen abgelöst worden. Das (post-)strukturalistische Denken ist wichtiger Bestandteil dieser Verräumlichungspraxis. Kennzeichnend für diese ist die Simultanität (vgl. Schroer 2008, S. 146 ff.). Foucaults Interesse an den Relationierungen zwischen Machtverhältnissen, an Wissen, das in diese Machtbeziehungen einfließt sowie durch diese gewonnen werden kann, und an Materialitäten, d. h. Körper und Dinge, verbunden mit der ihn motivierenden Frage nach Identitätsbildung über solche Anordnungen, lässt seine Theorie in hohem Maße zur Erforschung verräumlichender Praktiken geeignet erscheinen. Berühmt sind seine Studien zur subjektivierenden Kraft einer panoptischen Machtarchitektonik, wie sie für Gefängnisse geplant und teilweise auch ausgeführt wurde und die als Prinzip an vielen gesellschaftlichen Orten zum Einsatz kam und kommt (Spitäler, Psychiatrien, Schulen) (vgl. Foucault 1994a, S. 256 ff.). Da Macht immer auch mit der Möglichkeit zum Widerstand verbunden ist, widmete sich Foucault (2006 u. 2013) zudem widerspenstigen Verräumlichungspraktiken, durch die andersartige Gegen-Räume entstehen: den sogenannten Heterotopien. Jede Kultur verfüge über solche Räume, die die dominierende Ordnung in Frage stellen und – teilweise lediglich temporär – eine alternative Realität etablieren, z. B. Friedhöfe, Saunen, Bibliotheken, Kasernen oder Jahrmärkte; inzwischen könnte man virtuelle Welten wie z. B. World of Warcraft dazuzählen (vgl. Lober 2007). Das Konzept der Heterotopie verweist darauf, dass widerständige Verräumlichungspraktiken nicht einer Seite zugeschlagen werden können, entweder den Akteuren oder den Architekturen, sondern in und durch beide wirken und mit diskursiven Praktiken verbunden sind, die Wis­sensbestände tradieren und transformieren.

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An die poststrukturalistischen Grundgedanken und Fragestellungen Foucaults schließt Michel de Certeau unmittelbar an, kritisiert allerdings, dass Foucault sich in seinen Analysen zu sehr auf die disziplinierenden Machttechniken konzentriert statt sich den » anderen – auch infinitesimalen – Prozeduren « zu widmen, die » eine zahllose Aktivität zwischen den Maschen der einzelnen Technologien entfalten « (de Certeau 1988, S. 112). Er selbst dagegen wendet sich vorrangig den » Aneignungspraktiken « (ebd., S. 19) zu, die im alltäglichen Leben zum Einsatz kommen, z. B. im Konsum und in der Nutzung des Stadtraums. Dabei geht er konzeptuell nicht von einem gedankenlosen und passiv-erleidenden Gebrauch oktroyierter Produkte der » Kulturindustrie « (Horkheimer u. Adorno 2004, S. 128 ff.) aus, sondern betont ganz im Gegenteil die eigenwillige Neukombination und -verwendung vorhandener Dingwelten. Die Alltagspraktiken beschreibt de Certeau als » Taktiken « der Akteure, die sich zu den » Strategien « gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen und -maßnahmen subversiv verhalten (vgl. de Certeau 1988, S. 77 ff.). Die Analyse von (Stadt-)Räumen setzt er analog zu der in der strukturalen Linguistik geläufigen de Saussurschen Unterscheidung von langue, der Sprache als quasi-verbindlicher grammatischer Regelstruktur, und parole, der Praxis des konkreten Sprechens (vgl. de Saussure 1967). Das » Gehen in der Stadt « (de Certeau 1988, S. 179 ff.) als parole wird zu einer Aktivität, die es ermöglicht, den kontrollierenden Zugriff der urbanen Raumstruktur (im Sinne der langue) im wahrsten Sinne des Wortes zu › umgehen ‹. Jedoch ist sie – wieder vergleichbar mit der sprachlichen Äußerung – flüchtiger Natur, existiert nur im Moment der Ausübung, kann aber genau dann auch verändernd in die Welt eingreifen. Auf diese Weise entstehen z. B. neue Trampelpfade im Stadtraum, die von der Stadtplanung nicht vorgesehen sind, und werden öffentliche Plätze von Traceuren, die sich mit ihren Körperbewegungen den Stadtraum durch die Fortbewegungsart Parkour aneignen, mit neuen Interpretationsmöglichkeiten und Deutungsschichten versehen (vgl. Lauschke 2010, S. 118 ff.). Seine Kritik, Foucault vernachlässige die Untersuchung widerständiger Aneignungspraktiken, veranlasst de Certeau zudem zu einer Unterscheidung von Ort und Raum (vgl. Buchanan 2007). Definiert er den Ort als Zustand, als festgelegte Anordnung von Punkten, versehen mit einem verhaltensstrukturierenden Code, so ist der Raum für ihn ein Prozess, als Praxis des (Wieder-)Aneignens von Orten durch das Gehen und Erzählen. Gerade wenn dem vorgegebenen Code nicht gefolgt wird, wird der Ort zum Raum. Gehpraktiken beziehen sich auf die Materialität der urbanen Orte und verräumlichen diese, Erzählpraktiken setzen u. a. an der Symbolik von Straßennahmen oder am Offenlegen der historischen Schichten und eigenen biographischen Erinnerungen von Plätzen an. So instruktiv die Sichtweise de Certeaus auch ist, birgt sie doch die Gefahr einer Überbetonung des Widerstandspotentials des Alltagsmenschen, der damit zu

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sehr zu einem » Helden des Alltags « (de Certeau 1988, S. 9) stilisiert wird. Es steht in Frage, ob jede Art konsumierenden oder stadtexplorierenden Handelns als eigenwilliger und widerständiger Akt zu klassifizieren ist. Verräumlichung hätte somit stets eine politische Implikation, da sie mehr ist als die bloße Umsetzung eines Verhaltenscodes, der hier mit dem Begriff des Orts verknüpft ist. Verräumlichen im de Certeauschen Sinne bedeutet folglich immer eine angenommene Veränderung, nie eine reine Reproduktion und Stabilisierung. Doch ist es unbestritten das Verdienst de Certeaus, eine Analyseperspektive bereitzustellen, die Praktiken als verräumlicht und verräumlichend konzipiert. Durch den Fokus auf alltäglich vollzogene Handlungen wie Gehen, Sprechen, Wohnen, Kochen kann gezeigt werden, dass diese Praktiken trotz ihrer Regelmäßigkeiten niemals vollständig determiniert sind (vgl. Conley 2001). An Foucaults Fragestellungen und Begriff‌lichkeiten knüpfen zudem Judith Butlers Überlegungen an. Ebenso wie Foucault widmet sich Butler den Formen der Subjektivierung, d. h. der Hervorbringung von Identitäten über diskursive Praktiken. Vorrangig gilt ihr Interesse den Subjekten, die als von der Norm abweichend wahrgenommen werden. Leitfrage ist dabei, wie sich eine hegemoniale Wirklichkeit zu etablieren vermag, die von allen – auch den Benachteiligten selbst – zumeist fraglos anerkannt wird. Im Mittelpunkt stehen insbesondere die Genese und Stabilisierung einer heteronormativen Ordnung, die trennscharf zwischen Mann und Frau und damit jeweils verbundenen Identitätszumutungen unterscheidet. Auch wenn Butler keinen expliziten Schwerpunkt auf das Thema Raum legt, sind ihre Überlegungen zur Materialität der an der Praxis beteiligten Körper und ihr Konzept der Performanz (vgl. Butler 1997 u. 2006) in hohem Maße anschlussfähig für die Erforschung von Praktiken der Verräumlichung (vgl. Nash 2000, Bauriedl et al. 2010). Einerseits lenkt sie den Blick darauf, wie durch die Wiederholung von Handlungen als einer Art ritualisiertem Zitieren bestimmte Praktiken als normal und selbstverständlich hingenommen werden, andererseits zeigt sie aber auch die Stellschrauben für sozialen Wandel auf, indem sie – unter Bezugnahme auf Derridas (2004) Konzept der Iteration – auf die winzigen Abweichungen und Veränderungen, die jeder Wiederholung zugrunde liegen, sowie auf das bewusst parodisierende Zitieren, das von den Akteuren zur gesellschaftskritischen Irration eingesetzt werden kann, aufmerksam macht. Erst in jüngerer Zeit greift Butler das Thema der Verräumlichung mit dem Fokus auf die politische Mobilisierung der Zivilgesellschaft auf, wie z. B. im Rahmen der Proteste auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Auch hier ist für sie die Frage nach der Aneignung von Raum und der damit verbundenen politischen Gestaltungskraft nicht zu trennen von der Bedeutung der Körper: » To rethink the space of appearance [Erscheinungsraum im Sinne H. Arendts, d. V.] in order to understand the power and effect of public demonstrations for our time, we will need to understand the bodily dimensions of action, what the body requires,

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and what the body can do, especially when we must think about bodies together, what holds them there, their conditions of persistence and of power. « (Butler 2011)

Verräumlichung vernetzt Gilles Deleuze und Félix Guattari (1996, S. 97 ff.) etikettieren ihre eigene Theorieunternehmung, die schwerlich einer einzelnen Disziplin zuzuordnen ist, mit dem Label » Geophilosophie « (vgl. auch Günzel 2001). An diesem Begriff allein wird schon deutlich, wie sehr beide Denken und Räumlichkeit in einander verschränken. Noch intensiver als Foucault widmen sie sich den kritischen und politischen Potentialen der Verräumlichung, d. h. den Möglichkeiten des Andersdenkens und -handelns. Sowohl das angebotene Denkmodell als auch ihre Beschreibung sozialer Prozesse beruhen auf topologischen Annahmen und münden letztlich in demselben Konzept: dem Rhizom. Darunter ist zum einen ein Modus der Erkenntnis zu verstehen, der sich vom traditionellen Denken absetzt, zum anderen aber auch eine Form der Vergesellschaftung und Verräumlichung. Als Erkenntnismodell steht die Rhizomatik für ein Gegenmodell zum Denken als » Wurzelbaum «-Modell (Deleuze u. Guattari 1974, S. 8). Dieses wiederum umfasst als Hauptaspekte eine binäre Logik, das Denken in Ursprüngen – so wie vom Ursprung des Baumes sich Äste gabeln – und die Idee der Repräsentation, d. h. der Idee eines Signifikanten, der einem Signifikat zugehörig ist. Deleuze und Guattari kritisieren an diesem Modell, dass es selbst Machtwirkungen hervorbringt, da es die Komplexität von Vergesellschaftungs- und Verräumlichungsprozessen nicht angemessen erfassen kann und dadurch die Kontingenz vielfältiger Zusammenschlüsse einschränkt, ja diese gar nicht erst denkbar macht (vgl. ebd., S. 10). Das Rhizom hingegen, ein Begriff aus der Pflanzenwelt, der hier aber zu einem grundlegenden Prinzip erhoben wird, ist » ein unterirdischer Sproß «, » Knollen « oder » Knötchen « (ebd., S. 11). Es zeichnet sich durch Dezentralität aus, kann in die unterschiedlichsten Richtungen wuchern und mannigfaltige Formen annehmen. Entscheidend an diesem netzartigen Gebilde ist, dass sich prinzipiell alles miteinander verbinden kann. Lebewesen, Pflanzen, Dinge, Architekturen, mehr noch: selbst Theorien, Deutungen, Signifikanten werden auf der gleichen Ebene wie Materialitäten und menschliche Akteure angeordnet. Die Grenze zwischen Sprache und Welt wird hier eingerissen. Ferner wird das Konzept der identitären Einheit konsequent durch das Konzept der Vielheit ersetzt. Einzelne Elemente stehen eben niemals einzeln, sondern innerhalb von Verknüpfungen, an deren Bildung sie selbst mit beteiligt sind (vgl. ebd., S. 14). Rhizome zeichnen sich durch eine temporär erhaltene Ordnung aus, die aber jederzeit wieder zerfallen kann. Die Bildung und Umbildung von Rhizomen be-

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schreiben Deleuze und Guattari auch als De- und Reterritorialisierung. Der Prozess des (Re-)Territorialisierens bezeichnet Praktiken des Segmentierens, Ablagerns, Organisierens, d. h. der Schaffung einer Anordnung, die auch Hierarchien ausbilden kann und zu verhärten droht. Zu diesem Prozess gehört aber wie ein Zwilling immer auch eine Dynamik des Fliehens, Zerfallens und Umbildens, hier definiert als Praktiken der Deterritorialisierung (vgl. ebd., S. 16 ff.). Die Wirklichkeit als Gemengelage aus Rhizomen und Kristallisierungen von Rhizomen zu betrachten, lenkt den Blick auf die de- und reterritorialisierenden Praktiken und die damit verbundenen fluiden Identitätsbildungen, die konkreter als Bildung von Vielheiten zu bezeichnen wären. De- und Reterritorialisierungsprozesse finden, wie der Begriff selbst schon andeutet, auch räumlich ihren Niederschlag, sind gleichzeitig Verräumlichungsbzw. Raumaneignungsprozesse. Wird (re-)territorialisierend verräumlicht, dann handelt es sich in Deleuzes und Guattaris Vokabular um einen » gekerbten Raum «. Gekerbte Räume zeichnen sich durch Grenzziehungen, Vermessungen, Kartographierungen aus, es wird ein Innen und ein Außen definiert. Staaten- oder Städte­ bildung sind Beispiele par excellence für einen solchen Vorgang. Gekerbtheit ist mit Sesshaftigkeit verbunden. Die deterritorialisierende Praxis reagiert auf die Kerbungsversuche mit einer Glättung des Raumes. Sie will Definitionen aufheben und Grenzen überwinden bzw. einreißen, den Raum wieder fließen lassen. Glättung wird mit Nomadentum und Bewegung verbunden. De- und Reterritorialisierung, glatter und gekerbter Raum sind Ausdruck eines ständigen Konfliktes von Verräumlichungspraktiken. Mit diesen analytischen Konzepten rücken die Möglichkeiten aktiver Umgestaltung wieder in den Vordergrund (vgl. Deleuze u. Guattari 1992, S. 657 ff.). Zu beachten ist bei diesem theoretischen Angebot, dass es sich eben nicht um einen genuin wissenschaftlichen Text handelt, sondern durch seinen ungewöhnlichen und mit Metaphern gesättigten Stil mit wissenschaftlichen Standards in Friktion gerät (vgl. Angermüller u. Bellina 2012, S. 33). Bruno Latour gilt als der wohl prominenteste Vertreter der Akteur-NetzwerkTheorie (im folgenden ANT) (vgl. Kneer et al. 2008). Er betont die Nähe seiner theoretischen Unternehmung zur deleuzo-guattarischen Rhizomatik: » Ich wollte schon die Bezeichnung › Akteur-Netzwerk-Theorie ‹ durch reflektiertere ersetzen, wie etwa (…) › Aktant-Rhizom-Ontologie ‹ (…). « (Latour 2010, S. 24) Sein Ansatz ist im Vergleich zu dem von Deleuze und Guattari jedoch darum bemüht, ein analytisches Vokabular bereitzustellen, das systematisch die Bedeutung von Materialität in sozialer Praxis erfasst. Dies betrifft insbesondere die Wirkmacht von Dingen, denen der Status eines Akteurs zugesprochen wird – ein Terminus, der in der klassischen Sozialtheorie seit Weber vorrangig Menschen vorbehalten ist, die mit ihrem Handeln einen subjektiv gemeinten Sinn verbinden (vgl. Weber

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1972, S. 1 ff.). Da sich Praxistheorien jedoch grundsätzlich von der Suche nach einem Handlungsursprung absetzen, vielmehr im Sinne eines » methodologischen Situationismus « (vgl. Knorr Cetina 1981) von vornherein auf netzwerkartige Zusammenhänge der an Praktiken beteiligten Elemente fokussieren, ist die basalere Definition eines Akteurs in der ANT, die keines intentionalen Subjekts mehr bedarf, zielführend: » Was ist ein › Akteur ‹ ? Jedes Element, das Raum um sich herum beugt, andere Elemente von sich abhängig macht und deren Willen in seine eigene Sprache übersetzt. « (Callon u. Latour 2006, S. 85) Auch wenn hier stark mit anthropomorphem Vokabular gearbeitet wird: Gebäudemauern, stadtplanerischen Konzepten oder simplen innenarchitektonischen Artefakten wie Stühlen kann somit ebenfalls das Potential zugesprochen werden, einen Unterschied zu machen, Praktiken mit zu gestalten und somit maßgeblich für die Entstehung und den Erhalt sozialer Ordnung verantwortlich zu sein – » Technik ist stabilisierte Gesellschaft « (Latour 2006). Praktiken sind das Resultat eines Akteur-Netzwerks, in dem alle Aktanten/Elemente einen aktiven Anteil an der Genese einer Praktik haben. Das Verständnis von Verräumlichung, das die ANT verfolgt, hat viel mit diesen grundlegenden Annahmen zu den Konzepten » Akteur « und » Netzwerk « zu tun. Jeder Akteur, ob menschlich, dinglich oder institutionell, besteht aus einer Vielzahl von Elementen, die relational zueinander angeordnet sind und in dieser Anordnung verhältnismäßig stabil agieren – sonst könnte der Akteur gar nicht als solcher, als vorübergehende Einheit/Identität, wahrgenommen werden. Jeder Akteur ist ein Netzwerk in sich, wird ermöglicht durch ein Netzwerk, kann aber wiederum auch Teil des Netzwerks eines anderen Akteurs, d. h. eines Akteur-Netzwerks sein: » [An object, d. V.] is unbroken if it is sustained within a stable network of relations with other entities. (…) All these bits and pieces have to do their jobs. « (Law 2002, S. 95) Raum ist keine Entität » an sich «, sondern ein Netzwerk-Raum. Der Prozess der Netzwerkbildung, des -erhalts und der -transformation ist immer auch ein Prozess der Verräumlichung. In der ANT kommen viele spatiale Metaphern vor, um die Wirkungsweise von Netzwerken und die Möglichkeiten, diese als Forschende zu untersuchen zu verdeutlichen, z. B. die Wege der Ameise als Analogie für die gründliche und langsame Vorgehensweise von ANT-Forschern, die Aufforderung, als Soziologin/Soziologe » Straßenkarten zu zeichnen « und die Beschreibung der Netzwerkverbindungen als Pfade, über die Aktionen wie Transporte verlaufen und im Verlauf dieses Transports über Mittler verändert werden (vgl. Latour 2010, S. 27 ff., ebd., S. 298 ff.). Mehr noch: Auf einer Ebene der Beobachtung der eigenen Erkenntnismethoden spricht Latour davon, dass selbst die Metaphern eine Art Transportmittel sind (vgl. Serres u. Latour in Bingham u. Thrift 2000, S. 285), die Prozesse des Über-Setzens befördern und dabei gleichzeitig der Handlung ihren Stempel aufdrücken. Letzten Endes ist ein Netzwerk

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gleichbedeutend mit einem Raum bzw. Verräumlichung, da » eine lokale Stätte dazu gebracht wird, etwas zu tun « (Latour 2010, S. 299), d. h. über vielfältige Netzwerkfäden mit anderen Situationen, anderen Stätten verbunden ist, die Forschende zu ermitteln haben. Was bedeutet diese Konzeption für den euklidischen Raum ? Erstaunlicherweise verschwindet er in dieser Theorie nicht, sondern Netzwerk-Räume werden diesem lediglich hinzugefügt. Da er ein Raummodell unter vielen in der Mathematik darstellt, und da er je nach Bezugssystem – z. B. bei der Berechnung einer Schiffsroute – zur praktischen Anwendung kommt, kann der euklidische Raum selbst zum Teil eines Netzwerks werden. Meist treten verschiedene Verräumlichungen, euklidisch und netzwerkartig, gleichzeitig auf den Plan, wie John Law (2002, S. 95 f.) am Beispiel von Schiffen auf dem Weg von Portugal in die Neue Welt verdeutlicht: » This means that vessels are spatially or topologically multiple (…). However, they move only within Euclidian space, remaining immobile within network space. (If there is rupture in the relations between the components in network space then they are no longer a network object.). « Latour (2006) spricht in diesem Zusammenhang auch von immutable mobiles bzw. » unveränderlich mobilen Elementen «. Erst im Zusammenwirken dieser beider Verräumlichungsformen können Netzwerk-Objekte ihre Ordnung aufrechterhalten. Zentral bei dieser Ansicht ist entsprechend, dass der euklidische Raum keine » › reale materielle Existenz ‹ « aufweist (Latour u. Yaneva 2008, S. 6), sondern symmetrisch für diesen gilt: » Euclidean space is also a performance. « (Law 2002, S. 97) Womöglich ist – im Vergleich mit den anderen dargestellten Ansätzen – in der ANT eine soziologisch-systematische Berücksichtigung von Verräumlichung am weitesten gediehen. Der kritisch-emanzipatorische Impetus, der bei Foucault, der den Funktionsweisen heterotopischer Ordnungen auf den Grund geht, oder Deleuze und Guattari, die auf die Ordnung unterminierende Kraft deterritorialisierender Prozesse abzielen, klar zu Tage tritt, steht bei dieser Theorie allerdings nicht im Vordergrund (vgl. Lee u. Brown 1994; für gegenteilige (Selbst-)Darstellungen vgl. Law 2006; Latour 2007).

Fazit Nach diesem Durchgang durch die relevanten Perspektiven zum Verhältnis von Praxistheorien und Raum kann nun zusammenfassend festgehalten werden, dass der Raum in allen benannten Praxistheorien prozesshaft als Verräumlichung konzipiert wird. Analog zu Bourdieus Formulierung einer strukturierenden und strukturierten Struktur kann hier sinnvoll vom Sozialen als verräumlichender und verräumlichter Praxis ausgegangen werden. Der gemeinsame Nenner der hier ver-

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handelten Praxistheorien besteht darin, dabei den Blick auf eine oder meh­rere Situationen von durch Praktiken vernetzter Elemente zu lenken, denen keine feststehenden Identitäten zugeordnet werden können, sondern die qua Relationierung einer ständigen Einwirkung unterliegen. Identität ist in diesem Sinne entweder im Sinne einer Vielheit zu denken, wie Deleuze und Guattari anregen und wie auch mit der ANT argumentiert werden könnte, oder sie wird, wie bei Foucault, als permanenter Subjektivierungsprozess begriffen. Auch wenn die einzelnen Theorieperspektiven sich darin unterscheiden, in welchem Ausmaß sie dem Subjekt Gestaltungskraft und Freiheitsgrade zuerkennen, so ist ihnen aber gemein, dass sie nicht von einem cartesianischen cogito ausgehen, sondern gerade untersuchen, wie Praxis Sinn erzeugt, der als interrelationaler Effekt statt als Qualität eines menschlichen Akteurs konzipiert wird. Trotz aller Verschiedenheit konnten einige Grundanliegen der Praxistheorien herausgearbeitet werden: Neben dem erwähnten Fokus auf Relationen sind dies die stabile Reproduktion von Praktiken, die auf einer gesellschaftlichen Ebene zu Ordnungsgefügen führt und sich auf individuell-körperlicher Ebene in der Ausbildung von Routinen und der Anwendung impliziten Wissens äußert, ferner die theoretisch-systematische Berücksichtigung von Materialität und schließlich das kritisch-emanzipatorische Interesse an Machtverhältnissen, die sich in räumlichen Anordnungen und Nutzungsweisen äußern. Daran anknüpfend wurden verschiedene Praxistheorien hinsichtlich ihres jeweiligen Konzepts von Verräumlichung befragt und die damit verbundene Agenda offengelegt. Welche methodologischen Konsequenzen lassen sich aus der praxistheoretischen Konzeption der Verräumlichung ziehen ? Zunächst liegt auf der Hand, dass eine empirische Raumanalyse nicht zum Ziel haben kann, eine › wahre ‹ Raum­ definition zu ermitteln. Im Mittelpunkt der Analyse steht vielmehr die beobachtbare Praxis der Verräumlichung. Zu dieser gehören aber auch auf den ersten Blick unsichtbare Phänomene, so etwa die Perspektive der Akteure auf den Raum, d. h. die von ihnen zugrunde gelegten Raumkonzepte, in Körpern und praktischen Bewusstseinen verankerte implizite Wissensbestände, vergangene und/oder an anderen Orten lokalisierte Praktiken. Methoden der (teilnehmenden) Beobachtung können also nur ein erster Schritt sein, auf den weitere detektivische Arbeit zu folgen hat. U. a. konnte mit Lefebvre, gezeigt werden, wie zentral imaginäre Raumkonzepte sind. Raumentwürfe, Photographien und Kunstwerke, die sich Räumen und Architekturen widmen, bieten sich als instruktive Quelle an (vgl. z. B. Bauriedl 2007). In der raumbezogenen Diskursforschung, die sich nicht zwingend auf schriftlich geäußerte Daten beziehen muss, werden erste Vorschläge gemacht, wie neben Texten auch Architekturen und Kartenmaterial in die Analyse integriert werden können (vgl. Glasze u. Mattissek 2009). Der systematischen Erfassung von Materialität wird sich z. B. in der Architektursoziologie gewidmet (vgl. Fischer u.

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Delitz 2009; Schäfers 2003), detaillierte empirische Erhebungen stehen allerdings noch aus. Neben den beteiligten Elementen, ob sichtbar, versteckt oder unsichtbar, ist deren Bewegung ebenfalls zentral, wie mit Latours Betonung des » Transports «, der mit jeder Praxis einhergeht, noch einmal unterstrichen werden kann. Gerade über den Modus der Bewegung wird deutlich, dass Praxis und Raum in Form von Verräumlichung immer zwingend zusammenhängen. Das schwierige Unterfangen, Bewegungen angemessen zu theoretisieren und mit empirischen Methoden der Sozialforschung einzufangen, wird im deutschsprachigen Raum seit jüngster Zeit erfolgversprechend in Angriff genommen (vgl. Alkemeyer et al. 2009; Klein 2004; Schmidt 2012). Diese Versuche zeichnen sich zusätzlich durch eine intensive Beschäftigung mit dem Körper als Bezugspunkt der Praxis aus. Diese Ausführungen enden mit einem Plädoyer für › identitären Agnostizismus ‹. Der Neologismus wird als methodologische Voreinstellung bzw. als wissenschaftliche Grundhaltung gegenüber dem Forschungsprozess angeboten. Mit diesem Agnostizismus gehen ein vorsätzlich verfremdet-distanzierter Blick auf die soziale Wirklichkeit sowie ein Hinterfragen der eigenen Begriffsverwendungen einher. Zimmer, Gebäude, Länder und Kontinente sollten nicht voreilig als Behälter aufgefasst werden, da sonst ihre Ränder zu schnell zu inkludierenden und exkludierenden Grenzziehungen werden. Ein mögliches Ergebnis empirischer Arbeit kann darstellen, dass in einigen Fällen Verräumlichung materiell oder in der Wahrnehmung menschlicher Akteure der Container-Logik bzw. dem euklidischen Raumverständnis folgt, dennoch darf diese Annahme nicht als Prämisse den Verlauf der Forschung bestimmen. Was für die Identität des Raumes gilt, gilt auch für die ihn konstituierenden Elemente: Identitärer Agnostizismus bedeutet im hier verstandenen Sinne, der ANT beipflichtend (vgl. Latour 2010, S. 50 ff.), nicht festzulegen, welche Entitäten angeblich welche Identitäten aufweisen. Dies gilt für menschliche wie für dingliche Akteure. Es ist Teil der Untersuchung herauszufinden, welche Elemente an einem Akteur-Netzwerk partizipieren und wie sie sich dadurch jeweils verändern. Die Erzeugung von Identität als Effekt von Verräumlichung zu untersuchen ist daher als ein vorrangiges Ziel anzusehen. Die Frage, warum gerade diese und keine andere Form der Subjektivierung in einer verräumlichten Welt vollzogen wurde, ist und bleibt eine der Grundfragen sozialund kulturwissenschaftlicher Erforschung von Räumen, auch und gerade unter praxistheoretischen Vorzeichen.

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Geosoziologie: Raum als Territorium

Es ist nicht mehr zu übersehen, dass dem Raum in den Sozial- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren wieder eine verstärkte Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. Auffällig ist dabei, dass die soziologische Thematisierung von Raum sich vor allem auf den sozialen Raum bezieht, den physischen Raum jedoch noch immer weitgehend ignoriert. Die Auseinandersetzung mit geographischen Zusammenhängen, mit Territorialität und Grenzen in ihrer Materialität steht dagegen weiterhin nicht im Mittelpunkt soziologischer Beiträge zum Raum. Diese Aussparung des physischen Raums hat Folgen. Sie führt zu einer seltsam irenischen Ausrichtung der aktuellen raumsoziologischen Beiträge, die den Zusammenhang von Raum und Machtphänomen, von politischen Räumen und territorialen Konflikten eher meidet und sich mit dem Kampf um Raum und der Besetzung von Territorien kaum belastet. Sie führt darüber hinaus dazu, dass die Themen Klimawandel, Klimakriege und neue Grenzkonflikte, Geopolitik, Erde und das » Anthropozän « (Crutzen 2002) bis auf wenige Ausnahmen1 ohne soziologische Beteiligung verhandelt werden. Angesichts dieser Herausforderungen scheint es jedoch dringend geboten, jene merkwürdige Scheu vor dem physischen Raum endlich abzulegen, um sich den Veränderungen des räumlichen Gefüges, dem Kampf um Territorien, der Aneignung und Besetzung von Räumen systematisch zuzuwenden, die in großem Ausmaß unsere gegenwärtige Lage bestimmen. Ein Anfang – für den hier geworben werden soll – wäre schon mit einer raumsoziologischen Perspektive gemacht, die den physischen Raum nicht länger ausklammert, sich vielmehr der Materialität und dem Materiellen zuwendet, ihre Zurückhaltung gegenüber den Begriffen Territorialität und Territorien ablegt und sich den vielfältigen Kon1

Die wenigen Ausnahmen beziehen sich vor allem auf das Thema Klimawandel (vgl. Weingart 2007, Stehr/von Storch 2010, Groß/Heinrichs 2010, Latour 2013, Hannigan 2014, Powalla 2015).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Schroer, Räume der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2_5

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flikten um Gebietsansprüche, Landnahmen und Grenzziehungen annimmt, statt sie der Geographie, Geschichtswissenschaft oder Ethnologie zu überlassen. Dabei geht es nicht um die Rückkehr zu einem substanzialistischen Raumverständnis, sondern um die Etablierung eines neomaterialistischen Raumbegriffs, der die Unterscheidung von physischem Raum hier und sozialem Raum dort zugunsten der Einsicht in ihre vielfältige Verschränkung unterläuft. Der Name, den ich für dieses Vorhaben vorschlage, lautet » Geosoziologie «2. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass unsere Existenzweise trotz aller Versuche der Befreiung von erdräumlichen Verhältnissen im Zuge der Globalisierung und entgegen der in Aussicht gestellten ort- und raumlosen Weltgesellschaft weiterhin an den Boden gebunden bleibt. Wir sind nach wie vor Erdbewohner, die in klimatischen Verhältnisse leben, die sie seit ca. zweihundert Jahren in einem solchen Ausmaß selbst bestimmen, dass Geologen mit dem » Anthropozän « (vgl. Ehlers 2008) ein neues geologisches Erdzeitalter ausgerufen haben, das auch die Sozialwissenschaften vor neue Herausforderungen stellt (vgl. Latour 2012, 2013, Renn/Scherer 2015, Welzer et. al. 2010), die im Rahmen der Geosoziologie bearbeitet werden sollen. Eine geosoziologische Perspektive hat sich dabei u. a. der » Geopraktiken « (Serres 2013: 9) anzunehmen, mit denen die Erde permanent vermessen, bearbeitet, umgewandelt, dargestellt, imaginiert, gedeutet, aufgeteilt und angeeignet wird. In den Blick gerät damit auch das Territorialisieren als elementare soziale Praktik inklusive der permanenten De- und Reterritorialisierungprozesse (vgl. Deleuze/Guattari 1992), die als Triebfedern das gesellschaftliche Geschehen in seinen politischen, ökonomischen, rechtlichen und kulturellen Dimensionen bestimmen. Mit dem Aufbau einer Geosoziologie wird u. a. für eine Revitalisierung einiger klassischer soziologischer Traditionen plädiert, die den Zusammenhang von geographischen Bedingungen und sozialen Verhältnissen thematisieren und sich für eine Verknüpfung von Soziologie und Geographie stark machen. Die zunehmenden Autonomisierungsbestrebungen der Soziologie im Laufe ihrer Geschichte haben diese Ansätze in den Hintergrund gedrängt, während wir uns heute mit einer Situation konfrontiert sehen, die ihnen eine unverhoff‌te Aktualität beschert. In ei2

Meine Recherchen zum Begriff » Geosoziologie « förderten ein » Institut für Geosoziologie und Politik « zu Tage, das in den 1950er Jahren in Bad Godesberg – wenn auch » nur auf dem Papier « (Klingemann 2009: 190) – existierte und von 1951 bis 1968 eine Zeitschrift für Geopolitik herausgab. Der Begriff geht offenbar auf den heute nahezu vergessenen Amsterdamer Soziologen Sebald Rudolf Steinmetz (1912/13) zurück. Aktuell findet er bei Michel Maffesoli (2014: 29, 48) Erwähnung, bleibt jedoch ohne nähere Erläuterung. Einschlägiger ist die Arbeit » Geographical Sociology « von Jeremy A. Porter und Frank M. Howell (2012), in der explizit von » geo-sociology « die Rede ist. Ausdrücklich zu erwähnen ist darüber hinaus, dass Stephan Günzel mit seinen Überlegungen zu eine » Geophilosophie « für die Philosophie einen ähnlichen Versuch unternommen hat, der auch für das hier skizzierte Vorhaben eine Fülle von Anregungen enthält (vgl. Günzel 2001, 2005).

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nem ersten Schritt wird es deshalb im Folgenden darum gehen, an einige klassische soziologische Ansätze zu erinnern, die entgegen der üblichen Arbeitsteilung zwischen Sozial- und Naturwissenschaften im Allgemeinen und der Fächertrennung von Soziologie und Geographie im Besonderen, das Zusammenspiel und die Verflechtungen von Natur und Kultur, Erde und Mensch, Boden und Gesellschaft, erdräumlichen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Entwicklungen, physischem und sozialem Raum thematisieren (1). An diese – zweifellos unvollständige – Auflistung klassischer Ansätze schließt sich eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des » Anthropozän « und der Gaia-Hypothese an, die übereinstimmend ein Umdenken im Verhältnis zum Planeten Erde einfordern (2). Anschließend wird das vielfältige Nachdenken über die Verschränkungen von Mensch und Erde, Kultur und Natur, Boden und Geschichte am Beispiel des soziologischen Umgangs mit den Themen Klima und Wetter konkretisiert. Dabei werden verschiedene Strategien vorgestellt, mit denen der Klimaveränderung auf verschiedenen Ebenen zu begegnen versucht wird. Sie zeigen, dass es bei allen Maßnahmen immer auch darum geht, Territorien zu schaffen, zu besetzen und zu verteidigen (3). Diese perspektivischen Überlegungen ziehen eine Erörterung der für eine geosoziologische Perspektive unverzichtbaren Begriffe der Territorialität und der Territorialisierung im Anschluss an Gilles Deleuze und Felix Guattari nach sich (4). Der Beitrag schließt mit programmatischen Überlegungen zu den Aufgabengebieten der Geosoziologie, die eine konzeptionelle Öffnung zur Geographie und Biologie einschließen (5).

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Erde, Boden, Mensch – Klassische Positionen der Soziologie

Die Beschäftigung mit der Erde gehört zu den vielen Themen, die die Soziologie im Laufe ihrer Entwicklung geglaubt hat, anderen Wissenschaften überlassen zu können. Die systematische Abwendung der Soziologie von Erde und Natur hat auch im engeren raumsoziologischen Diskurs seine Spuren hinterlassen: Die Thematisierung von Raum innerhalb der Soziologie zeigt sich stets darum bemüht zu betonen, dass unter soziologischen Gesichtspunkten allein der soziale Raum sinnvoll zu thematisieren sei. Exemplarisch findet sich diese Weichenstellung bei Leopold von Wiese (1933: 110 f.) formuliert: » Der soziale Raum ist das Universum, in dem sich die sozialen Prozesse abspielen. Er ist vom physischen Raume zu unterscheiden. Auch dieser in Teilausschnitten wahrnehmbare Raum ist für das gesellschaftliche Leben von großer Bedeutung. Er ist aber selbst kein Gegenstand soziologischer Forschung. Unsere Forschungen und Aussagen über Abstand, Messung, Quantifizierung in der Soziologie beziehen sich nicht auf die Materie, die

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Welt der physischen Stoffe und Kräfte, sondern stets auf Vorgänge im unkörperlichen sozialen Raume. « Diese folgenreiche Abwendung vom physischen Raum verdankt sich offenbar der Einsicht, dass dieser zwar als Grundlage von sozialem Handeln und sozialen Prozessen angesehen werden kann, auf beides aber keinerlei direkten Einfluss hat, folglich auch nicht eigens thematisiert zu werden braucht. Schon in ihrer Konstituierungsphase erhebt die Soziologie Einspruch gegen die Determination des Sozialen durch den physischen Raum (vgl. Simmel 1992), überdehnt diese Zurückweisung in der Folgezeit jedoch bis zur Behauptung der Irrelevanz räumlicher Gegebenheiten für das soziale Geschehen und kappt damit nachhaltig das Band zwischen dem physischen Raum und der Soziologie.3 Nur aber weil dem physischen Raum keine determinierende Wirkung zukommt, heißt dies noch lange nicht, dass er keinerlei Einfluss auf das soziale Geschehen hat. Vielmehr ist immer wieder gezeigt worden, dass die Entwicklung der Gesellschaften durchaus auch im Zusammenhang mit geographischen Verhältnissen stehen. Aktuell kann hier etwa auf den amerikanischen Biogeographen Jared Diamond (2008) verwiesen werden, dessen Überlegungen zur Beeinflussung menschlicher Gesellschaften durch geographische Faktoren innerhalb der So­ziologiegeschichte allerdings eine ganze Reihe von Vorläufern hat. Auf einer ähnlichen Fährte bewegte sich schon René König, der in seinem als Reisebericht deklarierten Buch über » Sizilien « (König 1950) zeigt, dass die Besonderheit der sizilianischen Gesellschaft nur vor dem Hintergrund der erdräumlichen Bedingungen, vor allem dem Ätna und seinen Lavaströmen, verstanden werden kann.4 Derselbe König ist es denn auch, der im Jahre 1972 beklagt, dass in den soziologischen Beschreibungen seiner Zeit » Gesellschaften gewissermaßen in der Luft schweben, ohne die Erdoberfläche zu berühren. « (König 1972: VI) Wenn Bruno Latour mehr als ein vier3

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Für Simmel darf Raum nicht als Ursache, sondern muss als formale Bedingung des sozialen Geschehens behandelt werden. In diesem Sinne bewahrt er sich durchaus einen Zugang zur Anerkennung geographischer Gegebenheiten und ihren Einfluss auf das Soziale – ohne ihnen aber eine determinierende Kraft zuzusprechen: » Das Meer ist auf innigste in die Schicksale und Entwicklungen unserer Art hineingewachsen; es hat sich unzählige Male nicht als die Trennung, sondern als die Verbindung der Länder erwiesen. Gebirge aber haben im Maße ihrer Höhe innerhalb der Menschengeschichte wesentlich nur negativ gewirkt, haben Leben gegen Leben isoliert und seine wechselseitige Bewegung ebenso gehindert, wie das Meer sie vermittelt hat « (Simmel 1996: 301; vgl. Schroer 2006a: 60 ff.). Vgl. auch Schmitt (1981), dazu Schroer (2001). Bemerkenswert ist dabei auch sein Verständnis von Geologie: » Geologie ist die Vorschule aller geschichtlichen Weltschau. Nur wer in die Tiefe der Erde sich zu blicken bemüht, versteht das seltsame Gewimmel an ihrer Oberfläche, denn alle Ordnungen der Erde klingen wieder in den Tiefen der Seele. « (Ebd.: 50) Kultur gilt ihm folgerichtig als » Arbeit des Menschen am widerspenstigen Stoff «, nicht als » Arbeit am Boden «, sondern als » Arbeit gegen den Boden « (ebd.: 42) und hat immer eine » sichtbare Gestalt « (ebd.: 47). Zu König insgesamt vgl. Moebius (2015).

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tel Jahrhundert später notiert: » Wann immer jemand von einem › System ‹, einer › globalen Eigenschaft ‹, einer › Struktur ‹, einer › Gesellschaft ‹, einem › Imperium ‹, einer › Weltwirtschaft ‹, einer › Organisation ‹ spricht, sollte der ANT-Reflex darin bestehen zu fragen: › In welchem Gebäude ? In welchem Büro ? Durch welchen Korridor erreichbar ? Welchen Kollegen vorgelesen ? Wie zusammengetragen ? ‹ « (Latour 2007: 315), dann wird hier ein durchaus ähnliches Unbehagen an der mangelnden Konkretion artikuliert, eine unzureichende Ausweisung der materiellen Basis und die fehlende Verortung soziologischer Schlüsselbegriffe beklagt. Geht man weiter zurück, so lässt sich der von König und Latour gleichermaßen ver­ misste Bezug auf die geographische, physische und materielle Basis von Gesellschaft durchaus ausmachen. Mehr noch: Eine erste Spurensuche zeigt, dass die Soziologie sogar über einen reichhaltigen Schatz sozialtheoretischer Ansätze verfügt, die sich dem Zusammenhang von geographischen und kulturellen Zusammenhängen und der Zusam­menführung von Soziologie und Geographie (vgl. Maas 1966, Gephart 2004) explizit widmen: Mit Gabriel Tarde weiß die Soziologie einen Klassiker in ihren Reihen, für den die Betonung der Verschränkung von Natur und Kultur noch eine Selbstverständlichkeit war: » Die Untersuchung der Auswirkungen jener am Anfang einer kulturellen Entwicklung stehenden, natürlichen Gaben des Bodens auf den gesamten weiteren Verlauf dieser Kultur ist beispielsweise von größtem Interesse. Je nachdem ob die Kultur in einem fruchtbaren Tal oder einer mehr oder weniger an Weide­land reichen Steppe entstand, sind die Arbeitsbedingungen verschieden und folglich auch die Bedingungen der Hausgemeinschaft und der politischen Institutionen. […] Die Untersuchungen der Modifikationen einer Lebensform, welche durch die Auswirkungen des Klimas oder ganz allgemein des Milieus entstehen, sind der Soziologie ebenso nützlich wie der Biologie. « (Tarde 2003: 163) Während Émile Durkheim mit seiner Zurückweisung des Klimas als Einflussgröße für Suizidraten (Durkheim 1990) und seinem Diktum, Soziales nur durch Soziales zu erklären, natürlichen Voraussetzungen des Sozialen generell eine Absage erteilt und den Kontaktabbruch zu anderen Fachdisziplinen regelrecht zum Programm erhebt (Durkheim 1961), ist die Berücksichtigung erdräumlicher und klimatischer Verhältnisse im Werk seines Gegenspielers Gabriel Tarde dagegen eine Selbstverständlichkeit. In der frühen amerikanischen Soziologie an der Universität Chicago wird man bei der Suche nach der Thematisierung erdräumlicher Voraussetzungen von Gesellschaft ebenfalls schnell fündig (vgl. Groß 2001: 63 ff.). Die von der Chicago School of Sociology (Robert Ezra Park u. a.) entwickelte Human- und Sozialökologie stellt den bislang wohl erfolgreichsten Versuch dar, die Wechselbeziehungen zwischen dem Menschen und seiner natürlichen Umgebung systematisch zu erfassen. Edward C. Hayes kommt dabei insofern eine Schlüsselposition zu, weil er

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sich explizit für eine Verbindung aus Geographie und Soziologie stark macht (vgl. Hayes 1908, 1914). Bei Maurice Halbwachs heißt es: » Auch wenn eine Gesellschaft vor allem aus Vorstellungen gemacht ist, kann sie doch nicht bestehen, ihre Aufgaben nicht bewältigen, ohne daß sie sich irgendwie im Raum niederließe und ausbreitete, ohne daß sie dort ihren Sitz fände. Sie hat, in ihrer Gesamtheit und ihren Teilen, immer eine bestimmte Ausdehnung, eine Lage, Größe und Gestalt im dinglichen Raum, auf der stoff‌lichen Erde. « (Halbwachs 2002: 72) Die von Durkheim ausge­ hende und von Marcel Mauss und Halbwachs betriebene soziale Morphologie (vgl. Schroer 2009, 2016a) ist ebenfalls eine attraktive Kandidatin für die Erschließung der sozialen Welt unter Berücksichtigung ihrer materiell-physischen Basis im Sinne der Geosoziologie, die darin Ähnlichkeiten mit der Sozialökologie amerikanischer Prägung aufweist (vgl. König 1958). Mauss setzt sich in seiner so­ zial­morphologischen Untersuchung über die Eskimogesellschaften explizit in ein Verhältnis zur » Anthropogeographie « von Friedrich Ratzel (1882): » Indem wir die Gesellschaften als nichts anderes begreifen denn als organisierte Gruppen von Menschen an bestimmten Punkten der Erdoberfläche, begehen wir nicht den Fehler, sie zu betrachten, als wären sie unabhängig von ihrer territorialen Basis; es versteht sich, daß die Zusammensetzung des Bodens, sein mineralischer Reichtum, seine Fauna und seine Flora, ihre Organisation beeinflussen. « (Mauss 2010: 186) Den Fehler der Anthrogeographie macht er jedoch in ihrer Annahme einer unmittelbaren Wirkung der Bodenverhältnisse auf die soziale Organisation menschlicher Beziehungen aus. Dagegen will die soziale Morphologie eine solche Fixierung auf den Boden durch die Berücksichtigung zusätzlicher Faktoren (moralische, rechtliche und religiöse) vermeiden. Von heute aus gesehen, hat die Soziologie den genannten Faktoren ihre ganze Aufmerksamkeit gewidmet. Die Thematisierung der territorialen Basis von Gesellschaften ist dabei jedoch in der Folgezeit immer mehr in Vergessenheit geraten. Obwohl Werner Sombart mit seiner » Noosoziologie « (vgl. Sombart 1956) insgesamt einen ausdrücklich geisteswissenschaftlichen Ansatz verfolgt, the­matisiert er in seiner » geisteswissenschaftlichen Anthropologie « (Sombart 2012) ausführlich Erde und Klima als Einflussfaktoren der historischen Entwicklung (vgl. Grundmann/Stehr 1997). Für das » Werden und Vergehen der Völker « (Sombart 2012: 340 ff.) erscheinen ihm von entscheidender Bedeutung » die natürlichen, oder besser geographischen Bedingungen, unter denen ein Volk sich bildet. Sie sind […] oft genug entscheidend für dessen Schicksal und bilden oft genug für die geistigen Faktoren die Leitbahn, auf der diese die endgültige Gestaltung des Volkes in einem bestimmten Sinne beeinflussen. « (Ebd.: 361) Dieser Erkenntnis gehen ausführliche Erörterungen nicht nur über die Beschaffenheit des Bodens und die klimatischen Verhältnisse in verschiedenen Ländern, sondern auch solche über die » Verände-

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rungen der Natur durch den Menschen « (ebd.: 330) voraus, zu denen er die Veränderung von Flora und Fauna, die Umgestaltung der festen Erdoberfläche etwa durch Bergbau, Waldrohdung, den Bau von Eisenbahnstrecken und Autostraßen, die Lenkung von Gewässern, Trockenlegung von Sümpfen u. v. m. rechnet. Alfred Weber (1953) entwickelt seine Zivilisationsgeschichte am Leitfaden des sich über die Jahrhunderte hinweg verändernden Verhältnisses von Mensch und Erde, in der die klimatischen ebenso wie die Bodenverhältnisse ausführlich erör­ tert werden. Da es sich bei der auch von ihm schon diagnostizierten » Erdschrumpfung « (ebd.: 19) nur um eine » kommunikative Erdverkleinerung « (ebd.: 16) handelt, bleibt Gesellschaft auch für Norbert Elias nach wie vor » Erdgesellschaft « (Elias 1976: 118). Bei Hans Freyer, der in seiner Genesis der Industriekultur erdräumliche Zusammenhänge systematisch berücksichtigt (Freyer 1965), findet sich die für die soziologische Erschließung des Anthropozän zentrale Aussage: » Kein Zweifel, daß der Mensch die Oberfläche unseres Planeten so stark verwandelt hat wie sonst keine Macht außer den Kräften, die die Gebirge aufgeworfen und die Meere getieft haben; und neun Zehntel dieser Veränderungen der Erde entfallen auf die letzten drei Menschenalter. « (Freyer 1958: 28 f.) Die hier exemplarisch versammelten Positionen aus der Geschichte der Soziologie zeigen die Abhängigkeiten der menschlichen Gesellschaft von geographischen Bedingungen ebenso auf wie Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten auf ihre physische Umwelt. Wir haben es damit ganz offensichtlich mit frühen soziologischen Beiträgen zum aktuell diskutierten Phänomen des Anthropozän zu tun.

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Das Anthropozän: Die vom Menschen gemachte Erde

Trotz der soziologischen Einsichten in das Zusammenspiel von physischer und sozialer Welt, Erde und Mensch, Natur und Kultur, gewinnt im Laufe der Entwicklung der Soziologie der modernisierungstheoretische Gedanke mehr und mehr die Oberhand, dass sich die moderne Gesellschaft aus der physischen Umwelt mit Hilfe der technologischen Entwicklung sukzessive so erfolgreich emanzipiert, dass dieser immer weniger Beachtung geschenkt werden muss (vgl. Stehr/ von Storch 2010: 115). Erst durch die seit den späten 1970er Jahren verstärkt wahrgenommenen ökologischen Gefährdungslagen der modernen Gesellschaften geraten Natur und Umwelt wieder in den Fokus soziologischer Aufmerksamkeit (vgl. Bühl 1981, Beck 1986, Luhmann 1986), um anschließend wieder von anderen Problemen an den Rand gedrängt zu werden, die für akuter gehalten werden. Angesichts der aktuellen Diskussion um das Anthropozän als Bezeichnung für unser

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derzeitiges Zeitalter ist es an der Zeit, dass sich die Soziologie der von der Geologie angestoßenen Debatte annimmt und ihren Beitrag leistet. Dabei erweist sie sich aufgrund der oben skizzierten Perspektiven durchaus als gut vorbereitet, um sich den Herausforderungen eines neuen Zeitalters zu stellen. Jedenfalls tut sie gut daran, all ihre bisherigen Anstrengungen nicht vorschnell als veraltet über Bord zu werfen. Vielmehr gilt es, das bereits Erarbeitete zusammenzutragen, um zu prüfen, was die klassischen Positionen für die Beschreibung und Bewältigung des Anthropozäns beitragen können und wo über sie hinaus gedacht werden muss. Mit diesem das Holozän ablösenden Namen für unser derzeitiges Zeitalter will der Chemienobelpreisträger Peter Crutzen eine seit dem späten 18. Jahrhundert gewachsene Einflussnahme des Menschen auf die Gestaltung der Erde bezeichnen. Spätestens aufgrund dieser Zäsur tritt die Erde als möglicher Gegenstandsbereich der Soziologie wieder auf den Plan, bescheinigt die These vom Anthropozän dem Menschen doch einen nie dagewesenen Einfluss auf die Gestaltung der Erde.5 Der Mensch ist damit gleichsam selber zur Naturgewalt geworden. Dabei ist es gerade der in den letzten Jahren gewachsene Zugriff des Menschen auf die Erde und dessen Auswirkungen, der die Menschheit in eine neue Abhängigkeit von der längst nicht mehr natürlichen Natur gebracht zu haben scheint. Mehr als je zuvor wird der Mensch im Hinblick auf die Natur mit den Folgen seines eigenen Tuns konfrontiert. Damit erleben wir in den Sozial- und Kulturwissenschaften derzeit in einer parallelen Bewegung einerseits die Einbeziehung der Dinge, Objekte und der Technik in die Sphäre des Sozialen als ernst zu nehmende Akteure – wofür vor allem die Akteur-Netzwerk-Theorie (vgl. Kneer/Schroer/Schüttpelz 2008) steht – und andererseits die Einführung des Menschen in die Geosphä5

Die bemerkenswerte schnelle Verbreitung des Begriffs in der Öffentlichkeit und in verschiedenen universitären Disziplinen – was für sich genommen schon ein interessantes Merkmal der gegenwärtigen Debatte ist – täuscht schnell darüber hinweg, dass es sich um eine durchaus umstrittene These handelt. So ist durchaus strittig, ob überhaupt von einem neuen Zeitalter gesprochen werden kann, da der Einfluss der Menschen auf das Klima bis in das Neolithikum zurückreicht. Darüber hinaus ist ebenfalls unklar, auf welchen genauen Zeitpunkt der Beginn des Zeitalters datiert werden soll (vgl. Zalasiewicz 2015). Daneben gibt es konkurrierende geologische Angebote als Bezeichnung für die gegenwärtige Epoche (Tertiär, Präkambrium). Alle drei Aspekte erinnern strukturell an die Diskussion um die Postmoderne. In beiden Fällen scheint das Ende einer bestimmten Epoche (Moderne/Holozän) und der Beginn einer neuen (Postmoderne/Anthropozän) verkündet zu werden. Um eine weniger strikte Zäsur zu behaupten, könnte in Parallele zur » postmodernen Moderne « (Welsch 1988) in diesem Fall von einem » anthropozäntischen Holozän « gesprochen werden. Oder aber man gibt gleich den Alternativen den Vorzug. Diese Parallele kann sich nur deshalb aufdrängen, weil es sich beim Anthropozän nicht um einen rein geologischen und nur geologisch relevanten Zeitnamen handelt, sondern um einen auch auf die Sozial- und Kulturwissenschaften ausstrahlenden. Klar ist auch, dass das Anthropozän exakt das ist, was es nach der Postmoderne nicht mehr geben sollte: eine große Erzählung !

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re und seine Erhebung zum » geologischen Faktor «, wie es bemerkenswerterweise nicht erst bei Crutzen (2011: 10), sondern bereits bei Georges Canguilhem in einem Vortrag aus dem Jahre 1947 (!) heißt (2009: 257).6 Während der neue Diskurs um die Bedeutung der Dinge die Botschaft transportiert, dass nicht nur Menschen, sondern auch Dinge handeln und sie somit nicht mehr länger als passive und stumme Objekte aus dem sozialen Gefüge ausgesondert werden können, transportiert der Diskurs um das Anthropozän die Einsicht, dass dem Menschen die Natur nicht wie eine fremde Macht gegenübersteht, die sich aufgrund ihrer Unberechenbarkeit seiner Einflusssphäre entzieht. Dinge auf der einen und Menschen auf der anderen Seite erhalten dadurch den Status von handlungsmächtigen Akteuren in Bereichen, in denen ihnen bisher nur die Rolle von willfährigen Objekten, zur Passivität verdammten Zuschauern oder bloßen Opfern zukam. Jetzt aber wird ihnen ein Einfluss auf das soziale bzw. naturhafte Geschehen zugesprochen, das sich sonst beinahe ohne ihre Beteiligung zu vollziehen schien. Was in den rein klimatologischen Debatten dabei oftmals übersehen wird, ist, dass die Menschen sich selbst auch längst verwandelt haben in hybride Wesen aus sowohl organischen als auch technischen Elementen (vgl. Bullik/Schroer 2015), es also nicht um einen sich gleich bleibenden Menschen geht, der auf eine durch ihn radikal umgestaltete Erde trifft, sondern mit einer Veränderung sowohl des Menschen als auch der Erde, die zu einem Natur-Kultur-Komplex amalgamieren. Die These vom Anthropozän impliziert indessen nicht nur, dass die Naturzerstörungen in hohem Maße auf den Menschen zurückzuführen sind, sondern nährt auch die Hoffnung, dass dessen zunehmende Einflussnahme auf das » Heimatland Erde « (Morin 1999) in eine andere Richtung gelenkt werden könnte. Dabei stehen vor allem die weitreichenden Veränderungen des Klimas im Vordergrund. Bei der neuen Hinwendung zur Erde, » die unsere Mitte und unsere Grundlage ist « (Braidotti 2014: 5 ff.)7, wird immer wieder auch auf die umstrittene Gaia-Hy6

Das erklärt sich womöglich daraus, dass bereits im Jahre 1873 der italienische Geologe Antonio Stoppani von einem » › anthropozänen Zeitalter ‹ « sprach, worauf Crutzen (2011: 7) ausdrücklich hinweist, die Wortschöpfung insofern schon länger diskutiert wird als es heute oftmals erscheint. 7 Das sich dies auch durch die vielen technologischen Erfindungen nicht geändert hat, begründet schon Otto Friedrich Bollnow (1989), der grundsätzlich davon ausgeht, dass der Mensch an die » Erdoberfläche «, verstanden als » Grenzfläche « zwischen » Erdraum « einerseits und » Luftraum « andererseits, gebunden bleibt: » Das geringe Maß, in dem er sich davon entfernen kann, indem er auf Bäume steigt oder in Höhlen kriecht, indem er Häuser und Türme errichtet oder Brunnen oder Bergwerke gräbt, ja selbst indem er sich im Flugzeug zeitweilig über die Erdoberfläche erhebt, all das kann nichts daran ändern, daß der Mensch grundsätzlich an diesem zweidimensionalen Raum gebunden ist, so wie der Atlas ihn abbildet. Selbst der Flug im Flugzeug verbindet immer nur zwei Orte dieser Erdoberfläche. Von einem Leben in planimetrischen Räumen, selbst wenn die Raumschiffahrt

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pothese von James Lovelock Bezug genommen (vgl. Latour 2012, 2015). Der Chemiker, Biophysiker und Mediziner Lovelock definiert Gaia wie folgt: » Gaia […] ist die Erde als ein durchgängiges physiologisches System, eine Entität, die zumindest in dem Sinne lebendig ist, als sie wie jeder biologische Organismus ihren Stoffwechsel und ihre Temperatur selbst regelt und in den mehr oder weniger engen Grenzen hält, in denen das Leben bestehen kann. « (Lovelock 1992: 10) Lovelock vertritt einen ganzheitlichen Ansatz, der die Idealisierung vergangener menschlicher Lebensformen in Teilen der grünen Bewegung jedoch ebenso sehr ablehnt wie die Idee vom unbelebten » Raumschiff Erde «, wie sie von Richard Buckminster-Fuller Ende der 1960er Jahre entwickelt wurde (ebd.: 177 ff., vgl. BuckminsterFuller 1998).8 Lovelock bemüht in seiner Argumentation immer wieder den Vergleich zwischen dem menschlichen Körper und Gaia als lebendigem Wesen. Sich selbst sieht er als » Erd-Arzt « (ebd.: 6), der » Erdheilkunde « (ebd.: 10) praktiziert. Entsprechend dieser Vorstellung kann auch die Erde entweder gesund oder krank sein. Die aktuelle Klimaerwärmung bedeutet für ihn folgerichtig, dass die Erde » Fieber « (2008: 9) hat. Lovelock stellt die Frage, wie der » Patient Erde « geschont, gerettet, erhalten werden kann. Das Weiterleben der menschlichen Spezies scheint in seinen Überlegungen zur Rettung von Gaia von eher nachrangiger Bedeutung zu sein, ist diese » Menschenplage « (1992: 153 ff.) doch » so etwas wie eine Krankheit des Planeten « (Lovelock 2008: 22). Seiner pessimistischen Prognose zufolge wird Gaia schon bald » ihre unbarmherzigen Kräfte gegen uns Aufstellung nehmen « (ebd.) lassen, um uns zu bestrafen für unser ungebührliches Eindringen in dazu die Möglichkeit geben würde, können wir uns schlechterdings keine konkrete Vorstellung machen. « (Bollnow 1989: 47) Noch nicht gesehen wird hier, dass die zahlreichen Unterhöhlungen der Erde durch den Menschen für diese nicht ohne Folgen bleiben. Zalasiewicz, Waters und Williams (2014) argumentieren, dass es die Unterhöhlung und Untertunnelung des Erdbodens sei, die die These eines neuen Mensch-Erd-Zeitalters am besten stützt. Drei Viertel der gesamten Erdoberfläche seien inzwischen künstlich umgestaltet durch Straßen, Steinbrüche, landwirtschaftliche Flächen, U-Bahn-Schächte, Wasserrohre, Strom- und Telefonleitungen, Tunneln, Geheimgängen, Abwasserleitungen, Bergbaustollen, Ölbohrlöchern, Mülldeponien, unterirdische Atombombenexplosionen usw. 8 Auch die Gegenüberstellung von biologischer oder technischer Metaphern für die Erde ist nicht neu. In seinem 1913 gehaltene Vortrag » Mensch und Erde « notiert der Lebensphilosoph Ludwig Klages: » Wir brauchen es nicht zu entscheiden, ob das Leben über die Welt der Eigenwesen hinausreiche oder nicht, ob die Erde, wie es der Glaube der Alten wollte, ein lebendes Wesen oder aber (nach der Ansicht der Neueren) ein unfühlender Klumpen › toter Materie ‹ sei: denn soviel steht fest, daß Gelände, Wolkenspiel, Gewässer, Pflanzenhülle und Geschäftigkeit der Tiere aus jeder Landschaft ein tieferregendes Ganzes wirken, welches das Einzellebendige wie in einer Arche umfängt, es einverwebend dem großen Geschehen des Alls. « (Klages 2013: 14 f.) Die Wiederkehr Gaias in den wissenschaftlichen Diskurs bestätigt die Einsicht, dass es » fast zum Rhythmus wissenschaftlicher Reformen [gehört], daß diese im Namen des Alten erfolgen. « (Böhme 1992: 18)

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» die ökologischen Nischen anderer Spezies « (ebd.). Nach diesem Szenario befindet sich die Menschheit im Krieg mit dem » blauen Planeten « (Crutzen 1991). Die Gaia-These hat Vorwürfe der Unwissenschaftlichkeit und der Esoterik auf sich gezogen, gegen die sich Lovelock seit Jahrzehnten zur Wehr setzt – unter anderem auch mit dem Hinweis darauf, dass es sich bei der Rede von der Erde als Lebe­ wesen nur um eine Metapher handele (vgl. 2008: 30 f., 1992: 6).9 Während sich Latour (2013) der Gaia-Idee dennoch weitgehend anschließt, präzisiert Edgar Morin (2011: 104): » The Earth can be conceived as a living being, not in the biological sense, with DNA, RNA, etc., but in the self-organising and self-regulating sense of a being that has its history; in other words, that is formed an transformed while maintaining its identity. «10 Paradoxerweise gilt das Anthropozän als das durch den Menschen am stärksten geprägte Erdzeitalter, das sich aufgrund der Massivität seiner Interventionen aber als genau dasjenige erweisen könnte, das den Untergang dieser besonderen Spezies besiegelt. Schon bald könnte » Der Mensch erscheint im Holozän « (Frisch 1979) ergänzt werden durch » Der Mensch verschwindet im Anthropozän «. Eine Erde ohne Menschen scheint problemlos vorstellbar; schon deshalb, weil es dies über Jahrmillionen schon gegeben hat. Warum sollte es nicht wieder so kommen ? Die umgekehrte Vorstellung einer Menschheit ohne Erde wird ebenfalls denkbar durch die Entdeckung anderer Planeten, auf denen Menschen zu existieren in der Lage wären. Die Suche danach ist im vollen Gang und stellt für die Zukunft einen planetarischen Umzug in Aussicht, der zurücklässt, was nicht mehr funktioniert: 9

Dem in der esoterischen Literatur vorherrschenden Bild von Gaia als den Menschen schützende » Mutter Erde « oder als Segen spendende Erdgöttin steht auch nicht im Mittelpunkt der Perspektive Lovelocks. Bei ihm ist vielmehr Gaia das zu beschützende Lebewesen. Allerdings sind seine Einlassungen wohl gerade deshalb so irritierend, weil sie die aus der naturwissenschaftlichen Forschung gewonnenen Daten mit Überzeugungen der New Age-Bewegung und Tiefenökologie zu verbinden versucht. So gilt er einerseits als Pionier der grünen Bewegung und ist andererseits bekennender AKW-Befürworter. Seine Einlassungen zur Reaktorkatastrophe von Tschernobyl warten dabei mit einigen erstaunlichen Informationen auf. Zur Herkunft aus der griechischen Mythologie und vielfältigen Bedeutung des Gaia-Begriffs vgl. Böhme (1992). 10 An anderer Stelle heißt es: » In den 1960er Jahren zeichnet sich nicht nur eine neue Erde, sondern auch neuer Kosmos ab. Die Theorie der Tektonik der Platten erlaubte es, die Geowissenschaften miteinander in einen gesamtkonzeptionellen Zusammenhang zu bringen: der Planet, der aufhörte, eine Blase, ein Untergrund, ein Sockel zu sein, wurde zu einem komplexen Wesen mit eigenem Leben, eigenen Transformationen und eigener Geschichte. Dieses Wesen ist gleichzeitig eine thermische Maschine, die sich unaufhörlich selbst reorganisiert. […] Das Leben unserer Erdrinde ist ein gewaltiges Abenteuer, bestehend aus Bewegungen dissoziativer und wieder assoziativer vertikaler und horizontaler Natur, aus Schiebungen, Begegnungen, Stößen (Erdbeben), Kurzschlüssen (vulkanischen Erruptionen), aus dem desaströsen Aufprall großer Meteoriten, aus Eiszeiten und Erwärmungen. « (Morin 1999: 57)

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die Erde. Beide Szenarien münden in der Vorstellung von einer » Welt ohne uns « (Weisman 2009). James Lovelock, Bruno Latour und Edgar Morin sind angetreten, vor den dramatischen Ereignissen zu warnen, die der Menschheit bevorstehen, wenn sie nicht radikale Gegenmaßnahmen ergreifen, um ihre Lebensgrundlage, Gaia, doch noch zu retten. Dabei wirbt Latour vor allem um » mehr als nur ganz oberflächliche Aufmerksamkeit « (Latour 2012: 164) für die Umweltkrise und ihre Auswirkungen auf unsere auf sie noch keineswegs hinreichend eingestellten Denkgewohnheiten, Emotionen und Empfindungen: » Was keine Revolution je in Betracht gezogen hatte, nämlich unser kollektives Leben auf der Erde zu erneuern, wird nun mit Einstellungen durchgeführt, die revolutionären und modernisierenden Einstellungen genau entgegengesetzt sind [….]: Bescheidenheit, Sorge, Vorsorge, Fertigkeiten, Kunstfertigkeit, Bedeutungen, Aufmerksamkeit für Details, achtsames Bewahren, Redesign, Artifizialität und stets sich verschiebende, vor­ übergehende Moden. Wir müssen radikal achtsam sein, oder achtsam radikal. In was für seltsamen Zeiten leben wir ! « (Latour 2009: 365)11

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Klima, Wetter und Gesellschaft

Dem Klima ist in der soziologischen Literatur insgesamt nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Heute drängt sich das Thema aufgrund der breiten öffentlichen Berichterstattung allerdings dermaßen auf, dass auch dessen soziologische Bearbeitung seit einigen Jahren wieder eingesetzt hat. Ulrich Beck (2007)12, Anthony Giddens (2009)13 und Bruno Latour (2012, 2014) haben sich der Klima­ problematik auf je eigene Weise zugewandt. Aus einer dezidiert wissenssoziolo11 Michel Serres, beständiger Stichwortgeber für Latours Unternehmungen, fordert angesichts der globalen Klimakrise: » Also zurück zur Natur ! Was bedeutet: den ausschließlichen Gesellschaftsvertrag durch einen Naturvertrag der Symbiose und Wechselseitigkeit zu ergänzen, bei dessen Abschluß unsere Beziehung zu den Dingen sich ihrer Herrschaft und ihres Besitzstrebens begibt zugunsten von bewunderndem Zuhören, Wechselseitigkeit, Kontemplation und Respekt, worin Erkenntnis nicht mehr Besitz und Handeln nicht mehr Herrschaft voraussetzt « (Serres 1994: 68). 12 Ulrich Beck wirkt schon mit seiner » Risikogesellschaft « (1986) als wichtiger Beschleuniger des ökologischen Denkens in der Soziologie. Angesichts des Reaktorunfalls in Tschernobyl und der Gefahr der Verbreitung der Radioaktivität über Ländergrenzen hinweg spricht er treffend vom » Mischverhältnis von Natur und Gesellschaft « (ebd.: 9), dem auch die Geosoziologie auf der Spur ist. Anders als in dieser aber treten dabei räumliche Kategorien stets als Altlasten einer zu überwindenden Ersten Moderne auf. 13 Anthony Giddens ist schon deshalb ein interessanter Kandidat für unser Vorhaben, weil er bereits in seiner Strukturierungstheorie (Giddens 1992) für eine enge Verbindung von Soziologie und Geographie plädiert und Raum als einer zentralen Kategorie des Sozialen einen prominenten Stellenwert zuweist.

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gischen Position heraus hat sich zudem Nico Stehr intensiv mit dem Klima beschäftigt. In der mit dem Metereologen Hans von Storch gemeinsam verfassten Schrift » Klima, Wetter, Mensch « (2010) wird u. a. gezeigt, dass der aktuelle Diskurs um das Klima eine Geschichte hat, die bis auf Johann Gottfried Herder zurückreicht und das, wenn vom Klima die Rede ist, oftmals eigentlich das Wetter gemeint ist. Doch über das Wetter zu reden gilt gleichsam als Inbegriff des Banalen und ist deshalb als sozial- und kulturwissenschaftliches Thema bis auf wenige Ausnahmen (vgl. Berland 1999, Stehr/von Storch 2010) kaum jemals ernst genommen worden. Hinzu kommt, dass man sich aufgrund des vorherrschenden Aufenthalts in beheizten und klimatisierten Gebäuden über das Wetter längst erhaben glaubt. Gerade aber das so viel beschworene neue Nomadentum, das uns die Globalisierung angeblich beschert hat, setzt es wieder auf die Tagesordnung. Täglich können wir beobachten, dass durch die Beeinflussung des Wetters Ziele nicht erreicht, Termine nicht wahrgenommen und Vorhaben verschoben werden. Obwohl dies Auswirkungen auf die Arbeits-, Familien- und Freundeswelt und die Intensität sozialer Kontakte hat, wir geplante Verabredungen und Aktivitäten von den Wetteraussichten und den herrschenden Wetterverhältnissen abhängig machen, die zudem ein Dauerthema der alltäglichen Kommunikation sind, die Aussichten auf das Wetter Pflichtprogramm einer jeden Nachrichtensendung sind und eine » Wetter-App « zur Standardausrüstung eines jeden Smartphones gehört, ist das Wetter bisher dennoch kaum ein soziologisches Thema. Zu sehr wird hier der typisch modernen Vorstellung gehuldigt, dass man sich mit Hilfe technischer Erfindungen längst unabhängig von der Unberechenbarkeit der Wetter­kapriolen gemacht hat; ganz so, als gäbe es nur mehr Innen- und keine Außenräume mehr. Dabei wird mitunter der Anschein erweckt, als wäre der Umzug in rein virtuelle Welten bereits vollzogen, in denen man sich um das Wetter keine Gedanken mehr zu machen braucht, da es im Cyberspace weder stürmt noch schneit. Das Gegenteil ist der Fall: Da sich auch das menschliche Leben keineswegs ausschließlich in virtuellen oder geschlossenen, je nach Wetterlage gut beheizten oder angenehm kühlen Räumen abspielt, greift Wetter in einem gerne verleugneten – weil das Selbstbild der hochtechnologisierten Zivilisation regelmäßig be­leidigenden – Ausmaß in alle Lebensbereiche und die alltäglichen Abläufe ein: Außergewöhnliche Hitze und Kälte machen dem Zugverkehr schwer zu schaffen, führen zu Verspätungen und Ausfällen, Autobahnen und Straßen werden aufgrund von Schneestürmen und Glatteis unpassierbar, Stürme, Tornados, Dürren und Überschwemmungen verwüsten ganze Landstriche usw. Obwohl diese – scheinbar banalen bis dramatischen – Eingriffe der Natur in die Kultur regelmäßig auftreten, menschliches wie tierisches Leid mit sich bringen und Schäden in Millionenhöhe verursachen, werden sie dennoch gerne wie Ausnahmen behandelt, die man dank technologischer Entwicklung mit Hilfe verbesserter Kontroll- und Sicherheitssysteme über kurz

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oder lang in den Griff bekommen wird. Dabei ist die Ausnahme längst zur alltäglichen Realität mutiert. Bei den klimatisch bedingten Schädigungen von Mensch, Tier und Erde handelt es sich um regelmäßig sich wiederholende Ereignisse, die in der medialen Aufbereitung stets wieder zur Sensation stilisiert werden, um das Maß an Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, das für das eigene Überleben und das Aufkommen von Spenden nötig erscheint. Für die längerfristigen klimatischen Veränderungen gilt, dass nicht erst deren tatsächlich messbaren Folgen, sondern schon deren Erwartung Reaktionsweisen hervorruft, die sich in fünf Gruppen unterteilen und als Manipulation, Anpassung, Einkapselung, Kampf um Ressourcen, Flucht und Neuanfang beschreiben lassen: Unter Manipulation ist dabei vor allem das so genannte » Geo-Engeneering « zu verstehen (vgl. Rötzer 2008). Gemeint ist damit die gezielte Veränderung des Klimas durch technische Eingriffe in die Atmosphäre. Die Vorschläge reichen vom Aufspannen eines Sonnensegels zwischen Erde und Sonne, um die Erdoberfläche mit mehr Schatten zu versorgen bis hin zur Stimulierung des Wachstums von Algen, die Kohlendioxid aufnehmen und so den Treibhauseffekt reduzieren können. Da die Folgen der einzelnen Maßnahmen im Einzelnen unklar sind, sind sie auch höchst umstritten. In den Bereich der Manipulation gehören auch die verschiedenen technischen Versuche, das Wetter durch gezielte Eingriffe zu manipulieren – wie etwas das » Impfen « von Wolken mit Chemikalien zur Erzeugung von Regen. Als Anpassung möchte ich den Versuch bezeichnen, durch eine weniger Ressourcen verbrauchende, die Energiereserven erhaltende, also eine die Umwelt schonende Lebensweise die Klimäveränderungen, den Treibhauseffekt, das Ansteigen des Meeresspiegels, das Abschmelzen der Polkappen usw. aufzuhalten oder gar abzuwenden. Diese Maßnahmen sind regelmäßig Thema bei den vielen Weltklimagipfeln, die sich hinsichtlich ihrer äußerst sparsamen Ergebnisse gegenseitig den Rang ablaufen. Die Aussicht auf die schwindenden Energieressourcen prägt schon jetzt auch die Architektur und damit auch die Ästhetik unserer Häuser, führt verstärkt zum Bau von Passivhäusern und verwandelt nachhaltig das Antlitz von historische Fassaden durch das nachträgliche Einbauen von Dämmstoffen. Angesichts dieses flächendeckenden Umbaus in den Innenstädten, die zur Verdrängung ärmerer Schichten durch zahlungskräftige Klientel führt, ist bereits von einer » energetischen Segregation « (Wiens 2015) die Rede. Als Einkapselung lässt sich etwa das Bauen von Klimakapseln charakterisieren, die von Wissenschaftlern, Architekten und Künstlern gemeinsam konstruiert werden (vgl. von Borries 2010). Dabei kann im Anschluss an Peter Sloterdijk, der angesichts der Reaktionen auf Klimaveränderungen und ökologische Gefährdungen von einem » Gesetz der Einkapselung « (Sloterdijk 2008: 33) spricht, zwischen » Mikrokapseln « und » Makrokapseln « unterschieden werden. Dabei hebt er die allgemeine Akzeptanz und Sozialverträglichkeit von Mikrokapseln wie dem kli-

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matisierten » Appartement « gegenüber den moralisch bedenklichen » gated communties « hervor.14 Als Mikrokapsel fungiert auch der 1970 von einem Künstlerkollektiv entworfene » Clean Air Pod «. Dabei handelt es sich um eine aufblasbare Kapsel aus Polyethylen, die den Menschen als Schutz vor gesundheitsschädlicher Luftverschmutzung dienen soll (vgl. von Borries 2010: 90 f.). Davon zu unterscheiden sind die großformatigen Versuche des Baus von Makrokapseln, künstlich erschaffene Inseln, die sich als energetisch autarke Einheiten vor schädlichen Umwelteinflüssen komplett abzuschotten versuchen. Dazu gehört etwa auch die von Richard Buckminster Fuller und Shoji Sadao ersonnene Idee, komplette Teile von New York mit Hilfe einer transparenten Außenhaut von den unangenehmen Auswirkungen des Klimas zu schützen (vgl. von Borries 2010: 91 f.).15 In jedem dieser Fälle geht es um die Einrichtung geschützter Sphären, die sich auch als spätmoderne Höhlenbauten interpretieren lassen, die heute nicht mehr nur als statischer Rückzugsraum gewertet werden können, sondern als Versuche anzusehen sind, den Wunsch nach geschützten Räumen mit den Mobilitätserfordernissen unserer Zeit zu vereinbaren, so dass gleichsam bewegliche Höhlen bzw. » mobile Kokons « (Popcorn 1994: 43 f.) entstehen – wie etwa im Falle des Clean Air Pod.16 Mit dem Kampf um Ressourcen sind die etwa von Harald Welzer beschriebenen » Klimakriege « (Welzer 2012) gemeint, denen eine zunehmende Bedeutung zukommt. Angesichts immer knapper werdender Energiereserven und weltweit wachsender Wohlstandsgefälle erhält auch das klassische Thema » soziale Ungleichheit « eine neue Dimension: » Die Auswirkungen der Klimaveränderung verteilen sich […] auf tragisch ungerechte Weise auf die verschiedenen Regionen und Gesellschaftsschichten und richten den größten Schaden in den ärmsten Ländern an, die über die geringsten Ressourcen für eine nennenswerte Anpassung ver14 Auf das zunehmende Bedürfnis, sich mit einer Schutzhülle zu umgeben, hatte der Trendforscher Faith Popcorn schon in den späten 1970er Jahren aufmerksam gemacht und vom Trend zum » Cocooning « gesprochen (vgl. Popcorn 1994: 39 ff.) 15 Für diese Reaktionsweise gibt es eine soziologisch-literarische Vorlage aus der Feder von Tarde. In seinem Roman » Fragment einer Geschichte der Zukunft « (2015 [1904]) sucht eine vom Kältetode bedrohte und bereits stark dezimierte Menschheit in einer Art unterirdischer » Klimakapsel « (Horn/Stäheli 2015: 126) Zuflucht, in der sie vor allen natürlichen Einflüssen geschützt ist. Tarde wählt offenbar die Form der Fiktion, um etwas zu beschreiben, was es in der Realität nicht geben kann: Eine von natürlichen Einflüssen vollständig gereinigte Gesellschaft ! Stäheli und Horn kennzeichnen diese Tardsche Utopie einer » technikgestützten[n] Untergrundgesellschaft als Satire auf den soziologischen Traum, Soziales nur aus Sozialem erklären zu wollen. « (Ebd.: 137) Auch Wolf Lepenies (2002) sieht im Roman eine Auseinandersetzung mit der Durkheimschen Soziologie: » Unter der Erde ist die Soziologie Durkheims verschwunden. « (ebd.: 63) 16 Selbst die immer behaglicher gestalteten, klimatisierten Innenräume der Automobile, in denen wir uns behaglich einkapseln, dienen paradoxerweise auch dem Schutz vor einer luftverschmutzten Außenwelt, die diese zu einem großen Teil selbst erzeugen.

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fügen. Diese geographische Trennung von Emissionsquellen und Umweltfolgen ist es, die einer vorausschauenden, proaktiven Solidarität im Weg steht. « (Davis 2011: 75) Unter Flucht und Neuanfang können alle – in der fiktionalen Literatur x-fach vorgedachten – Vorstellungen zusammengefasst werden, die das Weiterleben der Menschheit auf einem anderen Planeten unseres Sonnensystems beinhalten. Die Suche nach erdähnlichen Planeten ist in vollem Gange. Insgesamt haben wir es mit Reaktionsweisen zu tun, die Einfluss zu nehmen versuchen auf die klimatischen Bedingungen des terrestrischen Raums, künstliche Räume erschaffen, mit deren Hilfe sich die Menschheit von den klimatischen Verhältnissen gänzlich unabhängig machen können soll oder aber eine radikale ExitStrategie verfolgen durch den Umzug auf andere Planeten. In jedem der Fälle geht es immer auch um Territorialität.

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Neues vom » T-Faktor «

Der Begriff » Territorium « scheint in weiten Teilen der Soziologie schon deshalb kaum Anwendung zu finden, da er sich gleich aus zwei Quellen speist, die ihr von Haus aus suspekt erscheinen: der Ethologie, also einem Bereich der Bio­logie bzw. Zoologie auf der einen und der politischen Geographie auf der anderen Seite. Es ist jedoch wie kein anderer dazu in der Lage, ein Gegengewicht zur merkwürdig irenischen Einfärbung des aktuellen Raumdiskurses zu schaffen, da er auf die Markierung, Aneignung und Verteidigung von Räumen verweist. Territorium und Territorialität verstehe ich im Anschluss an Gilles Deleuze und Félix Guattari (1992). Dabei ist für unseren Zusammenhang zentral, dass sich das Territorium auf die Erde bezieht, die bei Deleuze/Guattari aber nicht mehr als Inbegriff des Festen verstanden wird wie noch bei Edmund Husserl (2006), sondern als das Dynamische und Deterritorialisierende. Ihrem Begriff der Erde sind somit die aktuell betonten geologischen Transformationen, die der Erde ihrer bisher zugeschriebenen Eigenschaften der Kontinuität und Stabilität vollends berauben, bereits inhärent. Das Territorium ist somit nicht der feste Ausgangspunkt bzw. der Ausgangspunkt im Festen, sondern der Versuch, der Erde als deterritorialisierenden Kraft etwas Festes allererst abzugewinnen. Insofern auch ist Territorialität als » ein Akt, ein Handeln « (Deleuze/Guattari 1992: 429) zu verstehen. Das Territorium steht dann nicht mehr für eine ursprüngliche Einheit und deren Statik. Vielmehr geht es um Territorialisierung als Bewegung, in der sich De- und Re­territorialisierungsprozesse permanent einander ablösen. Im Anschluss an Deleuze/Guattari schreiben Roberto Nigro und Gerald Raunig (2012: 81): » Aber das Territorium ist nicht nur der Raum, den wir bewohnen (als Haus, Spital, Kirche,

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Universität, Straßenbahn, Favela usw.). Das Territorium ist der Punkt, an dem sich semiotische, linguistische, diskursive und nicht-diskursive Komponenten treffen. Man sollte in diesem Fall von existentiellen Territorien sprechen, welche un­sere Existenz erst ermöglichen. Existentielle Territorien, die gleichzeitig der Käfig unserer Unterwerfung sind und der Punkt, an dem Mikropolitiken stattfinden, die neue Gefüge und neue Territorien eröffnen. « Statt De- und Reterritorialisierungsprozesse gegeneinander auszuspielen und mit eindeutig positiven oder negativen Vorzeichen zu versehen, gilt es das Zusammenspiel beider und die mögliche Umkehrung der Vorzeichen in den Blick zu nehmen. Die Occupy-Bewegung lässt sich beispielsweise durchaus dahingehend interpretieren, dass es bei ihrem Kampf um die Besetzung von Räumen um das ging, was Nigro und Raunig » eine selbstbestimmte Form der Reterritorialisierung « (ebd: 82) nennen, um die » Neubesetzung des Raums « (ebd.) und die » Versammlung als temporärer Konzentration « (ebd.). Damit zeigt sich, dass über Deleuze und Guattari hinaus nicht nur die Deterritorialisierung als Fluchtlinie angesehen werden muss, sondern auch die Reterritorialisierung in Form der Zeltlager, womit den temporären Reterritorialisierungen selbst eine subversive Kraft zugesprochen werden kann. Nachdem in den 1990er Jahren der Umzug des Protests in den virtuellen Raum verkündet wurde, erleben wir heute eine Wiederkehr des Straßenprotests, der die In­besitznahme und Verteidigung von Räumen zum Inhalt hat. Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer kommen in ihrer Studie » Occupy ! Räume des Protests « zu dem Ergebnis: » Raum bildet die Grundlage von Occupy. Die Besetzung von Raum ist Ausgangspunkt und Ziel zugleich. « (Mörtenbeck/Mooshammer 2012: 17) Neu daran ist – und deshalb geht es um mehr als eine bloße Wiederkehr –, dass sich die situativen Versammlungen im urbanen Raum durch virtuelle Kommunikation planen und organisieren lassen. Insofern kommt es hier zur gegenseitigen Durchdringung von virtuellen und physischen Räumen (vgl. Schroer 2003). Gerade am Beispiel von Occupy ließe sich die Verkettung von der Besetzung des Raums, dem Aufbau von Zelten, der Verteidigung der Territorien, der öffentlichen Aufmerksamkeit, den Gesetzen zur Versammlungsfreiheit, den Konflikten um die unterschiedlichen Nutzungsweisen von Parks, dem Gummiknüppel der Polizisten, den Megaphonen und Handys der Protestierenden, den Berichten in den Medien, die Verbreitung von Bildern und ihrem Ansteckungspotential aufzeigen und zu einem rhizomartigen Akteurnetzwerk verdichten. Und damit ist hier nur ein Beispiel für die Aktualität von Territorialität erwähnt. Der anhaltende Kampf um staatliche Territorien in der aktuellen Politik und die Vervielfältigung von Grenzkonflikten enthält eine Reihe weiterer Beispiele. Wir brauchen dabei nur an den Russland-Ukraine-Europa-Konflikt und die panischen Versuche der Abschottung einiger europäischer Länder angesichts der sogenannten » Flüchtlingskrise « denken (vgl. Schroer 2016b). Anders als etwa politikwissenschaftliche Beiträge zum The-

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ma hätte eine Geosoziologie jedoch nicht nur die enge Verbindung von Staat und Territorium zu thematisieren, sondern die Territorialisierung als alltägliche Praktik zu denken. In der Praxis des Alltags werden täglich Räume eingenommen und gegen die Invasion durch andere verteidigt. Dabei sind die Territorien womöglich nur flüchtig und situativ, die Territorialisierung aber entschieden und intensiv. Herauszuarbeiten wäre im Detail, wie die Abgrenzung von Territorien vonstattengeht, welche Techniken dabei angewandt und welche Materialien benutzt werden und welche Folgen dies hat.

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Programmatische Überlegungen zu den Aufgaben einer Geosoziologie

Um Geosoziologie betreiben zu können, brauchen wir auf der einen Seite eine Geographisierung der Soziologie, ebenso wie wir parallel dazu eine Biologisierung der Soziologie benötigen. Beides zusammen genommen könnten als Geosoziologie auf der einen und Biosoziologie auf der anderen Seite langfristig womöglich zu einer materialistisch ausgerichteten Lebenssoziologie vereint werden, die sowohl die biologische Ausstattung des Menschen und deren Veränderung thematisiert, als auch nicht davon abstrahiert, dass sich Lebewesen stets in Räumen aufhalten, sich Häuser, Nester und Höhlen bauen, die sie bewohnen (vgl. Serres 2005: 40) – und dies selbst dann, wenn diese beweglich werden im Sinne einer Mobitektur (vgl. Schroer 2006b). Als Leitgedanke der Geosoziologie kann dabei die Aussage von Deleuze dienen: » Das Werden ist geographisch. « (Deleuze/Parnet 1980: 45) Dabei müssen die traditionellen Affekte sowohl gegen die biologische Verfassung des Menschen als auch gegen die physische Dimension der Gesellschaft endlich abgelegt werden. » Selbst heute noch «, so beklagt auch Morin (1999: 67), » weisen die herrschenden Strömungen der Philosophie und Anthropologie jegliche Erkenntnis des animalischen Aspekts der menschlichen Identität und des Lebens sowie die daraus zu ziehenden Konsequenzen nachdrücklich zurück und denunzieren jegliches Eingeständnis unserer irdischen, physischen und biologischen Verwurzelung als irrationalen › Vitalismus ‹ oder perversen › Biologismus ‹. «17 Sol-

17 Dabei hatte die Philosophische Anthropologie hier schon früh gegenzusteuern versucht. Auch an den heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Versuch von Wolf Lepenies, eine » soziologische Anthropologie « zu begründen, wäre anzuknüpfen: Angemahnt wird hier, » die Rolle des Naturfaktors auch im Objektbereich der Soziologie nicht zu unterschlagen. Wir bedürfen einer Naturgeschichte des Menschen ebenso wie einer Humangeschichte der Natur […] und haben biologische und soziologische Bestimmtheit des Menschen nicht gegeneinander auszuspielen, sondern miteinander zu vermitteln. « (Lepenies 1977: 14)

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che Vorbehalte wird man sich spätestens im 21. Jahrhundert nicht mehr länger leisten können. Die Geosoziologie im hier verstandenen Sinne umfasst eine Soziologie der Erde, der Natur und der Kultur, der Räume, der Grenzen und der Territorialität, der Architektur, des Wohnens und des Wissens. Politische, ökonomische, rechtliche und ästhetische Aspekte fließen ebenfalls mit ein. Über diese soziologischen Perspektiven hinaus ist im Zuge der zunehmenden Auflösung der Trennung von Natur und Geistes- bzw. Gesellschaftswissenschaften die soziologische Auseinandersetzung auch mit den naturwissenschaftlichen Fächern unabdingbar (vgl. Descola 2011, 2014, Chakrabarty 2014, 2015). Die Differenzierungsbewegung, aus der heraus sich das Fach Soziologie konstituiert und etabliert hat, gilt es insoweit wieder zurückzufahren, dass aus der damit einhergehenden Schließung eine Öffnung erfolgt, die Anwärter auf Behandlung und Thematisierung nicht von vornherein ausschließt aufgrund disziplinärer Zuständigkeitsverweigerung nach verwaltungs­technischem Vorbild. Erst durch die Konfrontation, Aneignung und Auseinandersetzung mit fachfremdem Wissen kann es gelingen, eine Soziologie zu betreiben, die auch außerhalb der derzeit eng gezogenen Grenzen des Faches und jenseits der universitären Zirkel noch auf Gehör stößt. Selbst Durkheim, der sein gesamtes Programm stets in Abgrenzung gegen andere Disziplinen formuliert, hält die Öffnung dann für möglich, wenn das zu seiner Zeit noch zarte Pflänzchen namens Soziologie einen gewissen Reifegrad erreicht hat. Ich gehe davon aus, dass dieser Zeitpunkt bzw. Zustand inzwischen eingetreten ist. Bei ihrem Versuch, Soziologie und Geographie zusammenzudenken, kann sich die Geosoziologie auf eine Vielzahl von Autoren stützen, deren Schriften für das geplante Vorhaben zahlreiche Anregungen bereithalten: Walter Benjamin, Hans Blumenberg, Georges Canguilhem, Gilles Deleuze/Felix Guattari, Michel Foucault, Hans Freyer, Maurice Halbwachs, Edward C. Hayes, Martin Heidegger, Ludwig Klages, René König, Siegfried Kracauer, Bruno Latour, Henri Lefebvre, Karl Marx, Marcel Mauss, Maurice Merleau-Ponty, Edgar Morin, Robert Ezra Park, Friedrich Ratzel, Carl Schmitt, Michel Serres, Georg Simmel, Peter Sloterdijk, Werner Sombart, Gabriel Tarde, Jakob von Uexküll, Alfred Weber und einige andere mehr. Schon die zu Beginn des Beitrags vorgestellten Ansätze machen deutlich, dass die Soziologie gut aufgestellt ist für die aktuelle Erforschung des Anthropozäns, weil das damit bezeichnete enge Zusammenspiel von Mensch und Erde, Kultur und Natur, Gesellschaft und Geographie, von einer beachtlichen Reihe von Autoren z. T. bereits vor Jahrzehnten reflektiert wurde. Eine Neulektüre und systematische Erfassung der Arbeiten dieser und weiterer Autoren scheint dringend geboten, um eine breite theoretische Basis für eine Geosoziologie zu bilden. Die » Wiederauferstehung von toten Texten « (Serres/Latour 2008: 87) ist dabei eine willkommene Begleiterscheinung. Anknüpfen lässt sich an eine sehr frü-

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he Phase der Geographie, die etwa mit dem Namen Carl Ritter verbunden ist, auf dessen Überlegungen sich der Epistemologe und Philosoph Georges Canguilhem bezieht: » Nach Ritter ist die menschliche Geschichte ohne die Bindung des Menschen an den Boden, und zwar den Boden in seiner Gänze, unverständlich. In ihrer Gesamtheit betrachtet, ist die Erde der Träger der Wechselfälle der Geschichte. Der irdische Raum und seine Beschaffenheit sind folglich nicht nur geometrisches, nicht nur geologisches, sondern auch soziologisches und biologisches Erkenntnisobjekt. « (Canguilhem 2009: 251) Diesen verschütteten Zusammenhang gilt es erneut zu denken, wenn die inzwischen beklagte » Geographievergessenheit « (Zahnen 2011) nicht weiter um sich greifen soll. Eine Geosoziologie hat dabei vor allem auch die Geopraktiken in den Blick zu nehmen. Anders als Michel Serres (2013: 9), der den Begriff für eine vergangene Epoche der Bodennutzung reserviert, wären Geopraktiken aus meiner Perspek­tive sehr viel weiter zu fassen: Von den industriell-maschinellen Umwälzungen des Bodens, den Erdbohrungen, dem Düngen von Ackerland und dem Fracking über das Errichten von Zäunen, Mauern und sonstigen Grenzbefestigungen bis hin zu den verschiedenen Gartentätigkeiten, dem Umgraben des Bodens, dem Säen und Pflanzen. Daneben sind auch das Errichten, Gestalten und Bewohnen von Nestern, Höhlen und Häusern, die Vermessung der Welt durch Google-Earth, die Suche nach Orten durch Navigationsgeräte, das Urban Gardening, Geocaching, Buildering und Cross-Golfen als Geopraktiken zu verstehen. Mit der Analyse all dieser Praktiken wird deutlich werden, dass die Geopolitik nicht nur auf der staatlichen Ebene wieder auf dem Vormarsch ist, sondern sich auch im Mikrobereich des Sozialen beobachten lässt. Was mit der systematischen Erfassung dieser Geopraktiken sichtbar werden soll, ist, dass wir es nicht mit einer vielfach beschworenen Ablösung des physischen durch den virtuellen Raum zu tun haben, sondern mit zahlreichen Überlagerungen der verschiedenen Raumebenen und Raumordnungen, die immer wieder neu hergestellten Verkettungen zwischen den verschiedenen Faktoren, die keine getrennten Welten konstituieren – hier der physische, dort der virtuelle und dazwischen der soziale Raum, fein säuberlich voneinander getrennt – sondern ein vielfältiges Gefüge und Gewebe aus den verschiedensten Bestandteilen, die sich nicht zu einem harmonischen Ganzen vereinen lassen, sich vielmehr in stetiger Bewegung der Anziehung und Abstoßung befinden. Über die Erfassung dieser Geopraktiken hinaus hätte die Geosoziologie eine Karte des soziologischen Wissens und seiner Produktionsstätten anzufertigen. Eine solche Karte hätte die Aufgabe, die Beziehung zwischen räumlich-materiellen Konstellationen und dem Denken sichtbar zu machen, denn » Denken geschieht […] in der Beziehung zu dem Territorium und zu Terra, der Erde. « (Deleuze/ Guattari 2000: 97) Bruno Latours Denken etwa wird in diesem Sinne inzwischen auf den Kontext des Weinanbaus zurückgeführt, aus dem es offenbar stammt. Slo-

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terdijk spricht in seiner Laudatio auf Latour jedenfalls vom » primären Burgundismus « seines Denkens und sieht die Verkettung von Weinreben, Erdmikroben, Kellerkünsten, Transportunternehmen usw. als ein Grundmodell für Latours ausgreifenden Versuch, das Zusammenspiel von Dingen, Menschen und Technik zu plausibilisieren (vgl. Schmidgen 2011: 22). Wir haben hier das konkrete Beispiel für eine Verbindung von Denken, Boden und Erde, der auch bei anderen Autoren nachzugehen wäre. Üblicherweise wird gerne davon abstrahiert, dass beispielsweise auch Ferdinand Tönnies, Max Weber und Georg Simmel von ihren lokalen Umgebungen in ihren Analysen und Themen durchaus geprägt wurden. Dabei wird so getan, als hätten die verschiedenen geographischen Lagen, das Klima, der unterschiedliche Grad an Urbanität oder Ruralität und die jeweiligen städtischen Atmosphären von Kiel, Heidelberg oder Berlin keinerlei Einfluss auf ihr Denken und ihre Arbeit gehabt.18 Auch wenn nicht bei jedem dieser und anderer Autoren und Autorinnen der Ort des Denkens und Schaffens einen so expliziten Einfluss auf das Gedachte und Geschriebene genommen haben mag wie im Fall Heideggers, dessen Hütte im Schwarzwald nicht bloß die zum Schreiben nötige Abgeschiedenheit, sondern vor allem die Nähe zur Natur garantieren sollte, um das eigene Denken wesentlich von ihr bestimmen und anleiten lassen zu können (vgl. Scharr 2010), erscheint der Versuch dennoch lohnend. Die in Parallele zu Ferdinand Braudels » Geohistorie « (1990, vgl. auch Schlögel 2006), Deleuzes und Guattaris » Geophilosophie « (1992, 2000; vgl. auch Günzel 2001, 2005) und Willy Hellpachs » Geopsyche « (1977) zu entwickelnde Geosoziologie versteht sich als ein erst am Anfang stehendes Projekt, das der weiteren Ausarbeitung bedarf. Die damit verbundene Ausweitung der soziologischen Denkzone im gerade skizzierten Sinne gehört aus meiner Sicht zu den dringlichsten Aufgaben einer zeitgemäßen Soziologie, die sich den Entwicklungen in anderen Wissenschaften nicht mit den üblichen Reflexen verschließt, sondern in ihre Auseinandersetzungen und Überlegungen miteinbezieht, um zu einer umfassenden Beschreibung und systematischen Erfassung des Natur-Kultur-Hybrids zu gelangen, dessen Teil wir sind und in dem wir leben.

18 Zumindest im Falle von Max Weber finden Einflüsse dieser Art in Joachim Radkaus Biographie ausführlich Berücksichtigung (vgl. Radkau 2005). Dabei ist es sicher kein Zufall, dass sie aus der Feder des Autors einer Weltgeschichte der Natur (vgl. Radkau 2000) und der Ökologie (vgl. Radkau 2011) stammt.

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Teil II Raumkonstellationen

Raum, Zeit und soziale Ordnung

Konnte der Raum noch vor wenigen Jahren als ein vernachlässigtes Thema der Sozial- und Kulturwissenschaften ausgewiesen werden, so ist die » Wiederkehr des Raumes «1 inzwischen nicht mehr länger zu übersehen. Zwar divergiert der Zeitpunkt der Wiederentdeckung von Fach zu Fach, so dass die einen noch eine Vernachlässigung beklagen, während die anderen bereits ein erhöhtes Interesse am Raum konstatieren. Doch in der Diagnose sind sich viele Fächer überraschend einig: » Der Raum kehrt zurück ! «2 Die Versammlung der » Raumwissenschaften «3 und » Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch «4 dokumentieren ebenso wie der vorliegende Band die breite Neuorientierung am Raum, an der nicht nur Geschichte, Philosophie, Geographie, Soziologie und Kulturwissenschaft, sondern auch Archäologie, Architektur, Biologie, Erziehungswissenschaft, Filmwissenschaft, Kunstgeschichte, Mathematik, Medienwissenschaft, Musikwissenschaft, Psychologie, Theologie und einige mehr beteiligt sind. Die Frage, die sich angesichts dieser Situation aufdrängt, ist die Frage nach den Gründen für das gesteigerte Interesse an der Kategorie des Raumes. Wie kommt es, dass sich derart viele Disziplinen dem Problem des Raumes zuwenden ? Als bloße Modewelle, deren Abklingen man abwarten kann, um anschließend wieder zur Tagesordnung überzugehen, lässt sich die verstärkte Orientierung am Raum nicht abtun. Eher haben 1

Jürgen Osterhammel, Die Wiederkehr des Raumes: Geopolitik, Geohistorie und historische Geographie, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 374 – ​397; Bernhard Waldenfels, Leibliches Wohnen im Raum, in: Gerhart Schröder, Helge Breuninger (Hg.), Kulturtheorien der Gegenwart, Aufsätze und Positionen, Frankfurt a. M./New York 2001; Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Raum – Macht – Wissen, Frankfurt a. M. 2002, S. 7 ff. 2 Doris Bachmann-Medick, Cutural Turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 287. 3 Stephan Günzel, Raumwissenschaften, Frankfurt am Main 2009. 4 Stephan Günzel, Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010.

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Raum, Zeit und soziale Ordnung

wir es offenbar mit einem weiteren Fall der allgemeinen Regel zu tun, nach der die Dinge immer dann eine verstärkte Aufmerksamkeit erfahren, wenn sie problematisch werden.5 Und problematisch ist der Raum insofern geworden, weil gesellschaftliche Globalisierungsprozesse, neue Informations-, Kommunikations- und Verkehrstechnologien traditionelle Raumvorstellungen zunehmend in Frage stellen. Da der Raum » nicht mehr das [ist], was er einmal war « spricht Marc Augé von einer » Krise im Denken des Raumes «6; Michel Foucault konstatiert, dass die » Beunruhigung heute ganz fundamental den Raum betrifft und weit weniger die Zeit «7 und Anthony Giddens geht davon aus, dass sich das » Gewebe der Raumerfahrung «8 insgesamt verändere. Die Reaktionen auf diese als Krise, Unruhe und Veränderung wahrgenommenen gesellschaftlichen Entwicklungen fallen dabei höchst konträr aus. Während eine erste Argumentationslinie daraus den Schluss zieht, dass der Raum insgesamt ausgedient habe, geht eine zweite von der Vermehrung der Raumbezüge und der Entstehung neuer Raumkonstellationen aus, die zu untersuchen als eine der dringlichsten Aufgaben der gegenwärtigen Soziologie erscheint. Dabei kann die These von der zunehmenden » Irrelevanz des Raums «9 innerhalb der Soziologie auf eine lange Tradition zurück blicken. Während die Thematisierung der Zeitlichkeit des Sozialen eine zentrale Rolle spielt, wurde die Räumlichkeit des Sozialen – von wenigen Ausnahmen abgesehen10 – nur selten thematisiert. In der auf sozialen Wandel, Entwicklung und Fortschritt ausgerichteten Soziologie kommt der Raum zumeist nur als zu überwindendes Hindernis vor. Ein entscheidender Wandel tritt hier erst mit dem Auftreten des postmodernen Denkens ein, das – im Gegensatz zu den klassischen soziologischen Theorien der Moderne – die Notwendigkeit räumlichen Denkens vehement einfordert. Die Postmoderne zeichnet sich insgesamt dadurch aus, die Moderne mit dem zu konfrontieren, was sie erfolgreich ausgeschlossen und überwunden geglaubt hatte: Neben der Skepsis gegenüber den Leitkategorien der Moderne – der Vernunft, der Aufklärung, der Rationalität – und einigen verfemten Autoren – Nietzsche, Heidegger, Schmitt – gehört dazu wohl auch der Raum. In der Re-Thematisie5 6 7 8 9 10

Vgl. Zygmunt Bauman, Vom Pilger zum Touristen, in: Das Argument 36 (1994), 3, S. 389 – ​ 407; hier S. 389. Marc Augé, Die Sinnkrise der Gegenwart, in: Andreas Kuhlmann (Hg.), Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt am Main 1994, S. 33 – ​47; hier S. 34. Michel Foucault, Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorien. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 317 – ​329; hier S. 319. Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1995, S. 175. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt am Main, S. 140. Dazu zählen vor allem Georg Simmel und Emile Durkheim, vgl. Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main 2006, S.  48 ff.

Raum, Zeit und soziale Ordnung 129

rung dieses in der Moderne nahezu tabuisierten Begriffs mag ein weiterer Grund für die breite Ablehnung postmodernen Denkens innerhalb der Soziologie zu finden sein. Der folgende Beitrag widmet sich in den ersten beiden Abschnitten dem Raumverständnis von Moderne und Postmoderne. Dabei wird gezeigt, dass die in der Moderne geltende Privilegierung der Zeit über den Raum in der Postmoderne durch eine Privilegierung des Raumes über die Zeit abgelöst wird. Die These des Beitrags lautet, dass dieser Perspektivenwechsel mit einer grundlegenden Veränderung der Raumauffassung zu tun hat, die eine Veränderung des Zeitbegriffs einschließt. Raum wird im postmodernen Kontext nicht mehr als der immer schon vorhandene Rahmen behandelt, in dem sich Soziales abspielt, sondern als ein erst durch das Handeln der Akteure hervorgebrachter Raum. Die Dominanz dieses Verständnisses von Raum birgt jedoch die Gefahr, Raum als beliebig formund veränderbar zu verstehen und seine das Handeln formenden und vorstrukturierenden Qualitäten zu ignorieren. Am Beispiel der immer auch räumlich fundierten sozialen Ordnung soll deshalb in einem dritten Teil das Zusammenspiel von Raum als Handlungsvoraussetzung und Raum als Handlungsergebnis plausibilisiert werden.

1

Raum und Zeit in der Moderne

Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass sich Vormoderne, Moderne und Postmoderne u. a. durch ihr je spezifisches Verhältnis zu Zeit und Raum unterscheiden lassen. Hinsichtlich des Übergangs von der Vormoderne zur Moderne stößt man innerhalb der Soziologie auf eine Vorstellung über das Verhältnis von Raum und Zeit, die sich etwa wie folgt zusammenfassen lässt: In der Vormoderne waren die Menschen an den jeweiligen Ort gebunden, an dem sie geboren waren und die wenigsten verließen diesen Ort Zeit ihres Lebens. Andere Orte kannten sie nur vom Hörensagen. Über weit entfernt liegende Orte wurden allenfalls Legenden und Mythen gesponnen. Nur wenn es sich nicht vermeiden ließ, gingen die Menschen auf Reisen, die sich allerdings äußerst beschwerlich gestalteten, denn es gab kaum befestigte Wege und nur bescheidene Hilfsmittel, die die Durchquerung des Raums erleichterten. Selbst die Reise per Pferd oder Kutsche war unbequem, mühsam und zeitintensiv. Der Raum hatte in dieser Zeit eine große Bedeutung, weil man an ihn gebunden war und ihn nur schwer durchqueren konnte. Er war der Widerstand, den es zu überwinden galt. Seit der Erfindung verschiedener technischer Geräte und Fortbewegungsmittel ist es jedoch leichter geworden den Raum zu durchstreifen, sich von einem Platz zum anderen zu bewegen, von hier nach dort zu gelangen. Doch nicht nur

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Raum, Zeit und soziale Ordnung

die Bewegung von einem Ort weg und zu einem anderen hin, sondern auch die durch Massenkommunikationsmittel erreichte Nähe zu Ereignissen und Geschehnissen an weit entfernt liegenden Orten erzeugten die Vorstellung, dass man sich schnell an jeden beliebigen Platz begeben kann. Mit Hilfe des Fernsehens und erst recht des Internets schrumpft die Welt zu einem » globalen Dorf « zusammen. Es scheint nur mehr Nähe, aber keine Ferne mehr zu geben. Aus diesem Vermögen, einerseits Anwesenheit an weit entfernt liegenden Orten zu ermöglichen und andererseits Anwesenheit für verschiedene Tätigkeiten überflüssig zu machen, wird der Schluss gezogen, dass der Raum nicht mehr länger wichtig sei. Bereits Martin Heidegger11 und Günter Anders12 haben die rasante Entwicklung der Transportund Kommunikationstechnologie zum Anlass genommen, von einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit des Raumes auszugehen. Die These von der Enträumlichung, der Ortlosigkeit, der Aufhebung und Vernichtung des Raums, die heute wieder so oft beschworen wird, ist insofern nicht erst mit der Erfindung des Internets aufgekommen. Informations- und Kommunikationstechnologien werden vielmehr generell als Mittel zur Überwindung raumzeitlicher Distanzen angesehen. Schon mit der Erfindung der Schrift werden die Speicherung und der Transport von Informationen möglich. Verbreitungsmedien wie etwa der Telegraf tragen zur schnelleren Überwindung des Raums bei, indem sie die Zeit verkürzen, in der eine Information von einem Ort zum anderen gelangen kann. Der Erfinder des elektromagnetischen Schreibtelegrafen Samuel Morse ging um 1837 davon aus, dass der Telegraf den Raum überwinden und dazu führen würde, die gesamten USA in » one neighborhood «13 zu verwandeln. Die These von der zunehmenden Bedeutungslosigkeit des Raums durch das Aufkommen von Transporttechniken und Medien findet sich auch in den geopolitischen Schriften Friedrich Ratzels und Carl Schmitts. Für Ratzel verdankt sich die Entwicklung des Verkehrs einem ständigen » Kampf mit dem Raum «14, einem Ringen mit den Elementen unter widrigsten Umständen. Für Schmitt sind es vor allem Flugzeug und Radio, die die » territoriale Souveränität des Staates « zunehmend untergraben, weil die Flugzeuge ungehindert über die Staaten hinwegfliegen und elektrische Wellen » ununterbrochen mit Sekundenschnelle durch den atmosphärischen Raum über den Erd-

11 Vgl. Martin Heidegger, Das Ding, in: ders., Vorträge und Aufätze, Pfullingen 1954, S. 157 – ​175. 12 Vgl. Günter Anders, Die Antiquiertheit von Zeit und Raum, in: ders.: Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde., München, 1980, S. 335 – ​354. 13 Vgl. Harald Wenzel, Die Abenteuer der Kommunikation. Echtzeitmassenmedien und der Handlungsraum der Hochmoderne, Velbrück 2001, S. 265. 14 Friedrich Ratzel, Politische Geographie, München 1923, S. 265.

Raum, Zeit und soziale Ordnung 131

ball kreisen «15. Aktuelle Positionen eines Jean Baudrillard16 oder Paul Virilio17 lesen sich wie ein spätes Echo auf die These von der Überwindung des Raums durch die Entwicklung der Transport- und Kommunikationstechnologien, wie sie vor allem in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder formuliert wird. Die Vorstellung von der zunehmenden » Irrelevanz des Raums «18 im Laufe des Modernisisierungsprozesses ist insofern jedoch keine reine Ver­fallsgeschichte, weil sich in den meisten Positionen der Relevanzverlust des Raums zugunsten der Zeit auswirkt. Schon in Heinrich Heines viel zitierter Beobachtung, die er angesichts der zunehmenden Verbreitung der Eisenbahn im Jahre 1843 notierte, stößt man auf diese Vorstellung: » Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unseren Vorstellungen ! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahn wird der Raum getötet, und es bleibt uns nur noch die Zeit übrig. «19 Dabei handelt es sich keineswegs um die isolierte Wahrnehmung eines Schriftstellers, die im engen Umfeld der Literatur verblieben und kaum Auswirkung auf andere Bereiche gehabt hätte. Ganz im Gegenteil handelt es sich bei der » Vernichtung des Raums durch die Zeit «20 um einen stetig wiederkehrender Topos nicht nur der Medien- und Kommunikationsforschung. Dass die Zeit im Lauf des Modernisierungsprozesses gegenüber dem Raum die Oberhand gewinnt, darf als Basisannahme der klassischen Modernisierungstheorien schlechthin gelten. Einschlägig ist dabei die Vorstellung, dass sich die Moderne vor allem durch eine enorme Beschleunigung sozialer Prozesse und Entwicklungen auszeichne: » Die Geburtsstunde der Moderne […] war die Emanzipation der Zeit vom Raum, die am Beginn des Beschleunigungsprozesses steht. «21 Raum ist aus dieser Perspektive ein Opfer der Beschleunigung, die als Grunderfahrung der Moderne gelten kann: Gesellschaft, 15 Carl Schmitt, Völkerrechtliche Großraumordnung. Mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, Ein Beitrag zum Reichbegriff im Völkerrecht, Berlin, Leipzig, Wien, 2. Ausgabe 1940, S. 67. 16 Vgl. Jean Baudrillard, Subjekt und Objekt: fraktal, Bern 1986. 17 Vgl. Paul Virilio/Sylvère Lotringer, Der reine Krieg, Berlin 1984. 18 Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt am Main 2003, S. 140. 19 Heinrich Heine, Lutetia, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 5, Hg. von K. Briegleb und K. H. Stahl, München 1974, S. 403. 20 Karl Marx/Friedrich Engels, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt am Main 1969, S. 438. 21 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Mo­derne, Frankfurt am Main 2005; vgl. dazu auch Bauman, Flüchtige Moderne, S. 110 ff. Schon bei Marshall McLuhan heißt es: » Heute ist die Beschleunigung fast total und macht so dem Raum als Hauptfaktor der sozialen Ordnung ein Ende. « (Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Basel 1995, S. 149)

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Geschichte, Kultur, ja das Leben und die Zeit selbst beschleunigen sich in atem­ beraubenden Tempo. Nichts bleibt wie es war – auch nicht der Raum.22 Der Raum, von dem in diesen Zusammenhängen die Rede ist, ist eindeutig der physische Raum, der an Bedeutung verliert, weil er der Eisenbahn, dem Auto­mobil und dem Flugzeug immer weniger Widerstand leistet. Die Dynamik der Moderne bezieht sich im wesentlichen auf die sich stetig steigernde Möglichkeit, immer größere Entfernungen in immer kürzerer Zeit überwinden zu können. Raum wird dabei zur disponiblen Größe, die dem » Tempo des modernen Lebens « (Georg Simmel) nichts mehr entgegenzusetzen hat. Die aktuelle Globalisierungserzählung knüpft insofern an die klassische Modernisierungserzählung an, weil hier mit dem nämlichen Verweis auf die Transport- und Informationstechnologien das Obsoletwerden des Raumes postuliert wird: » Ort, Raum und Entfernung werden zunehmend zu vernachlässigbaren Größen für wirtschaftliche Transaktionen. Der Begriff der Ortlosigkeit, Atopie, bezeichnet diesen Moment der Marktutopie, der in der Idee des utopischen das Nirgendwo zum Irgendwo steigert. Utopie bezeichnet einen Ort, den es nicht gibt. Atopie bezeichnet die Irrelevanz des Ortes, die globale Ortlosigkeit. Globale Infrarstruktursysteme der Telekommunikation und der Verkehrstelematik, global präsente Massenmedien und Transak­ tionsnetze bagatellisieren den Platz, von dem aus man kommuniziert, bagatellisieren also Örtlichkeit. «23 Die Vorstellung von einer sich aus allen Raumbezügen befreienden Ökonomie klingt dabei derart vertraut, dass sich bei der Lektüre zunächst Zustimmung einstellen mag. Denn auf den ersten Blick scheint sich die Ökonomie in der Tat immer mehr vom Raum zu emanzipieren. Die Mobilität des Kapitals bedarf nicht mehr der Straße, um sich fortzubewegen. Ein Mausklick genügt, um beliebig hohe Geldsummen um den Globus zu schicken. Wirtschaftsunternehmen scheinen dort hinzugehen, wo die Steuern am geringsten und die Löhne am niedrigsten sind. In der Ökonomie wird Raum traditionell als bloßes Hindernis behandelt, dessen Überwindung mit Kosten verbunden ist und deshalb so schnell wie möglich erfolgen soll. Globalisierung steht hier für die Erfolgserzählung, dass die Entfernung zwischen A und B längst in Sekundenschnelle überwunden werden kann. Deutlich wird, dass sich Raum so lange leicht verabschieden lässt, wie man ihn zu einer passiven Größe stilisiert. Die Wiederentdeckung des Raumes im Umfeld der Postmoderne geht mit der Veränderung eines solchen Raumverständnisses einher.

22 Vgl. dazu ausführlich Schroer, Räume. 23 Helmut Willke, Atopia, Frankfurt am Main 2001, S. 13.

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2

Raum und Zeit in der Postmoderne

Die These von der Wiederkehr des Raums ist wohl tatsächlich ein » Kind der Postmoderne «24: Frederic Jameson plädiert dafür, » die Frage des Raums zur wichtigsten Problemstellung «25 zu machen; für Marc Augé hat der Raum » heute die Oberhand gewonnen «26; nach Michel Foucault leben wir im » Zeitalter des Raumes […], im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten. «27 Und bei Bruno Latour28 heißt es kurz und bündig: » Der Raum hat die Zeit als prinzipielles Ordnungsprinzip abgelöst. «29 Ähnlich wie Foucault hat er dabei vor allem den Raum als » Ordnung der Gleichzeitigkeiten «30 im Blick. Die behauptete Neuausrichtung am Raum wird dabei nicht mit der These vom Ende der Zeit verbunden, sondern als Veränderung der Kräfteverhältnisse verstanden, die sich aktuell zugunsten des Raumes verschoben habe. In der soziokulturellen Evolution fehlt es nicht an Hinweisen darauf, dass Raum und Zeit als Leitkategorien nicht zum ersten Mal einander abgelöst haben. Vielmehr hat es den Anschein, als ob erst mit der Verbreitung der Landwirtschaft die Dominanz der Raumdimension in Jäger- und Sammlergesellschaften durch eine stärkere Ausrichtung an zeitlichen Rhythmen abgelöst worden sei. Mit dem Übergang zur Moderne wird die Orientierung an zeitlichen Parametern vollends vorherrschend.31 Im Zuge dieser Transformation werden fremde Völker nicht mehr länger in entfernten Räumen verortet, sondern in ein entwicklungsgeschichtliches Schema gepresst, das zwischen fortschrittlichen und primitiven Gesellschaften unterscheidet. Die fremden Völker werden auf einem Entwicklungsstand gesehen, den die westlichen Gesellschaften schon vor langer Zeit durchlaufen haben. Ein erneutes Umschlagen zugunsten der Raumkategorie im 24 Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 284. 25 Frederic Jameson, Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 45 – ​102; hier S. 96. 26 Augé, Sinnkrise, S. 34 27 Michel Foucault, Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorien, Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 317 – ​329; hier S. 317. 28 Zu den postmodernen Anteilen in Latours » nichtmodernem « Denken vgl. Markus Schroer, Vermischen, Vermitteln, Vernetzen. Bruno Latours Soziologie der Gemenge und Gemische im Kontext, in: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.): Bruno Latours Kollektive. Frankfurt/M. 2008, S. 361 – ​398. 29 Bruno Latour, Von der Realpolitik zur Dingpolitik, Berlin 2005, S. 74. 30 Latour, Realpolitik, S. 76. 31 Vgl. Rudolf Stichweh, in: ders., Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt am Main 2000, S. 188 ff., Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt am Main 2003, S. 131 f.

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Raum, Zeit und soziale Ordnung

postmodernen Denken steht mit der Disqualifizierung dieses Entwicklungsdenkens in unmittelbarem Zusammenhang. In der » Zeit des Raums «32 zu leben hat für Latour vor allem die Konsequenz, Geschichte nicht länger im Sinne eines stetigen Voran- oder Zurückschreitens zu verstehen: » Fortschritt und Rückschritt, Revolution und Ersetzung sind nicht länger Bestandteil unseres Betriebssystems. «33 Das heißt vor allem: » Wir können nichts und niemanden mehr loswerden. «34 Mit der Unmöglichkeit, etwas als nicht mehr zeitgemäß, archaisch, rückwärtsgewandt, irrational usw. zurückweisen zu können, beginnt für Latour jedoch nicht das Zeitalter eines bloßen Nebeneinanders, sondern die » Zeit des Zusammenlebens «35, die vor allem zu einer Konfrontation mit der Vergangenheit führt, die nur im modernen Denken als abgegolten und hinter uns liegend aufgefasst wird. Nach Latour ist die moderne Zeitlichkeit an ein Ende gekommen und muss durch eine neue Form der Zeitlichkeit ersetzt werden, wobei Zeitlichkeit nicht mehr meint als » eine bestimmte Ordnung, um Elemente zu verbinden. «36 Die neue Zeitlichkeit besteht aus dem Vermengen, Tauschen und Mischen der Zeit – wie Latour unter Rekurs auf Michel Serres betont.37 Die neue Dominanz des Raumes führt bei Latour also ausdrücklich nicht zur Überwindung der Zeitkategorie, sondern zur ihrer Neubestimmung. Das verhält sich in der Perspektive Michel Foucaults nicht anders. Trotz seiner These von der im 20. Jahrhundert gestiegenen Bedeutung des Raums will Foucault damit nicht sagen, dass die für das 19. Jahrhundert typische Vorherrschaft der Zeit und der Geschichte nunmehr durch eine Vorherrschaft des Raums abgelöst wird. Ihm geht 32 Latour, Realpolitik, S. 76. 33 Latour, Realpolitik, S. 76. 34 Latour, Realpolitik, S. 76. Einen ähnlichen Gedanken verfolgt Zygmunt Bauman, wenn er formuliert: » Die Postmoderne ist zur Ausschließung unfähig. « (Zygmunt Bauman, Mo­ derne und Ambivalenz, Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt am Main 1995, S. 311) 35 Latour, Realpolitik, S. 74. 36 Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer asymmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 1998, S. 102. Ähnlich heißt es bei Foucault: » Die Zeit erscheint wahrscheinlich nur noch als eine der möglichen Verteilungen der über den Raum verteilten Elemente. « (Foucault, Von anderen Räumen, S. 319) 37 Der Gedanke eines Nebeneinanders des Verschiedenen findet sich schon bei Arnold Gehlen: » Es ist ein sonderbarer, surrealistischer, doch nahe liegender Gedanke, daß dieser Erdball seinen Weg weiter stürmt, umkreist von den neuen Monden, nämlich den Paketen des giftigen Atommülls, die man in die Stratosphäre hinausschießt, während irgendwo immer noch die Indianer den Tanz des roten Felsenhahns aufführen. « (Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt am Main 2004, S. 307) Um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, am Ende doch die Position der Postmoderne bzw. Posthistoire zu teilen – Latour gehört zu den vielen postmodernen Theoretikern, die keine postmodernen Theoretiker sein wollen – setzt Latour jedoch hinzu: » Das bedeutet nicht, daß es letzten Endes keinen Fortschritt gibt oder kein Zeitpfeil sich mehr vorwärtsbewegen kann. […] Es gibt Fortschritt «. (Latour, Realpolitik, S. 77)

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es vielmehr um den Nachweis des Zusammenhangs von Raum und Zeit, der sich schon allein daraus ergibt, dass der Raum in der abendländischen Erfahrung seine eigene Geschichte hat. Die Berücksichtigung des Raums in der Geschichte führt nicht zur Leugnung, sondern zu einem anderen Verständnis von Zeit und zu einer anderen Form der Geschichtsschreibung. Statt der Vorstellung von einander ablösenden Epochen und Ereignissen, eines bloßen Hintereinanders also, bekommt man es mit der Vorstellung eines Gegenübers und Nebeneinanders von Elementen und Ereignissen zu tun: » Die Welt wird heute nicht so sehr als ein großes Lebe­wesen verstanden, das sich in der Zeit entwickelt, sondern als ein Netz, dessen Stränge sich kreuzen und Punkte verbinden. «38 Raum und Zeit bleiben insofern auch unter postmodernen Vorzeichen » untrennbar aneinander gebunden «, wie schon Paul Tillich39 konstatiert. Sie stehen aber » gleichzeitig in einem Spannungsverhältnis zueinander «40. Das Spannungsverhältnis ergibt sich aus den diametral entgegen gesetzten Konnotationen, die mit beiden Kategorien verbunden werden. Während Zeit traditionell für das Mobile, Dynamische und Progressive, für Veränderung, Entwicklung und Geschichte steht, steht Raum für Immobilität, Stagnation und das Reaktionäre, für Stillstand, Starre und Festigkeit.41 Und es ist diese Konnotation von Raum, die ihn innerhalb einer an sozialem Wandel, Fortschritt und Beschleunigung interessierten Wissenschaft wie der Soziologie von Anfang an nicht nur zu einer zu vernachlässigenden, sondern auch zu einer zu überwindenden Kategorie gemacht hat. Diese Vorstellung vom Raum bezieht sich aber noch leicht erkennbar allein auf den geographischen Raum. Raum aber geht in dieser Bestimmung so wenig auf wie die von Latour beschriebene moderne Zeitlichkeit für Zeit schlechthin stehen könnte. Spätestens mit Henri Lefebvre hat sich die Position durchgesetzt, dass es sich bei Raum nicht um einen immer schon vorhandenen, natürlich gegebenen Raum handelt, sondern um einen sozial hervorgebrachten Raum: » (Social) space is a (social) product. «42 Raum ist für ihn gerade nicht jenes Gefäß bzw. jener Container, in dem sich das gesellschaftliche Leben ereignet, sondern selbst ein Produkt gesellschaftlicher Prozesse. Der Gedanke von der Herstellung des Raums durch die Aktivitäten von Akteuren hat die soziologische Beschäftigung mit dem Raum enorm beflügelt. Denn mit der Verabschiedung eines immer schon vorhandenen Raums im Sinne eines Rahmens, in dem sich Handlungen und Kommunikationen abspielen, ist der Weg bereitet für das 38 Foucault, Von anderen Räumen, S. 317. 39 Paul Tillich, Der Widerstreit von Raum und Zeit, in: ders., Gesammelte Werke Bd. 6, 1963, 2. Aufl., S. 140 – ​148; hier S. 140. 40 Tillich, Widerstreit, S. 140. 41 Michel Foucault, Questions on Geography, in: ders.: Power/Knowledge. Selected Interviews and Other Writings 1972 – ​1977, New York 1980, S. 63 – ​7 7; hier S. 70. 42 Henri Lefebvre, The Production of Space, Oxford/Cambridge 1991, S. 30.

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Raum, Zeit und soziale Ordnung

Interesse an den sozialen und kulturellen Praktiken, durch die Räume erst hervorgebracht werden. Eine zentrale Motivation für die Installation dieses neuen Begriff des Raums ist die Möglichkeit von Veränderung, die er verspricht: » Wesentlich ist: Wenn wir annehmen, dass der Raum gesellschaftlich erschaffen wird, dann erkennen wir, dass wir ihn ändern können. «43 Und wenn wir den Raum verändern können, so die Annahme, dann können wir auch die Gesellschaft verändern. Über den Umweg der Raumperspektive gelangt so die Vorstellung von Gesellschaftsveränderung zurück in die Sozialwissenschaften. Aus soziologischer Sicht bleibt es allerdings geboten, über die zum Teil schwärmerisch vorgetragene Fähigkeit, Raum hervorbringen und verändern zu können, hinaus zu fragen, wer in der Lage ist Räume hervorzubringen und wer nicht. In einer allein auf den kreativen Akteur setzenden Perspektive droht die Gefahr, den Blick auf die bereits bestehenden und nicht ohne weiteres veränderbaren Räume zu vernachlässigen. Denn es gibt immer die einen, die Raum schaffen und die anderen, die mit den so und nicht anders geschaffenen Räumen zunächst einmal in der Weise umgehen müssen, wie er gedacht war und auch erbaut wurde. So wie man mit den eigenen Handlungen und Entscheidungen Tatsachen schafft, die nicht ohne weiteres revidierbar sind, so sind auch die einmal hervorgebrachten und in Material gegossenen Formen nicht beliebig veränderbar, sondern erweisen sich gerade im Hinblick auf ihre Beharrungskräfte als sozial bedeutsam.

3

Raum, Ordnung und soziale Praxis

Die räumliche Ordnung des Sozialen entsteht in der alltäglichen Praxis, in der Räume konstituiert werden, in denen bestimmte soziale und kulturelle Praktiken verstärkt stattfinden. Die Räume werden dabei so gestaltet, dass sie bestimmte Praktiken zulassen und erleichtern, andere dagegen verhindern oder erschweren. Für welche Praktiken sie vorgesehen sind und für welche nicht, soll man ihnen ansehen können. Dafür sorgen nicht nur Architekten, Innenarchitekten und Designer als Experten für Raumgestaltung, sondern jedes einzelne, sich wohnend einrichtende Individuum. Die sorgfältig auf ihre Funktion hin gestalteten Räume erinnern uns daran, wo wir sind und was zu tun ist. Sie ermöglichen Routi­nen und zähmen Kontingenz, denn zumindest vorübergehend können Räume den Eindruck erwecken, dass eben nicht alles ganz anders sein könnte. Raum steht 43 Edward Soja, Vom » Zeitgeist « zum » Raumgeist «. New Twist on the Spatial Turn, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 241 – ​262; hier S. 155.

Raum, Zeit und soziale Ordnung 137

gerade dafür den von Durkheim bis Foucault betonten Gedanken, dass wir immer schon in eine bereits vor uns bestehende Wirklichkeit hineingeboren werden, uns also eben nicht als Demiurgen jeden Tag aufs Neue an die Erschaffung einer neuen Welt machen. Räume kanalisieren Handlungsmöglichkeiten, sorgen für Komplexitätsreduktion und übernehmen damit eine Entlastungsfunktion. Von Maurice Halbwachs über Erving Goffman und Arnold Gehlen bis zu Michel Foucault und Bruno Latour reicht die Anzahl derer, die davon ausgehen, dass Räume nicht zur beliebigen Nutzung freigegeben sind. Sie alle gehen vielmehr davon aus, dass Räumen ein Handlungsprogramm eingeschrieben ist, das bei Gehlen unter dem Namen der » Sollsuggestion « firmiert: » In einem hochstilisierten Barocksaal bewegt sich niemand unbefangen; seinerzeit war dieser Stil auf ebenso barocke Verhaltensformen abgestimmt, die jetzt verschwunden sind, aber die Sollsuggestion ist geblieben – sie setzt sich in Gehemmtheit um, die modernen Besucher stecken die Hände in die Hosentaschen. «44 Einig sind sich alle genannten Ansätze in der Berücksichtigung der Materialität des Sozialen, die im Zuge des spatial turn an Bedeutung gewinnt und eine Verabschiedung radikalkonstruktivistischer Theoreme impliziert.45 Speziell mit der sozialen Morphologie von Maurice Halbwachs46 kann die funktionale Differenzierung auch als räumlich differenzierte Ordnung gelesen werden, die den verschiedenen sozialen Feldern entsprechende Räume zuweist, die dem jeweiligen Feld zur Sichtbarkeit verhelfen: So stehen das Parlament und die Wahlkabine für das politische Feld, die Fabrik und das Büro für das ökonomische Feld, die Kirche und das Kloster für das Feld der Religion, der Gerichtssaal und das Gefängnis für das Feld des Rechts, die Schule und das Familienhaus für das Feld der Erziehung, das Labor und die Hörsäle für das wissenschaftliche Feld, der Konzertsaal und die Museen für das Feld der Kunst, das Krankenhaus und die Arztpraxis für das medizinische Feld, das Stadion und die Rennbahnen für das Feld

44 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt am Main 2004, S. 26. 45 Auf vehementen Widerstand stößt eine solche Ausrichtung bei einzelnen Vertretern der Geographie. In bemerkenswert scharfem Ton wird namentlich bei Gerhard Hard (Der Spatial Turn, von der Geographie her beobachtet, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 263 – ​315) jegliche Thematisierung von Raum und Materialität als eine fatale Verirrung des Denkens angeprangert, die mit den Einsichten der Luhmannschen Systemtheorie – die für den Geographen so etwas wie den unhintergehbaren Abschluss von Theorieentwicklung überhaupt darzustellen scheint – nicht zu vereinbaren ist und deshalb eigentlich gar nicht geben dürfte. Wer sich dem ketzerischen Tun dennoch widmet, hat mit harschen Urteilen zu rechnen. 46 Maurice Halbwachs, Soziale Morphologie, Konstanz 2002.

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Raum, Zeit und soziale Ordnung

des Sports usw.47 Womit wir es zu tun haben ist die Spezialisierung bestimmter Räume für bestimmte Praktiken, die primär in diesen Räumen stattfinden. Wahlen, Einkäufe, Operationen, Rechtsprechung, Forschung usw. finden eben nicht an beliebigen Orten und Räumen statt, sondern an den für diese jeweiligen Tätigkeiten spezifisch ausgestatteten und eingerichteten Orten und Räumen. Ähnlich verhält es sich mit den Alltagsräumen. Die räumlich-funktionale Logik ist auch hier anzutreffen: Die Unterteilung von Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Arbeits-, Kinder-, Bade- und Bügelzimmer, Waschraum, Sauna, Keller und Ga­rage usw. weist spezifischen Praktiken einen speziell dafür eingerichteten Raum zu und lokalisiert die Bewohner eines Hauses in den ihnen zugewiesenen Räumen. Und nicht nur das: Vielmehr tragen die den Individuen zugewiesenen Räume zur Konstituierung eines männlichen, weiblichen und kindlichen Selbst ebenso bei wie etwa das Krankenhaus, das Gefängnis oder die Schule Patienten, Delinquenten und Schüler durch ihr je spezifisches Arrangements von Körpern, Dingen und Räumen erst produzieren. Mit anderen Worten: Außerhalb der Institution Krankenhaus ist der Patient nicht in dieser ausschließlichen und ausdrücklichen Weise ein Patient, außerhalb der Institution Gefängnis ein Delinquent nicht in dieser ausschließlichen und ausdrücklichen Weise ein Delinquent und außerhalb der Institution Schule ein Schüler nicht in dieser ausschließlichen und ausdrücklichen Weise ein Schüler. Das räumliche Arrangement der einzelnen Institutionen sorgt einerseits für die Engführung von Interaktionen und hilft damit Kontingenz zu bewältigen, schließt andererseits durch die Zementierung einer bestimmen Ordnung aber auch mögliche andere Ordnungen aus. Die so gedachte räumliche Ordnung ist wie alle Ordnungen natürlich keine ontologische, keine ein für alle mal gegebene Ordnung, sondern eine, die durch Akteure und ihre Bewegungsabläufe immer wieder neu hergestellt werden muss: » Es sind bestimmte Orte und Objekte, die im Mittelpunkt der dauerhaftesten Wiederholungen stehen. So finden die meisten der repetitiven Strukturen ökonomischer Organisationen in bestimmten Fabriken, Bürogebäuden, Lastwagen usw. statt, und der überwiegende Teil desjenigen repetitiven Verhaltens, aus dem Familienstrukturen entstehen folgt der Tatsache, daß bestimmte Leute tagtäglich die gleichen Räumlichkeiten bewohnen, daß die selben Frauen und Männer in den selben Betten schlafen, dieselben Körper berühren, daß dieselben Kinder geküsst, gefüttert und auch getadelt werden. Der › Staat ‹ existiert aufgrund der Wirksamkeit von Gerichtssälen, in denen immer wieder Richter sitzen, aufgrund der Existenz von Polizeipräsidien, von denen aus die Polizisten immer wieder Streife fahren, aufgrund von Kasernen, in denen immer wieder Soldaten untergebracht werden, und aufgrund von Versammlungs47 Vgl. dazu Markus Schroer, Raum und Wissen, in: Anina Engelhard/Laura Kajetzke (Hg.): Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme. Bielefeld 2010, S. 281 – ​291.

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sälen, in denen Politiker immer wieder zusammenkommen. «48 Damit soll keinem Raumdeterminismus das Wort geredet werden, der soziale Praktiken alternativlos einen bestimmten Ort zuweist, so als ob sie nicht auch außerhalb der institutionellen Vorgaben stattfinden könnten.49 Die Behauptung einer immer auch räumlich fundierten Sozialordnung provoziert im Gegenteil den berechtigten Hinweis auf die Dynamik postmoderner Gesellschaften, die gerade für die Auflösung einer so verstandenen Ordnung steht. Politik wird eben nicht nur im Parlament gemacht, sondern etwa auch am Familientisch. Sport wird eben nicht nur an den eigens für ihn errichteten Arenen, Stadien und Hallen betrieben, sondern auch außerhalb dieser Orte: Golfen, Fußball spielen, Laufen zum Beispiel. Auffällig aber ist, dass die Tätigkeiten in diesem Fall auch sogleich andere Bezeichnungen oder bestimmte Zusätze erhalten: Golfen, das nicht auf dem gepflegten » Greenfield «, sondern in den Brachen schrumpfender Städte gespielt wird, heißt nicht mehr einfach nur Golfen, sondern » Cross-Golfen «, Fußball spielen außerhalb der Stadien und Plätze wird als » Bolzen « verstanden, Laufen außerhalb der Stadien als » Joggen « bezeichnet. Auch die Politik, die nicht an den ihr zugewiesenen Plätzen stattfindet, wird als » Mikropolitik « oder » Subpolitik « beschrieben. Gerade solche Begriffsvorschläge leben davon, nicht institutionalisierte Formen von Praktiken zu betonen. Was damit in den Blick gerät, ist die subversive Umwidmung fest stehender Raumnutzungen und der Aufbau von Gegenräumen. Daraus ist aber nicht der Schluss zu ziehen, dass Praktiken an willkürlich gewählten Orten ausgeübt werden können. Dies zeigt sich allein schon daran, dass eine allzu krasse und wiederholte Zuwiderhandlung gegen die sozialräumliche Ordnung – sagen wir: Sexuelle Handlungen im öffentlichen Park statt in privaten Räumen – dem zum Delinquenten gemachten Akteur einen Aufenthalt in eigens für ihn errichteten Räumen einbringen kann – in Gefängnissen und Psychiatrien beispielsweise. Zwar stehen auch hier die Abweichungsbemühungen der Individuen nicht still. Mit Erving Goffman50 und Michel de Certeau51 müssen auch totale Institutionen und Überwachungsapparaturen nicht als derart lückenlos gedacht werden, dass keine subversiven Raumnutzungen und widerständige Taktiken mehr möglich wären. Aber 48 Randall Collins, Über die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie, in: Hans-Peter Müller/Steffen Sigmund (Hg.), Zeitgenössische amerikanische Soziologie, Opladen 2000, S. 99 – ​134; S. 111. 49 Allerdings gilt es auch hier den Hinweis von Bruno Latour zu beherzigen: Nur » weil kein materielles Element des Ortes eine bestimmte Handlung determiniert, kann noch lange nicht der Schluß gezogen werden, daß diese Elemente nichts tun. « (Latour, 2007, S. 336) 50 Erving Goffman, Asyle. Über die Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1973. 51 Vgl. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988.

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wenn bestimmte Praktiken nicht an bestimmte dafür vorgesehene Räume gebunden wären, wäre die Zuwiderhandlung keine Zuwiderhandlung. Zudem sollten wir uns nicht der Illusion hingeben, dass Individuen permanent darauf aus sind, bestehende Ordnungen in Frage zu stellen oder zerstören zu wollen. Es ist nicht zuletzt das Bedürfnis nach Routinen, das zur Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung räumlicher Ordnungen führt. Nur ist diese durch Routinen unterstütze Herstellung räumlicher Ordnungen nicht mit Passivität oder Erstarrung gleichzusetzen, sondern vielmehr als durchaus aktiver Vorgang zu denken. Denn » Alltagshandeln ist weit mehr als die noch so gekonnte Reproduktion des vorherrschenden Musters technischer Rationalität. Es ist ein Handeln, das sich seine Spielräume selbst miterschafft. «52 Es ist aber eben auch kein Handeln, das sich die Bedingungen, unter denen es stattfindet, selbst schafft. So wenig plausibel die Vorstellung einer bloßen Reproduktion des Bestehenden durch die Handelnden ist, so wenig vermag die Vorstellung zu überzeugen, dass wir es grundsätzlich mit Regeln stets missachtenden, Rahmen generell sprengenden und Zwänge souverän ignorierenden Akteuren zu tun hätten, die ihre Umgebung grundsätzlich kreativ zu gestalten in der Lage sind und dabei auf keine bereits bestehenden Strukturen Rücksicht zu nehmen hätten. Gegenüber der einseitigen Betonung der Verflüssigung des Sozialen gilt es an folgende Einsicht Durkheims zu erinnern: » Leben läßt sich nicht durch reine Beweglichkeit definieren. Vielmehr hat die Realität auch einen statischen Aspekt. Nach der Doktrin, mit der wir uns hier befassen, ist dieser statische Aspekt die Materie. […] Ein Werden, das gleichsam einer überstürzten Flucht gliche, das keinen Halt und keine Ruhepause kennte und nie zu einem festen Punkt gelangte, wäre nichts als vergebliche Geschäftigkeit. «53 Gerade vor dem Hintergrund einer als flüchtig, flüssig und ungewiss erlebten Gegenwart ist die Suche nach Stabilität, Festigkeit und Gewissheit ernst zu nehmen, die das Handeln der Individuen bestimmt. Räumliche Strukturen und Ordnungen sind ein Ergebnis dieser Suche.

Literatur Anders, Günter, Die Antiquiertheit von Zeit und Raum, in: ders.: Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde., München, 1980, S. 335 – ​354. Augé, Marc, Die Sinnkrise der Gegenwart, in: Andreas Kuhlmann (Hg.), Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt am Main 1994, S. 33 – ​47.

52 Karl H. Hörning, Die Experten des Alltags, Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Weilerswist 2001, S. 64. 53 Emile Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, Frankfurt am Main 1987, S. 158.

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Bachmann-Medick, Doris, Cultural turns. Neuorientierung in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg. Baudrillard, Jean, Subjekt und Objekt: fraktal, Bern 1986. Bauman, Zygmunt, Vom Pilger zum Touristen, in: Das Argument 36 (1994), 3, S. 389 – ​ 407. Bauman, Zygmunt, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt am Main 1995. Bauman, Zygmunt, Flüchtige Moderne, Frankfurt am Main 2003. Collins, Randall, Über die mikrosozialen Grundlagen der Makrosoziologie, in: HansPeter Müller/Steffen Sigmund (Hg.), Zeitgenössische amerikanische Soziologie, Opladen 2000, S. 99 – ​134. de Certeau, Michel, Kunst des Handelns, Berlin 1988. Durkheim, Emile, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, Frankfurt am Main 1987. Foucault, Michel, Questions on Geography, in: ders.: Power/Knowledge. Selected Interviews and Other Writings 1972 – ​1977, New York 1980, S. 63 – ​7 7. Foucault, Michel, Von anderen Räumen, in: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorien. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 317 – ​329. Gehlen, Arnold, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt am Main 2004. Giddens, Anthony, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1995. Goffman, Erving, Asyle. Über die Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt am Main 1973. Günzel, Stephan (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010. Günzel, Stephan (Hg.), Raumwissenschaften, Frankfurt am Main 2009. Habermas, Jürgen, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt am Main 1995. Halbwachs, Maurice, Soziale Morphologie, Konstanz 2002. Hard, Gerhard, Der Spatial Turn, von der Geographie her beobachtet, in: Jörg Döring/ Tristan Thielmann (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 263 – ​315. Heidegger, Martin, Das Ding, in: ders., Vorträge und Aufätze, Pfullingen 1954, S. 157 – ​ 175. Heine, Heinrich, Lutetia, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd. 5, Hg. von K. Briegleb und K. H. Stahl, München 1974. Hörning, Karl H., Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens, Velbrück 2001. Jameson, Frederic, Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 45 – ​102. Latour, Bruno, Wir sind nie modern gewesen, Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Reinbek bei Hamburg 1998. Latour, Bruno, Von der Realpolitik zur Dingpolitik, Berlin 2005. Latour, Bruno, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, Frankfurt am Main 2007. Lefebvre, Henri, The Production of Space, Oxford/Cambridge 1991.

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Raum, Zeit und soziale Ordnung

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Raum und Kultur

Nicht nur um Raum aus kultursoziologischer Perspektive, sondern um den Zusammenhang zwischen Kultur und Raum aus kultursoziologischer Per­spektive soll es im Folgenden gehen. In welch engem Verhältnis sie stehen, lässt sich schon der Begriffsgeschichte entnehmen, die darüber informiert, dass sowohl Raum als auch Kultur auf menschliche Tätigkeiten zurückzuführen sind. Damit eröffnet sich ein weites Feld kultur- und raumsoziologischer Forschung, die im Zuge des spatial turn (vgl. Schlögel 2003, Bachmann-Medick 2006, Döring/Thielmann 2008, Schroer 2012) einen neuen Schub erhalten hat. Die Sondierung des Theoriefeldes fördert ein reichhaltiges Angebot an Ansätzen hervor, die aus kultur­ soziologischer und kulturphilosophischer Sicht Raum thematisieren. Das Angebot reicht von Emile Durkheim, Georg Simmel und Norbert Elias über Henri Lefebvre, Pierre Bourdieu und Michel Foucault bis zu Michel de Certeau, Gilles Deleuze/Felix Guattari und Bruno Latour (vgl. Schroer 2006, 2008a, 2008b, Kajetzke/Schroer 2010, 2012, 2015). Aber nicht die Vorstellung dieser einschlägigen theoretischen Bezüge, sondern die thematischen bzw. gegenstandsbezogenen Berührungspunkte zwischen Kultur und Raum, kultureller und räumlicher Praxis, steht im Folgenden auf dem Programm. Dabei wird deutlich werden, dass Kultur und Raum, kulturelle und räumliche Praxis unmittelbar aufeinander verweisen und kaum voneinander zu trennen sind.

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Bauen, Wohnen und Gestalten – von der Kultur des gebauten Raumes zu den Räumen der Kultur

Schon die wörtliche Bedeutung von Kultur verweist von vornherein unmissverständlich auf Raum. Der Ursprung des modernen Begriffs Kultur ist das lateinische Wort Cultura = Ackerbau, Pflege und das dazugehörige Verb lautet colere = © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Schroer, Räume der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2_7

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Raum und Kultur

bebauen, bestellen, bewohnen, pflegen. Kultur meint also die Bestellung von Land, beginnt mit der Bearbeitung des Bodens. Wer sät, pflanzt und erntet gewinnt der unbearbeitet vorhandenen Natur folglich etwas ab, was vorher nicht existierte. Aus dem Gegebenen = Natur wird so etwas Gemachtes = Kultur. Für die wörtliche Bedeutung von » Raum « und » räumen « finden sich im Grimmschen Wörterbuch (Online-Version) folgende Einträge: » […] so weist alles dieses auf raum als einen uralten ausdruck der ansiedler hin, der zunächst die handlung des rodens und frei machens einer wildnis für einen siedelplatz bezeichnete […], dann den so gewonnenen siedelplatz selbst «; » räumen: die ursprüngliche bedeutung des verbums, einen raum, d. h. eine lichtung im walde schaffen, behufs urbarmachung oder ansiedelung «. Auf diese Bedeutungsherkunft von Raum bauen vor allem Martin Heidegger (1954a) und Otto Friedrich Bollnow (1989) ihr Raumverständnis und ihre Raumanalysen auf: » Raum in diesem ursprünglichen Sinn ist also nicht an sich schon vorhanden, sondern wird erst durch eine menschliche Tätigkeit gewonnen, indem man ihn durch Rodung der Wildnis (die also nicht Raum ist) abgewinnt. « (Bollnow 1989, 33) Damit ist nicht gesagt, dass die Natur ohne die Einwirkung des Menschen immer dieselbe bleiben würde. Sie verändert sich selbstverständlich auch ohne dessen Zutun. Aber die menschliche Evolution beginnt damit, dass sich die menschliche Spezies in der Welt einrichtet und sich ihren eigenen Lebensraum gestaltet. Die Etymologie beider Wörter weist darauf hin, dass Kultur und Raum das Ergebnis menschlicher Tätigkeiten sind. Demnach schafft das Räumen die Grundlage für Kultur, da es erst den Platz für das Kultivieren bereit stellt, während durch das Kultivieren neue Räume entstehen: Von Ackerflächen, Siedlungen und Städten bis hin zu den modernen Aufführungs- und Ausstellungsräumen für kulturelle Artefakte, Erzeugnisse und Praktiken. Früh lässt sich dabei die Aufteilung der Räume beobachten, denen bestimmte Tätigkeiten zugewiesen werden. Dabei ist es zunächst die Aufteilung des Lebensraumes in den » Jagdraum « einerseits und den » Verdauungs- und Fortpflanzungsraum (die Hütte) « (Flusser 2006: 279) andererseits. Am Beginn der Menschheitsgeschichte steht also die Grenzziehung zwischen Innen- und Außenraum, die zugleich als Geburtsstunde der Architektur gelten kann, die als » Raum-Macht « und » Territorialisierungsstrategie « (Böhme 2009, 202) zu verstehen ist. Während dem Außenraum die Grundlagen für die Ernährung abgerungen werden, handelt es sich beim Innenraum insbesondere um Schutzräume. Dieser Schutz wird benötigt, » weil der Mensch zunächst einmal den Bedürfnissen seines Organismus genüge tun « (Malinowski 2005, 76) muss: » Zur Ernährung und Behausung, zur Kleidung und zum Schutz vor Kälte, Wind und Wetter muß er Einrichtungen treffen und Tätigkeit entfalten. Er muß sich selber schützen und diesen Schutz gegen äußere physische, menschliche und tierische Feinde und Gefahren organisieren. « (Ebd., 76) Das Errichten einer Wohn-

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stätte und die Erfindung von Kleidung stehen deshalb am Anfang der kulturellen Entwicklung: » Vielleicht war die Erfindung des Wohnens (sowie der Kleidung) die erste Raumnahme überhaupt; und zuletzt geht es um die Einbettung des Menschen in die Erde, auf der er, anders als das Tier, ein peregrinus, ein Unbehauster ist. « (Böhme 2009, 202) Über die Funktion des Schutzes hinaus spielen die ersten Behausungen auch eine elementare Rolle für die Stabilisierung von Mitgliedschaft zu einem sozialen Verband: » Eine Lagerstatt hat bereits einen urigen Aufforderungscharakter […] Eine Feuerstätte verweist auf ihre Funktion; ein von mehreren Lebewesen, hier Menschen, offenbar bewohnter Raum verweist auf eben diesen Zusammenhang. Und dieser Zusammenhang als ein Ganzes, ein differenziertes Ganzes, aber doch ein Totales wird sich in der Psyche der Beteiligten einnisten. Das ständige Erleben der Gesamteindrücke, die durch die Beteiligten selbst produziert werden, wird sich in ihnen repräsentieren. Diese Repräsentation wird nicht nur beinhalten, daß der vertraute Raum mit seinem ganzen Anmutungscharakter als Hort der Geborgenheit, des Schutzes, der Sicherheit und der Wärme empfunden wird, sondern auch in seinem imperativischen Charakter: das in diesen Raum eintretende Gruppenmitglied erfährt durch den Raum, daß es Mitglied ist; es wird in diesem bestätigt und weiter geprägt, und gleichzeitig resultieren aus dieser Aufforderung auch alle jene Anweisungen, die sich aus dem Gruppenleben entwickelt haben und sozusagen im Raum sich sicht- und fühlbar eingenistet haben « (Claessens 1980, 71). Zu den ursprünglichen Grenzziehungen und Raumaufteilungen kommen im Laufe der kulturellen Evolution weitere hinzu. Die moderne Kultur ist von der Aufteilung in Arbeits-, Freizeit- und Wohnräume geprägt. Dabei ist es ist kein Zufall, dass parallel dazu von Arbeits-, Freizeit- und Wohnkultur die Rede ist, denn: » Kultur ist ein verräumlichender Akt, gleichgültig ob es sich um Verstetigung durch Sesshaftigkeit, Eigentumsbildung, Wohnen oder um Nomadisierung, Migration und Obdachlosigkeit handelt. « (Böhme 2009, 202) Im Zuge des Modernisierungsprozesses vollzieht sich aber nicht nur eine Ausdifferenzierung von Wertsphären (Weber) oder Sinnwelten (Schütz), sondern auch von Räumen und Räumlichkeiten, die den Individuen dabei helfen, sich zu orientieren und situationsadäquat verhalten zu können (vgl. Goffman 1983, 2009). Die soziale Ordnung geht deshalb stets mit einer räumlichen Ordnung einher. Erst diese Kombination vermag den Bedarf an Verhaltenssicherheit zu erzeugen, den Goffman immer wieder thematisiert. Auch die Konstitution und Reproduktion der Familie wird nicht zuletzt durch die räumliche Zentrierung im Haus sicher gestellt, die der Religion durch Kirche und Kloster, die der Politik durch Agora oder Parlament, die der Wirtschaft durch Markt und Börse, die des Rechts durch die Gerichte. Erst der Bau spezifischer Gebäude ermöglicht die Konzentration bestimmter sozialer und kultureller Praktiken an einem Ort: » Nur innerhalb der

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Mauern eines Klosters läßt sich gewöhnlicher Lebenssinn zur Unwahrscheinlichkeit asketischer Transzendental-Virtuosität steigern. Nur innerhalb der Wände eines Klassenzimmers läßt sich die Unwahrscheinlichkeit disziplinierter und spezialisierter instruktiver Interaktionen stabilisieren. « (Willke 1996: 60) Und diese Beispiele ließen sich beliebig erweitern, wenn man an Büros, Clubs, Universitäten, Kliniken, Gefängnisse, Fabriken, Flughäfen, Kasernen usw. denkt. Die zunehmende Aufteilung sozialer und kultureller Praktiken in eigens dafür errich­ tete Räume ist ein wesentliches Kennzeichen der Ordnung der Moderne, die in der Postmoderne zwar auch unterlaufen (vgl. Schroer 2014, 18 ff.), nicht aber außer Kraft gesetzt wird. Vielmehr bringen die offiziellen Räume immer auch ihre subversiven Ableger hervor, wird den vorgeordneten Ordnungen immer auch widersprochen und zuwidergehandelt, was Michel Foucault (2006) mit dem Terminus der » Heteretopologie « zu fassen versucht hat (vgl. Schroer 2008a). Die Ordnung von exklusiven Räumen findet sich gerade auch in der Kultur im engeren Sinne. Die bildende Kunst, Musik, Literatur, Tanz, Theater und Film weisen vielfältige Beziehungen zum Raum auf (vgl. Ott 2010). In der bildenden Kunst schafft der Künstler einen Bildraum, Musik erzeugt einen Ton- und Klangraum, die Literatur lebt von der graphisch-räumlichen Textgestaltung, produziert poetische Räume und Schrifträume (vgl. Bachelard 1960), jeder Tanz » formt den Raum zur Gestalt « (Bense 2013), das Theaterspiel lässt einen spezifischen Raum zwischen Agierenden, Zuschauern und Artefakten entstehen und der Film lässt sich als » Kunst der Raumorganisation « (Rohmer 2006) begreifen. Offenbar bringen alle kulturellen Praktiken bestimmte Räume hervor. Insofern gilt: Doing culture bedeutet immer auch doing space ! Über diesen Zusammenhang hinaus werden für die jeweilige Kunstform adäquate Aufführungs-, Vorführungs- und Ausstellungsräume geschaffen, in denen das Publikum das Kunstwerk, das Konzert, den Film oder das Stück rezipieren können soll: Galerien, Museen, Konzertsäle, Kinos und Bühnen. Jede Form von Kulturinszenierung ist insofern angewiesen auf bestimmte Räume, die jedoch nicht nur als (neutraler) Rahmen der Dargebotenen fungieren, sondern selbst Bestandteil der Aufführungspraxis sind, von denen bestimmte Effekte ausgehen (durch das Bühnenbild, die Choreografie usw.). Außerdem wird Raum in allen Kunstformen auch selbst zum Thema gemacht: Von » Rauminstallationen « über den » Raumfilm « (Eisenstein 1988) bis zu den » Raumkompositionen « eines Karlheinz Stockhausen (vgl. Ott 2010: 73) reichen hier die Beispiele. Auch in diesem Feld gibt es das Unterlaufen der offiziellen und etablierten Räume für die Darstellung und Aufführung kultureller Erzeugnisse durch » Street-Art «, Opernaufführungen auf subkulturellen Hinterhofbühnen usw. Wie in den anderen Fällen auch wird damit die etablierte kulturelle Raumordnung jedoch nicht radikal aufgehoben, sondern eher ergänzt und überlagert.

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Urbane Räume und städtische Kultur

Kulturen bringen Städte hervor und Städte Kultur. Gelten die ersten Städte als Wiege der Kultur, so scheint sich in modernen und postmodernen Gesellschaften Kultur nahezu ausschließlich in Städten abzuspielen. Alle Metropolen auf dieser Erde zeichnen sich dabei dadurch aus, dass in ihnen sowohl die Hochkultur als auch die Alltagskultur ihren Ort haben (vgl. Zukin 1998). Spätestens seit der Globalisierung, die für einen weltweiten Austausch und Kontakt zwischen Kulturen über Grenzen hinweg steht, befinden sich Städte in einem internationalen Konkurrenzkampf, einem globalen Kampf um Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit (vgl. Schroer 2013). Ein bevorzugtes Mittel, um die Aufmerksamkeit von Investoren, Touristen und Kreativen auf sich zu lenken, besteht in der Errichtung spektakulärer Gebäude von Stararchitekten, die als wahre Prestigeobjekte und Imagelieferanten weltweit Publikum anlocken sollen. Dabei handelt es sich in vielen Fällen um Bauten für kulturelle Zwecke, Events und Aufführungen; das Guggenheim-Museum in Bilbao von Frank Gehry und die Elbphilarmonie in Hamburg von Jacques Herzog und Pierre de Meuron beispielsweise. Neben diesen der Hochkultur gewidmeten Räumen bietet die Stadt als » Asphaltkultur « (Bette 1997) jedoch auch zahlreiche Möglichkeiten für die Ausübung alltagskultureller, politischer und sportlicher Aktivitäten im öffentlichen Raum. Parkour steht etwa für eine neue Trendsportart, bei der sich ein Parkourläufer bzw. Traceur entgegen der architektonischen Vorgaben durch den urbanen Raum bewegt und dabei Hindernisse auf mitunter spektakuläre Weise überwindet. Bei Flashmobs handelt es sich um blitzartig zustande kommende und wieder auflösende Zusammenkünfte. Hinter der nur scheinbar spontanen Aktion verbirgt sich eine mit Hilfe von Mobil­telefonen oder Weblogs koordinierte Verabredung einer schwankenden Anzahl von Menschen für eine nur wenige Minuten dauernden Aktion an einem bestimmten Ort zu einer exakt festgelegten Zeit. Gemeinsam ist beiden Aktionsformen, dass sie gängigen Verhaltensstandards widersprechen und durch ihre eigenwillige Benutzung und Aneignung des urbanen Raums Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Darüber hinaus waren Städte immer auch Stätten des Konsums. Von den Märkten über die Warenhäuser bis zu Shopping Malls ist das Anbieten und Erwerben von Waren eines der für urbanes Leben grundlegenden Praktiken (vgl. Sombart 1928, Lipp 1994, Wehrheim 2007). Neben Rathaus, Parlament, Kirchen und Kathedralen prägen Marktplätze, Geschäfte und Shopping-Center das sichtbare Antlitz der Städte in erheblichem Maße. Obwohl sich Stadtsoziologie (vgl. Löw 2008, Schäfers 2010, Eckardt 2012) auch ohne Berücksichtigung ihrer physisch-materiellen Basis betreiben lässt, indem man sich etwa allein auf die sozialstrukturelle Zusammensetzung ihrer Bevölkerung konzentriert, hat aus kultursoziologischer Sicht immer auch die räum-

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Raum und Kultur

liche Komponente, die physisch-materielle Umgebung, eine Rolle gespielt – etwa bei Siegfried Kracauer (1987), Robert Ezra Park und der Chicagoer Schule (Park/ Burgess 1984), Heinrich Popitz (1995), Richard Sennett (1995) und Bruno Latour/ Emilie Hermant (1998). Insbesondere bei Popitz findet sich eine starke Berücksichtigung der materiellen Infrastruktur der Stadt. Eine Stadt ist für ihn (vgl. Popitz 1995, S. 26 ff.) 1. » ein Ort zentrierter Herrschaft «, der sich durch eine spezifische » Herrschaftsarchitektur « auszeichnet, die sich in monumentalen Bauten wie Burg, Palast, Rathaus, Tempel und der Ummauerung der Stadt ausdrückt; 2. » ein großer Speicher « von Lebensmitteln, Produkten des Handwerks und Handelswaren, was sich baulich in Kornhäusern, Kaufhäusern und Markplätzen niederschlägt; 3. » eine räumliche Konzentration von arbeitsteiligen Aktivitäten «, die ihre bauliche Entsprechung in Werkstätten, Handwerksquartieren, Manufakturen und Fabriken finden; 4. » ein Ort verdichteten Zusammenlebens großer Menschenmengen «, der sich oberirdisch durch enge Bebauung und Hochhausbauten auszeichnet und unterirdisch durch Kanäle für die Versorgung mit Wasser und der Entsorgung des Abwassers. Für Popitz entsteht mit der Stadt » eine neue Art von Raum, eine neue Komplexität erfundener räumlicher Bezüge « (ebd.). Bruno Latours’ und Emilie Hermants’ gemeinsame Studie » Paris. Ville invisible (1998) « bietet ebenfalls eine Stadtanalyse, die » Hoch- und Tiefbauarchitektur « (Popitz 1995, 27) glei­chermaßen berücksichtigt. Darin geht es darum, Stadt nicht mehr länger als neutrale Bühne menschlicher Begegnungen vorzustellen, sondern als eine Assoziation aus menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren. Städte sind in dieser Perspektive eine je einmalige Verdichtung von Beton, Metall, Wasserleitungen, Drähten, Leitungen und Dingen, mit denen menschliche Akteure tagtäglich interagieren (vgl. auch Heidenreich 2004).

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Globalisierung, Raum und Kultur: Von De- und Reterritorialisierungen

Wenn man unter Globalisierung das Phänomen versteht, dass ehemals streng voneinander geschiedene und weit voneinander entfernt liegende Regionen der Welt zunehmend miteinander in Kontakt geraten, dann hat sie eine lange Geschichte, die schon bei Carl Ritter (vgl. Schlögl 2003, 43), einem Pionier der Geographie, Thema ist. Bei ihm wie auch bei zahlreichen Nachfolgern wird in bis ins Detail ähnlichen Formulierungen immer wieder der eine entscheidende Faktor angeführt, der zum » Beseitigen aller Entfernungen « (Heidegger 1954b, 157), zur » Erdschrumpfung « (Arendt 2002, 321; Weber 1953, 19) und » Niederlage der Welt als Boden, Entfernung und Materie « (Virilio 1980: 177) geführt habe: die technische Entwicklung der Verkehrs-, Transport- und Kommunikationsmittel ! Schiffe, Kut-

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schen, Eisenbahnen, Automobile und Flugzeuge sorgen ebenso wie die Erfindung des Telegraphen, des Telefons, des Fernsehens und des Internets für eine zunehmende Verflechtung und Intensivierung kultureller Kontakte über traditionelle Grenzziehungen hinweg. Für Edgar Morin befinden wir uns damit im » planetarischen Zeitalter « (1988, 195), was für ihn vor allem heißt, dass Ereignisse » an irgendeinem sensiblen Ort auf dem Globus […] beinahe unmittelbare Auswirkungen auf den Rest der Erde « (ebd.) haben, wodurch sich die Erdbewohner in einer » gegenseitigen Abhängigkeit « befänden. Doch während etwa Alfred Weber noch wusste, dass es sich bei der Erdschrumpfung eigentlich um eine » kommunikative Erdverkleinerung « (Weber 1953, 16) handelt, scheint dieses Wissen im Laufe der Zeit verloren gegangen zu sein. In Teilen des Globalisierungsdiskurses werden die gestiegenen Möglichkeiten der immer schnelleren und müheloseren Raumüberwindung mit dem » Ende der Geographie « (O’Brian 1992) und dem Entstehen einer » grenzenlosen Welt « (Ohmae 1994) kurzerhand gleichgesetzt. Nach dieser Lesart steht Globalisierung für einen Enträumlichungs- und Entgrenzungsprozess, der zur Ausbreitung des westlichen Lebensstils in alle Regionen der Welt führe, was unter dem Label » McDo­naldisierung der Gesellschaft « (Ritzer 1995) firmiert. Während demzufolge das Lokale vollständig vom Globalen dominiert wird und zu einer globalen Kultur führt, transportiert der Begriff der » Glokalisierung « (Robertson 1995) die Vorstellung einer spannungsgeladenen Verschränkung von Lokalem und Globalem, die Kulturen so stark miteinander vermengt, dass vom lange Zeit gehegten Bild streng voneinander geschiedener und an ihren Raum gebundenen Kulturen keine Rede mehr sein kann, vielmehr von einer » kulturellen Hybridität « (Bhabha 2000, 5) und » Kulturmelange « (Breidenbach/Zukrigl 1998, 81 ff.) gesprochen werden muss. Kulturelle Mischformen gehen dabei mit räumlichen Mischformen einher. Diese räumlich-kulturellen Hybriden negieren endgültig die Vorstellung von durch fremde und ferne Einflüsse nicht kontaminierter Kulturen und Räume. Im Taumel der Begeisterung für eine Welt ohne Grenzen mit einem nie ge­ kann­ten Ausmaß an Austauschbeziehungen, globaler Kommunikation und vermehrtem Kulturkontakt wird eine gegenläufige Entwicklung dabei jedoch übersehen: » Der Umschlag in Reterritorialisierung hat nirgends auf sich warten lassen, die Fähigkeit zur Grenzbildung wird erneuert, die transnationalen Kommunikationsgemeinschaften unterscheiden sich erheblich nach ihrem Ort, die lokalen Kontextbedingungen der indischen Diaspora in Chicago sind kaum mit der indischen Diaspora in Kuwait identisch – und transnationale Unternehmen, street gangs, soziale Bewegungen, ethnische neighbourhoods und Staaten als kol­lektive Ak­teure verbindet der Kampf um territoriale Kontrolle. « (Schwengel 1999, 93) Aus einer raum- und kultursoziologischen Perspektive ist entscheidend hervorzuheben, dass Globalisierung in ihren Enträumlichungs-, Entgrenzungs- und De­

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territorialisierungstendenzen nicht aufgeht, sondern die Suche nach Möglichkeiten der Abstandsvergrößerung und Abschottung nach sich zieht, die durch den Bau neuer Grenzanlagen, Mauern und Zäunen (aktuell etwa zwischen Ungarn und Serbien) erreicht werden soll, die die anhaltende Bedeutung der Verfügungsgewalt über ein Territorium mit Nachdruck unterstreichen. Der Versuch, sich dem Kontakt mit fremden Waren, Sprachen, Migranten, Flüchtlingen und Investoren zu entziehen und in sein eigenes Territorium zurückzuziehen, um die » Phantasien der Reinheit, der Authentizität, der Grenzen und der Sicherheit auszuleben « (Appadurai 2009, 37) ist unübersehbar, ein » neues Bestreben nach kultureller Reinigung « (ebd., 19) weltweit zu beobachten. Auf die Deterritorialisierung folgt insofern unweigerlich die Reterritorialisierung. Zu Recht werden beide Prozesse von Deleuze/Guattari (1980) als zwei grundsätzlich nicht voneinander zu trennende, einander ablösende Bewegungen konzipiert. Denn in der Tat: Jeder Staat, jede Stadt, jede Organisation und jedes Individuum steckt Räume ab, die von den einen betreten werden dürfen und von den anderen nicht. Keineswegs darf sich jeder frei überallhin bewegen. Die zugestandene räumliche Bewegungsfreiheit und die Verfügungsgewalt über Räume sind nach Status (Goffman 2009, Girtler 1989, 40 ff.; Bourdieu 1991), Geschlecht (vgl. Henley 1988, 49 ff.) oder Hautfarbe (Fanon 1981, 31 ff.) in den verschiedenen Regionen des Erdballs höchst unterschiedlich verteilt. Deshalb gibt es Phänomene wie no-go areas, gated communities, Lager, Türsteher, Grenzpolizisten, Schlagbäume, VIP-Lounges usw., die die grundsätzlichen, aus kultursoziologischer Sicht nie zu vernachlässigende Fragen aufwerfen: Wer darf (welchen) Raum einnehmen und wer nicht ? Wer wird in (welche) Räume eingelassen und wer nicht ? Wer hat die Möglichkeit, Räume zu gestalten und zu verändern und wer nicht ? Bei der Beantwortung dieser Fragen geht es nach wie vor um die Frage der Aneignung und Besetzung von Territorien – von den » Territorien des Selbst « (Goffman 1974) über städtische Territorien bis zu indigenen und staatlichen Territorien. Wer geglaubt hatte, Kämpfe um Territorien gehörten der Vergangenheit an, sieht sich gründlich getäuscht. Hätten Räume und die Verfügung über sie keine Relevanz mehr, würden sie wohl kaum in so großem Ausmaß zerstört werden. Doch genau dies geschieht. Wer wollte mit Blick auf die aktuellen Krisenherde dieser Welt behaupten, dass der Satz » Städte zu erobern, bedeutet offenkundig einen eigentümlichen pathetischen Triumph « (Popitz 1995, 119) keine Gültigkeit mehr hätte ? Spätestens seit 9/11 wissen wir wie sehr es zutrifft, dass » die Emotionalisierbarkeit ihrer Gefährdetheit […] Teil der neuen städtischen Realität « (ebd., 120) ist. Der Krieg hat sich keineswegs komplett in den virtuellen Raum verlagert. Vielmehr werden wir immer wieder Zeugen der Zerstörung von Kulturen, die sich vor allem auch gegen räumliche Artefakte, Gebäude und Plätze richtet.

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Der Wiedereintritt der Natur in die Kultur und die neuen Geographien

Die gesellschaftliche Evolution hat man sich gerne als einen sukzessiven Emanzipationsprozess aus der Umklammerung der Natur vorgestellt. Kultur sollte zunehmend die Oberhand über Natur gewinnen, um diese schließlich überflüssig zu machen. Entgegen dieses der Moderne tief eingeschriebenen Programms gilt es heute mit Michel Serres festzustellen: » In unserer Kultur […] bricht sie ein: die Natur. « (Serres 1994: 12) Sichtbar wird diese Rückkehr der Natur gerade auch dort, wo man sich vom Naturzustand am weitesten entfernt zu haben schien: In den Großstädten ! Gerade hier erleben wir eine Rückkehr der Natur durch Praktiken wie das Urban oder Guerilla Gardening oder durch die zunehmende Anzahl von Wildtieren in den Stadt, die die bei Popitz noch betonte strenge Trennlinie zwischen Natur und Stadt fragwürdig erscheinen lassen. Obwohl gerade die Stadt sich radikal von der Natur abgrenzt und unabhängig zu machen scheint (vgl. Popitz 1995, 28), täuscht dieser Eindruck letztlich: » Es hat sich hier nur die Art der menschlichen Abhängigkeiten grundlegend gewandelt. […] Statt wie Generationen zuvor den Naturgewalten ganz direkt ausgesetzt zu sein, sind die Menschen im modernen Wohnen nun stärker von denjenigen großen Wirtschaftsunternehmen abhängig geworden, die sie mit Wasser, Energie oder Nachrichten versorgen oder die ihre Exkremente und ihren Müll beseitigen. « (Gleichmann 2000, 273) Die Abhängigkeit von Natur war also immer gegeben, ist im Laufe des Modernisierungsprozesses aber zunehmend invisibilisiert worden und hat damit dem Irrtum Vorschub geleistet, sich in der Stadt in einem von Natur unabhängigen Raum zu befinden. Übersehen wurde dabei die Tatsache des Metabolismus. Eine jede Kultur ist angewiesen auf einen geregelten Stoffwechsel mit der Natur. So artifiziell die Kultur hochtechnologisierter Gesellschaften auch erscheinen mögen: Auch sie entbehrt nicht einer materialen Basis, bleibt abhängig von Energien und Stoffen, die nach wie vor der Natur entnommen werden. Die strikte Entgegensetzung von Kultur auf der einen und Natur auf der anderen Seite lässt sich deshalb nicht mehr aufrechterhalten (vgl. Descola 2011). Die Eingriffe in die Natur sind längst so groß, dass von einer reinen, durch menschliche Aktivitäten verschont gebliebene, unberührte Natur keine Rede mehr sein kann. Natur wird zum Gegenstand kultursoziologischer Forschung, weil sie nicht zeitlos und beständig ist, wie traditionell angenommen, sondern permanent bearbeitet und umgewandelt, gestaltet und interpretiert wird. Mit Gabriel Tarde verfügt die Soziologie über einen Klassiker, für den die Betonung der Verschränkung von Natur und Kultur noch eine Selbstverständlichkeit war: » Die Untersuchung der Auswirkungen jener am Anfang einer kulturellen Entwicklung stehenden, natürlichen Gaben des Bodens auf den gesamten weiteren Verlauf dieser Kultur ist beispielsweise von

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größtem Interesse. Je nachdem ob die Kultur in einem fruchtbaren Tal oder einer mehr oder weniger an Weideland reichen Steppe entstand, sind die Arbeitsbedingungen verschieden und folglich auch die Bedingungen der Hausgemeinschaft und der politischen Institutionen. […] Die Untersuchungen der Modifikationen einer Lebensform, welche durch die Auswirkungen des Klimas oder ganz allge­ mein des Milieus entstehen, sind der Soziologie ebenso nützlich wie der Biologie. « (Tarde 2003, S. 163) Obwohl sie über Tarde hinaus mit Werner Sombart (vgl. Grundmann/Stehr 1997) oder der Humanökologie (vgl. Park/Burgess 1984, Lindner 1998) über vielversprechende Ansätze verfügt, die natürliche Umgebung und ihre Auswirkungen auf Gesellschaft und Kultur zu thematisieren, hat die Soziologie einen anderen Weg eingeschlagen, den es aktuell, angesichts der offensichtlich misslungenen Absetzbewegung von Natur, zu korrigieren gilt. Heute stehen wir vor dem Phänomen eines vielfach miteinanderverschränkten Gewebes aus Natur und Kultur, das die Beschränkung des raumsoziologischen Diskurses auf den sozialen Raum nicht länger plausibel erscheinen lässt. Diese neue Gemenge­lage bringt für die aktuelle Raumsoziologie die Notwendigkeit mit, die strikte Trennung zwischen physisch-geographischem Raum hier und sozialem Raum dort ad acta zu legen. Statt eines » Endes des Geographie « (O’Brian 1992) kommt es zu Erfindung ständig neuer Geographien – den » Internetgeographien « (Budke u. a. 2004), der » Geographie des Zorns « (Appadurai 2009), der » Sakrale(n) Geographie « (Heidenreich 2010) und vielem mehr. Im Zuge der Diskussion um das » Anthropozän « ist eine neue Hinwendung zur Erde festzustellen (vgl. Braidotti 2014, 5 ff., Latour 2012), die bis gestern noch ein wenig antiquiert wirkenden Texte (vgl. Klages 1920) in neuem Licht erscheinen lassen. Die Zeit scheint reif für die Etablierung einer Geosoziologie (vgl. Schroer 2015), die unter anderem die zahlreichen » Geopraktiken « zu thematisieren hätte – von den industriell-maschinellen Umwälzungen des Bodens, den Erdbohrungen, dem Düngen von Ackerland und dem Fracking über das Errichten von Zäunen, Mauern und sonstigen Grenzbefestigungen, den verschiedenen Gartentätigkeiten, dem Umgraben des Bodens, dem Säen und Pflanzen bis hin zum Errichten, Gestalten und Bewohnen von Nestern, Höhlen und Häusern, der Vermessung der Welt durch Google Earth, die Suche nach Orten mit Hilfe von Navigationsgeräten und das Geocaching. Es ist für das Verständnis der gegenwärtigen Entwicklungen von grundsätzlicher Bedeutung, die in den Sozial- und Kulturwissenschaften tief eingesenkte Substitutionslogik aufzugeben, die davon ausgeht, dass Stufen der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung einander ablösen, dass die Orientierung am Raum durch eine Orientierung an der Zeit ersetzt, dass die Kultur die Natur besiegt, dass physische Räume virtuellen Räumen weichen, dass Mobilität an die Stelle von Sesshaftigkeit tritt, dass das Globale über das Lokale triumphiert und das Alte vollständig durch das Neue verdrängt wird. Vielmehr gilt es die vielfäl-

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tigen und widersprüchlichen Wechselwirkungen, Überlagerungen und Verknüpfungen zwischen all diesen Elementen zu begreifen. Mit dieser Aufgabe stehen wir erst ganz am Anfang.

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Raum und Wissen

Das Verhältnis von Raum und Wissen gerät erst in jüngster Zeit verstärkt in den Blick (vgl. Meuseburger 2005, Matthiesen 2005). Das ist insofern überraschend, weil die Aneignung, Verbreitung und Bewahrung von Wissen immer schon einen räumlichen Bezug aufgewiesen hat. Archive, Bibliotheken, Labore, Schulen, Universitäten, ja selbst Salons, Clubs und Kaffeehäuser sind nachgerade klassische Orte der Generierung, des Austauschs und der Vermittlung von Wissen (vgl. Burke 2001). Die Diskussion um die gewachsene Bedeutung des Wissens für die gegenwärtige Gesellschaft ist dagegen von der These eines zunehmenden Irrelevantwerdens des Raums geprägt. Räumliche Gegebenheiten sollen in einer Gesellschaft, die sich zunehmend über Wissen definiert, keine Rolle mehr spielen. Wissen gilt in diesem Kontext vor allem aufgrund der Entwicklung der neuen Medien und der damit einhergehenden kommunikativen Verbreitung von Wissensbeständen als ubiquitär. Dieser Einschätzung nach ist die Wissensgesellschaft » atopisch « organisiert, losgelöst von jeglichen Raumbezügen (vgl. Willke 2001). Im Zuge des spatial turn, der mittlerweile die gesamten Sozial- und Kulturwissenschaften erfasst hat (vgl. Döring/Thielmann 2008), wird dieser These mit der Erforschung wissensdominierter Räume und räumlichen Wissens entgegen getreten. Statt es bei der Aussage zu belassen, Wissen verbreite sich universell und könne von überall her abgerufen werden, geht es in der wissenssoziologisch orientierten Raumsoziologie um Raum konstituierendes Wissen und wissensbasierte Raumkonfigurationen (vgl. Berking 2004). Obwohl wir schon seit der Verbreitung des Buchdrucks nicht mehr davon ausgehen können, dass sich wissenschaftliches Wissen auf bestimmte Orte – etwa Klöster und Universitäten – konzentriert, wäre es doch auch für die gegenwärtige Gesellschaft illusorisch, eine flächendeckende und lückenlose Verbreitung des Wissens vorauszusetzen und anzunehmen, dass Orte sich nicht mehr danach unterscheiden, in welchem Ausmaß und in welcher Geschwindigkeit sich Wissen in ihnen ansammelt und von ihnen aus verbrei© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Schroer, Räume der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2_8

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tet. Hinzu kommt, dass sich etwa Städte, Universitäten und Schulen heute in sehr viel stärkerem Maße dem internationalen Vergleich und der globalen Konkurrenz ausgesetzt sehen als in der Zeit, in denen sie sich noch in einer Art nationalem Schlummer befanden. Um die Aufmerksamkeit des wissensbasierten Milieus bzw. der » kreative Klasse « (Florida 2002) auf sich ziehen zu können, um lukrative Unternehmen, intelligente Studierende und überragende Wissenschaftler an sich binden zu können, setzen sich Standorte zunehmend entsprechend in Szene und inszenieren sich als Wissenschaftsstädte oder Wissensregionen. Der verbreiteten Vorstellung von der Raumunabhängigkeit des Wissens soll deshalb im Folgenden mit der These begegnet werden, dass Wissen sämtliche Räume durchdringt und es folglich immer weniger wissensfreie Räume gibt. Dabei ist es gerade die massive Verbreitung des Wissens, die die traditionellen Institutionen des Wissens (Universitäten, Schulen, Bibliotheken usw.) dazu motiviert, sich als distinkte Orte des Wissens zu inszenieren. Die Investitionen in die Sichtbarkeit der Bildungseinrichtungen via Homepageauftritte, Architekturen, Werbematerial, Emblemen etc., ist als Antwort auf den schleichenden Bedeutungsverlust der klassischen Bildungsinstitution zu lesen, der sich in der fragmental differenzierten Gesellschaft (vgl. Rammert 2003) vollzieht. Wie andere Akteure auch, befinden sich Universitäten und Schulen in einem Kampf um Aufmerksamkeit (vgl. Schroer 2007).

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Räume, Orte, Wissen

Schon die Semantik informiert über die engen Bezüge von Raum und Wissen: Wissen eröffnet neue Horizonte; innovatives Wissen wird als Bahn brechend oder Weg weisend verstanden; man unterteilt Wissen nach Wissensfeldern oder Wissensgebieten, über die man sich einen Überblick verschaffen kann; für die Teilnahme an einem Seminar wird ein bestimmter Stand des Wissens vorausgesetzt usw. Wissen und Raum sind aber auch deshalb elementar miteinander verbunden, weil Wissen nie punktuell bleibt, sondern sich fortsetzt, verknüpft und damit einen Raum aufspannt, einen Wissensraum, der sich aus Klassifikationen, einzelnen Sektionen und Regionen zusammensetzt. Auch das menschliche Instrument des Denkens und primäre Organ der Wissensverarbeitung, das Gehirn, wird bis in die neuesten Untersuchungen der Neurobiologie hinein in verschiedene Areale unterteilt, die für die Wahrnehmung und Speicherung von unterschiedlichen Wissensformen zuständig sein sollen (vgl. Roth 2003). Das Erlernen von Raumbezügen ist eines der zentralen entwicklungspsychologischen Vorgänge während der kindlichen Sozialisationen (vgl. Piaget/Inhelder 1975). Für die Soziologie schließlich ergibt sich der Zusammenhang von Raum und Wissen zunächst aus dem Befund, dass sie zu wenig Wissen über den Raum akkumuliert hat (vgl.

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Schroer 2006). Über weite Strecken kommt das Fach ohne eine direkte Bezugnahme auf die Kategorie des Raums aus. Die Wissenssoziologie teilt diese Vernachlässigung mit der Soziologie insgesamt. Ob bei Max Scheler, Karl Mannheim oder Peter Berger und Thomas Luckmann: Eine Auseinandersetzung mit der Kategorie des Raums findet in den klassischen Positionen allenfalls am Rande statt. Erst in jüngster Zeit scheint sich eine Wende abzuzeichnen. Bei Michel Foucault (1988) und Bruno Latour (2000) finden sich prominente Versuche, Wissen und Raum explizit miteinander zu verbinden, wobei in Foucaults Ansatz Macht als verbindende Instanz wischen Raum und Wissen fungiert, während es Latour vor allem um die Berücksichtigung räumlicher Artefakte bei der Analyse des Sozialen geht. Für den vorliegenden Zusammenhang zentral ist der Vorschlag von Werner Rammert (2003), auf die funktionale Differenzierung eine » fragmentale Differenzierung « folgen zu lassen. Um diese Differenzierungsform ergänzt er die Klassifikation Niklas Luhmanns, der lediglich die segmentäre, stratifikatorische und funktionale Differenzierungsform unterscheidet, ohne auf die räumliche Dimension der Differenzierungsformen näher einzugehen. Rammert ordnet allen vier Differenzierungsformen ein spezifisches » Regime der Wissensproduktion « (ebd., S. 484 ff.) zu, die jeweils einen unterschiedlichen räumlichen Bezug aufweisen. Die segmentäre Differenzierung zeichnet sich nach Rammert durch eine » lokale und verstreute Wissensproduktion « aus. Dieser nach Familien, Clans und Stämmen gegliederte Gesellschaftstyp verfügt noch nicht über Möglichkeiten der Zentrierung und Koordination des Wissens, sondern verstreut das gleiche Wissen über viele Plätze hinweg. Die stratifikatorische Differenzierung weist dagegen eine » universelle und zentrierte Wissensproduktion « auf. Klöster, Universitäten und städtische Gilden entwickeln sich zu herausragenden und exklusiven Orten der Ansammlung und des Austauschs von relevantem Wissen. Die funktionale Differenzierung ist durch ein » Regime komplementärer und disziplinär spezialisierter Wissensproduktion « geprägt. Statt einer Verstreuung oder Zentrierung haben wir es mit einer Konzentrierung und Spezialisierung zu tun, bei der jedes Teilsystem sein eigenes Wissen erzeugt und das wissenschaftliche Wissen ein nie gekanntes Ausmaß an institutioneller Autonomie und Selbststeuerung erhält. In der fragmental differenzierten Gesellschaft schließlich herrscht eine heterogene und verteilte Wissensproduktion vor. Damit ist vor allem gemeint, dass die für die funktional differenzierte Gesellschaft typische Autonomie und Exklusivität der wissenschaftlichen Wissensproduktion zunehmend unterlaufen wird durch die wachsende Anzahl alternativer Anbieter von Wissen und wissenschaftlichen Forschungsprojekten. Die fragmentale Differenzierung unterscheidet sich von der funktionalen dadurch, dass » die gereinigte Trennung disziplinären Wissens […] zugunsten von Heterogenität, Kohärenz und Reflexivität aufgegeben wird. « (Ebd.) Allerdings ist dabei nicht von einer restlosen Ablösung der funktionalen Differenzierungsform

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und der ihr eigenen Wissensproduktion durch die fragmentale Differenzierungsform und deren Regime der Wissensproduktion auszugehen: » Funktional spezialisierte Institutionen und gereinigte wissenschaftliche Disziplinen bleiben beide wichtige Faktoren auf der Hinterbühne der fragmentierten Gesellschaft, aber sie verlieren ihr Privileg allein auf der Hauptbühne aufzutreten, wo jetzt institutionell gemischte Netzwerkformen und epistemisch transdisziplinäre Expertenkulturen die prominenten Rollen übernehmen. « (Rammert 2003, S. 288) Der Übergang von der funktionalen zur fragmentalen Differenzierung, den Rammert in Bezug auf die Veränderung der Wissensproduktion in den Blick nimmt, lässt sich mit der Veränderung der Raumarrangements parallelisieren, die angesichts der Auflösung der primären Rolle der funktionalen Differenzierung zu beobachten ist (vgl. Schroer 2006). Zentral für die funktional differenzierte moderne Gesellschaft ist die Zuweisung spezifischer Räume für das jeweilige Funktionssystem: Das Parlament und die Wahlkabine für das Politiksystem, die Fabrik und das Büro für das Wirtschaftssystem, die Kirche für das Religionssystem, der Gerichtssaal für das Rechtssystem, die Schule für das Erziehungssystem, Universitäten und Labore für das Wissenschaftssystem, der Konzertsaal, das Theater und das Kino für das Kunstsystem, die Krankenhäuser für das medizinische System, Stadien, Rennbahnen und Sportplätze für das Sportsystem usw. Diese räumlich-funktionale Logik setzt sich bis in die Wohnkultur fort: Die Unterteilung in Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Arbeits-, Kinder- und Badezimmer sowie Hobbyraum weist spezifischen Handlungen und Praktiken einen dafür eingerichteten Raum zu und lokalisiert die Bewohner eines Hauses in den ihnen exklusiv zugewiesenen Räumen. Diese strenge Raumaufteilung scheint sich vor dem Hintergrund der fragmentalen Differenzierung jedoch auf dem Rückzug zu befinden. Einerseits findet der Aufbau von Spezialräumen für bestimmte, eng umgrenzte Aktivitäten zwar nach wie vor statt (Fitness-Studios, Schönheitssalons, » Druckräume «, Raucherzonen usw.), doch andererseits haben wir es mehr und mehr mit dem Aufbau von Räumen zu tun, die entweder unterschiedliche Aktivitäten in sich vereinigen oder aber so offen angelegt sind, dass sie nicht mehr länger für spezifische, sondern für multiple Praktiken gebaut zu sein scheinen. Shopping Malls, Fußballstadien, Tankstellen, Bahnhöfe und Flughäfen beispielsweise dienen nicht mehr allein einer einzigen Funktion, sondern führen unter einem Dach die unterschiedlichsten Funktionen zusammen, so dass Arbeit, Freizeit, Kultur und Konsum nicht mehr in streng voneinander geschiedenen Bereichen stattfinden, sondern an einem Ort zusammengeführt werden. In öffentlichen Gebäuden, Sparkassen, Banken, Ämtern und Büros werden Trennwände beseitigt, Türen entfernt, Barrieren abgebaut. Insofern haben wir es derzeit in der Tat mit einer Fragmentierung und damit einhergehenden Lockerung der sozialen Raumordnung zu tun, die mit der Abschaffung der funktionale Differenzierung und ihrer Raumord-

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nung nicht verwechselt werden darf. Vielmehr scheinen beide Differenzierungsformen nebeneinander her zu existieren, wobei sich die fragmentale zunehmend in den Vordergrund drängt. Dass die funktionale Differenzierung sich im Hintergrund weiterhin behauptet, wird allein daran erkennbar, dass nach wie vor nicht alle Handlungen oder Praktiken an jedem Ort stattfinden können. Allerdings ist die Flexibilität, Offenheit und Beweglichkeit der Räume ein durchgehender Trend, der sich auch an zwei klassischen Wissensräumen – der Universität und der Schule – ablesen lässt. So kennzeichnend es für die moderne Gesellschaft war, dass die Vermittlung des Wissens an spezialisierte Institutionen delegiert wurde, so typisch scheint es für die gegenwärtige Gesellschaft zu sein, dass es die klassischen Institutionen mit immer mehr Konkurrenten zu tun bekommen, worauf sie zum einen mit einer stärkeren Profilierung und Konturierung ihrer ureigensten Funktion reagieren, die auch visuell sichtbar gemacht wird durch den Bau aufwendiger Prestigebauten, zum anderen aber auch mit einer Flexibilität und Mobilität der architektonischen Form, die sie für alternative Nutzungen empfiehlt.

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Die Schule als Wissensraum

Für den modernen Schulraum ist der preußische Schulbau des späten 19. Jahrhun­ derts charakteristisch, der bereits von Zeitgenossen als » Kaserne « bezeichnet wird. Diese bis in unsere Gegenwart hinein vorzufindende Schulform ist typischer­weise in Klassenzimmer für die verschiedenen Jahrgangsklassen unterteilt, in denen der Frontalunterricht die vorherrschende Unterrichtsform bildet (vgl. Göhlich 2009, S. 95). In den Klassenzimmern stößt man auf eine geregelte Tischordnung und Sitzverteilung, die Lehren und Schülern ihre entsprechenden Rollen zuteilt: » In strengeren Formen der räumlichen Klassenzimmereinteilung wird die Spezifizierung der Positionen des Körpers, seine Bewegung und Haltung, üblicherweise straff organisiert. « (Giddens 1992, S. 189) Die Schule gilt Giddens deshalb als » Machtbehälter « (ebd.). Während der Zeit, die sie in der Schule verbringen, sind Lehrer und Schüler zeitlich und räumlich so abgeschirmt, dass eine Störung oder Kontrolle der Geschehnisse in der Schule von außen auf ein Mindestmaß reduziert wird. Die Wände der einzelnen Klassenzimmer und der Schule insgesamt sorgen für eine räumliche Absonderung, die einerseits die Konzentration der Interaktion auf die Vermittlung von Wissen erst ermöglicht, andererseits immer aber auch die Gefahr birgt, dass abweichendes Verhalten des Lehrpersonals kaum nach Außen dringen kann. Zwar vollzieht sich die Abkehr von dieser Art Schule und ihren Unterrichtskonzepten nur schleppend, dennoch gibt es inzwischen zahlreiche Versuche, mit Hilfe neuer Formen der Schularchitektur einen anderen Typus von Schule und schulischem Lernen zu etablieren, auch wenn diese Ver-

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suche immer noch eher eine Art Avantgarde gegenüber der Mehrheit der Schulen darstellen. Vor allem an den weiterführenden Schulen stellt die disziplinierende Schularchitektur noch immer die vorherrschende Form dar. Dabei gibt es mit der Reformpädagogik bereits seit dem späten 19. Jahrhundert eine dezidierte Kritik an den auf Kontrolle und Disziplinierung ausgerichteten Schulgebäuden (vgl. Kajetzke/Schroer 2009). Sichtet man die verschiedenen Versuche, der Disziplinararchitektur mit einer anderen Architektur zu begegnen, so geht es dabei nicht allein darum, den stets als grau, nüchtern und kalt beschriebenen Betonbauten der 1960er und 1970er Jahren mit der Verwendung von Farbe, Licht und Holz zu einem einladender wirkendem Äußeren zu verhelfen. Es geht vielmehr um eine von Grund auf andere Gestaltung des Schulraums. Dabei steht vor allem der offene Grundriss im Vordergrund, der das Einreißen trennender Wände und die selbst bestimmte Konstitution nicht vorgegebener Räumlichkeiten beinhaltet. Über die evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen heißt es beispielsweise, dass die Schule aufgebaut sei wie eine kleine Stadt. Besucher würden sagen, dass man sich dort wie in der Toskana oder in einer dänischen Feriensiedlung fühle. Der verantwortliche Architekt, Peter Hübner, ergänzt: » Es gab auch schon Leute, die über das ganze Gelände gegangen sind und am Ende gefragt haben: wo ist denn die Schule ? « (vgl. Süddeutsche Zeitung Magazin) Dass die Funktion der Architektur nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, wird damit zu ihrem Gütesiegel erklärt. Statt alles dafür zu tun, keine Zweifel darüber aufkommen zu lassen, wo man sich befindet, wird die Uneindeutigkeit gewählt, die es vorübergehend erlaubt, sich anderswo zu wähnen und damit Entlastung von den Anforderungen der Institution Schule schafft. Mit dieser Flexibilisierung und Verflüssigung räumlicher Strukturen reagiert die Institution Schule auf die Herausforderung der fragmentalen Differenzierung, die zur Konfrontation mit konkurrierenden Räumen führt, in denen Wissen angeeignet werden kann: den virtuellen Räume des Internets einerseits und den privaten Räumen andererseits, die im Zuge der Home-Education-Bewegung in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen haben. Um gegenüber den Möglichkeiten, die diese Räume bieten, nicht ins Hintertreffen zu geraten, werden deren Eigenschaften in die Schularchitektur zu integrieren versucht. Die Gestaltungsmöglichkeiten im Web 2.0 werden mit der Wohnlichkeit der privaten Räume kombiniert, um eine Art offene Lernlandschaft entstehen zu lassen, die nicht mehr länger die Fixierung des Schülers an seinem Platz zum Ziele hat, sondern das nomadische Umherschweifen in einem wenig festgelegten Raum ermöglicht. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich auch für die Universitäten aufzeigen.

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Die Universität als Wissensraum

Wissenschaft wird nicht überall ausgeübt, sondern findet an den ihr zugewiesenen Orten statt: an den Universitäten, Laboren, Hörsälen und Bibliotheken. Universitäten gliedern sich in Fachbereiche, denen unterschiedliche Gebäude, Gänge, Trakte zugewiesen werden. Diese Organisation der Wissensproduktion entspricht der funktionalen Differenzierung, die jedoch zunehmend in den Hintergrund tritt zugunsten der fragmentalen Differenzierung, die mit ihrer netzwerkartig organisierten Wissensproduktion zunehmend in den Vordergrund tritt (vgl. Rammert 2003). Die Durchdringung aller Funktionssysteme mit Wissen führt zu einer Infragestellung der Exklusivität des Wissenschaftssystems und der Universität als deren herausragender Organisation. Auf die Gefahr des Verlusts ihrer führenden Rolle als Wissensproduzentin reagiert die Universität mit einer signifikanten Erhöhung der Investitionen in ihre Selbstdarstellung. Mit dem Bau prestigeträchtiger Aufmerksamkeitsarchitektur in Form von neuen Hörsaalgebäuden oder Bibliotheken versuchen einzelne Wissenschaftsstandorte sich als besonders attraktiv auszuweisen, um sich gegen konkurrierende Institutionen durchsetzen zu können. Die vom Stararchitekten Norman Forster gebaute neue Bibliothek für die FU Berlin hat zumindest dazu beigetragen, der zuvor in Rankings weit abgeschlagenen Universität zu einem ganz neuen Renommee zu verhelfen. Dass es sich nur um ein einzelnes Gebäude handelt und nicht um die Universität zeigt, dass wir es auch in diesem Fall mit einer Diversifizierung des Raums zu tun bekommen. Ähnlich wie bei den Global Cities, in denen nicht die gesamte Stadt globalisiert ist, sondern nur einzelne Areale, ragen auch bei den Universitäten einzelne Gebäude heraus und suchen den Anschluss an die globale Wissensgesellschaft, während andere stärker im Lokalen verhaftet bleiben. Aber auch jenseits solch exponierter Versuche ist festzuhalten, dass die Universitäten seit der Einführung der neuen Studiengänge (Bachelor/Master) in einem nie gekannten Ausmaß Werbematerial erstellen, um für sich als Wissensstandort zu werben. Die Umgestaltung der Studiengänge im Zuge des Bologna-Prozesses gehen mit einer verstärkten Profilbildung einher, die jeden Standort unverwechselbar machen soll. Was hier noch im Sinne eines Ringens um Aufmerksamkeit verstanden werden kann, wächst sich angesichts der Unterscheidung von » Elite­ universitäten « auf der einen und Universitäten für die Massen auf der anderen Seite zu einem Zwei-Klassen-System aus. Bleibt es beim eingeschlagenen Weg, wird es in Zukunft wieder sehr viel mehr darauf ankommen, wo man studiert hat. Konstanz oder Kassel, Mannheim oder Mainz, München oder Marburg ? Schon die bloße Nennung der Orte wird weitere Nachfragen überflüssig machen. Und damit nähern wir uns tendenziell wieder einer stratifikatorischen Differenzierung des Wissenschaftssystems an, das funktionale wie fragmentale Differenzierung

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Raum und Wissen

überwunden geglaubt hatten. Als Folge dieser Entwicklung kann gesehen werden, dass sich der Satz von Blaise Pascal: » Wahrheit diesseits der Pyrenäen, Irrtum jenseits « (zitiert nach Burke 2001, 69) auch auf heutige Zustände übertragen lässt: Was in Bielefeld als soziologische Wahrheit gilt, gilt in Köln oder Mannheim noch lange nicht als solche. In der alltäglichen Praxis reicht der Hinweis auf einen Wissenschaftsstandort, um eine Rezeption in manchen Lagern von vornherein zu verhindern oder eine ganz bestimmte nahe zu legen. Ein bestimmter Ortsname kann insofern auch zum Malus werden. An der damit angedeuteten Überlagerung der Differenzierungsformen zeigt sich die Plausibilität einer Zeitvorstellung, die die Vergangenheit nicht als gänzlich überwunden, sondern als in die Gegenwart hinein ragend begreift (vgl. Latour 1998, S. 91 ff.); eine Verräumlichung der Zeit, die das Nacheinander in ein Nebeneinander überführt.

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Wissen, wo man ist

Die bisherigen Überlegungen sollten gezeigt haben, dass auch die Wissensgesellschaft nicht unabhängig von räumlichen Strukturen existiert. Die Frage kann nur sein, welche räumlichen Bezüge sich eine wissensbasierte Gesellschaft schafft. Am Beispiel der Schule und der Universität ist der Übergang vom Wissensregime der funktional differenzierten zum Wissensregime der fragmental differenzierten Gesellschaft hinsichtlich ihrer räumlichen Implikationen aufgezeigt worden. Dabei ist deutlich geworden, dass die Eindeutigkeit der architektonischen Strukturen zugunsten offenerer und flexiblerer Formen an Bedeutung verliert. Die Folge davon ist, dass im Hinblick auf die Frage, wo man sich befindet, eine neue Unsicherheit entsteht. Noch in den 1970er Jahren notiert dagegen der französische Schriftsteller George Perec: » Der Raum scheint entweder gezähmter oder harmloser zu sein als die Zeit: man begegnet überall Leuten, die Uhren haben, und sehr selten Leuten, die Kompasse haben. Man muß immer die Zeit wissen […], aber man fragt sich nie, wo man ist. Man glaubt es zu wissen: man ist zu Hause, man ist im Büro, man ist in der Metro, man ist auf der Straße « (Perec 1990, S. 103). Es ist diese Selbstverständlichkeit in Bezug auf den Raum, die lokale Verortung und die Ortsgebundenheit, die im Zeitalter der Computer, Handys und GPS-Systeme nicht mehr länger vorausgesetzt werden kann. Dass wir im » Zeitalter des Raumes « (Foucault 2006, S. 317) leben, wird vor allem an der mangelnden Selbstverständlichkeit räumlicher Bezüge erkennbar. Die Frage, wo man sich befindet, hat vor dem Hintergrund durchgesetzter Mobilität eine gestiegene Bedeutung erlangt. Da man etwa bei Handygesprächen nicht mehr weiß, an welchem Ort man seinen Gesprächspartner erreicht, fangen die Gespräche über Handy zumeist mit der Frage nach dem derzeitigen Aufenthalt des anderen an. Auch der von Perec noch

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vermisste Kompass ist heute längst in aller Hände. Nicht mehr nur im Auto greifen die Menschen auf Navigationssysteme zurück, um sich im Raum zu orientieren. Es besteht zunehmend Unsicherheit in der Frage, wo man sich aufhält, da die Räume mehr und mehr ihre Eindeutigkeit einbüßen, indem sie einander überlagern und die Möglichkeit für verschiedene, nicht näher festgelegte Aktivitäten bieten. Insofern wird die auch von Niklas Luhmann betonte Notwendigkeit der räumlichen Orientierung – » Man muss wissen können, wo man ist, in einer Universität, in einer Kneipe, in einer Straßenbahn oder wo auch immer […], um zu wissen, wie man sich zu verhalten hat « (Luhmann 2002, S. 324) – zu einer eigenen, immer dringlicheren Aufgabe. Räumliche Arrangements, die diese Aufgabe klassischerweise übernommen und damit für Handlungssicherheit gesorgt haben, scheinen in der Gegenwartsgesellschaft mehr und mehr die Funktion zu verlieren, eindeutig anzuzeigen, wo man ist, da die Räume mehr und mehr ihre Spezifität und Ausschließlichkeit einbüßen. Ein nicht geringer Teil der technologischen Entwicklung dient deshalb keineswegs der immer schnelleren Überwindung des Raums, woraus vorschnell ein Ende des Raums abgeleitet wurde, sondern der Orientierung im Raum: Handys, Google Earth und Navigationssysteme im Auto widmen sich der (Selbst-)Verortung und Lokalisierung von Individuen. Wissen wo man ist, um zu wissen, wer man ist: Die Identitätsfrage ist auf eine erst wieder zu entdeckende Weise mit der Frage räumlicher Figurationen eng verknüpft.

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Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts leben wir im Zeitalter der Bewegung. Und dies nicht nur, weil wir seither die größte Migration in der Geschichte der Menschheit erleben, sondern auch deshalb, weil wir in immer kürzerer Zeit immer größere Wegstrecken zurücklegen. Eisenbahnen, Autos und Flugzeuge erlauben uns eine sowohl immer schnellere als auch immer bequemere Mobilität. Die Orte, die wir heute ohne große Mühe erreichen können, lagen für unsere Vorfahren noch in unerreichbarer Ferne. Im Zuge dieser Entwicklung und ihrer sozialwissenschaftlichen Reflexion erleben wir eine Konjunktur von Bewegungstypen, die die neuen Leitbilder für eine beweglich gewordene Welt abzugeben scheinen. Das Leben von Flaneuren, Nomaden, Vagabunden, Touristen und Kosmopoliten, denen gemeinsam ist, dass sie permanent unterwegs sind, scheint nicht mehr nur von einer kleinen Elite oder einigen wenigen Außenseiten geführt zu werden, sondern als typische Lebensform für eine Mehrheit der Weltbevölkerung zu gelten (vgl. Bauman 1994: 397). Damit scheinen wir von einer sesshaften in eine nomadische bzw. neonomadische Ära überzugehen. Gemäß dieser Vorstellung haben wir es derzeit mit einer Entwicklung zu tun, die das Ende des Raums und das Ende der Sesshaftigkeit – und damit auch das Ende der Architektur und des Wohnens zur Folge hat. Dort, wo alles in Bewegung gerät, nichts mehr von Dauer ist und alle Entfernungen mühelos überwunden werden können, scheinen Raum, Architektur und Wohnen ausgedient zu haben, werden doch alle drei mit Dauerhaftigkeit, Festigkeit und Ortsabhängigkeit assoziiert. Was in dieser Perspektive übersehen wird, ist die Tatsache, dass Raum, Architektur und Wohnen keine Gegenkonzepte oder Widerstände gegen die Bewegung bilden, sondern selbst in Bewegung geraten. Während man sich traditionelle Nomaden als Bewegungstypen vorstellt, die einen bereits vorhandenen Raum durchqueren, der selbst unbeweglich bleibt, haben wir es heute mit Räumen zu tun, die © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Schroer, Räume der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2_9

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selbst beweglich sind, mit Grenzen, die nicht mehr starr, sondern fluide sind, mit vagabundierenden Grenzen gleichsam. Wenn aber alles um uns herum beweglich wird – Menschen, Räume, Grenzen, Strukturen, Waren, Dinge – verliert der Nomade nicht nur seine exklusive Stellung und seine subversive Kraft als Grenzverletzer, sondern es stellt sich auch die Frage, welche Veranlassung wir überhaupt noch haben, selbst beweglich sein zu wollen. Wird in einer Welt, in der alle permanent unterwegs sind, womöglich gerade Sesshaftigkeit wieder zum neuen Luxus ? Entsprechend dieser Fragestellung möchte ich im Folgenden zeigen, dass die beobachtbare Nomadisierung zu tiefgreifenden räumlichen und architektonischen Veränderungen führt, da der Nomade keineswegs überhaupt nicht mehr, sondern seiner Lebensweise angepasst wohnt, wozu eine ganze Reihe von technologischen und räumlichen Voraussetzungen gegeben sein müssen. Ein näherer Blick auf die mobile Architektur, die Mobitektur, wenn man so will, zeigt dabei allerdings, dass wir nicht Zeugen eines Übergangs von einer sesshaften Periode in eine nomadische sind, sondern sich sesshafte und nomadische Lebensformen einerseits gegenseitig hervorbringen und andererseits immer mehr anzugleichen scheinen.

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Der Nomade: Vom Störfaktor zur Heldenfigur der Postmoderne

Die positive Konnotierung der Bewegungstypen, die sich gegenwärtig beobachten lässt, ist alles andere als selbstverständlich. Bis vor kurzem noch hatten wir es hinsichtlich der ortsgebunden Lebensweise des Sesshaften auf der einen und der mobilen Lebensweise des Nomaden auf der anderen Seite mit einer genau gegenteiligen Bewertung zu tun. Nomadenvölker wurden eindeutig negativ konnotiert. Sie galten als unzivilisierte, wilde Stammesgemeinschaften, die ohne einen festen Wohnsitz umherschweifen, sich damit jeglichem Zugriff entziehen und für den Sesshaften eine Provokation darstellen, weil sie sich nicht an die Gesetze halten müssen, denen diese unterstehen. Der räumlich Ungebundene gilt deshalb generell als verdächtig. Er ist der Störfaktor in einer auf territorialisierten Ansprüchen und Grenzziehungen aufgebauten Gesellschaft. Spätestens mit dem Aufkommen der Städte, Reiche und Nationalstaaten eta­ bliert sich eine politische Ordnung, die Anwesenheit zur Bürgerpflicht erklärt. Die Lokalisierung jedes einzelnen Individuums ermöglicht dem Staat überhaupt erst den Zugriff auf seine Bürger. So wird denn auch Staatsbürgerschaft an Sesshaftigkeit gebunden. Sie erhält nur, wer einen festen Wohnsitz vorweisen kann. Durch diese Logik wird das » fahrende Volk «, werden Zigeuner und Landstreicher zu Außenseitern erklärt, die zumindest den Argwohn, oft genug aber auch den Hass der

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gesetzestreuen Bürger auf sich ziehen. Wenn Politiker sich dem » Druck der Straße « nicht beugen und die Jugend » von der Straße « holen wollen, erkennt man heute noch einen späten Nachhall dieser Tradition. Mobilität diente stets dazu, sich den Zumutungen von Herrschaft und Kontrolle zu entziehen. Die Geschichte der Mobilität bleibt letztlich unverstanden, wenn man diesem Aspekt der Herrschaftsflucht keine Beachtung schenkt. Schon Herodot verzweifelte an der Kriegsführung der Skythen, die unfassbar sind, weil sie nicht ortsgebunden leben: » Sie haben beschlossen, dass sie, wenn sie nicht zu finden sein wollen, niemand fangen kann. Denn wenn Menschen keine befestigten Städte haben, sondern Häuser­ träger und Reitschützen sind, die ihre Unterkünfte auf Wagen umhertragen, wie könnten sie etwa nicht unschlagbar und unerreichbar sein. « (zitiert nach Gleich 1998: 62)1 Aufgrund der scheinbaren Freiheit und Unangreifbarkeit des Nomaden konnte das Unterwegssein und die Beweglichkeit auch massenkulturell als Gegenbild zur Kultur der Sesshaftigkeit in Anschlag gebracht werden. Wie viele Bücher und Filme haben wir alle im Kopf, die dies zum Thema haben: Das lähmende Verweilen an einem Ort und der erlösende Ausbruch in eine ungewisse Zukunft – ein kulturelles Muster, das von Homers Odysseus über den Bildungsroman bis hin zum Beatnik-Roman » Unterwegs « von Jack Kerouac und dem Roadmovie » Easy Rider « reicht. Zur Zeit von James Dean und den Beatles konnte man noch sicher sein: Wer die Wohnung verließ, befand sich bereits außerhalb der gewünschten bürgerlichen Ordnung. Ein Muster, in dem sich die uralte Unterscheidung zwischen den an einen Ort gebundenen Heimischen auf der einen und den für Jahre abwesenden Entdeckern und Eroberern wiederholt. In all diesen Fällen gilt der Ortsgebundene als in seinen Erfahrungsmöglichkeiten eingeschränkt, langweilig und auch ein wenig tumb, während der Reisende seinen Horizont erweitert, wertvolle Erfahrungen macht – mit einem Wort: sich bildet.2 Auf den Punkt bringen lässt sich dieses kulturelle Muster mit den Worten: » Wanderung ist Leben und Fortschritt – Seßhaftigkeit ist Stagnation. « (E. G. Ravenstein 1972, zitiert nach Bonß/Kesselring 2001: 183) Exakt in diesem Sinne haben 1

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Mit der Sesshaftigkeit also steigt die Verletzlichkeit. Nimmt man die Anschläge in New York, Madrid und London zusammen, so wird deutlich, dass es um terroristische Anschläge auf die westliche Lebensweise geht, die Sesshaftigkeit (Wolkenkratzer als Symbol) und Mobilität (U-Bahnen als Symbol) miteinander verbindet. Wie weit dieses Muster reicht, mag man auch daran ermessen, dass – wann immer das Werk Kants gelobt wird – dies kaum ohne den Zusatz auskommt: Dies alles hat er gewusst und geschaffen, obwohl er aus Königsberg nie herausgekommen ist, im Grunde also ein » Stubenhocker « war. Wie wir alles wissen gilt auch heute die Auslandserfahrung mehr denn je als Gütesiegel, selbst dann, wenn sich von der Güte der Erfahrung niemand ein konkretes Bild machen kann.

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so unterschiedliche Autoren wie Joseph Roth und Vilem Flusser, Salman Rushdie und V. S. Naipaul die Migration nicht mehr länger aus der Opferperspektive geschildert, sondern als chancenreiche Lage beschrieben, die aus einer Situation vorgegebener Sozialbeziehungen in eine Situation selbst gewählter Sozial­beziehungen führt. Das Kainsche Schicksal des Umherirrenden – » Ziel- und heimatlos sollst Du sein auf Erden ! « –, über Jahrhunderte als Strafe Gottes interpretiert, wird hier nicht mehr länger als Bestrafung, sondern gleichsam als Befreiungsakt gedeutet (vgl. Schlögel 2005). Die aktuelle Diskussion scheint diesen Vorgaben zu folgen. Der Nomade ist zur positiv besetzten Leitfigur einer Gesellschaft avanciert, in der Mobilität als eine der höchsten Werte gehandelt wird und das Mobilsein zu einer sozialen Norm geworden ist. Unter dem Stichwort » mobil « findet sich im Duden-Bedeutungswörterbuch (2002) der Eintrag: » beweglich, nicht an einen festen Standpunkt gebunden. « Als Synonyme werden verzeichnet: » beweglich, dynamisch, flott, lebhaft, rege, schwungvoll, temperamentvoll, vital «. Und das Duden-Fremdwörterbuch (2005) fügt hinzu: » einsatzbereit, wohlauf, gesund, lebendig, munter «. Wehe dem, auf den diese Eigenschaften nicht zutreffen ! Die mobile Gesellschaft konstituiert ihre eigenen Gesetze von Einschluss und Ausschluss, Inklusion und Exklusion. Wer nicht ausgeschlossen werden, sondern dazugehören will, muss mobil sein oder doch zumindest Mobilität inszenieren können. Längst hat sich eine Ordnung herauskristallisiert, in der sich die Bewertung von Sesshaftigkeit und Nichtsesshaftigkeit nahezu umgedreht zu haben scheint. War einst der Wanderer derjenige, der den Argwohn der Sesshaften auf sich zog, weil er als ebenso unstet wie unzuverlässig galt, so macht sich heute verdächtig, wer nicht dauernd unterwegs ist. Wer beispielsweise stets ans Telefon geht, überrascht nicht nur den Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung, der sich eigentlich schon einen Text für den Anrufbeantworter zurechtgelegt hatte, nun aber mit der Situation fertig werden muss, den Angerufenen tatsächlich am Apparat zu haben, vielmehr setzt er sich auch dem Verdacht aus, nicht genügend mobil zu sein und damit als langweilig, nicht auf der Höhe der Zeit und vereinsamt zu gelten. Auch wer sein Haus nicht einmal verlässt, um arbeiten zu gehen, gilt zumindest als verschroben, wenn nicht gar als faul. Nicht mehr dem Nomaden, was sich wortgeschichtlich von » nemein « (nehmen) ableitet, sondern dem immobilen Stubenhocker wird nach dieser Logik ein parasitäres Leben bescheinigt.

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Vom Zwang zum Nomadentum und dem Luxus der Sesshaftigkeit

Wie ist es möglich, dass der mobile Nomade nach Jahrhunderten der Pathologisierung (vgl. Toral-Niehoff 2002) inzwischen zur Heldenfigur der Postmoderne avanciert ist ? Im Grunde verhält es sich hinsichtlich der Nomadisierung so wie im Falle der Individualisierung auch: Was den Individuen als ihr ureigenster Wunsch vorgelegt wird, ist letztlich die Folge einer Notwendigkeit. Die aus dem nationalstaatlichen Gehäuse ausbrechenden Unternehmen erwarten ein Mitziehen der Belegschaft, die bei Strafe ihrer Auswechslung zur Mobilität gezwungen wird. Entgegen der Ideologie des Jobnomaden, der ungeahnte Freiheiten gewinnt, weil er sich den Zwängen und Repressionen von Unternehmensführung und Gewerkschaften entziehen kann (vgl. Englisch 2001), ist Umfragen zufolge kaum jemand gewillt, die Lebensumstände eines Jobnomaden auf sich zu nehmen. Die Mehrheit wünscht sich noch immer einen festen Wohnsitz und einen krisensicheren Job und setzt dies auch um, wo immer es geht. Die Mobilen von heute erinnern insofern eher an Figuren in einem Mobilé: Sie geraten erst durch Anstoß von Außen in Bewegung.3 Insofern scheint Bauman (1997) mit seiner Diagnose einerseits durchaus Recht zu haben: Die immobile Mehrheit wird von einer mobilen Macht regiert. Andererseits wird mit dieser Dichotomisierung dem Umstand zu wenig Rechnung getragen, dass sich die Nomadisierung als durchgehender Trend erweist, dem sich niemand entziehen kann, der quer durch alle Bevölkerungsschichten führt und – in allerdings unterschiedlicher Form und Intensität – am Wandel der Wohnformen und Einrichtungen abgelesen werden kann. Wenn Architektur immer auch Zeichen von etwas ist, weil sich in ihre Formwelt einschreibt, was die Zeit beschäftigt, dann lässt sich an der gegenwärtigen Architektur, mit ihrem Interesse an kleinen Formen, leichten und flexiblen Baumaterialien, der gegenwärtige Trend zu Mobilität und Flüchtigkeit gut ablesen. Entgegen der These Flussers (1990: 39), dass wir mit dem » Ende der Sesshaftigkeit […] aus der Architektur entlassen werden «, erleben wir im Gegenteil das Aufkommen einer Architektur der Mobilität. Diese entwirft auf der einen Seite Orte der Bewegung, Transiträume und Fortbewegungsmittel, deren Ausstattung es an nichts fehlen lässt, damit der Reisende sich so wohl und behaglich wie in seinem eigenen Zuhause fühlt, gestaltet aber andererseits 3

In einer Studie des BAT-Freizeitforschungsinstituts beispielsweise heißt es, dass drei von vier Befragten so arbeiten möchten wie ihre Eltern: in Festanstellung, mit geregeltem Feierabend und möglichst ohne viele Ortswechsel. In anderen Studien wird von denjenigen, die sich im Moment zur Gruppe der Jobnomaden zählen lassen, oftmals betont, dass sie sich diese Tätigkeit nur für einen befristeten Zeitraum vorstellen können, vgl. Karle (2004).

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auch traditionelle Häuser so mobil, offen und flexibel, dass man hier unterwegs sein kann, ohne sich räumlich fortbewegen zu müssen. Für den ersten Trend, den ich die Verhäuslichung der Fortbewegungsmittel nenne, mag hier exemplarisch die Entwicklung des Automobils stehen, die nicht nur auf immer größere Geschwindigkeiten angelegt ist, sondern sich vor allem in den letzten Jahren auf eine ständige Erweiterung der Funktionen konzentriert. Mehr als je zuvor wird dabei vor allem Wert auf die Innenausstattung der Fahrzeuge gelegt. Das Auto ist längst nicht mehr nur Fortbewegungsmittel zur Durchquerung des Raums, sondern selbst Raum, » Wohnraum « (Baudrillard 1991: 91) geworden.4 Für den zweiten Trend, den ich die Mobilisierung des Wohnens nenne, reichen die Beispiele von den sogenannten intelligenten Häusern bis hin zur leichten Möblierung der Wohnungen durch die Ikeaisierung der Wohnwelt, die Thomas Düllo wie folgt auf den Punkt bringt: » Indem Ikea dem Bundesbürger die schweren Möbel, gemacht und gedacht für die Ewigkeit, und die erschlagenden Schrankwände ausgeredet hatte, war der Weg frei für leichtere Möbel, transportable und verrückbare Möbel. Damit erschütterte Ikea den Hang der Deutschen zur Sesshaftigkeit und bereitete zugleich den Boden für eine Einstellung, die erst in den 80er und dann dynamisch in den 90er Jahren durch die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt notwendig wurden: Flexibilität und Mobilität. « (Düllo 1999: 94) Während das Auto immer mehr Wohnfunktionen annimmt und durch die permanente Zunahme des Verkehrs immer unbeweglicher wird, wird das Haus, ausgestattet mit allem, was der elektronische Markt hergibt, immer mobiler. Aufgrund dieser gleichzeitig stattfindenden Entwicklung ist nicht davon auszugehen, dass die Mobilität, das Umherziehen, das Unterwegssein mehr und mehr über die Sesshaftigkeit obsiegt hat. Vielmehr wird die altergebrachte Unterscheidung von Sesshaftigkeit und Nomadentum zunehmend ebenso obsolet wie die von Wohnen und Reisen.5 Man kann inzwischen unterwegs und doch zu Hause, zu Hause und doch unterwegs sein kann, so dass man es paradoxerweise mit einer sesshaften Mobilität auf der einen und einer mobilen Sesshaftigkeit auf der anderen

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Für diesen Trend lässt sich auch der Verkauferfolg von Kombis und Vans anführen. In einer Werbeanzeige für den Renault Espace (!) heißt es dementsprechend: » Eines Tages bildet sich das Bedürfnis nach Raum … Erst überrascht es uns. Dann lässt es uns nicht mehr los. Der unwiderstehliche Wunsch, einen Raum ganz für uns zu haben. Einen beweglichen Raum, der uns mit sich fort nimmt. Alles wäre zur Hand, wir bräuchten nichts zu entbehren « (zitiert nach Augé 1994: 10). 5 Aus dieser Entwicklung entsteht die zukünftige Aufgabe, zwei bisher auseinandergehaltene und getrennt funktionierende spezielle Soziologien stärker als bisher miteinander in Beziehung zu setzen: Die Soziologie des Wohnens und die Soziologie der Mobilität bzw. der Bewegung.

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Seite zu tun hat.6 Die neuen Automobile bewegen den einzelnen so komfortabel durch den Raum, dass seine Situation sich von der des Sesshaften immer weniger unterscheidet. Jegliche Mühe und Last, die einstmals mit dem Vorankommen, dem Unterwegssein und Reisen verbunden war, wird von ihm genommen, das holpernde Fahren mit der Kutsche ist einem mühelosen Dahingleiten durch den realen Raum gewichen, das sich kaum noch vom Gleiten durch den virtuellen Raum unterscheidet. Mehr denn je erweist sich deshalb die Schellingsche Einsicht als richtig: » Die Bewegung ist nur ein Suchen der Ruhe. « (zitiert nach Baudrillard 1991: 87) Entgegen der Vorstellung Paul Virilios, dass es in Zukunft kein Reisen, sondern nur noch Abreise und Ankunft geben werde, erleben wir derzeit das genaue Gegenteil: Eine Ausdehnung des Unterwegsseins, die Bewegung in Permanenz, das Nie-Ankommen. Insofern bewegen sich die Extreme der mobilen Elite und der immobilen Mehrheit eigentlich immer mehr aufeinander zu. Die Elite unterminiert ihre Ungebundenheit mit immer luxuriöser ausgestatteten Fortbewegungsmitteln, die der ungebundenen und leichten Lebensweise eigentlich zuwider laufen und weniger zum Passieren als vielmehr zum Verweilen einladen; umgekehrt nimmt die immobile Masse an der allgemeinen Mobilität einerseits Anteil durch eine unbestreitbare Ausweitung der Aktionsräume (Knie 1997: 41) und andererseits durch eine virtuelle Mobilität, die es unter anderem möglich macht, sich alle erwünschten Konsumgüter direkt ins Haus liefern zu lassen – man denke nur an » Essen auf Rädern « und den Pizza-Service, aber auch an den Erfolg des Teleshoppings und den Siegeszugs der DVDs, die zunehmend zeitgleich zum Kinostart auf den Markt kommen: » Die Durchschnittswohnung ist, genau gesehen, bereits ein Terminal, die Küche ein einziges, das Wohnzimmer ein partielles Cockpit «, so notiert Peter Gross (1999: 135) angesichts dieser Entwicklung: » Zielprojektion ist eine Art individueller Flughafen, in den man die ganze Welt über leistungsfähige InformationHighways in die eigenen vier Wände, die es ja noch gibt, hineinsaugt. « (Ebd.: 136) Mobilität wird also gewissermaßen verhäuslicht und von der Notwendigkeit geographischer Bewegung entlastet. Dieser Entwicklung wird in Baumans dichotomen Modell von globaler Elite auf der einen und immobiler Masse auf der anderen Seite keine Rechnung getragen (vgl. Bauman 1997). Er übersieht, dass vor allem auch die ganz Armen sehr mobil sein müssen, um an den Reichtümern der reichen Staaten teilhaben zu können, so dass wir ein vagabundierendes oder nomadisches Dasein einerseits » ganz unten « und andererseits » ganz oben « vorfinden können: Die Mobilität in der » Mitte der Gesellschaft « hingegen erschöpft sich zumeist in regelmäßigen Pendelbewegungen zwischen Arbeitsstelle und ei6 Vgl. dazu auch die von Bonß/Kesselring/Weiß (2004) unterschiedenen » Mischtypen « des » mobil Immobilen « und des » immobil Mobilen «.

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gener Wohnung, die ein- bis zweimal im Jahr um eine Reise in ferne Länder ergänzt werden. Es ist dabei vor allem die Verknüpfung von Eigenheim und Automobil, die den Lebensstil der Mittelschichten ausmacht. Gerade die Mischung aus Beweglichkeit als Möglichkeit und festem Wohnsitz dürfte es sein, die hier als Luxus erlebt wird. Das insbesondere durch das Automobil gewährleistete, jeder Zeit mögliche Davonfahren, gepaart mit der Behaglichkeit und dem Schutz des Hauses steht hier im Mittelpunkt (vgl. Polster und Voy 1991). Diese Form der Mischung scheint, bezogen auf bundesrepublikanische Verhältnisse, an der heutigen Situation das Typische zu sein.

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Mobilität und Bewegungskontrolle

Georg Simmel, der über unterschiedliche Stadien der historischen Entwicklung die Vor- und Nachteile der Sesshaften gegenüber den Vagabunden und Nomaden verfolgt hat, kommt für seine Gegenwart zu dem Schluss, dass die Position des Sesshaften gegenüber dem auf Bewegung angewiesenen immer günstiger wird. Die Erleichterung des Ortswechsels durch technische Errungenschaften kommt seiner Ansicht nach diesem Trend entgegen. Denn sie erlauben es dem prinzipiell Sesshaften neben den Vorteilen der Sesshaftigkeit auch die der Mobilität zu nutzen. Der prinzipiell Bewegliche hingegen kommt nicht in gleichem Maße auch in den Genuss der Sesshaftigkeit (vgl. Simmel 1992: 764). Während noch immer das nomadische Leben beschworen und Mobilität groß geschrieben wird, ist die eigentlich aktuelle Entwicklung die einer zunehmenden Sesshaftigkeit aufgrund der technischen Möglichkeiten, sich alles ins eigene Haus transportieren zu lassen: » Wir können von zuhause aus die ganze Welt erleben « behauptet der Zukunftsforscher Ian Pearson. Mit der Durchsetzung dieser Logik erhält ein anderer, uns wohlvertrauter Sozialcharakter wieder eine Chance, der gewissermaßen das Gegenteil des Nomaden darstellt: Der Spießer. Der so überaus erfolgreiche Werbespot einer bekannten Baussparkasse transportiert die Botschaft, dass nicht länger Geiz, sondern Sparen geil ist: Sparen auf ein Eigenheim zumal. Eine überwältigende Mehrheit von Bundesbürgern träumt nach wie vor den Traum vom Eigenheim (vgl. Bourdieu u. a. 1998: 7). Allerdings ist dieser Spießer so wenig im klassischen Sinne Spießer wie der Neonomade Nomade im alten Sinne ist. Der Mobile ist nicht mehr unterwegs in dem Sinne, dass er unerreichbar, unfassbar und unkontrollierbar wäre wie bei Herodot die Skythen, und der Immobile nicht mehr derart ortfest, dass er nicht auch mobil wäre. Beide Handlungstypen erfahren vielmehr eine spezifische Umwertung und machen deutlich, wie schnell eine scheinbar fest stehende Konnotation in ihr Gegenteil verkehrt werden kann.

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Angesichts der Diskussionen um » Heuschreckenschwärme « und Visa-Affäre wird schlagend deutlich, dass die positive Konnotierung von Mobilität unter bestimmten Konstellationen wieder in eine negative umschlagen und als Bedrohung erlebt werden kann. Die mobilen Unternehmen ebenso wie die europäischen Jobnomaden werden dann wieder zu Gefahren des heimischen Bestandes an Arbeitsplätzen erklärt, was deutlich macht: Bei der staatlich unterstützen, geforderten und geförderten Mobilität handelt es sich um eine gemäßigte und kontrollierte Mobilität; eine Mobilität, die sich auf das Pendeln zwischen Wohnort und Arbeitsplatz reduziert, so dass der Staat es weiterhin mit berechenbaren und jederzeit erfassbaren, allenfalls vorübergehend abwesenden Bürgern zu tun hat. Ein beliebiges Kreuzen territorialer Grenzen dagegen will ein souveräner Staat auch heute, im Zeitalter fallender nationalstaatlicher Grenzen, nicht hinnehmen. Und deshalb ist, weil die Rückkehr zur immobilen Sesshaftigkeit sich ausschließt, die Bewegungskontrolle die Antwort auf eine immer mobiler werdende Bevölkerung, die sich mit ihrer Bewegungsfreiheit nur scheinbar dem staatlichen Zugriff zu entziehen vermag. Die positive Konnotierung des Nomaden und seine Entpathologisierung wäre gar nicht möglich gewesen ohne die zunehmenden Kontrollmöglichkeiten der Reisenden. In dem Moment, in dem diese nicht mehr greifen, werden die alten Semantiken wieder bemüht.7 Durch die wachsenden Möglichkeiten der Kontrolle verliert der Nomade einen Großteil seiner subversiven Identität, die gerade in der Unfassbarkeit und Unkontrolliertheit bestand und verhilft damit seinem Erzfeind, dem Spießer, zu neuer Blüte. So bringt die eine Lebensform die andere als ihr scheinbares Gegenteil hervor, obwohl beide – der Sesshafte wie der Nomade – nunmehr gerade darin übereinstimmen, kontrollierbar zu sein – unabhängig von ihrer jeweiligen Stelle im Raum. Denn ebenso wie sich die Bewegungen durch den geographischen Raum via Satellit, GPS und Videoüberwachung jederzeit nachvollziehen lassen, so erfolgen auch die virtuellen Bewegungen beim Nomadisieren im Internet keineswegs spurenlos und unkontrolliert, so dass weder geographische noch virtuelle 7

Dass das Nachdenken über das neue Nomadentum auffällig oft in essayistischen Texten geschieht, scheint kein Zufall zu sein, ist doch der Essay unter den verschiedenen Textgattungen nach Hans Magnus Enzensberger selbst ein Nomade. Vor der Existenz der Experten und Spezialisten, die nicht existieren können, » ohne ihr eigenes Feld, ihren eigenen Claim abzustecken, die von ihrem Grundbesitz leben und das Territorium, auf dem sie sich ansiedeln nötigenfalls gegen jeden Eindringling verteidigen « bewahre den Essayisten seine » Neigung zum Nomadentum «. Im Gegensatz zum sesshaften Experten, so Enzensberger, macht der Essayist eine » flüchtige Figur, denn er ist immer in Bewegung. […] Selbst dort noch, wo er sich dreist hervorwagt und apodiktisch äußert, kann und will der Essayist nicht unbedingt recht behalten. Kaum hat er geendet, schon räumt er das Feld und überlässt es den andern, in der Hoffnung, sie würden den Faden wieder aufnehmen, die Sache weiterverfolgen, ihm widersprechen, ihn nach Belieben korrigieren oder ausplündern. «

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Mobilität als unproblematische Befreiung der Bürger aus der staatlichen Festsetzung angesehen werden kann. Jenseits der historisch gut nachweisbaren gegenseitigen Pathologisierung oder Verklärung des sesshaften bzw. des nomadischen Lebens, können wir derzeit vielmehr eine starke Annäherung beider Lebensformen beobachten, die die strikte Unterscheidung von Nomaden auf der einen und Sesshaften auf der anderen Seite als überholt entlarvt. Die Gemeinsamkeit beider Lebensformen, die jeweils ihre eigenen Helden haben – auf der einen Seite den Nomaden, auf der anderen Seite den Spießer –, ergibt sich vor allem durch die Chancen zur Kommunikation und die Möglichkeit der Kontrolle dieser Kommunikation durch Dritte. In einer Welt, in der alle permanent unterwegs sind, wird Sesshaftigkeit wieder zum Luxus. Eine Sesshaftigkeit allerdings, die Teilnahme ermöglicht, ohne sich noch räumlich von der Stelle bewegen zu müssen.

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Teil III Der gebaute Raum

Der Raum der Schule (zusammen mit Laura Kajetzke)

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Schüler: Vagabundierende Nomaden oder sesshafte Spießer ?

Eine Schule ist in Bewegung. Schüler strömen wie eine Flut1 durch die Gänge, auf dem Pausenhof bilden sich Gesprächskreise, um sich nur kurze Zeit später wieder zu verlaufen. Schlangestehen in der Schulcafeteria, das Ein und Aus in den Schultoiletten, sogar vor dem Schultor stehen Schüler, obwohl das Verlassen des Geländes verboten ist. Das Kommen und Gehen, die Bewegung und die Platzierung sind nicht vollständig vorhersehbar: Zwar setzt sich die Masse der Anwesenden beim Läuten der Pausenglocke einheitlich in Bewegung, doch ein Schüler beschließt zu schwänzen und schleicht auch noch nach Unterrichtsbeginn durch die Gänge, um sich mit einigen Freunden bei den Fahrradständern zu treffen. Eine andere Schülerin hat sich verspätet, weil sie ihr Sportzeug in der Turnhalle vergessen hat und den ganzen Weg zurücklaufen musste. Auch in den Räumen herrscht nicht immer die Anordnung, die für die Schüler vorgesehen ist, Streiche und Verwirrspiele stehen auf der inoffiziellen Tagesordnung: » Während Martin vor der Tür gewartet hatte, war etwas Haarsträubendes geschehen ! Ein paar Externe (…) hatten Uli in den Papierkorb gesetzt und den Papierkorb an den zwei Haken, die zum Aufhängen der Landkarten dienten, hochgezogen. Matthias war von vier Jungen in der Bank festgehalten worden. Und nun hing Uli oben unter der Zimmerdecke und schaute mit knallrotem Kopf aus dem Körbchen. Martin wäre fast in Ohnmacht gesunken. Professor Kreuzkamm tat, als bemerke er den skandalösen Tat-

1 Zu dieser Bildlichkeit vergleiche auch die Wahrnehmung von Lehrern in einer Untersuchung sogenannter › Schulrebellen ‹ (Willis 1982, S. 127).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Schroer, Räume der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2_10

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Der Raum der Schule

bestand überhaupt nicht, sondern setzte sich gleichmütig hinters Katheder (…). « Erich Kästner, Das fliegende Klassenzimmer

Sind Schüler Vagabunden, Nomaden der Schulflure und -höfe, die, wie so viele andere Menschen im westlich geprägten Kulturraum, unter den Vorzeichen einer positiv besetzten Mobilität und Flexibilität permanent unterwegs sind ? Oder sind sie nicht doch vielmehr das genaue Gegenteil davon, sesshafte Spießer wie ihre Eltern ?2 Zentrale Bezugspunkte ihres Handelns sind das Elternhaus und die Schule, zwei Gebäudetypen mit sichtbaren Außengrenzen sowie mit meist unverrückbarem Mobiliar, das vor allem zum Verweilen und zur Passivität einlädt. Aus dieser Perspektive erzeugt die Schule als institutionalisierter Raum immobile Individuen, deren Bewegung nur eine kurzzeitige Übergangsphase von einem Ruhezustand in den nächsten darstellt. Beide Sichtweisen klingen für sich genommen plausibel, doch gehen sie von einem Raumverständnis aus, das von der neueren Raumsoziologie (Sturm 2000, Löw 2001, Schroer 2007) aus guten Gründen nicht geteilt wird. Räume sind nicht nur ein hübscher Bilderrahmen für Interaktionen, der Akteure in ihren Möglichkeiten begrenzt. Das Konzept des Raumes soll vielmehr konstruktivistisch verstanden werden: Zwar können Gebäude und Mobiliar und auch typische Platzierungen in und zu diesen den Individuen vorgängig sein, doch konstituiert sich der Raum erst durch die Bewegung der Individuen. Löw (2001) beschreibt die » (An)Ordnung « von Individuen zu Objekten und Gebäuden, das bewusste oder habituell gewusste Sich-Platzieren, als » Spacing «, die kognitive Verknüpfung dieser disparaten Elemente zu einer kohärenten Raumwahrnehmung als » Synthese « (ebd., S. 158 ff.). Räume werden also erst geschaffen und sind nicht ontisch vorgegeben. Zugespitzt kann man sogar sagen, dass auf einem Territorium, wie z. B. dem Schulgelände, ganz unterschiedliche » raumkonstituierende Kompetenzen und Kämpfe « (ebd., S. 234) stattfinden können. In diesem Verständnis ist auch der Körper ein wesentlicher Aspekt der Raumbildung, da er sowohl Ausgangspunkt für jegliche Form von Raumwahrnehmung ist als auch als strategisches Mittel zur Definition eigener Räume eingesetzt werden kann (Schroer 2007, S. 276 ff.).3

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Die Konzepte des Nomaden und des Spießers als zwei » Mobilitäts-Idealtypen « findet sich erstmalig im Aufsatz » Mobilität ohne Grenzen ? Vom Dasein als Nomade und der Zukunft der Sesshaftigkeit « (Schroer 2006). Der Körper ist hier nicht lediglich als ein › Ding ‹ unter anderen zu platzierenden Objekten in einem Raum zu verstehen, sondern soll im Sinne der Schützschen Phänomenologie angesehen werden als notwendige Bedingung der Erfahrung von Raum: » Mein Körper ist (…) nicht ein Gegenstand im Raum, sondern die Bedingung für alle meine Erfahrung der räumlichen Gliederung der Lebenswelt. In jeder Situation wirkt mein Körper als ein Koordina-

Der Raum der Schule 183

In diesem Spannungsfeld von Akteuren, Gebäudevorgaben und Objekten4 in der Schule, in dem Raum erst aktiv hergestellt wird, wird im folgenden das Konzept der » Mobitektur « Erhellung bringen. Dieser Begriff soll erfassen, dass die klassische Unterscheidung von Sesshaftigkeit und Unterwegssein an Bedeutung verliert, weil sich beide Pole einander annähern. Dabei beschränkt sich die » mobile Architektur « nicht nur auf die Gebäude selbst, sondern setzt am (bewegten) Verhältnis von Handelnden, Dingen und Bauten an. » Mobitektur « ist ein Neologismus5, der darauf zielt, den alltäglichen und soziologischen Blick für die zunehmende Mobilität des Sesshaften und die zunehmende Sesshaftigkeit der Mobilität zu schärfen. So holt einerseits beispielsweise das Wohnhaus, als Inbegriff des Ankommens, Bleibens und Verweilens durch technische Entwicklungen im Kommunikationsbereich, z. B. Heimkino, Homeshopping und Informations- und Entertainmentzufuhr via Internet, ehemals ausgelagerte Orte direkt in das Eigenheim. Das Haus wird zum Terminal, der Ort wird entterritorialisiert. Auch wird die Innen- und Außenarchitektur von Wohnhäusern offener und leichter in der Gestaltung.6 Diese zunehmende Beweglichkeit in der Sesshaftigkeit soll, als erste Tendenz der Mobitektur, Mobilisierung des Wohnens genannt werden. Andererseits wird durch die permanente Erfordernis zur Mobilität der Arbeitsweg mit dem Zug, dem Auto oder gar dem Flugzeug zurückgelegt, was Auswirkungen auf Ausstattung und Komfort dieser Transportmittel hat.7 Autos können aufgrund ihrer vielfältigen Funktionen und ihrer Abgeschlossenheit nach außen mit kleinen Häusern verglichen werden, die den einzelnen Reisenden in einer gewissen Weise vor der Außenwelt » beschützen « wie ein Kokon. So ist trotz einer Bewegung von A nach B auch eine zunehmende Sesshaftigkeit innerhalb dieser Mobilität zu konstatieren. Diese zweite Tendenz der Mobitektur kann als Verhäuslichung der Fortbewegungsmittel bezeichnet werden.8

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tenzentrum in der Welt, mit einem Oben und Unten, einem Rechts und Links, Hinten und Vorn. « (Schütz/Luckmann 1975, S. 152 ) In der Regel handelt es sich hier um Mobiliar. Interessant ist daran für den vorliegenden Zusammenhang, dass sich das Wort » Möbel « etymologisch ebenso wie die Mobilität von movere, » bewegen « hergeleitet wird und eine » bewegliche Habe « bezeichnet (Kluge 2002). Dieser Terminus scheint jedoch nahe liegend zu sein, um das Verhältnis von Bewegung und Sesshaftigkeit zu erfassen und wird nicht nur in der Soziologie verwendet. » Mobitektur « nennt daher der Kurator der Ausstellung » Living in Motion «, Mathias Schwarz-Clauss, Objekte, die gleichzeitig Architektur und Möbel, Behausung und Einrichtung sind. Bezogen auf die Inneneinrichtung spricht Düllo von einer » Ikeaisierung der Wohnwelt « (Düllo 2000). Augé beschreibt anschaulich die Orte des Reisenden als » Nicht-Orte « mit speziellem Augenmerk auf die Inszenierung und Ausstattung dieser Übergangsstationen (Augé 1994). Vergleiche zu diesen Gedanken und den folgenden erneut den Aufsatz » Mobilität ohne Grenzen « (Schroer 2006).

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Der Raum der Schule

Mit diesem Verständnis sind Schüler folglich nicht mehr mit den › traditionellen ‹ Nomaden vergleichbar, die einen bereits vorhandenen, aber als statisch wahrgenommenen Raum durchqueren. Der Raum selbst wird zu einem Vagabunden, seine Grenzen sind veränderbar und nicht an Mauern aus Stein gebunden. Dieser neuen Fluidität des Raumes wird durch den Begriff der Mobitektur Rechnung getragen. Das Konzept nimmt jedoch auch gleichermaßen in den Blick, dass Räume durch die Handlungs- und Wahrnehmungsleistungen der Schüler in ihrem Alltag zum Leben erweckt werden. Es wäre jedoch auch unangemessen, Schüler als sesshafte Stubenhocker zu kategorisieren, da sie in ihrem Alltag durch ihre Handlungsund Wahrnehmungsleistungen Räume erst zum Leben erwecken. Die zentrale Frage, die sich aus einer konstruktivistisch-mobitektonischen Per­spektive in Bezug auf Schularchitektur stellt, zielt auf die Raumkonstituierungsleistungen der Akteure in Wechselwirkung mit Gebäudeumrissen, Mobiliar, Lernmaterial und Handlungserfordernissen unter den Gesichtspunkten von Bewegung und Stillstand ab. Nachdem nun in einem ersten Schritt das Spannungsfeld von Sesshaftigkeit und Mobilität zum Schüler-Akteur in Beziehung gesetzt wurde, soll in einem zweiten Schritt der Blick auf ein idealtypisches Klassenzimmer geworfen werden. Der historische Institutionalisierungsprozess dieses Raumtypus mit seiner handlungsstrukturierenden Kraft wird dabei umrissen, um die Genese bestimmter Fixierungspraktiken nachzuzeichnen (Foucault 1994) (2). Eine Perspektive, die sich auf die Sesshaftwerdung der Schüler-Subjekte beschränkt, greift aber zu kurz. Die raumerschaffenden Möglichkeiten von Schülern beginnen schon im Klassenzimmer, wie in einem dritten Schritt mit interpretativen Deutungen gezeigt wird (Goffman 1983) (3). Raumkonstituierung durch Schüler findet nicht nur im Klassenzimmer statt. Da in diesen Prozess sowohl Gebäudevorgaben, Objekte und deutungs- und handlungsmächtige Individuen mit ihren Körpern (als ein weiteres Definitions-Mittel) einbezogen sind, wird in einem vierten Schritt über Möglichkeiten der Raumaneignung reflektiert. Unterschieden wird dabei in top down-Maßnahmen, die » von oben « verordnet werden, um eine bessere Lernumgebung zu schaffen, sowie bottom up-Maßnahmen durch die Schüler selbst, die teilweise subversiv sein können und sich durch Fragilität auszeichnen (4). All dies mündet in dem Konzept der Mobitektur, wie dann in einem letzten Schritt in Form eines Fazits herausgearbeitet wird. Abschließend ist zu diskutieren, welchen Beitrag die eröffneten Dimensionen einer schulischen Mobitektur zu raumsoziologischen Analysen leisten können (5).

Der Raum der Schule 185

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Fliegendes Klassenzimmer ? Fixierendes Klassenzimmer !

Erstaunlicherweise wurde das Klassenzimmer als Raumtypus bislang von der Forschung sträflich vernachlässigt. Grosvenor et al. beklagen eine » silence in the history of education about the practice, meaning and culture of classrooms in the past « (Grosvenor et al. 1999, S. 1). Das idealtypische Klassenzimmer mit seinen Zweiertischen und Stühlen, ob nun in Reihen aufgestellt oder in U-Form, mit der Tafel und dem Lehrerpult, ist vielen vertraut. Aber wie kommt es, dass uns diese Grundelemente eines Klassenzimmers so gar nicht kontingent vorkommen ? Erwartet wird Zentralität, also Ausrichtung der Schüler auf den Lehrer, genauso wie eine gewisse Kargheit, gegen die vom Klassenverband hin und wieder mit bescheidenen Mitteln – etwas Farbe, ein paar Bravo-Poster – angegangen wird. Die Schüler stellen wir uns in der Regel sitzend vor. Woher stammen diese institutionalisierten Raumvorgaben, die sich als Typisierung9 in jedermanns Wahrnehmung geschlichen haben ? Ein Blick auf die Geschichte der (europäischen) Klassenzimmer offenbart drei Aspekte, die die Schularchitektur maßgeblich geprägt haben: der Protestantismus in der Folge der Reformation, der Militarismus in der Folge des Wilhelminismus und der Hygienediskurs des 19. Jahrhunderts in der Folge der Industrialisierung und der Beschulung der Massen durch die allgemeine Schulpflicht.10 Hier finden wir zentrale Gründe für die Fixierung der Schüler im Sichtbarkeitsfeld des Lehrers als Möglichkeit raumzeitliche Kontrolle sowie für die karge Ausstattung von Schulen, z. B. das Fehlen von Teppichen. Betrachtet man Protestantismus, Militarismus und Hygiene als legitime Ordnungen im Sinne Webers, die orientierend auf das soziale Handeln der Menschen wirken (Weber 1976, S. 16 f.), dann steckt hinter dem Protestantismus die Idee des rastlosen Arbeitens11, hinter dem Mi9 » Typisierung « wird hier im Sinne Bergers und Luckmanns verstanden als Verfügen über hilfreiche kognitive Schablonen zur Erfassung der komplexen Weltwirklichkeit, mit der wir das Besondere einer Vis-à-Vis-Situation mit dem Allgemeinen abgleichen. (Berger/Luckmann 2004: 32 ff.) 10 Einen Überblick, der mehr ins Detail geht, geben Göhlich 1993, 304 ff. und Luley 2000. Vergleiche dazu auch Göhlichs Beitrag in diesem Band. Mit Verweis auf eine historisch-kritische Interpretation des fotographischen Blicks finden sich bei Grosvenor anschauliche Fotographien von Schulraumsituationen des 19. Jahrhunderts (Grosvenor 1999). 11 Zum Verhältnis von religiösen Ideen und sozialem Handeln vergleiche Weber 2006. Göhlich weist in seiner » Kurze(n) Geschichte des Schulraums seit dem Mittelalter « (Göhlich 1993) auf den Umstand hin, dass Luther seiner Zeit voraus war: » Die Dezentralität der innerschulischen Sitzordnung blieb im 16. Jahrhundert dominant. Aber der Kupferstich, der Luthers Aufruf zur Gründung christlicher Schulen bebildert, zeigte die gewünschte Richtung. Hintereinander sollten die Schüler sitzen, die Zentralität des Lehrers sollte außer Frage stehen.

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Der Raum der Schule

litarismus der Mechanismus der Disziplin und im Hygienediskurs die Idee der Ansteckungsgefahr. Diese Ideen hielten Einzug in das Klassenzimmer. Foucault sieht im Raum12 den Bezugspunkt für die Disziplin, innerhalb dessen diese sich opti­mal entfalten kann: » Die Disziplin macht sich zunächst an die Verteilung der Individuen im Raum. « (Foucault 1994, S. 181) Die Machttechniken, die auf die Schüler wirken, dienen allesamt ihrer Fixierung und Kontrolle im Klassenraum.13 Solche Techniken der Disziplin sind nach Foucault die Klausur, die Parzellierung, die Codierung (des Raumes) und die Rangzuteilung. Mit der Klausur bezeichnet Foucault die bauliche Schließung eines Ortes. Im Falle der Schule gilt dies für die Schulaußenmauern wie für die (altershomogenen) Klassenzimmer. Die Parzellierung der Individuen weist jedem seinen Platz zu (Sobczyk/Landau 2003: 12). Komplettiert wird die Parzellierung durch die Codierung des Raumes, also die Zuweisung bestimmter Funktionen, sowie den Rang. Darunter versteht Foucault die Organisation des Raumes durch hierarchische Prinzipien. Dies kann so unterschiedliche Aspekte wie die Zuweisung des Ranges » Klassenbester « meinen, aber auch auf die Einteilung der Lernzeit nach Lehr- und Stundenplänen bezogen werden (Foucault 1994, S. 180 ff.). Diese Fixierung der Schüler-Akteure wirkt in seiner Funktionsweise raumkonstituierend. Dazu Foucault: » Indem sie die › Zellen ‹, die › Plätze ‹ und die › Ränge ‹ organisierten, fabrizieren die Disziplinen komplexe Räume aus Architektur, Funktionen und Hierarchien. (…) Es handelt sich um Mischräume: sie sind real, da sie die Anlage der Gebäude, der Säle, der Möbel bestimmen; sie sind ideal, weil dieser Anordnung Charakterisierungen, Schätzungen, Hierarchien entsprechen. « (ebd., S. 190)

Tragen wir Luthers Bemühen um den Ausschluß der sündigen Welt, des Tanzes, Ballspiels und sonstiger teuflischer Vergnügungen mit der (…) Sitzordnung eines frontalen Hintereinanders zusammen, so wird deutlich, daß die Reformation die Kontrollanteile des Lehrers stärkte. « (ebd., S. 309) 12 Genau genommen verfolgt Foucault eine Raumhistorie, die auch raumsoziologisch fruchtbar gemacht werden kann: » Man müsste eine ganze Geschichte der Räume schreiben – die zugleich eine Geschichte der Mächte wäre –, von den großen Strategien der Geopolitik bis zu den kleinen Taktiken des Wohnens, der institutionellen Architektur, dem Klassenzimmer oder der Krankenhausorganisation und dazwischen den ökonomisch-politischen Einpflanzungen. Es überrascht, wenn man sieht, welch lange Zeit das Problem der Räume gebraucht hat, um als historisch-politisches Problem aufzutauchen. « (Foucault 2003, S. 253) 13 Zu weiteren Mechanismen, die im Sinne einer Foucaultschen Disziplinierung auf das Schüler-Subjekt einwirken, vergleiche Kajetzke 2008, S. 93 ff.

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Der » klassische « Klassenraum des 19. Jahrhunderts zeichnet sich folglich durch eine Institutionalisierung der schulischen Sesshaftigkeit, verbunden mit einer raumzeitlichen, also gleichzeitigen und flächendeckenden Kontrolle der Schüler, aus (Sobczyk/Landau 2003, S. 5 f.). So ist auch die Typisierung des Klassenzimmers in unserer Wahrnehmung, das (Klassen-)» Zimmer im Kopf « (Schöttker 2005, S. 1191) als historisch gewachsene Schablone erklärbar. Das fixierende Klassenzimmer steht spätestens seit den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts, seit dem Erblühen der Reformpädagogik oder auch architektonischen Strömungen wie dem Bauhaus, in der Kritik. Trotzdem halten sich die fixierenden Ele­ mente mit erstaunlicher Beharrlichkeit.14

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Fliegendes Klassenzimmer ? Mobilisierendes Klassenzimmer !

Dies ist die eine, wirkmächtige, Seite der Schularchitektur, die im Sinne der Fixierung einen Raum der Sesshaftigkeit bildet. Dennoch wäre eine Per­spektive, die es bei dieser determinierenden Kraft des Klassenzimmers belassen würde und Schüler zu reinen » Stubenhockern « degradiert, zu eindimensional. Ein Kernanliegen der Mobitektur ist es zu zeigen, wie die Wechselverhältnisse von Raumvorgaben und Handlungen der Akteure aussehen können, die erst in gemeinschaftlicher Konstituierungsarbeit den Raum erschaffen. Ergänzend soll eine interpretative Herangehensweise an die Thematik den mobilen Aspekt des Klassenzimmers unter die Lupe nehmen. Aus dieser Sicht sind Schüler nicht lediglich Zielscheibe disziplinierender Maßnahmen, sondern aktive Mit-Erzeuger der sozialen Wirklichkeit Klassenraum. Goffman, der die » Presentation of Self in Everyday Live « (Goffman 1983) in den unterschiedlichsten Situationen untersucht hat, weist auf die Inszenierungsleistung der Akteure in alltäglichen Kontexten hin und verwendet zur Verdeutlichung dieser Zusammen- und Darstellungsarbeit das Bild des Theaters. Beschreibt man einen gewöhnlichen Schultag im Vokabular einer Theateraufführung, dann werden die dramaturgischen Strategien, die die einzelnen Akteure zur Erzeugung dieser Alltagssituation aufwenden, in der sie intersubjektiv geteilten Raum und Sinn erzeugen, deutlich: So wird ein Schultag in einem Klassenzimmer zu einer Vorstellung mit Ensemble und Publikum, be­stehend aus Schülern und dem Lehrer in wechselnden Kombinationen. Der Raum teilt 14 Sobczyk und Landau machen vor allem pädagogische Gründe für die Konstanz der diszi­ plinierenden Schularchitektur verantwortlich, zeigen aber ebenfalls Verwunderung darüber, warum die Kritik an Konzepten wie dem Frontalunterricht nicht auch zur Veränderung des schulischen Raumes geführt hat. (Sobczyk/Landau 2003: 8).

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Der Raum der Schule

sich in Vorder- und Hinterbühne. Vorderbühne ist die Inszenierung des Stückes » Deutschstunde «, » Geographieunterricht « oder » Fünfminutenpause «. Für die Schaffung von Hinterbühnen im Klassenzimmer selbst zum Zeitpunkt des Unterrichts ist Findigkeit gefragt: Hinter Schulbüchern und unter dem Tischen, quasi unter Verwendung von Requisiten und verborgen vor den Blicken des Lehrers können Hinterbühnen entstehen, Zonen der Informalität, die nicht offizieller Teil der Darstellung auf der Vorderbühne sind (Goffman 1983; ders. 1989, S. 143 ff.; Willems 2008). Auch hier gilt: Bühnen sind – wie Räume im hier verstandenen Sinne – keine ontischen Orte: Zur Pausenzeit kann der geographische Ort Klassenzimmer zu einer Hinterbühne für Interaktionen unter Peers umgedeutet werden (Breidenstein 2008). Zeit – die Unterrichtsstunde – und Raum – das Klassenzimmer – werden durch die Akteure in einen Sinnzusammenhang gestellt, den man mit Goffman als » Rahmen « bezeichnen kann. Diese Rahmen bieten als kollektive Handlungsorientierungen Muster zum Zurechfinden in Situationen an (Goffman 1989: 602 ff.). Goffman spricht von einem komplexen Prozess der Schaffung und Erhaltung einer Interaktionsordnung, die sich vor allem im Etablieren von Ritualen Stabilität verschafft (Goffman 1999; Wagner-Willi 2007: 126 f.). Wichtig ist hierbei, dass nicht eine determinierende Wirkung der Räumlichkeiten angenommen wird, sondern der Umriss des Klassenzimmers und die Kenntnis der Rahmung » Unterricht « als Sinnlieferant dienen, also den Akteuren Hinweise auf ein Spektrum angemessener Handlungen liefern. Der Umgang mit der Rahmung ist folglich kreativ und nicht vorhersehbar, auch wenn es Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Handlungsabläufe gibt, die als » normal « angesehen werden. Die Schüler sitzen und sie lärmen nicht. Der Lehrer eröffnet und schließt die Stunde und seine Autorität steht weitgehend außer Frage. Diese konsensuale Normalität wird zum zentralen Bezugspunkt der Inszenierung. Wenn sich sowohl die Schüler als auch der Lehrer Kreuzkamm im oben erwähnten Zitat aus Kästners Roman zunächst so verhalten, als ob es sich um eine alltägliche Unterrichtssituation handelt, obwohl Schüler Uli in einem Papierkorb an der Decke hängt, dann wird hier der Versuch unternommen, die Theateraufführung » Deutschstunde « nicht zu stören. Zur » Choreographie « der Schüler gehört dabei wesentlich die Platzierung und Fixierung auf der Schulbank, wie durch das Abweichen von diesem » Skript « durch Uli bei dessen Entdeckung deutlich wird: » › Und wie wird Grammophon geschrieben ? Uli ! ‹ Die ganze Klasse erstarrte vor Schreck. Der Professor trommelte nervös mit den Fingern auf dem Katheder. › Na, wird’s bald, Simmern ? Los, los ! ‹ Da ertönte es zitternd aus dem Papierkorb. › G..r..a…m…m… ‹ Weiter kam Uli nicht. Magisch angezogen blickte der Professor nach oben und stand

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auf. › Seit wann ist denn dieses Zimmer ein Rummelplatz ? ‹ « Erich Kästner, Das fliegende Klassenzimmer

Mit der interpretativen Brille auf die Situation Klasse zeigt sich die Bedeutung der Bewegung der Schüler für die Raumkonstitution. Auch wenn Uli sich in seinem Papierkorb an der Decke, in den er nicht freiwillig gestiegen ist, selbst immobil fühlt, vergleicht Professor Kreuzkamm die Situation im Klassenzimmer mit einem lärmenden und bewegten Jahrmarkt. Von Uli wird auf die Gruppe der Schüler rückgeschlossen. Das Skript einer normalen Unterrichtsstunde ist kurz erschüttert, bis mit einer kollektiv verhängten Strafarbeit als Sanktion für diesen kalkulierten » Rahmenbruch « (Goffman 1989, S. 378 ff.) die (fixierende) Interaktionsordnung wieder hergestellt wird. Uli fügt sich wieder in das Ensemble ein. Für die schulische Mobitektur sind im Hinblick auf das Klassenzimmer zwei Aspekte festzuhalten: In einem standardisierten, » klassischen « Klassenzimmer gibt es fixierende Elemente, die zur Sesshaftigkeit verpflichten und Mobilität stark einschränken bzw. regulieren. Jedoch ist diese Sesshaftigkeit kein Automatismus, sondern muss als Inszenierungsleistung der Akteure tagtäglich wieder hergestellt werden und wird, in Hinterbühnen-Performances und mit vielen kleinen Bewegungen mit dem und um den Lehrer herum, beständig unterlaufen. Weder ist die Kontrolle total noch wird sie von den Beteiligten ausdrücklich gewollt. Vielmehr sind wiederkehrende Ausbruchsversuche zu beobachten, die zeigen, dass institutionelle Arrangements weit weniger starr sind als sie oftmals dargestellt werden. Wie das Beispiel illustriert, haben wir es aber oftmals mit situativen Umbrüchen und Umcodierungen zu tun, die die sozialräumliche Ordnung nur vorübergehend aus dem Tritt zu bringen vermögen. Entscheidend ist, dass der Platzierungsordnung nicht blind entsprochen wird, sondern auf einer prinzipiellen Bereitschaft der Akteure aufbaut, die zurückgenommen werden kann. Aushandlungsprozesse spielen hier grundsätzlich eine große Rolle.

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Raumaneignung: Wer initiiert Mobilität ?

Eine Schule besteht nicht nur aus Klassenzimmern. Korridore, Foyers, Aulen, Schulhöfe, womöglich Gärten und Schulkantinen, auch Parkplätze, Fahrradständer und Toiletten werden von Schülern durchquert und belebt. Der » Schulraum « endet nicht am Schultor: Eine mobitektonische Raumsoziologie interessiert sich ebenso für eine Untersuchung der Schulwege, die zurückgelegt, der Straßenbahnen, die befahren, der nahegelegenen Supermärkte, die betreten und der Kioske, an denen für Kaugummis angestanden wird (Knie 1997, S. 42 ff.), eigentlich des ge-

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Der Raum der Schule

samten Ortes um die Schule, der diese in einer je spezifischen Beziehung zu den anderen Gebäuden setzt (Löw 2001, S. 234 f.).15 Innerhalb dieser Regionen der Schule finden die Raumaneignungsprozesse der Schüler, Lehrer, Hausmeister, des Verwaltungspersonals und der Reinigungskräfte statt. Die Schule als Ort des Lernens, der Bewegung und des Aufhaltens kann aus zwei Richtungen im Sinne einer mobilisierenden Raumkonstitution betrachtet werden: Verordnete Strategien, die sich gegen die übliche Fixierung und Kontrolle richten, können als ein top down-Prozess der Raumkonstitution bezeichnet werden. Solche Prozesse können unterschiedlich motiviert sein: Entweder soll damit » Schmierereien « und letzten Endes abweichendem Verhalten präventiv entgegengewirkt oder schülerische Partizipation ermöglicht werden. Dahinter stehen pädagogische Konzepte, die Schülern neue Formen der Raumaneignungsstrategien zugestehen (4.1). Wenn Schüler und andere Akteursgruppen, die sich unmittelbar in der Schule befinden, mit verschiedenen Handlungsstrategien aktiv den Raum zueigen machen, soll dies als bottom up-Prozess verstanden werden (4.2).

4.1 Schulraum von oben: Planung der Mobilität Der Schulpreis 2008 wurde in diesem Jahr an eine Grundschule in Münster vergeben, die es geschafft hat, Ansprüche der Pädagogik, die Bedürfnisse der Kinder und Raumgestaltung zusammen zu bringen, so die Begründung der Jury. Die Zusammenarbeit der schulischen Akteure und die gemeinsame Gestaltung der Räume wurden dabei explizit hervorgehoben: » Einem CDU-Stadtrat verdankt die Schule, dass ihre gewandelte Seele mit dem Neubau von 1995 auch einen passenden Körper bekam. Ein gelungenes Ineinander von Innen und Außen. In einem Vorraum etwa, der zugleich ein Zwischenraum zum Hauptgebäude ist, arbeiten Kinder allein, in Gruppen, hier gibt es Ausstellungen, und überall sieht man Schüler, die voller Hingabe gewagte Holztürme bauen. Sie sind tatsächlich Baumeister und Konstrukteure ihrer Welt. « (Kahl in Die Zeit vom 11. 12. ​2008)

Im Dezember desselben Jahres wurden von der Bildungsministerin Schavan 20  Mio. € für die Restaurierung maroder Schulgebäude gefordert, was einmal mehr einen gewaltigen Missstand innerhalb des Bildungssektors offenlegt (Kahl 15 Dieser Hinweis ist als ein Plädoyer für eine qualitative Einzelfallforschung zu lesen. Würde Bildungsforschung neben quantitativ angelegten repräsentativen Erhebungen wie der PISAStudie auch den Raumaspekt als bildungsfördernd oder -hemmend verstärkt untersuchen, käme man um eine Untersuchung der je schulischen Umwelt nicht herum.

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in Zeit Online vom 15. 12. ​2008).16 Pädagogischer Anspruch und Schularchitektur sind in der Vergangenheit manches Mal gemeinsame, häufig aber auch ge­trennte Wege gegangen (Luley 2000: 117). Luley weist darauf hin, dass Schularchitektur als ein Spiegel der Moden des vorherrschenden Architekturstils der jeweiligen Zeit angesehen werden kann, was z. B. an den funktionalistischen Schulbauten der 1970er Jahre, einer Boomzeit des Schulbaus, gut zu belegen ist.17 Bedeutsam an der top down-Strategie ist die Verknüpfung von pädagogischen Konzepten mit der Beobachtung und Umgestaltung der Lernumgebung als Form der Ermöglichung von Raumaneignung. Die Reformpädagogik als eine Strömung, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert gegen die rein autoritär angelegte Schule richtete, erzeugte schon früh einen kritischen Diskurs über die Wechselwirkung der disziplinierenden Wucht wilhelminischer Schulbauten und der in diesen Gemäuern ausgeübten schulischen Erziehung (Göhlich 1993, S. 319 f.). Gegen diese und gegen andere Bau- und Erziehungsformen der Folgezeit gab es immer Widerstand.18 Aber auch indirekt geäußerter Protest der Schüler fand Eingang in die Planung neuer Schulbauten: Die in den 1980er Jahren vom niedersächsischen Kultusministerium in Auftrag gegebene wissenschaftliche Studie » Schule kaputt « sorgte beispielsweise für einen lauten Aufschrei, sodass sogar Verfechter des » klassischen « Klassenzimmers auf die Destruktion hervorrufende Seite der vorherrschenden Architektur hingewiesen wurden (Niedersächsisches Kultusministerium 1981). Dies führte nicht nur zu einem Umdenken, sondern auch zu konkreten raumreformerischen Projekten. Heute hat sich weitgehend eine Sichtweise durchgesetzt, die sich zumindest theoretisch an den Bedürfnissen der Schüler und Lehrer orientiert, die dort ihren Alltag verbringen. Praktisch findet dies jedoch selten Platz in den Schulbauricht­ linien der Bundesländer und in den Plänen der Architekten, die zusätzlich noch vom vorherrschenden Baustil und den eigenen Ideen beeinflusst sind und die nichtintendierten Folgen ihrer Gebäude häufig nicht im Blick haben. So hat der 16 Im Bereich der » Bildungsbauten « wies vor einiger Zeit DER SPIEGEL auf den katastrophalen Zustand deutscher Universitätsgebäude hin, die » im Kern verrottet « seien (Kaiser et al. im Spiegel vom 14. 07. ​2008). 17 Allerdings betont er, dass seit den achtziger Jahren ein Bruch in dieser Entwicklung festzustellen ist: » Was der Schulbau der siebziger Jahre vor allem auf Objektivität und Einheitlichkeit bedacht, so rückt seit den achtziger Jahren das Architekturobjekt als Solitär immer stärker in den Vordergrund: Eine architektonische Kontinuität lässt sich allenfalls noch am Rande ausmachen. « (Luley 2000: 114 f.) Diese Tendenz sorgt für eine Aufwertung der individuellen Vorstellungen des Architekten, dies freilich in Abhängigkeit zu den zur Verfügung gestellten finanziellen Mitteln. 18 Die Vorstellungen, die in diesem kritisch-reformerischen Diskurs entwickelt wurden, fanden nach dem Ersten Weltkrieg teilweise auch Realisierung im Schulbau, z. B. in Form von freiraumschaffenden Flachbauten (Luley 2000: 118).

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Architekt der Grundschule Leonberg-Ezach, die 1995 fertiggestellt wurde, mit einer großen, zu zwei Dritteln verglasten Halle und ebenso mit einer Glasfront versehenen Klassenzimmern die Absicht verfolgt, mehr Sonnenlicht ins Gebäude zu lassen und einen direkten Naturbezug der Akteure herzustellen. Der Effekt war ein anderer: Dies » …hat jedoch zur Folge, › dass in jedem Klassenraum nur ein kleines Fenster geöffnet werden kann ‹ und sich Schüler und Lehrer trotz großer Glasflächen von der Natur abgekapselt fühlen (…). Lernen mit allen Sinnen kann nach Aussage der Schulleiterin unter solchen Bedingungen nur schwerlich stattfinden. « (Luley 2000: 109/111)

Für top down-Prozesse ist abschließend zu ergänzen, dass die Schulform eine wichtige Rolle bei Kreativität und Reichweite solcher bauplanerischen Maßnahmen spielt.19 Handelt es sich um private Schulen oder staatliche, um ein Gymnasium in Berlin-Zehlendorf oder um eine Hauptschule in Duisburg-Marxloh ?20 Auch spielen Altersgruppe und damit verbundene pädagogische Konzepte eine entscheidende Rolle in der Raumplanung. Vor allem Grundschulen werden nach ganz anderen Aspekten als die weiterführenden Schulen ausgestattet: Die raumzeitliche Kontrolle ist weniger auf gleichzeitige Beschulung und Frontalunterricht ausge­ legt. Häufig findet sich eine dezentrale Anordnung von Schülern z. B. in Form von Gruppentischen und mit Möglichkeiten des Rückzugs vom Blick des Lehrers. Dies ermöglicht eine ganz andere Form der Mobilität als beispielsweise das Klassenzimmer einer staatlichen Realschule. Unterrichtskonzepte wie » entdeckendes Lernen « sind verbunden mit raumplanerischen Vorstellungen von dem Klassenzimmer als » Lernlandschaft « oder als » miniaturisierte Welt voller Abenteuer « (Göhlich 1993, S. 45 f.), in der die Schüler umherstreifen und selbst entscheiden können, an welchem Platz sie verweilen möchten. In Lese-, Spiel-, Kuschel-, Medien- und Beobachtungsecken können Grundschüler ganz eigene Subjekt-ObjektRaumvorgaben-Beziehungen eingehen (ebd., S. 14 ff.). Sobczyk und Landau können sich » mobile Klassenzimmer « jedoch für jede Al­tersklasse und Schulform vorstellen und sehen die Schulplanung in der Pflicht, ermöglichende Raumstrukturen zu schaffen, in denen Schüler und Lehrer jenseits von Frontalunterricht und » Belehrung « neue Formen der Ordnung aushandeln können (Sobczyk/Landau 2003, S. 12 f.).

19 Häufig finden Ausschreibungen und Wettbewerbe statt, in denen innovative schularchitektonische Konzepte zwar prämiert, jedoch in der Folge nicht umgesetzt werden. 20 Zum Zusammenhang konkreter Schulformen und Raumplanung vergleiche die Beiträge von Reh, Reutlinger und Spiegler in diesem Band.

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4.2 Schulraum von unten: Schüler als Mobitekten Unter bottom up-Prozessen der Raumaneignung soll ein solches Handeln verstanden werden, das direkt durch die Beteiligten raumkonstituierend wirkt. Dies können auch halblegale, subversive Formen der Schaffung eigenen Raumes sein. Oft wird diese Vorgehensweise als rein destruktiver Akt diffamiert, aber vermutlich sind nicht alle Maßnahmen der schülerischen Raumbesetzung als » Sachbeschädigung « intendiert. Mittel der Raumaneignung sind Gebäudevorgaben, Objekte, Handlungen und der eigene Körper sowie die mit dem » Spacing « dieser Mittel einhergehende Wahrnehmung (der » Synthese «) der Räume als » die Raucherecke « oder » der Ort, an dem nur die Punk-Clique abhängt und an dem wir nichts zu suchen haben «. Subversive Raumkonstitution erfordert Beweglichkeit.21 Die Mittel der Schüler sind transportabel: Ein Edding-Stift oder eine Spraydose zum Taggen auf Wände oder Tische, ein Skateboard oder eine Gruppe Schüler, die mit ihren Körpern, ihrer Kleidung und ihrem Verhalten Präsenz zeigen; all dies eignet sich zur Schaffung eines Raumes im konstruktivistischen Sinne.22 Das Wort » Architektur « leitet sich vom Griechischen arché ab, dem Anfang oder Ursprung, sowie tekton, dem Baumeister oder Zimmermann (Kluge 2002). Unser Neologismus » Mobitek­ tur « macht so raumkonstituierende Schüler zu » Mobitekten «, beweglichen Baumeistern ihrer räumlichen Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist, wie die Bewegung selbst, flüchtiger Natur: Der zum Skateplatz umgedeutete Schulhof mit seinen Treppen und Bänken, die kurzfristig zu Rampen und Herausforderungen geworden sind, kann durch das Auftreten eines schimpfenden Hausmeisters und das Davoneilen der Schüler schnell wieder zu einem Standard-Schulhof werden. Foucault nennt solche vergänglichen Raumkonstruktionen » Heterotopie «23, Gegenräume, die wirken, » …indem sie Illusionen schaffen, die der Wirklichkeit etwas entgegensetzen, sie entwerten, und eventuell radikal in Frage stellen « (Ruoff 2007, S. 174).

» Illusionen « sind solche Raumaneignungsprozesse nur in dem Sinne, dass sie vergänglich sind, dies macht sie jedoch nicht weniger real. Außerdem sind sie maßgeblich für Identitätsbildungsprozesse von Jugendlichen, für die die Peers24 eine 21 Vergleiche dazu erneut die frühe Studie von Willis zu den Schulrebellen einer amerikanischen Schule, der Clique der » Lads « (Willis 1982; dazu kritisch auch Löw 2001, S. 231 ff.). 22 Rehle bezeichnet diese Art von Raumaneignung als » Prozesse symbolischer Formung « (Rehle 1998: 43). 23 Von hetero, dem Gegensatz, und topos, dem Ort oder der Stelle (Kluge 2002). 24 Zur Rolle der Peers vgl. auch Breidenstein 2008 sowie Wagner-Willi 2007, S. 129 ff..

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wichtige Bezugsgruppe darstellen, mit denen sie auf Vorderbühnen und Hinterbühnen, in ihren gemeinsamen Heterotopien und als Mobitekten in Interaktion Räume erschaffen.

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Fazit zu einer schulischen Mobitektur: Fluide Schulräume, mobile Stubenhocker

Das Konzept der Mobitektur setzt an einem relationalen Raumverständnis an, das die kreativen Möglichkeiten und Chancen des Akteurs bei der Erschaffung und Umgestaltung von Räumen hervorhebt (Schroer 2007, S. 175). Dennoch folgt die Mobitektur dabei keinem unkritischen Raumvoluntarismus (ebd., S. 78), sondern versucht den analytischen Spagat zu schaffen zwischen der Berücksichtung der hervorbringenden Kraft der Individuen und der Berücksichtung der strukturierenden Wirkung von vorgängigen Räumen, die manchmal hilfreich orientierend wirken, manchmal aber auch als Zwang empfundene Grenzen für das Handeln aufzeigen. Nimmt man Norbert Elias’ Forderung nach einer Prozesssoziologie wörtlich (Elias 1999, S. 82 ff.), so kann man Mobitektur als Untersuchung der menschlichen Figurationen in raumzeitlichen Veränderungsprozessen beschreiben – mit dem speziellen Fokus auf Bewegung und Stillstand, wobei davon ausgegangen wird, das starre Konzepte von reiner » Sesshaftigkeit « und purer » Mobilität « dabei wenig hilfreich sind, sondern sich postmoderne Erfahrungswelten durch eine zunehmende Mobilisierung der Sesshaftigkeit sowie einer Versesshaftlichung des Mobilen auszeichnen, die ehemals divergenten Pole sich also bis hin zur Überlappung annähern. Die Aufgabe einer (schulischen) Mobitektur besteht zum einen darin, die strukturellen Raumgegebenheiten sowohl hinsichtlich ihrer fixierenden als auch ihrer ermöglichenden Funktion zu ermitteln und zum anderen darin, die raumkonstituierenden Handlungsleistungen in Form von » Spacing « und » Synthese « der Akteure zu analysieren, die affirmativ oder in Widerstand zu den vorgängigen institutionalisierten Räumen vorgenommen werden können. Ebenso darf eine auf Bewegung abzielende mobitektonische Analyse den Kontext der Schule nicht vernachlässigen, also auf keinen Fall an den Schulmauern Halt machen. Da die Körper der Beteiligten ein Mittel der (Schul-)Raumkonstitution sind, müssen essentialistische Vorstellungen von der Schule als ontischen Ort aufgegeben werden. Weiterhin darf der Aspekt der Mobilität, der in der Mobitektur enthalten ist, nicht nur auf physische Körperbewegung reduziert werden. Offenheit kann ebenso durch architektonische Mittel ausgedrückt werden, dies z. B. im Sinne einer › leichten ‹ Bauweise, jedoch auch durch Schaffung von Rückzugsmöglichkeiten

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vor kontrollierenden Blicken. In diesem Verständnis kann Mobilität heißen, keinem fixierenden Zwang ausgesetzt zu sein. Andersherum bedeutet eine physische Bewegung nicht automatisch die Freiheit von Fixierung. Eine Bewegung durch räumliche Koordinaten kann weitgehend gelenkt sein. Dies stellten erste Gedanken zu einer möglichen Untersuchung schulischer Mobitektur dar, die, wie zu hoffen ist, anschlussfähig für eine Bildungsforschung sind, die den spatial turn (Schöttker 2005: 1194) noch vollziehen muss. Aber was ist der Schüler nun, um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Raumnomade oder Stubenhocker ? Subversiver Skater oder doch Fixierungsopfer ? Eine stark planerische und damit gelenkte Mobilität spricht für den mobilen Stubenhocker, subversive und kreative Raumaneignungsprozesse in institutionalisierten Räumen in Form von Heterotopien lassen aber auf sesshafte Nomaden schließen. Beide Existenzformen soziologisch deutend zu verstehen und ihren Wandel zu beobachten wird die Mobitekturforschung wohl noch für eine Weile in Bewegung halten.

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Räume der Religion Zum Wandel sakraler Architektur

Der seit einigen Jahren ausgerufene » spatial turn « ist an kaum einer universitären Disziplin spurlos vorübergegangen. Er sollte aber nicht als ein rein innerwissenschaftlicher Perspektivenwechsel missverstanden werden, sondern zeigt vielmehr eine neue Aufmerksamkeit für den Raum und das Räumliche.1 Die Hinwendung zur Kategorie des Raumes ist eine Antwort auf fundamentale gesellschaftliche Veränderungen, die etwa mit den Begriffen Individualisierung, Globalisierung, Pluralisierung, Entdifferenzierung und Hybridisierung benannt werden, ohne dass dabei die räumlichen Transformationen immer gleich mitthematisiert würden, die all diese Prozesse mit sich bringen. Nicht nur im Hinblick auf Globalisierung, sondern bei allen genannten Entwicklungstrends geht es stets auch um die » räumlichen Organisationsformen sozialer Beziehungen «2 und deren Veränderungen. Die Freisetzung der Individuen aus traditionellen Beziehungen und die steigende Verflechtung und Durchmischung formal streng voneinander geschiedener sozialer Einheiten hat Auswirkungen auf alle gesellschaftlichen Felder und die sozialräumliche Ordnung, in der diese eingelassen sind. Die ehemals selbstgenügsam im Schutze lokaler und nationaler Beständigkeit operierenden sozialen Akteure sehen sich dem globalen Vergleich ausgesetzt, der sie in einen weltweit geführten Wettbewerb mit anderen Akteuren hineinzwingt. Selbst als stabil geltende In1

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stitutionen sehen sich inzwischen der tiefen Sorge ausgesetzt, nicht mehr länger relevant zu sein; eine Sorge, die sie zu verstärkten Aktivitäten motivieren, sich sichtbar zu machen und ihre gesellschaftliche Bedeutung unter Beweis zu stellen. Von diesem Kampf um Aufmerksamkeit ist (die christliche) Religion in besonderem Maße insofern betroffen, als ihre Institution Kirche sich einem zunehmendem Macht-, Vertrauens- und Bedeutungsverlust ausgesetzt sieht.3 Sie muss um den Zulauf ihrer Mitlieder inzwischen fürchten, weil diese sich in steigendem Maße anderen Religionen oder anderen Sinnanbietern zuwenden. Das zwingt sie in eine ihr nicht mehr vertraute Rolle der offensiven Werberin um die Gunst ihrer Anhänger, auch wenn dies mit der Gefahr einer Öffnung und Transparenz einhergeht, die ihr als Organisation durchaus auch Probleme bereitet. Auswirkungen und Folgen dieses Prozesses sowie entsprechende Gegenmaßnahmen können bis in die bauliche Substanz der Kirchen und ihre Architektur hinein verfolgt werden. Jede gestalterische Lösung kann dabei daraufhin beobachtet werden, ob hier mehr die Orientierung auf das Eigene oder die Öffnung für das Andere gesucht wird. Um diesen Zusammenhang zu entfalten, soll zunächst der tiefgreifende Wandel in den räumlichen Organisationsformen des Sozialen beschrieben werden. Die bisher geltende räumliche Ordnung funktionaler Differenzierung befindet sich durch einen Prozess » räumlicher Diffusion « in Auflösung begriffen, weil soziale Praktiken verstärkt auch außerhalb der ihnen zugewiesenen Räume stattfinden (1.). Anschließend wird diese Entwicklung auf dem religiösen Feld aufgezeigt: Kirchliche Praktiken werden nicht mehr nur an den ihnen exklusiv zugedachten Plätzen ausgeübt, sondern finden auch an profanen Orten und in neu errichteten Gebäuden statt, wo sie sich neben anderen, zeitgleich stattfindenden Praktiken behaupten müssen. Begleitet wird dieser Prozess von einer gegenläufigen Bewegung, bei der das Profane mehr und mehr die Nähe zum Sakralen sucht oder sich selbst sakral ausrichtet (2.). In einem darauf folgenden Schritt wird untersucht, welche Auswirkungen die geschilderte Entwicklung, die ich als » räumliche Inversion « bezeichne, auf das Verhältnis der Religion zur Macht hat (3.).

3

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Räumliche Ordnung, räumliche Diffusion und soziale Praxis

Die räumliche Ordnung des Sozialen ergibt sich daraus, dass verschiedenen sozialen und kulturellen Praktiken bestimmte Räume zugeordnet werden, in denen diese stattfinden sollen. Die jeweiligen Räume werden dabei so gestaltet, dass sie einige Praktiken zulassen und erleichtern, andere dagegen verhindern oder zumindest erschweren. Für welche Praktiken sie vorgesehen sind und für welche nicht, soll man ihnen – zwecks besserer Orientierung und Identifizierung – unmittelbar ansehen können. Architekten, Stadtplaner, Innenarchitekten und De­ signer sind als Experten der Raumgestaltung damit befasst, spezifischen Aktivitäten dafür eigens konstruierte Räume zuzuweisen und diese so auszustatten, dass den jeweiligen Aktivitäten ohne Ablenkung durch andere Möglichkeiten nachgegangen werden kann. Die sorgfältig auf ihre Funktion hin gestalteten Räume erinnern die Raumnutzer daran, wo sie sind und was dort jeweils getan werden kann. Räume ermöglichen den Aufbau von Routinen, zähmen und bewältigen Kontingenz, denn sie können zumindest den Eindruck erwecken, dass eben nicht alles auch ganz anders sein könnte. Sie tragen dazu bei, dass nicht immer wieder aufs Neue erst mühsam ausgehandelt werden muss, was in Räumen zu tun und was zu unterlassen ist. Der japanische Architekt Tadao Ando bringt diese Qualität des Raumes auf den Punkt, wenn er formuliert: » Der Raum kann den Menschen nichts diktieren, aber er kann sie leiten. «4 Soziologischer formuliert: Räume kanalisieren Handlungsmöglichkeiten, sorgen für Komplexitätsreduktion und übernehmen damit immer auch eine Entlastungsfunktion. Die an einem bestimmten Ort sich wiederholenden Praktiken stabilisieren zudem den Zusammenhalt der sich an ihm versammelnden Gruppen. Im Anschluss an die soziale Morphologie von Maurice Halbwachs und die Figurationstheorie von Norbert Elias – und in Fortführung ihrer Annahmen5 – lässt sich die von nahezu allen soziologischen Klassikern thematisierte funktionale Differenzierung der Moderne auch als räumlich differenzierte Ordnung lesen, die den verschiedenen sozialen Feldern entsprechende Räume zuweist, die dem jeweiligen Feld zur Sichtbarkeit verhelfen: So stehen das Parlament und die Wahlkabine für das politische Feld, die Fabrik und das Büro für das ökonomische Feld, die Kirche und das Kloster für das Feld der Religion, der Gerichtssaal und das Gefängnis für das Feld des Rechts, die Schule und das Familienhaus für das Feld der 4 Ando, Tadao: Die Farben des Lichts. Berlin 2002. S. 30. 5 Halbwachs, Maurice: Soziale Morphologie. Ausgewählte Schriften. Konstanz 2002. Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2 Bde. Frankfurt/M. 1976.

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Erziehung, das Labor und die Hörsäle für das wissenschaftliche Feld, der Konzertsaal und die Museen für das Feld der Kunst, das Krankenhaus und die Arztpraxis für das medizinische Feld, das Stadion und die Rennbahnen für das Feld des Sports usw.6 Womit wir es zu tun haben, ist die Spezialisierung bestimmter Räume für bestimmte Praktiken, die primär in diesen Räumen stattfinden: Debattieren und wählen, produzieren und organisieren, predigen und beten, Urteile fällen und einsperren, unterrichten und lernen, forschen und lehren, aufführen und ausstellen, operieren und heilen, laufen und kämpfen. Ähnlich verhält es sich mit den Alltagsräumen. Die räumlich-funktionale Logik ist auch hier anzutreffen: Die Unterteilung von Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Arbeits-, Kinder-, Bade- und Bügelzimmer, Waschraum, Sauna, Keller und Garage weist spezifischen Praktiken und den dafür notwendigen Dingen einen speziell dafür eingerichteten Raum zu und lokalisiert die Bewohner eines Hauses in den entsprechenden Räumen. » Architektur ist Ordnung im Raum «7 lässt sich daraus mit Klaus von Beyme folgern. Aber nicht nur das: Die den Subjekten jeweils zugewiesenen Räume tragen zur Konstituierung eines männlichen, weiblichen und kindlichen Selbst ebenso bei wie etwa das Krankenhaus, das Gefängnis oder die Schule Patienten, Delinquenten und Schüler durch ihr je spezifisches Arrangements von Körpern, Dingen und Räumen erst produzieren. Auch Kirchengebäude tragen auf diese Weise zur Erzeugung gläubiger Subjekte bei. Das räumliche Arrangement der einzelnen Institutionen leistet insgesamt die Engführung von Interaktionen, kanalisiert Subjektivierungsweisen und zementiert eine bestimmte Ordnung zu Lasten anderer Ordnungen. Die Leistung der Architektur besteht somit darin, dass sie » eine […] sicht- und greifbare […] Gestalt des Gesellschaftlichen « errichtet. Sie erschafft die » relativ dauerhafte, in Stein, Beton und Stahl materialisierte Verkörperung eine idée directrice, die mit der Schaffung entsprechender Subjekte einhergeht «8. Die Logik der modernen Welt ist darauf ausgerichtet und achtet streng darauf, dass bestimmte Handlungen und Praktiken nicht an beliebigen, sondern an eigens dafür vorgesehenen Orten ausgeführt werden. Normverstöße betreffen oftmals nicht die Handlung an sich, sondern deren Ausführung an dafür nicht vorgesehenen Orten. Obwohl nach dieser Logik einerseits auch weiterhin verfahren 6 Den Feldbegriff benutze ich in Anlehnung an Pierre Bourdieu, der sich auch intensiv mit dem religiösen Feld auseinandergesetzt hat. Bourdieu, Pierre: » Über einige Eigenschaften von Feldern. « In: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt/M. 1993. S. 107 – ​114. Bourdieu, Pierre: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens. Konstanz 2000. 7 von Beyme, Klaus: Die Kunst der Macht und die Gegenmacht der Kunst. Studien zum Spannungsverhältnis von Kunst und Politik. Frankfurt/M. 1998. S. 248. 8 Delitz, Heike: » Expressiver Außenhalt. Die › Architektur der Gesellschaft ‹ aus Sicht der Philosophischen Anthropologie. « In: Fischer, Joachim/Dies. (Hg.): Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie. Bielefeld 2009. S. 163 – ​194. Hier S. 178.

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wird – die Zuweisung einzelner Raucherzonen auf Bahnhöfen und Flughäfen ist ein aktuelles Beispiel für die anhaltende Praxis der Separierung und Platzzuweisung –, kann andererseits doch auch eine dieser Logik zuwiderlaufende Tendenz beobachtet werden, die ich als » räumliche Diffusion « bezeichne. Damit ist gemeint, dass sich die verschiedensten Praktiken längst auch außerhalb der von ihnen traditionell besetzten Plätze auf‌fi nden lassen, wir es insofern mit einem räumlich sichtbar werdenden Entdifferenzierungsprozess zu tun haben. Individualisierung, Globalisierung und Hybridisierung arbeiten gegen die moderne funktionale Raumaufteilung, indem sie streng voneinander unterschiedene Bereiche wie Privatheit versus Öffentlichkeit, Arbeit versus Freizeit, Eigen versus Fremd, Hier versus Dort, Nah versus Fern, Innen versus Außen usw. zunehmend unterlaufen, sie miteinander vermischen und neu zusammensetzen zu hybriden Konstruktionen.9 Praktiken aller Art verlassen die ihnen exklusiv zur Verfügung gestellten Areale und werden zunehmend auch an Orten ausgeübt, an denen man zunächst nicht mit ihnen rechnet. Sie werden dadurch weniger berechen- und kontrollierbar, tragen zur stärkeren Unvorhersehbarkeit von sozialen Ereignissen bei und erhöhen damit den Interpretations- und Orientierungsaufwand der Akteure. Sport wird eben nicht nur an den eigens für ihn errichteten Arenen, Stadien und Hallen betrieben, sondern auch außerhalb dieser Orte: Golfen, Fußball spielen, Laufen zum Beispiel. Auffällig dabei ist, dass die Tätigkeiten sogleich andere Bezeichnungen oder bestimmte Zusätze erhalten, wenn sie nicht an den für sie vorgesehenen Plätzen ausgeübt werden: Golfen, das nicht auf dem gepflegten Greenfield, sondern in den Brachen schrumpfender Städte gespielt wird, heißt nicht mehr einfach nur Golfen, sondern » Cross-Golfen «, Fußball spielen außerhalb der Stadien und Plätze wird » Bolzen « oder » Kicken «, Laufen außerhalb der Stadien » Joggen « genannt. Wenn Politik nicht nur in den ihr offiziell zugedachten Räumen stattfindet, wird sie als » Mikropolitik « oder » Subpolitik « bezeichnet. Auch die Ökonomie kennt ihre inoffiziellen Ableger, die etwa als » Schattenwirtschaft « oder » Vetternwirtschaft « gekennzeichnet werden. Es sind solche Begriffskonstruktionen, die auf außerhalb ihrer institutionalisierten Form stattfindende 9

Damit erfolgt die nach Michel Foucault längst überfällige » Entsakralisierung des Raumes «, die uns schon so lange beherrscht: » Und vielleicht wird unser Leben immer noch von diversen Gegensätzen beherrscht, an die wir nicht rühren können und die weder die Institutionen noch die Praxis bislang anzurühren wagen. Von Gegensätzen, die wir als Gegebenheiten hinnehmen, etwa zwischen privatem und öffentlichem Raum, zwischen familiärem und gesellschaftlichem Raum, zwischen dem Raum der Kultur und dem der Nützlichkeit, zwischen dem Raum der Freizeit und dem der Arbeit. All diese Räume unterliegen immer noch einer blinden Sakralisierung. « Foucault, Michel: » Andere Räume. « In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt/M. 2006. S. 317 – ​329. Hier S. 319.

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Praktiken verweisen. Was durch sie angezeigt wird, ist die Einwanderung bestimmter Praktiken in dafür nicht vorgesehene Räume, die Umwidmung fest stehender Raumnutzungen und der mögliche Aufbau von Gegenräumen, welche die offiziellen Raumvorgaben unterlaufen. Menschen und Dinge werden zwar dennoch in eine auch räumlich bestimmte Konfiguration gebracht, doch die abweichenden Praktiken lassen jede Ordnung als ein zeitlich befristete und fragile Ordnung erscheinen, die sich grundsätzlich verändern, andere Formen annehmen und zu einer neuen Ordnung entwickeln kann. Damit gerät gegenüber der Ordnung als immer schon bestehendes Ergebnis von Handlungen stärker der Akt des Ordnens als kulturelle Praxis in den Blick.10 Ordnung wird demnach nicht über die Akteure › verhängt ‹, sondern von diesen hervorgebracht.11 Von dieser Entwicklung räumlicher Diffusion ist auch die Religion inzwischen erfasst, die ebenfalls weiterhin in ihren traditionellen Räumen, den Kirchenbauten, agiert, sich daneben aber über die gesamte Gesellschaft hinweg auszubreiten und zu vervielfältigen versucht. Um den Unterschied zur herkömmlichen Kirche zu bezeichnen, ist hier etwa von » mobilen Kirchen «, » Räumen der Stille «, » inter- « oder » multireligiösen Räumen « die Rede.

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Alte und neue Räume der Religion: Von mono- zu multireligiösen Räumen

Religion unterhält ein intensives Verhältnis sowohl zu Macht als auch zum Raum. Die Geschichte des Christentums erzählt nicht zuletzt davon, wie sich der Glaube zunächst aus der Opposition heraus entwickelt, nach und nach um sich greift, an Stärke zunimmt, um schließlich eine Machtposition zu erlangen, die sich in der Einflussnahme auf die gesamte Lebensführung der Gläubigen manifestiert und deren Alltag strukturiert.12 Die Errichtung imposanter sakraler Gebäude, der Bau von Kirchen und Kathedralen, dient der Repräsentation dieser neu errungenen Macht der Kirche: » Macht braucht Stein «13 heißt es dazu lapidar in Richard Sen10 Schroer, Markus: » Raum oder: Das Ordnen der Dinge. « In: Moebius, Stephan/Reckwitz, Andreas (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften. Frankfurt/M. 2008. S. 141 – ​157. 11 Zur generellen Bedeutung von Ordnungskonstruktionen vgl. Soeffner, Hans-Georg: Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen. Velbrück 2000. Waldenfels, Bernhard: Ordnung im Zwielicht. München 2013. 12 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen 1972. S. 245 ff. Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Frankfurt/M. 2004. S. 218 ff. 13 Sennett, Richard: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation. Frankfurt/M. 1995. S. 114.

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netts kulturhistorischer Studie » Fleisch und Stein «. Die weit in den Himmel ragenden, schon von weitem sichtbaren Türme, die alle anderen Gebäude an Höhe deutlich überragen und immer schon als Symbole der Macht fungierten, prägen über viele Jahrhunderte die Stadtarchitektur und tun dies – gerade in Deutschland – über weite Landstriche hinweg durchaus noch immer, wenngleich die Metropolen längst auch andere bauliche Monumente errichtet haben, die das Antlitz der Stadt ausmachen und ihr ein Image verleihen, mit dem sie identifiziert werden wollen. Der Trend zu von Stararchitekten errichteten solitären Spektakel- und Imponierarchitektur, mit der Städte die Blicke auf sich zu lenken versuchen, hat sich längst weltweit durchgesetzt. Wer diese dauerhaft auf sich zu ziehen versteht, hat eine Machtposition deshalb inne, weil er die zerstreute Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und damit von anderen Blickpunkten, Objekten abzuziehen vermag: » Das Spiel im öffentlichen Raum ist ein Spiel um Beachtung. Wer Beachtung findet, hat Macht. Wer Macht hat, bestimmt die Regeln, wie beachtet werden soll. «14 Doch trotz der weltlichen Repräsentationsbauten, in denen Banken, Versicherungen, Autohäuser und Museen sich einen unübersehbaren Auftritt verschaffen wollen, sind die monumentalen Kirchenbauten aus dem Stadtbild keineswegs verschwunden. Im Widerspruch zu dieser baulichen Persistenz steht der vielfach beklagt Bedeutungsverlust der Kirchen als Institution, der an den rückläufigen Kirchenbesuchen und Kirchenaustritten festgemacht wird. Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, was mit den vielen bestehenden Kirchengebäuden geschehen soll. Darauf gibt es in der derzeitigen Diskussion drei Antworten: Abriss, Erhaltung und Umnutzung.15 1. Abriss. Viele architektursoziologische Ansätze gehen von der grundsätzlichen

Annahme aus, dass Gesellschaften ihren räumlichen Ausdruck nicht unmittelbar erhalten, sondern mit zeitlicher Verzögerung. Abgesehen von einzelnen Avantgardegebäuden, die ihrer Zeit vorauseilen, hält die gesamte bauliche Substanz mit den gesellschaftlichen Veränderungen nicht Schritt, sondern hinkt den Veränderungen eher hinterher. Als Folge davon haben wir es immer auch mit Bausubstanz zu tun, in der andere Gesellschaftsformen sich auszudrücken versucht haben. Architektur hält vergangene Gesellschaften gegenwärtig. Aufgrund ihres trägen Wandels vermittelt sie uns den Eindruck von » Permanenz […], Beständigkeit […], 14 Sigrist, Christoph (Hg.): Kirchen Macht Raum. Beiträge zu einer kontroversen Debatte. Zürich 2010. S. 7. 15 Diese Möglichkeiten mit dem baulichen Erbe umzugehen gelten grundsätzlich auch für andere Gebäudetypen. Schroer, Markus: » Materielle Formen des Sozialen. Die › Architektur des Sozialen ‹ aus Sicht der sozialen Morphologie. « In: Fischer, Joachim/Delitz, Heike (Hg.): Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie. Bielefeld 2009. S.  19 – ​48.

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Ruhe und Ordnung «16. Würde sich eine gesellschaftliche Veränderung dagegen unmittelbar auch räumlichen Ausdruck verschaffen, müsste angesichts der sinkenden Bedeutung der amtlichen Kirchen als Institution eine beträchtliche Anzahl der derzeit bestehenden Kirchenbauten abgerissen werden. Einem Sta­dion, in dem keine Wettkämpfe mehr ausgetragen, einer Fabrik, in der nicht mehr produziert, einem Wohnhaus, das nicht mehr bewohnt wird, droht die Zerstörung der entsprechenden Anlagen, die zumeist ohne anhaltenden und überregionalen Protest erfolgt. Allerdings sind die Folgen des Abrisses von Gebäuden nicht zu unterschätzen. Die Zerstörung von Gebäuden ist niemals nur eine bauliche Maßnahme. Sie entzieht gesellschaftlichen Gruppen vielmehr die Existenzgrundlage und verändert im Falle besonders exponierter Bauten eine Gesellschaft auch insgesamt:17 » Deswegen ist die deutsche Gesellschaft […] nach dem Abriss des Palasts der Republik nicht mehr dieselbe wie vor dem Abriss. «18 2. Erhalt. Dass von der Zerstörung von Kirchengebäuden zumeist abgesehen wird,

hat weniger mit der Hoffnung auf die in Aussicht stehende Zunahme an Kirchenbesuchern zu tun, als vielmehr mit ihrem künstlerischen Wert und Status als Kulturerbe. Für diejenigen Kirchengebäude, die aufgrund ihrer mangelnden ästhetischen Qualität keinen Anspruch auf solch einen Rettungsschirm erheben können, scheint der Abriss dagegen nicht mehr länger ein Tabu darzustellen.19 Diejenigen aber, welche die Prüfplakette » von hoher ästhetischer Qualität « erhalten, haben vorerst nichts zu befürchten. Dies heißt aber, dass Gotteshäuser mehr und mehr wie Kunstwerke betrachtet werden.20 Doch ihre ästhetischen Qualitäten allein sind nicht der Grund für ihre wachsende Beliebtheit: » Untersuchungen zeigen, dass sehr viel mehr Menschen den Kirchenraum aufsuchen, um die Atmosphäre dort auf sich wirken zu lassen, als um dort gemeinsam Gottesdienst zu feiern. So machen die Zahlen von St. Sebald in Nürnberg sichtbar, dass im Schnitt 270 Menschen die Gottesdienste mitfeierten, jedoch innerhalb derselben Woche 9 730 Menschen die Kirche außerhalb des Gottesdienstes aufsuchten. «21 Die Zahl

16 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/M. 1985. S. 127. 17 Vgl. Halbwachs: Gedächtnis. S. 129. 18 Baecker, Dirk: » Bauen, Ordnen, Abreißen im Formmodell des Sozialen. Die › Architektur der Gesellschaft ‹ aus system- und formtheoretischer Sicht. « In: Fischer, Joachim/Delitz, Heike (Hg.): Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie. Bielefeld 2009. S. 195 – ​222. Hier S. 195, Fn. 1. 19 Erne, Thomas: » Grundwissen Christentum Kirchenbau. « In: Ders./Schütz, Peter (Hg.): Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion. Göttingen 2010. S. 181 – ​199. 20 Vgl. Böhme, Gernot: Architektur und Atmosphäre. München 2013. S. 142. 21 Jooß, Elisabeth: » Theologie. « In: Günzel, Stephan (Hg.): Raumwissenschaften. Frankfurt/M. 2009. S. 386 – ​399. Hier S. 387. Zur gesellschaftlichen Bedeutung von Kirchenräumen generell vgl. die empirische Studie über Kirchenbesucher von Körs, Anna: Gesellschaftliche Bedeu-

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derer, die » zur individuellen Erbauung, Selbstfühlung und Sinnsuche «22 in die Kirche gehen, scheint zu wachsen. Dabei spielt die darin vorherrschende Ruhe als Kontrast zum allgegenwärtigen Lärm im Außenraum eine bedeutende Rolle. Der Wunsch nach Erhalt der Kirchenbauten dürfte damit über die im engeren Sinne Gläubigen weit hinausgehen. 3. Umnutzung. Von der Möglichkeit des Abrisses und des Erhalts lässt sich die Umnutzung des Gebäudes für andere Zwecke unterscheiden. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Beispielen: Kirchen werden zu Bibliotheken, Buchhandlungen, Museen und Restaurants dauerhaft umgebaut oder für kommerzielle Veranstaltungen wie Konzerte und Versammlungen vorübergehend zur Verfügung gestellt. Der öffentlich stattfindende Diskurs über die Umnutzungen zeigt, dass durchaus nicht alle Neunutzungen als mit einem Kirchenraum kompatibel angesehen werden.23 In diesem Unbehagen bestätigt sich die Annahme, dass in bestimmter Weise gestaltete und genutzte Räume nicht für beliebige Zwecke verwendet werden können, da ihnen ein nicht gänzlich eliminierbarer Eigensinn anhaftet und bestimmte Handlungsprogramme eingeschrieben sind, die sich nicht vollständig vergessen lassen.24 Beim profanen Gebrauch kirchlicher Räume durch Kunstausstellungen, Konzerte oder Vorträge macht man sich die typische Wirkung kirchlicher Räume auf den Besucher gerne zu Nutze: Die Veranstalter » rechnen beispielsweise damit, dass Besucher diese Räume mit einer gewissen Scheu, Sammlungsbereitschaft und […] Transzendenzerwartung betreten. Letzteres wird vor allem dadurch bewirkt, dass dem kirchlichen Raum seine Abgeschlossenheit gegenüber dem weltlichen Betrieb bleibt; er wird als ein besonderer Ort benutzt und erfahren «25.

Wenn immer mehr Kirchenbauten entweder abgerissen, umgenutzt oder vor allem touristischen Zwecken dienen, stellt sich als nächstes die Frage, wie Religion

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tung von Kirchenräumen. Eine raumsoziologische Studie zur Besucherperspektive. Wiesbaden 2012. Jooß: Theologie. S. 388. Bauer, Katrin: Gotteshäuser zu verkaufen. Gemeindefusionen, Kirchenschließungen und Kirchennutzungen. Münster 2011. Frisch, Rainer: Umnutzungen von Kirchengebäuden in Deutschland. Eine kritische Bestandsaufnahme. Bonn 2008. Latour, Bruno: » Eine Soziologie ohne Objekt ? Anmerkungen zur Interobjektivität. « In: Berliner Journal für Soziologie, 11/2001. 237 – ​252. Ganz in diesem Sinne notiert Arnold Gehlen: » In einem hochstilisierten Barocksaal bewegt sich niemand unbefangen; seinerzeit war dieser Stil auf ebenso barocke Verhaltensformen abgestimmt, die jetzt verschwunden sind, aber die Sollsuggestion ist geblieben – sie setzt sich in Gehemmtheit um, die modernen Besucher stecken die Hände in die Hosentaschen. « Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Frankfurt/M. 2004. S. 26. Böhme: Architektur. S. 150.

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es dennoch gelingen soll, Gläubige zu erreichen und an einem Ort zu versammeln. Auf diese Frage wird mit dem Neubau herkömmlicher Kirchen und der Konstituierung neuer Kirchentypen geantwortet. Obwohl ein Rückgang der Kirchenbesucher katholischen wie evangelischen Glaubens von niemandem geleugnet wird, ist der Bau neuer Kirchengebäude deshalb keineswegs vollständig zum Erliegen gekommen. Neben den nach wie vor in Auftrag gegebenen Neubauten der beiden christlichen Kirchen ist dabei vor allem an den Erbau von Moscheen für den islamischen Bevölkerungsanteil in europäischen Ländern zu denken. Daneben finden sich zunehmend so genannte » multireligiöse Räume «, die sowohl auf die Suche nach Stille, als auch auf die zunehmende religiöse Heterogenität reagieren. Ihre erst noch zu schreibende Geschichte beginnt womöglich mit dem 1957 im Hauptquartier der Vereinten Nationen eingerichteten » Room of Quiet «26. Obwohl dieser Name noch auf die ursprüngliche Idee verweist, einen nicht religiös dominierten Rückzugsraum zu schaffen, der der Ruhe, dem Schweigen und der Meditation gewidmet sein sollte, ist in der Folgezeit doch vor allem die Aufgabe in den Mittelpunkt gestellt worden, einen für die Menschen aller Religionen nutzbaren Raum anzubieten. Diese multireligiösen Räume sind inzwischen in einer Vielzahl von öffentlichen und halböffentlichen Gebäuden anzutreffen: in Bahnhöfen, Flughäfen, Shopping Malls, Sportstadien, Parlamenten, Unternehmen, Krankenhäusern, Hospizen, Universitäten, Schulen und Altersheimen. In all diesen Gebäuden sind die multireligiösen Räume eingebettet wie einstmals die Kirchen in die Städte. Allerdings sind sie nun nicht immer leicht zu findende Nischen innerhalb anderer Gebäude und nicht mehr schon von weitem sichtbare Repräsentationsgebäude. Dahinter verbirgt sich nicht zuletzt ein anderes Selbstverständnis, das sich an die gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen versucht. Neben den nach wie vor existierenden Zentralbauten der Kirche diffundieren damit religiöse Räume in den öffentlichen und halböffentlichen Raum, um ihre Sichtbarkeit zu erhöhen. Wenn die Menschen nicht zu uns kommen, so scheint man sich zu sagen, gehen eben wir zu den Menschen, und bieten ihnen dort, wo sie sich ohnehin aufhalten, eine Anlaufstelle für den Bedarf und das Bedürfnis nach religiöser Erfahrung. Eine Entwicklung, die spätestens mit den bereits seit 1958 errichteten Autobahnkirchen und -kapellen beginnt.27 Dabei ist auffällig, dass vor allem die » Kathedralen « der mobilen Gesellschaft, die Bahnhöfe und Flughäfen, » Räume der Stille « beherbergen. Multireligiöse Räume scheinen 26 Kuschel, Karl-Josef: » Multireligiöse Andachtsräume – eine Problemanzeige. Theologische und interreligiöse Perspektiven. « In: Kunst und Kirche, 2/2010. S. 5 – ​11. 27 Schäfers, Bernhard: Die kulturhistorische und soziale Dimension sakraler Räume, in: Kerstin Gothe/Alexa Maria Kunz/Klaus Nagorni (Hg.): Vom Sakralen zum Banalen ? Heilige Räume im Wandel. Karlsruhe 2011, S. 43 – ​60; S. 58 f.

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die adäquate Antwort auf eine zunehmend global vernetzte Welt zu bieten, die zahlreiche Kulturen und deren Religionen miteinander in Kontakt bringt: » Entstanden als Reaktion auf globale Mobilität, Fluktuation, Kommunikation und Kooperation sind multireligiöse Räume von Genese und Wesen her Ausdruck von Mobilität und Fluktuation. Es sind Räume, die solche Menschen in Anspruch nehmen, die in Bewegung sind – fern ihrer Herkunft und Heimat. «28 Dabei sollen sie den mobilen Nomaden der globalen Welt jedoch gerade die Unterbrechung der Bewegung erlauben, weshalb sich multireligiöse Räume auch als » Entschleunigungsinseln «29 verstehen lassen. Die Besonderheit multireligiöser Räume besteht nun aber vor allem darin, mit der typisch modernen Logik der Separierung und Parzellierung zu brechen, die jeder Ethnie, jeder Klasse und jeder Religion ihren je eigenen Raum zuweist. Vielmehr soll das Verschiedene an einem Ort versammelt werden. Bei einem multireligiösen Raum im strikten Sinne handelt es sich um einen Raum, » der von Menschen aller religiösen Überzeugungen und spiritueller Bedürfnisse gleichzeitig und gleichberechtigt genutzt werden kann und soll «30. Damit unterscheidet er sich deutlich von Versuchen, jeder einzelnen Religion einen je eigenen Raum anzubieten, der gemäß der verschiedenen Glaubensinhalte gestaltet ist.31 Während hier den Gläubigen das Zusammentreffen mit Gläubigen anderer Religionen nicht zugemutet wird, sollen multireligiöse Räume die Begegnung unterschiedlicher Religionen gerade ermöglichen. Deshalb wird die architektonische Lösung oftmals in einem möglichst neutral gestalteten Raum gesucht, der sich entweder mit nur wenigen Eingriffen und Umbauten für die Ausübung unterschiedlicher Religionen nutzen lässt oder aber den einzelnen Religionen verschiedene Nischen zuweist, die etwa durch Paravents voneinander getrennt sind. Diese Maßnahme verweist schon darauf, wie schwer sich der Anspruch an eine nicht nur gleichberechtigte, sondern auch gleichzeitige Nutzung tatsächlich umsetzen und die Logik der Differenzierung, Separierung und Parzellierung sowie die Praxis der Grenzziehung zurückdrängen lassen. Die Besinnung auf das Eigene und die Öffnung gegenüber dem Anderen ist eine dem Sozialen tief eingesenkte Grundbewegung, die sich der Architektur als einer Instanz bedient, die Innen und Außen, Öffnung und Schließung gestalterisch miteinander in Einklang zu bringen hat und damit 28 Kuschel: Multireligiöse Andachtsräume. S. 11. 29 Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Frankfurt/M. 2005. S. 143. 30 Kuschel: Multireligiöse Andachtsräume. S. 8. 31 Im Brüsseler Flughafen gibt es den Catholic place of worship, den Jewish place of worship, den Muslim place of worship, den Orthodox place of worship, den Protestant place of worship und die Humanist meditation area. Vgl. dazu URL: http://www.brusselsairport.be/en/ passngr/facilities/places_of_worship/ (4. 06. ​2014)

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immer nur an ein vorläufiges Ende gerät.32 Es kommt zu immer neuen Grenzziehungen, die das Eigene gegenüber den Herausforderungen des Anderen schützen wollen, ohne es aber radikal auszugrenzen. Der vollkommene Ausschluss des Anderen erweist sich als ebenso wenig praktikabel wie die totale Auslieferung an das Andere. Es dürfte deshalb außer Zweifel stehen, dass es sich bei multireligiösen Räumen um eine sowohl architektonische als auch gesellschaftliche Herausforderung handelt. Der Versuch, verschiedene Religionen an einem Ort zu versammeln, verlangt von den Architekten, den Betreibern und den einzelnen Nutzern dieser Räume eine ausgeprägte Rücksichtnahme auf die religiösen Gefühle Andersgläubiger. Auffällig an der bisher vorliegenden Literatur zum Thema ist, dass konzeptuelle Überlegungen überwiegen und es an empirischen Untersuchungen über das tatsächliche Nutzerverhalten mangelt, die sich dafür zu interessieren hätten, ob und in welchem Ausmaß die Räume angenommen werden, ob und wie die gleichzeitige Benutzung funktioniert, ob und wie hier dennoch – entgegen des eigentlichen Vorhabens – wieder Grenzen eingezogen werden. Naheliegend wäre es, wenn sich das gesuchte Nebeneinander in ein temporäres Nacheinander auflöst, ein zeitliches Arrangement das räumliche dominiert. Davon abgesehen, wird der Erfolg der multireligiösen Räume wohl nicht zuletzt auch davon abhängen, ob sie ebenfalls auszudrücken verstehen, was an den klassischen Kirchenbauten gerade so geschätzt wird: » Kirchenbauten als solche scheinen so in unserer Gesellschaft immer noch das auszustrahlen, was Amtskirchen nicht mehr besitzen – Charisma, Außeralltäglichkeit, Repräsentation von Transzendenz in einer durchorganisierten Arbeits- und Freizeitwelt. Denn wenn und solange Kirchbauten als Sakralbauten, als Statthalter der Transzendenz, entworfen sind, signalisieren sie trotz aller Unterschiedlichkeit der Entwürfe und Ausführungen im Vergleich mit anderen Räumen nur eines: ihre Besonderheit, ihre Andersartigkeit gegenüber Alltags- und Arbeitsräumen, allgemein: gegenüber › pragmatisch ‹ orientierten Funktionsräumen. «33 Um die oft be­schworene, für einen kirchlichen Raum typische Atmosphäre zu schaffen, sind bestimmte architektonische Gestaltungsprinzipien (Lichtgebung, Akustik, Materialien) zur Anwendung zu bringen. Der Bedarf an derartig gestalteten Räumen ergibt sich wohl aus der schwer zu widerlegenden Beobachtung, dass auch der areligiöse Mensch » nicht wirklich frei von religiösen Verhaltensweisen, Theologien und Mytholo-

32 Vgl. Baecker, Dirk: » Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur. « In: Luhmann, Niklas/Bunsen, Frederick D./Ders. (Hg.): Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur. Bielefeld 1990. S. 67 – ​104. Hier S. 91. 33 Soeffner: Gesellschaft ohne Baldachin. S. 140.

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gien «34 ist. Gerade deshalb lassen sich vermehrt Angebote registrieren, die auf das Bedürfnis an Religiosität außerhalb kirchlicher Dogmen reagieren. Unverkennbar ist dabei das Phänomen, dass die religiösen Sakralbauten in Konkurrenz zu Profanbauten treten, denen in neuerer Zeit immer häufiger eine sakrale Gestalt verliehen wird. So ist im » Reclam-Buch der Architektur « etwa über Museen zu lesen: » Gemeinsam ist allen neueren Museen ein Hang zur Selbstinszenierung der Architektur und eine gewisse sakrale Grundstimmung der Bauten und ihrer Räume. «35 Auch Kinos, Theater, Gerichtsgebäude und so genannte Konsumtempel werden als » › sakraloide ‹ Entsprechungen «36 angeführt. Legt man die Raumtypologie des Architekten Justus Dahinden zugrunde, stehen multireligiöse Räume vor der Entscheidung, sich entweder so weit zurückzunehmen, dass sie als » Gleichgültigkeitsraum « den architektonischen Charme einer Mehrzweckhalle annehmen und damit jeden Anspruch auf Individualität preisgeben oder aber als » Entspannungsraum « in Konkurrenz zu zahlreichen anderen Anbietern treten, die ebenfalls Ruhe, Kontemplation und eine Unterbrechung des Alltags versprechen:37 » Entspannungsräume wirken im Ausgleich, sie geben sich erholsam. […] Diese Architektur versteht sich nicht als Faktum, bei dem etwas Aufregendes › stattfinden ‹ muss. […] Im Entspannungsraum fühlt man sich aufgenommen, aber nicht vereinnahmt. Die Wahrnehmungsstrukturen drängen sich nicht auf, sie lassen einen in Ruhe. «38 Diese Charaktereigenschaften lassen sich jedoch auch an anderen Gebäudetypen beobachten. So hat etwa der Schweizer Architekt Peter Zumthor in Wals eine Therme gebaut, deren Außenansicht das Bemühen um eine sakrale Architektur deutlich macht. Wenn sich Kirchen von solchen säkularen Räumen der Ruhe und Kontemplation noch unterscheiden wollen, müssen sie mehr bieten als ihre potentiellen funktionalen Äquivalente.

34 Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen. Frankfurt/M. 1990. S. 177. 35 Philipp, Klaus J.: Das Reclam Buch der Architektur. Stuttgart 2006. S. 428. 36 Kunz, Ralph: » Vom Sprachspiel zum Spielraum. Die Verortung des Heiligen und die Heiligung der Orte in reformierter Perspektive. « In: Sigrist, Christian (Hg.): Kirchen, Macht, Raum. Beiträge zu einer kontroversen Debatte. Zürich 2010. S. 21 – ​37. Hier S. 33. Vgl. Gräb, Wilhelm: » Religion in der Alltagskultur. « In: Grözinger, Albrecht/Lott, Jürgen (Hg.): Gelebte Religion. Rheinbach 1997. S. 30 – ​43. Hier S. 39. 37 Vgl. Dahinden, Justus: Mensch und Raum. Zürich 2005. S. 69 ff. Die verbleibenden Alternativen der Typologie sind Spannungsraum, Imponierraum, Einschüchterungsraum, Animierraum, Spielraum, Abschlussraum, Entwicklungsraum oder Illusionsraum. Vgl. Dahinden: Mensch und Raum. S. 69 ff. Als Leitbild in Frage käme evtl. noch der » Spielraum « über den es unter anderem heißt, dass er sich » einnehmend « gibt, aber » nicht manipulativ « ist, » unbestimmt « wirkt, aber » nicht richtungslos « ist. Vgl. Dahinden: Mensch und Raum. S. 72 ff. 38 Dahinden: Mensch und Raum. S. 70.

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Festzuhalten bleibt die Gegenläufigkeit der Entwicklungen. Während die » Kirche aus den Kirchen, aus ihren Räumen auszieht, sich in Stadien, Mehrzweckhallen, Messegelände begibt «39, wandern die säkularen Künste in die Kirchenräume ein und machen sich deren spezifische Atmosphäre zu Nutze; während Museen zunehmend etwas Sakrales anhaftet, inszenieren sich Kirchengebäude als schlichte Versammlungsräume; während Autohäuser Erhabenheit ausstrahlen und Ehrfurcht einflössen wollen, suchen sich Kirchen Nischen innerhalb der Mobilitätsarchitektur. Mit anderen Worten: Im gleichen Maße, wie sich Kirchen als ehemalige Primäranbieter sakraler Räume immer mehr zum Profanen hin öffnen, orientieren sich Profanbauten an sakralen Mustern. Als Ergebnis lassen sich sakrale Profanbauten und profane Sakralbauten besichtigen – hybride architektonische Gebilde, die sich der Frage nach einem dominierenden Merkmal entziehen. Hier wird ein Entwicklungstrend erkennbar, den ich als » räumliche Inversion « bezeichne im Sinne einer Umkehr der traditionellen räumlichen Funktionszuweisungen. Die räumliche Inversion hat zur Folge, dass den Gebäuden von außen nicht immer sofort anzusehen ist, um welch ein Gebäude es sich jeweils handelt und was in ihm geschieht, womit die Orientierung im Raum deutlich erschwert und die Orientierungsanstrengungen und Deutungsaktivitäten der Nutzer erhöht werden. Ihrer zentralen Funktion, Ordnung im Raum zu schaffen, kommt Architektur damit nicht mehr länger nach. Vielmehr verweigert sie sich dieser Bestimmung und spielt mit den jeweiligen Erwartungen ihrer potentiellen Nutzer, was ein typisches Merkmal postmoderner Architektur ausmacht.40 Räumliche Diffusion und Inversion drohen hier in eine räumliche Konfusion überzugehen. Darüber hinaus kehrt räumliche Inversion das Verhaltensrepertoire um: Lässt sich in sakral anmutenden Museumsbauten auch ein dementsprechendes Verhalten beobachten, wird dagegen der schmucklose Kirchenbau, der von einem politischen Versammlungsraum kaum mehr zu unterscheiden ist, auch kein für den Besuch von Kirchen typisches Verhalten mehr auslösen können. Dies bestätigt die Ausgangsthese, die besagt, dass durch den Aufbau und die Gestaltung von Räumen bestimmte Handlungen ermöglicht und nahe gelegt, andere dagegen verhindert und unterdrückt werden können. Die sich aus dieser Diagnose ergebende Frage ist, welchen Einfluss die veränderten Kirchenbauten auf das Verhältnis von Religion und Macht ausüben.

39 Soeffner: Gesellschaft ohne Baldachin. S. 58. 40 Vgl. Delitz, Heike: Architektursoziologie. Bielefeld 2009. S. 104 ff.

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Macht der Räume – Räume der Macht

Obwohl Macht unbestreitbar einer der Hauptbegriffe der Sozialwissenschaften ist, ist er trotz vielfältigster Klärungsbemühungen bis heute ein eher diffuser Begriff geblieben, unter dem durchaus Verschiedenes verstanden werden kann. Dabei stoßen wir auf ein breites Angebot an Theorien der Macht, das von Thomas Hobbes über Max Weber bis Michel Foucault reicht.41 Einen starken Raum­bezug können wir dabei an Michel Foucaults Machtverständnis beobachten, das vor allem für die Idee steht, dass Macht nicht nur erzwingt, unterdrückt und einschüchtert, sondern auch produktiv wirkt, ermöglicht und konstituiert. So dringt Macht nicht auf von dieser unabhängig und unberührt existierenden Individuen ein, sondern bringt diese hervor und formt deren Identitäten. Dabei macht sie sich die Formen und Qualitäten bestimmter Räume zu Nutze. Das Disziplinarindividuum etwa wird mit Hilfe der Zelle produziert, die im Gefängnis ebenso anzutreffen ist wie in Klöstern.42 Im Hinblick auf die Macht der Kirchen spricht Foucault von der Herausbildung einer Form der Macht, die er als » pastorale Macht « definiert: » Eine Religion, die derart Anspruch erhebt, auf die tägliche Regierung der Menschen in ihrem wirklichen Leben unter dem Vorwand ihres Heils und im Maßstab der Menschheit, das ist die Kirche, und es gibt dafür in der Geschichte der Gesellschaften kein weiteres Beispiel. Ich denke, daß sich hier, mit dieser Institutionalisierung einer Religion als Kirche […] ein Machtdispositiv zumindest in seinen großen Linien formt, das nirgendwo sonst zu finden ist «43 und von dem » wir uns noch immer nicht frei gemacht haben «44. Geht es in diesem Zusammenhang vor allem um die Techniken zur Regierung und Führung der Menschen, ist Macht immer auch mit der Regulierung des Zugangs und des Ausschlusses aus Räumen verbunden. Eine Machtposition hat demnach derjenige inne, der Menschen den Eintritt in Räume zu erlauben oder zu verwehren vermag. Wer erhält Einlass ? Wer wird zurückgewiesen ? Wem wird, wenn er eingelassen wird, welche Stelle im Raum zugewiesen ? Man kann mittels ihrer architektonischen Gestalt Räume eher einladend oder eher abweisend aussehen lassen. Bei der heute vielfach betonten Beliebtheit der historischen Kirchengebäude, deren Besuch als Sehnsucht nach Transzendenz und Unterbrechung des profanen Alltags gedeutet wird, wird regelmäßig vergessen zu erwähnen, dass wir es hier nicht mit unvermittelt nebeneinander stehenden Entwicklungen von abnehmender Bedeutung der Institution Kirche auf der einen 41 Imbusch, Peter (Hg.): Macht und Herrschaft. Sozialwissenschaftliche Theorien und Konzeptionen. Wiesbaden 2012. 42 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M. 1977. 43 Foucault: Geschichte der Gouvernementalität. S. 218. 44 Foucault: Geschichte der Gouvernementalität. S. 219.

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und zunehmender Attraktivität der Kirchenbauten auf der anderen Seite zu tun haben.45 Vielmehr wird der unbefangene Besuch der Kirchen und Kathedralen durch den gegenwärtigen Macht- und Autoritätsverlust der Kirchen erst ermöglicht. Manch imposante Kathedrale, denen sich der Besucher heute unverkrampft zu nähern traut, ist durchaus als ein Exemplar von » Einschüchterungsarchitektur «46 anzusehen, die nicht nur schützend und beherbergend, sondern durchaus auch bedrohlich wirken konnte. Nicht allein die Macht Gottes, sondern dezidiert auch die Macht der Kirchen wurde hier demonstriert und in Stein gegossen. Über die wie ein Bollwerk ausgebaute Kathedrale von Albi etwa lässt sich sagen: » Mit der Kathedrale, insbesondere in ihrer äußeren Gestalt, wurde ein Monument gesetzt, das […] die offizielle kirchliche Ordnung als sicher, wehrhaft und unantastbar symbolisiert. «47 Auch den weniger brachial aussehenden Gotteshäusern haben sich Kirchgänger über Jahrhunderte wohl nicht nur demütig und feierlich, sondern auch eingeschüchtert und ängstlich genähert. Heute, in Zeiten massiver Kirchenaustritte und Bedrohung des Kirchenbaubestandes, ist man weniger um Machtdemonstration als vielmehr um Offenheit und freien Zugang bemüht. Entsprechend sind die multireligiösen Begegnungsräume gestaltet. Sie lassen sich als Ausdruck einer anderen Machtbeziehung und eines anderen Raumverständnisses interpretieren. An der baulichen Gestaltung zeitgemäßer Kirchengebäude ist an der äußeren Hülle der Verzicht auf monumentale Erhabenheit oder gar Wehrhaftigkeit ebenso deutlich erkennbar wie der Abbau von hierarchisch strukturierten Einteilungen und Platzzuweisungen im Inneren der Kirchen. Viele moderne Kirchengebäude fügen sich in ein vorhandenes Ensemble von Gebäuden einer Gemeinde eher ein als dass sie es zu dominieren versuchen. Insofern ließe sich von einer baulich umgesetzten Anerkennung des Machtverlusts der Kirchen sprechen, die sich sichtlich in Bescheidenheit übt. Dies hieße jedoch zu übersehen, dass die weniger zentriert als verstreut errichteten Kirchengebäude weniger eine Demutsgeste darstellen, als vielmehr den Versuch einer größeren Verbreitung, eines Kampfes um sichtbare Präsenz und Aufmerksamkeit zum Zwecke der Bedeutungsdemonstration und Einflussnahme. Entsprechend der aufgezeigten räumlichen Diffusion der Religion gehen aktuelle Machttheorien wie die von Michel Foucault nicht von starren Beziehungen zwischen Herrschenden als Besitzern der Macht und Untergebenen als ohnmächtig auslieferte Opfer aus, sondern von fluiden Verhältnissen, in denen sich die eingenommenen Positionen auch wieder ändern können, Macht nie auf einer, sondern immer auf beiden Seiten zu finden ist. Die herausgehobene Posi45 Vgl. Soeffner: Gesellschaft ohne Baldachin. S. 126 f. Vgl. Jooß: Theologie. S. 387. 46 von Beyme: Die Kunst der Macht. S. 247 ff. 47 Kündiger, Barbara: Fassaden der Macht. Architektur der Herrschenden. Leipzig 2001. S. 137.

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tion der Pastoren, Bischöfe und Päpste schützt diese demgemäß nicht mehr länger vor Verfolgung bei Fehlverhalten. Sie stehen unter Beobachtung und können von den christlichen Gemeinden, denen sie vorstehen, ihres Amtes enthoben werden. Der Nimbus der Unantastbarkeit besteht nur mehr scheinbar. Doch die Annäherung der Amtskirchen an demokratische Verhältnisse und die größere Fluidität von Machtverhältnissen in ihren Organisationen mit einem generellen Abbau von Macht gleichzusetzen, wäre ein Missverständnis, denn parallel zu ihrer räumlichen Diffusion dringen auch die Machtkonstellationen in immer weitere Bereiche vor. Dabei haben wir es gewissermaßen mit einer räumlich gestützten Verschiebung der Machtverhältnisse von der Vertikalen in die Horizontale zu tun. Wenn – wie im Falle mancher multireligiöser Räume – allen Religionen nur ein Gaststatus gewährt wird, gerät der Machtaspekt im Sinne einer dominanten Besetzung eines Raums und der territorialen Verfügungsgewalt über ihn in den Hintergrund, um einem Raumverständnis zu weichen, das nicht den Besitz von Raum in den Vordergrund rückt, sondern – im Anschluss an Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida48 – auf die Orientierung am anderen und dessen Gaststatus ausgerichtet ist.49 Insofern könnten multireligiöse Räume als Beispiele für eine » Architektur des anderen «50 fungieren, die im Gegensatz zu Derridas Diktum, dass sie » nichts, was wäre «51 ist, tatsächlich existieren würde. Es ist allerdings fraglich, ob sich selbst mit einer erfolgreichen Verwirklichung einer solchen Architektur Raumnutzungskonflikte gänzlich abstellen ließen oder nicht eher vermehren würden. Immer zu rechnen ist jedenfalls mit dem Raum inhärenten Prinzip der Ausschließlichkeit, das besagt, » daß zwei verschiedene Dinge nicht zur gleichen Zeit die gleiche Raumstelle einnehmen können «52. Schwer vorstellbar erscheint deshalb, dass die diversen Träger der multireligiösen Räume auf ihre Vormachtstellung verzichten und von ihrem Hausrecht im Zweifelfall nicht Gebrauch machen. Um hier zu verlässlicheren Aussagen kommen zu können, bedarf es mehr empirischer Untersuchungen dazu. Über das Funktionieren der multireligiösen Räume in der alltäglichen Praxis wissen wir bisher noch zu wenig.

48 Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg und München 1992. Derrida, Jacques: » Am Nullpunkt der Verrücktheit – Jetzt die Architektur. « In: Welsch, Wolfgang (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988. S. 215 – ​232. 49 Bauman, Zygmunt: Postmoderne Ethik. Hamburg 1995. Busche, Karin: » Kraft der Räume. « In: Erne, Thomas/Schüz, Peter (Hg.): Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion. Göttingen 2010. S. 53 – ​65. 50 Derrida: Nullpunkt. S. 231. 51 Derrida: Nullpunkt. S. 231. 52 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M. 1984. S. 525.

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Doch wie auch immer die Räume ein- und ausgerichtet sein mögen, deutlich geworden sollte sein, dass es durchaus von ihrer jeweiligen Gestaltung abhängt, wie Religion sich präsentiert, welches Bild von Religion vermittelt wird und ob zu religiösen Erfahrungen eingeladen wird, so dass der Titel dieser Ausführungen nicht nur als Aufzählung, sondern auch als Aussagesatz verstanden werden kann: Raum macht Religion !

Räume des Sports Zur Architektur des Stadions

Im gegenwärtigen soziologischen Diskurs wird über die Wiederkehr des Raums, der Dinge, des Körpers und des Materiellen diskutiert. Die folgenden Überlegungen gehen von der Annahme aus, dass das Auftreten gerade dieser Themen nicht zufällig erfolgt. Vielmehr artikuliert sich in der Renaissance des Raums, der Dinge und des Körpers zusammengenommen ein gewisses Unbehagen gegenüber einem eingeschränkten Verständnis vom Sozialen und der Bedarf für eine Soziologie, für die nicht alles nur Text, Kommunikation oder Zeichen ist. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, an ein theoretisches Programm zu erinnern, das auf Emile Durkheim zurückgeht und von Marcel Mauss und Maurice Halbwachs weiter ausgearbeitet wurde: die » Soziale Morphologie «. Entgegen der Auffassung der meisten anderen soziologischen Theorierichtungen, die sich in der » Exkommunikation der Sachen und Sachverhältnisse aus der Soziologie «1 ebenso einig sind wie in der Behauptung der zunehmenden Irrelevanz räumlicher Strukturen2, wird innerhalb dieses theoretischen Programms ausdrücklich betont, dass das Soziale nicht nur aus Individuen, Interaktionen und Kommunikationen, sondern auch aus Materiellem, Dingen und Sachen besteht3; Gesellschaft zwar vor allem eine Vorstellung ist, aber eine, die sich durch die Aktivitäten ihrer Mitglieder im Raum niederschlägt.4 Entsprechend dieser Ausrichtung zählt insbesondere das Werk von Maurice Halbwachs zu einem zwar

Hans Linde, Sachdominanz in Sozialstrukturen, Tübingen 1972: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), S. 78. 2 Vgl. Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. 2. Aufl., Frankfurt/M. 2007: Suhrkamp, S. 161 ff. 3 Vgl. Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode. Darmstadt 1961: Luchterhand. 4 Vgl. Maurice Halbwachs, Soziale Morphologie. Ausgewählte Schriften, Konstanz 2002: UVK, S. 16.

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© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Schroer, Räume der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2_12

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durchaus genannten5, nur selten aber näher behandelten Meilenstein der Architektursoziologie. Der folgende Beitrag stellt sich deshalb die Aufgabe, das theoretische Programm einer sozialen Morphologie vorzustellen (1.), es sodann auf seinen Beitrag zur Soziologie der Architektur hin zu befragen (2.), um es anschließend an einem architektonischen Phänomen zu überprüfen, das nicht nur im Sommer 2006 die Aufmerksamkeit von Millionen Zuschauern auf sich gezogen hat: das Fußballstadion (3.). Ausgehend von Halbwachs’ grundsätzlicher Annahme, dass sich Gesellschaft förmlich in den Raum einschreibt, gelten die folgenden Ausführungen dem Nachweis, dass sich – neben der von Halbwachs untersuchten religiösen, politischen und ökonomischen Morphologie – auch eine sportliche Morphologie bzw. eine Morphologie des Sports ausmachen lässt. Ähnlich wie Religion, Politik und Ökonomie in Kirchen, Parlamente und Fabriken ihren räumlichen Ausdruck finden, verschafft sich der Sport in Turn- und Schwimmhallen, Fußballstadien, Golfanlagen und Rennbahnen seine räumliche Repräsentation. Der zentralen Einsicht der sozialen Morphologie in den Zusammenhang von sozialen und räumlichen Veränderungen folgend, stellt sich die Frage, was wir aus der Architektur der neuen Stadien und dem jeweiligen Umgang mit den alten Stadien über unsere Gesellschaft lernen können. Wofür sind die modernen Fußballstadien ein Zeichen ? Was hat es zu bedeuten, dass sich Fußballstadien als neue Prestigebauten der Städte etablieren ? Wie sind die baulichen Veränderungen der neuen gegenüber den alten Stadien zu bewerten ? Der Beitrag schließt mit einem kurzen Resümee (4.).

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Der Raum, die Dinge und das Soziale: Das Programm der » Sozialen Morphologie «

Emile Durkheim hat die Soziologie in zwei Arbeitsbereiche eingeteilt: Die Physiologie auf der einen und die soziale Morphologie auf der anderen Seite.6 Während sich die Physiologie dem sozialen Funktionszusammenhang der Gesellschaft widmet, untersucht die Morphologie – in den Worten von Marcel Mauss – das » ma-

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Vgl. Bernhard Schäfers, Architektursoziologie. Grundlagen, Epochen, Themen. 2. Aufl. Wiesbaden 2006: VS Verlag, S. 31 und Heike Delitz, Die Architektur der Gesellschaft. Architektur und Architekturtheorie im Blick der Soziologie, in: Wolkenkuckucksheim – Cloud-CuckooLand – Vozdushnyi zamok. Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur, 10. Jg., Heft 1 (Sept. 2006): » From Outer Space: Architekturtheorie außerhalb der Disziplin «. Vgl. dazu Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie, Bd. 2: Von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart. Opladen 1980: Westdeutscher Verlag, S. 83 ff.

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terielle Substrat der Gesellschaften «7. Darunter fallen all diejenigen Phänomene, bei denen das Soziale eine sichtbare und greifbare Gestalt annimmt. Dazu zählen die Ausdehnung einer Gesellschaft, die Anzahl ihrer internen Gliederungen, die Größe, Dichte und Verteilung der Bevölkerung auf einem Territorium sowie die Dinge und Sachverhältnisse, die das kollektive Leben prägen. Entgegen des in der Soziologie vorherrschenden Trends zur Sachabstinenz, rechnet Durkheim ausdrücklich Dinge und Sachverhältnisse zur Sozialwelt hinzu. Artefakte wie Wohnstätten, Werkzeuge, Verkehrswege, Verkehrsmittel und Kleidung sind demnach ebenso soziale Tatbestände wie institutionalisierte Verhaltensregeln und -zwänge in Form des gesatzten Rechts oder der geltenden Moral. Beiden » Dingwelten « gemeinsam ist, dass sie eine vom Willen des Einzelnen unabhängige Einzelexistenz führen. Sie drängen sich dem einzelnen von Außen auf und üben einen verhaltensdeterminierenden Zwang auf das Individuum aus. Eben das macht sie in Durkheims Perspektive zu sozialen Tatbeständen. In seiner Studie über den Suizid heißt es dazu: » Und überhaupt stimmt es nicht, daß die Gesellschaft nur aus Individuen besteht. Sie umfasst auch Materielles, das eine wesentliche Rolle im Gemeinschaftsleben spielt. Die soziale Tatsache wird manchmal so sehr zur Wirklichkeit, daß sie zu einem Gegenstand der äußeren Welt wird. Zum Beispiel ist ein bestimmter Typus von Architektur eine soziale Erscheinung. Er ist einmal zum Teil in Häusern und allen möglichen anderen Gebäuden verwirklicht, die zu Realitäten mit eigner Existenz werden, unabhängig von den Individuen, sobald der Bau beendet ist. «8 Entscheidend für Durkheims Verständnis des Sozialen ist, dass die bereits gestaltete Umwelt daran erinnert, dass das Kollektiv stets vor dem einzelnen Individuum besteht. Von den Verkehrswegen bis hin zu den baulichen Monumenten werden die gegenwärtig Lebenden mit den » Hinterlassenschaften früherer Generationen «9 konfrontiert, die der Gegenwart ihren Stempel aufdrücken.10 Die Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, Bd. 1., 2. Aufl., Frankfurt/M. 1999: Fischer Verlag, S. 183. Zu Mauss’ Werk insgesamt vgl. Stephan Moebius, Marcel Mauss. Konstanz 2006: UVK. 8 Emile Durkheim, Der Selbstmord, Frankfurt/M. 1990: Suhrkamp, S. 365. 9 Ebd. 10 Halbwachs knüpft unmittelbar an diesen Gedanken Durkheims an, wenn er schreibt: » Und tatsächlich fühlen wir auf den Straßen dunkel die Gegenwart derer, die ihnen ihre Richtung gaben, Straßen über das flache Land, Gebirgspfade, in den Fels seit mehr als tausend Jahren eingeschlagen, römische, mittelalterliche Wege, gepflastert mit unregelmäßigen Steinen, moderne Verkehrsstraßen, deren Gefälle genau berechnet wurde: es scheint, als ob wir die Spuren derjenigen, die sie zum ersten mal betraten, die ihnen den Weg bahnten, als ob wir dort die Zeichen und Male jener Werkzeuge wiederfänden, mit denen man sie durchs Land getrieben hat. Und vor allem stellen wir uns jene vor, die dort vor uns gewandert sind, die, wie an unserer Seite, ihren Fuß darauf setzten. « (Halbwachs, Soziale Morphologie, S. 16 f.) 7

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Begegnung mit der Vergangenheit wird vor allem durch die räumlichen Gegebenheiten, die Städte, Plätze und Häuser sowie durch die Welt der Dinge, die Gegenstände, Geräte und Sachen vermittelt, die uns wie eine » stumme und unbewegliche Gesellschaft «11 umgeben, während ihre Erfinder, Erzeuger und Erbauer längst nicht mehr unter uns weilen. Das Interesse an den materiellen Erscheinungsformen der Gesellschaft und an ihrer auch physischen Natur führt Durkheim zu einer intensiven Auseinandersetzung mit den Nachbardisziplinen der Soziologie. In der von ihm begründeten Zeitschrift L’Année Sociologique, in der sich auch ein programmatischer Beitrag zur Sozialen Morphologie aus seiner Feder befindet12, werden wie selbstverständlich auch Forschungsarbeiten aus Ökonomie, Ethnologie, Anthropologie, Demographie, Sozial- und Anthropogeographie rezipiert13. Durkheim setzt sich beispielsweise intensiv mit Friedrich Ratzel auseinander, der in seiner Zeitschrift ausführlich und wiederholt rezipiert wird.14 Aufgrund ihrer Themenfelder ebenso wie aufgrund ihrer Mitglieder erhält die einflussreiche Zeitschrift damit eine ausgesprochen interdisziplinäre Ausrichtung. Während Durkheim in seinen eigenen Arbeiten zweifellos die Physiologie in den Mittelpunkt stellt, widmen sich seine Schüler Marcel Mauss und Maurice Halbwachs ausführlich dem bei Durkheim letztlich nur angedeuteten Programm einer sozialen Morphologie. Marcel Mauss zeigt z. B. anhand einer Untersuchung von Eskimogesellschaften exemplarisch den Zusammenhang zwischen materiellen Formen einer Gesellschaft und ihren kollektiven Tätigkeiten auf. Die von ihm untersuchten Eskimovölker leben zu verschiedenen Zeiten des Jahres nicht nur in unterschiedlichen sozialen Formationen, sondern üben auch je nach Jahreszeit verschiedene Tätigkeiten aus. Während im Sommer jede Familie für sich allein in einem kleinen Rundzelt lebt und sich den Dingen des täglichen Lebens widmet, schließen sie sich im Winter zu Großfamilien in großen Langhäusern zusammen und gehen insbesondere religiösen Tätigkeiten nach. Mauss legt Wert auf die Feststellung, dass der von ihm aufgezeigte Zusammenhang von wechselnder Morphologie und wechselnden Tätigkeiten an diesem Beispiel nur besonders gut sichtbar wird, in anderen Gesellschaften aber ebenso nachgewiesen werden könnte. 11 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt 1991: Fischer, S. 128. 12 Emile Durkheim, Notiz über Soziale Morphologie, in: L’Année Sociologique, Bd. 2, 1897 – ​1898, S. 520. 13 Vgl. Stephan Egger, Soziale Form und praktischer Sinn. Zu einer Morphologie des kollektiven Menschen bei Maurice Halbwachs, in: Halbwachs, Soziale Morphologie, S. 95. 14 Vgl. dazu die aufschlussreichen Beiträge von Werner Köster, Die Rede über den » Raum «. Zur semantischen Karriere eines deutschen Konzepts. Heidelberg 2002: Synchron. Wissenschaftsverlag der Autoren und Werner Gephart, Der Raum, das Meer und die Gesellschaft, in: Sociologia Internationalis, Bd. 42, H. 1, S. 143 – ​166.

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Diese Idee der Berücksichtigung von Dingen, Sachen oder » Gerät «, die von der sozialen Morphologie paradigmatisch betrieben wird, ist in der Folgezeit zwar immer mal wieder aufgegriffen worden, sie führt jedoch bis heute noch immer eher ein Schattendasein in der Soziologie.15 Und dies obwohl wir mit den Schriften von Maurice Halbwachs ein Werk vorliegen haben, das sich intensiv mit dem Raum und den Dingen beschäftigt.

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Der Raum, das kollektive Gedächtnis und die Lesbarkeit materieller Artefakte: Der Beitrag von Maurice Halbwachs für eine Soziologie der Architektur

Maurice Halbwachs hat sich Zeit seines Lebens der Aufgabe gewidmet, das von Durkheim angestoßene Programm einer sozialen Morphologie weiter voranzu­ treiben. Die 1938 erscheinende Schrift » Soziale Morphologie « ist das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit den Fragen nach der materiellen Gestaltung des Sozialen.16 Die Basisannahme seiner Untersuchungen lautet, dass es keine Gesellschaft gibt, » die sich nicht auch in ihren räumlichen Umrissen zeigte, nicht eine Ausdehnung und materielle Unterlage hätte. «17 Der Soziologie falle damit die Aufgabe zu, » die materiellen Manifestationen und Ausdrucksweisen zu studieren, sie in alle ihren Besonderheiten zu analysieren, sie miteinander in Verbindung zu setzen und sie in ihren Kombinationen zu verfolgen. «18 Halbwachs demonstriert diese materiellen Manifestationen am Beispiel der Religion, der Politik, der Ökonomie und der Stadt. Er zeigt auf, dass die Familie ebenso wie die Kirche, der Staat und die Unternehmen eine materielle Form und eine räumliche Dimension besitzen.19 All diese Bereiche des gesellschaftlichen Lebens bleiben für 15 Zu den klassischen Beiträgen von Durkheim und Marx über Hans Freyer bis Hermann Schmalenbach vgl. Linde, Sachdominanz in Sozialstrukturen. Als aktuelle Beispiele einer Soziologie der Objekte vgl. vor allem die Arbeiten Bruno Latours, in denen Halbwachs’ Arbeiten allerdings keine Rolle spielen. Zur Ähnlichkeit des Theorieprogramms der sozialen Morphologie und Latours Arbeiten vgl. Markus Schroer, Vermischen, Vermitteln, Vernetzen. Bruno Latours Soziologie der Gemenge und Gemische im Kontext, in: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hg.): Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen. Frankfurt/M. 2008: Suhrkamp. 16 Seit 2002 liegt sie zwar endlich in deutscher Sprache vor, bedauerlicherweise aber nur in Form einer » Zusammenstellung entscheidender Abschnitte «, wie der Herausgeber Stephan Egger in seiner editorischen Vorbemerkung vermerkt. 17 Halbwachs, Soziale Morphologie, S. 23. 18 Maurice Halbwachs, zitiert nach Hans Leo Krämer, Die Durkheimianer Marcel Mauss (1872 – ​ 1950) und Maurice Halbwachs (1877 – ​1945), in: Dirk Kaesler, Klassiker der Soziologie. Bd. 1: Von Auguste Comte bis Norbert Elias. München: Beck 1999, S. 252 – ​277; hier S. 266. 19 Vgl. Halbwachs, Soziale Morphologie, S. 11.

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Halbwachs so lange unverstanden wie man sie als bloße Ideen und abstrakte Konstrukte behandelt. Ein vollständiges Bild ihrer Bedeutung erlangt man dagegen erst durch eine genaue Analyse ihrer räumlichen Manifestationen: » Institutionen sind nicht einfach nur Gedankengebilde; sie müssen auf die Erde gebracht werden, ganz mit Stoff‌lichem beschwert, menschlichem Stoff und unbelebtem Stoff, mit Lebewesen aus Fleisch und Blut, mit Bauwerken, Häusern, Plätzen, dem Gewicht des Raums. All diese Dinge gehören dazu, es sind Gestaltungen im Raum, die man beschreiben kann, zeichnen, messen und wägen, deren Teile man zählen, deren Ausrichtung, deren Veränderung man erkennen, deren Vergrößerung, deren Verkleinerung man sehen kann. In genau diesem Sinne besitzen dann alle Einrichtungen des sozialen Lebens auch materielle Formen. «20 So wie es insgesamt für die Entwicklung einer Gesellschaft durchaus von Belang ist, ob sie sich auf einer Insel befindet und damit über einen Zugang zum Meer verfügt, oder ob ihre Bevölkerung zumeist in von hohen Bergen umgebenden Tälern wohnt, so übt auch – wie Halbwachs in seiner religiösen Morphologie21 zeigt – die Anzahl, Anlage und Aufteilung der bedeutenden Stätten, Klöster und Heiligtümer etwa der christlichen Religion einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Intensität der Glaubensvorstellungen ihrer Anhänger aus. In noch stärkerem Ausmaß – das zeigt er in seiner politischen Morphologie22 – sind politische Gemeinwesen von räumlichen Gegebenheiten abhängig: So ist es für Halbwachs kein Zufall, dass die ersten Demokratien am Meer entstanden sind, gilt doch das Meer seit jeher als » kulturelle Kontaktzone «23. In Anlehnung an Platon und Rousseau ist er außerdem davon überzeugt, dass es einen Zusammenhang zwischen der Größe eines Staates und seiner Regierungsform gibt. Und hinsichtlich der ökonomischen Morphologie24 beschreibt Halbwachs ausführlich, dass die verschiedenen ökonomischen Klassen dazu neigen, sich auf verschiedene Quartiere der Stadt zu verteilen. Obwohl sich die Wege der Menschen auf dem Land und in der Stadt kreuzen, » herrschen in jedem Landstrich, in jeder Stadt, in jedem Viertel bestimmte Klassen vor: sie prägen dem Teil der Erde, auf dem sie sich niederlassen, in gewisser Weise ihr Zeichen ein, derart, daß man selbst in einem anderen Land auf den ersten Blick erkennt, ob es reiche, eher genügsam oder aber im 20 Halbwachs, Soziale Morphologie, S. 17. 21 Ebd., S. 23 ff. 22 Ebd., S. 34 ff. 23 Vgl. Bernhard Klein, Gesa Mackenthum, Das Meer als kulturelle Kontaktzone. Räume, Reisende, Repräsentationen. Konstanz 2003: UVK. Schon bei G. W. Hegel, später bei Carl Schmitt, spielt das Meer diese für die Entwicklung der europäischen Gesellschaft entscheidende Rolle, vgl. Markus Schroer, Land und Daten(meer). Zur Raumaneignung im Internet, in: http:/tp/deutsch/inhalt/co/9345/1.html. 24 Ebd., S. 46 ff.

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Elend lebende Menschen sind, die ihn bewohnen, ganz so, wie sich in einer Großstadt dem bloßen Augenschein nach die wohlhabenden und armen Viertel unterscheiden. «25 Zwar drückten sich die sozialen Unterschiede heute nicht mehr so deutlich im Raum aus wie früher, so Halbwachs weiter, vorhanden aber seien sie noch immer: » Klassen haben zumindest eine Neigung, sich im Raum voneinander abzugrenzen. «26 Trotz dieser starken Betonung der Bedeutung des Raums für eine umfassende Gesellschaftsanalyse sind es jedoch letztlich nicht die räumlichen Artefakte selbst, die das Interesse der sozialen Morphologie auf den Plan rufen. Die Aufmerksamkeit der Soziologie verdienen sie nach Halbwachs Verständnis nur deshalb, weil das Materielle und Stoff‌liche Einblicke in die Neigungen, Vorstellungen und Bedürfnisse der Menschen und ihrer » Lebensweise «27 verschafft. Das verknüpft die soziale Morphologie mit der kollektiven Psychologie, deren Entfaltung Halbwachs ebenso wie Durkheim weiterhin als oberstes Ziel der Soziologie ansieht: » Wenn wir unsere Aufmerksamkeit den materiellen Formen des gesellschaftlichen Lebens zuwenden, dann weil es darum geht, hinter ihnen einen ganzen Bereich der kollektiven Psychologie zu erschließen. Die Gesellschaft prägt sich immer in die materielle Welt ein, und das menschliche Denken findet hier, in solchen Vorstellungen, die ihm durch ihre räumliche Verfassung zufließen, Regelmäßigkeit und Standsicherheit – fast wie der einzelne Mensch seinen Körper im Raum wahrzunehmen lernt, um im Gleichgewicht zu bleiben. «28 Die materiellen Gegebenheiten bilden also eine Art Anker, mit deren Hilfe die Gesellschaft sich eine Gestalt gibt, aber auch Halt verleiht. Halbwachs teilt ausdrücklich mit Auguste Comte die Auffassung, dass die materiellen Formen des gesellschaftlichen Lebens, dass also die Orte, Gebäude, Plätze, Häuser und Straßen dem kollektiven Leben der sozialen Gruppen ein Gefühl der Regelmäßigkeit und Stabilität inmitten einer sich permanent im Fluss befindlichen Gesellschaft vermitteln.29 Im Gegensatz zu unserer eigenen Unruhe und Unrast, so der Ge­danke, 25 Ebd., S. 50. 26 Ebd., S. 51. In diesem Punkt gibt es auffallende Berührungspunkte zu anderen soziologischen Raumkonzepten, etwa zur Chicagoer Schule und zu Siegfried Kracauer, bei dem es ähnlich heißt: » Jede Gesellschaftsschicht hat den ihr zugeordneten Raum. « (Siegfried Kracauer, Über Arbeitsnachweise. Konstruktion eines Raums, in: Text + Kritik 68: Siegfried Kracauer, S. 12 – ​17; hier S. 12) 27 Ohne dass dies – so weit ich sehen kann – in der Forschungsliteratur je thematisiert worden wäre, findet sich bei Pierre Bourdieu eine konsequente Fortführung dieses Programms, wenn er von der dauerhaften » Einschreibung der sozialen Realität in die physische Welt « (Pierre Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume. Frankfurt/New York 1991: Campus Verlag, S. 25 – ​34; hier S. 26) ausgeht. 28 Halbwachs, Soziale Morphologie, S. 22. 29 Vgl. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 127.

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sind die Dinge unbeweglich und verändern sich kaum. Aufgrund der » physischen Trägheit der Dinge «30 drängt sich den sozialen Gruppen der Eindruck einer stabilen Ordnung auf. Ein Eindruck, der durchaus trügerisch sein kann. Denn die » Unempfindlichkeit der Steine «31, die » Unbeweglichkeit der Dinge «32 und die » Permanenz des Raumes «33 tragen dazu bei, selbst einer inmitten von Unruhen lebenden Bevölkerung eine nicht vorhandene Stabilität der Verhältnisse vorzugaukeln und sie damit in der trügerischen Sicherheit zu wiegen, dass alles noch beim alten sei. Der Grad an Veränderungen wird an den Dingen und Steinen nicht sichtbar: » Die Beständigkeit des Wohnraumes und seines Aussehens halten […] der Gruppe selber das beruhigende Bild ihrer Kontinuierlichkeit vor. In einem dermaßen gleichförmigen Rahmen verflossene Jahre gemeinsamen Lebens lassen sich schlecht voneinander unterscheiden, und man zweifelt schließlich daran, daß viel Zeit verstrichen ist und daß man sich in der Zwischenzeit stark verändert hat. «34 Demnach werden soziale Veränderungen nicht unmittelbar in räumliche Strukturen übersetzt. Die räumlichen Strukturen können mit dem Tempo der sozialen Veränderungen gewissermaßen nicht mithalten und insofern sind sie nicht einfach als Spiegel der Gesellschaft zu betrachten. Räumliche Strukturen haben gerade in ihrer Beharrungskraft ihre wichtigste Funktion, in ihrem Widerstand, den sie dem Wollen des Menschen entgegensetzen. Sie sind im Grunde der soziale Kitt, der die Mitglieder einer sozialen Gruppen miteinander verbindet. Denn selbst wenn sie in alle Richtungen versprengt sind und sich auf neue Umgebungen einstellen müssen, bleiben sie nach Halbwachs dennoch miteinander verbunden, weil sie an ihr spezielles Haus mit den verschiedenen Zimmern und der entsprechenden Möblierung denken, in dem sie einst gemeinsam wohnten. Erst wenn das Gebäude nicht mehr existiert und diejenigen, die sich an es erinnern, verstorben sind, erst dann ist in Halbwachs’ Perspektive der Zusammenhalt einer Gruppe zerstört, wie er am Beispiel der Zerstörung eines Klosters erläutert: » Als man die Herren und Nonnen von Port Royal zerstreute, war damit nichts getan, so­lange 30 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 129. 31 Ebd., S. 131. 32 Ebd., S. 132. 33 Ebd., S. 144. 34 Ebd., S. 129. Norbert Elias hat einen ähnlichen Gedanken einige Jahre später wie folgt ausgedrückt: » Jede Veränderung im › Raum ‹ ist eine Veränderung in der Zeit, jede Veränderung in der › Zeit ‹ ist eine Veränderung im Raum. Man lasse sich nicht durch die Annahmen irre­führen, man könne im › Raum ‹ stillsitzen, während die Zeit vergeht: man selbst ist es, der dabei älter wird. Das eigene Herz schlägt, man verdaut; die eigenen Zellen wachsen und sterben ab. Die Veränderung mag langsam sein, aber man verändert sich kontinuierlich › in Raum und Zeit ‹ – als ein Mensch, der älter und älter wird, als Teil einer sich verändernden Gesellschaft, als Bewohner der sich rastlos bewegenden Erde. « (Norbert Elias, Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt: Suhrkamp 1987, S. 74 f.)

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man nicht die Gebäude der Abtei dem Erdboden gleichgemacht hatte und nicht diejenigen dahingeschieden waren, die sie in Erinnerung behielten. «35 Der Raum hat also nicht nur eine bewahrende Funktion. Er stützt nicht nur, sondern konstituiert geradezu das Gedächtnis: » So gibt es kein kollektives Gedächtnis, das sich nicht innerhalb eines räumlichen Rahmens bewegt. Der Raum indessen ist eine Realität, die andauert: unsere Eindrücke jagen einander, nichts bleibt in unserem Geist haften, und es wäre unverständlich, daß wir die Vergangenheit wiedererfassen können, wenn sie nicht tatsächlich durch das materielle Milieu aufbewahrt würde, das uns umgibt. «36 Trotz dieser enormen Rolle, die dem Raum hier als Bedingung für die Erinnerung an vergangene Zeiten zugesprochen wird, wird dennoch deutlich, dass es nicht der Raum selbst ist, sondern die im kollektiven Gedächtnis gespeicherten Bilder von ihm sind, die die Erinnerung an einen Ort bewahren können. Selbst wenn das Gebäude schon verschwunden ist: Die Erinnerung der Überlebenden an seine Existenz bewahrt das Kloster vor dem Vergessen. Doch wenn nur das Gebäude bleibt und es keine Zeitzeugen mehr gibt, bleibt nur die Orientierung an den räumlichen Überbleibseln, um die Erinnerung wach zu halten. Die räumlichen Artefakte fungieren insofern gleichsam als Botschafter, die über längst vergangene gesellschaftliche Zustände Zeugnis ablegen. Damit sie als solcher wirken können, bedarf es jedoch, wie schon Durkheim betont, der » Gegenwart von Menschen, die bereit sind, sie auf sich wirken zu lassen. «37 Auch Halbwachs ist überzeugt davon, dass wir gar nicht anders können, als uns etwa bei der Nutzung von Straßen und Gebirgspfaden diejenigen in Erinnerung zu rufen, die ihn zum ersten Mal benutzten. Es ist diese kollektive Erinnerungsleistung, die das Band zu den vorhergehenden Gesellschaften und ihren spezifischen Strukturen knüpft.38 Das hatte auch Durkheim schon so gesehen. Entschiedener als Durkheim aber betont Halbwachs die gegenseitige Beeinflussung von Raum und sozialer Gruppe. So heißt es etwa ausdrücklich: » Eine Gruppe, die in einem bestimmten räumlichen Bereich lebt, formt ihn nach ihrem eigenen Bild um; gleichzeitig aber beugt sie sich denjenigen materiellen Dingen, die ihr Widerstand leisten. Sie schließt sich in den Rahmen ein, den sie aufgestellt hat. «39 Und weiter: » Der Ort hat das Gepräge der Gruppe erhalten und umgekehrt. «40 Es ist dieser Gedanke einer wech35 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 129. 36 Ebd., S. 142. 37 Durkheim, Der Selbstmord, S. 366. 38 » Und so sind all diese materiellen Erscheinungen nie ohne jeden gesellschaftlichen Bezug. Sie drücken äußerlich die Entwicklung einer Gesellschaft aus, übersetzen ihre damaligen und heutigen Sitten und Bräuche. « (Halbwachs, Soziale Morphologie, S. 17) 39 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 129. 40 Ebd., S. 130.

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selseitigen Beeinflussung, der ihn vor einem räumlichen Determinismus ebenso bewahrt wie vor einem räumlichen Voluntarismus. Weder sind die sozialen Gruppen den jeweiligen räumlichen Bedingungen passiv ausgeliefert noch lassen sie sich beliebig umgestalten. Insofern ist Raum sowohl Bedingung als auch Ausdruck sozialer Veränderungen. Die räumlichen Artefakte können als Seismographen von Veränderungen innerhalb der betrachteten sozialen Gruppe dienen, auch wenn  –  aufgrund ihrer Trägheit und Permanenz – gewissermaßen mit einem time-lag zwischen den sozialen Veränderungen und ihrer räumlichen Materialisation zu rechnen ist. Diese Verzögerung einkalkuliert, lassen sich an den räumlich sichtbaren Veränderungen aber durchaus die sozialen Veränderungen innerhalb der Gruppe ablesen: » Wenn sich die Bauwerke der Mönchsorden verändern, wenn man dort einzelne Zellen anstatt eines gemeinsamen Schlafsaales, ein geschlossenes Kloster anstatt der Gärten entstehen sieht, die den Blick auf die Landschaft eröffnen, ist dies das Zeichen für die Einführung neuer Regeln: die Gemeinschaft zieht sich auf sich selbst zurück, gleichzeitig werden ihre Mitglieder angehalten, sich voneinander abzusondern, sich der inneren Andacht zu widmen. «41 Die Frage, der ich mich nun zuwenden möchte, ist, ob es neben dieser politischen Morphologie nicht auch eine sportliche Morphologie bzw. Morphologie des Sports gibt. Denn ähnlich wie religiöse und politische Gruppen sich in den Raum förmlich einschreiben, indem sie sich Gebäude schaffen, mit deren Hilfe der Zusammenhalt der Gruppe hergestellt wird, so finden auch die Aktivitäten des Sports in eigens dafür entworfenen und gebauten Räumen statt.

41 Halbwachs, Soziale Morphologie, S. 28. Das Habitat ist für Halbwachs gleichsam ebenso verräterisch wie für Bourdieu der Habitus. Während Bourdieus Vorstellung der sozialen Welt nach dem Motto funktioniert: » Sag mir, was du isst oder trinkst, welche Musik du hörst oder welchen Sport du treibst, und ich sage dir, wer du bist ! «, so könnte ließe sich im Sinne von Halbwachs formulieren: » Zeig mir wie Du wohnst, zeig mit die Dinge, mit denen Du dich umgibst, und ich sage Dir, zu welcher sozialen Gruppe du gehörst ! « Für Halbwachs lassen vor allem Informationen über den Wohnraum, die Einrichtung und die Gegenstände Rückschlüsse auf den sozialen Status der jeweiligen sozialen Gruppe zu; auch dann, wenn sie uns über Literatur vermittelt werden: » Wenn Balzac eine Familienpension oder das Haus eines Geizigen beschreibt und Dickens das Arbeitszimmer eines Notars, erlauben uns diese Bilder schon zu ahnen, welcher Gattung oder sozialen Kategorie die Menschen angehören, die in einem solchen Rahmen leben. « (Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 128)

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Der Raum, der Sport und die Erinnerung: Fußballstadien als Teil einer Morphologie des Sports

Passend zur Vernachlässigung des Raums in der Soziologie insgesamt42, wird auch über die Beziehung des Sports zum Raum nur selten nachgedacht.43 Dabei handelt es sich beim Sport um eine durchaus raumgreifende und raumkonstituierende Praxis, die von Anfang an auch die Architektur auf den Plan gerufen hat. Für sportliche Aktivitäten werden Hallen, Bahnen, Arenen, Schanzen und Stadien gebaut. Es gibt kaum eine Sportart, die sich nicht mit der Vorstellung eines spezifischen Raumes verbinden würde. Ja, mehr noch: Erst durch ent­sprechende organisatorische und räumliche Arrangements wird ein bestimmtes Tun als sportliche Handlung anerkannt. Im Wald und im Park wird » Joggen « genannt, was in der Sportarena » Laufen « heißt. Im alltäglichen Verkehr auf öffentlichen Straßen gilt Auto fahren nicht als Sport, auf einer eigens dafür gebauten Rennstrecke sehr wohl. Der Beispiele wären viele. Entscheidend ist, dass die für die Herausbildung der Moderne so elementare funktionale Differenzierung bisher kaum als zunehmende Differenzierung von Räumen gedacht worden ist – mit Ausnahme von Maurice Halbwachs, der mit seiner Unterscheidung von sozialer, politischer, ökonomischer und religiöser Morphologie nicht zuletzt dies im Sinn gehabt zu haben scheint: » Man kann also feststellen, daß in allen Ländern ebenso wie ein militärischer, ein juristischer, ein fiskalischer Raum besteht. All diese Räume sind in fest umrissene Einheiten untergliedert, mit einem örtlich genau bestimmbaren Hauptsitz und nachgeordneten Verwaltungsstellen. Bereiche, die sich manchmal zweifellos überschneiden, die aber gleichwohl eine jeweils eigene Ausdehnung, eigene Einteilung, eine ganz eigene Struktur und Form besitzen. In dem Maße, wie sich diese Aufgaben besondern, unterscheiden sich auch diese Räume immer deutlicher. Die Menschen müssen lernen, von einem in den anderen wechseln zu können, ohne sie durcheinander zu bringen, sich in jedem von ihnen zurecht zu finden. Erleichtert wird ihnen das durch jene genau bezeichneten Standorte im Raum, deren Bild sich im Denken einprägt. «44 Auch im Hinblick auf den Sport lässt sich dieser Zusammenhang beobachten. Zwar bricht der Sport auch aus seinen institutionalisierten Räumen aus und sucht sich Aktivitätsräume, die nicht eigens für ihn geschaffen, sondern durch anderen

42 Vgl. Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen, S.  17 ff. 43 Was sich auch für den Bereich des Sports gerade zu ändern scheint, vgl. B. Boschert, Der Sport und der Raum – der Raum des Sports, in: SportZeit 2, S. 19 – ​37. 44 Halbwachs, Soziale Morphologie, S. 38. An anderer Stelle findet sich die Unterteilung in den juristischen Raum, den wirtschaftlichen Raum und den religiösen Raum, vgl. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 143 ff.

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Nutzungen charakterisiert sind.45 Doch bei der gegenwärtigen Überbetonung dieser Entwicklung wird der für unsere unmittelbare Gegenwart ebenso charakteristische Aufbau von aufwendigen Spielstätten vernachlässigt, die eigens für sportliche Aktivitäten geschaffen werden und zu wahren Prestigeobjekten der Städte avancieren, mit denen sie sich gewissermaßen als ebenso schnell erkennbare wie unverwechselbare Marke zu inszenieren versuchen. Dabei ist erstens an die enorme Bautätigkeit zu denken, die dem Aufbau neuer Golfplätze gewidmet wird. Komplette Landschaften werden umgekrempelt, um sie in gepflegte Rasenanlagen umzuwandeln. Dabei ist zweitens an die neuen Formel 1-Rennbahnen zu denken, die in den letzten Jahren zu den traditionellen Strecken hinzugetreten sind und anders als diese auch unter architektonischen Gesichtspunkten wahrgenommen werden. Und dabei ist drittens an die Stadionbauten für den Fußball zu denken, die vor allem in Deutschland im Hinblick auf die Weltmeisterschaft im eigenen Land für gehörige Investitionen vieler Städte geführt haben. Der jeweiligen Architektur des Stadions bzw. der Rennstrecke wird eine verstärkte Aufmerksamkeit zuteil. Es geht längst nicht mehr nur um den Sport an sich, der vor beliebiger Kulisse stattfindet. Vielmehr wird den Spielstätten des Wettkampfes, den Arenen und Stadien, eine Aufmerksamkeit geschenkt, die den Ort des Geschehens nicht zu einem bloßen Austragungsort degradiert, sondern gewissermaßen als eigenen Akteur in das Blickfeld der Öffentlichkeit rückt. Im Folgenden soll der Wandel der Stadionarchitektur anhand der Frage untersucht werden, was die architektonischen Veränderungen der Stadien über unsere gegenwärtige Gesellschaft aussagen.

3.1 Von der » Kampfstrecke « zur » Multifunktionsarena «: Zum Wandel der Stadionarchitektur Der aus dem griechischen stammende Begriff » Stadion « bezeichnete zunächst die 192,27 Meter lange » Kampfstrecke « zwischen Start und Ziel. Diese Strecke hat sich nach und nach in eine ovalförmige Bahn verwandelt, die von Tribünen umgeben ist, denen in jüngster Zeit eine Dachkonstruktion hinzugefügt wurde, so dass wir insgesamt von einer Entwicklung von der offenen zur geschlossenen Form sprechen können: » Könnte man die Geschichte des modernen Stadionbaus als Video im Schnelldurchlauf betrachten, würde eine langwierige und kontinuierliche Einschließung der Masse sichtbar. Diese Bewegung – wie eine Auster, die sich langsam schließt – wird symbolisch durch jene Schiebedächer wiederholt, mit denen

45 Vgl. Karlheinz Bette, Systemtheorie und Sport. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 192 ff.

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die neuesten Stadien seit den 1990er Jahren ausgestattet sind. «46 Wenngleich es sich bei dieser zunehmenden Verkapselung der Stadien um einen allgemeinen, global zu beobachtenden Trend handelt, so ist die moderne Stadienarchitektur dennoch alles andere als homogen. Sieht man sich den gegenwärtigen Stand der Entwicklung von Fußballstadien an, so haben wir es auf der einen Seite mit einer ganzen Reihe wiederkehrender Elemente zu tun, auf der anderen Seite aber auch mit deutlichen Differenzen. So verfügen z. B. einerseits zwar alle 12 für die WM 2006 in Deutschland gebauten bzw. umgebauten Stadien über teure Dachkonstruktionen, gewaltige Tribünen, überdimensionale Screens, verglaste VIPLounges und zahlreiche Kamerastandpunkte. Andererseits aber verfügt etwa das Münchner Stadion über 106 VIP-Logen, das Dortmunder Stadion dagegen nur über 11. In Dortmund gibt es dagegen noch rund 27 000 Stehplätze, während das Münchner Stadion – einem globalen Trend folgend – ausschließlich Sitzplätze aufweist. Damit sind zwischen den Stadien auch regionale Unterschiede erkennbar, die bereits bestehende Differenzen zwischen einzelnen Städten weiter verfestigen, etwa im Sinne des Image-Unterschieds zwischen der » Arbeiterstadt Dortmund « und der » Schicki-Micki-Stadt München «. Architektur fungiert hier zweifellos auch als Spiegel der Sozialstruktur. Was sich allerdings über die Jahre gleich geblieben ist, ist die architektonische Grundstruktur der Stadien. Ob wir es mit alten, gänzlich neuen Stadien oder einer Mischform zu tun haben: Was sie alle miteinander verbindet, ist, dass jedes Stadion grundsätzlich drei Räume miteinander konfrontiert: a) einen Innenraum, in dem das jeweilige – meist sportliche Ereignis47 – stattfinden soll, b) einen Zuschauerraum, der als Tribüne den Innenraum umschließt und einen bis an das Stadion angrenzenden c) Umgebungsraum. Das Stadion ist ein Raum, der durch eine Grenze nach außen ebenso bestimmt wird wie durch die Grenzziehungen im Inneren des Stadions. Der Charakter eines jeden Stadions ergibt sich nicht zuletzt aus der Betonung oder der Abschwächung dieser Grenzen.48 Bei näherer Betrachtung der Entwicklung dieser Grenzen fällt auf, dass sie sich in den letzten 100 Jahren stark verändert haben. So betonen etwa die für die Anfänge des Stadionbaus 46 Camiel van Winkel, Tanz. Disziplin, Dichte und Tod. Die Masse im Stadion, in: Marschik, Matthias/Müllner, Rudolf/Spitaler, Georg/Zinganel, Michael (Hg.): Stadion. Geschichte, Architektur, Politik, Ökonomie. Wien 2005: Turia + Kant, S. 251. 47 Die Einschränkung bezieht sich auf die Tatsache, dass Stadien auch für andere Zwecke benutzt worden sind – etwa als Gefängnisse oder als KZ. Zu dieser dunklen Geschichte der Stadien vgl. Bernard Hachleitner, Das Stadion als Gefängnis, in: Matthias Marschik/Rudolf Müllner/Georg Spitaler/Michael Zinganel (Hg.): Das Stadion. Geschichte, Architektur, Politik, Ökonomie. Wien 2005: Turia + Kant, S. 258 – ​281. 48 Vgl. Per Leo, Das Stadion, in: Alexa Geisthövel/Habbo Knoch (Hg.), Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M., New York 2005: Campus, S. 151 – ​ 160, hier S. 152.

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in Deutschland typischen Erdstadien noch kaum den Unterschied zwischen Zuschauerraum und Umgebungsraum, die nach antikem Vorbild eher fließend ineinander übergehen (Abb. 1). Diese Stadien sind in die Erde eingelassen, haben keine steil aufragende Außenfassade, die letzten Reihen der Tribünen befanden sich vielmehr auf Höhe des sie umgebenden Bodens. Gleichzeitig ziehen sie die Grenze zwischen Innenraum und Zuschauerraum weit auseinander, indem multifunktionale Stadien gebaut werden, die Turnplätze, Schwimmbahn, Lauf- und Radrennbahn im Innenraum versammeln und dadurch eine große Distanz zwischen Innen- und Zuschauerraum schaffen. Heute scheint der Trend genau umgekehrt dahin zu gehen, die Außengrenze ebenso stark zu betonen wie die zwischen Innenraum und Zuschauerraum, die gewissermaßen unmittelbar aneinander anschließen. Das Bestreben der Architekten von reinen Fußballstadien geht gerade dahin, das Publikum so nah wie möglich an das Geschehen auf dem Platz heranzurücken, eine unmittelbare Konfrontation zwischen Spielern und Publikum zu ermöglichen, womit die Grenze aber umso mehr betont wird. Der betonte Abschluss nach außen erfolgt vor allem durch die vertikal steil ansteigenden Tribünen, die das Stadion von außen wie ein wehrhaftes Bollwerk erscheinen lassen, in das Einlass zu erhalten nicht ohne weiteres möglich erscheint.49 Die Entwicklung der Stadien führt insgesamt von Mehrzweckstadien, in denen es zu einer Integration verschiedenster Sportarten kommt, die an einem Ort versammelt sind, hin zu reinen Fußballstadien, aus der alle anderen Sportarten verbannt sind. Galt noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Leitspruch: » Kein Sportplatz ohne Schwimmbecken «, so wird heute selbst die Leichtathletik zunehmend aus dem Stadion entfernt. Wir haben es also auf der einen Seite mit einer hochgradig funktionalen Differenzierung zu tun, die nach dem Motto verfährt: Jeder Sportart einen ihr spezifisch zugewiesenen Raum und auf der anderen Seite mit einer Entdifferenzierung insofern die neuen Stadien andere als sportliche Aktivitäten innerhalb ihrer Räumlichkeiten erlauben, die das Fußballspiel zum Teil wie ein Nebenereignis erscheinen lassen. Das Mehrzweckstadion hat sich in eine Multifunktionsarena verwandelt, die sich vor allem durch ihre so ge­nannte » Mantelnutzung « erheblich von ihren Vorgängern unterscheidet: Die Integration von Restaurants, Bars, Einkaufzentren, Fanartikel-Shops und vielem mehr in das Innere des Stadions soll so viele Besucher wie möglich anlocken, die so lange wie möglich bleiben sollen. Entgegen den alten Stadien, die vor allem durch den

49 Ausgeschlossen scheint heute z. B. auch, dass der Bau des Stadions es einigen direkt an das Stadion angrenzenden Privathäuser ermöglicht, aus ihren Fenstern heraus das Spiel zu verfolgen, wie man es oft auf Abbildungen alter Stadien sieht.

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Abbildung 1  Das Stadion von Olympia in Griechenland

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Stadion

Wechsel von » leer « und » gefüllt « geprägt waren,50 scheinen die neuen Stadien auf Dauernutzung hin angelegt zu sein.51 Was die Arenen von ihren Vorgängern darüber hinaus unterscheidet, ist die Verwendung leichter, transparenter und wandelbarer Baumaterialien. Sie scheinen insofern nicht mehr für die Ewigkeit gebaut, sondern sind von Anfang an auf Wandelbarkeit hin ausgerichtet. Eine Wandelbarkeit, die ihnen am Ende aber wieder zur Dauerhaftigkeit verhelfen könnte. Denn anders als ihre Vorgänger sind die Stadien so gebaut, dass sie auf veränderte Bedürfnisse flexibel reagieren können. Schon jetzt sind die Stadien so angelegt, dass an einem Abend ein Fußballsspiel stattfindet, wo anderntags ein großes Opernevent aufgeführt wird. Rasen können komplett nach draußen geschoben werden, Dächer geschlossen und Tribünen aufgestockt werden. Gewissermaßen auf die Spitze getrieben wird dieser Trend in der von Herzog/de Meuron gebauten Allianz Arena in München-Fröttmanning, die – im Volksmund als » Tupperdose « oder » Kaiserklo « verspottet – vielleicht am weitesten entfernt ist von den » Betonschüsseln « früherer Jahre. Erklärtes Ziel der Architekten ist es, das Stadion wie einen lebendigen Organismus aussehen zu lassen, der nicht nur Dank der aufblasbaren Kunststoff‌kissen sowohl blau als auch 50 Vgl. zu diesem Aspekt Jan Tabor, Olé. Architektur der Erwartung. Traktat über das Stadion als Sondertypus politischer Geltungsbauten (Fragment), in: Matthias Marschik/Rudolf Müllner/ Georg Spitaler/Michael Zinganel (Hg.), Stadion. Geschichte, Architektur, Politik, Ökonomie. Wien: Turia + Kant 2005, S. 49 – ​90; hier S. 58 und Hans Ulrich Gumbrecht, Lob des Sports. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 147 f. 51 Detaillierte Informationen zu allen neuen WM-Stadien enthält der Band: Stadionwelt (Hg.): Faszination Stadion 2006. Die WM-Stadien. Geschichte – Porträts – Ausblick. Leipzig 2005.

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rot leuchten kann, je nachdem welche Münchner Mannschaft gerade spielt, nein, auch die Intensität der Farbe soll sich verändern können – je nach Spielstand und Befindlichkeit der Fans. Dem Äußeren des Stadions sind also Informationen über das Geschehen im Inneren zu entnehmen. Und in diesem Sinne haben wir es nicht nur mit der klassischen Beziehung zu tun, dass die räumlichen Strukturen Einfluss auf das Spiel, das Publikum und die Atmosphäre haben, sondern auch mit dem umgekehrten Verhältnis, nachdem die Handlungen der Akteure Einfluss auf den Raum und seine Spezifika ausüben. Und so bestätigt sich an diesem hoch aktuellen Beispiel ein Zusammenhang, den schon Halbwachs auf die bereits zitiert Formel gebracht hat: » Der Ort hat das Gepräge der Gruppe erhalten und umgekehrt. «52

3.2 Von der » Kampfbahn Rote Erde « zum » Signal Iduna Park «: Erinnerungsort oder Markenartikel ? Zahlreiche sportliche Großereignisse sind tief eingegraben in das kollektive Gedächtnis der Nationen, vor allem wenn sie aus dem Bereich des Fußballs stammen. Dass viele dieser Ereignisse mit bestimmten Orten verbunden sind, ist vor dem Hintergrund der Halbwachsschen Theorie des kollektiven Gedächtnisses wenig überraschend. Wie wir gesehen haben, sind für Halbwachs Ereignisse, die sich nicht räumlich manifestiert haben, dem Vergessen preisgegeben. Ohne spezifische Orte, auf deren Bilder sich die Erinnerung beziehen kann, keine Erinnerung. Gerade für den Bereich des Fußballs kann gelten, dass schon die bloße Nennung eines bestimmten Ortes genügt, um die Erinnerung an unvergessliche Mo­mente der Fußballgeschichte in Erinnerung zu rufen: Das gilt für den » Betzenberg « ebenso wie für den » Bökelberg «. Und unter dem » Wunder von Bern «, » Heysel « oder » Wembley « dürften sich auch diejenigen etwas vorstellen können, die sich zur Gruppe eingefleischter Fußballfans nicht hinzuzählen würden. Als das – mittlerweile auch verfilmte – » Wunder von Bern « gilt der am 4. Juli 1954 errungene 3 : 2 Sieg der deutschen Nationalmannschaft gegen die als Favoriten gehandelten Ungarn, der die Deutschen zum Fußballweltmeister machte. » Heysel « steht dagegen für eine der dunkelsten Tage in der Geschichte des Fußballs. Während des Europapokal-Endspiels zwischen dem FC Liverpool und Juventus Turin stürmten die Liverpooler Fans den neutralen Fansektor. Am Ende waren 39 Tote und 454 Verletzte zu beklagen. » Wembley « schließlich ist das vielleicht bekannteste Stadion der Welt, das der brasilianische Weltfußballer Pelé als » Kirche des Fußballs « bezeichnet hat. Trotz seines Weltruhms ist das 1923 in London eröffnete und für die Olympischen Spiele 1948 umgebaute Stadium 2003 abgerissen wor52 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 130.

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den, um einem vom Stararchitekten Norman Forster entworfenen Neubau Platz zu machen, der am 10. März 2007 – nach vier langen Jahren Bauzeit – eröffnet wurde. Zu den Folgen des Abrisses dieses traditionsreichen, von vielen legendären Begegnungen geprägten Stadions schreiben Regine Prinz und Hilde Strobl ganz im Sinne von Halbwachs: » Das Wembley National Stadium soll zwar das größte, modernste und zugleich teuerste Mehrzweckstadion der Welt mit 90 000 Sitzplätzen und beweglichem Dach werden und für die Olympischen Spiele 2012 zur Austragung der Fußballendspiele dienen, doch die Erinnerung an die Legende Wembeley ist gelöscht. «53 Wenn man die Erinnerung an das Vergangene zerstören will – das steht für Halbwachs unzweifelhaft fest – muss man die Gebäude zerstören, die die Erinnerung daran bewahren.54 Hinsichtlich der räumlichen Manifestationen vergangener Gesellschaftsforma­ tionen gibt es nach Halbwachs grundsätzlich zwischen zwei verschiedenen Umgangsformen mit dem baulichen Erbe zu unterscheiden.55 Auf der einen Seite können trotz politischer Umwälzung Ministerien und Parlamente an denselben Orten verbleiben, an denen sie auch schon unter dem Vorgängerregime standen. Die Gebäude bleiben unangetastet, auch wenn sich die Aufgabe und perso­ nelle Zusammensetzung der in ihnen befindlichen Institutionen radikal geändert hat. Auf der anderen Seite wird insbesondere in revolutionären Zeiten der Bruch mit der Vergangenheit gesucht, indem es etwa zu anderen Gebietsaufteilungen kommt oder repräsentative Gebäude zerstört werden. Während die erste Möglichkeit auf die Bewahrung räumlicher Manifestationen durch deren Umwidmung, also auf Kontinuität setzt, geht es bei der zweiten um den sichtbaren Bruch mit der Vergangenheit, der mit dem Abriss repräsentativer Gebäude sinnfällig gemacht werden soll. Mit einer ähnlichen Situation wie die neuen Machthaber in dem von Halbwachs geschilderten Fall, bekamen es viele Städte zu tun, die sich um einen WMSpielort für die 2006 in Deutschland ausgetragene Fußballweltmeisterschaft bewerben wollten. Für sie stand die Frage » Erhalt, Umbau oder Neubau ? « ebenfalls zur Debatte. Hinsichtlich der umgesetzten Lösungen lassen sich drei Varianten unterscheiden: 1) Umbau: Das neue Stadion wurde gewissermaßen um das alte herumgebaut, wobei Teile des alten Stadions erhalten blieben. Statt eines komplette Neubaus ging es um die Veränderung des vorhandenen Objekts im Sinne einer behut53 Regine Prinz/Hilde Strobl, Sportkultur – Kulturarchitektur, in: Architektur + Sport. Vom antiken Stadion zur modernen Arena. Wolfratshausen: Edition Minerva 2006, S. 127. 54 Vgl. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 159. 55 Vgl. Halbwachs, Soziale Morphologie, S. 39.

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Abbildung 2  Olympiastadion in Berlin

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Olympiastadion_Berlin. © Rebecca Leisten

samen Modernisierung. Man setzt auf Kontinuität und Tradition. Ausdrücklich soll dadurch die Erinnerung an die alte Spielstätte bewahrt bleiben. Bsp.: Das » Olympiastadion « in Berlin (Abb. 2)56 und das » Stadion der 100 000 « in Leipzig. 2) Abriss und Neubau: Das alte Stadion wird abgerissen, um einem am selben Ort errichteten neuen Stadion Platz zu machen. Man vollzieht den Bruch mit dem Vergangenen und setzt mit einem Neubeginn auf die Zukunft. Bsp.: Das bereits erwähnte » Wembley-Stadion « in London oder die „Veltins-Arena“ auf Schalke (Abb. 3). 3) Erhalt und Neubau: Das alte Stadion bliebt unverändert bestehen, während a) an einem anderen Ort oder b) direkt neben dem alten ein neues Stadion errichtet wird. Damit wählt man gewissermaßen den Kompromiss, setzt sowohl auf Kontinuität und Tradition als auch auf Bruch und Neubeginn. Im Gegensatz zur 2. Möglichkeit verzichtet man auf den Abriss des alten Stadions, das unver56 In seinem Grußwort zur Eröffnung des äußerst behutsam modernisierten Stadions schrieb der regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit: » Wir haben damals bewusst darauf verzichtet, ein neues Stadion zu bauen. Es wäre der falsche Weg gewesen, jenen authentischen Erinnerungsort aufzugeben, in dem 1936 unter den Augen Hitlers und der NS-Führung die Olympischen Sommerspiele inszeniert wurden. Berlin stellt sich seiner Geschichte. Wer die steinernen Zeugnisse der Zeitgeschichte beseitigt, wird die Dämonen der Geschichte nicht los – im Gegenteil. « (http://www.architektur-bauphysik.de/heft_07.html)

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Abbildung 3  „Veltins-Arena“ auf Schalke

Quelle: http://www.veltins-arena.de/veltins-arena/zahlen-fakten/. © Karsten Rabas

ändert bestehen bleibt. Bsp.: a) Die » Allianz-Arena « in München-Fröttmaning (Abb. 4) und b) der » Signal Iduna Park «, das ehemalige » Westfalenstadion « in Dortmund, das direkt neben dem alten Traditionsstadion » Rote Erde « steht. Gegen die geplanten neuen Stadien hat es in sehr vielen Fällen Protest seitens der Fans gegeben, der niemanden überraschen konnte, der mit der Fanszene und ihrer tiefen Verbundenheit mit ihrem Stadion einigermaßen vertraut ist: » Für viele Fußballfans ist das Fußballstadion der Ort, wo sie sich am häufigsten aufhalten – von der Wohnung und dem Arbeitsplatz mal abgesehen. Vielleicht ist es die letzte Verbindung zu ihrer Kindheit, mit ihren Eltern oder einer Gegend, in der sie aufgewachsen sind. So ist das nicht nur ein Stadion, sondern ein Ort öffentlicher Erinnerung. «57 Auch für Halbwachs ist klar, dass von den Steinen kein Widerstand zu erwarten ist, die sich beliebig versetzen lassen. Widerstand geht vielmehr von den Gruppen aus, die mit den Steinen eine Verbindung eingegangen sind, die sie nicht ohne weiteres aufgeben wollen: » Wenn zwischen den Häusern, den Straßen und den Gruppen ihrer Bewohner nur eine rein zufällige Beziehung von kurzer Dauer bestände, können die Menschen ihre Häuser, ihre Straßenviertel, ihre Stadt zerstören und auf demselben Grund eine andere Stadt nach einem 57 So der englische Sport-Publizist und Fußballstadionexperte Simon Inglis, zitiert nach Skrentny, Das große Buch der deutschen Fußballstadien, S. 8.

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Abbildung 4  Allianz-Arena in München-Fröttmaning

Quelle: https://www.muenchen.de/sehenswuerdigkeiten/orte/1264837.html. © Michael Hofmann

andersartigen Plan wiederaufbauen; aber wenn die Steine sich auch versetzen lassen, so kann man doch nicht ebenso leicht die Beziehungen verändern, die zwischen den Steinen und den Menschen entstanden sind. «58 Der Protest gegen die geplanten Abrisse ist denn auch stets von der Gruppe der Fans ausgegangen, was für dessen Wirkung nach Halbwachs von entscheidender Bedeutung ist, da das Bedauern einzelner Individuen über den Verlust alter Häuser, Plätze und Straßenecken – und damit auch: alter Stadien – notwendig folgenlos bleibt. Der Widerstand der Gruppe dagegen bleibt keineswegs wirkungslos, weil sie sich nicht nur empört zeigt und gegen die Veränderung aufbegehrt, sondern sich unter den geänderten Verhältnissen neu zu konstituieren sucht: » Die Gruppe sucht – und teilweise gelingt es ihr – in den neuen Verhältnissen ihr früheres Gleichgewicht wiederzufinden. Sie versucht, sich in einem Stadtviertel oder einer Straße, die nicht mehr für sie gemacht sind, sich aber an der Stelle befinden, wo sie gelebt hat, aufrechtzuerhalten und neuzubilden. «59 Und so stößt man denn etwa in neuen Stadtvierteln auf zahlreiche » materielle Überreste « vergangener Epochen, zumindest aber auf traditionelle Benennungen von Straßen, Plätzen oder Läden. Dabei mag man in unserer Zeit sowohl an den » Tante-Emma-Laden «, die Traditionsmetzgerei oder auch das » Gasthaus zur Post « denken, die in greifbarem Widerspruch zu den modernen Supermärkten, Warenhäusern und neuen Einkaufstempeln um sie herum stehen. Übertragen auf die Stadien aber heißt dies, dass nur in den an selber Stelle errichteten oder den schonend umgebauten Stadien die Fans sich in alter Form neu konstituieren können. Notwendig für die Wahrung der Kontinuität 58 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 133 f. 59 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 135.

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dürfte allerdings auch der Name des Stadions sein, dem eine kaum zu unterschätzende symbolische Deutung zukommt. Die Proteste gegen die Umbenennung der Stadien haben in der Tat mehr Protestaktionen der Fans entfacht als die Stadion­ bauten selbst. Sie tragen inzwischen zumeist den Namen des Hauptsponsors, so dass etwa das Frankfurter Waldstadion nunmehr » Frankfurter Volksbank Sta­ dion « heißt, das Dortmunder Westfalienstadion » Signal Iduna Park «, das Schalker Parkstadion » Veltins-Arena «, das Nürnberger Frankenstadion » easy-creditStadion «, das Kölner Müngersdorfer Stadion » RheinEnergieStadion «, das neue Münchner Stadion » Allianz-Arena « usw. An die Stelle der Erinnerungsorte treten insofern Markennamen, die keinen Bezug mehr zur lokalen Umgebung aufweisen, sondern den Sponsor in den Vordergrund rücken. Insofern wird es den Fans derzeit nicht eben leicht gemacht, die Erinnerung an die vergangene Zeit ihrer Clubs aufrecht zu erhalten und sich mit dem neuen Stadion zu identifizieren. Maurice Halbwachs’ Ausführungen lässt sich nun kein Plädoyer für den Erhalt oder den Abriss alter Gebäude entnehmen. Obwohl man zunächst meinen könnte, dass er generell für den Erhalt eintreten müsste, da mit dem Abriss die Erinnerung zerstört wird, so bewertet er den Erhalt räumlicher Strukturen doch als sehr kritisch, wenn dadurch gravierende Veränderungen, die sich vollzogen haben, nicht sichtbar werden. Allerdings zeigt er sich überzeugt, dass gravierende Veränderung im Zusammenleben der sozialen Gruppen letztlich nicht ohne Auswirkungen auf den Ort des Zusammenlebens bleiben: » Ein wirklich schwerwiegendes Ereignis bringt immer eine Wandlung des Verhältnisses der Gruppe zum Ort mit sich, sei es, sie modifiziere den Umfang der Gruppe – beispielsweise ein Todesfall oder eine Hochzeit –, sei es, sie modifiziere den Ort, wenn die Familie reicher oder ärmer wird, wenn der Familienvater in eine andere Stellung berufen wird oder den Beruf wechselt. Von diesem Augenblick an wird es nicht mehr genau dieselbe Gruppe geben, auch nicht mehr dasselbe kollektive Gedächtnis; aber gleichzeitig wird auch die materielle Umgebung nicht mehr dieselbe sein. «60 Als schwerwiegendes Ereignis muss im Fall der Stadien die Entscheidung, die WM nach Deutschland zu holen herhalten, die durchaus auch politisch gewollte Stadienum- und -neubauten nach sich gezogen hat.

3.3 Vom » Arbeiterhort « zum » VIP-Stadion «: Zum Wandel des Fußballpublikums Eines der herausragenden Charakteristika der neuen Stadien ist, dass sich in ihnen das Verhältnis von Steh- und Sitzplätzen im Vergleich zu ihren Vorgängern 60 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 130.

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geradezu umgedreht hat. Statt überwiegend aus Stehplätzen zu bestehen, werden in manchen modernen Stadien gar keine Stehplätze mehr geplant. Im neuen Wembley-Stadion sind z. B. 90 000 Sitzplätze, aber keine Stehplätze mehr vorgesehen. Was die Stadien komfortabler und sicherer machen soll, macht sie zugleich zu einem exklusiven Ort, der für einen Teil des Publikums, nämlich für die eigentlichen Fans, immer schwerer erreichbar wird. In der Erweiterung der Sitzplatzreihen allerdings nur eine Verdrängung einkommensschwacher durch einkommensstarke Bevölkerungsschichten im Sinne einer Gentrifizierung zu sehen, übersieht allerdings, dass im Gegenzug einkommensstarke Bevölkerungsgruppen zu gewinnen versucht werden. Der partiellen Exklusion der klassischen Fangemeinde steht eine Inklusion einkommensstarker Bevölkerungsgruppen gegenüber, die bisher nicht zum klassischen Fußballpublikum gehörten. Die Ausweitung der Sitzplätze lässt sich als Komfortsteigerung interpretieren, die allen Besuchern zu gute kommt, denn der » gemeine Fan « muss ebenso wenig mehr frieren und nass werden wie der gut situierte. Von dieser allgemeinen Überdachung und Sitzmöblierung zu unterscheiden ist allerdings der eigens für einkommensstarke Stadionbesucher vorbehaltene Bereich der Logen bzw. Lounges. Dieses Angebot wird zumeist von Unternehmen wahrgenommen, die für die Mietung der entsprechenden Räumlichkeiten zwischen 50 000 und 75 000 € pro Saison ausgeben. Enthalten darin sind Büffet, Service, Parkplatz direkt vor dem Stadion, oftmals in einer Tiefgarage unterhalb des Stadions usw. Mit diesem Angebot versuchen die Vereine neue Schichten zu erschließen und finanzkräftiges Publikum anzulocken. Obwohl dieser Vorgang auf Seiten der organisierten Fangemeinde mit großer Skepsis verfolgt wird, müssen auch diese einräumen, dass das so erwirtschaftete Geld bitter nötig ist für die Finanzierung des neuen Stadions und die Bezahlung der teuer eingekauften Spieler. Auf beide wollen sie so wenig verzichten wie der Verein auf seine Fans. Entgegen der Vorstellung, dass die Fans aus den neuen Stadien zunehmend vertrieben werden sollen, stand beim Bau der neuen Stadien offenbar eher die Frage im Mittelpunkt, wie man die Begegnung des klassischen mit dem neuen Publikum vermeiden kann. Beiden Seiten soll offensichtlich nicht zugemutet werden, einander aus der Nähe wahrnehmen zu müssen. Bei den baulichen Vorhaben ist denn auch streng darauf geachtet worden, dass sich die beiden Gruppen möglichst gar nicht erst über den Weg laufen. In diesem Bestreben scheinen die Betreiber der Stadien einer Einsicht zu folgen, die Pierre Bourdieu wie folgt formuliert hat. » Nichts ist unerträglicher als die als Promiskuität empfundene Nähe sozial fern stehender Personen. «61 Die Stadienbetreiber haben alles daran gesetzt, das Risiko einer Begegnung zwischen sozial fern ste61 Pierre Bourdieu: Ortseffekte, in: Ders. et al., Das Elend der Welt. Zeugnisse aus dem beschädigten Leben. Konstanz: UVK 1997, S. 165.

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Abbildung 5  Liverpool Football Club VIP lounges

Quelle: https://www.graven.co.uk/portfolios/liverpool-football-club-vip-lounges-at-anfield-stadium/. © Renzo Mazzolini

henden Personen so gering wie möglich zu halten. In recht unverblümter Weise hat die Leitung des Kölner Vereins die Verhinderung einer solchen Promiskuität zumindest als Teilziel ihrer verkehrsplanerischen Überlegungen ausgegeben: » Damit sich die VIPs nicht mit den normalen Fans um die Parkplätze streiten müssen, wird es 600 Promi-Parkplätze geben. «62 Ob die Motivation dieses Publikumsegments freilich mit dem schon von Halbwachs beobachteten Bedürfnisses, » sich zu › zeigen ‹ «63 zu tun hat, scheint indes fraglich. Sich zeigen will sich inzwischen vor allem das Kernpublikum der Fans, während sich die VIPS offenbar eher verstecken wollen. Vom Rest des Publikums unbemerkt betreten und verlassen sie das Stadion über unterirdische Parkplätze, Gänge und Lifte, während des Spiels verbringen sie die meiste Zeit ungesehen hinter Glas in ihren Logen (Abb. 5). Insofern teilt sich das Publikum mehr und mehr in einen bloß zusehenden und einen teilnehmenden Teil. Während der passive Teil nur partiell am Geschehen teilnimmt, weil es sich über weite Teile des Spiels im Innenraum seiner Loge aufhält, unterstützt das aktive Publikum durch Sprechchöre und Rufe » seine « Mannschaft und beobachtet diese Aktionen zugleich auf den riesigen Screens, die zum unverzichtbaren Inventar der neuen, medial ausgerichteten Stadien avanciert sind. 62 Skrentny, Das große Buch der Fußballstadien, S. 361. 63 Maurice Halbwachs, Klassen und Lebensweisen, Ausgewählte Schriften. Konstanz 2001: UVK.

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Während damit das aktive Publikum seine Mannschaft und sich selbst feiert, berauscht sich der passive Teil an einer Atmosphäre, zu der er selbst nichts beiträgt. Der Blick auf die Zusammensetzung des Publikums zeigt insgesamt, dass es in den neuen Stadien zu einer starken Segmentierung des Publikums kommt, das sich in der Differenzierung der Tribünen in untere, mittlere und obere Ränge, in Logen, Lounges, Business- und Sponsorenbereiche seinen räumlichen Niederschlag findet. Einmal mehr bewahrheitet sich damit, was Halbwachs in Bezug auf die Klassen und ihr Verhältnis zum Raum notiert hat: » Klassen haben zumindest eine Neigung, sich im Raum voneinander abzugrenzen. «64 Was damit entsteht, ist eine neue Sichtbarkeit sozialer Unterschiede, die zuvor nicht sichtbar wurde, weil die verschiedenen Schichten im Stadion nicht aufeinander trafen. Dort aber, wo es zu einer Begegnung zwischen sozial sich stark voneinander unterscheidenden Gruppen kommt, verlangt es nach räumlichen Differenzierungen, um den von Durkheim bis Bourdieu gefürchteten » Zusammenstoß «65 zwischen ihnen zu vermeiden.

4

Resümee

Die vorangegangenen Überlegungen haben gezeigt, dass die soziale Morphologie von Maurice Halbwachs grundsätzlich davon ausgeht, dass sich gesellschaftliche Strukturen in die materielle Welt einschreiben, wodurch sie sich für eine Soziologie der Objekte und Dinge als ebenso fruchtbar erweist wie für eine Soziologie des Raums und der Architektur. Hätte man bis vor noch gar nicht so langer Zeit eine solche theoretische Annahme für hoffnungslos veraltet gehalten, so zeigt der spatial turn in den Sozialwissenschaften offenbar doch Wirkung, wenn mittlerweile sogar von Seiten der keineswegs zufälligen, sondern ausdrücklich raumfrei konzipierten Systemtheorie folgendes zu vernehmen ist: » Wer will ausschließen, daß die seit Jahrzehnten akute Krise der schulischen und universitären Erziehung auch etwas damit zu tun hat, daß diese im öffentlichen Raum kaum noch einen Ort hat […]. Und wer will umgekehrt ausschließen, daß die immer wieder überraschenden Erfolge einer vielfach totgesagten Religion auch damit zusammenhängen, daß ihre Kirchen im Stadtbild unübersehbar sind und bei kleinsten Irritationen der Kirchenraum zumindest für Momente Entlastung bietet ? «66 Das ist ein Gedanke, der sich außerordentlich gut mit der Theorie von Maurice Halbwachs

64 Ebd., S. 51. 65 Vgl. Schroer, Räume, Orte, Grenzen, S. 49 und 94. 66 Dirk Baecker, Platon oder die Form der Stadt, in: Ders. Wozu Soziologie ? Berlin: Kadmos 2004, S. 189 – ​212; hier S. 202.

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verträgt, denn wie wir gesehen haben garantieren die räumlichen Manifestationen sozialer Institutionen auch für ihn ihre Beständigkeit und Überlebensfähigkeit. Allerdings wird man räumliche Figurationen nicht mehr per se als Stabilitätsfaktoren ansehen können, wie Halbwachs dies im Einklang mit Comte und Durkheim getan hat. Die Steine sind womöglich nicht mehr so unempfindlich, die Dinge nicht mehr so unbeweglich und der Raum nicht mehr so permanent, wie Halbwachs dies noch annehmen konnte. Die fortschreitende Modernisierung hat auch schnelllebigere und beweglichere Materialien hervorgebracht, die insofern nicht mehr die Aufgabe erfüllen können, angesichts der beweglichen Zeiten einen Ruhepol bilden oder eine Kontinuitätsgarantie für den Fortbestand des Gewohnten geben zu können. Die allgemeine Beschleunigung und das Tempo des modernen Lebens schlagen sich vielmehr längst auch räumlich nieder und hinterlassen ihre Spuren in räumlichen Konfigurationen. Man kann diesen Trend gerade am Beispiel aktueller Trends in der Architektur verfolgen, wo es auf leichte und veränderliche Baumaterialien und Formen ankommt, wir es mit einer Art mobilen Architektur zu tun bekommen, die nicht mehr länger mono-, sondern multifunktional ausgerichtet ist.67 Insofern lässt sich Raum nicht mehr einseitig als Pol der Dauerhaftigkeit interpretieren, als ewiger Gegenpol zur Zeit, die für Entwicklung und permanente Veränderung steht. Das heißt aber nun umgekehrt auch nicht, dass Räume permanent im Fluss und beliebig veränderbar wären.68 Individuen machen die Erfahrung, dass sie in Räume eintreten, die sie nicht (mit)geschaffen haben, die sie nicht verändern können und die länger bestehen bleiben werden als sie selbst noch zu leben haben. Insofern gilt die Halbwachssche Auffassung noch immer: » Raum ist […] eine Realität, die andauert. «69 Die Dauer allerdings schwankt, je nachdem, mit welchem Objekt bzw. welcher Art von Architektur wir es zu tun haben. Darüber hinaus ist durchaus fraglich, ob sich räumliche Gegebenheiten gleichsam als Spiegel gesellschaftlicher Trends verstehen lassen. Schon für René König hat die soziale Morphologie gezeigt, dass die » eigentliche Strukturproblematik relativ unabhängig ist vom materiellen Substrat einer Gesellschaft, obwohl sie ohne dieses natürlich nicht begriffen werden könnte. « Und er folgert: » Das materielle Substrat hat also im wesentlichen symptomatologische

67 Markus Schroer, Mobilität ohne Grenzen ? Vom Dasein als Nomade und der Zukunft der Sesshaftigkeit, in: Winfried Gebhardt/Ronald Hitzler (Hg.): Nomaden, Flaneure, Vagabunden. Wissensformen und Denkstile der Gegenwart. Wiesbaden 2006: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, S.  115 – ​125. 68 Vgl. Markus Schroer, » Bringing space back in «. Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Das Raumparadigma. Zur Standortbestimmung des Spatial turn. Bielefeld: transcript. 69 Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, S. 142.

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Bedeutung. «70 Exakt in diesem, spezifischen Sinne, lässt sich das Stadion dann allerdings als Ort verstehen, an dem sich gesellschaftliche Trends wie unter einem Brennglas verdichten. So können wir den alten Stadien Bilder über die Vergangenheit abringen und an den neuen die Strukturen erkennen, die für die gegenwärtige Gesellschaft symptomatisch sind.

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Teil IV Grenzen

Grenzen – ihre Bedeutung für Stadt und Architektur

» Keine Haut, keine Barrieren, kein Schutz. Die Grenzen sind wichtig. « (Siri Hustvedt, Die Leiden eines Amerikaners)

1

Die Stadt und ihre Grenzen

Der städtische Raum ist – wie jeder Raum – das Ergebnis einer Grenzziehung.1 Jede Stadt grenzt sich von einer sie umgebenden Umwelt ab. Von der Antike bis in die Neuzeit fungieren Mauer, Wall und Graben als Grenzen der befestigten Städte. Durch diese Abschließungsarchitektur erreichen sie einen Grad an Sicherheit, der in Dörfern nicht vorausgesetzt werden konnte.2 Die Abschirmung nach Außen darf man sich jedoch nicht als einen einseitigen Rückzug ins Geschlossene vorstellen. Mit Hilfe der Grenze wird vielmehr ein Eigenraum von einem Fremdraum unterschieden.3 An den in Mauern eingelassenen Toren wird über Einlass oder Nicht-Einlass zu diesem Eigenraum entschieden. Das ist die elementare Funktion jeder Grenze, die generell nicht für totale Abschottung steht, sondern für die Organisation von Inklusion und Exklusion, Einschluss und Ausschluss zuständig ist. Eine unüberwindbare Grenze ist ein Widerspruch in sich. Die Überschreitung ist der Grenze gewissermaßen eingeschrieben. Insofern ist jede Grenzüberschreitung keine Zweckentfremdung der Funktion der Grenze, sondern eine Erfüllung 1 2 3

Vgl. Martin Heidegger, Bauen, Wohnen, Denken, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Stuttgart 2004, S.  139 – ​156. Vgl. Martin Dinges/Fritz Sack (Hrsg.), Unsichere Großstädte ? Vom Mittelalter bis zur Postmoderne, Konstanz 2000. Bernhard Waldenfels, Sinnesschwellen. Studien zur Phänomenologie des Fremden 3, Frankfurt/M., S. 204.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Schroer, Räume der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2_13

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Grenzen – ihre Bedeutung für Stadt und Architektur

ihres ureigensten Programms. Erst in der Möglichkeit ihrer Überwindung bestätigt sich die Existenz der Grenze. An der historischen Entwicklung der Städte lässt sich ablesen, dass ein reger Grenzverkehr zwischen Innen und Außen nicht zum Verschwinden, sondern zum ständigen Hinausschieben, also zur Neuerrichtung von Grenzen geführt hat. Immer neue, sich jenseits der Mauern befindliche Areale, wurden nach und nach ins Innere verlegt und integriert.4 Die Errichtung einer Stadt geht mit der Ziehung einer Grenzlinie einher, die jedoch nicht nur einen Stadtraum schafft, der sich aus seiner Umwelt herauslöst und unterscheidet, sondern auch einen ländlichen Raum hervorbringt, der nicht mehr derselbe ist wie zuvor. Erst die Entstehung der befestigten Städte als Sicherheitsbollwerke lässt die Dörfer als unsichere Siedlungsstruktur erscheinen; erst die städtische Lebensweise bringt einen ländlichen Lebensstil hervor und erst das rasante Tempo in der Stadt lässt das Treiben im Dorf langsam erscheinen. Das Ziehen einer Grenze sorgt stets auf beiden der durch sie unterschiedenen Seiten für eine Veränderung. Die Errichtung eines Innen hat somit nicht nur Auswirkungen auf ein Außen, sie schafft überhaupt erst dieses Außen, auf das es stets bezogen bleibt. Die Grenze markiert den Unterschied zwischen Innenraum und Außenraum. Die Grenze gegenüber dem ländlichen Raum bleibt indes nicht die einzige Grenze, die die Stadt ausmacht. Vielmehr kommt es auch innerhalb des Stadtraums zur Ziehung von Grenzen, die einzelne Quartiere voneinander unterscheiden. Diese Segregation5 lässt sich über die gesamte Geschichte der Stadt hinweg beobachten und kann die verschiedensten Formen annehmen. In der mittelalterlichen Stadt konzentrieren sich verschiedene Handwerke in verschiedenen Quartieren. Asiatische Städte weisen eine Segregation nach Religionszugehörigkeit auf. In amerikanischen Städten bilden sich Quartiere entlang der ethnischen Zugehörigkeit. Darüber hinaus gliedern sich Städte in verschiedene Viertel, die von sich sozial nah stehenden Bevölkerungsgruppen gebildet werden. So gibt es in jeder Stadt Arbeiterviertel und Villenviertel, bevorzugte Wohngebiete und Problembezirke. Für die Erkennbarkeit dieser verschiedenen Areale spielt die Architektur eine bedeutende Rolle, weil sie die sozialen Unterschiede erst sichtbar werden lässt, die zwischen den einzelnen Vierteln und ihren Bewohnern bestehen. Mit Hilfe der Architektur vermag selbst der Besucher einer Stadt zu erkennen, wo er sich gerade aufhält. Akzeptable, begehrte oder zu vermeidende Wohnviertel sind mit dem bloßen Auge auszumachen. Doch man täusche sich nicht: Sie sind dies 4 5

Vgl. am Beispiel von Paris Eric Hazan, Die Erfindung von Paris. Kein Schritt ist vergebens, Zürich 2006. Vgl. Hartmut Häußermann/Walter Siebel, Stadtsoziologie. Eine Einführung, Frankfurt/M. – New York, S. 139 ff.

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nur deshalb, weil wir gelernt haben, bestimmte räumliche Arrangements mit bestimmten sozialen Kategorien zu verbinden. Wir wissen, dass prunkvolle Villen mit großem Grundstück reiche Bevölkerungsgruppen beherbergen, dass ein freistehender Bungalow oder eine Doppelhaushälfte auf die Mittelklasse verweisen und dass ein Wohnsilo in städtischer Randlage als typische Unterkunft der Unterschicht angesehen werden kann. Es ist dieses Wissen, das die Lesbarkeit der Stadt letztlich erst ermöglicht. Da die Grenzen jedoch niemals ein für allemal festgelegt sind, bliebt die zentrale Frage stets wo, wie und von wem welche Grenzen gezogen werden. Die Art und Weise der Grenzziehungen und ihre Benennungen sagen viel über die jeweilige Gesellschaft, die Gruppe, das Milieu oder Szene aus, die sie zieht. Sie können zwischen dem Eigenen und dem Fremden, den Reichen und den Armen, den Inländern und den Ausländern gezogen werden. Dabei müssen sie sich nicht in jedem Fall räumlich manifestieren, wodurch sie jedoch – wie wir seit Georg Simmel wissen – eine ungleich höhere » Festigkeit und Anschaulichkeit «6 erfahren. Kommt es zu keiner räumlichen Materialisierung der Grenzen, so haben wir es demnach mit fragilen und unsichtbaren Verhältnissen zu tun. Welchen Beitrag leistet die Architektur für die Stabilität und Sichtbarkeit sozialer Verhältnisse ? Welche Grenzen zieht sie ?

2

Die Architektur und ihre Grenzen

Die Geschichte der Architektur beginnt lange vor der Entstehung von Städten. Wann immer eine Grenze zwischen Innen und Außen gezogen wird, können wir von Architektur sprechen. Insofern handelt es sich schon bei der vom Menschen gebaute Hütte, in der er Schutz vor Regen, Kälte und wilden Tieren sucht, um Architektur. Ihr Aufkommen ist zugleich auch die Geburtsstunde des Wohnens: » Das Wohnen beginnt, sobald der Mensch der Höhle des Mutterleibs entweicht und einen Unterschlupf sucht. «7 Wenn man sich die zentralen Elemente der Architektur vor Augen führt – Böden, Decken, Wände, Dächer – wird deutlich, dass sich Architektur generell als Antwort auf ein tief verwurzeltes Schutzbedürfnis des Menschen verstehen lässt. Von der primitiven Hütte bis zur mondänen Villa besteht der gemeinsame Nenner der Architektur in der Schutz bietenden Abschirmung8 nach Außen: » Auch beim Menschen beruht das moralische und physische 6 Vgl. Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe Bd. 11. Hg. von Otthein Rammstedt. Frankfurt/M. 1992, S. 699. 7 Vgl. B. Waldenfels (Anm. 3), S. 208. 8 Vgl. Dirk Baecker, Die Dekonstruktion der Schachtel. Innen und Außen in der Architektur, in: Niklas Luhmann u. a.: Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990.

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Wohlbefinden letztlich auf der gänzlich tierischen Wahrnehmung des Sicherheitsbereichs, des Zufluchtsortes «.9 Ebenso wie im Falle der Stadt erfolgt die durch den Bau eines Gebäudes vollzogene Abschließung jedoch nicht so radikal, dass von einem vollkommenen Ausschluss des Außen gesprochen werden kann. Ebenso zentrale Elemente der Architektur wie Fenster und Türen sorgen vielmehr für den Austausch zwischen Innen und Außen. Neben dem Streben nach Sicherheit geht es also immer auch um die Suche nach Kontakt und Verbindung: » Dadurch, daß die Tür gleichsam ein Gelenk zwischen dem Raum des Menschen und alles, was außerhalb dessen ist, setzt, hebt sie die Trennung zwischen dem Innen und dem Außen auf. Gerade weil sie auch geöffnet werden kann, gibt ihre Geschlossenheit das Gefühl eines stärkeren Angeschlossenseins gegen alles jenseits dieses Raumes, als die bloße, ungegliederte Wand. Diese ist stumm, aber die Tür spricht. «10 Die Grenze ist insofern ein höchst ambivalentes Gebilde. Sie befriedigt sowohl das Bedürfnis des Menschen nach Abschluss vom Anderen als auch das nach der Hinwendung zu ihm. Die Aufgabe der Architektur besteht nicht zuletzt darin, die Balance zwischen einer Schutz suchenden Orientierung nach Innen und der schutzlosen Öffnung nach Außen herzustellen. Dabei gilt grundsätzlich, dass das, was trennt, auch verbindet und umgekehrt. Grenzen lassen sich insofern nicht in offene und geschlossene Grenzen unterteilen, da damit allenfalls vor­ übergehende Zustände der Grenze bezeichnet sind. Grenzen unterscheiden sich vielmehr nach dem jeweiligen Grad ihrer Durchlässigkeit.11 Entscheidend dabei ist, dass der Charakter der Grenze nicht ein für allemal festgelegt ist und für jedermann gilt, sondern als sehr verschieden erlebt werden kann. Für Alte und Kinder, Arme und Reiche, Frauen und Männer können sich etwa beim Durchschreiten der Stadt völlig verschiedene Grenzen auftun; Grenzen, hinter denen sich für die einzelnen Bevölkerungsgruppen regelrechte no-go-areas auftun. Alte Menschen vermeiden steile Treppen, Kinder stark befahrene Straßen, Arme die von Sicherheitsdiensten geschützten Geschäfte in den Nobelpassagen der Innenstädte, Reiche die Randbezirke, Nichtraucher die Raucher-Areas, Frauen Parkhäuser und Unterführungen, Männer Frauenparkplätze und Frauenbuchläden, Einheimische Treffpunkte der » Fremden «, » Fremde « Szenetreffs der Deutschnationalen. Die Stadt besteht aus einer Fülle von Grenzen, die nicht immer unmittelbar sichtbar und für jeden erkennbar sein müssen, um die Nutzungsprofile der Bewohner dennoch zu prägen. Jeder setzt andere, seiner Position und seinem Status gemäße Prioritä9 André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M., S. 388. 10 Georg Simmel, Brücke und Tür. Essays des Philosophen zu zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, Hg. von Margarete Susman und Michael Landmann. Stuttgart 1957, S. 4. 11 Vgl. Roland Girtler, Abenteuer Grenze. Von Schmugglern und Schmugglerinnen, Ritualen und » heiligen Räumen «, Wien – Münster 2006.

Grenzen – ihre Bedeutung für Stadt und Architektur 251

ten und bahnt sich entsprechend verschiedene Wege durch die Stadt. Das Image der Städte hängt zu einem erheblichen Ausmaß davon ab, wie sie – jenseits des Images, das ihr durch die Stadtväter und deren Werbeabteilung zu geben versucht wird – von den einzelnen Bevölkerungsgruppen gesehen wird. In unzähligen Alltagsgesprächen werden Städte als hart, unzugänglich und öde oder als sozial, offen und lebendig eingestuft. Wenn Stadtväter versuchen, Unternehmen in ihre Stadt zu locken oder Unternehmen Mitarbeiter anwerben, spielen solche Standorteinschätzungen eine kaum zu unterschätzende Rolle für die Entscheidung der jeweils Betroffenen. Aber nicht nur die Stadt und ihre einzelnen Quartiere, auch die einzelnen Gebäude lassen sich in einem erheblichen Ausmaß danach unterscheiden, welchen Grad an Durchlässigkeit sie erlauben bzw. anstreben. Schon die Anzahl von Türen und Fenstern, deren Größe und Anordnung, vermag etwas auszusagen über das Ausmaß der gesuchten Schließung oder Öffnung nach Außen. Erst recht sind unterschiedliche Materialien dazu in der Lage, Zugänglichkeit oder Zurückweisung zu symbolisieren. Glas signalisiert Offenheit und wirkt einladend. Man macht sich freiwillig beobachtbar, will zeigen, dass es nichts zu verbergen gibt. Beton dagegen erscheint unzugänglich und abweisend, wirkt wie ein Bollwerk gegen feindliche Einflüsse von Außen. Der äußere Eindruck kann allerdings täuschen: » Das Glas bietet zwar Möglichkeiten der rascheren Kommunikation zwischen Innen und Außen, aber zugleich zieht es eine unsichtbare Wand auf, die verhindert, daß diese Verbindung eine wirkliche Öffnung zur Welt wird. «12 Die Baumaterialien allein sind sicher kein verlässlicher Indikator, um eindeutig zu bestimmen, ob mit offenen oder geschlossenen Formen zu tun haben. Dass Glas nicht per se für leichte und damit erwünschte Zugänglichkeit steht, hat niemand eindrücklicher gezeigt als Jacques Tati in seinem Film » Playtime «. Die moderne Großstadt präsentiert sich hier als ein geradezu aseptisches Labyrinth aus Glas, Stahl und Beton, in der sich kaum mehr jemand zurecht findet, obwohl – oder gerade weil – scheinbar alles offen ausgestellt und dargeboten wird. Richard Sennetts Kritik an der modernen Glasarchitektur weist in eine ähnliche Richtung: » Sehen zu können, was man nicht hören, berühren, spüren kann, verstärkt das Gefühl, das, was sich im Inneren befindet, sei unzugänglich. «13 Sennett zufolge führt Glasarchitektur gerade nicht zu Offenheit und Transparenz, sondern zu Einsamkeit und Isolation. Ganz unabhängig aber von den tatsächlichen Zugangsbedingungen sind die kollektiven Assoziationen und Konnotationen, die beim Anblick von Glas oder Beton hervorgerufen werden, in der Lage, einem Gebäude ein Image zu verleihen, das es nur schwer wieder los wird. 12 Jean Baudrillard, Das System der Dinge, Frankfurt/M. – New York 1991, S. 56. 13 Richard Sennett, Civitas, Frankfurt/M., S. 147.

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Abgesehen vom Material und den entsprechenden Zuschreibungen gibt es allerdings auch eindeutigere, weniger widersprüchliche Möglichkeiten, mit Hilfe architektonischer Maßnahmen Ausschluss und Ausgrenzung zu ermöglichen. Metallspitzen auf Mauervorsprüngen, die das Anlehnen oder Sitzen verhindern, Rasensprenger in Parks, die das dortige Übernachten unmöglich machen und öffentliche Toiletten, die immer geschlossen sind, lassen nur wenig Interpretationsspielraum.14 Insofern kann Architektur zweifellos dazu beitragen, bestimmten Bevölkerungsgruppen den Zugang zu bestimmten Orten zu verweigern. Dabei muss es sich gar nicht immer um eindeutige Abwehrarchitekturen wie Zäune, Mauern oder ähnliches handeln. Auch auf sehr viel subtilere Art und Weise kann Architektur Eintrittsverbote aussprechen, die oft nur als Empfehlungen daher kommen, sich diesen Räumen nicht zu nähern und jene besser erst gar nicht zu betreten. Die soziale Welt, die eine Welt voller mal gepflegter, mal verleugneter Unterschiede ist, bedient sich der Architektur, der Gestaltung von Räumen und der Ausgestaltung des Interieurs, um auf Unterschiede aufmerksam zu machen und zu signalisieren, welches Klientel willkommen ist und welches nicht. So ist zum Beispiel längst bevor man einen Blick auf die Speisekarte und die Preise eines Restau­ rants werfen kann, in aller Regel klar, ob das Restaurant zu einem passt oder nicht. Insgesamt gesehen dürfte es eher selten vorkommen, dass sich Passanten in das falsche Lokal verirren. Das gesamte Arrangement, von der Gestaltung des Eingangsbereichs über das Auftreten und die Blicke der Kellner bis hin zum Mobiliar, trägt dazu bei, die gewünschte Kundschaft anzulocken und die unerwünschte von einem Besuch abzuschrecken. So bleibt die vertraute Ordnung gewahrt: Der Habitus der Akteure wählt sich das zu ihm passende Habitat aus.15 Ohne dass der Einlass direkt untersagt zu werden braucht, schließt sich das Publikum im Sinne einer vorauseilenden Selbstexklusion – » Das ist nichts für uns ! « – selbst aus. Erst wenn diese Art der Selbstregulierung versagen sollte, weiß der Kellner durch Blicke und Gesten zu signalisieren, dass man sich an einem Ort befindet, an dem man nicht erwünscht ist. Gewollte Regeldurchbrechung, Zuwiderhandlungen und Provokationen bleiben zwar immer möglich, sind aber eher die Ausnahme. Halten wir fest: Städte ebenso wie Bauwerke und Gebäude sind das Produkt von Grenzziehungen, die die Grenzziehungen in der sozialen Welt massiv unterstützen können. Was passiert, wenn diese Grenzen uneindeutig werden oder gar

14 Vgl. Jan Wehrheim, Die überwachte Stadt. Sicherheit, Segregation und Ausgrenzung, Opladen 2002, S. 95 ff. 15 Vgl. Pierre Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hg.): Stadt-Räume. Frankfurt/M., New York 1991, S. 25 – ​34 und Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/M. 2006, S.  97 f.

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zu verschwinden drohen, wie in den aktuellen Debatten um die Globalisierungsdiskurs oft zu vernehmen ist ?

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Grenzziehung und Grenzüberschreitung als soziale Praxis

In den gegenwärtigen Zeitdiagnosen stößt man immer wieder auf die These, dass sich die soziale Welt zunehmend verflüssigt, womit auch die Grenzen verschwänden, die ein wichtiger Bestandteil der » festen Moderne « waren.16 Dieser These fehlt es zunächst nicht an Plausibilität. Ein Abbau von Grenzen lässt sich auf verschiedenen Ebenen beobachten: Auf der Makroebene kommt es unzweifelhaft zu einer zunehmenden Öffnung der Grenzen zwischen Nationalstaaten. Die Mühelosigkeit, mit der vor allem Informationen staatlich gesetzte Grenzen überwinden, untergräbt zunehmend die Autorität dieser Grenzen. Der Prozess der Globalisierung wird deshalb mit einem Ende der Grenzen geradezu gleichgesetzt.17 Auf der Mesoebene ist deutlich zu erkennen, dass Städte nicht mehr an einer massiven Mauer deutlich erkennbar enden, sondern sich geradezu in ihren Umgebungsraum ergießen, so dass kaum mehr auszumachen ist, wo die Stadt endet und der ländliche Raum beginnt. Die Grenze zwischen Stadt und Land wird so zumindest uneindeutig. Auf der Mikroebene weichen die streng gezogenen Grenzen zwischen einem Ess-, Schlaf- und Wohnbereich in den Privatwohnungen durch das Weglassen von Wänden mehr und mehr einer offenen Raumkonzeption, in der sich die verschiedensten Tätigkeiten innerhalb eines nicht unterteilen Raums abspielen – eine Entwicklung, die sich bereits in den späten 1920er Jahren andeutet, vor allem aber in den 1980er und 1990er Jahren im großen Maßstab vorangetrieben wird.18 Während im Ganzen Haus des Mittelalters die verschiedensten alltäglichen Tätigkeiten wie Schlafen, Kochen und Essen in einem einzigen zentralen Raum stattfanden, kommt es spätestens seit dem 19. Jahrhundert zu einer stärkeren Aufteilung der Wohnung in verschiedene Funktionsbereiche. Jeder einzelne Raum erfüllt nun einen ganz bestimmten Zweck. Gekocht wird in der Küche, geschlafen im Schlafzimmer, gespielt im Kinderzimmer. Inzwischen aber gibt es wieder den Trend zu mehr Offenheit. Damit kommt es zu einer Erweiterung des Sehraums, die eine Rücknahme der nach dem Mittelalter eingeführten Begrenzung des Seh-

16 Vgl. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt/M. 2003. 17 Zur Fragwürdigkeit dieser These vgl. M. Schroer (Anm. 15), S. 185 ff. 18 Vgl. Katharina Weresch, Wohnungsbau im Wandel der Wohnzivilisierung und Genderverhältnisse, Hamburg, München 2005, S. 252 ff.

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raums19 einschließt. Die mit der Separierung der Räume möglich gewordene Privatheit, die den Schutz vor den Blicken noch der engsten Verwandten ermöglichte, scheint durch die Öffnung der Räume gefährdet und als Zunahme von Kontrolle erlebt zu werden.20 Was bei der These vom Abbau der Grenzen übersehen wird, ist, dass die Grenzen nicht schon deshalb verschwinden, weil sie nicht mehr länger dort aufzufinden sind, wo man sie bisher zu Recht vermuten konnte. Grenzen wandern.21 Sie sind nicht starr und unbeweglich. Sie ändern vielmehr ihre Form und vollziehen auf flexible Weise eine Abschirmung gegenüber dem als bedrohlich wahrgenommenen Außen.22 So kann auf der Ebene der Nationalstaaten zwar ein Grenzabbau innerhalb Europas festgestellt werden. Gleichzeitig aber werden sie Grenzziehungen nach Außen verstärkt, sodass sich vor allem für Nichteuropäer das Bild von der » Festung Europa « aufdrängt. Auf der Ebene der Städte kommt es zwar nicht zu einer Renaissance der befestigten Städte, aber die Verbreitung von gated communities zeigt einen Bedarf an der Errichtung von Sicherheitszonen inmitten einer als unsicher wahrgenommenen Metropolenwirklichkeit. Wenn die Torwächter in den heutigen Städten nicht mehr an den Toren der Stadtmauern vorzufinden sind, so heißt dies doch nicht, dass sie verschwunden wären: Sie befinden sich heute vielmehr an den Eingängen der Einkaufsläden, Casinos, Shopping Malls, Hotels, Parks, Flughäfen, Bahnhöfen, Stadien, Discotheken usw. Nicht mehr das Schloss mit mächtigem Riegel, sondern Video-Überwachung, Gegensprechanlagen, Drehkreuze, Doorman, automatischer Schließmechanismus und biometrische Kontrollverfahren regulieren und kontrollieren nunmehr die Zugänge. Es müssen nicht immer gleich Schlagbäume sein, wenn es darum geht, Grenzen zu ziehen. Wenn man – wie in Paris – die Möglichkeiten beschränkt, mit öffentlichen Verkehrsmitteln von den Randbezirken in das Zentrum der Großstadt zu gelangen, dann wird auch auf diese Weise eine Grenze gezogen zu denen, die im öffentlichen Stadtbild nicht vorkommen sollen, um den positiven Gesamteindruck der Touristen nicht zu gefährden und der privilegierten Zentrumsbevölkerung den Kontakt mit den fremd gebliebenen Banlieubewohnern nicht zuzumuten. Eine 19 Vgl. Peter Gleichmann, Die Verhäuslichung körperlicher Verrichtungen, in: Peter Gleichmann, Johan Goudsblom und Hermann Korte (Hrsg.), Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie. Frankfurt/M., S. 254 – ​278; hier S. 257. 20 Vgl. K. Weresch (Anm. 18), S. 257 f. 21 Vgl. Mathias Bös/Kerstin Zimmer: Wenn Grenzen wandern. Zur Dynamik von Grenzverschiebungen im Osten Europas, in: Georg Vobruba/Monika Eigmüller (Hg.): Grenzsoziologie. Die politische Strukturierung des Raumes. Wiesbaden 2006, S. 157 – ​184. 22 Vgl. Stefan Kaufmann, Grenzregimes im Zeitalter globaler Netzwerke, in: Helmuth Berking (Hrsg.), Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen, Frankfurt/M. – New York, S. 32 – ​ 65.

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Begegnung mit den Bewohnern der Vorstädte wird als bedrohlich wahrgenommen, die gewünschte Segregation als gescheitert angesehen. Denn angestrebt ist, dass jeder bleibt wo er ist und › hingehört ‹. Diese Platzierungsmacht ist ein ebenso oft unterschätztes wie angewandtes Mittel politischer Herrschaft, zumal im Zeitalter der Globalisierung, das durch eine tiefe Unsicherheit in Fragen der Zugehörigkeit geprägt ist. Hatte die Stadt ihre Autorität zunächst an den Nationalstaat abgegeben, der nunmehr dafür Sorge zu tragen hatte, dass keine unerwünschten Subjekte den Eigenraum betreten konnten, so erfolgt aktuell, vor dem Hintergrund eines Souveränitätsverlustes der Nationalstaaten, eine Aufrüstung im Meso- und Mikrobereich. So kann auf der Ebene des Wohnens nicht allein ein Trend zum offenen Wohnen, sondern auch ein Trend zur verstärkten Abschließung registriert werden.23 Die Bürger reagieren auf den als mangelhaft empfundenen Schutz durch den Staat, indem sie sich selbst ein eigenes Territorium sichern, auf dem sie allein über Ein- und Ausgänge wachen, Eintritte zulassen oder verweigern können. Und sei der Raum auch noch so klein: Auf ihm herrscht das individuelle Selbstbestimmungsrecht. Ob dies das eigene Haus, die eigene Wohnung, das eigene Auto oder auch nur das eigene Zimmer ist – es geht um die Entwicklung von Räumen, die Innen so behaglich und multifunktional wie möglich ausgestattet und gegen den unerwünschten Zugriff von Außen so gut wie nur möglich geschützt sind. Als letzten dieser politisch aufgeladenen Räume, an dessen Grenzen jedes Individuum selbst streng über Ab- und Zufuhren zu wachen versucht, lässt sich der eigene Körper auffassen. Was ihn berühren, oder gar in ihn eindringen darf, wird angesichts der Warnungen vor dreckiger Luft, unreinem Wasser und verseuchter Ernährung zum Politikum.24 Gerade dann, wenn andere Abwehrmaßnahmen versagen, wird der eigene Körper zum Schutzpanzer aufgebaut.25 Alles zusammengenommen wird klar, dass wir es keineswegs mit einem umfassenden Abbau von Grenzen zu tun haben. Die weit verbreitete These von einer Verflüssigung des Sozialen aufgrund des Bedeutungsverlustes von Grenzen ist einseitig, weil sie die erneuten Grenzziehungen übersieht, die gerade als Antwort auf die Grenzauflösungen erfolgen. Die Praxis der Grenzziehung lässt sich nicht einfach abstellen: » Man richtet sich nie im Überschreiten ein, man wohnt nie außerhalb. Die Übertretung setzt voraus, daß die Grenze immer wirksam sei. «26 Zu bedenken ist allerdings, dass wir es weniger mit einem zähen Beharrungsvermögen 23 Vgl. Ronald Hitzler, Mobilisierte Bürger. Über einige Konsequenzen der Politisierung der Gesellschaft, in: Ästhetik & Kommunikation 23 (1994), H. 85/86, S. 55 – ​62. 24 Vgl. Zygmunt Bauman, Ansichten der Postmoderne, Hamburg 1995, S. 235. 25 Vgl. M. Schroer (Anm. 17), S. 276 ff. 26 Jacques Derrida, Positionen, Hg. von Peter Engelmann, Graz/Wien 1986, S. 39.

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der alten Grenzen zu tun haben, sondern mit einer Veränderung der Grenzen selbst, die sich verlagern, ihre Form ändern, flexibler und situativer gezogen werden können.27 Von ihrem Verschwinden jedenfalls kann keine Rede sein. Dies schon deshalb nicht, weil sie konstitutiv sind für das soziale Geschehen, das aus perpetuierlichen Grenzziehungen, Grenzverschiebungen und Grenzüberschreitungen besteht.

27 Vgl. Markus Schroer: Raumgrenzen in Bewegung. Zur Interpenetration realer und virtueller Räume, in: Sociologia Internationalis (2003), H. 1, S. 55 – ​76.

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Die Entgrenzungsthese des Globalisierungsdiskurses

Es ist noch gar nicht so lange her, dass uns der Aufbruch in eine post­nationale und grenzenlose Weltgesellschaft in Aussicht gestellt wurde. In weiten Teilen des Globalisierungsdiskurses wurden Grenzen als unerwünschte Hindernisse betrachtet, die zunehmend von der Bildfläche verschwinden werden, um die Geld- und Warenströme ungehindert fließen lassen zu können. Auch in prominenten soziologischen Konzepten der Globalisierung findet sich die Vorstellung von der ungehinderten Bewegung der Waren-, Kapital- und Menschenströme über alle Grenzen hinweg, die zu einer umfassenden Entterritorialisierung und Entgrenzung der Gesellschaft führen sollte: In Zygmunt Baumans (2003) behauptetem Übergang von der festen zur flüssigen Moderne, in Manuel Castells (2001) These von der Verdrängung des space of places zugunsten des space of flows, in Ulrich Becks (2004) Überlegungen zum Kosmopolitismus und in Niklas Luhmanns Annahme einer Weltgesellschaft wird von einer zunehmenden Irrelevanz von Räumen und Grenzen ausgegangen. Wo Bewegung, Dynamik, das Fließen und die Auflösung alles Festen für das Typische der Gegenwartsgesellschaft gehalten wird, scheint für Grenzen kein Platz mehr zu sein. In dieser Perspektive erscheinen Grenzen wie ein Überbleibsel einer überwundenen Stufe gesellschaftlicher Entwicklung. Schon 1990 wird dementsprechend eine » Borderless World « (Ohmae 1990) in Aussicht gestellt und noch im Jahr 2000 ist von » Vanishing Borders « (French 2000) die Rede. Selbst wenn diese Annahmen von heute aus gesehen hoffnungslos optimistisch erscheinen mögen, lässt sich keineswegs behaupten, dass es keine empirischen Grundlagen für sie gegeben hätte. Vielmehr lassen sie sich als Reaktionen auf gesellschaftliche Ereignisse und Entwicklungen verstehen, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts eintraten und die Vorstellung von einer Welt ohne Gren© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Schroer, Räume der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2_14

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zen beflügelten. Der Fall der Berliner Mauer, der Untergang der Sowjetunion und das Ende des Ost-West Gegensatzes, von Fukuyama vorschnell als » Ende der Geschichte « (Fukuyama 1992) gedeutet, ließen die Aussicht auf eine grenzenlose Welt ebenso in greifbare Nähe rücken wie die Ausbreitung des Internet, das eine grundsätzliche Emanzipation von räumlichen Entfernungen versprach. Den Bedeutungsverlust der Grenzen hielt man zudem auch deshalb für plausibel, weil Nationalstaaten es zunehmend mit Herausforderungen zu tun bekamen, die sich von territorialen Grenzkontrollen nicht aufhalten lassen: Das Ozonloch, die radioaktiven Wolken nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl, neue Krankheiten und Seuchen usw. Unter dem Eindruck der atomaren Aufrüstung und der Gefahr radioaktiver Niederschläge hatte Günter Anders schon 1979 von der » Antiquiertheit der Grenze « gesprochen und damit einen wichtigen Anstoß für die sieben Jahre später erschienene » Risikogesellschaft « (Beck 1986) geliefert. Da spätestens seit der Etablierung der Nationalstaaten die Souveränität eines Staates u. a. an der Verfügungsgewalt über seine Grenzen festgemacht wird, wurde aus den grenzüberschreitenden Prozessen eine Schwächung und Krise der Nationalstaaten abgeleitet, die Martin Albrow gar kurzerhand von einem » Abschied vom Nationalstaat « (1998) und Martin van Creveld von einem » Untergang des Staates « (1999) sprechen ließen. Auch bei Jürgen Habermas heißt es dazu eindrücklich: » Gegenüber der territorialen Verankerung des Nationalstaats beschwört der Ausdruck › Globalisierung ‹ das Bild von anschwellenden Flüssen, die die Grenzkontrollen unterspülen und das nationale Gebäude zum Einsturz bringen können. Die neue Relevanz von Fließgrößen signalisiert die Verschiebung der Kontrollen aus der Raum- in die Zeitdimension. Die Verlagerung der Gewichte vom › Beherrscher des Territoriums ‹ zum › Meister der Geschwindigkeit ‹ scheint den Nationalstaat zu entmachten. « (Habermas 1998: 103) In einer solchen auf Bewegung und Geschwindigkeit ausgerichteten Welt, die die Zeit über den Raum siegen lässt, die ständig im Fluss ist und Mobilität zu einem Wert an sich erhebt, in einer solchen Welt scheint für Grenzen kein Platz mehr zu sein. Denn was ist eine Grenze zunächst anderes als eine Einrichtung, die Bewegungen aufhält, Mobilität reguliert und den Zugang zu bestimmten Orten erschwert ? Ob nun Mauer, Zaun oder Schlagbaum: Sie alle sorgen zunächst einmal für die Unterbrechung von Bewegung. Pässe müssen überprüft, Visa ausgestellt, Personen kontrolliert werden. Anschließend wird das Passieren der Grenze entweder erlaubt oder verhindert. Insofern ist die Aussage Peter Sloterdijks durchaus richtig: » Die Grenze sagt zugleich Halt und geh weiter ! « Aber sie ist unvollständig. Denn sie betrachtet die Aktivität der Grenze allein in der Sachdimension. Eine empirische Wissenschaft wie die Soziologie muss darüber hinaus immer auch nach der Sozialdimension fragen. Denn bedeutsam ist ja durchaus auch, wer durch-

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gewunken und wer aufgehalten wird und wer darüber entscheidet. Die Grenze sagt zu den einen » Halt « und zu den anderen » Geht weiter ! « – und das bedeutet, dass hier eine folgenreiche Unterscheidung vorgenommen wird, die sich auch in der Raumdimension abbildet, dabei aber nicht immer so binär ausfällt – drinnen oder draußen –, wie oftmals der Anschein erweckt wird. Neben denjenigen, denen Einlass gewährt und denjenigen, die abgewiesen werden, gibt es noch eine weitere Gruppe, die die Grenze vorerst nicht überschreiten darf. Diese Gruppe, die in Auffanglagern und Flüchtlingscamps abgeschoben und notversorgt wird, befindet sich in einem Zwischenraum, weil sie weder drinnen noch draußen sind, weder vor noch zurück können. Dieser Status des Dazwischen ist eine Folge der Uneindeutigkeit der Kriterien, die einen Grenzübertritt erlauben oder verbieten einerseits, und der Uneinigkeit der Entscheider, die über drinnen oder draußen zu befinden haben, andererseits. Während der nun schon seit Jahren andauernden, so genannten » Flüchtlingskrise «, ist diese Gruppe stetig größer geworden.

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Das aktuelle Wiedererstarken der Grenzen

Inzwischen ist nur zu offensichtlich, dass sich das Versprechen einer grenzen­losen Weltgesellschaft nicht erfüllt hat. Der Traum von der immerwährenden Mobilität währte nur kurz. Statt des angekündigten Abbaus von Grenzen müssen wir heute die weltweite Zunahme von befestigten Grenzanlagen zur Kenntnis nehmen. Ein Blick auf die Weltkarte zeigt, dass wir es sowohl mit einem Fortbestehen und einem Ausbau bereits bestehender Grenzanlagen als auch mit neu errichteten Grenzen zu tun haben: So verläuft zwischen Nord- und Südkorea nach wie vor ein » eiserner Vorhang «; die USA versuchen sich vor illegalen Einwanderern an der Grenze zu Mexiko mit einem über 3 000 Kilometer langen Grenzzaun zu schützen, der permanent weiter verstärkt wird; die Israelis errichten eine Sperranlage zwischen dem von ihnen beanspruchten Land und den Gebieten der Palästinenser; ein meterhoher Zaun trennt Indien von Bangladesch; Europa umgibt sich mit starken Außengrenzen und rüstet die Grenze zwischen Marokko und den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla so massiv auf, dass Europa aus der Perspektive von Flüchtlingen immer mehr wie eine uneinnehmbare Festung wahrgenommen wird, in die sie gleichwohl verzweifelt zu gelangen versuchen (vgl. von Bredow 2014). Hinzu kommen in jüngster Zeit die hastig errichteten Grenzanlagen innerhalb Europas als Reaktion auf den unerwartet großen Ansturm von Flüchtlingen: Mazedonien errichtet einen Grenzzaun zu Griechenland, Slowenien zu Kroatien, Ungarn zu Serbien und Kroatien, Griechenland zur Türkei usw. Nimmt man zur neuen Präsenz der Grenzen in Europa den Umstand hinzu, dass im Zuge des Ausbaus der Grenzanlage zwischen den USA und Mexiko

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plötzlich auch die bis dahin als völlig unproblematisch geltende Grenze zu Kanada ebenfalls hochgerüstet wird, in Israel neben dem weiteren Ausbau der Sperranlagen gegenüber Palästina auch die gegenüber Ägypten ausgebaut werden soll und in Indien neben der Grenze zu Bangladesch auch an einer zu Pakistan gebaut wird (vgl. Thränhardt 2012), dann wird das ganze Ausmaß der Dissemination von Grenzen ersichtlich. Als Motor wie Nutznießer dieses Verbreitungsprozesses kann die Sicherheitsindustrie bzw. » Verschlussindustrie « (Debray 2016: 16) angesehen werden, die weltweit enorme Gewinne einfährt. Der Aufbau und der Unterhalt von Grenzbefestigungen ist ein Milliardengeschäft. Schätzungen zufolge hat die Privatwirtschaft bereits vier Mrd. Dollar mit dem Schutz der EU-Grenze verdient. (NZZ, 17. 01. ​16) Die an diesem Geschäft beteiligte Berliner Firma » rotec « wirbt auf ihrer Homepage beispielsweise mit NATO-Stacheldraht als » Sicherheit von der Rolle «. (http://www.rotec-berlin.de/r_frames.htm?zaun/drahtgitter/natodraht.html (17. 06. ​2016)) Die neue Ungeniertheit, mit der weltweit gerade der Stacheldraht wieder zum Einsatz gelangt, ist schon deshalb bemerkenswert, da er als das Symbol für Unterdrückung, Konzentrationslager und Folter gilt. In seiner » politischen Geschichte des Stacheldrahts « aus dem Jahr 2000 schreibt Olivier Razac: » Selbst in den Auffanglagern wird versucht, so wenig wie möglich Stacheldraht zu verwenden, und er wird wahrscheinlich bald ganz verschwinden. Denn seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich das Image des Stacheldrahts nicht verbessert. « (Razac 2003: 76) Wenn trotz dieses negativen Images Stacheldraht weltweit wieder verstärkt zum Einsatz kommt, so muss man darin wohl einen radikalen – wenn auch letztlich hilflosen – Versuch erkennen, sich vor den unerwünschten Folgen einer als Bedrohung erlebten Welt ohne Grenzen zu schützen. Da die diffusen Ängste vor den Auswirkungen der Globalisierung mit den Flüchtlingen ein Gesicht bekommen, konzentrieren sich die Abwehrversuche gegenüber allem Fremden aktuell vor allem auf sie. Was sich an der aktuellen Aufrüstung der Grenzanlagen zeigt, verweist darauf, womit die Entgrenzungstheoretiker am wenigsten gerechnet haben: Keine Abwehrbewegung der einsetzenden Globalisierung, sondern eine Gegenbewegung zum bereits erfolgten Ausmaß an Öffnung und den Bedarf nach erneuter Schließung, nach dem Wunsch, das Eigene gegenüber dem Zugriff des Fremden beschützen zu wollen. Mit einem Blick auf die klassische Soziologie der Grenze von Georg Simmel erweist sich die weltweite Wiederkehr der Grenzen allerdings als nur wenig überraschend. Von Simmel stammt bekanntlich die viel zitierte Einsicht: » Die Grenze ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt. « (Simmel 1992: 697) Weniger häufig zitiert wird, was bereits wenige Zeilen später zu lesen ist. Simmel verweist hier auf » die unvergleichliche Festigkeit und Anschau-

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lichkeit [….], die die sozialen Begrenzungsprozesse durch ihre Verräumlichung erhalten « (ebd.: 699), um abschließend festzuhalten: » Jede Grenze ist ein […] soziologisches Geschehen; aber durch dessen Investierung in einer Linie im Raum gewinnt das Gegenseitigkeitsverhältnis nach seinen positiven und negativen Seite eine Klarheit und Sicherheit – freilich oft auch eine Erstarrung –, die ihm versagt zu bleiben pflegt, solange das Sich-treffen und Sich-scheiden der Kräfte und Rechte noch nicht in eine sinnliche Gestaltung projiziert ist und deshalb immer sozusagen in status nascens verharrt. « (Ebd.) Mit anderen Worten: Eine Investition in den Raum, in räumliche Schranken und territoriale Grenzen ist immer auch eine Investition in die Sicherheit, Klarheit, Stabilität und Sichtbarkeit sozialer Verhältnisse. Die massive Wiederkehr der für jedermann sichtbaren Grenzkontrollanlagen in unseren Tagen hat mit dieser von Simmel betonten Eigenschaft zu tun, für klare Unterscheidungen und Trennungen sorgen zu wollen. Über Simmel hinaus scheint es dabei aktuell vor allem um die öffentlichkeitswirksame Demonstration und Inszenierung von stabilen Verhältnissen und machtvollen Entscheidungen des Souveräns zu gehen, die die potentiellen Einwanderer ebenso beeindrucken soll wie die einheimische Bevölkerung.

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Die Grenze als Raumdispositiv

Hätten wir es allein mit dieser Wiederkehr der aus Mauern und Stacheldraht errichteten Befestigungsanlagen im klassischen Gewand zu tun, läge es nahe von einer Renationalisierung zu sprechen, die uns eine Rückkehr in durch bewachte Grenzen strikt voneinander geschiedenen Nationalstaaten bescheren wird. Tendenzen dazu sind zweifellos vorhanden. Aber das ist nicht alles. Neben der unerwarteten Rückkehr der stabilen Grenzanlagen in allen Teilen der Welt, aber eben auch innerhalb Europas, haben wir es daneben weiterhin mit Grenzaktivitäten zu tun, die aufgrund ihrer geringeren Sichtbarkeit vom wirkungsmächtigen Entgrenzungsdiskurs der Globalisierungserzählung fälschlicherweise mit einem Verschwinden der Grenzen gleichgesetzt wurden. Was hier als Wegfall von Grenzen gefeiert wurde, verdankt sich letztlich dem privilegierten Blick des Europäers, der über die neue Freizügigkeit der offenen Grenzen innerhalb Europas vergessen sollte und wohl auch tatsächlich vergessen hat, dass diese mit einem umso massiveren Ausbau der Außengrenzen der EU im Zuge des Schengenabkommens erkauft wurde. Dabei setzen die zuständigen Institutionen der EU im Einvernehmen mit den Mitgliedstaaten und der privaten Agentur FRONTEX eben nicht allein auf die sichtbaren, von Mauern und Stacheldrahtzäunen gesicherten, sondern auch auf die so genannten » smart borders « oder » intelligenten Grenzen «, die Kontrollen ermöglichen, die sich der Sichtbarkeit zwar weitgehend entziehen, dafür aber

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umso effektiver zwischen unerwünschter und erwünschter Zuwanderung unterscheiden können sollen. Die Grenze lässt sich insofern nicht mehr länger als Linie im klassischen Sinne verstehen, als konkreter Ort, an dem ein Übergang organisiert wird. Sie besteht heute vielmehr aus einem ganzen Apparat von – wenn man so will – » harten « und » weichen « Kontrolltechnologien und Überwachungspraktiken, also aus Zäunen, Stacheldraht, Selbstschussanlagen, Wachtürmen, Drohnen, Hubschraubern, Spürhunden, Video- und Wärmebildkameras, Nachtsichtgeräten und Pa­trouillen ebenso wie aus Pässen, Visa, Gesundheitszertifikaten, Gesetzen, Vorschriften, Zollund Finanzbeamten sowie Gesundheits- und Einwanderungsbehörden. Durch diese Mischung aus sichtbaren und unsichtbaren, diskursiven und nichtdiskursiven Elementen lässt sich die Grenze als » Raumdispositiv « (Walters 2011:  322) verstehen. Damit wird die Grenze zu einer biopolitischen Instanz der Macht, die mit Hilfe der ihr eigenen Filterfunktion mit jedem Akt des Durchlassens und Zurückweisens eine eigene Bevölkerung konstituiert, indem sie immer wieder aufs Neue zwischen Einheimischen und Fremden unterscheidet. Der Akt der Wiederholung sorgt dabei dafür, alle für das Grenzgeschehen typischen Aktivitäten als Grenzpraktiken beschreiben zu können. In dieser Form der Grenzkontrollen drückt sich der politische Wille aus, die Grenzen nicht immer restriktiver, sondern immer selektiver werden zu lassen. Die Grenze ist dabei nichts anderes als eine Selektionsapparatur, der die Aufgabe zukommt, den Zustrom von Waren und Personen gerade nicht rigoros zu verhindern, sondern zu kanalisieren und zu filtern. Es ist naheliegend, dass die Souveränität eines Staates in Zukunft vor allem daran gemessen wird, diesen Sortierungsvorgang auf der Höhe der technologischen Möglichkeiten gewährleisten zu können und damit zu garantieren, dass gefährliche Personen erkannt und zurückgewiesen werden können, ohne damit gleichzeitig den schnellen Grenzverkehr zwischen erwünschten Elementen zu behindern. Die Bestrebungen innerhalb der EU sind insofern nicht allein auf Abwehr und Abschottung ausgerichtet, sondern darauf, eine Schließung gegenüber allen unerwünschten und eine Öffnung gegenüber allen erwünschten Migrationen herzustellen. Dabei geht es vor allem darum, die Schließung so effizient zu organisieren, dass der Strom der erwünschten Güter, Dienstleistungen und Menschen durch die Schließungen nicht unterbrochen, aufgehalten und am Ende zum Versiegen gebracht wird. Trotz der sich aufdrängenden Bilder massiver Abschottung versucht Europa sich insgesamt eher an einem Spagat zwischen Öffnung und Schließung. Neben dieser räumlichen Verschiebung der territorialen Grenzen von den Rändern der Nationalstaaten an die Ränder der EU im Rahmen des Schengenabkommens lassen sich neue Grenzen auch im Inneren der Staaten beobachten, die man als mobile oder vagabundierende Grenzen bezeichnen könnte, weil sie sich

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jederzeit flexibel an verschiedenen Orten errichten lassen. Im Zuge des Ausbaus der » Kontrollgesellschaft « im Sinne von Deleuze (1993) kommt es zu einer Streuung von Grenzkontrollen über ein gesamtes Staatsgebiet hinweg: Die Passkontrollen an den Staatsgrenzen werden durch die umfassende elektronische Überwachung aller Bürger durch Videokameras, Bildschirme und Geldautomaten mit Hilfe von Barcodes und Geheimnummern ergänzt. Damit überziehen die ehemals exklusiv an den Landesgrenzen angebrachten Kontrollpunkte das gesamte Landesinnere. Mit der Übertretung einer staatlichen Grenze ist insofern keineswegs schon das Recht verbunden, sich innerhalb eines Landes überall frei bewegen zu können. Die im Binnenraum bestehenden Spaltungen sorgen vielmehr dafür, dass ein Grenzübertritt, selbst wenn er gelingt, nicht mit einem Komplettzugang zu einer Gesellschaft verwechselt werden darf. Er bedeutet vielmehr den Zugang zu weiteren Gatekeepern und Entscheidern, die über den Einlass zu den in zahlreiche Räume, Zonen und Areale gegliederten Gesellschaften wachen. Bahnhöfe, Shopping Malls und Freizeitparks stellen eigene Hausordnungen auf und statten sich mit dem Recht aus, unerwünschten Personen das Betreten ihres Territoriums zu untersagen. Gegensprechanlagen, Drehkreuze, Doormen, automatische Schließanlagen und biometrische Kontrollverfahren regulieren und kontrollieren die Zugänge zu begehrten Orten und Plätzen. Kein homogener Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (vgl. Walters 2011: 316) tut sich somit für den Flüchtling am Ende seiner langen und entbehrungsreichen Reise auf, sondern eine aus Lagern, Angsträumen, » no go areas «, gated communities, Banlieus, Komfort- und Ruhezonen, Wellnessoasen, Freizeitparks, Fanmeilen, Bildungslandschaften und vielen weiteren räumlichen Figurationen, in der nicht einmalig, sondern immer wieder neu über Zugangsberechtigungen und Ausschlussmöglichkeiten entschieden werden kann. Die räumliche Aufteilung in Auffanglager, Wartehallen, Transitzonen, Hotspots usw. in den Grenzgebieten, setzt sich im Inneren der staatlichen Räume im Sinne einer multiplen Zonierung fort.

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Rückblick und Ausblick

Meine Überlegungen sollten deutlich machen, dass wir es momentan nicht mit einer bloßen Wiederkehr nationaler Grenzbefestigungen innerhalb Europas zu tun haben, wie die mediale Berichterstattung oftmals den Anschein erweckt, sondern mit vier verschiedenen Formen von Grenzen und Grenzkontrollen. Erstens mit der verstärkten Kontrolle der Außengrenzen der EU, zweitens mit den mobilen Grenzen im Innenraum Europas, drittens mit den neuen Grenzsicherungen der Nationalstaaten innerhalb Europas, die so lange wiederkehren und aufrechterhalten werden wie die Sicherung der Außengrenzen nicht funktioniert; viertens die

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Exterritorialisierung der europäischen Grenzen in Staaten wie die Türkei oder Libyen, die Flüchtlinge bereits vor Betreten des europäischen Raumes » abfangen « und an einer Weiterreise hindern soll. Es gibt derzeit keinerlei Anzeichen dafür, dass eine Form der Grenze zugunsten der anderen dauerhaft verschwindet: Vielmehr zeichnet sich die derzeitige Situation dadurch aus, dass alle gleichzeitig eingesetzt werden. Damit wird klar, dass wir es insgesamt mit einer Dissemination und Diversifizierung von Grenzen zu tun haben, die der Vorstellung von einer Welt ohne Grenzen nachdrücklich den Boden entzieht. Dass sowohl mit fest installierten als auch mit mobilen Grenzen, mit harten und weichen Kontroll- und Überwachungstechnologien agiert wird, zeigt darüber hinaus, dass wir nicht länger von einem Übergang von der festen in die flüssige Moderne oder der Disziplinargesellschaft in die Kontrollgesellschaft ausgehen sollten. Die digital gesteuerten neuen Kontroll- und Überwachungsmechanismen lösen die alten Internierungs- und Einsperrungstechniken nicht einfach ab, die Videokamera tritt nicht an die Stelle der Mauern und Zäune. Statt der Ablösung des einen durch das andere können wir vielmehr zunehmend das parallele Existieren verschiedener Herrschaftsweisen und Machtpraktiken beobachten, die mit unterschiedlichen Grenzsystemen stabilisiert werden sollen. Und gerade dieses Nebeneinander zeigt uns einmal mehr, dass wir uns nicht auf einem linearen Zeitstrahl mühsam nach vorne bewegen, sondern in der » Epoche des Raumes « (Foucault 1990: 34) befinden, die sich durch das vielfältige, widersprüchliche und konfliktuöse Nebeneinander von Lebensweisen, Ordnungsvorstellungen, Machttechnologien und Grenzregimen auszeichnet (vgl. Schroer 2006). Ein Nebeneinander, das Grenzen nicht zum Verschwinden bringt, sondern Grenzziehungen aller Art auf den Plan ruft, die eine raumtheoretisch informierte Soziologie der Grenze systematisch zu untersuchen sich zur Aufgabe machen hätte. Angesichts der neuen Relevanz geopolitischer Fragen, dem anhaltenden Kampf um Territorien und der konflikthaften Aneignung und Besetzung von Räumen scheint mir dies dringend geboten zu sein.

Literatur Agier, Michel (2016): Borderlands. Towards an anthropology of the cosmopolitan condition, übers. von David Fernbach, Cambridge 2016 Albrow, Martin (1998): Abschied vom Nationalstaat. Staat und Gesellschaft im globalen Zeitalter, übers. von Frank Jakubzik, Frankfurt am Main Anders, Günter (1980): Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München Bauman, Zygmunt (2003) Flüchtige Moderne. Frankfurt am Main

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Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt am Main Bredow, Wilfried von (2014): Grenzen. Eine Geschichte des Zusammenlebens vom Limes bis Schengen. Darmstadt. Castells, Manuel (2001): Das Informationszeitalter: Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Band I. Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen Creveld, Martin van (1999): Aufstieg und Untergang des Staates. München Debray, Regis (2016): Lob der Grenzen. Hamburg Deleuze, Gilles (1993): Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders.: Unterhandlungen 1972 – ​1990. Frankfurt am Main Foucault, Michel (1990): Andere Räume, in Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig, S. 34 – ​ 46. French, Hilary F. (2000): Vanishing Borders: Protecting The Planet In The Age Of Globalization. New York Fukuyama, Francis (1992): Ende der Geschichte. Wo stehen wir ? München Habermas, Jürgen (1998): Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frankfurt am Main Ohmae, Kenichi (1990): The Borderless World. Power and strategy in the interlinked economy. New York Razac, Olivier (2003): Politische Geschichte des Stacheldrahts. Prärie, Schützengraben, Lager. Berlin Schroer, Markus (2006) Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums. Frankfurt am Main (2012 in 4. Aufl.). Simmel, Georg (1992): Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt am Main Sloterdijk, Peter (1999): Sphären, Bd. 2: Globen, Frankfurt am Main Thränhardt, Dietrich (2012): Neue Grenzen in der Globalisierung. Warum Staaten wieder Mauern bauen, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft (2012), 4, S.  14 – ​22. Walters, William (2011): Mapping Schengenland, in: Marianne Piper (Hg.): Biopolitik – in der Debatte. Wiesbaden, S. 305 – ​337.

Textnachweise

» Raum als soziologische Kategorie « zuerst publiziert als: » Bringing space back in « – Zur Relevanz des Raums als soziologischer Kategorie, in: Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Spatial turn. Bielefeld: transcript 2008, S. 125 – ​148. » Raum im Poststrukturalismus « zuerst publiziert als: » Raum oder: Das Ordnen der Dinge «, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 141 – ​157. » Space-Studies « (mit Laura Kajetzke), in: Stephan Moebius (Hg.): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung. Bielefeld: transcript 2012, S.  196 – ​215. » Raum aus praxissoziologischer Perspektive « zuerst publiziert als: » Die Praxis des Verräumlichens: Eine soziologische Perspektive « (mit Laura Kajetzke), in: Wille, Christian/Reckinger, Rachel (Hg.): Räume und Identitäten als soziale Praxis. Themenheft der Zeitschrift » Europa Regional « (2014), S. 9 – ​22. » Geosoziologie: Raum als Territorium « zuerst publiziert als: » Geosoziologie im Zeitalter des Anthropozän «, in: Henkel, Anna; Laux, Henning; Anicker, Fabian (Hg.): Raum und Zeit. Sozialtheoretische und gesellschaftstheoretische Perspektiven, Zeitschrift für Theoretische Soziologie, Sonderband, Weinheim: Beltz Juventa 2017, S. 126 – ​152. Dieser Beitrag ist eine erweiterte Version meines unter dem Titel » Erde, Klima, Territorium – Konturen einer Geosoziologie « im Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, 69. Jg., Nr. 796, S. 93 – ​102 erschienenen Aufsatzes, der wiederum auf einen Vortrag zurückgeht, den ich am 23. 01. ​2015 am Hanse-Wissenschaftskolleg Delmenhorst im Rahmen einer Tagung gehalten habe. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Schroer, Räume der Gesellschaft, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21964-2

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» Raum, Zeit und soziale Ordnung «, in: Petra Ernst/Alexandra Strohmaier (Hg.): Raum: Konzepte in den Künsten, Kultur- und Naturwissenschaften. Baden-Baden: Nomos-Verlag 2013, S. 11 – ​24. » Raum und Kultur « zuerst publiziert als: » Raum aus kultursoziologischer Perspektive «, in: Stephan Moebius, Katharina Scherke und Frithjof Nungesser (Hg.): Handbuch Kultursoziologie. Band 2: Theorien – Methoden – Felder. Wiesbaden: Springer VS 2017 (i. E.). » Raum und Wissen «, in: Anina Engelhardt/Laura Kajetzke (Hg.): Handbuch Wissensgesellschaft. Theorien, Themen und Probleme. Bielefeld: transcript 2010, S.  281 – ​291. » Raum, Wohnen und Mobilität « zuerst publiziert als: » Mobilität ohne Grenzen ? Vom Dasein als Nomade und der Zukunft der Sesshaftigkeit «, in: Winfried Gebhardt/Ronald Hitzler (Hg.): Nomaden, Vagabunden, Flaneure. Wissensformen und Denkstile der Gegenwart. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2006, S. 115 – ​125. Eine leicht modifizierte Kurzfassung dieses Beitrags ist unter dem Titel » Nomade und Spießer. Über Mobilität und Seßhaftigkeit « erschienen in: Merkur 59 (2005), H. 11, 1105 – ​1109. » Der Raum der Schule « zuerst publiziert als: » Schulische Mobitektur – Bauen für die Bildung « (mit Laura Kajetzke), in: Jeannette Böhme (Hg.): Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs. Territorialisierungskrise und Gestaltungsperspektiven des schulischen Bildungsraums. Wiesbaden: VS-Verlag 2009, S. 299 – ​314. » Räume der Religion. Zum Wandel sakraler Architektur « zuerst publiziert als: » Raum, Macht, Religion. Über den Wandel sakraler Architektur «, in: Bärbel Beinhauer-Köhler (Hg.): Viele Religionen – ein Raum ? ! Berlin: Frank & Timme, S. 17 – ​ 34. » Räume des Sports. Zur Architektur des Stadions « zuerst publiziert als: » Materielle Formen des Sozialen. Die Architektur der Gesellschaft aus Sicht der sozialen Morphologie am Beispiel von Fußballstadien «, in: Joachim Fischer/Heike Delitz (Hg.): Die Architektur der Gesellschaft. Architektur der Moderne im Blick soziologischer Theorien. Bielefeld: transcript 2009, S. 19 – ​48. » Grenzen – ihre Bedeutung für Stadt und Architektur «, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25/2009, Die Architektur der Gesellschaft (2009), S. 21 – ​27.

Textnachweise 269

» Grenzen – ihre Dissemination und Diversifizierung « ist eine leicht erweiterte Version von: » Grenzverhältnisse. Vom › Umzug ins Offene ‹ zur › Rückkehr ins Geschlossene ‹ ? « In: Soziopolis. online abrufbar unter: http://www.soziopolis.de/beobachten/raum/artikel/grenzverhaeltnisse/

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