Idea Transcript
pop.religion: lebensstil – kultur – theologie
Hans Martin Dober Frank Thomas Brinkmann Hrsg.
Religion.Geist. Musik Theologisch-kulturwissenschaftliche Grenzübergänge
pop.religion: lebensstil – kultur – theologie Reihe herausgegeben von F. T. Brinkmann, Gießen, Deutschland A. Engelschalk, Aßlar, Deutschland G. Fermor, Bonn, Deutschland H.-M. Gutmann, Hamburg, Deutschland I. Kirsner, Ludwigsburg, Deutschland I. Nord, Würzburg, Deutschland H. Schroeter-Wittke, Paderborn, Deutschland
Die Reihe pop.religion stellt eine Plattform für popkulturtheoretische und poptheologische Diskurse dar. Sie verfolgt das Ziel, gegenwärtige Debatten zu POP und Popkultur aus theologischer sowie religions- und kulturwissenschaftlicher Forschungsperspektive zu bereichern und bietet entsprechenden Einzelstudien, Tagungsbänden, Festschriften, Aufsatzsammlungen und Literaturberichten ein angemessenes Forum.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13867
Hans Martin Dober Frank Thomas Brinkmann (Hrsg.)
Religion.Geist.Musik Theologisch-kulturwissenschaftliche Grenzübergänge
Hrsg. Hans Martin Dober Tuttlingen, Deutschland
Frank Thomas Brinkmann Universität Gießen Gießen, Deutschland
ISSN 2569-8818 (electronic) ISSN 2569-880X pop.religion: lebensstil – kultur – theologie ISBN 978-3-658-22254-3 ISBN 978-3-658-22255-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
„Alle unsere Hoffnungen strecken sich vielmehr sehnsuchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus, dass unter diesem unruhig auf und nieder zuckenden Kulturleben und Bildungskrampfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft verborgen liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zukünftigen Erwachen entgegenträumt. Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation hervorgewachsen: in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik zuerst erklang. So tief, mutig und seelenvoll, so überschwenglich gut und zart tönt dieser Choral Luthers, als der erste dionysische Lockruf, der aus dicht-verwachsenem Gebüsch, im Nahen des Frühlings, hervordringt.“ Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
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Vorwort
Die Deutschen lieben Rheinwein. Er wird in schlanke Flaschen gefüllt und für ein gutes Getränk gehalten. Von Essig unterscheidet er sich durch das Etikett, so bemerkte es schon vor Zeiten Mark Twain bei seinem Bummel durch Europa (1879) – und belieferte mit diesem detailversessenen Bonmot, wenngleich indirekt, die Anschauung, dass das Bedürfnis nach Etikettierung und Sortierung kein wirklich randständiges, womöglich territorial oder mentalitätsbezogen umgrenztes Phänomen darstellt. Diese Neigung nämlich korrespondiert, das wissen wir längst, einem Grundanliegen des Kulturwesens Mensch, gleichwohl sie bisweilen auch umzuschlagen vermag – was sich etwa dann anschaulich macht, wenn neue geschmackliche und intellektuelle Urteilskräfte derart behände am Rad der Deutungskulturgeschichte drehen, dass Um- oder Neuetikettierungen nötig sind: So auch im Blick auf das weite Feld der Musik, das man über Jahrzehnte mit Hilfe einfacher alternativlogischer Operationen glaubte vermessen zu können: Die zwar kaum noch akzeptierten, wohl aber lange in Geltung befindlichen und nachhaltig wirkmächtigen Unterscheidungen von sakraler und profaner Musik, die Gegenüberstellungen von wertvoll-ernster, geistreicher Musik auf der einen, minderwertig-heiterer, niveaulos-trivialer Musik auf der anderen sind bekannt, wohl auch jene bis in die gegenwärtigen Deutungs- und Wissenschaftskulturen ragenden Graduierungen, die auf eine garstige Grabenziehung zwischen U- und E-Musik bzw. auf deren extrem triviale Kurzfassung Pop oder Klassik hinauslaufen. Dass solcherlei Klassifizierungen, v.a. jedoch die zugrundeliegenden Strategien von „Übertreibung und Verfemung“ längst nicht mehr statthaft sind, dass es zudem neue „terminologische, definitorische Ansätze“ braucht, haben u.a. Jörn Ahrens und Thomas Hecken in Pop goes my heart. Religions- und popkulturelle Gespräche im 21. Jahrhundert, dem ersten Band der vorliegenden Reihe pop. religion: lebensstil-kultur-theologie, eindrucksvoll gezeigt – und damit auch unverkennbare Wegmarker für anstehende Diskurse platziert: Hier funktioniert der VII
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Vorwort
Terminus Popkultur eben weder als Bezeichnung eines plebiszitären Sektors noch als dezente Umschreibung jener Angebote, die dieser Sektor hervorbringt oder die für ihn produziert werden (Stichwort Massenkultur); auch ist er nicht mehr als Kontrastbegriff für ein Gesellschaftssegment tauglich, das sich als Hochkultur bestimmen bzw. als elitär, exklusiv, ambitioniert oder niveauvoll apostrophieren lässt. Vielmehr hingegen, und das ist neu, wird der Versuch unternommen, POP nicht als Kürzel, sondern als Signatur jener unglaublich vieldimensionalen, vielschichtigen Gegenwartskultur in Anspruch zu nehmen, die sich eben kaum noch über Milieumodelle ausdifferenzieren, geschweige denn über einfache Etikettierungen nuancieren oder profilieren lässt. Inwieweit sich nun diese Gegenwartskultur – im Ganzen oder in Teilen – einer religionstheoretischen Einholung oder einer religionswissenschaftlichen Erschließung, sodann auch einer theologischen Einschätzung verfügbar macht, bleibt aktuellen und zukünftigen Gesprächen zu klären aufgegeben. Eine solche Gesprächsrunde will der vorliegende Band dokumentieren. Mit ihm erweitert sich der aktuelle POP-Diskurs tatsächlich auf Musik, und zwar unter genau der Leitvorstellung, dass sie sich nicht eindimensional ausdifferenzieren – und ebenso wenig eindimensionalen Gesellschaftssphären zuordnen lässt. Der sozialen Realität folgend wird Musik endlich weitgefasst wahrgenommen als ein geschichtsträchtiges und alltagsrelevantes Kulturphänomen, dessen Facetten man sich nur im diskursiven Austausch verschiedener Zugänge bewusst zu machen vermag. Wo – im Dialog mannigfacher Stimmen verschiedenster Provenienz – Begriffe und Konzepte von Tonkunst und Klangdichtung, Harmonie und Melodie, Rhythmus und Metrik, Schall und Stimme, Eindruck und Ausdruck, Komposition und Produktion, Genuss und Gestaltung, Gefühl und Logik sowie Leib und Seele zur Sprache gebracht werden, kann sich ein Gespräch ergeben, das – sensibel geführt und intellektuell reflektiert – wichtigen Tatbeständen der POP-Kultur Rechnung trägt: Zum Beispiel, dass Wagners Bühnenfestspiele massenkompatibel geworden sind, Mozart von Falco als eine szenetaugliche Kultfigur reinstalliert wurde, Bach durch Yngwie J. Malmsteen zu publikumswirksamen Barock’n’Roll-Ehren gekommen ist und die Jazztrompete längst nicht mehr der Intelligenzia, sondern auch trendigen Hipstern gehört. Auch der Geist der Musik weht also, wo er will – und hinkommt. Insofern ist es sinnvoll, in der Forschungsgeschichte zu Musik und Religion ein neues Kapitel aufzuschlagen, womöglich auch, sich dem angedeuteten Programmwechsel der Popkulturforschung anzuschließen. Hans Martin Dober hat den Versuch gewagt und zu einer Tagung eingeladen, die zunächst den klassischen Arbeitstitel „Religion und Musik“ trug, sodann aber, den Umständen des Reformationsjubiläums 2017 (Stichwort Lutherjahr) Rechnung tragend, die Überschrift „Luther und die
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Folgen“ auf sich genommen hat. Nun, vor dem Horizont der Veröffentlichungsreihe und folgerichtig sinnvoll angerichtet auf deren Diskursplateau, hat die vorliegende Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen wahrlich ihren endgültigen Titel verdient: Religion.Geist.Musik : Theologisch-kulturwissenschaftliche Grenzübergänge. Das Team der Reihenherausgebenden freut sich außerordentlich, dieser Sammlung eine Heimat geben zu können. Gemeinsam mit den Herausgebern des Bandes dankt sie dem Verlag Springer VS, insbesondere der Cheflektorin Dr. Cori Mackrodt und der Projektmanagerin Kerstin Hoffmann, für die wohlwollende, freundliche und professionelle Begleitung der Entstehung. Marie-Christin Reinhardt M. A., die sich den Aufgaben von Korrektur, Redaktion und Formatierung nicht nur so mustergültig gestellt, sondern sie auch mit Akkuratesse und Esprit bewältigt hat, gilt höchstes Lob und Anerkennung. Wir sind sehr glücklich darüber, dass sich so viele Autoren mit ihren großartigen Texten und Referaten an der Tagung und diesem Tagungsband beteiligt haben. Ihre unterschiedlichen Positionen, ihre unterschiedlichen Zugriffsarten, ihre unterschiedlichen Darbietungsweisen – der Vortragsstil einiger Beitragenden ist unverkennbar, infolgedessen auch bewusst beibehalten worden – machen angenehm deutlich, wie lebhaft das Ringen um Musik und Religion von Statten gehen kann. Vergelt’s Gott, vergelt’s Frau Musika! Tübingen / Gießen, im Sommer 2018
Einleitung Hans Martin Dober
Der vorliegende Band versammelt die auf der Tagung „Luther und die Folgen: Das Verhältnis von Religion und Musik“ vom 17.–20.9.2017 in Tübingen vorgetragenen Beiträge.1 Wie ein Lichtstrahl in seine Farbenvielfalt gebrochen wird, wenn er durch ein Prisma scheint, verweist die Leitfrage, welche Bedeutung Luthers Auffassung von Musik für deren neuzeitliche Entwicklung gehabt hat, auf ein buntes Spektrum möglicher Antworten. Diese Entwicklungen lassen sich zwar nicht unmittelbar aus den Äußerungen ableiten, die der Reformator gelegentlich zur Musik hat verlauten lassen. Wenn man sie auf das Verhältnis von Religion und Musik bezieht, geben sich aber vielfältige Transformationsprozesse zu erkennen, in denen Analogien zu Luthers Musikauffassung sichtbar werden. Diese geht wie selbstverständlich von anthropologischen Gegebenheiten aus, wenn denn gilt, dass alle Musik ursprünglich Gesang sei: „entweder Gesang, der sich aus Sprache als ihre Überhöhung und als eine Art erregtes Reden entwickelte, oder Gesang, der der Sprache vorausging oder mit ihr einen gemeinsamen Ursprung hatte“.2 In dieser anthropologischen Perspektive tritt auch in den Blick, dass Musik „für alle denkbaren Zwecke“ dienlich ist,3 für Gottesdienste ebenso wie für Tanzveranstaltungen. Es gibt Wiegenlieder, Choräle, Nationalhymnen und Marschmusik – jeweils ist die Funktion eine andere. Doch wie unterschiedlich sich 1 2 3
Nachträglich sind die Texte von Johannes Picht, Konrad Klek und Bernhard Leube in die Sammlung aufgenommen worden. „‚All music is originally vocal‘ […], meinte der englische Soziologe Herbert Spencer“ (Kaube 2017, S. 147). Kaube 2017, S. 153. XI
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Rhythmus, Harmonien und Melodik auch gestalten – in all diesen Fällen handelt es sich um Musik. Sie war für Luther als Musik wichtig, und deshalb konnte er in seiner Kirchenlieddichtung auch unproblematisch Anleihen bei „weltlicher“ Musik machen.4 Auf den Eigenwert der Musik neben dem Wort konnte dann ihre spätere Emanzipation von kirchlichen Vorgaben, wie auch die mit diesen Vorgängen einhergehende Ausdifferenzierung in unterschiedliche funktionale Gebrauchsweisen zurückkommen. Mit Blick auf diese Prozesse vermochte dann auch die Analogie zu Luthers Musikauffassung ins Bewusstsein zu treten, der zufolge die Musik als solche ernst zu nehmen ist, bevor ihre Nutzbarkeit für religiöse Zwecke thematisch werden kann.5 In Entsprechung zu diesen elementaren Einsichten beschränken sich die in diesem Band versammelten Beiträge nicht auf die Musik, die binnenkirchlich im Namen Luthers gespielt worden ist. Sie nehmen auch die Musik in den Blick, die seit der Romantik sich zunehmend von dogmatischen Vorgaben emanzipierte und dann auch von der Kirche in den Konzertsaal auswanderte (was exemplarisch an Ludwig van Beethovens Missa Solemnis gesehen werden kann), um sich schließlich auch noch von den traditionellen Tonarten abzulösen und neue Formen zu entwickeln (wie etwa Arnold Schönberg die 12-Ton-Musik).6 Die seit 1800 sich vollziehenden Umwandlungen und Neuschöpfungen wären aber fehlinterpretiert, wenn man sie im Sinne eines Abschieds von der Religion überhaupt verstehen wollte. Um es mit einem Ausdruck Karl Barths zu sagen, der ihn mit Blick auf die Religion gebrauchte, ist der Musik als einer „Menschenmöglichkeit“ eine religiöse Dimension eigen geblieben, auch wenn diese nicht mehr der Kontrolle durch kirchliche Instanzen unterlag.7 Anders gesagt: die Musik als Medium religiöser Erfahrung hat sich auch über den dogmatisch oder durch die überlieferten Tonarten gegebenen Rahmen hinaus bewährt. So wird man vielen Werken der musikalischen Moderne nicht absprechen können, einen religiösen Ausdruck zu haben, ja ein Medium des Erlebnisses und der Erfahrung von Religion zu sein, auch wenn – wie das etwa an Schönbergs Oper Moses und Aron zu sehen ist – weder die Form dieser Musik noch der Inhalt des auf der Bühne darge4 5 6 7
Nachweisbar ist das allerdings nur mit Blick auf den Choral Vom Himmel hoch da komm ich her. Vgl. dazu den Beitrag von K. Klek in diesem Band. Vgl. dazu die Beiträge von H. M. Dober und D. Schnebel in diesem Band. Auf die konkreten Herausforderungen der kirchenmusikalischen Praxis der Gegenwart geht der Beitrag von Bernhard Leube ein. Vgl. Lauster ³2015, S. 572–579. Barth 1978, S. 254.
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stellten Dramas den in der Kulturgeschichte des Christentums geprägten Mustern folgt. Man kann zwar von sich selbst sagen, man sei „religiös […] ‚unmusikalisch‘“8 und es gibt im zeitgenössischen „musikalischen Pluralismus“9 durchaus nichtreligiöse Performances. Die Musik als eine Möglichkeit des Menschen kann, aber sie muss nicht dem religiösen Ausdruck dienen. Doch die gegenseitige Disposition von Musik und Religion für Funktionalisierungen und strukturelle Analogien legt es nahe,10 sowohl „Berührungspunkte als auch Differenzen und Störungsbereiche“ in den Fokus weiterer Forschungen zu rücken.11 Diese erfordern die Kompetenzen unterschiedlicher Fächer und Disziplinen, die in den hier einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemachten Beiträgen zu Wort kommen – es sind die der Philosophie, der Systematischen und Praktischen Theologie, sowie der Musikwissenschaft. Denn der in Frage stehende komplexe Zusammenhang von Religion und Musik wird sich nicht zureichend erschließen, wenn man sich methodisch auf die Unterscheidung von Kirchenmusik und Musik außerhalb der Kirche, religiöser und säkularer Musik beschränkt. Die hier versammelten Beiträge lassen sich in größtmöglicher Offenheit und Freiheit auf die Musik ein, die innerhalb und außerhalb der Kirche gespielt wird. Klassische europäische Kunstmusik tritt hier ebenso in den Fokus der Aufmerksamkeit wie neuere populäre Musik mit einem Schwerpunkt auf dem Jazz.12 Als ein Phänomen der Kultur stand Musik immer schon in Wechselwirkung mit der Religion.13 Und als ein Phänomen der Kultur war – und ist – an der Musik so etwas wie eine symbolische Ordnung der jeweiligen Epoche einerseits, ihres sozialen Trägers andererseits zu erkennen. Während man (mit Hegel) von der Philosophie sagen kann, sie sei ihre Zeit in Gedanken erfasst, wird man in der Musik die 8
So lautet ein viel zitiertes Diktum Max Webers aus einem Brief an Ferdinand Tönnies vom 9.2.1909. 9 Dalferth und Berg 2011, S. 48–51. 10 Vgl. dazu Dalferth und Berg 2011, S. 53. 11 Dalferth und Berg 2011, S. 51. 12 Vgl. dazu die Beiträge von H.-M. Gutmann und U. Steinmetz in diesem Band. 13 Auf eine grundlegende Reflexion dieses Fragenkomplexes auf den Spuren Schleiermachers lässt sich der Beitrag von D. Korsch in diesem Band ein. Für eine religions- und kirchengeschichtliche Perspektivierung der Fragestellung vgl. den Beitrag von Th. Schipperges in diesem Band, sowie die von A. Riethmüller („Antike Mythen vom Ursprung der Musik“) und H. Möller („Die Musik als Abbild göttlicher Ordnungen. Mittelalterliche Wirklichkeit – Wahrnehmungsweisen – Deutungsschemata“) in: Motte-Haber 1995, S. 11–60.
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Spiegelung der Tendenzen, Tiefendimensionen, prägenden Gedanken und Ideen ihrer Zeit erkennen können.14 Das geschieht im vorliegenden Band anhand ausgewählter Komponisten und Werke – bis in die Gegenwart.15 Wohin auch immer man heute blickt: Der so unüberschau- wie unüberhörbare Pluralismus scheint das unzweifelhafte Kennzeichen unserer Zeit zu sein. Doch in der Vielfalt der Stile und Gattungen lässt sich ein Bezug zur Religion erkennen, sei es ihrem formalen Begriff entsprechend in institutionell oder konfessionell kaum festgelegter Gestalt, sei es in deutlichem Bezug zu den positiven Religionsgestalten und ihren sozialen Trägern, die immer wieder miteinander im Austausch standen.16 Auch konfessionell konnotierte Werke zeigen sich in einer Schwebe von Deutungsmustern, die die Freiheit der Wahl fortschreibt, welche etwa Komponisten wie Gustav Mahler und Schönberg in ihren Konversionen vom Judentum zum katholischen bzw. evangelischen Christentum (und bei Schönberg auch zurück) für sich in Anspruch genommen haben.17 Die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Musik betrifft die Tragweite und Grenze konfessioneller Prägekraft der christlichen Religion, bzw. die einer Religion im Verhältnis zu einer anderen, und geht darüber hinaus.18 Das romantische Konzept der „Kunstreligion“ (Wilhelm Heinrich Wackenroder, Ernst Theodor Amadeus Hoffmann) kann als eine Drehscheibe für ein tieferes Verständnis des (Wechsel-)Verhältnisses von Religion und Musik bis in die Gegenwart aufgefasst werden. Im Anschluss an und in Weiterführung der „klassizistischen Autonomieästhetik“ (bei Karl Philipp Moritz, Johann Gottfried Herder, Friedrich Schiller)19 ist hier der Begriff einer autonomen Musik entwickelt wor14 Das ist exemplarisch und symbolisch an den Jahreszahlen 1555, 1789, 1918 und 2010 gezeigt worden (Dalferth und Berg 2011, S. 57ff., 97ff., 145ff., 189ff). Unabhängig davon haben Siegfried Oechsle und Bernd Sponheuer mit den Jahrenzahlen 1800 – 1900 – 2000 die einschlägigen Zäsuren gesetzt (2015). 15 So geht der Beitrag von J. Picht auf die Krise des Subjekts ein, die im Spätwerk Beethovens – nachfolgende Entwicklungen vorwegnehmend – eine musikalische Gestalt gewonnen hat. 16 Vgl. dazu mit Blick auf Mendelssohn, Schubert, Liszt und Bruckner den Beitrag von P. Planyavsky in diesem Band. 17 Vgl. dazu: Schweighofer 2015, S. 184–189, 292–299, 339–343 [zu Schönberg], 91, 196, 208 u.ö. [zu Mahler]. 18 Vgl. dazu auf dem hohen Niveau der Reflexion in F. Rosenzweigs Der Stern der Erlösung den Beitrag von L. Bertolino in diesem Band. Ohne dass die scharfe Polemik R. Wagners gegen die konfessionell und religiös gebundene Musik, vor allem gegen die mit jüdischen Wurzeln, hier explizit würde, liegt mit Rosenzweigs Verhältnisbestimmung von Musik und Religion ein profiliertes Gegenprogramm vor. 19 Oechsle 2015, S. 14.
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den, die „‚Transzendenzangebote‘ aus systemeigener Produktion“ hervorbrachte.20 Die „Ablösung der abendländischen Kunstmusik vom religiösen Kultus, aus dem sie stammte“, 21 erforderte eine „soziale Neuverortung“22 und fand sie im Konzertsaal des 19. Jahrhunderts – um hier von späteren Entwicklungen abzusehen, die aufgrund neuer technischer Möglichkeiten im Verlauf einer „Ästhetisierung des Alltags“ zu einer Omnipräsenz von alten, neuen und gemischten Musikformen und -stilen in den unterschiedlichsten Lebenswelten führte.23 Nicht nur, aber auch auf das (Religion und Musik heute gleichermaßen treffende) Charakteristikum des Pluralismus sind die in den letzten Jahren erschienenen Untersuchungen zum musikalischen Kunstwerk als symbolischer Darstellung der geistigen Situation seiner Zeit bezogen, um hier auf unterschiedliche Weise Orientierung zu gewinnen. So haben Ingolf U. Dalferth und Stefan Berg die „Idee einer orientierungstheoretisch fundierten musikalischen Hermeneutik“ entwickelt und sie an ausgewählten Beispielen verifizierender Prüfung unterzogen.24 In einer begrenzteren Fragerichtung hat Daniel M. Feige in kritischem Anschluss an Theodor W. Adornos musikalische Schriften den Jazz in eine differenzierte Beziehung zur „europäischen Kulturmusik“ gebracht, indem er den Begriff der Komposition dem des standard, den Begriff des Werkes dem der Improvisation, und den der Tradition dem der Individualität des einzelnen Musikers gegenüberstellt.25 Mit einem weitest gehenden Fundierungsanspruch hat schließlich Gunnar Hindrichs einen „Vorschlag zur Ontologie der Musik“ vorgelegt, 26 der das musikalische Kunstwerk auch unter den Bedingungen seines gesellschaftlich pluralen Auftretens hinsichtlich seiner Wesensmerkmale zu bestimmen sucht. Dieser Vorschlag wird schlüssig mit Blick auf das „musikalische Material“, den „musikalischen Klang“, die „musikalische Zeit“ und den „Raum“, den „musikalischen Sinn“ und seine „Gedanken“ entfaltet, wobei letztere im „Horizont des göttlichen Namens“27 nähere Bestimmung erfahren. 20 Oechsle 2015, S. 22. Vgl. dazu den Beitrag von Th. Erne in diesem Band, der es auf eine dialektische Weise mit den antithetischen Verhältnisbestimmungen Schleiermachers und Barths zur religiösen Dimension in autonomen musikalischen Werken aufnimmt. 21 Oechsle 2015, S. 19. 22 Oechsle 2015, S. 21. 23 Vgl. dazu etwa Bubner 1973; Marquardt 2003, S. 194–204. 24 Dalferth und Berg 2011, S. 18. 25 Feige 2014. 26 Hindrichs 2014, S. 7. 27 Hindrichs 2014, S. 256.
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Damit ist die Frage nach dem Verhältnis von Musik und Religion (emanzipiert gewissermaßen vom romantischen Konzept einer „Kunstreligion“) in einer Tiefendimension gestellt, die weitere Bearbeitung in multiperspektivischen Zugängen erlaubt. Diese Herausforderung haben die in diesem Band versammelten Beiträge auf sich genommen. Doch die auf das Wesen gehende Fragerichtung muss sich an den vergangenen und gegenwärtigen Erscheinungen von Musik verifizieren lassen (und zwar weder nur an der klassischen europäischen Musik noch nur an der Kirchenmusik). Die Kehrseite des heutigen Pluralismus, wie er sich seit längerem schon angebahnt hatte, ist aber eine unverwechselbare Individualität.28 Und als deren Kennzeichen lässt sich seit der frühen Heraufkunft moderngesellschaftlicher Verhältnisse eine „musikalisch-expressive Subjektivität“ namhaft machen, 29 die Jürgen Stolzenberg anhand ausgewählter Kompositionen von Carl Philipp Emanuel Bach bis Schönberg in unterschiedlichen Formen nachgewiesen hat. Der hier sichtbare „Strukturwandel der Innerlichkeit“30 lässt sich – wie die Vielfalt auch – gesteigert noch am Jazz als einem exemplarischen Experimentierfeld der Musik bis zu den Grenzen von Geräusch und Ton, Stille und Klang, sowie im Spannungsfeld von „Formlosigkeit und Formzerstörung“,31 Unbestimmtheit und Bestimmbarkeit, Sagbarkeit und Unaussprechlichem zeigen. „Zum Feld der musikalischen Rhetorik […] gehört auch das Ungesagte, jedenfalls nicht direkt Gesagte.“32 Auch in diesen (und anderen) Spannungsverhältnissen kann die Musik Trägerin eines religiösen Ausdrucks, ja vielleicht auch religiöser Gehalte sein, wenngleich sie nicht explizit von Religion handelt. Diese Fragestellung wird in einem Teil der Beiträge aber wieder zurückbezogen auf das immanente Spannungsfeld der biblischen Religion, in dem der unaussprechliche, und dennoch im Gebet angerufene göttliche Name zentrale Bedeutung
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Dalferth und Berg 2011, S. 97ff. Stolzenberg 2011, S. 21. Stolzenberg 2011, S. 92. Erne 2011, S. 137. Heister 2013, S. 45. „Musik […] vermag Unaussprechliches auszusprechen“ (Dalferth 2011, S. 100).
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hat.33 Kann seine an Schönbergs Moses und Aron zu verifizierte „Klanggestalt“34 korrigierend auf das Problem neuzeitlicher Subjektivität eingehen, wie es an ausgewählten Werken der musikalischen Moderne zu erkennen ist?35 Und kann diese Klanggestalt ihrerseits die humanen Ausdrucksformen wie Sehnsucht und Klage, Freude (bzw. der beschwingten Heiterkeit) und Dank in der Musik tragen? Der elementare Ausdruck der Sehnsucht lässt sich an den Psalmen als einer frühen, Juden und Christen gemeinsamen Form, verifizieren.36 Doch dies ist nicht die einzige historische Signatur der genannten Ausdrucksformen, kann man doch etwa auch die „schmerzlich beredte“37 Musik Mahlers in der (dialogischen) Interpretation von Uri Caine daraufhin befragen,38 wie der Ausdruck der Klage überhaupt (auch sie ist früh schon hörbar geworden in den Psalmen), als ein modernes – ja postmodernes – Existential verstanden werden kann, und die Melodie als Gebet – so ein Moment der Interpretation Beethovens durch Hermann Cohen39 – im Jazz wiederzuentdecken ist.40 Die Veröffentlichung der Beiträge der Tübinger Tagung muss naturgemäß von der schriftlichen Form ausgehen. Da aber einer Einsicht Adornos zufolge „Musik interpretieren“ heißt, „Musik [zu] machen“ und zu hören,41 wozu an Ort und Stelle 33 Auf dieses Differenzverhältnis lässt sich der Beitrag von J. Stolzenberg in diesem Band am Beispiel der Jubilatio ein, in der Augustin zufolge „das Herz sich freut ohne Worte“ – ein Motiv, das in der Zeit des Pietismus und der Aufklärung zu neuer Blüte gelangt, um im romantischen Begriff des absoluten Kunstwerks aufgenommen und in der Willensmetaphysik Schopenhauers in Begriffe gefasst zu werden. Die Gegenwart scheint der Evidenz einer Metaphysik der Musik allerdings verlustig gegangen zu sein. 34 Fischer-Appelt 2003, S. 375. 35 Vgl. dazu die Beiträge von P. Fischer-Appelt und J. Picht in diesem Band. 36 Vgl. Bader 2011; Cohen 21929, S. 174, 247f., 435. Vgl. die Beiträge von K. Klek und A. Poma in diesem Band. 37 Adorno 2003, S. 243. 38 Vgl. dazu den Beitrag von F. Th. Brinkmann in diesem Band. 39 Cohen 2005, S. 162., 188f. Vom Vergleich der Musik mit dem Gebet handelt auch schon W.H. Wackenroder (zit. b. Oechsle 2015, S. 24). Vgl. Adornos Rede von der Musik als „entmythologisiertem Gebet, befreit von der Magie des Einwirkens“ (2003b, S. 252). 40 Vgl. etwa „The Prayer“ von Michel Petrucciani oder „Dear Lord“ von John Coltrane. [Vgl. auch Ausgewählte Jazz-Standards und ihre Texte, sowie die Beiträge von U. Steinmetz und H.-M. Gutmann in diesem Band] 41 Adorno 2003b, S. 253. Denn „nur in der mimetischen Praxis […] erschließt sich Musik; niemals in einer Betrachtung, die sie unabhängig von ihrem Vollzug deutet.“ (ebd.)
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gute Gelegenheit war, werden immer wieder Hinweise auf Hörbeispiele gegeben, die ohne Schwierigkeit im Netz oder auf Tonträgern zu finden sind.
Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W. 2003. Musikalische Schriften V (= Gesammelte Schriften Bd. 18). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 2003b. Fragment über Musik und Sprache. In Musikalische Schriften I–III (= Gesammelte Schriften Bd. 16), ders., 251–256. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bader, Günter. 2011. Psalmen Davids bei Luther und Schütz. In Gestalteter Klang – gestalteter Sinn: Orientierungsstrategien in Musik und Religion im Wandel der Zeit, hrsg. Ingolf U. Dalferth und Stefan Berg, 75–93. Leipzig: EVA. Barth, Karl. 1978. Der Römerbrief (12. Unveränderter Abdruck der neuen Bearbeitung von 1922). Zürich: Theologischer Verlag. Bubner, Rüdiger. 1973. Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik. Neue Hefte für Philosophie 5: 38–73. Cohen, Hermann. 21929. Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums (nach dem Manuskript des Verfassers neu durchgearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Bruno Strauß [Nachdruck 1978. Wiesbaden: Fourier]). Frankfurt a.M.: Kaufmann. Cohen, Hermann. 2005. Ästhetik des reinen Gefühls, Bd. 2 (Werke Bd. 9). Hildesheim et al.: Olms. Dalferth, Ingolf U. 2011. Orientierung 1789: Vielfalt und Form. In Gestalteter Klang – gestalteter Sinn: Orientierungsstrategien in Musik und Religion im Wandel der Zeit, hrsg. Ingolf U. Dalferth und Stefan Berg, 97–103. Leipzig: EVA. Dalferth, Ingolf U. und Stefan Berg (Hrsg). 2011. Gestalteter Klang – gestalteter Sinn: Orientierungsstrategien in Musik und Religion im Wandel der Zeit. Leipzig: EVA. Erne, Thomas. 2011. Sinnspiele. Zur Dynamik religiöser Orientierung. In Gestalteter Klang – gestalteter Sinn: Orientierungsstrategien in Musik und Religion im Wandel der Zeit, hrsg. Ingolf U. Dalferth und Stefan Berg, 131–142. Leipzig: EVA. Feige, Daniel M. 2014. Philosophie des Jazz. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fischer-Appelt, Peter. 2003. Die „göttlichen Stimmen“ in Schönbergs Oper „Moses und Aron“ (Vortrag auf dem Symposion „Arnold Schönberg und sein Gott“ am 29. Juni 2002 in Wien). Journal of the Arnold Schönberg Center 5: 373–385. Hindrichs, Gunnar. 2014. Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik. Berlin: Suhrkamp. Heister, Hanns-Werner. 2013. Zur Codierung und Decodierung von Bedeutungen im Musikprozess. In Musik und Psychoanalyse hören voneinander, Bd. 1, hrsg. Johannes Picht, 37–67. Gießen: Psychosozial-Verlag. Kaube, Jürgen. 2017. Die Anfänge von allem. Berlin: Rowohlt. Lauster, Jörg. ³2015 [2014]. Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums. München: C.H. Beck. Marquardt, Odo. 2003. Moratorium des Alltags. Eine kleine Philosophie des Festes. In Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays, hrsg. ders., 194–204. Stuttgart: Reclam. Motte-Haber, Helga de la (Hrsg). 1995. Musik und Religion. Laaber: Laaber-Verlag.
Literaturverzeichnis
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Oechsle, Siegfried. 2015. KunstMusikReligion. Aspekte einer folgenreichen romantischen Matrix. In Kunstreligion und Musik 1800–1900–2000 (Kieler Schriften zur Musikwissenschaft Bd. 53), hrsg. Siegfried Oechsle und Bernd Sponheuer, 9–24. Kassel et al.: Bärenreiter. Schweighofer, Astrid. 2015. Religiöse Sucher in der Moderne. Konversionen vom Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900 (Arbeiten zur Kirchengeschichte Bd. 126). Berlin et al.: de Gruyter. Stolzenberg, Jürgen. 2011. „Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben“: Formen expressiver Subjektivität in der Musik der Moderne. München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI Hans Martin Dober 1
Resonanzen zwischen Theologie und Philosophie
„Nach der Theologie [gibt es] keine Kunst […], die der Musik zu vergleichen ist“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Luther und die Folgen für die Musik Hans Martin Dober Die Religion in der Musik und die Musik in der Religion . . . . . . . . . . . . . . 25 Dietrich Korsch Philosophie als „größte Musik“ und Musik als höchste Philosophie? . . . . 41 Zu Tragweite und Grenze einer Analogie Jürgen Stolzenberg Religion und Musik bei Franz Rosenzweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Luca Bertolino
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Sprache und Musik: ein offenes Wechselverhältnis
Luther-Lied und Luther-Melodie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Konrad Klek Musik und Rhetorik – oder: wie Musik predigt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Anhand ausgewählter Choralbearbeitungen Johann Sebastian Bachs aus dem ‚Orgelbüchlein‘ Ingo Bredenbach Sagbar – unsagbar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Gedanken zum Wesen der Musik Dieter Schnebel Sinn und Sound – ein Machtkampf? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Wort und Ton im Spannungsfeld kirchenmusikalischer Praxis Bernhard Leube 3 Von der Kirche in den Konzertsaal. Religiöse Gehalte in der Instrumentalmusik Musikinstrumente und christliche Religionspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Annotationen zu einer komplex entspannten Beziehung Thomas Schipperges Prometheus und Dionysos. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Negation des Subjekts in Beethovens Spätwerk Johannes Picht Mendelssohn, Schubert, Liszt, Bruckner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Ihre Frömmigkeit, ihre Kirchenmusik Peter Planyavsky Autonome Musik und religiöser Sinn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Thomas Erne
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Vom Konzertsaal in den Jazzkeller und zurück in die Kirche
Luthers Erben und das Unbehagen vor der spielerischen Dissonanz der Freiheit des Jazz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Uwe Steinmetz Melodie als Gebet. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Hans-Martin Gutmann Ausgewählte Jazz-Standards und ihre Texte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Django Hödl 5 Jüdische Stimmen: musikalische Tradition und geschichtliche Erfahrung „moving in and out of different feelings“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Die Mahler-Einspielungen des Uri Caine zwischen Transformation, Dekonstruktion und emotionalem Statement Frank Thomas Brinkmann Sehnsucht und Musik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Andrea Poma Die Klagegestalt des göttlichen Namens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Die Aufhebung der Epoche aus dem verlorenen Gedanken der Einzigkeit Gottes. Arnold Schönbergs Weg von Mattsee nach Amerika mit der Oper Moses und Aron Peter Fischer-Appelt Die Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Resonanzen zwischen Theologie und Philosophie
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„Nach der Theologie [gibt es] keine Kunst […], die der Musik zu vergleichen ist“. Luther und die Folgen für die Musik Hans Martin Dober
„Die Musik hat oft getröstet und wird oft trösten, wenn es sein muss.“ Paul Klee1 „Musik [bedingt] die Harmonie in unserer Seele, um die Harmonie der himmlischen Sphären widerhallen zu lassen.“ William Shakespeare2
Im vergangenen Gedenkjahr der Reformation ist manches über die „Folgen“ Luthers zu lesen gewesen. Man dürfe die Reformation nicht „zu einer Art Urknall der Moderne“ stilisieren, hieß es etwa in der F.A.Z. vom 17. März 2017. Auch war am 15. Februar davor gewarnt worden, den „Reformator für Entwicklungen der Musik in Dienst […] [zu nehmen], die er nicht befördert hat“.3 Derartigen Übertreibungen will die Frage nach Folgen Luthers nicht den Weg bereiten. Doch sie ist auch nicht auf die Musik zu beschränken, die in seinem Namen gespielt wurde und wird. Offensichtlich stand die Musikauffassung des Reformators seiner Liederdichtung Pate, durch die er weit über Wittenberg hinaus bekannt – und zur Leitfigur – wurde.4 Musik im Namen Luthers findet sich in Choralbearbeitungen und anderen Kompositionen bei Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach und Felix Mendels1 2 3 4
Klee 1979, S. 135 [Eintrag vom Juli 1902]. Das entspricht der anthropologischen Einsicht, „der Anfang der Musik […] [liege] im Trost“ (Kaube 2017, S. 154). D.i. Lorenzo im Kaufmann von Venedig in den Mund gelegt, als spiegele sich hier Lutherisches (zit. nach Nirenberg ²2017, S. 302). Brachmann, Jan. 2017. Im Himmel wird ja auch musiziert. F.A.Z., 15. Februar. Der lutherische Gemeindegesang hat sich allerdings erst nach und nach etabliert. So Küster 2016. Vgl. weiter Klek 2017.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_1
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sohn Bartholdy, um hier nur diese drei großen Namen zu nennen. Möglich war auch diese Wirkung auf die Frömmigkeit schon über das Gefühl der Religion, ohne dass dieser Terminus bereits im Schwange gewesen wäre wie dann etwa bei Friedrich Schleiermacher. In der stilistischen Vielfalt der Musik, die im Zuge moderngesellschaftlicher Entwicklungen – bis heute – innerhalb und außerhalb der Kirche gespielt wird, lassen sich darüber hinaus aber auch da Analogien zu Luthers Musikauffassung auffinden, wo dessen Name nicht genannt oder in Anspruch genommen wird. Zu denken ist etwa an Jazz und Pop (vielleicht auch an die Neue Musik). Um sich in diesen Analogien zu orientieren, scheint mir der methodische Leitfaden Thomas Nipperdeys hilfreich zu sein: „Wir fragen nicht zuerst, was war an Luther modern, denn das wird ihm nicht gerecht, aber wir fragen, was sind die Wurzeln unserer Modernität. Dabei stoßen wir dann auf Luther.“5 Ich beginne mit einer Skizze seiner Musikauffassung, um dann auf die religiöse Dimension der Musik einerseits, auf die Musik als Medium der Kommunizierbarkeit des Wortes andererseits einzugehen. Auf diesem Hintergrund erscheint das romantische Lob des Tons vor dem Wort als eine Gegenbewegung gegen vorhergehende Verengungen. Nach einem kurzen Blick auf religionssoziologische Deutungen möchte ich nach dem theologischen Orientierungspotential von Luthers Musikauffassung im schwer nur überschaubaren Pluralismus musikalischer Traditionen und Stile der Gegenwart fragen.
1 Luthers Musikauffassung: eine Skizze in drei Gesichtspunkten Uns sind nicht allzu viele Aussagen Luthers über die Musik überliefert. Sie finden sich in Briefen und Tischgesprächen verstreut, aber auch in Vorreden zu Schriften, die sich dem Kirchenlied widmen.6 Die Zusammenschau dieser Fragmente erlaubt aber kombinatorische Verbindungen im Spannungsfeld von Bestimmtheit und Unbestimmtheit, so dass die Abgeschlossenheit einer einzelnen Äußerung auf die Unabgeschlossenheit von deren Bedeutung verweist – und eben so einen offenen Prozess der Interpretation ermöglicht.
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Nipperdey 1990, S. 42. Ein „geschlossenes Bild“ zu geben ist nicht möglich, und das auch deswegen, weil „seine auf Musik bezogenen Äußerungen […] aus unterschiedlichen Zeiten [stammen]“ und „auf unterschiedliche äußere Bedingungen [reagieren]“ (Küster 2016, S. 17).
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Zum einen gilt Luther die Musik als höchste unter den Künsten. Sie kommt deshalb auf Augenhöhe mit der Theologie zu stehen. Prägnant findet sich dieser grundlegende Aspekt in einem Brief an Ludwig Senfl vom 1. Oktober 1530 ausgesprochen, den damaligen Bayrischen Hofkapellmeister. Er „urteile frei heraus und scheue … [sich] nicht zu behaupten, dass nach der Theologie keine Kunst sei, die der Musik gleichzustellen wäre, weil sie allein nach der Theologie das schenkt, was sonst allein die Theologie schenkt: ein ruhiges und fröhliches Herz“,7 schreibt der Reformator. Deutlich genug gibt die Theologie das Maß vor – gleich zweimal wird das betont. Und mit der Theologie ist selbstverständlich (ohne dass das näherer Erwähnung bedurft hätte) ein Vorrang des Wortes vor anderen Medien behauptet: vor dem Bild mehr noch als vor dem Ton. Unter den Künsten aber – Luther hat sich zu Bildern und zum Drama geäußert – soll nun gerade die Musik der Theologie ebenbürtig sein. Er begründet das nicht mit Analogien zwischen Sprache und Musik – Worte wie Töne vermögen aus dem Chaos eine Ordnung zu schaffen – , und auch nicht mit Differenzen – allem voran könnte man hier den Referenzcharakter der Wortsprache nennen, der der Musik nicht eignet – ,8 sondern mit den Wirkungen auf das menschliche Seelenleben. Auf diese Analogie kommt es ihm an. Prägnanter noch als im zitierten Brief werden die Wirkungen der Musik auf die menschlichen Gemütszustände und Affekte in der Vorrede auf die Gesänge vom Leiden Christi beschrieben: „Wenn du entweder Traurige aufrichten willst, oder Fröhliche schrecken“, heißt es da, „Verzweifelnde ermuthigen, Hoffährtige niedergeschlagen machen, Rasende stillen, Gehässige begütigen – und wer kann alle diese Herren des menschlichen Herzens aufzählen, nämlich die Herzensbewegungen und Triebe oder Geister, welche zu allen Tugenden und Lastern antreiben? – was kannst du Wirksameres finden als eben die Musik?“9
Zum zweiten gilt Luther die Musik also als ein hervorragendes Medium nicht nur zum Ausdruck, sondern auch zur Reinigung von Gefühlen durch das Gegenteil hindurch. Wie Matthias Heesch in einer wirkungsgeschichtlichen Studie zu Luthers Deutung der Musik gezeigt hat, steht hier „die auf Aristoteles zurückgehende 7 8 9
WAB 5; 639, 9–15, 20f., zit. nach Schilling 2005, S. 241. Der Brief ist leicht zugänglich in: Luther 1995, S. 133–135. Vgl. dazu: Gauger 2013. Vorrede auf die Gesänge vom Leiden Christi, in: Luther 1987, Sp. 430. Vgl. ähnlich WAT 1, 490.
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Überzeugung der damaligen Zeit“ im Hintergrund, „dass es eigentümliche Affekte der Seele gibt, die (sekundär) auf den Körper zurückwirken und so lebensbestimmend werden können“.10 Auf diesem Hintergrund erscheint die Affektenlehre als das Bindeglied zwischen Theologie und Musik. Denn sowohl die Botschaft des Evangeliums als auch die Musik „bewirken […] affektive Bestimmtheiten der Seele, und zwar solche, die die widergöttlichen Affekte, insbesondere den Zorn und die Traurigkeit, zunichte machen bzw. zurückdrängen, und damit im christlichen Sinne lebensbestimmend werden“.11 Man könnte auch sagen: Es geht um eine „Erleichterung mit Genuss“ – auf diese Formel hat Hans Blumenberg die aristotelische Auffassung gebracht.12 Hierzu sei zuweilen auch ein „Durchgang durch die Schrecknisse“ vonnöten, der metaphorisch darstellbar ist in der disharmonischen Sequenz eines Stückes, seiner Moll-Tönung oder einer getragenen Melodie wie der des Luther-Chorals Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen. Der Einsatz musikalischer Mittel schon kann eine Erleichterung von „tragisch verstrickenden Leidenschaften“ bewirken (ebd.). Dass die Musik auf unser Seelenleben wirkt, entspricht bis heute der Erfahrung vieler. Doch auch die Auffassung, dass Musik Ausdruck von Gefühlen sei, hat sich durchgehalten. Sie findet sich bei Herder und bleibt in der romantischen Kunsttheorie erhalten, dieser Drehscheibe hin zum autonomen musikalischen Kunstwerk.13 Nicht zuletzt bezieht sich Schleiermacher – Jean Paul folgend – in der Weihnachtsfeier auf die Musik als Ausdruck von Affekten.14 Zum dritten erkennt Luther der Musik eine relative Autonomie zu – auch neben dem Wort. Nicht nur die Musik im Gottesdienst war ihm wichtig, sondern „die Musik als solche, d.h. ohne dass diese unmittelbar mit theologischen Aussagen oder liturgischen Bezügen in Verbindung stehen würde“.15 Um mit Blumenberg zu sprechen, wäre das Verhältnis von Theologie und Musik also als ein „unplatonisches“ zu verstehen: nicht ein Verhältnis „von Vorbildlichkeit und Abbildlichkeit, sondern von Spiegelbildlichkeit, von Unentschiedenheit der Verweisung“.16 Einer Herrschaft des Wortes über den Ton, wie sie in der Moderne immer wieder (und 10 Heesch 2017, S. 242f. 11 Heesch 2017, S. 243 mit Bezug auf E. Herms. 12 Blumenberg 42014, S. 132. 13 E.T.A. Hoffmann stellt sich die musikalischen Wirkungen – wie Luther – so vor, dass „diese auf die Affekte des Menschen einwirken und damit auf seine Gesamtsicht der Wirklichkeit“ (Heesch 2017, S. 250). 14 Schleiermacher 1989, S. 34. 15 Heesch 2017, S. 239. 16 Blumenberg 42014, S. 111.
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wirkmächtig von Nietzsche in der Geburt der Tragödie) der Kritik unterzogen wurde, wäre damit die Begründung entzogen. Der Ton wäre dem Wort gleichberechtigt und beide stünden in Wechselwirkung zueinander, so dass der Ton nach dem Wort fragen kann und vice versa.17 Weitere Belegstellen scheinen mir aussagekräftig genug. Im schon zitierten Brief an Senfl schreibt Luther von einer (Psalm 4,9 vertonenden) Melodie, sie habe ihn „von Jugend an erfreut und jetzt noch viel mehr, nachdem ich auch die Worte verstehe“.18 Das Erfreuen, „das von der Musik“ seinen Ausgang nimmt, geht hier dem Verstehen voraus, „das in Bezug auf Texte stattfindet“; „die affektive Wirkung der Musik“ ist nicht abhängig von der kognitiven Wirkung der Worte Ich liege hier und schlafe ganz mit Frieden. Wohl aber können beide wechselseitig aufeinander bezogen sein, der Ton und das Wort. Doch die Worte müssen passen. Wenn sie, so Luther in der Vorrede zur Sammlung der Begräbnislieder, „unchristlich und ungereimt sind“, dann seien sie zu ersetzen, damit der „köstliche“ „Gesang und die Noten“ nicht mit ihnen „untergehen“.19 Doch Gott predige auch durch die Musik, so eine Tischrede von 1528, wie man an Josquin sehen könne, dem um 1500 „beherrschenden Repräsentanten dieser Kunst“.20 „Des alle composition [fließe] fröhlich, willig, mild heraus […] sicut des 17 Demgegenüber verlässt Nietzsche in der Geburt der Tragödie die Annahme eines Wechselverhältnisses, indem er den Tönen Priorität vor den Worten zubilligt. „In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die Sprache auf das stärkste angespannt, die Musik nachzuahmen […]. Hiermit haben wir das einzig mögliche Verhältnis zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich“ (Nietzsche 1976, S. 73, 75f.). Weiter heißt es S. 75f.: „Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nötigte. Der Weltsymbolik der Musik ist […] mit der Sprache auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie […] eine Sphäre symbolisiert, die über alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist“. 18 Vgl. auch Heesch 2017, S. 240. 19 Zit. nach Heesch 2017, S. 241. Eine Hilfsfunktion der Musik spricht aber aus der von Christian Gerber zitierten Stelle aus Luthers Von den letzten Worten Davids aus dem Jahr 1543: Den Herzen, die in „allerley not und jamer stecken“, sei der Psalter „ein süsser, tröstlicher, lieblicher Gesang, wenn man gleich die blossen wort, ohn noten daher lieset und saget. Doch hilft die Musica, oder noten, als ein wunderliche Creatur und gabe Gottes sehr wol dazu, sonderlich wo der hauffe mit singet, und fein ernstlich zu gehet. Denn so lesen wir vom Elisaeo […], dass er durch das Psalter-Spiel (da man freylich psalmen Davids in die Harffe gesungen) den Geist der Weissagung in ihm erwecket habe“ (zit. nach Küster 2016, S. 251). 20 So Küster 2016, S 17.
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fincken gesang.“21 Heesch interpretiert: „Eine zumindest mittelbare theologische Bedeutung der Musik“ werde hier „gerade aus deren ästhetischer Unmittelbarkeit begründet […]: Nicht das Forcieren bestimmter Absichten, sondern sozusagen das Naturwüchsige an der Musik – sicut des fincken gesang – erlaubt es, diese in gewisser Weise mit dem Evangelium zu parallelisieren.“ (ebd.) Zusammenfassend ließe sich sagen: Luthers Auffassung von Musik ist existentiell, denn sie war ihm wichtig und er verstand etwas davon, funktional hinsichtlich ihrer Wirkungen auf das menschliche Gemüt und kritisch mit Blick auf problematische Verknüpfungen von Wort und Ton im Kirchenlied.
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Die religiöse Dimension der Musik
Wort und Ton sind Medien einer Frömmigkeit, dieser bei Luther unangefochtenen Erfahrungsdimension, in der seine reformatorischen Bemühungen sich vollziehen. Rückblickend könnte man sagen: Es geht ihm überhaupt um ein Neuverstehen von Religion und um eine Neugestaltung ihrer gelebten Praxis, auch wenn er diesen Begriff noch nicht verwendet. Doch seine Religiosität führt auf seine Theologie hin wie seine Theologie auf religiöse Erfahrung verwiesen bleibt.22 Dies vorausgesetzt ist es alles anders als aussichtslos, in seinem Verständnis von Musik nach Religion in dem Sinne zu suchen, in dem Schleiermacher den Terminus bestimmt hat.23 In dessen (von Christian Albrecht rekonstruierten) Begriff vom formalen Wesen der Religion sind die polaren Spannungsverhältnisse von Endlichkeit und
21 Zit. nach Heesch 2017, S. 242. 22 Vgl. dazu D. Korsch 2005 und 2005b. 23 Küster kommt in seiner Darstellung der „Musik im Namen Luthers“ beinahe ohne den Terminus der Religion aus. Erst im Zuge seines Kurzreferates der neu entstehenden „Kunstreligion“ bei Wackenroder und Tieck fällt der Begriff (Küster 2016, S. 266), auch ist von Religiosität z.Zt. Bachs die Rede (S. 202). Küster zeichnet den innerkirchlichen Streit um die Musik im Gottesdienst nach, als lägen hier – im liturgischen Rahmen und in reformatorischer Theologie – alle wesentlichen Begriffe schon bereit. Von Problemen, die sich in nachträglicher Reflexion auf gesellschaftliche Wandlungsprozesse und den mit ihnen veränderten Plausibilitäten ergeben, ist seine Untersuchung weitgehend unbelastet. So fragt er in seiner abschließenden „Bilanz eines Jahrhunderts“, ob die geistliche Musik eines Johannes Brahms „Kirchenmusik“ sei oder „Musik im Namen Luthers“ (S. 268). Die Antwort lautet: erstes nicht, letzteres wohl. Eben diese relativ enge Begriffskonstellation ist aber schon seit der Aufklärung, und dann vor allem bei Schleiermacher um den Begriff der Religion erweitert.
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Unendlichkeit, Individuum und Universum, Subjektivität und Objektivität, Rezeptivität und Spontaneität in eine Konstellation gebracht.24 Luther begreift die Musik als ein „Geschenk [des unendlichen] Gottes“, des Schöpfers.25 Dessen Gabe will vom endlichen Menschen als ein Gleichnis des Ewigen empfangen und weitergegeben werden. Diese religiöse Dimension kommt in dem Lied besonders prägnant zum Ausdruck, in dem „Frau Musika [selbst] spricht“, und in dem es heißt: Die beste Zeit im Jahr ist mein, / da singen alle Vögelein, / Himmel und Erden ist der voll, / viel gut Gesang, der lautet wohl (EG 319, 1).26 Wie in nicht wenigen Gleichnisreden Jesu auch scheint sich die Natur vor allem anzubieten, Beispiele und Bilder für das religiöse Verhältnis bereit zu halten – man denke nur an die Vögel im Himmel und die Lilien auf dem Felde in der Bergpredigt. Entsprechend heißt es in der zweiten und dritten Strophe: Voran die liebe Nachtigall / macht alles fröhlich überall / mit ihrem lieblichen Gesang, / des muss sie haben immer Dank. – Vielmehr der liebe Herre Gott, / der sie also geschaffen hat, / zu sein die rechte Sängerin, / der Musika ein Meisterin. Die musica naturalis ist für Luther die Grundform, die sich von einer musica artificialis in Kunstformen bringen lässt. Auch die kultivierten Musikformen setzen gewissermaßen Naturlaute voraus: das Säuseln des Windes, das Rauschen der Blätter, das Plätschern des Baches, das tosende Brausen des Meeres – oder eben den Gesang des Finken bzw. der Nachtigall.27 Doch das ist erst nur die eine Seite. In der Gegenrichtung hat auch die musica artificialis Teil an dem Gotteslob, das Luther schon in der musica naturalis vernimmt. So heißt es in der vierten Strophe: Dem [Herre Gott] singt und springt sie 24 Albrecht 1994, S. 193f. 25 Zit. nach Schilling 2005, S. 240f. mit Bezug auf Peri tes musices (1530) in: WA 30 II, 696. 26 Exemplarisch seien als weitere Kirchenlieder genannt Gelobet seist du Jesus Christ, Ein feste Burg ist unser Gott, Aus tiefer Not schrei ich zu dir. Diese Lieder sind vom jungen Mendelssohn – inmitten der Epoche, die man die romantische nennt – allesamt wiederentdeckt und zum Stoff für eigene Kompositionen verwendet worden. Vgl. Todd 2009, S. 258, 266, 276. 27 In heutiger Zeit hat etwa der Posaunist Albert Mangelsdorff sich von einer Meise am Fenster anregen lassen, die harmonische und rhythmische Form des Vogelgezwitschers instrumental zu rekonstruieren, was auch für ihn ziemlich vertrackt war. Vgl. Mangelsdorff, Albert und NDR Bigband. 2003. http://fastmp3.org/albert-mangelsdorffndr-bigband-meise-vorm-fenster-25928803.htm. Vgl. aber auch schon Beethovens Szene am Bach oder des Gewitters und Sturms in der 6. Sinfonie. Mendelssohn hat die auf Reisen empfangenen Eindrücke etwa in der Schottischen und der Italienischen Sinfonie verarbeitet. Mahlers 1. Sinfonie baut zu Beginn deutlich genug auf „Naturlaute“ auf.
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[die Nachtigall] Tag und Nacht, / seins Lobes sie nichts müde macht: / den ehrt und lobt auch mein Gesang / und sagt ihm einen ewgen Dank. So ist mit dem endlichen Gesang der Nachtigall als „Meisterin der Musika“ ein Bezug auf den unendlichen, den ewigen Gott gegeben. Wenn man Luthers Lied in die Perspektive des Schleiermacherschen Verständnisses von Religion stellt, kann man im „Sprechen“ der „Frau Musika“ zudem die Erfahrung erfüllter Gegenwart ausgesprochen finden, in der das Jetzt stehen bleibt, ewig in einem Augenblick. Dem berühmten Schlusssatz der zweiten Rede über die Religion zufolge hat in solchen Augenblicken die Unsterblichkeit der Religion ihren zeitlichen Ort.28 Konrad Küster hat in seiner 2016 erschienenen Untersuchung gezeigt, dass die „Musik im Namen Luthers“ – von Schütz bis Bach – bemüht war, den Ewigkeitsgedanken zu entfalten. Einschlägig hierfür sind wichtige Gesichtspunkte dieser Entwicklung in einem Gedicht von Johann Walter, Luthers musikalischem Berater, aus dem Jahr 1538 zusammengefasst: „Die Music mit Gott ewig bleibt / die andern Künst sie all vertreibt, / im Himmel nach dem Jüngsten Tag, / wird sie erst gehen in rechter wag, / jetzt hat man Hülsen nur davon / dort wird der Kern recht aufgetan / im Himmel gar man nicht bedarf / der Kunst Grammatik, Logik scharf, Geometrie, Astronomie / kein Medizin, Juristerei, / Philosophei, Rhetorika. / Allein die schöne Musica / do werdens all Cantores sein / gebrauchen dieser Kunst allein, / sie werden all mit Ruhm und Preis / Gott loben hoch mit ganzem Fleiss, / und danken seiner großen Gnad / die er durch Christ erzeiget hat, / sie singen all ein Liedlein neu, / von Gottes Lieb und hoher Treu, / Solchs Singen ewig nicht vergeht, / wie in Apocalypsi steht, / Gott helf uns allen auch dorthin / das wir bei Gott in einem Sinn, / und allen Auserwählten gleich / singen mit Freud in Gottes Reich“.29 28 „Mitten in der Endlichkeit Eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein in einem Augenblick, das ist die Unsterblichkeit der Religion“ (Schleiermacher 1977, S. 89). Wenn man so will, kann man – rückblickend von Hegel aus – hier die Deutung anschließen, Musik wäre ein sinnliches Tönen der Idee bzw. des Absoluten. Sie hätte eine eigene Affinität, ihren spezifischen Zugang zum Wahren, Schönen und Guten. Sie wäre (auch unter religionstheoretischen Voraussetzungen betrachtet) ein „Gefäß“ oder ein „Prisma“ der Religion. Ihre Töne würden sich brechen wie die Farben des Lichts und ergäben ein „erklingend Farbenspiel“ (Goethe). Diese Deutung lebt bis in die Medienkultur unserer Zeit fort. So bringt Daniel, der Star Violinist im Film Wie im Himmel (2004. Schweden/Dänemark; Regie: Kay Pollack), der in der schwedischen Provinz zum Chorleiter wird, diese Auffassung zur Sprache: „Stellt euch vor, dass alle Musik schon irgendwo ist. Da oben, überall vibriert sie. Und wir können sie holen. Und alles geht bloß darum, dass wir zuhören, dass wir auch bereit sind, sie von da oben zu holen.“ Weiter: „Das ist das große Geheimnis. Und wenn alle davon wissen, nun, dann holen wir die Musik“. 29 Zit. nach Küster 2016, S. 50.
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Wie in einer Urzelle findet sich in diesem Gedicht das Selbstverständnis der „Musik des Luthertums“ ausgesprochen.30 Man ging davon aus, dass sie „als unmittelbares Glaubenszeugnis […] zur Ewigkeit gehöre“ (51). Als hätte unter der Hand wieder ein Platonismus Platz gegriffen, der sich aus den zitierten Äußerungen Luthers nicht herauslesen lässt, dachte man „das Musizieren im Diesseits […] mit dem in der Ewigkeit verbunden“, als dessen unterste Stufe. Und um diesen Glauben „individuell zu äußern, müsse jeder beim Musizieren schon auf Erden das Bestmögliche bieten“ (56f.). Angesichts der Ewigkeit kam es also (gerade auch in der kirchlichen Musik) auf „künstlerische Höchstleistung“ an (60.Vgl. 58). Auch das den formalen Religionsbegriff mitbestimmende Spannungsverhältnis von Individualität und Universalität lässt sich in Luthers Musikauffassung wiederfinden. Er begründet die Musik „aus der Vollkommenheit und Harmonie der Schöpfung […], wie sie im Gesang der Nachtigall erscheint“, und spricht ihr damit eine gewissermaßen kosmologische Bedeutung zu, die zur psychologischen hinzutritt.31 Man muss aber, so scheint mir, diesen beiden Aspekten noch den sozialen hinzufügen, wie er im gemeinsamen Singen und Musizieren erlebbar ist. Luther zufolge lasse sich die Schöpfung auch in dem Wunder hören, „dass nicht zwei Menschen die gleiche Stimme hätten“,32 weshalb es gelte, die individuelle Stimme erst einmal zu entdecken und auszubilden. Auch in der Gemeinsamkeit chorischen Singens bleibt das Individuum ja erhalten, das als ich diese Sprache des wir allererst möglich macht. Im chorischen Wir kommt dann der Gleichnischarakter der Musik für das Leben zum Ausdruck, von dem auch Schleiermacher in der Weihnachtsfeier handelt: „Nie über einzelne Begebenheiten […] weint oder lacht die Musik, sondern immer nur über das Leben selbst“.33 Die Musik ist Gleichnis des Lebens in seiner ganzen Vielfalt, und nicht zuletzt hinsichtlich des für menschliche Geselligkeit so elementaren Verhältnisses von Individualität und Gemeinschaft, wie es ein Chor erlebbar macht – bis hin zur Gleichnisfunktion im Sinne einer Vorwegnahme des eschatologischen Heils.34
30 Küster 2016, S. 60. Er weist das insbesondere an der Memorialkultur anlässlich von Bestattungen nach. 31 Mit dieser Interpretation folge ich Heesch 2017, S. 240, 244, 252. 32 Zit. nach Schilling 2005, S. 242. Schön ist der Gesichtspunkt stimmlicher Individualität auch in dem Film Wie im Himmel (s. Anm. 28) zur Darstellung gebracht. 33 Schleiermacher 1989, S. 34. Vgl. dazu Bertolino 2010. 34 Auch dieser Aspekt ist eindrücklich im Film Wie im Himmel figuriert (s. Anm. 28). Vgl. zur vielfältigen Gleichnisfunktion der Musik auch den Beitrag von Th. Schipperges in diesem Band.
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Weiterhin findet auch die Polarität von Subjektivität und Objektivität bei Luther Bestätigung, in der die Religion auf die sie gründenden Texte, auf Tradition bezogen ist. Die im weitesten Sinne seelsorgerliche Funktion der Musik hängt für ihn einerseits am subjektiven Ausdruck dessen, der mitsingt, dem bisherigen Zusammenklang eine weitere Stimme hinzufügt (was Luther konnte), oder der selbst in die Saiten seiner Laute greift,35 andererseits am objektivierbaren musikalischen Sinn des Liedes, des Stücks, das er hört, spielt, mitsingt, und an dem er auf diese Weise teilhat. Sofern es ihm um den Ausdruck und die Darstellung von Frömmigkeit geht, werden die Kräfte der Subjektivität an die Objektivität des Schriftwortes gebunden. In Luthers Liedern sind diese beiden Momente einer Spannung noch nicht auseinandergetreten. Eins ist hier aufs andere verwiesen, eins interpretiert das andere wie etwa im Weihnachtschoral Vom Himmel hoch da komm ich her. Auf die Frage der Weiterentwicklung des Prinzips der Subjektivität hin zu ihren expressiven Formen im 18. und 19. Jahrhundert, ja bis in die Gegenwart, kann ich hier nicht eingehen.36 Charakteristisch für die religiöse Erfahrung ist schließlich auch ein offenes Wechselverhältnis von Rezeptivität und Spontaneität. Das Hören in der Dimension des Unendlichen geht dem Sprechen voraus, das von Transzendenz betroffen ist, und die Empfänglichkeit für das Wort Gottes der Fähigkeit, es zu kommunizieren. Dieses Verhältnis findet exemplarisch im Musizieren einen Spiegel, insofern das Hören des Tons, auf den das Lied gestimmt ist, und das Hören der Harmonie dem Singen wie dem Spielen eines Instruments vorausgeht. Rezeptivität und Spontaneität hängen korrelativ zusammen. Das wird auch durch die Erfahrung bestätigt, dass im Modus der Rezeptivität die seelische Befindlichkeit korrigiert werden kann, wie dann im Modus der Spontaneität der Traurige wieder Stimme gewinnt 35 Nach einem mündlichen Bericht des Johannes Muthesius vermochte Luther dieses Instrument zu spielen (Heesch 2017, S. 241 zit. F. Diergarten). 36 Erst um 1800 setzt sich – in einem „Strukturwandel der Innerlichkeit“ – die Auffassung durch, dass das musikalische Subjekt „mit Bezug auf seine Emotionen nicht nur der Ort, sondern auch der Ursprung […] sowie der ästhetisch deutende Akteur und das Thema des musikalischen Geschehens in einem“ ist (Stolzenberg 2011, S. 21). Es wäre aber zu fragen, ob es für Luther nur – wie es zeitgenössischer Plausibilität entsprach – eine ein-für-alle-mal feststehende Ordnung solcher Repräsentation gibt, in der die Musik die Affekte nachahmt (S. 14, 18), als sei „das, was zum Ausdruck gebracht wird, an sich vorhanden, bekannt und begrifflich artikuliert“ (S. 17), oder ob die Musik nicht auch für ihn schon (ohne dass das Methode hätte) „als symbolisch vermittelte Gestaltung und Realisierung von noch unbekannten, ‚dunklen‘ Zuständen des gefühlshaft bewegten Inneren“ fungiert (S. 18). Für die zweite Möglichkeit würde die relative Autonomie sprechen, die Luther der Musik zuerkennt. Vgl. dazu auch den Beitrag von Johannes Picht in diesem Band.
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und der Verzweifelnde Mut. Man findet also in einem formalen Sinn Religion in Luthers Äußerungen zur Musik, wenn man sich an den Bestimmungen orientiert, die sich aus Schleiermacher rekonstruieren lassen.
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Musik als Medium der Kommunizierbarkeit des Wortes
Doch dieser religiösen Dimension in der Musik, in der sie selbst als Ausdruck „einer elementaren, überzeitlichen Hoffnung“37 erlebt werden kann, scheint man im Calvinismus und in Teilen des Luthertums in abnehmendem Maße nur die Aufmerksamkeit gezollt zu haben. Dafür lässt sich ein Beispiel aus dem 16. Jahrhundert anführen. Als „1586 der württembergische Lutheraner Jacob Andreae in Montbéliard […] mit einem führenden calvinistischen Kollegen zusammen[traf], Théodore de Béze“, sprach man über den „Glaubenswert der Musik“, der nicht „durch ein ästhetisches Erlebnis überformt“ werden dürfe.38 Die Offenheit der Musik gegenüber, auch der instrumentalen, die vor allem Andreae vertrat, wurde schon bald darauf reduziert, als „die Anhalter Calvinisten […] sich klar gegen jegliche Instrumentalmusik“ stellten. „Glaube [so meinten sie] verbinde sich nur mit der reinen Wortverkündigung und den Sakramenten“ (48). Diese Position ist dann etwa von Christian Gerber verschärft worden: Musik gehöre „nicht zum eigentlichen Gottesdienst“ (250), der vielmehr vom gesprochenen Wort abhänge, heißt es bei ihm. „Musik in der Kirche [sei] … nur ‚Vortrag von Text‘“ (252). In seiner Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen aus dem Jahr 1732 liest sich das so: „Ich weiß zwar wohl, dass der schlechten Danck verdienet, der wegen der überflüssig grossen und kostbaren Orgeln, desgleichen wegen der Kirchen-Music etwas erinnert [=anmerkt], denn man ist an solche Dinge dermassen gewohnt, daß man meynet, der Gottesdienst könne ohne dieselben nicht bestehen, oder leide doch grossen Abbruch, wenn Orgeln und Instrumental-Music hinweg blieben: Ja viele sehen diese Dinge nicht anders als ein essential- oder wesentliches Stück des Gottesdienstes an, so sie doch mit nichten sind: Sondern der Gottesdienst besteht in Beten, Singen, Loben und Anhörung oder Betrachtung des Göttlichen Wortes, wozu Orgeln und andere musicalische Instrumenta nicht vonnöten seyn, die erste Christliche Kirche auch zwey bis dreyhundert Jahr dergleichen nicht gebraucht hat.“39 37 Küster 2016, S. 60. 38 Küster 2016, S. 47f. 39 Christian Gerber. 1732. Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen, S. 279, zit. nach Küster 2016, S. 249.
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Innerhalb der Kirche kam es zu Auseinandersetzungen über die Musik, die legitimerweise hier ihren Ort haben sollte. Man mochte sich nicht mehr mit dem „für Bach ebenso wie für Schütz“ charakteristischen (137f.) „Berufsbild eines Generalisten“ (253) zufrieden geben, und suchte mit der Unterscheidung „zwischen sakraler und profaner Musik“ Grenzen zu ziehen. Es stellte sich das Problem, wie „sprachlich formulierte Inhalte“ weitergegeben werden konnten, die zudem „bestimmten theologischen Vorgaben zu entsprechen hätten“. „Luthers intuitive Erwägungen zur Musik“ wurden „zu einer mehr oder weniger in sich geschlossenen Auffassung von der Kirchenmusik weiter […] entwickelt“,40 und hierbei ist es zu einer Reduktion der Offenheit gekommen. Während in Luthers Liederdichtung Frau Musika selbst zu sprechen vermochte, sollte nun in einer „Musikästhetik des Kirchlichen“41 die dem Wort dienende Funktion der Musik festgeschrieben werden. Das hatte zur Folge, dass sie sich nicht mehr „von ihrer besten Seite“ zeigen durfte – während sie Luther zufolge eben so dem Wort am besten sollte dienen können.42 Zu einem innerkirchlichen Orientierungsmuster ist das hierarchische Modell einer Herrschaft des Wortes über den Ton also erst später als bei Luther selbst geworden. Das Vertrauen in eine gewisse Selbstwirksamkeit der Musik ging verloren, und mit diesem Verlust wurde der musikalische „Aktionsraum in der Kirche verengt“.43 Wie Blumenberg anhand der Matthäuspassion gezeigt hat, hat eben das Moment relativer Autonomie der Musik Bachs aber ihre bis heute erstaunliche Präsenz in der Kultur gesichert.44 Diese Musik als solche verhilft zu Wirkungen auch dort noch, wo die in den gesungenen Worten mitlaufenden dogmatischen Aussagen für das zeitgenössische Verstehen nicht mehr ohne weiteres erschwinglich sind.45
40 So auch Heesch 2017, S. 8. 41 Küster hat sie mit weiteren wirkmächtigen Einlassungen Gerbers prägnant präzisiert (Küster 2016, S. 247ff.). 42 Küster 2016, S. 276. 43 Küster 2016, S. 252. 44 „Kurze Zeit bevor die einsetzende Bibelkritik das Ärgernis am Leidenden auf den Text von ihm übertrug, hatte Bach, als hätte er geahnt, was noch zu retten sei, eine andere Tragfähigkeit des Evangeliums gefunden“ (Blumenberg 1988, S. 48). 45 Um es im Deutungsmuster des Nietzsche der Geburt der Tragödie zu sagen, ist es Bach gelungen, den „absterbenden Mythos“ der christlichen Religion in dem historischen Augenblick in den Geist der Musik zu retten, da das „Gefühl für den Mythos“ verloren zu gehen drohte, „und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen“ trat (Nietzsche 1976, S. 100f.).
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Die Feier des Tons gegenüber dem Wort um 1800 und danach
Martin Luther behaupte „irgendwo ganz dreist und ausdrücklich: dass nächst der Theologie unter allen Wissenschaften und Künsten des menschlichen Geistes die Musik den ersten Platz einnehme. Und ich muss offenherzig bekennen, dass dieser kühne Ausspruch meine Blicke sehr auf den ausgezeichneten Mann hingerichtet hat […]“, heißt es in Wilhelm Heinrich Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders.46 Man sieht leicht, dass es sich in diesem Zitat um die oben zitierte Stelle aus dem Brief an Senfl handelt. Der Reformator sperrt sich nicht prinzipiell, von solchen Autoren zitiert zu werden, die – wie Wackenroder oder E.T.A. Hoffmann – auf den „Ton an sich“ zurückgehen,47 um hier den „Grundstoff“ zu finden, der schon „mit … himmlischem Geiste geschwängert“ ist, wie es bei Wackenroder andernorts heißt.48 Auch E.T.A. Hoffmann zufolge spricht sich „die Ahnung des Höchsten und Heiligsten … hörbar aus im Ton“ (ebd.). Diese romantischen Konzeptionen der musikalischen Ästhetik vollziehen den Abschied von einer Vorstellung, der zufolge die Musik „Medium für den Transport religiöser Inhalte“ sei (ebd.), um eine Autonomie zu behaupten, der gemäß „die Religiosität der Musik […] immanent bewerkstelligten, ‚autopoietischen‘ Vorgängen entspringt“.49 In der Romantik – und in der sich mit ihr auseinandersetzenden Literatur – ist an die Stelle der Theologie bei Luther nun die Religion der Kunst getreten, als bestätige sich Hans-Joachim Birkners Beobachtung, dass „Religion“ zu einer „undogmatischen Definition des Christentums“, wenn nicht gar „als Programmbegriff thematischer Entschränkung der Theologie“ avanciert sei.50 Und die relative Autonomie, die Luther der Musik zuerkannt hatte, wird zum Anlass genommen, die Musik „kunstreligiös“ aufzuladen.51 Schon in der der Romantik präludierenden „klassischen Autonomieästhetik“ war „das Schöne […] zur Idee, zum nicht selbst bedingten ‚Urbedingenden‘ von Kunst [geworden], das in seiner göttlichen Selbstursprünglichkeit weder unter die Herrschaft der Vernunft fällt noch der Erfüllung
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Wackenroder und Tieck 1976, S. 54. Oechsle 2015, S. 16. Wackenroder zit. bei Oechsle 2015, S. 17. Oechsle 2015, S. 16. Birkner 1996, S. 41. Oechsle 2015, S. 16f.
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religiöser Funktionen verpflichtet ist“.52 In diesem Deutungsmuster konnte das Schöne in der Kunst dann zu „einem Ort der Offenbarung“ werden (16f.). Auch E.T.A. Hoffmann hatte das Schöne in der Kunst als Manifestation des Heiligen gedeutet, 53 und damit eine Überhöhung der Musik als eines innerweltlichen Phänomens bezeugt. Es geht nun nicht mehr um Religion in der Musik, die aufgrund ihres „synthetischen Vermögens“ viele Sinndimensionen in sich aufnehmen kann – eben auch die religiöse –, sondern um Musik als Religion. Und d.i. ein neues Phänomen, 54 wie es sich besonders deutlich anhand von Richard Wagners Schrift Religion und Kunst (1880) belegen lässt.55 Ihr zufolge soll die Musik allein noch in der Lage sein, „den Kern der Religion zu retten“, 56 einer Religion nota bene, deren unverständlich gewordene (bloß „künstliche“) Dogmata in „mythische Symbole“ sollten zurückübersetzt werden.57 Unter der Hand ist hier eine an Schopenhauer gebildete Metaphysik des Lebens an die Stelle der biblisch bezeugten Erfahrung getreten, an der die Musik im Namen Luthers sich bis zu Mendelssohn (und darüber hinaus) orientierte. Und diese Metaphysik des Lebens hat Platz gemacht für alle möglichen Remythisierungen. Diese Aspekte geraten nur ungenügend in den Blick, wenn man mit Michael Meyer-Blanck Wagners Parzifal „als ‚Tempel‘ des Kulturprotestantismus“
52 Oechsle 2015, S. 14. 53 Vgl. dazu Oechsle 2015, S. 17. 54 Die Ästhetik hat sich hier „in gewisser Weise an die Stelle der Absolutheit des Glaubens bzw. seines Gegenstandes“ gesetzt (Heesch 2017, S. 248). 55 Wagner 2013, S. 301–310. 56 Wagner 2013, S. 301: „Man könnte sagen, dass da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten.“ Vgl. dazu auch Oechsle 2015, S. 20. 57 Wagner 2013, S. 301. Wagner gilt die Musik „als reine Form eines gänzlich vom Begriffe losgelösten göttlichen Gehaltes“ (S. 303). Schon „die kirchliche Musik“, gesungen „auf die Worte des dogmatischen Begriffes“, habe „in ihrer Wirkung […] diese Worte […] bis zum Verschwinden ihrer Wahrnehmbarkeit auf[gelöst], so dass sie hierdurch den reinen Gefühlsgehalt derselben fast einzig der entzückten Empfindung mitteilte“ (S. 302). So habe „die Musik das eigenste Wesen der christlichen Religion mit unvergleichlicher Bestimmtheit offenbart“ (S. 303). Um wieviel mehr gelte es nun, bei Wagner selbst, die „tönenden Offenbarungen aus der erlösenden Traum-Welt reinster Erkenntnis einem heutigen Publikum zu sagen“ (S. 305). Möglich sei das erst „auf dem Boden einer neuen moralischen Weltordnung“, die sich von der überlieferten dadurch unterscheiden soll, dass „der Lebensübung selbst das Gleichnis des Göttlichen“ zu entnehmen sei (S. 310).
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in Anspruch nimmt.58 Sie gewinnen aber schärfere Konturen in der Perspektive jüdischer Religionsphilosophie bei Hermann Cohen und Franz Rosenzweig.59
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Ein knapper Blick auf religionssoziologische Deutungen
Für eine Bestimmung der Faktoren, die diese späteren Zeiten des 19. Jahrhunderts von Luther trennen, scheint mir der (religions-)soziologische Aspekt einer Emanzipation von kirchlichen Vorgaben und eine gesellschaftliche Ausdifferenzierung der Orte der Aufführung von Relevanz zu sein. Mit Beethoven hat sich die „abendländische Kunstmusik“ vollends „vom religiösen Kultus [abgelöst], aus dem sie stammte“.60 Dieser (an der Missa Solemnis exemplarisch zu beobachtende) Vorgang betrifft den gesellschaftlichen Rahmen und Träger von Musik – nach weitgehender Übereinkunft ist das das „mündige Bürgertum“ gewesen.61 Hier von einer „Substitution“ im Sinne einer allzu einfachen Säkularisierungsthese zu sprechen, griffe zu kurz. Treffender für die Deutung dieser Vorgänge scheint eine Ausdifferenzierung von Funktionen der Kunst innerhalb und außerhalb der Kirche zu sein. Auf diesem Hintergrund zeigen sich die Intentionen eines Chr. Gerber im 18. 58 Vgl. dazu Meyer-Blanck 2012. 59 In der Außenperspektive Rosenzweigs muss das modern transformierte Christentum in der kulturprotestantischen Variante Wagnerscher Kunstreligion (ohne dass er das an diesem Beispiel ausgeführt hätte) als die Größe neben dem Judentum erscheinen, die mit einem Bein im Heidentum steht (vgl. 1988, S. 423–464). Und das von Hermann Cohen hervorgehobene Moment am Christentum, dass es durch seine relativ vorurteilsfreie Offenheit für die Künste seinerseits im Mythos wurzele, fände auch am Phänomen Wagner – eben in dieser Kunstreligion mit lockerster Verbindung zur theologischen Tradition – noch Bestätigung. Wie es scheint, hat Cohen mit Wagner anhand einer längeren Auseinandersetzung in Kants Begründung der Ästhetik (1889) schon abgeschlossen – sein Name findet in der Ästhetik des reinen Gefühls (1912) keine Erwähnung mehr. Der Sensualismus Wagners, der „das ästhetische Gefühl“ aus „Sinnlichkeit und Leidenschaft“ bestimmt (so heißt es zwei Jahrzehnte vorher), verletzte die „elementarsten Begriffe“ des von Cohen vertretenen kritischen Idealismus und verleugnete dessen „innerlichste Bestrebungen“ (Cohen 1889, S. 328). 60 Oechsle 2015, S. 19. 61 Nachdem der musikalische „Aktionsraum in der Kirche verengt“ worden war, nahm das „erwachende Bürgertum […] sein Interesse an der musikalischen Sakralkunst, die in der Kirche unter Dauerfeuer geriet, in seine neu entstehenden Konzertveranstaltungen mit“ (Küster 2016, S. 252f.). Es schuf sich „eine eigene Organisationsform dafür […], geistliche Themen in musikalischer Aufarbeitung zu erleben, auch dann, wenn die offizielle Kirche nicht mitging.“ Mehr noch suchte es sich „sein religiöses Erleben eben im Umgang mit Musik“ (Küster 2016, S. 266).
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Jahrhundert als eine mögliche Option unter anderen: als die einer Grenzziehung, nicht als die der Öffnung. Für letztere spricht, dass auch die aus der Kirche in den Konzertsaal ausgewanderte Musik keineswegs ohne Religion ist, ja dass der Musik selbst eine religiöse Dimension eignet, wie das in Interpretation von Luthers Musikauffassung mit den Mitteln der Schleiermacherschen Religionstheorie hat gezeigt werden können. Den Konvergenzen einer religiösen Dimension der Musik, die innerhalb und außerhalb der Kirche gespielt wird, entsprechen aber (nicht nur) historisch auch Konkurrenzen zu den „gegenweltlichen“ (Max Weber) Formen und Gestalten der „Kunstreligion“.62 Es besteht auch ein „Eigeninteresse“ der Kunst, die religiöse Dimension zur Darstellung zu bringen.63 Als eine „Gegenwelt“ ist die Musik allerdings noch nicht bei Luther, sondern erst um 1800 verstanden worden.64 Die romantische Kunstreligion bis hin zu Wagner will in diese Gegenwelt führen, steht aber in einer Spannung zum rationalisierten Alltag, in der die Musik bei Luther noch nicht stand – und in der die sich auf ihn berufende Kirche nicht stehen muss, wenn es ihr denn gelingt, das Versprechen des Wortes mit der Musik als Ausdruck und Gleichnis in einem offenen Wechselverhältnis zu halten.
62 Man muss die Gestalt „ästhetischer Religion“ (mit ihren Versammlungsorten, Ritualen und Symbolen) aber nicht als eine „Gegen-Kirche“ betrachten (Oechsle 2015, S. 20). 63 Oechsle 2015, S. 16. 64 Wackenroder jedenfalls ist ein aussagekräftiger Zeuge dieser Entwicklung. Für ihn ist das „Innere“ ein „Schatzkästchen“, „zu welchem man den Schlüssel niemandem in die Hände gibt“ (Wackenroder 1976, S. 105). Dieses „Innere“ zeige sich in „Phantasien“, in denen es über sich selbst hinauswächst: die Seele solle „in üppigem Übermute dahertanzen und zum Himmel, als zu ihrem Ursprunge, hinaufjauchzen“ (S. 104). Dionysischer Rausch und ein Transzendieren der Sehnsucht klingen hier gleichermaßen an. Ein „poetischer Taumel“ will sich hier über das „prosaische Leben“ erheben, vermag das aber auf Dauer nicht. Die Erfahrung der ästhetischen Intensität wird zum Merkmal einer musikalischen Gegenwelt, in die man sich aus der Welt des Alltags, der Arbeit, der rationalisierten Vollzüge zurückziehen, doch in der man nicht bleiben kann.
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Was trägt ein Rückblick auf Luther für die Deutung musikalischer Erscheinungen im Pluralismus der Gegenwart aus?
Nicht mit fertigen Antworten, wohl aber mit einem Ausblick auf noch zu leistende Arbeit möchte ich schließen und hierbei noch einmal auf die drei skizzierten Aspekte von Luthers Musikauffassung zurückkommen. Wie schon gesagt, eröffnen sich Deutungsperspektiven für die Gegenwart (1.) mit Blick auf das Verhältnis von Musik und Affekt bzw. der Musik als Ausdruck und ihrer Wirkungen auf das Gemüt des Menschen. In den großen Werken der Klassik, aber auch im Jazz und in der populären Musik gibt es Ausdrucksformen der Sehnsucht und der Klage, der Freude (bzw. der beschwingten Heiterkeit) und des Dankes,65 die den Hörer in die jeweilige Emotion hineinziehen. Musik ist eben beides: „kontrollierte Exaltiertheit“ und „kalkulierte Passion“. Dieses „Paradox“66 ermöglicht ihre vielfältige Funktion. (2.) hat die Musik der Moderne die relative Autonomie, die Luther der Musik zuerkannt hat, zum „Gedanken eines autonomen musikalischen Kunstwerks“ weiter entwickelt. 67 Auch wenn Luther von diesem modernen Gedanken weit entfernt war, kann doch auch eine Musik, die nicht ausdrücklich in seinem Namen gespielt wird, in den Grenzen verstanden werden, die er mit seiner Musikauffassung gesetzt hat. Ob das romantische Verständnis der Musik als Religion dieser Auffassung noch entspricht, wäre am Einzelbeispiel zu prüfen. Zu einem heute vertretenen Verständnis der Musik ohne Religion werden sich kaum Entsprechungen finden. Exemplarisch hierfür scheint mir etwa die Nachricht eines Charlie-Hebdo-Zeichners vom 13.11.2015 zu sein, die nach den verheerenden Anschlägen in der französischen Hauptstadt ins Netz gestellt und dem traditionellen Zeitungsleser dann in der F.A.Z. zugänglich gemacht wurde: „thank you for # pray for PARIS, / but we don’t need more religion! / Our faith goes to music! / Kisses! Life! Champagne and joy! # Paris is about life.“ Bei aller Abwehr von Religion – was immer der Autor dieser Zeilen darunter verstehen mag – schwingt hier doch eine Metaphysik des Lebens mit, die die öffnende, lösende und in gewisser Weise befreiende Funktion der Musik soll tragen können. Angesichts solcher (und anderer) Phänomene ist
65 Vgl. dazu etwa die Stücke, die auf der Tagung anlässlich der Jazz-Session gespielt wurden [vgl. den Beitrag von D. Hödl in diesem Band]. 66 Kaube 2017, S. 157. 67 Heesch 2017, S. 242.
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(3.) auch in dem Verhältnis, in das Luther die Musik mit der Theologie gebracht hat, ein Potential kritischer und klärender Unterscheidungen zu entdecken. Wenn etwa die Grenzen zwischen Mythos und Religion wie im Fall Wagner verschwimmen, bedarf es des kritischen Potentials der Theologie in der Hermeneutik der Religion. Mit Blick auf zeitgenössische Deutungen dessen, was die Musik vermag, müsste die theologische Reflexion sich damit auseinandersetzen, dass die Skepsis einem Musikverständnis gegenüber gewachsen ist, die Ewigkeit könne die Zeit berühren wie die Tangente den Kreis. Dieses Verständnis war – wie gezeigt – im Luthertum ausgearbeitet worden. Es findet sich noch in der Romantik bis hin zu Nietzsches Geburt der Tragödie. Demgegenüber geben sich zeitgenössische Interpreten (wie Johannes Picht von der Psychoanalyse68 und Martin Seel von der Filmtheorie aus69) damit zufrieden, dass die Musik ein Gleichnis für unsere Erfahrung von Zeit ist, die sich anders als in räumlichen Metaphern nicht aussprechen lässt.70 Was möchte – und was kann – man unter zeitgenössischen Plausibilitätsbedingungen dem Erlebnis des Augenblicks zu tragen noch auferlegen? Die Ewigkeit scheint dem zeitgenössischen Bewusstsein jedenfalls kaum mehr fassbar zu sein. Und doch verlangt das Dunkel des gelebten Augenblicks (Ernst Bloch) nach Deutung. Der gestaltete Klang hat auch einen gestalteten Sinn.71 Deshalb kommt es nicht nur auf die Wirkungen der Musik an, sondern auch auf die Wahrheit der in ihr mitgeteilten Gedanken. Die Musik, die unserer Zeiterfahrung „Orientierungen in der Indifferenz der Zeit“ gibt,72 und so zum Gleichnis werden kann, führt uns (in welcher Stilrichtung immer) auch ins Ungewohnte, Offene, Freie und Neue. So hat sie eine soteriologische und eine eschatologische Funktion. Als sprachähnliches Vermögen der Töne kann sie Zusammenhänge auf eine vorläufige Weise symbolisieren. Doch aufgrund ihrer Gebundenheit an die Zeit kann sie ihre eigene Vorläufigkeit nicht überspringen oder verwinden, wenngleich, wer sich auf sie einlässt, Augenblicke zu erleben vermag, in denen die Zeit stillsteht und momentan
68 Picht 2012. 69 Die Musik schafft „eine gegliederte Zeit: eine mit Erinnerung und Erwartung durchwobene Gegenwart, die sich im musikalischen Verlauf in einem bleibenden Vergehen bemerkbar macht. Aus der begrenzten Zeit etwas zu machen: Das macht die Musik uns vor“ (Seel 2013, S. 39). 70 Picht 2013 hat sich in einem späteren Beitrag auch mit der Frage auseinandergesetzt, wie „das Ende der Zeit“ in der „Zeit der Musik“ dargestellt werden kann. 71 Dalferth und Berg 2011. 72 Blumenberg 42014, S. 123.
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ihre Herrschaft einbüßt.73 Um es mit einem Wort Walter Benjamins zu sagen, ist Musik eine „kleine Pforte“, durch die jederzeit der Messias treten kann.74 Wer heute nach den in Musik mitgeteilten Gedanken fragt, wird diese kaum ohne weiteres mit Luthers Theologie in Deckung, wohl aber in ein Gespräch bringen können – und mit Luthers Theologie wohl nur insofern, als sie heute „einer freien Religionsphilosophie […] als eines beständigen Gegenübers“ bedarf.75 Vielleicht kann man die These wagen, dass die Musik selbst das Regulativ ist, das Luther der Arbeit am theologischen Begriff zur Seite gestellt hat. Sie hätte dann Sinn und Bedeutung über die Theologie hinaus. Gebunden an ihre eigene Vorläufigkeit vermag die Musik einen Kontrapunkt gegen das begriffliche Bemühen zu setzen, ein dogmatisches System der Ordnung ein für alle Mal zu installieren – und sei es ein auf Schrifthermeneutik beruhendes christologisch zentriertes System wie das des Reformators selbst, das er in späten Jahren auf höchst problematische Weise gegen die jüdische Hermeneutik verteidigte.76 Denn die Musik bedarf als solche der abgrenzenden Funktionen nicht, auf denen die immanente Stimmigkeit theologischer Aussagen beruht – und das umso weniger, als sie mit J.S. Bach im Geiste der lutherschen Musikauffassung Soli Deo Gloria gespielt wird.
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Die Religion in der Musik und die Musik in der Religion Dietrich Korsch
„Ich bin […] religiös absolut ‚unmusikalisch‘“, bekannte Max Weber im Jahr 1909 in einem Brief an Ferdinand Tönnies.1 Webers Ausdruck ist zu einer oft gebrauchten Redewendung geworden. Offenbar verweist die Analogie von Religiosität und Musikalität auf eine jedenfalls seit dem 20. Jahrhundert unmittelbar plausibel klingende Verwandtschaft von Religion und Musik. Drei Bemerkungen lassen sich an diese Beobachtung anschließen. Einmal, Religion und Musik sind über ihre subjektive Wirkung oder Zugänglichkeit miteinander verbunden. Die Fähigkeit, religiös zu empfinden und musikalisch gestimmt zu sein, liegt im Subjekt. Diese Fähigkeit, zweitens, ist in gewisser Weise gegeben oder nicht gegeben; sie ist nicht durch Anstrengung oder Übung erreichbar, sondern gehört zur individuellen mentalen Ausstattung eines Menschen. Schließlich, Religion ist wie Musik eine Sache des Empfindens, nicht der rationalen Überzeugung; das jeweilige Verständnis kann nicht durch Argumente erzielt werden. Die Religion und Musik gleichermaßen betreffende Subjektivierung, wie sie sich in den drei Bemerkungen Ausdruck verschafft, stellt vor die Aufgabe, das Verhältnis beider im Ausgang von der humanen Subjektivität und ihren Aufbaumomenten zu rekonstruieren. Der Weg meiner Überlegungen verläuft in drei Etappen. Zuerst wird es darum gehen, die Zusammengehörigkeit von Religion und Musik auf einer anthropologischen Basis zu verstehen. Wir werden dann in einem zweiten Schritt eine symboltheoretische Betrachtung zur strukturellen Differenz beider vornehmen, 1
Baumgarten 1964, S. 670.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_2
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um schließlich mit Mitteln einer historischen Analyse die Konkurrenz in der Verwandtschaft von Religion und Musik zu erörtern.
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Musik und Religion gehören zusammen
Eine anthropologische Besinnung wird sich kaum der Beobachtung entschlagen können, dass Religion und Kunst seit den frühesten Zeugnissen der Menschheit zusammen auftreten, ja ineinander liegen. Das lässt sich greifbar sehen an Skulpturen und Zeichnungen der frühen Menschen, ganz gleich, wie weit der Blick zurückreicht. Wenn wir annehmen können und müssen, dass die religiös konnotierten Darstellungen von sozialen Praktiken umgeben waren, müssen wir zusammen mit Tanz und Bewegung auch sprachliche und lautliche Äußerungen in diesem Kontext unterstellen. Diese historische Feststellung ruft nach einer theoretischen Interpretation, deren Eckpunkte ich aus pragmatischen Gründen dem Werk Friedrich Schleiermachers entnehme, weil sich bei ihm eine – so aufschlussreiche wie erläuterungsbedürftige – Verschränkung der Deutung von Religion und Musik findet. Schleiermachers Ästhetik, wie sie in knappster Weise in seinen späten Akademievorträgen über den Begriff der Kunst aus den Jahren 1831/32 skizziert ist, besitzt den unschätzbaren Vorteil, dass sie von elementaren Ausdruckformen menschlichen Lebens ausgeht.2 Für jede Kulturtheorie ist es bekanntlich ausschlaggebend, woher sie das kulturelle Vermögen der Menschheit bestimmt. Schleiermacher sieht den Ursprung der Kultur und damit der Kunst in der menschlichen Fähigkeit, sich auszudrücken. Damit ist gemeint, dass die organischen und physiologischen Möglichkeiten der Menschengattung in einem expressiven zeichengenerierenden Sinn gebraucht werden. Bewegung des Körpers und Einsatz der Stimme sind die elementaren Medien dieses ursprünglichen Ausdrucksfeldes. Es entsteht die Möglichkeit, eine Abfolge von mimisch-gestischen sowie von akustischen Signalen zu erzeugen, die dann als solche aufgenommen und verstanden, wiederholt und variiert zu werden vermag. Dabei steht der mimische Ausdruck in den Zügen des Gesichts auf der elementarsten Stufe, die Bewegung von Körper und Gliedmaßen folgen ihm sogleich nach. Die Stimme ermöglicht die Erzeugung von Lauten, abermals in der basalen Funktion des Ausrufs, bei dem alles auf den Klang ankommt, und des Wortes, in dem ein reproduzierbarer Sinn hinzukommt. Dieser Ausgang vom Ausdruck verknüpft zwei Dimensionen humaner Existenzweise, nämlich die leibliche Ausstattung mit differenzierungsfähiger Körper2
Schleiermacher 1984.
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lichkeit und die Fähigkeit, innerlich empfundenen Druck nach außen leiten und in Form darstellen zu können. Es ist, wie man sofort sieht, bemerkenswert, dass Schleiermacher sich damit der schlichten Aufteilung von Natur und Kultur entzieht, indem er unmittelbar auf dem Kreuzungspunkt beider Aspekte des Menschseins einsetzt. Es gibt kein Menschsein ohne Ausdruck, kein Menschsein ohne Kunst und Kultur. Aber die Kultur ist eben auch kein dichotomisch abgespaltenes Jenseits der Natur, sondern bedient sich ihrer auf elementarste Weise. Dass und wie Schleiermacher von diesem Grundgedanken her die Ästhetik aufbaut, kann hier nicht weiter gezeigt werden, man kann es aber fast erraten, wenn man sich nur den Gedanken klar macht, dass die ursprünglich-expressiven Äußerungen in Darstellungen gegenständlicher Art oder in wiederholbare Praktiken eingehen, die dann ihre eigene Geschichte entfalten. Mir kommt es an dieser Stelle auf ein anderes Moment an, das Schleiermacher in seiner Ästhetik nicht nennt, welches aber systematisch mit berücksichtigt werden muss, nämlich die Rolle der Religion. Allerdings muss ich zum Zwecke dieses ergänzenden Gedankens auf den frühen Schleiermacher zurückgreifen, nämlich auf die 2. Rede über die Religion von 1799.3 Bekanntlich ist eine der Leitformeln für das Verständnis der Religion in den Reden der Ausdruck „Anschauen des Universums“ (81). Das ist nun ein durchaus spannungsvolles Wortgebilde, das ein bisschen Aufwand erfordert, um es zu entschlüsseln. Anschauen, zunächst, ist eine humane Tätigkeit. Allerdings eine unvermeidliche, denn wir können auf das Anschauen, sofern wir nicht krank sind oder schlafen, gar nicht verzichten. Auch hier kommt die physiologische Grundausstattung unserer anthropologischen Existenz zum Einsatz. Allerdings verbindet sich mit dieser körperlichen Seite des Anschauens sogleich eine Sinndimension, und zwar in doppelter Hinsicht. Denn einmal wissen wir, dass und was wir anschauen. Anschauung erzeugt ein Bild des Angeschauten in uns. Das ist das eine, und das ist mehr als nur ein physiologischer Vorgang. Sodann, es muss uns Anschauliches begegnen. So sehr sich Schleiermacher kantianischen Grundeinsichten verpflichtet weiß – dass es allein der Verstand ist, der ungefüges Sinnlichkeitsmaterial in begreiflichen Sinn transformiert, das würde er nie behaupten. Vielmehr muss das Gegenüber selbst anschaulich sein, um angeschaut werden zu können. Es muss so etwas wie eine verständliche Welt geben, damit wir etwas verstehen können. Das bedeutet aber, dass die aktive Tätigkeit des Anschauens, wie sie uns in der Unwillkürlichkeit des Wahrnehmens bewusst ist, von der passiven Seite des Aufnehmens des Angeschauten begleitet wird, in der sich das Angeschaute selbst kundgibt. 3
Schleiermacher 1999, S. 75–115.
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Wollte man dieses Verhältnis erkenntnistheoretisch rekonstruieren, käme man auf Figuren, die sich bei Spinoza vorgebildet finden. Doch bis jetzt sind wir ja beim Anschauen stehengeblieben. Wir müssen uns nun weiter um das Universum kümmern, das wie ein Gegenstand der Anschauung eingeführt wird. Doch das geht ja nicht auf unmittelbare Art und Weise. Wir stehen ja drin im Universum und können uns von ihm kein äußerliches Bild machen. Was aber dann? Nun, wenn es sich wirklich um das Uni-versum handeln soll, von dem anschauend ein Bewusstsein errungen werden soll, dann besteht sein Wesen ja darin, dass im Einzelnen das Ganze präsent ist. Das Universum lebt sein Leben gerade nicht als leeres Ganzen oder toten Eines, sondern als lebendige Einheit des Verschiedenen. Das wiederum erlaubt es uns, in der Anschauung von Einzelnem das Ganze wahrzunehmen, indem wir zum Beispiel das unserem Begreifen vorauslaufende Vermitteltsein des Einen mit dem Anderen im Ganzen beobachten. Dann wäre der fortlaufende Prozess der Anschauung gewissermaßen die Ratifizierung der Präsenz des Universums; dann lässt sich aber auch dieser Prozess an jedem Punkt abbrechen, weil in jedem Einzelnen ja das Ganze gegenwärtig ist. Nun muss allerdings noch ein letzter Aspekt hinzugenommen werden, nämlich die Tatsache, dass wir als Anschauende ja selbst auch Momente des Universums sind. Auch unser Anschauen ist ein Zug in dem großen Spiel von Zusammenhängen und Verweisen, aus denen das Universum selbst besteht. Anschauen des Universums also ist, wie wir nun verstehen, eine Formel, die uns selbst in eine Bewegung hineinzieht, und es ist dieses Hineingezogenwerden, welches die Religion ausmacht. Doch lässt sich in diesem Strom des Aufeinanderverweisens nun noch ein spezielles Moment ausmachen, das uns als Menschen in ihrem religiösen Bewusstsein auszeichnet? Ja, und das muss auch unbedingt noch genannt werden: das ist das Gefühl. Darum lautet ja auch die vollständige Formel für das Wesen der Religion in der zweiten Rede, dass jede Anschauung des Universums mit einem Gefühl verbunden ist (86). Das Gefühl nämlich ist der Boden, an dem all das, was wir jetzt in unserer kleinen Analyse der bekannten Formel unterschieden haben, wie in einem einzigen Moment zusammenfällt. Wir sind als Wesen im Universum eben dadurch ausgezeichnet, dass wir in unserem Eingestelltsein ins Universum um unsere Anschauung nicht nur wissen, sondern dass das Universum in uns auf dem Boden des Gefühls geradezu nachzittert. Man kann von da aus verstehen, warum Schleiermacher in den späteren Überarbeitungen der Reden sowie in seiner Dialektik und der Einleitung in die Glaubenslehre den Gefühlsbegriff in den Mittelpunkt gerückt hat. Doch mir kommt es jetzt auf einen anderen Aspekt an, nämlich den Zusammenhang von ästhetischem Ausdruck und Anschauung des Universums. Denn, so lautet meine These: Die humane Fähigkeit des Ausdrucks, wie sie Kunst und Kul-
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tur zugrunde liegt, wurzelt in der Positioniertheit des Menschen im Universum, wie sie sich in der Religion erschließt. Erst das Gefühl als der innerste Boden der Präsenz des Universums erlaubt es, sich ausdruckshaft zu äußern. Denn allein in dem Bewusstsein von der Präsenz des Universums im eigenen Inneren wird die Selbständigkeit gewonnen, die die humanen Darstellungen als Äußerungen des eigenen Inneren ermöglicht – und sich damit von reinen Interaktionen im Geschiebe und Getriebe des Universums unterscheidet. Wenn nun, wie wir anhand des kurzen Blicks auf Schleiermachers Ästhetik sahen, die Musik zu den ursprünglichen Äußerungsformen des Menschen als eines kulturellen Naturwesens (oder als des naturgegründeten Kulturwesens) zählt, dann gehören Religion und Musik in der Tat untrennbar zusammen. Ja, man könnte sogar sagen, dass sich Religion spezifisch in künstlerischem Ausdruck äußert, sodass das, was da im Medium von Kunst geäußert wird, eine vorzügliche Stellung als Hinweis auf die Einheit des Universums im eigenen Gefühl besitzt. Wir können schon jetzt auch verstehen, dass sich die Musik in besonderer Weise aufs Gefühl bezieht. Allerdings sind wir bis jetzt noch nicht in der Lage, ihren spezifischen Bezug, etwa im Unterschied zur bildenden Kunst oder zum Drama, zu entschlüsseln. Dazu müssen wir uns im nun anschließenden zweiten Durchgang um die Differenz von Religion und Kunst und spezifisch im die Rolle der Musik unter den Künsten kümmern.
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Musik und Religion unterscheiden sich
Schleiermachers Grundidee, beim unmittelbaren Ausdruck als Wurzel der Kultur und Kunst anzusetzen, halte ich für überzeugend; ebenso, die Religion als Präsenz des Universums im Gefühl als den erforderlichen Hintergrund anzunehmen. Seine Aufstellungen lassen sich allerdings auch noch weiter differenzieren; auf andere Weise, als er das in seiner Ästhetik selbst getan hat, in der er nämlich auf den Zusammenhang mit der Religion nicht explizit eingeht. Die angekündigte Differenzierung möchte ich vornehmen, indem ich einem methodischen Verfahren folge, das man bei Ernst Cassirer lernen kann, nämlich der Beobachtung von symbolischer Formung oder der Einheitsbildung von Sinnlichkeit und Sinn. Wir werden sogleich sehen, was es damit auf sich hat.4 Der Ausgangspunkt der folgenden Überlegung ist die Tatsache der Vermitteltheit menschlichen Lebens in den Zusammenhang des – auch sinnlich sich darstellenden – Universums. Es gibt ein tiefes Einbezogensein humanen Daseins in die 4
Vgl. Cassirer 1994, S. 171–200, bes. S. 175.
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Wechselwirkungsprozesse der Natur. Dieses drückt sich auf der Ebene von Organismen in einem asymmetrischen Verhältnis aus, demzufolge Außenbeziehungen stets in irgendeiner Weise mit Binnenrelationen verbunden sind. Ja, man muss sagen, dass die beständige Wiederholbarkeit von externen Bezügen bei Organismen nur unter der Voraussetzung erfolgreich stabiler Innenbeziehungen möglich ist. Bei entwickelten Organismen, zu denen wir Menschen gehören, findet sich der Grad der Vermitteltheit ausgedrückt durch Einbeziehung von Sinneswahrnehmungen, die ein in gewisser Weise selbstgesteuertes Verhältnis zur Umwelt erlauben. Eben auf diesen Vorgang des spezifischen Einbezogenseins möchte ich das Augenmerk richten. Unsere Sinnesorgane sind die Schaltstellen dieser Vermittlung, und sie sind es auf verschiedene Weise und mit unterschiedlicher Funktion, von der Wechselwirkung der Sinne untereinander noch ganz abgesehen. Hier interessieren uns Hören und Sehen (Fühlen, Schmecken, Riechen lassen wir in diesem Zusammenhang unbeachtet). Was im Hören und Sehen (so wie für die anderen Sinne) der Fall ist, ist die Übersetzung von raumzeitlichen Ereignissen (Schallwellen, Lichtreize) in elektrische Impulse im Ohr bzw. Auge. Schon dieser Übergang ist ein besonderer Vorgang, der Aufmerksamkeit verdient. Denn der Übersetzungsvorgang bringt Gleichzeitiges (Klang, Lichtstrahlen) in eine Dimension des potentiellen Nacheinanders. Zugleich und Nacheinander bilden die beiden Momente, die sowohl Sehen wie Hören auszeichnen – allerdings in verschiedener Schwerpunktsetzung. Sind wir beim Sehen darauf eingestellt, das Miteinander von Verschiedenem zu synthetisieren und als Gemeinsames zu erfassen, das dann freilich in der Abfolge von Bildern sich auch ins Nacheinander transponiert, so verhält es sich beim Hören umgekehrt: Das Bewusstsein vom Nacheinander der Klänge wird zu einer Sinneinheit verdichtet – und das im durchlaufenden Strom neuer Klangereignisse. Die physikalisch beschreibbare Transformation von akustischen und optischen Impulsen also ist selbst schon eine Verschiebung, die es ermöglicht, auf die sogenannten Sinnesdaten als im Gehirn präsente Zustände zuzugreifen. Es handelt sich schon hier um ein Zusammenwirken verschiedener Ordnungen. Eben dieses wird explizit, wenn wir uns darauf besinnen, dass es eben für das Wahrnehmen von Impulsen, die von Klängen und Lichtstrahlen induziert wurden, eigener Ordnungen der Wahrnehmung bedarf, eben der Fähigkeiten zum Hören oder Sehen. Wir setzen diese Überlegung jetzt fort, indem wir uns auf das Hören konzentrieren. Mit der Frage nach der Genese und dem Status dieser Ordnungen kommen wir speziell auf den Punkt zu sprechen, den Schleiermacher in seiner Konzeption des ursprünglichen Ausdrucks bereits vorausgesetzt hatte. Wir können nun diesen bei ihm opak gelassenen Sachverhalt genauer beschreiben. Denn wenn es um Verarbeitungsprogramme der im Gehirn präsenten elektrischen Impulse geht, dann
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bedarf es eines irgendwie gearteten Regelsystems, nach dem diese Impulse analogisiert, gebündelt und rekombiniert werden können. Der Aufbau dieses Regelsystems (oder dieser Regelsysteme) verwendet auf der einen Seite die physiologisch bereitgestellten Strukturen des Gehirns, baut aber Schaltungen zusammen, die sich nicht aus dem Material ergeben, zu dessen Ordnung sie ja nötig sind. Speziell an diesem Punkt zeigt sich das, was Cassirer symbolische Form genannt hatte: Umgangsweisen mit sinnlichen Impulsen, die nicht aus diesen selbst stammen und auch nicht stammen können. Hier findet ein Hinzukommen des Geistes statt, das als Ursprung von Kunst und Kultur angesehen werden muss. Die Fähigkeit, dieses Vermögen auszubilden, liegt dabei durchaus in den Strukturen des Gehirns bereit; die rekombinatorische Selbstbeziehung, die auf dieser Ebene akut wird, ähnelt der Rekursivität organismischen Lebens und lässt sich ebenso wenig wie diese aus dem zugrundeliegenden Material ableiten. Was uns nun näher interessiert, sind die spezifischen Varianten der Ordnungen des Hörens. Laute bilden, in der Verarbeitung der elektrischen Impulse, Sinn: das ist die Grundregel. Das Sinnempfinden verdankt sich impliziten Regeln, die es erlauben, die Vielfältigkeit des Verschiedenen in Sinnzusammenhänge zu fassen. Wir können dabei mindestens zwei solcher Ordnungsformen unterscheiden. Der für die Ordnung der Laute als Sprache zuständige ist die Grammatik. In ihr formuliert sich aus, wenn man sie reflexiv beschreibt, wie man in der Zeit vergangene Sinneseindrücke festhalten und neu eintretende erwarten kann. Für die Ordnung der Klänge als Musik fällt die Bezeichnung, die der Grammatik der Sprache entspräche, schwerer; ich behelfe mich hier mit den Kunstausdrücken „Klangsysteme“ oder „Tonordnungen“. Sie erfüllen in jedem Fall dieselbe Funktion wie die Grammatik der Sprache, erlauben also das erinnernde Zusammenfassen von zeitlich vergangenen Lautereignissen und präparieren die Erwartung von möglicherweise kommenden Klängen. Dabei treten bereits jetzt die Unterschiede dieser Wahrnehmungsordnungen des Hörens ins Bewusstsein. So gewiss beide auf die Bestimmung lauthaften Sinns aus sind, so gewiss geschieht diese Vermittlung mit verschiedenen Akzentsetzungen. Was die Sprache angeht, besitzt sie die unschätzbare Eigenschaft, dass sie es ermöglicht, Bedeutungen zu schematisieren, die nicht selbst wieder sprachlich sind. Man kann das ihre objektive Intention oder ihre semantische Intentionalität nennen. Sprache ermöglicht es, Gedanken zu fassen, die sich als dieselben auch in anderer Sprachformation wiedergeben lassen. Das ist bei der Musik anders. Sie ist nicht semantisch-intentional, sondern syntaktisch-rekursiv verfasst. Musik kann nur sich selbst ausdrücken, nicht irgendwelche Sachverhalte. Gerade darin aber nimmt sie intensiver auf, was die Sprache nur indirekt anzusprechen vermag, nämlich die Gefühlsbasis aller Sinnbildung. Entsprechend ist auch die Entwick-
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lung von Systemen der Klangordnung, von Tonalitäten oder ähnlichem, anders verfasst. Es geht nicht um Präzision von Beschreibung, sondern um Intensität des Ausdrucks. Darum steht, phylogenetisch betrachtet, die Musik auf einer dem ursprünglichen Ausdruck näheren Ebene. Sprache und Musik stellen Sinnordnungen des Hörens dar; das sei in dieser Kürze angedeutet und damit seien vorläufig die Differenzen bezeichnet. Die Frage, die nun auftaucht, ist die nach der Religion in diesem Zusammenhang der sinnlichen Vermittlung von Sinn in der humanen Kultur. Die Stellung der Religion ist distanzierter zur sinnlichen Vermittlung von Sinn – und zugleich elementarer. Sie ist distanzierter, weil Religion nicht eine unmittelbare Verarbeitungsordnung von sinnlich-elektrischen Impulsen darstellt (weshalb es vermutlich irreführend ist, nach neurologisch feststellbaren Orten von Religion im Gehirn zu suchen). Sie ist elementarer, weil sie sich – als eigene Ordnung – auf den Sachverhalt bezieht, der der Sinnbildung selbst zugrunde liegt, nämlich die eigentümliche Rekursivität des künstlerisch-kulturellen Geistes. Wir haben vorhin im Vorübergehen gesehen, dass der Ursprung geistigen Sinnbildens aus dem Material, an dem es sich artikuliert, nicht herleitbar ist, wenn anders eine zugängliche Ordnung in den Sinneseindrücken überhaupt funktionieren soll. Darum bedarf es aber einer – strukturell ja möglichen – Deutung genau dieses Sachverhalts, nämlich des unbedingten Eintretens von Geist und Sinn. Eben das ist die Funktion von Religion. Sie stellt den Menschen ins Verhältnis zu einer Dimension oder einem Relat, also einem wie immer vorgestellten Gegenüber, durch welches gerade die sinngenerierende Rolle des Bewusstseins, also der Ordnungen des Sinnverstehens, selbst zum Gegenstand des Bewusstseins wird. In der Religion geht es, verkürzt gesprochen, um den Sinn des Sinns – wie er sich dann konsequent in der Wahrnehmung des Lebens in der Welt darstellt. Es versteht sich von selbst, dass in dieser Betrachtung die Ordnungen, die die Religion zu erfassen ermöglichen, ihrerseits wieder ins Verhältnis zur Kunst gesetzt werden; es gibt keine Religion ohne Sprache und Musik (um von den anderen Künsten hier aus pragmatischen Gründen zu schweigen). Ebendieser Sachverhalt, nämlich das Verhältnis von Religion, Sprache und Musik, soll uns als nächstes beschäftigen. Dabei lässt sich eine zweifache Beobachtung machen, die uns die intensive Verwobenheit der drei zu Bewusstsein bringt. Einerseits nämlich haben Sprache und Musik eo ipso als symbolische Formen Anteil an der religiösen Funktion, sofern sie Gestalten von kultureller Deutungskraft sind. Insofern darf man sie als implizit religiös bezeichnen, ohne dass eine spezifisch religiöse Semantik oder ein irgendwie religiöser Ton gebraucht würden. Andererseits kann sich die Religion gar nicht unmittelbar äußern, sondern nur so, dass sie ihre besondere Deutungsperspektive in Sprache und Musik (und Kunst) zum Ausdruck bringt. Es gibt daher stets einen religiösen Gebrauch beider – ohne
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dass sich darin eine religiöse Überwältigung, also eine Sachverhaltsdeformation von Sprache und Musik, geltend machen würde. Nehmen wir diese asymmetrische Wechselseitigkeit als grundlegend wahr, so lassen sich daran die spezifischen Verwendungsweisen von Kunst und Musik in der Religion näher bestimmen. Das intentional-semantische Potential der Sprache erlaubt es, hinsichtlich der Deutung des Deutungsursprungs narrativ zu verfahren, also den Anfang der Kultur des Menschengeschlechts in Geschichten zu erzählen – und dann auch über diese Geschichten und ihre Anwendung unter den Menschen Theorien zu verfertigen. Deutlich wird hier der Vorrang poetischer Sprachformen vor theoretischen Argumentabfolgen. Die eigentümliche Selbstbezogenheit der Musik dagegen nimmt das Moment der Zweckfreiheit und Unbestimmbarkeit des Sichereignens von Deutung auf. Musik in der Religion bringt zur Darstellung, dass das kulturelle Vermögen der Menschen den Charakter eines Wunders besitzt. Insofern gilt: In der Musik ist Religion präsent – die Musik in der Religion. Nun lassen sich selbstverständlich auch Sprache und Musik kombinieren; ja, sie werden sich, historisch gesehen, über weite Strecken stets gemeinsam artikulieren. Wo das aber der Fall ist, tritt die praktisch-technische Seite der weltlichen Lebensdeutungen in den Hintergrund und die religiöse Selbstdarstellung wird sichtbar. Es liegt nahe, dass dieses Syndrom dann auch nach Handlungsformen und -vollzügen verlangt, die von den Aktionen des materiellen Lebenserhalts unterschieden sind; kurzum: die Einheit von Sprache und Musik unter religiösem Vorzeichen verlangt nach ritueller Ausdrucksgestalt. Hier müssten wir jetzt auf das Verhältnis von Tanz und Bewegung zu Sprache und Religion zu sprechen kommen; auch die Architektur – im weitesten Sinne als Ortsbestimmung des Ritus – käme zu Wort. Schließlich müsste auch die Funktion von Skulpturen und Bildnissen thematisch werden. Grundsätzlich würden wir dabei der Wechselseitigkeit von Religion und kulturellen Ausdrucksgestalten wieder begegnen, wie wir sie vorhin beschrieben; das alles kann hier nur im Vorübergehen genannt werden. Ich habe die Argumentationsweise dieser letzten Überlegungen vorhin als eine symboltheoretische im Sinne Ernst Cassirers genannt. Dazu doch noch zwei Randbemerkungen. Einerseits liegt es durchaus auf der Hand, Sprache und Musik als zwei symbolische Ordnungen kultureller Deutung zu verstehen. Denn wie die Sprache ist auch die Musik ein auf sich selbst bezogenes Deutungsfeld, das es ermöglicht, Anderes zu verstehen. Auch die Musik wurzelt, wie die Sprache, in humaner Praxis. Andererseits fällt es auf, dass sich Cassirer selbst zur Musik gar nicht äußert, wohl aber zu Mythos, Religion und Sprache. Mir scheint, dass man diese Lücke in Cassirers Theorie durchaus schließen kann; seine Philosophie der symbolischen Formen gewinnt damit eine ästhetische Kontur, die dem manchmal steilen Logozentrismus des Autors entgegenwirkt.
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Diese symboltheoretische Betrachtung verweist nun jedoch erst auf die Strukturen des menschlichen Geistes. Sie besitzen freilich auch, wie alles in der Welt, eine historische Dimension. Diese historische Seite betrifft sowohl die Strukturen selbst als auch deren geschichtliche Darstellungs- und Erscheinungsweisen. Bereits für die anthropologische Strukturbildung muss man annehmen, dass sie, wenn einmal der Sprung auf die Ebene der Deutung gemacht wurde, Entwicklungen in Gang setzen, die zu einer inneren Veränderung und einer Verwandlung äußerer Verflechtungen führen. Das gilt schon für die Religion. In den geschichtlichen Religionen kommen nämlich, wie schon Schleiermacher in den Reden bemerkt hat, unterschiedliche Medien zum Einsatz, in denen vornehmlich die Anschauung des Universums stattfindet. Ebenso verändern sich die kulturellen Möglichkeiten des Gebrauchs von Sprache und Musik im Lauf der Geschichte im Zusammenhang des Geflechts von technisch-praktischer Weltbeherrschung, intensivierter Sozialstruktur und mitlaufendem humanem Selbstverständnis. Die Geschichte der Musik, um nur daran zu erinnern, entfaltet sich in der Kultur der Stimmen, in der Erfindung der Mehrstimmigkeit, im Bau und Gebrauch von Instrumenten. Zugleich verknüpfen sich sozialstrukturelle Verwendungsformen der Musik miteinander, verändert sich das Verhältnis von Komposition und Aufführung, erweitern sich Gestalten von Präsentation und Rezeption. Davon ist auch das Verhältnis zur Religion betroffen. Diesem Aspekt der historischen Transformationen von Religion und Musik wenden sich nun unsere Überlegungen im dritten Teil zu.
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Musik und Religion machen sich Konkurrenz
Alles, was nun zu sagen ist, steht unter dem Vorbehalt einer viel zu groben und vereinfachenden Zusammenfassung. Weil es aber in der Tat um einen Überblick gehen soll, sei die nachfolgende Skizze dennoch umrissen. Über die längsten Zeiten der Menschheitsgeschichte hin wird man davon ausgehen können, dass sich Bewegung und Tanz, Mimik und Gestik, Sprache und Musik im Ritus vereint haben. Die Funktion des Ritus ist gut beschrieben. Durch die Aussonderung von Zeiten und Orten sowie durch die religiöse Selbstbezüglichkeit der Liturgien an diesen markierten Plätzen wird einerseits die Besonderheit der religiösen Sphäre akzentuiert – in ihr geht es nicht um Jagd und Handwerk, sondern um die Inszenierung der Deutungskompetenz im Blick auf das Jenseitige und Wunderbare, wie es im menschlichen Leben vorliegt. Andererseits dient gerade dieses Herausheben des Heiligen dem diesseitigen Leben, das sich seines unendlichen Wertes versichert weiß – weshalb auch die Überwindung des Todes immer eine Rolle spielt. Wer oder was es mit dem Tod aufnehmen kann, das zieht
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Interesse auf sich, wird kultiviert und verehrt. Dass in diesen Zusammenhängen Musik eine besondere Rolle spielt, ist nach der Analyse ihres strukturell-symboltheoretischen Ortes mit Sicherheit anzunehmen. Auch das Christentum folgt grundsätzlich dieser Funktionsbeschreibung, allerdings mit spezifischen Akzentuierungen. Denn es findet sich in ihm eine besondere Zuspitzung auf das Geschick des individuellen Lebens angesichts des Todes, wie sich dieses im Verhältnis zu Gott als dem einen, grundlegenden und endgültigen Gegenüber des Menschen darstellt. In der Erinnerung der Jesus-Geschichte und in der Erzählung von der Versöhnung durch seinen Tod wandelt sich das Verhältnis des Menschen zu Gott aus dem Status der Feindschaft in eine unverbrüchliche Lebensgemeinschaft. Es ist unübersehbar, dass es sich dabei um ein Wunder im strengen Sinn handelt, denn es ist grundbegrifflich ausgeschlossen, diesen Übergang in irgendeiner Weise selbst vollziehen oder auch nur sich verdienen zu können. Der christliche Gottesdienst ist darum, in allen seinen Formen, auf die Symbolisierung dieses Übergangs eingestellt – eine Symbolisierung, in der und vermöge derer er sich selbst vollzieht. Das bedeutet freilich nicht, dass auch im Christentum selbst Variationen dieses Vorgangs ausgeschlossen wären, im Gegenteil; und das ist nun der Punkt, auf den sich unser weiteres Interesse konzentriert, insbesondere im Blick auf die Musik. Für die Gottesdienstformen, wie sie sich im westlichen Christentum der ersten fünfzehn Jahrhunderte herausgebildet haben, kann man die Musik vornehmlich an zwei Orten lokalisiert finden: in den Stundengebeten der Klöster und in der Messe. In den Horen sind es die Texte der Psalmen mit ihrer Wechselseitigkeit des Vortrags, die die Musik provozieren. Dabei kommt dem antiphonalen Gegenüber eine strukturierende Bedeutung zu, die es erlaubt, die in Sprache gefassten religiösen Gehalte anzueignen. Die Musik ist insofern Trägerin der auf rein literarischem Feld nicht vollendbaren geistlichen Rezeption der Psalmen. Bei den Messtexten verhält es sich anders, sofern hier die Textmenge beschränkter ist. Insofern wird man sagen können, dass die musikalische Grundierung der Messe eher auf das zentrale rituelle Geschehen, nämlich die Wandlung der Elemente in der Eucharistie und das in ihr dargebrachte Opfer, ausgerichtet ist. In ihr vollzieht sich die elementare Begegnung von Jenseits und Diesseits. Dass sich beide Schwerpunkte liturgischer Musik berühren und befruchten, steht außer Frage, etwa im Blick auf die Mehrstimmigkeit. Dass die Musik der Übersetzung religiöser Vollzüge in die gestaltete Aneignung dient, ebenfalls. Dass sie in der Liturgie des westlichen christlichen Gottesdienstes bis ins 15. Jahrhundert hinein eingebettet bleibt in den umfassenden Ritus, aber nicht minder. In dieser Beziehung markiert die Reformation einen Wandel, und der geht nicht von der Musik, sondern von der Sprache aus. Denn als Religion des Wortes Gottes konzentriert die Reformation den religiösen Übergang im Inneren, um den es
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schon immer im Christentum ging, ganz auf den eigenen Glauben und das eigene Verstehen. Buße und Gnade, Gesetz und Evangelium sind die Marksteine dieses Übergangs. Damit ist die Basis der symbolischen Formung selbst angesprochen, also die Kompetenz, sich überhaupt verstehend zu betätigen. Die früher akute Frage nach der Neueinstellung des Lebens in einen übergreifenden Aktionszusammenhang tritt demgegenüber zurück. Das Wunder des Glaubens findet im eigenen Inneren statt – und darauf bezieht sich dann auch die Musik. In den Psalmen findet sich diese gegensätzliche Selbstauslegung zwischen eigener Sünde und Gottes Gnade vorgebildet, aber noch zu schlicht schematisiert. Stärker noch als zuvor kommt es auf die gefühlte Gegensatzspannung von Furcht und Freude an, die die Extreme des Gefühls ausmisst. Damit gewinnt die Musik eine neue, ihr aber höchst gemäße Zielrichtung, nämlich in diesen Gegensatz selbst einzuführen und durch ihn hindurchzuführen. Damit das geschehen kann, bedarf es des eigenen Singens aller Christenmenschen im Gottesdienst; denn so wird nicht nur hörend, sondern selbst praktizierend das Gefühl erschlossen. Dafür wird dann auch die Verwendung von Texten erforderlich, bei denen die individuelle Aneignung im Mittelpunkt steht, weil sie selbst dem religiös konnotierten Gefühl entsprungen sind. Gerade wenn sich, wie die neuesten Forschungen es nahegelegt haben, der Gemeindegesang erst im Laufe der Reformation fest eingebürgert haben sollte, bekräftigt das die hier erwogene These, dass nämlich die Musik im Gottesdienst, hier: der Gemeindechoral, nicht Ursprung oder Medium, sondern antwortende Konsequenz des gehörten und wirksamen Wortes Gottes darstellt, Spiegel des Wortes Gottes im Herzen. Es ist also die Konzentration auf das Wort, welche der Musik in ihrem Verhältnis zur Religion einen neuen Platz anbietet. Einen Platz, an dem die spezifische Beziehung der Musik zum Grund des symbolbildend aktiven Bewusstseins besonders dicht ist. Die historische Einstellung auf die den Umgang mit Gott und mit sich selbst vertiefende Rezeption des Wortes eröffnet der Musik den Weg zu der Stellung, die in ihr strukturell immer schon angelegt war. Die geschichtliche Entwicklung der Religion im Protestantismus besitzt so eine über die Religion selbst hinauswirkende Bedeutung. Insofern wäre es kurzschlüssig, die nachfolgende Geschichte der Musik als bloßes Ergebnis der Reformation, als sei sie deren Eigentum, vorzustellen und zu behaupten. Vielmehr ist der Weg der Musik nach dieser vertiefenden Neuorientierung alles andere als geradlinig und einsinnig. Darauf sei mit einigen Beobachtungen verwiesen. Ein gewichtiges Problem der reformatorischen Frömmigkeit, wie sie in der altprotestantischen Theologie schematisiert wurde, resultiert aus der Zwiespältigkeit des Wortes, das für die Gewissheit des Heils, also die unbedingte Zugänglich-
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keit des eigenen symbolbildenden Bewusstseins, zuständig ist. Einerseits nämlich ist das Wort Anrede und verstrickt in einen Kommunikationszusammenhang, der Gott und Mensch aufeinander bezieht und miteinander versöhnt. Andererseits ist vom Wort sein Charakter, Aussagen zu bilden, nicht fernzuhalten. In welchem Sinne und in welchem Ausmaß ist dann aber die Triftigkeit von Aussagen, die sich stets in eine Verflechtung mit anderen Aussagen verwickelt sehen, grundlegend für die Aneignung der Begegnung mit Gott? Man sieht es leicht, dass an dieser Stelle das Problem des Konflikts zwischen religiös-theologischen und weltanschaulich-wissenschaftlichen Aussagen aufbricht. Gerade dann, wenn die Gewissheit des Glaubens ganz vom Wort abhängt, steht sie in Gefahr, ihre spezifisch religiöse Begründung mit einer allgemeinen weltanschaulichen Grundierung zu verwechseln. Mit diesem Geschick hat es die Theologie seit der Aufklärung zu tun, die ja nun ihrerseits gerade auf der Basis einer Gewissheit argumentiert, deren Behauptung ohne eine religiöse Grundlegung vermutlich gar nicht möglich gewesen wäre. Wo wissenschaftliches Wissen und religiöse Gewissheit miteinander in Konflikt treten, gewinnt die Musik eine neue Bedeutung für das menschliche Leben. Just an dieser Stelle nämlich kommt die besondere Funktion der Musik, ihre prä- und nonverbale Affinität zum Gefühl als Ort der Gewissheit, einen kräftigen Akzent. Einerseits wird der biblische Text in seiner narrativen Dimension zur Wortfolie der Musik, wie man besonders deutlich an Bachs Passionen, aber auch an den Kantaten des Weihnachtsoratoriums sehen kann. Andererseits wird die subjektiv-rezeptive Seite der Choräle durch die Arien von Bachs Kantaten betont; es eröffnet sich auf der Basis der Komposition und ihrer hörenden Aneignung eine Möglichkeit der Variation individueller Annahme des Glaubens. Hermann Cohen hat einmal in seiner „Ästhetik des reinen Gefühls“ die These geäußert, die dem biblischen Text folgenden Oratorien bildeten das Grundmuster der Oper [Anm.] Cohen 2005, 159. Ob das historisch zutrifft, mag dahingestellt bleiben. Einen sachlichen Anhalt besitzt seine Auffassung aber gerade darin, dass die Stoffe der Oper aus der religiösen Welt ausziehen, um ihre von der Religion ermöglichte eigene Position einzunehmen. Denn mit dem Genus der Oper erreicht die Musik eine neue Stufe ihrer Entwicklung. So sehr anfangs mythologische Stoffe der Antike, noch im Nachklang der Renaissance, als Handlungsfolien der frühen Opern gebraucht wurden, wo wenig kam es auf die dort vorgegebenen Handlungen selbst an. Vielmehr arbeitet die Musik aus den Verwicklungen und Verstrickungen des Librettos einen Gegensatz heraus, der auch wiederum nur durch die Musik selbst gelöst werden kann. Was wir vorhin zum Gegenüber von Furcht und Freude als religiös konnotierte Extreme des Gefühlslebens beobachteten, besitzt seine Transposition in der Oper als die Spannung der Liebe zwischen Abgrund und Erfüllung. Monteverdis Orfeo, dieses
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Wunderwerk früher Opernkomposition, führt ja allein die Musik als Auflösung des Todesproblems, als Verewigung nicht nur irdisch, sondern auch im Jenseits unerfüllbarer Liebe ein, und von Mozarts da Ponte-Opern könnte man Analoges sagen. Wie sehr die Musik in ihrer Gestalt als Oper den Ort der Religion selbst einnimmt, zeigt insbesondere das Werk Richard Wagners, von der Liebesreligion im Tristan bis hin zum zweifelhaften religiösen Remake des Parsifal [Anm.] Vgl, jetzt dazu: Korsch 2018. Doch auf die Oper, so sehr sich an ihr die Aneignung und Verwandlung des religiösen Stoffes beobachten lässt, muss die neue, moderne Funktion der Musik gar nicht begrenzt werden. Das, was man gern „absolute Musik“ nennt, zehrt nicht minder von der Unbedingtheit der Musik und ihrem Bezug zur Mitte des symbolbildenden Bewusstseins, welches eben auch der Ort der Religion ist. Die Werke des späten 18. und weiter Strecken des 19. Jahrhunderts, die noch immer das Bild „klassischer Musik“ prägen, zeichnen sich eben durch den unbedingten Zugriff auf das humane Innere aus der Logik der Musik selbst aus, das gilt für Beethovens späte Klaviersonaten ebenso wie für Schuberts späte Streichquartette, um nur zwei naheliegende Beispiele zu erwähnen. Man kann – wir dachten vorhin im Vorübergehen schon einmal daran – auch auf die sich mit der Musik verbindenden sozialen Umstände achten, die das religiöse Potential anschaulich machen, welches die selbständig gewordene Musik sich angelagert hat. Das geht vom Bau der Opernhäuser und Konzertsäle über die Andacht des Hörens und den Geniekult der Interpreten bis zur Etablierung einer umfassenden Musikindustrie. Soziale und wirtschaftliche Größen stellen sich als Ausformungen ästhetischer Phänomene dar; dass dann diese Erzeugnisse der Musik selbst wieder Musik, in Komposition und Ausführung, bestimmen, liegt in der Konsequenz dieser Bewegung selbst. Was wir in der Folge dieser Entwicklung heute beobachten – und was selbst einen religiösen Charakter aufweist –, ist die Omnipräsenz von Musik in der gegenwärtigen Lebenswelt. Dazu rechne ich zuerst die universelle Verfügbarkeit von Musik, wie sie durch das Internet und die damit verbundenen Empfangs- und Vermittlungsgeräte gegeben ist, die man jederzeit bei sich tragen kann. Dazu kommt zweitens der gezielte Einsatz von Musik in der Öffentlichkeit, zumal des Marktes, um durch Zugriff aufs Gefühl Erwerbsabsichten zu verdichten. Der Ausbau der Musikindustrie – und ihr nötiger, aber noch nicht abgeschlossener Formwandel auf der Basis der universellen Präsenz – kommt als ökonomische Rahmenbedingung hinzu. Dass sich damit auch die Lebensumstände der Musiker, der Komponisten wie der Interpreten, ändern werden, darauf sei wenigstens hingewiesen. Allerdings ist an dieser Stelle und zum Abschluss meiner Erwägungen noch einmal in kritischer Absicht an die von der Religion mit ausgelöste Wende in der
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Geschichte und Funktion der Musik zu erinnern. Ihren starken Zugriff aufs Subjekt verdankt die Musik nicht zuletzt der reformatorischen Freilegung dieses gewissheitszentrierten Mittelpunkts im Menschen. Die reformatorische Theologie war sich dabei in allen ihren Spielarten einig, dass es sich beim Aufbau dieses Bewusstsein um einen Vorgang handelt, den der Mensch nicht aus eigener Kraft vollbringen kann. Vielmehr bleibt sein Bewusstsein, auf ihn selbst geblickt, ein in sich gespaltenes Phänomen, im Gefühl aufgespannt zwischen Furcht und Freude, immer ausgerichtet auf das Gegenüber, von dem allein her ihm seine Einheit in der Differenz verheißen ist. Es dürfte nicht sinnlos sein, diese Konstellation auch als Maß der Beurteilung musikalischer Phänomene heranzuziehen, und zwar gerade dann, wenn Musik auch einen solchen Zugriff aufs Bewusstsein vornimmt. Dann kann man nämlich grundsätzlich zwischen zwei Arten der Musik unterscheiden: einer solchen Musik, die um ihre Stellung vor dem in sich gebrochenen Bewusstsein weiß und sich gerade darauf bezieht; selbst die Gebrochenheit schematisierend, aber auch mit ihren ästhetischen Mitteln Versöhnung versprechend – und einer solchen Musik, die das Geheimnis des Bewusstseins nicht respektiert, ja nicht einmal kennen will, und die sich darum grundsätzlich besitzergreifend zu ihm verhält. Man muss befürchten, dass es dieser letzte Typus von Musik ist, der mehr und mehr auf Omnipräsenz drängt. Insofern sollte eine Kritik der Musik auf Grundlage der Religion angezeigt sein; nötig ist sie gewiss. Allerdings kann auch die Religion von der Musik lernen, zumal der zeitgenössischen, die sich einfacher Gleichmacherei verweigert. Denn die Religion, vielleicht der Protestantismus in besonderer Weise, steht auch in der Gefahr der Trivialisierung, der Anpassung an die Harmlosigkeit. Die sensiblen Klänge gegenwärtiger Musik – durchaus von verschiedenem Typ und Stil – können auf die Gebrochenheit des Bewusstseins verweisen, dessen Rettung den Kern evangelischer Frömmigkeit ausmacht. Und die religiös unmusikalischen Menschen? Vielleicht sind sie ja, wie Max Weber selbst, durchaus mit musikalischem Sinn begabt. Sie müssen dann nicht „irgendwelche seelischen ‚Bauwerke‘ religiösen Charakters“ in sich errichten, wie Weber an der angeführten Stelle vermutet; ihre Musikalität selbst könnte bereits ein Anzeichen der Religion sein. Und die religiös Bewegten täten gut daran, die in der Religion aufscheinende Musikalität nicht nur zu ihrem Genuss und ihrer Erhebung, sondern um des Glaubens willen zu entdecken und zu pflegen, statt die Religion zu einer Weltanschauung gerinnen zu lassen. Die Religion in der Musik und die Musik in der Religion – wir haben, in einem eher plakativen Überblick, auf die anthropologische Wurzel beider geschaut, wir haben ihre symboltheoretische Differenz zu verstehen versucht, wir haben Wendepunkte ihrer gemeinsamen Geschichte ins Auge gefasst. Religion und Musik – sie
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gehören beide in eine Kultur, die von den Differenzen lebt, die in ihr präsent sind. Und sie sind beide hilfreich, in diesen Differenzgeflechten standzuhalten. Man darf sie beide als von Gott geschaffene Umgangsweisen mit dem Leben ehren.
Literatur Baumgarten, Eduard (Hrsg). 1964. Max Weber. Werk und Person. Tübingen: Mohr. Cassirer, Ernst. 81994. Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften. In Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs, ders., 169–200. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Cohen, Hermann. 32005. Ästhetik des reinen Gefühls. Hildesheim etc.: Olms Dietrich Korsch (Hg.). 2018. Religion der Liebe. Drei Fallstudien zur Oper in theologischmusikästhetischer Betrachtung, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Schleiermacher, Friedrich. 1984. Ästhetik (1819/24). Über den Begriff der Kunst (1831/32), hrsg. Thomas Lehnerer. Hamburg: Meiner. Schleiermacher, Friedrich. 1999. Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hrsg. Günter Meckenstock. Berlin/New York: de Gruyter.
Philosophie als „größte Musik“ und Musik als höchste Philosophie? Zu Tragweite und Grenze einer Analogie Jürgen Stolzenberg
I Der Ausdruck Philosophie als ‚größte Musik‘ ist ein Zitat. Seine Quelle ist Platons Dialog Phaidon. Sokrates berichtet im Gefängnis vor seiner Hinrichtung von einem oft wiederholten Traum, der ihm unter wechselnden Gestalten immer wieder dasselbe gesagt habe, nämlich dass er Musik machen und treiben solle.1 Im Folgenden geht es um die Deutung dieses Traums. Sokrates kann ihn nicht recht verstehen, zumindest scheint es so. Denn, so erklärt er, er habe immer gedacht, dass der Traum ihn nur zu dem ermuntere, was er immer schon getan habe: „weil nämlich die Philosophie die größte [höchste, vortrefflichste] Musik ist (μεγίστη μουσική – megíste mousiké) und ich diese doch trieb“.2 Jetzt aber, nach dem Urteilsspruch und weil die Vollstreckung des Todesurteils wegen des Apollon-Festes verschoben worden sei, habe er, um auch eine andere Deutung des Traums nicht auszuschließen und danach zu handeln, damit begonnen, sich mit der „Musenkunst im gewöhnlichen Sinne“3 (ἡ δημώδης μουσική – he demódes mousiké) zu beschäftigen; und weil er dachte, dass ein Dichter Fabeln dichten müsse, habe er 1 Platon, Phaidon, 60e. 2 Platon, Phaidon, 61a. 3 Platon, Phaidon, 61a. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_3
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einige ihm bekannte Fabeln des Äsop in Verse gebracht und einen Hymnus auf Apoll gedichtet. Hier ist einiges irritierend und unklar. Sokrates’ Wort, dass die Philosophie, die er bisher betrieben habe, doch schon die größte, höchste und vortrefflichste Musik sei, verweist auf die Bedeutung von Musik im Sinne der Musiké wie sie bei Platon und in der Alten Akademie geläufig war.4 Der Begriff Musiké, darin sei hier nur erinnert, umfasst demnach jede Form musischer und geistiger Tätigkeit, insbesondere die auf die Künste bezogenen Tätigkeiten wie die rhythmisch und melodisch vorgetragene Dichtung sowie den Tanz und die bildende Kunst, aber auch die Mathematik und Astronomie, da nach der Auffassung der pythagoreischen Schule die in Zahlenverhältnissen darstellbaren Intervalle der Töne als Grundlage der harmonischen Verhältnisse der Himmelskörper galten. Ein weiteres Element ist die pädagogische, charakterbildende Funktion der Musiké, durch die eine durch Schönheit und Harmonie bestimmte Lebensform begründet werden soll. Musiké ist somit nicht nur Inbegriff der von den Musen bewegten Künste, sondern auch Grundlage für die Erkenntnis der harmonikalen Ordnung des Kosmos, die im Vollzug der musischen Tätigkeiten zur Darstellung gebracht wird. Die Philosophie ist insofern ‚größte, höchste, vortrefflichste Musik‘, als sie nicht nur selber zu den musischen Tätigkeiten zählt, sondern darüber hinaus auch die Prinzipien der Ordnung alles Seienden, die Ideen, erkennt und durch sie eine von der Liebe zur Weisheit geprägte Lebensform begründet. Soweit die naheliegende und oft vertretene Deutung von Sokrates’ Wort von der Philosophie als höchster Musik. Bei näherem Zusehen kann man sich indessen damit nicht zufrieden geben. Unklar ist, warum Sokrates seinen wiederholten Traum nur als eine Ermunterung zu dem, was er immer schon betrieben habe – „wie man einen Laufenden anzutreiben pflegt“–, 5 deuten kann, und nun, kurz vor seinem Tode, als Alternative das eher verlegene, mehr oder weniger selbstironische Bekenntnis zur „Musenkunst im gewöhnlichen Sinne“ vorträgt, die er nun betreibe, indem er, der, wie er bekennt, doch kein Dichter sei, die ihm bekannten lehrhaften Fabeln des Äsop in Verse bringt, mit einem Hymnus auf Apoll als Einleitung. Folgende Überlegung bietet sich an. Sie geht ebenfalls von Sokrates’ bisherigem Leben als Philosoph und von der skizzierten weiten Bedeutung von Musiké aus. Als Philosoph hat Sokrates sich zeit seines Lebens zum Prinzip der Rationalität bekannt, dessen Domäne die rationale Analyse der für die menschliche Lebensführung zentralen Begriffe und Argumente ist. Die in den wiederkehrenden Träumen an ihn ergehende Aufforderung, die Musenkünste zu pflegen, ließe sich 4 Vgl. Sier 2009, S. 123–166. 5 Platon, Phaidon, 61a.
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von hieraus als die Aufforderung verstehen, das Prinzip der Rationalität und den argumentativen Diskurs als einzigen Weg, der zur Erkenntnis der Prinzipien führt, aus denen das menschliche Leben seinen Sinn gewinnt und aus denen auch der Zusammenhang der Welt begriffen werden kann, zu überwinden und einen anderen Weg und einen anderen Diskurs zu wählen, den Diskurs der Musiké, des Mythos’ und der Künste.6 Von hieraus erscheint Sokrates’ Entschluss, am Ende seines Lebens sich „nicht [mit] vernünftige[n] Reden“,7 sondern mit Versen, genauer der Übersetzung ihm bekannter Verse, zu beschäftigen, doch immer noch in einem hintersinnig-irritierenden Licht. Denn offenkundig tut er dies wiederum und immer noch vom Standpunkt der Rationalität aus, indem er gerade die moralisch-lehrhaften Fabeln des Äsop in Verse setzt, in denen die rational einsichtigen Maximen eines richtigen Lebens angesichts der menschlichen Schwächen das beherrschende Thema sind. Vom Ende des Dialogs her gesehen erscheinen Sokrates’ Vers-Übungen jedoch in einem anderen Licht, das den Sinn von Sokrates’ Verhalten allererst verständlich werden lässt. Am Ende des Dialogs trägt Sokrates selber einen Mythos, eine „schöne Erzählung“ (μῦθον καλόν – mýthon kalón), vor, an der er, wie er bekennt, „schon so lange [spinnt]“,8 und das heißt wohl auch, solange ihn jene Träume beschäftigen. Diese Erzählung handelt von dem Schicksal der Seele nach dem Tode.9 Vor ihr aus fällt ein neues Licht auf Sokrates’ Leben als Philosoph und seine Erklärung, doch schon immer die Philosophie als Musenkunst betrieben zu haben. Denn nun erklärt Sokrates selber,10 dass nicht die rationale Erkenntnis allein, sondern der Glaube an und das Vertrauen auf die Wahrheit jenes Mythos’ das letzte Wort ist und so erst ein Leben zu rechtfertigen vermag, das sich von den Tugenden der „Besonnenheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Edelmut und Wahrheit“11 hat leiten lassen.12 Auf diese Weise interpretiert Sokrates seinen so oft gehabten Traum am Ende auf die allein angemessene Weise mit jener Erzählung durch die 6 Vgl. Roochnik 2001. 7 Platon, Phaidon, 61b. 8 Platon, Phaidon, 114d. 9 Platon, Phaidon, 107d–115a. 10 Platon, Phaidon, 114d. 11 Platon, Phaidon, 114e. 12 Dem geht folgende Erklärung Sokrates’ voraus: „Dass sich nun dies alles gerade so verhalte, wie ich es auseinandergesetzt habe, das ziemt sich wohl einem vernünftigen Mann nicht zu behaupten; dass es jedoch, sei es nun diese oder eine ähnliche Bewandtnis haben muss mit unsern Seelen und ihren Wohnungen, wenn doch die Seele offenbar etwas Unsterbliches ist, dies, dünkt mich, zieme sich gar wohl und lohne auch zu wagen, dass man glaube, es verhalte sich so. Denn es ist ein schönes
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Tat, indem er der Aufforderung des Traums nachkommt bzw., wie er sagt, schon seit langem insgeheim nachgekommen ist, die Musenkunst zu betreiben und auf diese Weise das Prinzip der Rationalität als einzige Instanz der Wahrheitsfindung zu relativieren.13 Aus der Perspektive der Gesamtkomposition des Dialogs erscheint Sokrates’ Aktion, Verse zu den Fabeln des Äsop zu schmieden und einen Hymnus auf Apoll zu dichten, dann als eine spezifische Methode der Darstellung, als eine Art ironisch-dialektischer Übung, um Sokrates’ wahre Musenkunst umso deutlicher zu profilieren. Wenn im zweiten Teil des Vortragstitels nun von Musik als höchster Philosophie die Rede ist, dann ist damit eine andere Bedeutung verbunden. Sie greift auf die Moderne und eine in ihr formulierte Auffassung von Musik aus, die die Funktion von Musik in Analogie zur Philosophie auffasst. Zu nennen ist hier vor allem die Musikphilosophie Arthur Schopenhauers, nach der Musik „das innerste Wesen der Welt und unseres Selbst“14 zur Darstellung bringt und Richard Wagners, aber auch etwa Alexander N. Skrjabins15 Auffassung, derzufolge Musik die Leistung der Philosophie übertrifft. Zu nennen ist dann aber auch der junge Friedrich Nietzsche, der in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik16 der „Traumerscheinung“17 des Sokrates und dem „musiktreibenden Sokrates“18 eine eigenständige Deutung gibt und ihm eine geschichts- und kulturphilosophische Wirkungsmacht zuschreibt, die von der Antike bis in die Moderne reicht. Der Musik, der in seinem Sinne „wahrhaft dionysischen Musik“,19 als die er hier, mit Referenz auf Schopenhauers Metaphysik der Musik, die Musik Richard Wagners versteht, spricht Nietzsche die Kraft zu, gegen den herrschenden Geist der neuzeit-
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Wagnis, und man muss mit solcherlei gleichsam sich selbst besprechen. Darum spinne ich auch schon so lange an der Erzählung“ (Platon, Phaidon, 114d). Nicht zu unterschlagen ist, dass Sokrates’ Erklärung, nunmehr die Fabeln des Äsop in Verse zu bringen, eine an den Sophisten Euenos adressierte und auf ihn gemünzte, wiederum ironische Antwort ist, der, wie Sokrates hier bemerkt, selber Gedichte mache und, wie es in der Apologie heißt, als Rhetoriker für fünf Minen „menschliche und bürgerlichen Tugend“ (Platon, Apologie, 20b) lehre. Schopenhauer 1988, S. 339. Näher siehe dazu unten Abschnitt IV. Vgl. Stolzenberg 2013. Nietzsche 1999. Nietzsche 1999, S. 96. Nietzsche 1999, S. 102. Nietzsche 1999, S. 112.
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lichen Naturwissenschaften „den Mythus wieder aus sich gebären zu können“20 und damit „zum Abbilde einer ewigen Wahrheit“21 zu werden. Die folgenden Überlegungen orientieren sich jedoch nicht an Nietzsche und seiner Sicht der Dinge. Sie ist durchaus problematisch. In Sokrates nämlich vermag Nietzsche allein „den Typus des theoretischen Menschen“22 zu sehen, den nur in seinen Träumen und kurz vor seinem Tode eine Ahnung von den Grenzen der Theorie überfällt, die von der Kunst überwunden werden. Das ist, wie gezeigt, nicht der Gehalt des Dialogs, und darin besteht auch nicht die Rolle des ‚musiktreibenden Sokrates‘. Daher ist auch Nietzsches großräumige kulturkritisch-geschichtsphilosophische Konstruktion nicht überzeugend. Es kann und soll hier aber auch nicht auf Wagners eigene Theorie des Mythos und seinen Versuch einer Renaissance der attischen Tragödie unter den Bedingungen der Moderne eingegangen werden.23 Die folgenden Überlegungen orientieren sich vielmehr an einem systematischen Problem, das in beiden Teilen des Vortragstitels und in den beiden Bereichen, auf die sie Bezug nehmen, gleichermaßen enthalten ist, wenngleich in kulturgeschichtlich höchst unterschiedlichen Ausprägungen und Kontexten. Es besteht in der Frage, ob und auf welche Weise der Kunst, und, nach dem Verlust der antiken Einheit der Musiké, insbesondere der im 18. Jahrhundert selbständig gewordenen reinen Instrumentalmusik, der sogenannten ‚absoluten Musik‘ – eben darauf nimmt der zweite Teil des Titels Bezug –, nicht nur ein Erfahrungsraum sui generis, sondern darüber hinaus auch eine eigenständige Rationalität und Erkenntnisqualität zukommt, die einer theoretischen Erkenntnis, die dem Prinzip der diskursiven Rationalität verpflichtet ist, prinzipiell überlegen ist, und zwar deswegen, weil die Musik mit ihren Mitteln etwas auszudrücken und zu verstehen zu geben vermag, das für das menschliche Leben von ungleich höherer Bedeutung ist als das, was mit den Mitteln der Ratio mitgeteilt und verstanden werden kann.24 In dieser Frage ist das Erbe der antiken Musiké, wie es in Platons Dialog in Gestalt des musiktreibenden, dem Mythos vertrauenden und nur in diesem Vertrauen eine letzte Lebensrechtfertigung gewinnenden Sokrates dargestellt ist, in verwandelter Gestalt enthalten, anders als der junge Nietzsche es verstanden hat. 20 21 22 23 24
Nietzsche 1999, S. 111. Nietzsche 1999, S. 112. Nietzsche 1999, S. 98. Vgl. Stolzenberg 2018 sowie Bermbach 2004. Vgl. hierzu neuerdings Zehentreiter 2017. Zehentreiters Untersuchung ist von der „Hintergrundfrage“ geleitet: „Nach welchen Kriterien kann Musik als gültige Äußerung sui generis mit einer spezifischen Erkenntnisqualität bezeichnet werden?“ (S. 9). Zum vorliegenden Zusammenhang siehe Zehentreiter 2017, S. 13–113.
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Eine Antwort findet diese Frage gemeinhin mit Bezug auf die sogenannte musikalische Romantik, vorbereitet durch die Epoche der Empfindsamkeit, unter dem Stichwort einer musikalischen Autonomieästhetik. Ihr Thema ist die Emanzipation der reinen Instrumentalmusik. Ihr wird nicht nur ein Erlebnisraum sui generis, sondern auch eine eigenständige Erkenntnisqualität zugesprochen, die alle diskursiv vermittelbaren Gehalte übersteigt und für das menschliche Selbstverständnis insgesamt von unüberbietbarer Bedeutung ist.25 Der prominenteste Zeuge hierfür ist, wie bereits gesagt, Schopenhauer. Eine solche Sichtweise verdeckt jedoch wesentliche Aspekte. Sie verdeckt die musikhistorischen Zusammenhänge, in denen die aus der Antike stammende Problematik sich über die Spätantike und das Mittelalter transformiert und bis in die Epoche der musikalischen Empfindsamkeit und Romantik wirksam ist. Und sie wird auch nicht den Motiven gerecht, die in historischen Diskursen über Musik enthalten sind, in denen Antworten auf diese Problematik zu finden sind. Im Folgenden soll und kann hier allerdings nur ein Motiv in begrenzten Ausschnitten und eine damit verbundene These vorgestellt werden. Dieses Motiv betrifft, nur scheinbar abgelegen, die Tradition des wortlosen religiösen Gesangs in Gestalt der Jubilatio und ihre Bedeutung für die Begründung der musikalischen Autonomieästhetik.26
II In dieser Absicht beginne ich mit einem Zitat aus den Psalmenkommentaren des Augustinus, hier dem Kommentar zu Psalm 33,4: „Singet dem Herrn ein neues Lied“: „Du sollst nicht nach Worten suchen, als könntest du dich erklären und dadurch Gott erfreuen. Singe in der Jubilatio, das nämlich, in der Jubilatio zu singen, heißt Gott gut singen. Was bedeutet: in der Jubilatio singen? Mit dem Verstand nicht erfassen, mit Worten nicht erklären können, was im Herzen gesungen wird. Auch jene nämlich, die – sei es bei der Ernte, sei es im Weinberg, oder bei anderen erhitzenden Tätigkeiten – singen, beginnen zunächst mit gesungenen Worten in Freude auszubrechen, dann aber, als ob sie von solcher Freude erfüllt wären, dass sie sie durch 25 Siehe dazu die klassisch gewordene Darstellung von Dahlhaus 1978 und Dahlhaus 1988. Kritisch dazu Tadday 2008; zur Geschichte von ‚absoluter Musik‘ vgl. Bonds 2014. 26 Mit Bezug insbesondere auf die spätantiken und mittelalterlichen Quellen greife ich im Folgenden auf Fuhrmann 2004 zurück.
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Worte nicht darzulegen vermöchten, wenden sie sich von den Silben der Wörter ab, und dem Klang der Jubilatio zu. Ein iubilum ist ein unbestimmter Laut, der zeigt, wie das Herz etwas hervorbringt, was es nicht sagen kann. Und wem sollte eine solche Jubilatio gebühren, wenn nicht dem unsagbaren Gott? Unsagbar nämlich ist Er, den du nicht zu sagen vermagst, und wenn du Ihn nicht sagen kannst, und nicht schweigen darfst, was bleibt dir als zu jubeln, und das Herz freut sich ohne Worte, und die unermessliche Weite der Freude kennt nicht das Maß der Silben? Singet ihm trefflich in der Jubilatio!“27
Mindestens zweierlei fällt auf: Zum einen die Verwendung eines Topos, der aus der Zeit der Kirchenväter dem mittelalterlichen Denken überliefert worden ist und in vielfältigen Deutungen und literarischen Kontexten bis in die Moderne hinein wirksam geworden ist, der Topos von cor und vox. Herz steht hierbei für den Bereich der Innerlichkeit und der Gefühle, Stimme ist das Medium, das Gefühlen Ausdruck verleiht. Damit verbunden ist der nicht weniger wirkungsmächtige Unsagbarkeitstopos, der hier nicht allein auf den Ausdruck des Affekts der von Augustinus an anderer Stelle sogenannten „himmlischen Freude“ angewendet wird, sondern auch auf den Gegenstand der Freude, den „unsagbaren Gott“. Gott nämlich ist unsagbar, weil etwas, das seiner würdig wäre, gar nicht von ihm ausgesagt werden kann. Und selbst diese Aussage, so lautet die an Plotins negative Theologie erinnernde Überlegung, sollte mit Bezug auf Gott nicht gemacht werden. Also ist Schweigen angesagt. Aber dennoch sollen wir Gott loben. Das kann dann nur in einem wortlosen Gesang geschehen. Er drückt aus, was nicht gesagt werden, aber auch nicht verschwiegen werden kann. Das ist das Argument für die Lehre von der wortlosen Jubilatio. Fragt man nach einem konkreten musikalischen Phänomen, so kann Augustinus nicht der liturgische Alleluia-Gesang des Gregorianischen Chorals mit der melodisch reichen Ausgestaltung des letzten Vokals vor Augen gestanden haben. Er ist, folgt man der musikhistorischen Forschung, erst in der Karolingischen Ära mit der augustinischen Jubilatio in Zusammenhang gebracht worden. Die Frage ist in der Forschung offen.28 Entscheidend ist etwas anderes, und hier verbinden sich historische und systematische Aspekte: Gegen das noch von pythagoräisch-platonischem Gedankengut unterstützte Plädoyer der frühen Kirchenväter für eine stille und rein spirituelle Verehrung Gottes, die des Klangs der Stimme eigentlich nicht bedarf, tritt Augustinus entschieden für die Aufwertung der religiösen Affekte im und durch 27 Zit. nach Fuhrmann 2004, S. 113, vgl. S. 10f. Zur Vorgeschichte des von Augustinus geprägten religiösen Begriffs der Jubilatio aus den „Gesangsformen im Landvolk der römischen Antike“ und ihrer ‚Verchristlichung‘ siehe Wiora 1962, S. 42, 57ff. 28 Vgl. Jammers 1973; zu „Jubilus“ vgl. S. 72ff.
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den Gesang ein.29 Darüber hinaus erscheint Augustinus als der erste, der die Vorstellung formuliert, von der im obigen Zitat die Rede ist, die Vorstellung, dass Musik in Form des wortlosen Gesangs, eben in der Jubilatio, einen affektiven Gehalt zum Ausdruck bringen kann, der alle Worte übersteigt, nämlich die unfassbare, unendliche Freude an der ihrerseits unfassbaren Herrlichkeit Gottes als Schöpfer der Welt und ihrer Ordnung. Zu Recht ist daher gesagt worden, dass „die augustinische Jubilatio […] die erste Konzeption von ‚Ausdruck‘ im modernen Sinn dar[stellt]“; sie betrifft die „sinnlich wahrnehmbare[n] ‚Außenseite‘ eines Inneren, [die] vernehmbare[n] Äußerung eines in Worten nicht sagbaren Affekts“, und dies geschieht „im musikalischen Medium“, im wortlosen Gesang.30 Es liegt nahe, hier auch den Umriss einer Idee zumindest vorgeprägt zu finden, die in der Moderne, insbesondere in den eingangs genannten Epochen der Empfindsamkeit und Romantik, transformiert in die hier nicht näher zu untersuchende Deutung einer Kunstreligion, zum Schlagwort geworden ist, die Idee, dass die Musik, wie Johann Nikolaus Forkel es dann am Ende des 18. Jahrhunderts formuliert, „eine reine und begrifflose Sprache der Empfindung“31 ist, die mit Worten nicht erreicht und verständlich gemacht werden kann, die aber das für das menschliche Selbstverständnis Wichtigste und Wesentliche zum Ausdruck bringt. Und so erscheint es nicht abwegig, daraus die These abzuleiten, dass die von Augustinus formulierte Theorie des musikalischen Ausdrucks im wortlosen Gesang der Jubilatio „den Beginn einer Geschichte musikalischer Subjektivität“32 darstellt, die ihr Telos in der reinen Instrumentalmusik und der ihr zugedachten metaphysischen Würde hat, in der sie als ‚höchste Philosophie‘ erscheint. Dieser Geschichte kann hier freilich nicht im einzelnen nachgegangen werden. Im vorliegenden Zusammenhang ist auf eine extreme Ausprägung des augustinischen Jubilus’ und des Unsagbarkeitstopos sowie des Topos des Verhältnisses von Herz und Stimme hinzuweisen. Es ist dies der mystische Jubilus, der in der mystischen Frömmigkeitspraxis des Hoch- und Spätmittelalters begegnet. Versteht man christliche Mystik als eine „cognitio dei experimentalis“,33 d.h. eine auf persönliche religiöse Erlebnisse gegründete Gotteserkenntnis, dann ist damit offenkundig eine höchste, alle anderen Erkenntnisweisen überbietende individuelle spirituelle Erfahrung verbunden. Sie äußert sich, vornehmlich in der Frauenmystik des Hochund Spätmittelalters, in einem ekstatischen, meist wortlosen melodischen Gesang, 29 30 31 32 33
Vgl. Fuhrmann 2004, S. 16ff.; vgl. auch Bonds 2004, S. 44. Fuhrmann 2004, S. 116. Forkel 1788, S. 66. Fuhrmann 2004, S. 112. Zit. nach Fuhrmann 2004, S. 286.
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der immer wieder als außergewöhnlich „fein und süß“ (subtilis et dulcis) beschrieben wird.34 Seine Interpretation erfährt er, das ist hier bemerkenswert, unter anderem im Rückgriff auf Augustinus’ eingangs zitierten Psalmenkommentar und seine Beschreibung des wortlosen Jubilus’ als Äußerung unaussprechlicher Freude über die Erkenntnis – wie es in einem auf Augustinus’ Auslegung Bezug nehmenden Psalmenkommentar des Petrus Lombardus heißt –, „wer Gott ist, und wie viele Dinge er in welcher Ordnung und auf wie wunderbare Weise gemacht hat“. In einer Engführung des Unsagbarkeitstopos und des Herz-Stimme-Topos heißt es hier: „Wenn die Stimme äußerlich jubiliert“, dann „[versteht] das Herz innerlich.“35 Hält man sich nun vor Augen, dass die griechische Musiké zum Vollzug von Theoria (θεωρίᾱ) als Erkenntnis der harmonikalen Ordnung des Kosmos gehört und dies von der menschlichen Seele und der für sie wesentlichen Liebe zur Weisheit vollzogen wird, und berücksichtigt man, dass damit auch eine religiös gestimmte Lebensform begründet sein sollte, dann erscheint, bei aller Differenz der theoretischen Begründung und ihrer kulturellen und kultisch-religiösen Kontexte, der Gedanke einer gewissen strukturellen Analogie zwischen den Intentionen beider Haltungen, in denen Philosophie einerseits, Theologie andererseits, die Wortsprache und den rationalen Diskurs hinter sich lassend, als ‚höchste Musik‘ verstanden und betrieben werden, nicht abwegig. Die Analogie reicht aber noch weiter.
III „Der heilige Augustinus“, so schreibt Wilhelm Heinse am Ende des Jahrhunderts der Aufklärung in seinem Musikroman Hildegard von Hohenthal, „hält bloße Töne des Entzückens ohne Worte für die beste Sprache gegen Gott.“36 Dem geht folgende Erklärung musikalischen Ausdrucks voraus: „Die Musik herrscht vorzüglich, wo sie ausdrückt, was die Sprache nicht vermag […]. Der Jubelton bey gewissen Momenten übertrift alle andre Sprache. So läßt sich
34 Fuhrmann 2004, S. 296. 35 Vgl. Fuhrmann 2004, S. 297. Auf andere oft beschriebene Phänomene der religiösen Ekstase wie eine krampfartige Starre des Körpers und Unempfindlichkeit gegenüber Schmerzen, aber auch ekstatisch-exaltierte Motorik sei hier nur hingewiesen (vgl. S. 292ff.). 36 Zit. nach Fuhrmann 2004, S. 10.
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das innere Gefühl […], das Wallen des Herzens, die hohe Fluth in Adern und Lebensgeistern durch nichts besser ausdrücken.“37
Das ist mehr als eine zufällige Reminiszenz an die Augustinische Idee des Jubilus’ in der Sprache der Empfindsamkeit.38 Es lässt sich leicht zeigen, dass das, was ungenau genug als die musikalische Ästhetik der Empfindsamkeit bezeichnet wird, zu deren Protagonisten Wilhelm Heinse zu zählen ist,39 von frömmigkeits- und musikästhetischen Ansichten insbesondere des nord- und mitteldeutschen Pietismus’ beeinflusst worden ist.40 Dazu zählt ein in einschlägigen Schriften und Textsammlungen dokumentiertes Interesse an der Tradition der mittelalterlichen Mystik und Frömmigkeit, für die das Wort einer „Religion des Herzens“ steht – zu nennen sind neben anderen Gottfried Arnolds Historie und Beschreibung der mystischen Theologie41 oder Gerhard Terstegens unter dem Titel Kleine Perlenschnur veröffentlichte dreibändige Sammlung mystischer Texte u.a. von Hildegard von Bingen, Elisabeth von Schönau, Johannes Tauler und Heinrich Seuse.42 Damit aufs Engste verbunden ist die weite Verbreitung des tradierten Topos’ der Übereinstimmung von Herz und Stimme – „das Hertz ist das rechte Instrument des Lobes Gottes“,43 wie es bei August Hermann Francke heißt, und das ‚rechte Instrument‘ des Gotteslobes ist die vom Heiligen Geist inwendig gerührte menschliche Stimme. Ähnliche Formulierungen findet man in der Seelenmusik Heinrich Müllers bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts.44 Der Begriff „Seelenmusik“ ist von Müller als Titel seines Gesangbuchs „Geistliche Seelenmusik“ von 1659 geprägt worden. In einleitenden zehn 37 Zit. nach Fuhrmann 2004, S. 8. Die Frage, auf welchen Wegen Heinse mit Augustinus’ Schriften vertraut gewesen sein konnte, ist, so weit zu sehen ist, in der Forschung bisher nicht beantwortet worden. 38 Anzumerken ist, dass, wenn hier von der „hohen Flut in Adern und Lebensgeistern“ die Rede ist, die physiologische Affektenlehre eines Descartes zitiert wird: Affekte begreift Descartes als Wirkungen unterschiedlicher Bewegungen der animi spirituales. Sie sind subtile, sich unterschiedlich schnell bewegende Materieteilchen, die aus einer gasförmigen Absonderung des Bluts entstehen und die Bewegungen des Bluts und der Nervenströme und durch sie die Hirnfunktionen beeinflussen (vgl. Descartes 1984, S. 53f., 155ff.). 39 Vgl. Fuhrmann 2015. 40 Zu Quellen und Einflüssen im südwestdeutschen und süddeutschen Raum (Johann Conrad Dannhauer und Conrad Dieterich) vgl. Bunners 1966, S. 12f. 41 Arnold 1703. 42 Tersteegen 1767. 43 Zit. nach Fuhrmann 2004, S. 322. 44 Vgl. hierzu ausführlich Bunners 1966, S. 141ff.
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Betrachtungen über das geistliche Liedersingen wird die Verbindung von Luthertum und einer von Bernhard von Clairvaux beeinflussten Mystik und das daraus begründete Verhältnis einer vornehmlich mystisch bestimmten Frömmigkeit und Musik deutlich. Das Singen wird von Müller als „Vorbereitung, Mittel und Ergebnis der mystisch gefärbten Gotteserfahrung“ begründet. „Seelenmusik“, deren eigentlicher Grund das „innere Singen“ ist, wird so als Medium der Kundgabe Gottes in der eine „süße Freude“ empfindenden Seele des Einzelnen verstanden.45 Das ‚äußere‘ Singen wird dann explizit als Ausdruck des erfüllten Inneren begriffen.46 Die höchste Steigerung eines solchen Ausdrucks ist der mystisch inspirierte Enthusiasmus, der sich in der Jubilatio Bahn bricht.47 Damit verbunden ist der Topos der Unsagbarkeit angesichts der Überfülle dessen, was die leidenschaftlich hingerissene Seele empfindet und nur als Stammeln, im „zerbrochenen Wort“ – so ein Ausdruck Heinrich Müllers und des lutherischen Theologen Joachim Lütkemann 48 –, oder im wortlosen Gesang zum Ausdruck zu bringen vermag.49 Davon, vom Ausdruck dessen, was die Sprache nicht vermag, durch die Musik, handelt das an Augustinus erinnernde Zitat aus Heinses Roman – allerdings, und das kann leicht übersehen werden, ohne in den Ausführungen, die dem vorhergehen, noch auf „die Sprache gegen Gott“ Bezug zu nehmen. Damit ist etwas Entscheidendes angezeigt.
IV Das Entscheidende für die Konzeption einer musikalischen Empfindsamkeitsästhetik und, wie sich zeigen wird, für die Theorie der reinen Instrumentalmusik ist im Folgenden zu sehen. Für die neue Ästhetik der Empfindsamkeit ist eine 45 46 47 48
Bunners 1966, S. 142, 144ff. Bunners 1966, S. 146f., 44f. Bunners 1966, S. 150ff. Lütkemann 1658: „Das zerbrochene Wort ist das beste Wort […]. Die Seele kann hier nicht anders als stammeln. Denn sie empfindet mehr in sich, als sie aussprechen kann. Sie empfindet solche Sachen, die sie nicht verschweigen und doch nicht aussprechen kann.“ Zit. nach Bunners 1966, S. 156. 49 Bunners weist auf die Nähe dieser Anschauungen zu Luthers Ausführungen zur Glaubenserfahrung und zum enthusiastischen Liedersingen, die ebenfalls von mystisch-spiritualistischen Vorstellungen geprägt sind, in dessen „Magnificat“ von 1520/21 hin (1964, S. 157). Der Frage nach „Luthers mystischen Wurzeln“ (Leppin 2016) und ihrer Bedeutung und Wirkung für die Musikgeschichte und Musikästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts kann hier nicht nachgegangen werden. Siehe dazu Anttila 2013, S. 103ff. sowie Küster 2016.
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spezifische reflexive Wendung charakteristisch. Waren das gefühlshafte Erleben und dessen Kundgabe in der Musik zuvor auf religiös konnotierte Eigenschaften von Gegenständen wie die unermessliche Herrlichkeit Gottes oder die viel besungene Süße Jesu bezogen, so findet sich nun eine reflexive Beziehung auf das Erleben selbst: Nicht die inkommensurable Herrlichkeit Gottes oder unaussprechliche Süße Jesu, sondern die Art der Ergriffenheit von diesen Eigenschaften macht den Inhalt des Erlebens und seines Ausdrucks aus. Formulierungen, wie „selbs bey sich fühlen“ oder „sich in seinem Herzen erwecke[n]“50, lassen neben vielen anderen diese reflexive Struktur subjektiver Innerlichkeit deutlich werden. Im musiktheoretischen Diskurs der Aufklärung nun wird eine Tendenz auffällig, die, wie im Heinse-Zitat bereits zu bemerken, darauf zielt, die religiöse Motivation und Konnotierung der Gefühlslagen zurückzustellen bzw. schließlich preiszugeben und die Funktion der Musik in den Ausdruck gefühlshaften Erlebens überhaupt umzuwandeln. Mit der Erklärung Heinrich Christoph Kochs, Musik sei „die Kunst durch Töne Empfindungen auszudrücken“ bzw. „leidenschaftlicher Ausdruck durch Töne“51 ist dieser Schritt getan. Dieselbe Auffassung lässt sich bereits einige Jahrzehnte früher im seinerzeit weit verbreiteten Vollkommenen Capellmeister von Johann Mattheson von 1739 zeigen, übrigens mit deutlicher Reserve gegenüber der antiken Tradition einer ‚musikalischen Mathematik‘ und ihrer normativen Funktion für die Beurteilung des ästhetischen Werts eines Musikstücks.52 Berücksichtigt man unter Bezug auf Erlebnisweisen pietistischer Frömmigkeit, dass die Kundgabe intensiv erlebter religiöser Gefühle wie das einer überschwänglichen Freude in Darstellungen einer religiös bestimmten Anschauung von Musik die Bindung an das Wort bereits preisgegeben hatte, dann ist absehbar, dass die von religiösen Gehalten befreite, auf sich selbst gestellte Musik sich nun auch von der Bindung an das Wort befreit. Die Musik, die Melodien, Harmonien und Rhythmen, werden selber zu authentischen Ausdrucksträgern, als solche beziehen sie sich auf vielfältige subjektive Gefühlslagen, die keine externen Korrelate mehr haben. Damit ist der entscheidende Schritt getan, der am Ende des Aufklärungsjahrhunderts in den viel besprochenen Phantasien über die Kunst von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck zu dem ersten und wirkungsmächtigen Entwurf einer Theorie der reinen Instrumentalmusik führt.53 Die reine Instrumentalmusik wird nicht nur selbständiger Ausdrucksträger, sie wird auch ein sin50 51 52 53
Fuhrmann 2004, S. 322. Koch 1802, c. 992; vgl. Fuhrmann 2004, S. 327. Mattheson 2008, S. 24ff. Wackenroder und Tieck 1973.
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guläres, allen anderen Darstellungsformen überlegenes Medium der Erkenntnis, genauer der Selbsterkenntnis des musikalischen Subjekts hinsichtlich seines gefühlshaften Erlebens. So heißt es in dem zentralen Text der Phantasien über die Kunst über Das eigentümliche innere Wesen der Tonkunst und die Seelenlehre der heutigen Instrumentalmusik: „In dem Spiegel der Töne lernt das menschliche Herz sich selber kennen; sie sind es, wodurch wir das Gefühl fühlen lernen; sie geben vielen in verborgenen Winkeln des Gemüts träumenden Geistern lebendes Bewusstsein und bereichern mit ganz neuen, zauberischen Geistern des Gefühls unser Inneres.“54
Die folgende Passage, mit der „der wahre Sinn der Tonkunst“ formuliert wird – gemeint ist die reine Instrumentalmusik –, kann als Ziel- und erster Höhepunkt dieser Entwicklung angesehen werden. In ihr findet sich in einer offenbar mystisch instrumentierten Sprache der Unsagbarkeitstopos und, unter metaphorischer Verwendung der pietistischen Vorstellung von Tod und Wiedergeburt, eine neue Deutung des wortlosen Jubilus’, der sich nunmehr zur wortlosen reinen Instrumentalmusik verwandelt hat: „Wenn alle die inneren Schwingungen unsrer Herzensfibern, – die zitternden der Freude, die stürmenden des Entzückens, die hochklopfenden Pulse verzehrender Anbetung, – wenn alle [diese Schwingungen…] die Sprache der Worte als das Grab der innern Herzenswut mit einem Ausruf zersprengen, – dann gehen sie unter fremdem Himmel in den Schwingungen holdseliger Harfensaiten wie in einem jenseitigen Leben in verklärter Schönheit hervor und feiern als Engelsgestalten ihre Auferstehung.“55
Es scheint daher auch kaum eine zufällige Assoziation an die im Jubilus zum Ausdruck gebrachte überschwängliche Freude zu sein, wenn im direkten Anschluss, wie in Form eines Kommentars, explizit der Bezug zu „Fröhlichkeit und Lust“ in „hundert und hundert Tonwerken“56 hergestellt wird. Dass dieser Affekt indessen nicht der alleinige Gehalt der reinen Instrumentalmusik, der „göttlich großen 54 Wackenroder und Tieck 1973, S. 83 (Hvh.v.Vf.). 55 Wackenroder und Tieck 1973, S. 82f. 56 Wackenroder und Tieck 1973, S. 82f. Insofern bestätigt sich hier literarisch greifbar die Vermutung von Wiora 1962, S. 61f.: „Ein geschichtlicher Weg scheint von der Idee des jubilare sine verbis bei Augustinus über die Mystik zur Deutung der absoluten Instrumentalmusik im Zeitalter Herders und des deutschen Idealismus geführt zu haben.“
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Symphoniestücke“, wie es da heißt, ist, wird wenig später betont; vielmehr wird in ihnen „eine ganze Welt, ein ganzes Drama menschlicher Affekte“57 zur Darstellung gebracht, und zwar so, wie es „keine [andere] menschliche Kunst“58 vermag – Musik als höchste Kunst und höchste „Seelenlehre“ zugleich. Damit ist Musik als höchste Psychologie – aber noch nicht als ‚höchste Philosophie‘ ausgezeichnet. Diesen Schritt, den Schritt zu einer Metaphysik der Musik, tut Arthur Schopenhauer.
V Dass Musik in der Sicht Schopenhauers die höchste Kunstform ist und als solche die unmittelbare Darstellung des höchsten metaphysischen Prinzips, das Schopenhauer als Wille bezeichnet, ist, darf als allgemein bekannt gelten. 59 Weniger bekannt ist indessen das Argument, mit dem Schopenhauer sein Konzept des Willens begründet. Darüber muss man sich ins Klare gesetzt haben, wenn man die ebenfalls alles andere als selbstverständliche Auszeichnung der Musik als „Abbild des Willens selbst“ verstehen und beurteilen will. Schopenhauer geht von einer unmittelbaren Evidenz des individuellen Selbstbewusstseins aus. Sie bezieht sich auf das Bewusstsein von einer mentalen Tätigkeit, die sich spontan vollzieht und die intentionalen Gegenstände, auf die sie bezogen ist, zu realisieren bestrebt ist. Diese Tätigkeit bezeichnet Schopenhauer als Wille.60 Die zweite Prämisse besteht in dem Hinweis darauf, dass der Wille sich in den Bewegungen unseres Leibes unmittelbar objektiviert. Bewegungen des Leibes sind insofern nichts anderes als objektivierte Willensakte. Der entscheidende Schritt besteht nun darin, dass Schopenhauer diesen Zusammenhang von Willensakten und Bewegungen des Leibes zur Grundlage seiner Metaphysik macht, und dies geschieht mit einem Argument per analogiam. Der Zusammenhang von Wille und Leib wird von Schopenhauer als „Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung der Natur und aller Objekte […], die nicht unser eigener Leib“ sind, angesehen; und dies geschieht so, dass wir sie „nach Analogie [unseres eigenen] Leibes beurteilen und daher annehmen“, dass unabhängig von der Art, wie sie uns im Modus einer theoretisch-wissenschaftlichen Vorstellung erscheinen mögen, ihnen ihrem „innern Wesen nach“ dasselbe eignet, „als was wir an uns Wille nennen“, als des57 58 59 60
Wackenroder und Tieck 1973, S. 85. Wackenroder und Tieck 1973, S. 82. Vgl. Zöller 2003, sowie Koßler (Hrsg.) 2011. Schopenhauer 1988, S. 151.
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sen Objektivationen sie somit zu verstehen sind.61 Das ist das ‚Schlüsselargument‘ der Schopenhauerschen Metaphysik des Willens. Schopenhauers immer wieder zitierte Aussage, dass der Wille das „Ding-an-sich“ sei, ist daher durchaus missverständlich, und sie ist denn auch weithin missverstanden worden. Das Missverständnis besteht darin, sie als eine ontologisch-realistische, und nicht als eine deutungstheoretische Aussage zu verstehen, die sich einem Analogieschluss verdankt. Die Werke der Kunst nun sind Schopenhauer zufolge ebenfalls als Objektivationen des Willens zu verstehen, aber so, dass sie jeweils auf bestimmte allgemeine, in Schopenhauers Sicht platonische Ideen, wie etwa die Idee der Menschheit, bezogen sind. Die Musik – und hier ist, im sachlichen Anschluss an Wackenroder, dessen Texte Schopenhauer sehr wahrscheinlich gekannt hat, die nicht an die Sprache gebundene, die Sprache überbietende reine Instrumentalmusik gemeint –, die wortfreie Instrumentalmusik also nimmt insofern eine Sonderstellung unter den Künsten ein, als sie nichts Gegenständliches abbildet. Als solche stellt sie auch nicht, wie die anderen Künste, allgemeine Ideen dar, die in Weltgehalten ihre Konkretion finden, sondern sie ist, so Schopenhauer, „unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens“.62 Die Musik ist in der Sicht Schopenhauers somit eine unmittelbare Manifestation des Willens in der Welt. Darin besteht ihre metaphysische Würde. Mit Bezug auf ihren Gehalt folgt daraus, dass sie nicht konkrete, welthaltige Gefühle und deren Motive, sondern nur deren allgemeine dynamischen Charaktere zum Ausdruck bringt, eine Idee, deren Nähe zu Eduard Hanslicks Bestimmung des Gehalts der Musik bemerkenswert ist. Gerade diese ihre Darstellungsqualität ist in der Sicht Schopenhauers aber der Grund dafür, dass sie „auf das Innerste des Menschen [wirkt], und „dort so ganz und so tief von ihm verstanden [wird], als eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft.“63 Die Musik übermittelt somit Bedeutungen – das meint der Bezug auf eine ‚ganz allgemeine Sprache‘ –, die auf diskursivem Wege nicht verstanden und in Begriffe auch nicht adäquat übersetzt werden können. Da die Musik in der sinnlichen Darstellung dynamischer Bewegungen „Abbild des Willens selbst“ ist,64 oder, wie Schopenhauer es auch ausdrückt, „überall […] nur die Quintessenz des Lebens und seiner Vorgänge aus[drückt], nie diese selbst“65 und „zu allem Physischen das Metaphysische“ darstellt, übt sie eine Funktion aus, die derjenigen der Philosophie analog ist. Die Mu61 62 63 64 65
Schopenhauer 1988, S. 157f. (Hvh.v.Vf.). Schopenhauer 1988, S. 341 (Hvh.i.Orig.). Schopenhauer 1988, S. 322. Schopenhauer 1988, S. 341 (Hvh.i.Orig.). Schopenhauer 1988, S. 346.
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sik ist daher, wie Nietzsche es im Vorwort zur Tragödienschrift und als Widmung an Wagner im Anschluss an Schopenhauer formuliert hat, die „höchste Aufgabe“ und die „eigentlich metaphysische Tätigkeit dieses Lebens“.66 In diesem analogen Sinne kann Musik als höchste Philosophie bezeichnet werden. Wie weit trägt diese Analogie? Über diese Frage herrscht in der Musikphilosophie der Gegenwart Schweigen. Es wird eher auf andere, für die aktuellen musikästhetischen Diskussionen zentrale Themen der Musikphilosophie Schopenhauers verwiesen, unter ihnen die These von der Darstellung nur der generischen Struktur von Gefühlen und insbesondere das Primat der wortfreien, ‚absoluten Musik‘. Das Schweigen wird man als Indiz für die Ansicht verstehen können, dass die Evidenz für die Plausibilität des skizzierten Analogie-Arguments nicht mehr besteht. Dafür lassen sich mehrere, durchaus verschiedene Gründe angeben. Zum einen ist die Konzentration vornehmlich der gegenwärtigen analytischen Musikphilosophie auf einigermaßen eng gefasste systematische Probleme zu nennen, die mit einer Abstinenz gegenüber umfassenden Theorieentwürfen verbunden ist. Sodann ist, tut man einen Schritt aus dem engen Kreises der Musikphilosophie heraus, der Siegeszug der Naturwissenschaften zu nennen, gegen den der von Schopenhauer offenbar als Ergänzung gemeinte Entwurf einer sinnstiftenden metaphysischen Welterklärung aus dem Begriff eines übersubjektiven Willens und seiner Objektivierungen nicht mehr auf Resonanz hoffen kann. Zugleich ist theoretisch auf eine hochgradige Differenzierung von sinnstiftenden Domänen in der menschlichen Lebenswelt zu reagieren, in denen die Kunst, und mit ihr die Religion, nur einen Ort und eine Funktion neben anderen einnimmt. Hier ist eher von einer Koordination und nicht von einer Hierarchie von Domänen der Sinnstiftung auszugehen. Und so ist festzustellen, dass auch dort, wo die ästhetische Erfahrung, und insbesondere das Erleben von Musik aufgrund ihres die sprachliche Vermittlung überbietenden, auf unvergleichliche Weise sinnerfüllenden und alle diskursive Bestimmtheit transzendierenden Charakters eine unübersehbare Affinität zur Struktur religiöser Erfahrung aufweist,67 dass diese Erfahrungen in der modernen okzidentalen Welt gleichwohl nicht mehr als Anker für eine letztbegründende, universale Weltdeutung verstanden werden. Und nicht zuletzt wird man auch die Erfahrungen der Katastrophen berücksichtigen müssen, die im 20. Jahrhundert mit neuen Mythen und welterklärenden Ideologien in totalitären politischen Systemen verbunden waren. Das sind die Grenzen,
66 Nietzsche 1999, S. 24. 67 Vgl. hierzu ausführlich Barth 2003.
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die der Tragweite der Idee von Musik als höchster Philosophie im Diskurs der Gegenwart gezogen sind.68
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68 Für Hilfe bei der Vorbereitung der Drucklegung danke ich Pascal Schiemann sehr herzlich.
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Religion und Musik bei Franz Rosenzweig Luca Bertolino
Es liegt ein gewisses Paradox darin, einen Beitrag mit dem Thema „Musik und Religion bei Franz Rosenzweig“ vorzulegen, und zwar aus einem zweifachen Grund. Zum einen weist der Verfasser von Der Stern der Erlösung (1921), der nicht zuletzt aufgrund der ‚Ablehnung‘ seiner wichtigen Monografie über Hegel und der Staat (1920)1 mit gutem Recht als ein one‑book man betrachtet werden könnte, in „[e]inige[n] nachträglichen Bemerkungen“2 zu seinem „Lebenswerk“,3 die er vier Jahre später unter dem programmatischen Titel Das neue Denken (1925) herausgab, darauf hin, dass das Buch nicht den Anspruch erhebt, „eine Religionsphilosophie zu sein – wie konnte e[s] das, wo das Wort Religion überhaupt nicht darin vorkommt! Sondern e[s] ist bloß ein System der Philosophie.“4 Zum anderen findet er in Der Stern der Erlösung recht beißende Worte für diejenigen, die sich so sehr für Musik begeistern, dass sie darin ihre Selbstbefriedigung finden: „Denn […] der Musikalische vergißt über der Musik sich selber […,] verdirbt sich selber, entkräftet seine eigene Seele, und ist so von der Möglichkeit, wieder ins Leben zurückkehren zu können, noch um eine ganze Stufe weiter entfernt als jener [scil.: der Liebhaber der bildenden Künste]. Der Musikalische kann in sich jedes 1
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„[A] milestone in Hegel research“, laut dem maßgeblichen Urteil von Pöggeler 1988, S. 107. Nach Rosenzweig sollte das Werk jedoch als „Lehrlingsarbeit“ verstanden werden (so im Brief an Margarete Susman vom 1. März 1921: Rosenzweig 1979, Bd. 2, S. 696). Was seine ‚Ablehnung‘ betrifft, vgl. auch Rosenzweig 1920, Bd. 1, S. XIIf. Rosenzweig 1925, S. 139. Rosenzweig 1979, Bd. 2, S. 1196 (Brief an Richard Koch vom 2. September 1928). Rosenzweig 1925, S. 140.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_4
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beliebige Gefühl willkürlich erwecken und er kann – schlimmer noch – das Gefühl, das in ihm ist, in sich selbst zur Entladung bringen. Das Musikwerk, indem es seine eigene, ‚ideale‘ Zeit erzeugt, verleugnet die wirkliche. Es läßt seinen Hörer das Jahr vergessen, in dem er lebt. Es läßt ihn sein Alter vergessen. Es trägt ihn bei wachem Leibe hinüber zu den Träumenden, von denen es heißt, daß sie ein jeder seine eigene Welt haben. Mag er dann unsanft erwachend rufen ‚besser nie geträumt‘, – bei nächster Gelegenheit greift er dennoch wieder nach der Flasche und trinkt sich seinen Le therausch. So lebt er ein fremdes Leben, nein noch nicht einmal ein fremdes; er lebt hundert Leben, von Musikstück zu Musikstück ein andres, und keins ist sein eignes. Wahrlich, der Hund, der sich höllenheiß betrübt, weil seine Dame Flügel spielte, lebt echter, ja wenns erlaubt ist ‚menschlicher‘, als der ‚Musikalische‘.“5
Umgekehrt können gegen diese beiden Gründe mindestens ebenso viele Gegengründe zur Verteidigung des gewählten Themas vorgebracht werden. Vor allem die Enthüllungen Rosenzweigs in dem Brief an Rudolf Ehrenberg vom 18. November 1917, die der Öffentlichkeit unter dem bezeichnenden Titel „Urzelle“ des Stern der Erlösung (1937) erst posthum bekannt wurden. Darin legt er dar, dass das Thema Offenbarung in seinem Verhältnis zu aller eigenmenschlichen Erkenntnis für ihn den Zentralbegriff seines theoretischen Nachdenkens bildet. Doch versteht er ihn nicht mehr im danteschen Sinne des „[e]cce deus fortior me, qui veniens dominabitur mihi“,6 sodass – wie Rosenzweig mit Annette von Droste-Hülshoff schreibt – „der Profet, ein gehetztes Wild, […] gegen das mählich steigende Bild [kämpft]“;7 er begreift ihn vielmehr in einem Sinn, der – wenngleich weiterentwickelt – der Auffassung des gemeinsamen Freundes Eugen Rosenstock nahekommt, demzufolge Offenbarung Orientierung ist: „Nach der Offenbarung gibt es ein wirkliches, nicht zu relativierendes Oben und Unten in der Natur – ‚Himmel‘ und ‚Erde‘ – […] und ein wirkliches festes Früher und Später in der Zeit. Also: im ‚natürlichen‘ Raum und in der natürlichen Zeit ist die Mitte immer der Punkt, wo ich grade bin (ἄνθρωπος μέτρον ἀπάντων); in der offenbarten Raum-Zeit-Welt ist die Mitte ein unbeweglich fixierter Punkt, den ich nicht verschiebe, wenn ich mich selber verändere oder fortbewege: die Erde ist die Mitte der Welt und die Weltgeschichte liegt vor und nach Christus (θεὸς καί λόγος
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Rosenzweig 1921, S. 400f. Vita Nova, II. So in ihrer Ballade Vorgeschichte (Second sight), wo aber „verzweifelnd“ statt „gehetztes“ steht.
Religion und Musik bei Franz Rosenzweig
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αὐτοῦ μέτρον ἀπάντων). So ungefähr, nicht wörtlich und auch bloß das Gerippe, aber ein Gedanke von stupender Einfachheit und Fruchtbarkeit und sicher richtig“.8
Die Offenbarung bildet folglich den Mittelpunkt von Der Stern der Erlösung, nämlich das zweite Buch des zweiten Teils in einem streng dreiteiligen Aufbau, also das Herzstück des Werkes. Ferner beinhaltet das philosophische System Rosenzweigs nach eigener Aussage des Verfassers alle „Ingredienzien eines ordentlichen Systempunschs“9 mit Ausnahme der Religionsphilosophie, d.h. es umfasst auch eine genaue Abhandlung der Ästhetik, in der die Tonkunst nicht unberücksichtigt bleibt. Meine Lektüre setzt insbesondere bei den Betrachtungen an, die der neunzehnjährige Rosenzweig anlässlich einer Reise nach Venedig in einem Brief an seine Eltern vom 5. Juni 1906 anstellt, in dem er von seinem Eindruck angesichts von Giorgiones Gemälde Das Gewitter berichtet. Nach seinem Besuch im Haus der Familie Giovanelli, in deren Besitz sich das Bild damals befand, schildert er das Gemälde in allen Einzelheiten und fügt hinzu: „Und dann sitzt man ein paar Minuten davor auf einem Rokokosessel und dann geht ein Wunder vor und es verschwindet alles, wovon ich vorhin erzählte, und man sieht ohne zu wissen, was man sieht; man wird ganz Sehen. Ohne jede Leidenschaft, ohne jede Erregung, ohne jeden Gedanken, ohne jedes Wissen von etwas anderm oder von sich selbst: ganz Sehen. Es ist absolute Kunst, wie man von absoluter Musik sprechen kann, von Musik die nichts, rein gar nichts darstellt (auch nicht ohne Programm etwa doch nur heimliche Programmmusik ist wie die meiste), sondern nur Musik ist, nur gehört werden kann. – Es ist etwas so Unbegreifliches, daß man eine Religion darauf gründen könnte.“10
Was Rosenzweig damals unter „absoluter Musik“ genau verstand, lässt sich dem Brief entnehmen, in dem er vier Tage später, auf der Rückreise am Bahnhof Verona, eine Bilanz seiner Venedig-Reise zieht: „Nach Venedig kann ich nun sagen: Ich habe jetzt das Höchstmaß an Wirkung erfahren, was von Architektur ausgehen kann. Alles was nun noch kommt, kann nur noch 8
Rosenzweig 1937, S. 125f., der hier den Protagoras zugeschriebenen Homo-mensuraSatz (vgl. DK 80 B 1) variiert. 9 Rosenzweig 1925, S. 141. 10 Rosenzweig 1979, Bd. 1, S. 48. Ein interessanter, wenngleich problematischer Vergleich zwischen Rosenzweig und Wagner wird von Nöthlings 2003 angestellt, nach dessen Auffassung Rosenzweig sich Wagners musikalische und dramaturgische Stilmittel bei der Komposition des Stern der Erlösung zu eigen macht.
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anders und ebenso groß sein. Eine Erhöhung der Wirkung ist nicht mehr möglich. Ich bin jetzt in der Architektur an der Stelle, an [Edition: in] der ich in der Musik 1901 nach Cis‑moll-Quartett [scil.: Streichquartett Nr. 14 cis‑Moll op. 131 von Beethoven] und Tristan [scil.: Tristan und Isolde von Wagner] war.“11
Diese Briefpassagen wurden in der Fachliteratur vom Musikforscher Klaus-Jürgen Sachs gebührend gewürdigt, der darin die Klimax einer ersten musik-enthusiastischen Phase Rosenzweigs in seiner Jugend-, Gymnasial- und frühen Studentenzeit sieht, auf die eine Zeit der kritischen Distanznahme von der Musik, wenn nicht gar des Abscheus gegen sie folgte;12 für diese zweite Phase, die in Der Stern der Erlösung ihre theoretische Begründung findet, sucht er auch die psychologischen Gründe. In einer dritten Phase schließlich begleitet die Musik in Radiodirektübertragung oder von Schallplatten mit einer Geschwindigkeit von 78 min‑1 auf dem Grammophon Rosenzweig in seinen letzten Lebensjahren, als er nunmehr durch die Amyotrophe Lateralsklerose, die 1929 zu seinem Tod führte, ans Haus gefesselt war.13 Doch worum es mir hier geht, ist nicht die sich wandelnde Perspektive Rosenzweigs. Vielmehr möchte ich verdeutlichen, dass in der reifen Phase seiner gedanklichen Ausarbeitung, in der er sicher kein Interesse daran hatte, die Religion auf die Musik zu gründen – und sei es nur, weil man „solange man die internationalen Kunst- und Wissenschafts-Ausdrücke ‚religiosité‘, ‚religion‘, ‚Wesen‘ (!!!!) der ‚Religion‘ gebraucht, solange […] noch gar nicht [weiß], wovon man redet“14 –, die Musik, richtig verstanden, seiner Ansicht nach dennoch einen privilegierten Zugang zur religiösen Erfahrung, der jüdischen wie der christlichen, eröffnen kann, nämlich als Chor der Erlösung und als Kirchenmusik. Um dies zu zeigen, ist zunächst ein – wenngleich flüchtiger – Überblick über den Inhalt von Der Stern der Erlösung notwendig,15 um zu verstehen, wo Religion und Musik im systematischen Aufbau des Werkes ihren Ort finden. ‚System‘ wird dabei in der Bedeutung verstanden, die Rosenzweig dem Begriff beilegt, d.h., „daß jedes Einzelne den Trieb und Willen zur Beziehung auf alle andern Einzelnen hat; das ‚Ganze‘ liegt jenseits seines bewußten Gesichtskreises, es sieht nur das Chaos der Einzelheiten[,] in das es seine Fühlfäden ausstreckt.“16 11 Rosenzweig 1979, Bd. 1, S. 48. 12 „Ich vertrage keine Musik mehr“, heißt es im Brief Rosenzweigs an Margrit Rosenstock vom 22. März 1921 (Rosenzweig 2002, S. 740). 13 Vgl. Sachs 2006a und 2006b. 14 Rosenzweig 1979, Bd. 2, S. 622 (Brief an Mawrik Kahn vom 5. Januar 1919). 15 Vgl. Rosenzweig 1921, S. VII. 16 Rosenzweig 1979, Bd. 1, S. 484 (Brief an Rudolf Ehrenberg vom 1. Dezember 1917).
Religion und Musik bei Franz Rosenzweig
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Religion und (musikalische) Ästhetik in Der Stern der Erlösung
Mit Der Stern der Erlösung wirft Rosenzweig „[d]er ganzen ehrwürdigen Gesellschaft der Philosophen von Jonien bis Jena den Handschuh hin“.17 Er stellt mit anderen Worten die ganze philosophische Tradition „von Thales bis Hegel“18 in Frage, da sie nach und nach den Anspruch erhoben hat, unter Berufung auf das Identitätsprinzip von Sein und Denken und unter der beharrlichen Frage nach dem Wesen, „was ein Ding ‚eigentlich‘ sei“,19 das All erst (in der kosmologischen Antike) auf die Welt, dann (im theologischen Mittelalter) auf Gott und schließlich (in der anthropologischen Neuzeit) auf den Menschen und das Ich zurückzuführen. Der ganze Erste Teil des Werkes versucht daher zu zeigen, dass es unmöglich ist, zur Erkenntnis des All zu gelangen, wenn man sich in den Bahnen der „alte[n] Philosophie“20 bewegt, die im Idealismus ihren höchsten Ausdruck fand, bzw. dass man auf diesem Weg, rein logisch betrachtet, nur drei unzusammenhängende Elemente erkennen kann: den metaphysischen Gott, die metalogische Welt und den metaethischen Menschen. Dabei bezeichnet die Vorsilbe „meta‑“ deren Ort in einer abstrakten, außerzeitlichen Dimension jenseits der Wirklichkeit, die sich durch das begriffliche Denken nicht fassen lässt. „Sie sind“ – um es mit den gelungenen Metaphern Rosenzweigs zu sagen – „das Personenverzeichnis, der Theaterzettel, der ja auch nicht ein Teil des Dramas selber ist und den man doch gut tut vorher zu lesen. Oder anders gesagt: das Eswareinmal, mit welchem alle Märchen anfangen, aber eben nur anfangen, und das im Laufe des Märchens und im Flusse seiner Erzählung nicht noch einmal vorkommen kann.“21
Der Übergang zur realen Welt wird durch eine den Elementen selbst innere Bewegung ermöglicht, durch die sie das ontologische Insichsein und das erkenntnistheoretische Fürsichsein (in se esse et per se percipi), 22 das sie kennzeichnet, durchbrechen und miteinander in Beziehung treten: in der Schöpfung der Welt durch Gott, in der Offenbarung Gottes für den Menschen und in der gegenseitigen 17 18 19 20 21 22
Rosenzweig 1921, S. 13. Rosenzweig 1979, Bd. 1, S. 410 (Brief an Richard Koch vom 28. Mai 1917). Rosenzweig 1925, S. 143. Rosenzweig 1921, S. 116. Rosenzweig 1925, S. 147. Vgl. Rosenzweig 1925, S. 144f.
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Erlösungswirkung der von der Schöpfung geprägten Welt und des durch die Offenbarung erleuchteten Menschen, sodass Gott letztlich die Welt, den Menschen und sogar sich selbst erlöst. Es handelt sich nicht um von außen beobachtbare Verhältnisse, als wäre es eine Art Schauspiel, sondern um erlebte Beziehungen. Auch sind es keine voneinander getrennten Momente, sondern es ist eine Bahn, ein Plexus – Schöpfung-Offenbarung-Erlösung –, worin das Wunder der Wirklichkeit Gottes, der Welt und des Menschen erlebt wird und die Sprache eine ‚performative‘ Funktion ante litteram erfüllt. In diesem Zweiten Teil bilden die rationalistischen und historistischen Auswüchse der „alten Theologie“23 die polemische Zielscheibe von Rosenzweig, da sie unfähig sind, die auctoritas des wundersamen Ereignisses der Offenbarung anzuerkennen. Diese aber ist in dem Plexus von zentraler Bedeutung: Denn der allzeiterneuerte gegenwärtige Augenblick, in dem Gott durch das dem Menschen auferlegte Gebot der Liebe („Liebe mich“)24 die Dialogform Ich‑Du einweiht, gestattet es zum einen, sich im Verständnis anderer historischer Zeiten, d.h. der immerwährenden Vergangenheit der Schöpfung, von der es eine Erzählung gibt, und der im Gebet von Mensch und Welt besungenen künftigen Erlösung zu orientieren; zum anderen ermöglicht dieser Augenblick die Orientierung auch in den beiden übergeschichtlichen Szenarien, d.h. der immerwährenden Vorwelt der Elemente als reinen Tatsächlichkeiten und notwendigen Voraussetzungen zugleich, und der ewigen Überwelt, in der die Gestalt des Magen David glänzt. Durch den sechszackigen Davidstern (Y) symbolisiert, ist der Stern der Erlösung an der Schwelle zum Dritten Teil des Werkes daher aus der Überlagerung des gleichseitigen Dreiecks der drei gesonderten Elemente (r) mit dem gleichen, symmetrisch umgekehrten Dreieck ihrer Beziehungen (s) gebildet. Das Judentum stellt das Feuer dieses Sterns dar, während die Strahlen für das Christentum stehen. Als authentische religiöse Erfahrungen sind beide nämlich imstande, die Erlösung vorwegzunehmen, jeder in einer eigenen, besonderen Form, die einander jedoch auch ergänzen. Das Judentum besitzt das ewige Leben. Als das ewige, eine und heilige Volk garantiert es, aus aller Weltgeschichte herausgestellt, die Ewigkeit der Verheißung. Das Christentum dagegen zeichnet den ewigen Weg vor; als um das Ereignis Christi gesammelte ecclesia legt es in der historischen Zeit von der Verwirklichung der Ewigkeit Zeugnis ab. Im jeweiligen Gemeinschaftsgebet „zur rechten Zeit“,25 die etwas anderes ist als die Zeit derjenigen, die tyrannisch dem Nächsten das Übernächste vorziehen, erbeten das Judentum und das Christentum das Reich Gottes. Mit der zyklischen Wiederkehr ihrer liturgischen Feste 23 Rosenzweig 1921, S. 118. 24 Rosenzweig 1921, S. 198. 25 Rosenzweig 1921, S. 306.
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halten sie die Ewigkeit im linearen Zeitverlauf fest. Gemeinsam arbeiten sie am gleichen Werk, denn die Glut des Judentums nährt die Strahlen, mit denen das Christentum in die Nacht der heidnischen Vorwelt einbricht. Beiden ist es jedoch bestimmt, durch das Leuchten des ewigen Lebens überwunden zu werden, wenn im Stern das aufleuchtende Antlitz Gottes geschaut werden kann (mit Stirn und Wangen im oberen Dreieck und Mund und Augen im unteren). Steht man erst dem Stern gegenüber, ist das, „was nun noch kommt,“ – so Rosenzweig in Das neue Denken – „schon jenseits des Buchs, ‚Tor‘ aus ihm heraus ins Nichtmehrbuch“,26 d.h. ins Leben, wo ein jeder aufgerufen ist, die Wahrheit zu bewähren. Der hier gebotene Überblick über Der Stern der Erlösung zeigt zur Genüge, dass der religiöse Aspekt für das Werk als Ganzes grundlegend ist. Außerdem taucht das Wort ‚Religion‘, entgegen Rosenzweigs Überzeugung, im Buch hier und da auf.27 Der Verfasser schlägt zudem eine Art Phänomenologie der Religionen und ihre ‚Selektion‘ aufgrund der größeren oder geringeren Übereinstimmung mit den ‚astronomischen Entdeckungen‘ – den Elementen, der Bahn, der Gestalt – 28 vor, auf die Rosenzweig in seinem Werk nach und nach zu sprechen kommt. So gelangen wir von der Betrachtung über die Begrenztheit der orientalischen Religionen (indischer Hinduismus und Buddhismus, chinesischer Konfuzianismus und Taoismus) zur Wertschätzung des griechischen Heidentums im ersten Teil, von einer Kritik der „idealistischen Religion“29 und des Islam im zweiten Teil zur Anerkennung der Bedeutung von Judentum und Christentum im dritten Teil. Der Intensität der religiösen Erfahrung – durch das Wort geprägt, mit dem Gott die Dinge sein lässt, durch die Liebe, mit der er den Menschen zu einer Antwort aufruft, und durch das Loblied, in das der Mensch die Schöpfung einbezieht und sich an Gott wendet – ist der streng ‚gestiftete‘ Charakter der Religionen nach Rosenzweig freilich genau entgegengesetzt: „Gott hat eben nicht die Religion, sondern die Welt geschaffen“,30 stellt er in Das neue Denken lapidar fest und schon in seinen Tagebuchaufzeichnungen vom 30. September 1906 dachte er an einen Gegensatz zwischen dem „Gottesgefühl“, das „wie ein Gas […] alle leeren Räume 26 Rosenzweig 1925, S. 160. 27 Vgl. Rosenzweig 1921, S. 38, 104, 186. Ab der zweiten Auflage des Werkes, die posthum veröffentlicht wurde (1930), erscheinen von Rosenzweig selbst angebrachte Randtitel, in denen der Begriff ‚Religion‘ mehrfach auftaucht (vgl. Rosenzweig 1921, S. 129, 135, 158, 183, 191, 240, 251), und zwar fast immer in Bezug auf die Abschnitte zum Islam, „die einzige im strengen Sinn religionsphilosophische Partie in dem Buch“ (Rosenzweig 1925, S. 154). 28 Vgl. Rosenzweig 1925, S. 141. 29 Rosenzweig 1921, S. 158. 30 Rosenzweig 1925, S. 153.
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im Menschen vollkommen erfüllt[…]“, und den „Begründerinnen der synthetischen Chemie des Geistes, […] [den] Religionen“, die „durch Anwendung großer Drucke […] jenes Gas […] verflüssigen“ und „den Menschen in dieser Flüssigkeit […] lösen“.31 Eine Ausnahme bilden seinem Urteil nach das Judentum und das Christentum. Vor allem sind sie im Unterschied zum Islam keine ‚Buchreligionen‘, denn als „[ä]lter und heiliger als die geschriebene gilt dem Judentum die mündliche Lehre, und Jesus hat den Seinen kein geschriebenes Wort hinterlassen;“32 insbesondere bewahren das Volk Israel und die Kirche als „Tatsache“ bzw. „Ereignis“ von Anfang an „etwas ganz ‚Unreligiöses‘“.33 Den historischen oder historisch gewordenen Religionen setzt Rosenzweig schließlich die religiöse Erfahrung entgegen. Sein Interesse richtet sich nicht auf das Wesen der Religion, sondern auf die Frage, wie das Erleben des religiösen Ereignisses möglich ist. In seinem Fall sollte man somit von einer ‚Philosophie der religiösen Erfahrung‘ sprechen oder, falls man das Substantiv ‚Religion‘ hervorheben will, der Anregung des Buchtitels von Bernhard Casper folgend,34 auf die Formulierung ‚Religionsphilosophie der Erfahrung‘ zurückgreifen.35 Eine weniger durchgängige Rolle spielt in Der Stern der Erlösung die Musik, auch weil die Überlegungen des Autors zur Kunst insgesamt sich auf den ersten Blick als eine episodische, bisweilen auch etwas gezwungen wirkende Nebeneinanderstellung präsentieren. Es ist nicht meine Absicht, hier näher auf Rosenzweigs ästhetische Theorie einzugehen, zumal es diesbezüglich nicht an Forschungsbeiträgen fehlt.36 Ich beschränke mich stattdessen darauf, seine selbstauslegenden Äußerungen in Erinnerung zu rufen: „Während der erste Band nur die geläufigen ästhetischen Grundbegriffe abhandelt und der zweite zwar sowohl in der ganzen Einordnung wie in der letzten Zuspitzung die Ästhetik aus der hier besonders fest, weil unbewußt gebliebenen Bindung in die idealistische Tradition befreite, aber zwischenhinein doch den üblichen Inhalt einer Ästhetik entwickelte, läßt der dritte Band sie gipfeln in einer angewandten Ästhe31 32 33 34 35 36
Rosenzweig 1979, Bd. 1, S. 57. Rosenzweig 1921, S. 186. Rosenzweig 1925, S. 154. Vgl. Casper 2004. Für eine Vertiefung dieser These siehe Bertolino 2012. Siehe u.a. Mosès 1982; Mayer 1986; Baffo 1988; Mayer-De Pay 1988; Hufnagel 1994, bes. S. 34–54; Mayer-De Pay 1994; Münster 1994; Albertini 2000; Batnitzky 2000, bes. S. 83–104; Braiterman 2001; Ciglia 2004; Eicker 2004, bes. S. 161–234; Bienenstock 2006; Ciglia 2006; Simon 2006; Braiterman 2008; Bienenstock 2009, S. 51–73; Simon 2011.
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tik und verbrennt in dieser Rechtfertigung der Kunst durch das Kunstgewerbe alle Schiffe, die aus diesem Neuland in das klassische Ursprungsland der Wissenschaft vom ‚zweckfreien Wohlgefallen‘ zurücktragen könnten.“37
Zum einen haben wir in dem Werk also eine ausdrückliche Opposition gegen die idealistische Ästhetik, zum anderen den Versuch, eine Ästhetik zu entwickeln, die zwar „üblich“, man könnte sagen ‚klassisch‘ ist, die sich aber nicht auf die „reine“ Ästhetik des Idealismus zurückführen lässt, insofern die Kunst „angewandt“ werden muss. Der Gebrauch, den Rosenzweig vom Bild des Gan ‘Eden, des verlorenen irdischen Paradieses, macht – explizit auf Das erste Buch Mose (2,8.15) und implizit auf die entsprechende reiche Midrasch-Tradition verweisend –, verdeutlicht beispielhaft seine Schuldzuweisung an die Adresse des Idealismus, dieser habe die Kunst vergöttert, um den Kontakt zum lebendigen Dasein nicht zu verlieren, das durch die Sprache und nicht durch die Logik geprägt ist. Den „Sündenfall“ hat die idealistische Philosophie begangen – so der Vorwurf von Rosenzweig und bezeichnenderweise der einzige Zusammenhang, in dem in Der Stern der Erlösung das Wort auftaucht –, weil „sie der eigenen Weisheit mehr vertraute als der sichtbar sie umfangenden Schöpfermacht Gottes […]. An Stelle des geschaffenen Gottesgartens der Sprache, in dem sie ohne das Mißtrauen und die Hinter‑gedanken der Logik gelebt hatte, und den sie durch eigene Schuld verlassen mußte, suchte sie nach einem Menschengarten, einem Menschenparadies. Es mußte ein Garten sein, den der Mensch selbst gepflanzt hätte und der doch nicht sein bewußtes Werk wäre; denn wäre er das, so hätte er keinen Ersatz für den verlorenen Garten bieten können, den Gott selber gepflanzt hatte. Wie jener verlorene Garten mußte es einer sein, der den Menschen umgab, er selber wußte nicht woher; er mußte ihn wohl gepflanzt haben, aber er durfte es selber nicht wissen; er mußte sein Werk sein, aber sein bewußtloses, alle Zeichen zweckvoller Arbeit tragen und doch zwecklos entstanden sein, gewirktes Werk und doch pflanzenhaft gewachsen. So kam es, daß der Idealismus in dem Augenblick, wo er die Sprache verwarf, die Kunst vergötterte.“38
Statt den geschaffenen Gottesgarten der Sprache, den Garten Eden, d.h. die von Gott gepflanzte und dem Menschen anvertraute ursprüngliche Natur, zu bebauen und zu bewahren, hat der Mensch sich dazu verurteilt, im hortus conclusus der 37 Rosenzweig 1925, S. 157. Mit dem Begriff vom ‚zweckfreien Wohlgefallen‘ bezieht sich Rosenzweig vermutlich auf Kants Kritik der Urteilskraft (vgl. AA, Bd. 5, S. 204f., 209f.). 38 Rosenzweig 1921, S. 162f.
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Kunst zu leben. In dieser Kultur, die an die Stelle der Natur getreten ist, wird das Kunstwerk, ein unbewusstes Erzeugnis des Geistes, angesichts der Unbewusstheit seines Werdens39 als Offenbarung der Wirklichkeit bzw. „sichtbare Erscheinung eines ‚Absoluten‘“40 genommen. Wenn Rosenzweig einerseits dieses Selbstexil des Menschen beklagt, da die Kunst nur „das Halbwirkliche, […] das Wirkliche zweiter Ordnung,“41 darstellen kann, so unterstreicht er andererseits wiederholt die Bedeutung der Kunst, denn sie ist „Sprache […] des Unaussprechlichen, die Sprache solang es noch keine Sprache gibt, Sprache der Vor‑welt.“42 Auf der einen Seite ist die Kunst unfähig, die wirkliche Sprache der lebendigen Wirklichkeit zu sein, sie ist nur ein Gesprochenes;43 auf der anderen darf sie nicht ungesprochen bleiben,44 weil sie das Verständnis des Plexus von Schöpfung-Offenbarung-Erlösung befördert. Es ist also bei Rosenzweig eine teilweise Rehabilitierung des Menschengartens der Kunst zu erkennen. Er ermittelt darin nämlich die Grundpfeiler – die ästhetischen Grundbegriffe (äußere Form, innere Form und Gehalt) – ,45 auf denen er „nach dem Bilde eines Stammbaums“46 seine „Theorie der Kunst“47 aufbaut. Wir haben es also mit einer Ästhetik ‚klassischer‘ Art zu tun, die das Phänomen der Kunst in ihren Grundbestandteilen – der Urheber (sei er Genie, Dichter, Künstler oder Mensch),48 das Werk (sei es episch, lyrisch oder dramatisch)49 und das Publikum oder der Betrachter50 – untersucht und eine wahre Systematik der verschiedenen Künste, der Bildkunst, der Tonkunst und der Dichtung, vorlegt.51 Nach Rosenzweigs Absicht muss jedoch auch die Ästhetik zu einer vollkommenen Erneuerung des Denkens beitragen.52 In diesem Sinn geht seine Kunsttheorie 39 Vgl. Rosenzweig 1921, S. 165: Rosenzweig bezieht sich explizit auf Platon, Ion (vgl. z.B. 533c9–535a1). 40 Rosenzweig 1921, S. 163. 41 Rosenzweig 1921, S. 211. 42 Rosenzweig 1921, S. 164; vgl. S. 87, 89, 139, 212. 43 Vgl. Rosenzweig 1921, S. 164. 44 Vgl. Rosenzweig 1921, S. 213. 45 Vgl. Rosenzweig 1921, S. 41, 65f. bzw. 87–89. 46 Rosenzweig 1921, S. 167. 47 Rosenzweig 1921, S. 161, 209, 270. 48 Vgl. Rosenzweig 1921, S. 165f., 215, 272. 49 Vgl. Rosenzweig 1921, S. 213f., 216f., 272f. 50 Vgl. Rosenzweig 1921, S. 270–272. 51 Vgl. Rosenzweig 1921, S. 217–221, 273–276. 52 Vgl. Rosenzweig 1925, S. 140.
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im dritten Teil von Der Stern der Erlösung weit über das Episodische und ‚Klassische‘ hinaus. „Wenn uns die Kunst nun noch einmal begegnet, dann nicht wieder als Episode“ – so lesen wir in den Schlusssätzen zur Kunst im zweiten Teil: „Das Schattenreich der Kunst, das den Idealismus über die Leblosigkeit seiner eigenen Welt hatte hinwegtäuschen müssen, – es verlangt selber nach Leben. Pygmalion selbst kann seinem Werk kein Leben einbilden, so sehr er sich müht; erst wenn er den Meißel des Bildners weglegt und, ein armer Mensch, auf seine Kniee sinkt, erst dann neigt sich die Göttin ihm hernieder.“53
Nur die Kunst, die in einer tiefen, organischen Verbindung zum wirklichen alltäglichen Leben steht, ist nach Rosenzweig imstande, den Menschen zum verlorenen göttlichen Garten zurückzuführen. Hier setzt der Autor an, um seine Soziologie der bildenden, tönenden und darstellenden Künste zu entwickeln, 54 welche die Notwendigkeit aufzeigen will, dass diese heilig werden. Denn in ihrer Anwendung in der Liturgie wird die Kunst von ihrer idealistischen Reinheit gereinigt und führt den Menschen ins Paradies der ewigen Überwelt ein: „Erst die Künste, die man mit einem als Herabwertung gemeinten, in Wahrheit sie adelnden Namen als angewandte bezeichnet, erst sie führen den Menschen, ohne auch nur einen Funken von ihrer Herrlichkeit einzubüßen, ganz wieder ins Leben zurück, aus dem er, solange er sich dem ‚reinen‘ Kunstgenuß hingab, sich entfernt hatte. Ja, sie sind es allein, die ihn ganz heilen können von jener Krankheit der Weltentfremdung, die den Kunstfreund in den trügerischen Wahn höchster Gesundheit einwiegte grade dann, wenn er sich der Krankheit widerstandslos öffnete. Die Kunst entgiftet so sich selber; sie reinigt sich und den Menschen von ihrer eigenen Reinheit“. 55
Die Kunst selbst, die in ihrer Reinheit den Menschen zwingt, in einem menschlichen, allzumenschlichen Garten, einem Ersatz des verlorenen Gartens, zu leben, kann ihn also durch ‚Applikation‘ (im doppelten Sinne von ‚Anwendung‘ und ‚Eifer‘) in Gan ‘Eden, in den göttlichen Garten des Lebens, zurückführen. Sie kann den Menschen tatsächlich erhöhen und es ihm ermöglichen, nicht nur im Angesicht des Absoluten, sondern in ihm zu leben, weil sie als angewandte bildende 53 Rosenzweig 1921, S. 277f. 54 Vgl. Rosenzweig 1921, S. 393–397, 399–403, 412–415. 55 Rosenzweig 1921, S. 393. Zum Thema der „Krankheit der Weltentfremdung“ vgl. auch die beißenden, wenngleich dem Verfasser nach für die Publikation ungeeigneten Seiten von Rosenzweig 1964. Diesbezüglich siehe Bertolino 2014.
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Kunst den Raum schafft, als angewandte tönende Kunst die Zeit vorgibt und als angewandte darstellende Kunst die Gebärde lehrt, in denen bzw. mit welcher der Mensch sich Gott nähern kann. Rosenzweigs Betrachtungen zur Musik siedeln sich in diesem ästhetischen Rahmen an. Insbesondere im zweiten Teil von Der Stern der Erlösung umreißt er eine ‚klassische‘ Musikästhetik, 56 welche die Tonkunst als Verbindung des Rhythmus und der Harmonie in der Melodie beschreibt.57 Der Rhythmus, die für das Ganze geltende Taktart, ist stumm-dynamische, vergegenständlichte Musik, die jede kleinste Folge von Tönen begleitet. Ausdrücklich stimmt Rosenzweig den Worten zu, die dem Dirigenten Hans von Bülow zugeschrieben werden: „Im Anfang war der Rhythmus“, 58 wobei Rosenzweig sich fraglos auch der zahlreichen Echos bewusst war, die diese Feststellung impliziert.59 Die Harmonie beseelt und lässt den einzelnen Takt ertönen, der im Rhythmus nur als ein stummes Glied des Ganzen erscheint; für sie ist es gleichgültig, ob der einzelne Augenblick lang oder kurz ist, weil sie lediglich darauf abzielt, ihm die eigene Stimmung zu verleihen. Die Melodie schließlich, die Linie des Melos, ist in dem Maße das Lebendige an der Musik, in dem sie sich über den charakteristischen Rhythmus und die stimmungsvolle Harmonie des Musikstücks erhebt. Sie stellt für das ästhetisch-sinnlich Wahrnehmbare das eigentlich Wirkende des Musikwerks dar; sie ‚spricht‘ zum Zuhörer und es ist somit kein Zufall, „daß wir […] Anlehnungen an fremde Rhythmen, Aufnahme fremder Harmonien bei einer Komposition nicht als unzulässiges Plagiat empfinden, sondern einfach als ‚Verwandtschaft‘, während wir die geringste Entlehnung einer Melodie sofort als Diebstahl zu brandmarken geneigt sind.“60 56 Sachs 2006a, S. 102, betrachtet sie genauer als eine „an klassisch-romantischer Musik orientierte[…] Ästhetik“; er verweist außerdem (Anm. 32) auf den Abschnitt der hegelschen Ästhetik-Vorlesungen über die „Besondere Bestimmtheit der musikalischen Ausdrucksmittel“. Neben Sachs 2006a und 2006b konzentrieren sich bes. Albertini 2000; Wolf 2000; Eicker 2004, S. 235–322; Kent 2016 (mit einem Versuch, Rosenzweigs Theorie der angewandten Musik aktuell zu machen) und Bonola 2017 auf die Bedeutung der Musik für Rosenzweig. Außerdem hat Henrik Holm beim Internationalen Kongress Rom 2017 „The conjunction and in Franz Rosenzweig’s work: I and the Other, philosophy and theology, time and redemption, Judaism and Christianity“ einen Vortrag über „Rosenzweig über das Verhältnis von Sprache und Kunst in Stern der Erlösung“ gehalten und seinen Schwerpunkt auf die Musik gelegt. 57 Vgl. Rosenzweig 1921, S. 219–221, 274–276. 58 Rosenzweig 1921, S. 220. Zur Entstehung des Mottos siehe Hinrichsen 1999, S. 238. 59 Siehe diesbezüglich Bertolino 2011, S. 151f., Anm. 11. 60 Rosenzweig 1921, S. 274.
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So „ist die Musik überwiegend ‚lyrisch‘, denn sie stellt ihre Werke in den Fluß der Zeit, und die Zeit ist die Form, die jeweils immer nur einen einzelnen Augenblick ins Bewußtsein treten läßt […]. Nirgends spielt […] die Einzelschönheit eine solche Rolle wie in der Musik“61 – hebt Rosenzweig positiv hervor. Aus eben diesem Grund begünstigt die Musik andererseits einen sehr partiellen, subjektiven Genuss, der leicht zu einer aufgeregten Selbstzufriedenheit sowie zur Selbstvergessenheit führen kann. Deswegen geht es darum, die Musik nicht länger als Erzeugerin einer eigenen, idealen Zeit, als „Flucht aus den Aufregungen oder je nachdem auch der lähmenden Langeweile [d]es wirklichen Lebens“62 zu verstehen, und sie stattdessen durch ihre Anwendung in der religiösen Liturgie in die reale Zeit der Welt einzubetten. Diesbezüglich führt Rosenzweig zwei Formen an: den geistlichen Gesang des Chors der Erlösung im Judentum und die Kirchenmusik im Christentum.
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„Wir sind ewig“
Ich habe bereits angedeutet, dass die Erlösung nach Rosenzweig das zukünftige zeitliche Ereignis ist – von dem es eine Vorwegnahme gibt –, in dem der von Gott in der Offenbarung geliebte Mensch, dem damit ein Liebesgebot auferlegt ist, seine Liebestat auf das Reich der Welt als lebendiges Geschöpf Gottes richtet, das ewig wächst und der Vollendung harrt. Genauer richtet sich die Liebe des Menschen auf seinen Nächsten, verstanden im buchstäblichen Sinn als derjenige, der re‘a (3. Mose 19,18), plēsios (nach der Septuaginta-Übersetzung), plēsios allos (Homer), zu‑nächst das jeweils Nächste ist,63 als Platzhalter der Welt, gleich wer er, sie oder es ist. Dadurch wirken Mensch und Welt in Wechselwirkung aufeinander, wobei sie einander gleichzeitig erlösen und binden. Da Gott derjenige ist, der in der Offenbarung die menschliche Liebe erschließt und in der Schöpfung die Lebendigkeit der Welt bestimmt, ist genau betrachtet nur Er der Erlöser im engeren Sinn: der Erlöser der Welt durch den Menschen, der Erlöser des Menschen in der Welt und der Erlöser seiner selbst in der Erlösung beider.64
61 Rosenzweig 1921, S. 217. 62 Rosenzweig 1921, S. 400. 63 Vgl. Rosenzweig 1921, S. 243, 262. Was Homer betrifft, siehe Il. 2,271; 4,81; 22,372; Od. 8,328; 10,37; 13,167; 18,72.400; 21,396: ὧδε δέ τις εἴπεσκεν ἰδὼν ἐς πλησίον ἄλλον. 64 Vgl. Rosenzweig 1921, S. 254f.
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In einer solchen Erlösung, schreibt Rosenzweig in dem bekannten Passus aus Das neue Denken, wo er seinen theoretischen Vorschlag auch als „Sprachdenke[n]“, „sprechende[s] Denken“, „grammatische[s] Denken“ bezeichnet, „herrscht die Sprache des Chors, denn das Zukünftige erfaßt auch der Einzelne nur wo und wenn er Wir sagen kann.“65 In Der Stern der Erlösung lesen wir ferner: „[D]ie Erlösung der Seele an den Dingen, der Dinge durch die Seele geschieht im gleichatmenden Zwiegesang der beiden, im Satz, der aus den Stimmen der beiden Worte zusammenklingt“;66 „Mensch und Welt müssen […] gleichen Atems singen können; an Stelle des göttlichen Ichs [der Schöpfung und der Offenbarung], das nur Gott selber sprechen konnte, muß der göttliche Name treten, den auch Mensch und Welt im Herzen tragen können, und von ihm muß es heißen: er ist gut.“67 Genau dies ist die Chorform der Erlösung: Mensch und Welt – die „Mitsprecher des Chors“68 – vereinen sich in einem Lob- und Dankgesang für Gott, denn Er hat die Welt mächtig erschaffen und sich dem Menschen liebevoll erwiesen. „[E]r ist gut“, „weil Er gut ist“,69 klärt Rosenzweig weiter. Es ist ein „strophisch sich steigernder Gesang. Und Urgesang, der stets Gesang von mehreren ist; der Einzelne singt nicht […]. [U]rsprünglich ist der Gesang vielstimmig gleichen Tons und Atems, und über allem Inhalt des Gesanges steht die Form dieser Gemeinsamkeit. Ja der Inhalt ist selbst weiter gar nichts als die Begründung für diese seine Form. Man singt nicht gemeinsam um eines bestimmten Inhalts willen, sondern man sucht sich einen gemeinsamen Inhalt, damit man gemeinsam singen kann.“70
Im Lob- und Dankgesang der Erlösung erheben sich also die Stimmen der erlösten Seele und der erlösten Welt, die einander zunächst gegenseitig aufrufen, um dann im Einklang des Wir zu verschmelzen. Dieses ist das „Wir alle“, das liturgische „Wir alle, die wir hier beisammen sind“,71 im Chor der Erlösung. Die beiden Namen der Welt und des Menschen mit ihren jeweiligen Akkusativen finden zur Vereinigung im Dativ, an den ihr Gesang sich richtet: in Gott.72 In Gott gehen die Einzelstimmen des Menschen und der Welt, d.h. der Einzigkeit des Ich und des 65 66 67 68 69 70 71 72
Rosenzweig 1925, S. 151. Rosenzweig 1921, S. 255. Rosenzweig 1921, S. 257. Rosenzweig 1925, S. 151. Rosenzweig 1921, S. 258f. Vgl. Ps 100,4–5; 106,1; 107,1; 118,1.29 und 136,1. Rosenzweig 1921, S. 258. Rosenzweig 1921, S. 263. Vgl. Rosenzweig 1921, S. 259f.
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Du, durch die Dualität ihres wechselseitigen Sich-Anspornens hindurch zur Totalität über (die wohlgemerkt kein Plural ist): „Im Wir […] hebt die Schlußstrophe des Gesangs der Erlösung an; im Kohortativ hatte er mit dem Aufruf der Einzelnen, die aus dem Chor hervortraten, und den Responsen des Chors darauf begonnen; im Dual ging es in einem zweistimmigen Fugato, an dem sich immer neue Instrumente beteiligten, fort; im Wir endlich sammelt sich alles zum choralmäßig gleichen Takt des vielstimmigen Schlußgesangs.“73
Im Sefer Tehillim („Buch der Lobgesänge“) tragen die Psalmen 111–118 nach Rosenzweig ganz licht und offenkundig den tiefsten Sinn jenes Lobsingens. Daraus ergibt sich seine philosophische Auslegung des Psalms 115, der in der fraglichen Psalmen-Gruppe eine zentrale Stellung einnimmt, sodass das Erlösungsereignis noch deutlicher fokussiert wird. Ich greife einige Aspekte heraus, die mit den bisher beleuchteten im Zusammenhang stehen. Schon am Anfang tritt die Vorwegnahme der Zukunft in der Ewigkeit des gegenwärtigen Augenblicks hervor: Im Dativ dekliniert wird das „gewaltige[…] betonte[…] Wir […] in einem Atemzug in die Vollendung der unmittelbaren Nähe zu dem göttlichen Namen gerückt und von diesem Ende wieder in das Nochnicht der Gegenwart – ‚nicht uns, sondern‘ – zurückgezogen.“74 In den Versen 9–11 erleben wir dann ein Crescendo der Wir, die auf Gott vertrauen. Von Israel als „Gemeinde des Wir“ geht es zum Haus Aarons als priesterliche „Gemeinde durch Welt und Zeit der Ihr“, um schließlich zu den Gott fürchtenden Proselyten als „einstige messianische Gemeinde der Menschheit“ zu gelangen.75 Der Chor dieser Wir erfleht mit dem Gebet die künftige Erfüllung des Reiches bzw. „singt […] das Wachstum des Segens Schritt für Schritt, ‚je mehr und mehr‘ [V. 14], von einem zum nächsten, von einem Geschlecht zum nächsten“.76 Im „Aber“ des letzten Verses schließlich „steigert sich der Chor zum ungeheuren Unisono des allstimmigen, alle künftige Ewigkeit ins gegenwärtige Nun des Augenblicks kohortativ hineinreißenden Wir“.77 In diesem Lobgesang bestätigt der Chor der Erlösung letztlich die Verwurzelung des jüdischen Volkes in der Ewigkeit und erhebt es „zum lebendigen Bürgen der Menschheit“78 – um hier den Kommentar Rosenzweigs zum letzten Wort ex 73 74 75 76 77 78
Rosenzweig 1921, S. 264. Rosenzweig 1921, S. 280. Rosenzweig 1921, S. 280f. Rosenzweig 1921, S. 281. Rosenzweig 1921, S. 281. Rosenzweig 1924, S. LXI.
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cathedra an der Berliner Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums aufzugreifen, mit dem sein „Meister“79 Hermann Cohen seinem eigenen Ewigkeitspathos Ausdruck gab: „ein stürmisch aufjubelndes ‚Aber wir sind ewig‘.“80 Vor allem verwirklicht der Chor der Wir die Melodie der Musik ganz im Gottesgarten der Sprache und nicht im Menschengarten der Kunst: Im choralmäßig gleichen Takt sind „[a]lle Stimmen […] selbständig geworden, jede singt die Worte nach der eigenen Weise ihrer Seele, doch alle Weisen fügen sich dem gleichen Rhythmus und binden sich zur einen Harmonie.“81
3 „Credo“ Mehr noch als das Judentum, dessen Lobgesänge sich seit jeher in Gan ‘Eden ansiedeln, führt das Christentum das Musikwerk in diesen Garten zurück, denn durch seine Anwendung der Musik auf die Feste des liturgischen Kalenders bewirkt es, dass die musikalische Melodie vom Zuhörer nicht, sich in der Illusion eines idealen Lebens wiegend, vereinzelt genossen wird, sondern gemeinschaftlich in der wirklichen Zeit. In Der Stern der Erlösung scheint Rosenzweig tatsächlich klar zwischen frevelhafter und heiliger Musik zu unterscheiden. Während Erstere in den Konzertsälen genossen wird und von einer individuell idealen Zeit gekennzeichnet ist, wird Letztere in den Kirchen erlebt und zeichnet sich durch die von der Offenbarung mit ihrem Rückverweis auf die Schöpfung und ihrem Vorverweis auf die Erlösung in der Wirklichkeit gesetzte zeitliche Orientierung aus. Es geht also darum, die Musik den Konzertsälen zu entziehen, sie zu reinigen und dank ihrer Einbindung in die christliche Liturgie ins Leben zurückzuführen: „Indem die Musik sich diesen Festen und überhaupt dem Kirchenjahr einfügt, steigt das einzelne Musikwerk heraus aus dem künstlichen Rahmen seiner idealen Zeit und wird ganz lebendig, weil es gepfropft wird auf den säftereichen Stamm der wirklichen Zeit. Wer einen Choral mitsingt, wer Messe, Weihnachtsoratorium oder Passion hört, der weiß ganz genau, in welcher Zeit er ist; er vergißt sich nicht und will sich nicht vergessen; er will sich nicht aus der Zeit flüchten, sondern im Gegenteil: er will seine Seele mit beiden Beinen in die Zeit, in die allerwirklichste Zeit, in die eine Zeit des einen Welttags, dessen alle einzelnen Welttage nur Teile sind, hineinstellen. Dahin soll ihm die Musik das Geleit geben.“82 79 80 81 82
Rosenzweig 1921, S. 23, 281. Rosenzweig 1924, S. LXII. Rosenzweig 1921, S. 264. Rosenzweig 1921, S. 401f.
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Als Modell und sogar als „eigentliche Grundlage der kirchlichen Anwendung der Musik“83 schwebt Rosenzweig also der Choral vor, vor allem die Choräle der Bach-Passionen, aber auch der gregorianische Choral der katholischen Kirchenmusik. In der Harmonisierung des Chorals werden die einzelnen Stimmen nämlich in der Einheit einer nicht kontrapunktischen Polyfonie vereint; obgleich die verschiedenen Melodielinien unabhängig bleiben, erklingen sie im Einklang und werden Ausdruck der Zusammengehörigkeit aller Versammelten: „Im Choral ist die Sprache, die sonst aus jedes Einzelnen Mund ihr eigenes und besonderes Wort zu reden hat, zum Schweigen gebracht. Nicht zu jenem Schweigen, das einfach stumm dem verlesenen Wort zuhört, sondern zum Schweigen seiner Eigenheit in der Einmütigkeit des Chors.“84 Außerdem stimmt der Choral nicht nur die einzelnen Chorstimmen aufeinander ab, indem er sie auf die wirkliche Gemeinschaft des Wir vorstimmt, sondern erleichtert auch die gemeinsame Sammlung derjenigen, die diese Musik nur mithören und nicht mitsingen. Es handelt sich um die Teilnehmer an der musikalischen Messe, die – ein jeder für sich – zum Gleichklang der Gefühle bewegt werden: Indem jeder „in die Zucht von Rhythmus und Melodie genommen wird, lernt [er] die Eigenheit des eignen Worts des Einzelnen das Verstummen. Er spricht, aber was er spricht, sind nicht seine Worte, sondern die allen gemeinsamen Worte zur Musik.“85 Schließlich werden selbst die Worte, obwohl sie für sich lebendig sind, durch ihr Eingehen in den Choral der Kirchenliturgie nach Rosenzweig zeitweilig verwandelt: „Das Wort, das zum Text des Gesangs geworden ist, hört auf, ein beliebiges zu sein. Mit Sangweisen erhalten sich Worte […]. Indem die Musik sie aufnimmt, werden sie dauerhaft. Und wenn die Musik Kirchenmusik ist, dann treten sie mit ihr ein in den Kreislauf des Jahrs und werden durch die Eingliederung in den ewigen Tag des Herrn selber ewig.“86
Auch in den Schallplattenrezensionen, die Rosenzweig zwischen Frühjahr 1928 und Herbst 1929, also in der letzten Phase seiner Krankheit, als er wohl sicher auch Trost und Gesellschaft an der frevelhaften Musik fand, im Feuilleton des Kasseler Tageblatts, der Tageszeitung seiner Heimatstadt, veröffentlichte, bestätigt er die Bedeutung der musikalischen Messe und der anderen neben ihr erblühten Formen liturgischer Musik. Dabei geht er so weit, dass er diese Kunstform mit der attischen 83 84 85 86
Rosenzweig 1921, S. 402. Rosenzweig 1921, S. 402. Rosenzweig 1921, S. 403. Rosenzweig 1921, S. 403.
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Tragödie vergleicht. Insbesondere die Einwebung von Solostimmen in den Chor, die er beispielsweise an dem Schlusschor und Terzett von Teil 1 des Haydn’schen Oratoriums Die Schöpfung (Hob. XXI:2, Nr. 14: „Die Himmel erzählen die Ehre Gottes“; vgl. Ps 19,1–3) schätzt, ist nach Rosenzweig „mehr als ein technischer Fortschritt. Mag es ursprünglich zur ‚Dramatisierung‘ angewandt sein, wie es denn wohl aus der Oper, speziell aus dem Opernfinale, stammt: daß es sich seit Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts so rasch über die geistliche Chorliteratur verbreitet, hat tiefere Gründe. Das Wir der betenden Gemeinde nährt sich von dem hundertfachen Ich ihrer Glieder, doch die können nur ‚Ich‘ sagen, weil das ‚Wir‘ der Gemeinde sie trägt. Diese intimste wechselseitige Verflechtung von mir und allen findet jetzt ihre Ausdrucksform. Und damit ist das höchste Werk der ganzen Gattung, die noch in Bachs H‑Moll-Messe nicht über die großartige Objektivität eines bildhaften Nebeneinanders der Chöre und der Solostücke hinauskam, möglich geworden: Beethovens Missa solemnis.“87
Die Betrachtungen, die Rosenzweig zu unterschiedlichen Zeiten über die Missa solemnis D‑Dur op. 123 anstellt, helfen uns, die hier untersuchte Verbindung von Religion und Musik weiter zu erhellen. In Der Stern der Erlösung hebt der Autor polemisch die Vehemenz des „Credo“ hervor, das „die Worte von der vita venturi saeculi in immer neuen Wiederholungen herausjubelt, als ob sie Krone, Sinn und Bestätigung des ganzen Glaubens wären.“88 Es ist in gewissem Sinn ein ‚aufklärerischer‘ Glaube, der Idee vom ‚Fortschritt‘ der Menschheit verpflichtet, die mit Schleiermacher das lutherisch gegenwärtige Erleben des gläubigen Gefühls an die Hoffnung auf das zukünftige Reich der Sittlichkeit knüpft. Man könnte sagen, dass „die nicht endende Ausspinnung des ‚Lebens der kommenden Welt‘ gegen die kurz erledigte Auferweckung der Toten“89 in der musikalischen Komposition den Sieg des menschlichen Paradieses über das göttliche anzeigt. In Der Konzertsaal auf der Schallplatte nimmt Rosenzweig dagegen von seiner früheren Interpretation Abstand und bestätigt mit Nachdruck den geistlichen Charakter der Missa solemnis, wobei er dazu auffordert, sie den Konzertsälen zu entziehen, wo sie gewöhnlich auch aufgrund ihres Umfangs aufgeführt wurde: „An sich würde es [scil.: das Werk] grade durch die Einflechtung der Solostimmen die stärkste Wirkung dort [scil.: in der Kirche] ausüben können, – eine Wirkung, die mit seiner uns aus den Konzertsälen gewohnten so unvergleichbar wäre wie die 87 Rosenzweig 1928–1929, S. 435. 88 Rosenzweig 1921, S. 111. 89 Rosenzweig 1928–1929, S. 435.
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Wirkung der Antigone auf den athenischen Hörer mit der des Buchs oder auch einer Aufführung auf uns.“90
Darüber hinaus klärt Rosenzweig anhand einer Gegenüberstellung der Missa solemnis und der beethovenschen Musikbearbeitung von Schillers Gedicht An die Freude im Schlusssatz der 9. Sinfonie d‑Moll op. 125 Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen weltlicher und geistlicher Musik bzw. zwischen geistigem und geistlichem Gesang. Im Wettstreit mit der geistlichen Musik will die gegen 1800 entstandene „Musik des Geistes“ „sich […] ebenso weltüberfliegend[…] und dann freilich nicht weltüberwindend[…], sondern weltverklärend[…]“ geben, indem sie „den Konzertsaal als Raum für ihr Erklingen verlangt, eben weil er ein neutraler Raum ist, der jedem offen steht.“91 In diesem Sinn ruft die Schallplattenaufnahme der englischen Aufführung der Ode durch den London Philharmonic Choir unter der Orchesterleitung von Albert Coates92 in Rosenzweig „ein[en] fast erschütternde[n] Eindruck“ hervor: „ein ganz unmittelbares Erlebnis der einen Menschheit; ähnliches müssen die ersten empfunden haben, denen die Bibel im Gewand einer neuen Sprache entgegentrat.“93 Man kann also in der weltlichen Musik einem ähnlichen Miteinandersingen des Ich und der Wir begegnen wie im Choral in der Kirchenmusik (und noch früher im Chor der Erlösung). Bei genauerer Betrachtung ist ihre Grundform jedoch radikal verschieden. Im geistlichen Gesang löst sich die Stimme aus dem Chor – „etwa gleich in den ersten Takten der Missa“, kommentiert Rosenzweig –, während sie im geistigen Gesang der Ode den Chor aufruft und erweckt: „Dort Menschheit vor Gott, hier Mensch in Menschheit – und Gott nur geahnt, nur gesucht, nur ‚überm Sternenzelt‘.“94
90 Rosenzweig 1928–1929, S. 435f. 91 Rosenzweig 1928–1929, S. 436. 92 Es lässt sich nicht leicht feststellen, auf welche Aufnahme (Beethoven 1923 oder 1926) Rosenzweig Bezug nimmt. Berücksichtigt man, was er über den „ganz helle[n], beinah tenorale[n] Bariton“ schreibt (Rosenzweig 1928–1929, S. 436) – was jedoch schon in der Partitur zu lesen ist –, könnte es sich um diejenige von 1926 handeln. 93 Rosenzweig 1928–1929, S. 436f. 94 Rosenzweig 1928–1929, S. 437. Der Ausdruck „überm Sternenzelt“ ist ein Zitat aus der schillerschen Hymne.
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Sprechgesungenes Wort und Bach in die Synagogen!
Die Entscheidung, welchen Gesang er anstimmen, vor welchen Horizont er sich stellen und in welcher Form er die Wahrheit bewähren will, kommt letztlich dem Menschen zu. In diesem Sinn will Der Stern der Erlösung – wie bereits angedeutet – zum „Aufhören des Buchs“ hinführen. „Ein Aufhören, das zugleich ein Anfangen ist und eine Mitte: Hineintreten mitten in den Alltag des Lebens […]. Das Buch ist kein erreichtes Ziel, auch kein vorläufiges. Es muß selber verantwortet werden“.95 Nachdem er sein Buch beendet hatte, gab der Verfasser das Philosophieren als Selbstzweck folglich auf und widmete sich einem verantwortlichen Leben, bemüht, dem Wort zu ant‑worten, mit dem Gott sich dem Menschen offenbart. Dabei war er unter anderem auch bestrebt, der Schrift eine Stimme zu geben, d.h. ihr Wort erneut sprechen zu lassen und die Gesprochenheit sogar erklingen zu lassen, denn er war überzeugt, dass die Bibel immer bereit liege, „daß die Menschheit auf ihrem Weg sie um eben diesen Weg befrage und, sie um- und umwendend, ‚alles in ihr‘ finde.“96 So nahm Rosenzweig 1925 zusammen mit Martin Buber das ehrgeizige Projekt in Angriff, den deutschsprachigen Juden eine Verdeutschung der Bibel vorzulegen, die sich so nah wie möglich am hebräischen Text orientiere, der seiner Natur nach ursprünglich und somit wesentlich mündlich ist. Das Ergebnis ihrer Bemühungen ist eine Übersetzung, die den Text nicht gemäß der Logik der deutschen Zeichensetzung, sondern nach der Methode der Kolometrie gliedert, also unter Bezugnahme auf kōla, bei denen es sich zugleich um Atem- und Sinn-Einheiten handelt. Jeder kōlon kann und muss in einem einzigen Atemzug ausgesprochen werden; das Einatmen deckt sich mit der Sinnpause; „die Verteilung der atemerneuernden Schweigen [folgt] dem inneren Zuge der Rede, der ja nur gelegentlich von ihrem logischen Aufbau bestimmt ist, meist aber unmittelbar die Bewegungen und Erregungen der Seele selber in seinen Stärke- und vor allem in seinen Zeitmaßen spiegelt […]. Wiederum erhalten Kommas, ohne ihren logischen Charakter als untergeordnete Trenner einzubüßen, durch die hinzutretende Atemkehre ein geruhiges Ausschwingen, das ihnen im Gedränge der nebengeordneten oder im Geschiebe der untergeordneten Satzteile sonst notwendig verlorengehen muß.“97 95 Rosenzweig 1925, S. 160. 96 So in Rosenzweig 1929, S. 840. Rosenzweig zitiert Pirkei Avot („Sprüche der Väter“) 5,22. 97 Rosenzweig 1926–1927, S. 779f. Zu Methoden und Prinzipien der BuberRosenzweig’schen Verdeutschung der Schrift vgl. Buber und Rosenzweig 1936
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Dabei gingen Rosenzweig und Buber, obwohl sie die Feinheit der masoretischen Philologie anerkannten, auch auf Abstand zur durchgängig musikalischen Bedeutung der minutiösen Zeichensetzung der Bibel, die ebenfalls ein funktioneller Ausdruck des Logischen ist.98 Dennoch heißt das nicht, dass das Musikalische in ihrer Arbeit verloren ginge. Eher möchte ich sagen, dass es sich um ein anderes musikalisches ‚Stellen‘, um einen erneuerten Singsang handelt, d.h. um ein Sprechen, das sich dem Gesang annähert. Um Gershom Scholems Worte aufzugreifen – wenngleich dieser Buber eine harsche Kritik nicht ersparte, als im Februar 1961 in Bubers Haus der Abschluss der Verdeutschung gefeiert wurde –, ist es das Besondere der Übersetzung, „daß sie den Leser geradezu mit allen Mitteln zwingt, den Text laut zu lesen […]. Immer stand Ihnen das biblische Wort als gesprochenes Wort, ja als Rezitativ vor Augen, oder besser, vor dem Ohr, und niemand unter allen Uebersetzern hat Sie darin übertroffen […]. Die Worte der biblischen Rede stehen nicht mehr in […] Spannung zu ihrem Melos“.99
Rosenzweig schwebte auch eine musikalische Erneuerung des jüdischen Gottesdienstes vor. Durch einen Brief an Hermann Geiger vom 31. Dezember 1926 wissen wir von „einer alten Lieblingsidee von [ihm], der Gewinnung Bachscher Vokalmusik für den jüdischen Gottesdienst.“100 Diese Idee übertrug sich 1928 in eine Anregung vor der jüdischen Jugend, als Rosenzweig den Brief mit dem programmatischen Titel Bach in die Synagogen! Zur Reform der Reform101 in die jüdische Öffentlichkeit brachte. Die Hinweise, die er dazu gibt, sind spärlich: Es ginge darum, „im Gottesdienst neben dem ständigen Synagogenchor eine Bachsche Motette oder Kantate in ihren für die Synagoge geeigneten Partien im Gottesdienst aufzuführen […]. Ganz kann ja das meiste nicht genommen werden, weil irgendeine Arie mindestens gewöhnlich die christliche Moral von der alttestamentlichen Geschicht
98 99 100 101
(Rosenzweigs Aufsätze und andere bis dahin unveröffentlichte Texte sind jetzt in Rosenzweig 1984, S. 717–840 unter der Überschrift „Zur hebräischen Sprache und Bibel“ gesammelt). Dazu siehe u.a. Fox 1989; Bauer 1992, bes. S. 325–442; Niehoff 1993; Licharz und Schoneveld 1996; Askani 1997; Bouretz 2000; Benjamin 2009, bes. S. 103–170; De Villa 2012, bes. S. 274–305, 408–467. Vgl. Rosenzweig 1926–1927, S. 780f. Scholem 1963, S. 6 (Hvh. v. Verf.). Rosenzweig 1979, Bd. 2, S. 1119. Rosenzweig 1928.
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zieht. Aber es gibt eine Fülle alttestamentlicher Texte, und grade die schönsten, in Bachscher Vertonung. Natürlich müßte, damit die Sache kein ‚Synagogenkonzert‘ wird, sondern wirklich im Rahmen des Gottesdienstes bleibt, der Text einer sein, der sowieso an dem betreffenden Tag vorgelesen wird entweder aus der jeweiligen Perikope des Pentateuchs oder aus dem zugehörigen Profetenabschnitt.“102
Die in der Jüdisch-liberalen Zeitung erschienene Nachricht über einen Vortrag zum Thema „Synagoge oder Konzertsaal“, den Geiger im Rahmen eines Heimabends beim Vorsitzenden der Frankfurter Jüdisch-liberalen Jugendgemeinschaft hielt und der dem jungen Musikstudenten ermutigende Worte Rosenzweigs eintrug, gestattet es, den kulturellen Kontext, in dem Rosenzweigs Gedanken Gestalt annahmen, sowie die Richtung dieser Gedanken genauer zu skizzieren. Geiger „wies auf das Theatermäßige, Äußerliche mancher Gottesdienste hin, beanstandete den Mangel an Andacht und das Verhalten der Gemeindemitglieder in den Gotteshäusern und hielt eine Renovierung des Gottesdienstes in modernem Sinne für erforderlich. / Einen Weg hierzu sah er in der Darbietung anderer Musik als der bisher üblichen und in einer künstlerischen Form. Er schlug vor, Bach und Händel, die Allgemeingut jedes religiösen Menschen seien, sprechen zu lassen; die mechanischen deutlichen Gebete auszuschalten und dafür dem Chor und dem freien Orgelspiel einen größeren Raum zu gewähren […]. / Die Diskussion bewies durch ihre Lebhaftigkeit, wie brennend diese Fragen für unsere Jugend sind, und wie allenthalben das Bedürfnis besteht, das Alte, Wertvolle in eine [Edition: einer] dem modernen Empfinden leichter eingehende [Edition: eingehenden] und besser liegende Form zu kleiden, um wahrhaft religiös zu sein und zu werden.“103
Im Reformjudentum, das nebenbei gesagt von Geigers Großvater, dem Rabbiner Abraham, angestoßen wurde, und zu dem die großbürgerliche Familie Rosenzweigs sich bekannte, wurde die Form der Synagogenmusik also in Frage gestellt. Dies ging so weit, dass sich der Oberkantor der Stuttgarter Synagoge, der Rabbiner Leo Adler, im Januar 1926 fragte, ob „es ein Zufall [ist], daß in einer Woche drei jüdische Zeitungen vier Artikel bringen, die sich so ziemlich mit den gleichen Fragen befassen[.] Oder sollten diese Artikel Diskussionsstoff bieten, für die in Aussicht stehende Kantorenversammlung? Oder sollte gar“ – dies war seine Meinung – „das Bedürfnis vorhanden sein, diesen Fragenkomplex eingehender erörtern zu wollen?“104 102 Rosenzweig 1979, Bd. 2, S. 1119f. 103 Jüdisch-liberale Jugendgemeinschaft 1926, S. 3. 104 Adler 1926, S. 7.
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Augenscheinlich eröffnet sich damit ein vielversprechender Forschungsweg, der hier freilich nicht beschritten werden kann und der zu den Kompositionen von Salomon Sulzer und Louis Lewandowski zurückführt. Zusammen mit diesem Hinweis möchte ich auch die Beiträge von Dieter Adelmann zur synagogalen Chormusik des 19. Jahrhunderts erwähnen,105 vor allem insofern er nicht zuletzt der kulturgeschichtlichen und religionsphilosophischen Bedeutung sein Augenmerk schenkt. Die gleiche Aufmerksamkeit hatte im Übrigen Rosenzweig, dessen Vorschlag, die bachsche Musik in den jüdischen Gottesdienst einzubinden, nicht nur zum jüdisch-deutschen Dialog hätte beitragen können, sondern wiederum die zentrale Bedeutung der gelebten religiösen Erfahrung unterstreicht, die auch von und in der Musik gefasst werden kann und muss. Kurz: Bach in den Synagogen „wäre ein rechtes Glück […] für beide Beteiligten: für die Synagoge, die damit endlich statt braver Kapellmeistermusik Teil gewänne an der wirklichen großen deutschen Musik, aber auch ein Glück für Bach, denn diese Sachen schlafen ja größtenteils den Schlaf der Partitur, aus dem sie dann zu klingendem Leben erweckt würden.“106 Aus dem Italienischen von Leonie Schröder
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Sprache und Musik: ein offenes Wechselverhältnis
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Luther-Lied und Luther-Melodie Konrad Klek
1 Einleitung In populärwissenschaftlichem1 wie theologisch-fachspezifischem2 Schrifttum hält sich hartnäckig die heutigen Rezipienten offenbar unmittelbar einleuchtende These, Martin Luther habe mit seinen Liedern seinerzeit so große Wirkung erzielt, weil er „dem Volk nicht nur beim Sprechen, sondern auch beim Singen aufs Maul geschaut“ habe. Gegenpolig zur heutigen Dominanz „bildungsbürgerlicher Kirchenklassik“ wird konstatiert: „Luther selbst hat hingegen Volkslieder, Schlager, gar Gassenhauer mit seinen reformatorischen Ideen neu vertextet.“ Demgemäß war für Luther bei den Liedern die Musik vor allem Mittel zum Zweck, die reformatorischen Ideen unters Volk zu bringen. Und effektiv war er demnach darin, dass er dezidiert populäre Singformen nutzte. Beim Lesen dieser These müsste sich eigentlich sogleich die Frage aufdrängen, warum dann heute Luthers Lieder so wenig gesungen werden und ihre Melodien so sperrig erscheinen. Sollten „Gassenhauer“ von damals heute gar nicht mehr zünden? 1 2
Siehe exemplarisch den Beitrag von Baltruweit und Werner 2017 in der Dokumentation des Wittenberger „Reformationssommers“, die folgenden Zitate S. 83. Siehe etwa Zimmerling 2015, S. 81 zu Luthers Liedern: „In seinen Kompositionen greift er die im 16. Jh. beliebten Volksliedmelodien auf und schaute auch an dieser Stelle dem Volk aufs Maul.“ Hofmann 2015, S. 279–281, sieht in ihrer ansonsten gründlichen Studie zu protestantischen Liedpsaltern in Luthers Orientierung an Volksliedern sogar einen spezifischen Gegensatz zu den Straßburger und Genfer Psalmliedern.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_5
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Konrad Klek
Der Sonderfall Vom Himmel hoch, da komm ich her
Der hymnologische Befund ist eindeutig. Nur ein einziges Lied hat Luther erwiesenermaßen auf die Melodie eines „Volksliedes“ gedichtet, ja, im damals verbreiteten Kontrafaktur-Verfahren das Volkslied aufgegriffen und inhaltlich „ins Gegenteil“ verkehrt. Es ist dies eines der späteren Lutherlieder (1535): Vom Himmel hoch, da komm ich her (EG 24) greift den bei Jugendlichen verbreiteten Brauch des Singens um einen Kranz auf.3 Wer die beste Story erfindet und singend vorträgt, gewinnt den Kranz. Die standardisierte Einleitungsstrophe kann etwa lauten: „Ich kumm aus frembden landen her/ und bring euch viel der newen mär […]“. Luther eröffnet seine Weihnachts-Liedstory in direkter Anlehnung daran und nutzt tatsächlich die dabei gebräuchliche Volksliedmelodie, wie die Erstveröffentlichung in einem Gesangbuch 1535 belegt.4 Allerdings schiebt er vier Jahre später, 1539, eine neue, eigene Melodie nach, die bis heute mit dem Lied verknüpft ist und spätestens seit dem 19. Jahrhundert als musikalisches Weihnachtssymbol rezipiert wird.5 Hans-Otto Korth hat im Jahr 2005 eine ausführliche Studie6 über die beiden Melodien vorgelegt und dabei erörtert, welche allgemeinen Vorbehalte gegen das Kranzsingen Luther dazu bewogen haben könnten, seinen „glücklichen Wurf“7 mit der Kontrafaktur der populären Kranzlied-Melodie preiszugeben. In seiner Lutherlied-Edition 2017 kann Korth sich letztlich nicht damit abfinden. Das sei eine „Notlösung“, „durch die ein Geniestreich zerschlagen wurde.“8 Den großen Gewinn an Prägnanz in der Wort-Ton-Beziehung beim ganzen Lied – nicht nur in der Eingangsstrophe – durch Luthers eigene Melodie sieht Korth nicht. Ich habe das an anderer Stelle nachgewiesen.9 Luthers neue Melodie ist gewiss keine Notlösung, sondern ein für ihn signifikanter künstlerischer Gestaltungsakt. Infolgedessen ist diese Vom Himmel hoch-Melodie semantisch nun so spezifisch gefüllt, dass sie auch ohne Liedtext als Weihnachtssymbol kenntlich ist.
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Siehe dazu Korth 2017, S. 243f. Diese Melodie ist im heutigen Gesangbuch ziemlich widersinnig dem noch späteren Weihnachtslied Luthers Vom Himmel kam der Engel Schar (EG 25) zugewiesen. Etwa beim Stück Dezember im Klavier-Zyklus Das Jahr (1841) von Fanny Hensel, geb. Mendelssohn-Bartholdy. Korth 2005. Korth 2017, S. 245. Korth 2017, S. 246. Klek 2017, S. 230–234.
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„Lutherstrophe“ und das Prinzip „eigene Melodie“
Als Luther im Sommer/Herbst 1523 das Liederdichten als reformatorische Strategie entdeckt,10 wählt er für seine ersten geistlichen Lieder überwiegend dieselbe Strophenform. In der „Barform“ mit Wiederholung der ersten beiden Zeilen im „Stollen“ sind es sieben Zeilen, also 2 + 2 + 3 – in Silben: 2x (8+7) + 8 + 8 + 7. Im jambischen Versmaß enden die achtsilbigen Zeilen auf betonter Silbe, die siebensilbigen unbetont. Neben dem balladenhaften Nun freut euch, lieben Christen gmein (EG 341) sind dies die Psalmlieder Ach Gott, vom Himmel sieh darein (EG 273 zu Psalm 12), Es spricht der Unweisen Mund wohl (Psalm 14), Wär Gott nicht mit uns diese Zeit (Psalm 124), Aus tiefer Not schrei ich zu dir (Psalm 130).11 Die Lehrbuchlogik der Germanisten hat dafür den Namen „Lutherstrophe“ kreiert. Auch in Luthers Umfeld entstehen zeitgleich Lieder in dieser Strophenform, so Es ist das Heil uns kommen her (Paul Speratus, EG 342) und Wo Gott der Herr nicht bei uns hält (Justus Jonas zu Psalm 124; im EG 297 mit zwei Strophen aus Luthers Lied zum selben Psalm verbunden). Die „Lutherstrophe“ ist keine Erfindung des Reformators, sondern ergibt sich als Prinzipalform reformatorischen Singens schlicht dadurch, dass Luther sich an einem bekannten Lied orientiert, dessen Charakter ihm geeignet erscheint, „das heylige Euangelion/ so itzt von Gottes gnaden widder auffgangen ist/ zutreiben und inn schwanck zubringen“, wie er die Motivation zum Liederdichten in seiner ersten Gesangbuchvorrede Ende 1524 benennt.12 Dieses Lied ist „das Christ ist aufferstanden/ so man auffs Osterfest zusyngen pflegt“ mit dem Incipit Freut euch ihr Frauen und ihr Mann laut Angabe zur Melodie im Erfurter Enchiridion (1524) bei Nun freut euch, lieben Christen gmein. Abgedruckt ist die Melodie beim Speratus-Lied Es ist das Heil uns kommen her wie folgt:
10 Vgl. Rößler 2001, S. 38–44. 11 Lied-Incipits werden stets in moderner Umschrift angegeben. In anderer Strophenform stehen die Psalmlieder Es wollt uns Gott genädig sein (Psalm 67, vgl. EG 280) und Wohl dem, der in Gottes Furcht steht (Psalm 128). 12 Walter 1524.
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Luther knüpft mit seinem Lied Nun freut euch, lieben Christen gmein also dezidiert an die „frohe Botschaft“ von Ostern an – beachte die sprachliche Anlehnung in der Kopfzeile: Freut euch ihr Frauen und ihr Mann. Er formiert aber einen allgemeinen, vom Kirchenjahr unabhängigen „hübsch Euangelisch gesang“.13 Der „Gassenhauer“, an dem sich Luther hier orientiert, ist also ein Osterlied, das mit der Melodie die Strophenform vorgibt. Das gesungene Zeugnis vom neu aufgedeckten Evangelium findet im Osterklang seinen passenden „Sound“. Und „die Lutherstrophe“ ist originär ein volkssprachliches Osterlied, dessen siebenzeilige Barform im Zeitkontext durchaus ungewöhnlich ist für ein geistliches Lied. Das philologische Problem der hymnologischen Forschung ist, dass die im Erfurter Enchiridion benannte Fassung des Osterlieds quellenmäßig nirgends greifbar ist. Die allgemeine Liedkultur der Zeit war stark oral geprägt und daher in den Details von Melodie und Text wenig stabil.14 Die schriftliche Niederlegung (und 13 So die Betitelung des Liedes im Erfurter Enchiridion. 14 Selbst im Erfurter Enchiridion steht noch eine Variante des Lied-Incipits: Freuet euch lieben Christen – in der Überschrift zur oben wiedergegebenen Melodie.
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Überlieferung) ist stets eine Rarität. Es gibt allerdings eine Variante dieses Gesangs (ohne Noten) als dreistrophiges Lied in einem Breslauer Codex aus dem Jahr 1478 mit abweichender Silbenzahl, wahrscheinlich im Dreiertakt (Wechsel Halbe/ Viertel) zu singen: Frew dich, alle cristenheit,/ got hot oberwunden, Dy bitter martie dy her leydt/ do von ist her entpunden.15 Die Forschung konnte eruieren, dass die Vorlage dafür Liedstrophen sind, die in einem Mainzer Prozessionale von 1390 als Glossierung zum Regina Coeli für die Osterprozession notiert sind. Da die Silbenzahl vor allem der Eingangszeile (bei insgesamt fünf Strophen) dort nicht konstant ist, sind alle Strophen mit Noten aufgezeichnet, allerdings ohne Rhythmisierung.16 Im Anschluss an den jeweiligen Alleluja-Schlusston beginnt jede Strophe mit dem Grundton und repetiert diesen, ehe sie zur 5. Tonstufe springt. Ein wohl kurz vor der reformatorischen Lieddichtung um 1520 entstandener Liedsatz von Heinrich Finck (gestorben 1527) bringt die Melodie als Tenor-Cantus firmus mit dem Incipit Freu dich, du werte Christenheit.17 Auch hier beginnt die Melodie auf dem Grundton, springt aber schon beim zweiten Ton auf die 5. Stufe und repetiert nun da.18 Der für die reformatorische Liedfassung charakteristische Einstieg auf der 5. Stufe ist vorher nicht belegt. Allerdings zeigen dies dann auch alle späteren Varianten der katholischen Osterlied-Überlieferung mit dieser Melodie.19 Unzweifelhaft ist jedenfalls, dass die Melodie an Ostern ihren Sitz im Leben hat – „so man aufs Osterfest zu singen pflegt“–, ein Sachverhalt, der in der Forschung kaum reflektiert wird. In der reformatorischen Liedüberlieferung ist die Melodie erstmals greifbar im Nürnberger Achtliederdruck (Anfang 1524) auf Bogen A beim Speratus-Lied Es ist das Heil uns kommen her (EG 342), womit sie bis heute (in etwas geglätteter Form beim Abgesang) verbunden ist. Da am Ende des Apparates mit Bibelstellen-Nachweisen zum Lied notiert ist „Wittenberg 1523 Pau. Speratus.“ geht man davon aus, dass dieser Nürnberger Druck einen gleichlautenden Wittenberger Einlieddruck aus dem Vorjahr als Vorlage nutzt. Auf dem dritten, mit C gekennzeichneten Bogen des Achtliederdrucks finden sich dann Luthers Lieder zu Psalm 12 15 Wackernagel 1867, Nr. 963. 16 Siehe die minutiöse Aufarbeitung des Befundes bei Lipphardt 1964. Die Mainzer Quelle ist als Faksimile wiedergegeben zwischen S. 96 und S. 97. 17 So auch das Incipit im späteren katholischen Gesangbuch von Leisentrit 1567, S. 142; dort allerdings mit anderer Melodie. 18 Siehe im Scan der posthum (1536) edierten Liedsammlung Fincks (Schöne außerlesene lieder): https://archive.thulb.uni-jena.de/hisbest/rsc/viewer/HisBest_ derivate_00005164/BE_1536_0083.tif. 19 Siehe die Auflistung der Varianten bis 1610 bei Lipphardt 1964, S. 112f.
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(11), 14 (13) und 130 (De profundis), eingeleitet „Die drey nachfolgenden Psalm. singt man in disem thon“, worauf hin erneut die Ostermelodie abgedruckt ist – mit demselben Druckstock fabriziert wie auf Bogen A.20 Wahrscheinlich gab es auch hier eine Vorlage (als Einblattdruck) mit diesen drei Liedern und derselben Melodiezuweisung.
Alle Lieder im Schema der „Lutherstrophe“ sind aber alsbald auch mit eigenen Melodien überliefert, die von der Forschung gerne als „Urtext“ in Anspruch ge20 Siehe Korth 2017, S. 63. Luthers Psalmlieder sind bei allen Lieddrucken des Jahres 1524 noch nach der Vulgata-Zählung nummeriert.
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nommen werden. Die ersten greifbaren Drucke zeigen aber das Nebeneinander von offensichtlich „populärer“ Ostermelodie (OM) und eigener Melodie (EM). Der Befund ist folgender: Nun freut euch, lieben Christen gmein: OM Erfurter Enchiridion (Sommer/ Herbst 1524), EM Flugblatt (1523), das Vorlage für den Nürnberger Achtliederdruck (Anfang 1524) ist. Lieder zu Psalm 12, 14, 130: OM in Nürnberg 1524; Psalm 12 EM in Erfurt 1524, darauf verwiesen wird dort auch bei Psalm 14; Psalm 130 hat in Erfurt die EM. EM zu Psalm 14 und Psalm 124 bei Walter (Ende 1524). Das Ende des Jahres 1524 von Johann Walter in Wittenberg vorgelegte Geystliche Gesangbüchlin enthält (unter anderen) alle gut zwanzig Lieder von Luthers „Liederjahr“ 1523/24. Da dies kein Liederbuch ist, sondern in separierten Stimmbüchern teilweise komplexe, mehrstimmige Liedsätze präsentiert, haben alle Lieder eigene Melodien, zeittypisch dem Tenor zugewiesen. Zur Logik eines „Chorgesangbuchs“ gehört, dass jedes Lied mit eigener „Musik“ verbunden ist. Die Ostermelodie ist beim Speratus-Lied angesiedelt. Bei Nun freut euch, lieben Christen gmein gibt es zur Luthermelodie (XV) noch eine andere Fassung (XIIII) in einer Art Tanzsatz im Tripla-Takt, wo keine der Stimmen als „cantus firmus“ auszumachen ist. Autorenangaben fehlen hier bei Texten wie Melodien. So ist auf philologischem Wege nicht eindeutig zu klären, ob Melodien zu Lutherliedern, die hier erstmals greifbar sind, von Johann Walter stammen oder vom Textautor. Die Liedüberlieferung vor Walter zeigt jedenfalls, dass es zum Standard-Melodiemodell des Osterliedes schon bald Alternativen für die einzelnen Lieder gibt, die den jeweiligen Charakter in spezifischer Weise profilieren. Bei Nun freut euch, lieben Christen gmein habe ich das an anderer Stelle ausgeführt.21 Hier sei eine Untersuchung ergänzt zu den beiden Psalmliedern mit „eigener Melodie“ vor Walter 1524 – Aus tiefer Not schrei ich zu dir und Ach Gott, vom Himmel sieh darein. Beide Melodien sind durchaus ungewöhnlich geführt und zeigen ein eigenwilliges Profil. Dem damaligen „Liedermacher“-Habitus gemäß ist der Autor eines Liedtextes auch für die Singweise zuständig. Man sollte also prinzipiell von Luther als Melodist ausgehen, sofern es philologisch keine gegenläufigen Befunde gibt.22 Vielleicht lässt die genaue Untersuchung dieser beiden Melodien sogar Grundzüge einer musikalischen „Handschrift“ Luthers erkennen.
21 Klek 2017, S. 224–230. 22 Korth 2017 und auch Heidrich und Schilling 2017 sind zurückhaltend in der LutherZuschreibung, anders Rößler 2001.
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Aus tiefer Not schrei ich zu Dir (EG 299) Wahrscheinlich hat Luther mit diesem Lied die Gattung Psalmlied erfunden. Jedenfalls schickt er es Ende 1523 als Muster an Georg Spalatin in Verbindung mit dem Brief, in welchem er diesen als Mitstreiter beim Psalmlieddichten gewinnen will.23 Philologen kommen hier ganz auf ihre Kosten, da die frühe Überlieferung nicht nur zwei Melodien, sondern auch zwei Textfassungen bereithält, eine mit vier und eine mit fünf Strophen.24 Luther hat seine Übertragung des sechsten Bußpsalms nachträglich rechtfertigungstheologisch noch schärfer profiliert, indem er einen Satz wie Es ist doch unser thun umb sunst/ auch inn dem besten leben einfügt und die Psalmverse 4 und 5 in je eine Liedstrophe separiert. Die Relevanz dieser Akzentuierung belegt noch fast 500 Jahre später der bemerkenswerte Vorgang, dass beim neuen katholischen Gesangbuch Gotteslob (2013) die zweite Strophe mit dem zitierten Passus offenbar auf Weisung „von oben“ gestrichen ist (GL 277). In der Frage der Melodiezuweisung lohnt es sich, der Hypothese nachzugehen, dass Luthers Strophen-Erweiterung mit der Schaffung einer eigenen Melodie korreliert.25 Zunächst sei die ursprüngliche zweite Strophe der Ostermelodie unterlegt26:
23 WA.B 3, 220f., in neuer Übersetzung wiedergegeben auch bei Heidrich und Schilling 2017, S. 193. 24 Siehe die Gegenüberstellung der Textfassungen bei Hahn 1981, S. 252 und Evang 2018, S. 124 (fehlerhaft). 25 Evang 2018, S. 123. 26 Textfassung nach Erfurter Enchiridion. Bei Notenbeispielen wird die Orthographie von Noten wie Text modernisiert wiedergegeben. Die ursprüngliche Notation steht hier vorzeichenfrei eine Quarte höher, was nichts über die faktische Tonhöhe aussagt. Vgl. jeweils die Liededition durch Markus Jenny in AWA 4.
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Bei dieser Melodie führt die erste Zeile im Stollen stringent weiter zur zweiten, der Akzent liegt dort und zwar deutlich auf der Paenultima. Dem entspricht Luthers inhaltlicher Akzent mit vergeben, bei der Wiederholung dazu gereimt Leben.27 Der Abgesang ist profiliert durch den dreimaligen Spitzenton in dichter Folge, zweimal in Zeile 5, einmal in Zeile 6. Bei beiden Zeilen ist er am Anfang mit Quartsprung und Punktierungs-Dehnung signalartig hervorgehoben. Luthers Text verknüpft die Spitzentöne mit da-rum, hof-fen, mein Herz. Akzentuiert ist so zunächst die Konsekutiv-Verbindung von Gottes Vergebungsmacht zu des Menschen Hoffnung, dann die h-Alliteration hoffen/Herz. Musikalisch wirkt der zweite Quartsprung in der Bestätigung als Überbietung des ersten – im Singen wird so mein Herz zur Pointe der Strophe. Glaube bei Luther ist „heart to heart“-Kommunikation. Im vorausge27 Vgl. die analogen Sinnakzente bei den beiden letzten Strophen Morgen/sorgen und Gnade/Schade.
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henden „hübsch evangelisch Lied“ hat er in derselben Strophenposition formuliert: er wandt zu mir das Vaterherz (Nun freut euch, lieben Christen gmein, Strophe 4). Dass Luther bei der Texterweiterung dann bereits seine eigene Melodie vor Augen bzw. im Ohr hat, zeigt die passgenaue Spitzenton-Textregie:
Im phrygischen Modus der neuen Melodie ist die sechste Tonstufe in ihrer Halbtonspannung zur fünften der expressivste Ton. Luther besetzt diesen Ton c mit Zentralworten: Strophe 2 nichts/ un-ser als Akzentuierung der Verlorenheit des Sünders bzw. seiner völligen Angewiesenheit auf Gottes Gnade, was inhaltlich als Thema dieser Strophe separiert ist. Die neue Strophe 3 artikuliert demgegenüber ausschließlich positiv die Vertrauensaussage. Hier sind mit Gott und Herz die
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beiden Pole der Glaubensbeziehung dem Ton c zugewiesen. Als einsilbige Zentralworte kommen sie mit diesem einen Expressivton besonders zur Geltung. Im Abgesang seiner Melodie hat Luther eine subtilere Spitzenton-Regie angelegt als bei der Ostermelodie. Als siebte Tonstufe d kommt er in Zeile 5 und 6 jeweils nur einmal, in Zeile 5 erst auf der sechsten Silbe, in Zeile 6 komplementär dazu bereits auf der vierten. Zeile 5 ist sozusagen dramatisch verdichtet und damit der Höhe- und Mittelpunkt der ganzen Melodie, indem der Spitzenton hier mit a/dSprung als steigernde Sequenz des Quartsprungs am Zeilenbeginn (g/c) erreicht und dabei rhythmisch gerafft wird durch das synkopische Vorziehen des Spitzentons.28 In der neuen Strophe 2 unterlegt Luther in Zeile 5 und 6 dem Spitzenton passgenau die Stammsilben der Verben rühmen und fürchten mit analogem, scharfem ü-Klang, der auf dem Spitzenton besonders gut zur Geltung kommt. In Strophe 3 ist zunächst die Alliterationswendung wertes Wort mit ihrer ersten Silbe akzentuiert (»solo verbo«), der zweite Spitzenton aber erhält das wiederum einsilbige Zentralwort Trost, dessen bergender o-Klang im Zeilen-Zielwort (treuer) Hort nochmals bekräftigt wird. Das ist mein Trost wird so zur Pointe der Strophe. Die Melodie der Schlusszeile startet mit dem Expressivton c der ersten Zeile, im Quartsprung betont angesetzt. Luther verbindet damit in Strophe 2 dei-ner als Gegenpol zu un-ser in Zeile 3 und erzielt so wieder eine inhaltliche Pointierung. In Strophe 3 steht an dieser Position (wie in der ursprünglichen Strophe 2) will (ich) als Gegenpol zu (wer) kann in Strophe 1. Die sub specie hominis aussichtslose Frage wer kann? (Herr, vor dir bleiben) ist im Vertrauen auf Gottes Gnade (Strophe 2) nun umgekehrt zum Gelübde (des) will ich (allzeit harren). Das Zeilen- wie Strophenschluss-Verb harren in Strophe 3, in der siebenzeiligen Strophenform solitär (ohne Reimbezug) und dadurch betont, korrespondiert inhaltlich nun präzise mit bleiben in der Schlussfrage von Strophe 1. Singt man die neuen Strophen 2 und 3 auf die vorige Ostermelodie, merkt man, was an Plastizität und Griffigkeit fehlt gegenüber der neuen Version. Was aber hat Luther bei der Erfindung der neuen Melodie geleitet? Ein Liedermacher steht bei jedem Strophenlied vor der Frage, inwieweit er die Melodie speziell auf die erste Strophe hin profiliert. Gegebenenfalls nimmt er damit in Kauf, dass Details in Folgestrophen oder eine inhaltliche Entwicklung bzw. Umpolung im Fortgang des Liedes mit der Melodie nicht mehr konsonant sind. Kennzeichen dieses Liedes ist inhaltlich, dass es den Umschwung im Psalm von der Klage zur Vertrauensaussage sehr deutlich macht und so evangelische Rechtfertigungslehre 28 Diese rhythmische Pointe war in der Gesangbuchüberlieferung verloren gegangen und ist erst mit dem EG (1993) wieder in die Notation aufgenommen worden. In der Praxis wird sie gleichwohl meistens ignoriert.
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profiliert.29 Die Schlussstrophe zum Übermaß von Gottes Gnade ist geradezu vollmundig formuliert. Das im Psalm ja nicht enthaltene, starke Bild vom guten Hirten setzt Luther alles überstrahlend an den Schluss. Wenn man diese Strophe, wie ursprünglich gedacht, mit der Ostermelodie singt, kommt der gute Hirt (zu Beginn des Abgesangs in Zeile 5) voll zur Geltung. Luther spiegelt im Lied hier offensichtlich den Ritus der Kreuzaufrichtung im Zuge der Ablasskampagnen, wo als Pointe im Schlussgebet „Christus als guter Hirte angerufen wird, der seine Schafe durch sein kostbares Blut am Kreuz erlöst hat“.30
29 Vgl. die Hinweise zu Luthers Verständnis dieses Psalms als „Paulinischer Psalm“ bei Heidrich und Schilling 2017, S. 164. 30 Hamm 2016, S. 201.
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In Tonart und Gesamtcharakter sind Ostermelodie und eigene Weise sehr gegensätzlich. Dem Dur-ähnlichen Ionisch31 steht das ernste Phrygisch gegenüber, wie es für Bußlieder typisch ist. Die Spitzentöne des oberen Grundtons bei ersterem, durch Punktierungs-Dehnung zweimal (Zeile 5 und 6) geradezu lustvoll ausgekostet, sind jetzt modifiziert zu subtilem Agieren mit Tonstufe 6 und 7, die Stufe 8 wird nicht erreicht. Offensichtlich leitete Luther bei der Erfindung der neuen Melodie sehr konkret die erste Strophe. Die Psalmen, das alltägliche Singe-Brot der Klosterkultur, waren den Rezipienten ein Begriff nicht nur über die Nummerierung, sondern mindestens ebenso stark über das Incipit. In den ersten Lieddrucken und Gesangbüchern bis zum letzten unter Luthers Ägide 1545 steht bei den Psalmliedern in der Überschrift neben der Psalmnummer stets das Vulgata-Incipit. Psalm 130 ist das De profundis, ein besonders eindrückliches Bild als drastischer Inbegriff der Situation des sündigen Menschen vor Gott: „aus der Tieffen“ heißt das dann in der Lutherbibel.32 Im Nürnberger Achtliederdruck (1524) steht als Liedüberschrift sogar nur „Der Psalm De profundis“, die Nummer fehlt.33 Während Luther bei seiner ersten Übersetzung des Psalms bereits 1517 in der Bußpsalm-Auslegung noch umständlich formuliert – „O Gott, tzu dyr hab ich geschryen von den tyffen“,34 wählt er beim Lied den De profundis-Einstieg, der ihm vom Psalmensingen im Kloster her in Fleisch und Blut ist. Dem korrelierend erhält seine eigene Melodie ein äußerst prägnantes Incipit.
31 Zur Fachdiskussion mixolydisch oder ionisch siehe Lipphardt 1964, S. 109f. 32 Erstmalig im Manuskript zur AT-Übersetzung, WA DB 1, 545. Ob das Psalmlied chronologisch vor der neuen Übersetzung von Psalm 130 liegt, kann wohl nicht geklärt werden. Vielleicht könnte eine linguistische Detailstudie hier Abhängigkeiten eruieren. 33 Erfurter Enchiridion (1524): Der cxxix. Psalm De profundis; Klugsches Gesangbuch (1529/33): Der CXXX. Psalm/ De profundis clamavi etc.; Babstsches Gesangbuch (1545): Der CXXX. Psalm/ De profundis clamavi ad te Domine. 34 WA 1, S. 206; vgl. Hahn 1981, S. 252.
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Diese vier Töne sind einer der genialsten und wirkungsmächtigsten Einfälle der Musikgeschichte, musikologisch eine „Pioniertat“.35 Der Einstiegston h allein ist in den (kirchen)tonalen Koordinaten der Zeitgenossen ein höchst labiler Ton. Hier wird er zudem extra lang gehalten, wo sonst durchgehend kurze Achtelauftakte die Zeilen eröffnen. Der anschließende Quintfall brächte die tonale Welt mit dem Grundton in Ordnung, wenn die Melodie nicht zurückspränge zu h. Die Melodie des Genfer Psalters zu diesem Psalm, 36 im Gesangbuch heute bei EG 379 Gott wohnt in einem Lichte, verfährt denn auch erwartungsgemäß nach dem initialen Quintfall (Text: Du fond) mit Umkreisung des Grundtons, steht zudem im stabileren Dorisch. Luther macht gerade im für damalige Melodiebildung ungeheuerlichen Quint-Wechselschritt h/e/h Tiefe als Differenzerfahrung plastisch. Und der anschließende, expressive Halbtonschritt zu Not auf der sechsten Stufe setzt den Leidensaffekt unmittelbar in Szene, macht Not spürbar. Man muss sich den kolossalen Unterschied zur ersten Melodie klar machen, die hier vier gleiche Töne aufwies. Lediglich schrei war da profiliert durch den Terz-Sprung.
Bei Luthers eigener Melodie bleibt das wackelige h über die ganze erste Zeile Zentralton (viermal h bei acht Tönen!). Als von unten angesteuerter Finalton der Zeile hält er die Sprech- bzw. Schrei-Richtung nach oben offen. Die zweite Zeile überbietet dies durch Umkreisen des darüber liegenden Expressivtons c. Dieser Ton erklingt in Zeile eins bis drei der ersten Strophe ausschließlich mit o-Klängen: Not, Gott, er-hör, Oh-ren.
35 Korth 2017, S. 69. 36 Genf 1542.
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Die das c überbietende d-Spitzenton-Regie in Zeile 5 und 6 wurde bereits thematisiert. Bemerkenswert ist noch die Schlusswendung, den allgemeinen Melodiebildungsregeln gemäß in Stollen (Zeile 2.4) und Abgesang (Zeile 7) identisch. Spezifikum des phrygischen Modus ist (neben dem Halbton 5/6) der „schwache“ Halbtonschritt zwischen zweiter Tonstufe und Grundton (f/e). Wie hier praktiziert, ist er nur als Durchgangsnote (ohne eigene Silbe) realisierbar.37 Dieser schwache Schluss wird oft vermieden durch Erreichen des Grundtons über Ganztonschritt 37 Bei Christus, der uns selig macht (EG 77) ist die Durchgangsnote durch die vorhergehende Tondehnung auf Tonstufe 3 noch leichter.
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von unten (O Haupt voll Blut und Wunden [EG 85]) oder durch eine Umspielungsfigur zur kritischen zweiten Stufe (Es wolle Gott uns gnädig sein [EG 280]). Der schwache Schluss g/f/e hier korreliert präzise mit der offenen Frage am Ende der ersten Strophe. Der finale Halbtonschritt f/e markiert sozusagen musikalisch das Fragezeichen im Text. In der Strophe insgesamt dreimal zu vernehmen, kennzeichnet dies nicht nur die Schlusszeile, sondern die ganze Liedstrophe.38 Wer kann, Herr, vor dir bleiben? wird so zum Integral der Strophe und auch des ganzen Liedes. Anders als bei der fröhlichen Gewissheit der Ostermelodie bleibt mit Luthers eigener Melodie bis zum Lied-Ende der Vorbehalt des Fragezeichens aufrecht erhalten. Im Singen des Liedes verliert so der inhaltlich als solcher gestärkte „iustus“ den „peccator“ nie aus dem Ohr! Wie musikalisch kühn Luthers Melodie in ihrer textgezeugten Prägnanz ist, zeigt der Blick ins Evangelische Gesangbuch (1993), wo bei Nr. 299 zum Vergleich als „Zweite Melodie“ die von Anfang an in Straßburg gebräuchliche steht.
38 Verf. kann frustrierende Singerfahrungen, namentlich mit heutigen Theo logie studierenden benennen, denen dieser Halbtonschritt nicht zu vermitteln war!
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Dies ist ein Musterbeispiel für den Straßburger, auf den Gemeindegesang ausgerichteten Melodietyp, der mit nur zwei Notenwerten und in der Regel ohne große Sprünge auskommt. Ausnahmsweise gibt es hier sogar einen Quintsprung, aber nicht beim Incipit, sondern zu Unrecht. Und die Schlussfrage ist immerhin exponiert mit angesprungenem Einsatz auf der 5. Tonstufe, was stimmliche Anstrengung erfordert. Aber der Modus ist weder bußbezogen phrygisch noch dorisch, sondern ionisch, also heutigem Dur entsprechend. Insofern ist er an der Gnadenbotschaft des Liedes ausgerichtet. Im Gemeindegesang hat diese Melodie sich durchaus bewährt und sich so einen Platz in der Gesangbuchüberlieferung gesichert. Aber in der Kunstmusik ist es Luthers „Pioniertat“, die zu verschiedenen Zeiten immer wieder neu fasziniert und zu expressiven Bearbeitungen angeregt hat.39 Ach Gott, vom Himmel sieh darein (EG 273) Im Betbüchlein (1522/1529) hat Luther an erster Stelle der Rubrik „Verdeudschte Psalmen“ Psalm 12 (11) abgedruckt „czu beten umb erhebung des heyligen Euangelion“ (1522, WA 10, 410).40 Ebenso wie bei Psalm 67 (66) „zu beten umb tzu nehmen des glaubens“ (WA 10, 411) macht er daraus in der ersten Liedproduktionsphase ein Psalmlied. Diese Psalmlieder sind also gewiss nicht liturgisch motiviert, sondern als gesungenes Alltagsgebet gedacht, um Gott in den Ohren zu liegen wegen der Sache des Evangeliums. Psalm 12 ist ein Aufschrei ob der Gefährdung des Glaubens.41 Dem korreliert die emphatische Anrufung dieses Liedes, die das „Hilff Herr“ im Psalm42 als Stoßseufzer bringt und ausweitet: Ach got, vom hymel sihe darein/ und laß dich das erbarmen […].43 Wie benannt ist das Lied im Nürnberger Achtliederdruck der Ostermelodie zugewiesen. Unterlegt man dieser Melodie die erste Strophe, wird deutlich, dass Luther die reformatorischen Zentralbegriffe Wort und Glaub den durch Dehnung betonten Spitzentönen zu Beginn von Zeile 5 und 6 zugeordnet hat. Wo Wort (actio dei) und Glaube (reactio hominis) bedroht sind, steht es schlecht um das Evangelium.
39 Vgl. Klek 2003. 40 In der ersten Fassung des Betbüchleins zeigen die Psalmen noch die Vulgata-Zählung, ebenso in den Überschriften zu den ersten Psalmlieddrucken bis incl. Erfurter Enchiridion. 41 Ebenso Psalm 14, wozu Luther im selben Strophenbau das Lied Es spricht der Unweisen Mund wohl vorlegt. 42 Betbüchlein 1522: „Hilff Gott“, im Manuskript für die AT-Übersetzung „Hilff herr“ (WA DB 1, 462). 43 Textfassung Nürnberg 1524.
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Bei der vierten Strophe, die inhaltlich die Wende verkündet durch Gottes Zusage seines Eingreifens (gemäß Psalmvers 6), sind Zeile 5 und 6 mit ihren Spitzentönen als Gegenpol zu der Passage in Strophe 1 profiliert: Mein heil-sam Wort soll auf den Plan,/ ge-trost und frisch sie greifen an […]. Gottes Waffe ist sein unver-
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brüchliches, Heil setzendes Wort, das er getrost (ohne Zaudern ob des Erfolgs) zur Durchsetzung bringen wird.44 In Berichten von Protestaktionen des Volkes mit spontan angestimmten Liedern zeigt dieses Lied die meisten Nennungen. Offensichtlich wird es von den Zeitgenossen als „Kampfsong“ wahrgenommen gegen das inhaltlich nicht gedeckte Machtgebaren der Vertreter des alten Glaubens (vgl. Strophe 3). Das Lied verbreitet sich „undercover“ und kann so spontan zur Predigtstörung abgerufen werden.45 Die Ostermelodie eignet sich gut als „Protestsong“. Die aufrüttelnden kurzen Zeilenauftakte,46 ursprünglich die „Christenheit“ zur Osterfreude animierend, lassen sich appellativ auch anders nutzen. Jetzt rütteln sie an den Festen der irdischen (Kirchen-)Macht. Und die Tonrepetitionen zu Beginn skandieren demonstrationsartig. Allen Leserinnen und Lesern dieses Beitrags sei empfohlen, die zweite Strophe einmal stehend mit voller Brust, im Demo-Habitus zu singen.
44 Vgl. die Pointenfunktion von Trost in Aus tiefer Not, Str. 3. Die Korrespondenz im o-Klang bei Wort und Trost ist für Luther sicher wesentlich. Zudem spiegeln die beiden Anfangsbuchstaben von Trost inversiv die beiden Schlussbuchstaben von Wort! 45 In der Literatur wird mehrfach verwiesen auf Aktionen dieser Art in Braunschweig (1527) und Lübeck (1529), vgl. Heidrich und Schilling 2017, S. 161. Die Braunschweiger Quelle ist abzurufen https://publikationsserver.tu-braunschweig.de/rsc/viewer/dbbs_ derivate_00005833/max/00000049.jpg. Zu Lübeck siehe Kadelbach 2017, S. 22–24. 46 Auch der Vokalsatz von Finck (Anm. 18) zeigt durchgehend kurze Zeilenauftakte. Dies wird also Spezifikum der Melodie gewesen sein. Die heutige Gesangbuchversion des Ostergesangs im katholischen Bereich verzichtet zugunsten von Isorhythmik auf die kurzen Zeilenauftakte: GL 334 O Licht der wunderbaren Nacht (Gesang zum Exsultet) und Nun freue dich, du Christenheit (in einigen Regionalteilen, z.B. Bamberg 790).
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Wie bei Aus tiefer Not ist Luthers eigene Melodie, die im Erfurter Enchiridion erstmals greifbar wird, sehr gegensätzlich zur Ostermelodie. Der Modus ist jetzt plagales Phrygisch – der Grundton liegt in der Mitte des Ambitus. Luther scheint förmlich auf die phrygische Halbtonspannung Grundton/2.Stufe fixiert, die in dieser Mittellage gut hervortreten kann. Zeile 1 und 2 beginnen beide mit dem h/c-Schritt, bei Zeile 1 findet er sich umkehrt als c/h auch am Ende. Durch die Wiederholung mit Zeile 3 und 4 wird das unterstrichen. Auch die Schlusszeile hat in Korrespondenz zu Zeile 1 den phrygischen „schwachen Schluss“. Motiviert ist diese Halbtonschritt-Betonung offensichtlich durch den initialen Ach Gott-Stoßseufzer, der sich so durchs ganze Lied zieht. Wie bei Aus tiefer Not ist die erste
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Note gedehnt, was das Anschwellen des Tons im Klage-Modus suggeriert und so den Tonschritt noch „expressiver“ macht.47
47 Um der besseren Vergleichbarkeit mit der anderen phrygischen Melodie willen erfolgt die Notation dieser Melodie einen Ton höher als im Original.
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In der „Wende-Strophe“ 4 ist bei Zeile 3 der Halbtonschritt nun tatsächlich mit dem Wort Seufzen verbunden. Ihr Seufzen dringt zu mir herein … Luthers Melodie dient der Kultivierung des Seufzens vor Gott, weil Gott eben auf Seufzen reagiert und sich zum Eingreifen bewegen lässt, nicht durch demonstratives Lärmen. „Weyl denn die elenden verstöret sind und die armen sufftzen, will ich auff, spricht der herr“ hat Luther den entsprechenden Psalmvers in der wohl gerade bewerkstelligten Psalmübersetzung formuliert.48 Die Wende durch Gottes Entschluss zum Eingreifen ist aber auch musikalisch in der Melodie präsent, indem eben mit dem Abgesang die Zeilen 5 bis 7 „frisch angreifen“ mit kurzen Zeilenauftakten im Gestus der Ostermelodie. Zur Diktion im Stollen ist das musikalisch ein „Stilbruch“, der Wende in Gottes Handeln geschuldet. Luthers Melodie bringt also das Kunststück fertig, den Klagegestus der ersten Strophen zu verbinden mit dem Skopus des Psalms, dass Gottes Zusage des Eingreifens die Wende verbürgt. Eine weitere Besonderheit dieser Melodie ist die Gestaltung der Schlusszeile. Da der Stollen mit Zeile 2 einen Ton unter dem Grundton endet – beim instabilen Phrygisch nicht ungewöhnlich, aber signifikant für die Desorientierung der Armen (Strophe 1, Zeile 4), kann die Schlusszeile musikalisch nicht (wie bei Aus tiefer Not) das Stollenende bestätigen. Luther springt vielmehr zurück in den exponierten Ambitus und Gestus der ersten Zeile. Der Quintsprung a/e, bei Zeile 1 in der Mitte, steht hier prononciert am Zeilenanfang. So bekommt die im Reimschema solitäre Schlusszeile eine spezielle Akzentuierung, namentlich die erste Wortbetonung. Bei drei Strophen ergibt sich so eine geradezu plakative Wort-/ Tonbeziehung: 1) bei allen Menschenkindern 2) und gleißen schön von außen (die Heuchler) 5) und leucht stark in die Lande (Gottes Wort) Offensichtlich hat Luther ob seiner musikalischen Kühnheit in dieser Melodie selber „kalte Füße bekommen“, denn in „seinem“ Gesangbuch von 1529/1533 präsentiert er als erstes eine weitere Melodie, die stilistisch einheitlich ist und in gleichförmigem Fluss tauglicher für Gemeindegesang. Die soeben besprochene Melodie wird als „ander Melodey“ dem Liedtext angehängt.49 Bei der neuen Melodie beginnt jede Zeile mit gedehntem Klage-Tonschritt. Die Tonart ist jetzt authen48 WA DB 1, 463. Das inhaltlich analoge „unaussprechliche Seufzen“ des Gebets-Geistes in Römer 8,26 heißt im September-Testament 1522 noch „Sehnen“ (wie in V 22 und 23). Erst ab der Gesamtbibelausgabe 1534 liegt die Effektivität des Geist-Wirkens in V 26 in seinem „Seufzen“, offensichtlich ein Reflex auf Psalm 12 und dieses Lied dazu! 49 Vgl. das analoge Verfahren mit zwei Melodien bei Nun freut euch, lieben Christen gmein im selben Gesangbuch. Siehe dazu Klek 2017, S. 228–230.
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tisch phrygisch – der Grundton liegt unten. Spezifische Klage-Intensität verbürgt das permanente Umkreisen der 5. Tonstufe des labilen h, das nur mit Quintfall zum Grundton am Ende von Stollen und Abgesang sich entspannt.
Die Spitzentonregie der Ostermelodie ist hier wieder aufgegriffen: Wort und Glaub in Strophe 1 sind also hervorgehoben. Ungewöhnlich für phrygisch wird
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beim zweiten Spitzenton sogar der obere Grundton erreicht. Da Luther die Schlüsselstrophe 4 mit der Ostermelodie im Ohr gedichtet hat, kommen auch hier heilsam Wort und ge-trost zu originärer Betonung. Die Rezeption hat auch in diesem Fall der musikalisch kühneren Version den Vorzug gegeben. Schon im Babstschen Gesangbuch 1545, das offensichtlich unter Luthers Augen entstand, steht diese Version nicht mehr, sondern nur die erste eigene Melodie. Die Melodie von 1529 bleibt sozusagen Eingesangbuchsfliege.50 In der Kunstmusik hat Luthers erster Wurf eine bemerkenswerte Rezeption. Wohl vermittelt über ein Lehrwerk des Bach-Schülers Johann Philipp Kirnberger (Kunst des reinen Satzes 1777), das den grandiosen Eingangssatz der Choralkantate BWV 2 als Muster bringt, lernt Wolfgang Amadée Mozart diese Melodie kennen und schätzen. In seiner letzten Oper Die Zauberflöte legt er sie den beiden Geharnischten in den Mund! Vielleicht hat sich der Katholik Mozart – mitten im Wiener Aufklärungstaumel! –sogar den ganzen Text des Lutherliedes besorgt, denn dem Motiv von der siebenfachen Bewährung im Feuer (Strophe 5) korrespondiert durchaus die Bewährungsprobe für den Protagonisten in der Oper.51 Der 22-jährige Felix Mendelssohn schließlich schreibt dann im Rahmen seines Lutherchoral-Projekts während der Italienreise 1830/31 seine ambitionierteste Choralkantate ausgerechnet zu diesem Lied mit dieser Melodie. … Keinen Zugang zu dieser Melodie findet offenbar der Gemeindegesang heute. Zu heutigem Dur-/Mollempfinden steht sie quer. Inhaltlich sollte allerdings gerade dieses Luther-Lied in säkularen bis kirchenfeindlichen Zeiten – dein Wort man lässt nicht haben wahr! – neue Aktualität gewinnen.52 Vielleicht sollte man es mit der Ostermelodie und dem Protestsong-Habitus neu versuchen, also doch als „Gassenhauer“ im Wortsinn!
Quellen und Quelleneditionen (neben WA) Nürnberger Achtliederdruck 1524: Etlich Cristlich lider Lobgesang/ und Psalm/ dem rainen wort Gottes gemeß […]. Faksimile-Beilage in Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 2 (1956) und JLH 50 (2011). Erfurter Enchiridion 1524: Eyn Enchiridion oder Handbüchlein, eynem ytzlichen Christen fast nutzlich bey sich zuhaben/ zur stetter ubung und trachtung geystlicher gesenge und Psalmen […]. Faksimile-Edition: Das ERFURTER ENCHIRIDION gedruckt zu Erfurt 50 Beim Parallelfall (s. Fußnote 49) bringt Babst 1545 nochmals beide Melodien. 51 Schneider 2007, S. 68. 52 Die jüngste literarische Ehrenrettung der Lutherlieder – Alpermann und Evang 2018 – hat dieses Lied schon ganz abgeschrieben und lässt es unter den Tisch fallen!
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in der Permentergassen zum Ferbefaß 1524 (Documenta musicologica I,36), mit Geleitwort hrsg. Konrad Ameln. 21983. Kassel et al.: Bärenreiter. Walter 1524: Geystliche Gsangbüchlin (Worms 1525, Erstdruck Wittenberg 1524 deest.). Faksimile-Edition: Johann Walter. Das geistliche Gesangbüchlein. »Chorgesangbuch« (Documenta musicologica I,33), hrsg. Walter Blankenburg. 1979. Kassel et al.: Bärenreiter. 1522/1529: Ein betbüchlin/ mit eym Calender […] Marti. Luther. Wittemberg. 1529. Faksimile-Edition: Martin Luther. Ein Betbüchlein mit Kalender und Passional. Wittenberg 1529, Nachwort von Frieder Schulz. 1982. Kassel: Johannes Stauda. 1529/1533: Geistliche lieder auffs new gebessert zu Wittemberg. D. Mart. LUTH., 1533 (Erstauflage 1529 deest). Faksimile-Edition: Das Klug’sche Gesangbuch 1533 (Documenta musicologica I,35), hrsg Konrad Ameln. 1983. Kassel et al.: Bärenreiter. Genf 1542: LA FORME DES PRIERES ET CHANTZ ECCLESIASTIques […]. Faksimile-Edition: La Forme des Prières et Chants Ecclésiastiques Genève 1542, hrsg. Pierre Pidoux. 1959. Kassel et al./Bâle: Bärenreiter. Leisentrit 1567: Leisentrit von Olmütz, Johann. Geistliche Lieder und Psalmen/ der alten Apostolischer recht und warglaubiger Christlicher Kirchen […]. Faksimile-Edition: Leisentrit, Johann. Gesangbuch von 1567, mit einem Nachwort hrsg. v. Walther Lipphardt. 1966. Kassel et al.: Bärenreiter. Wackernagel 1867: Wackernagel, Philipp. 1867. Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts, Bd. 2. Leipzig: Teubner. Heidrich und Schilling 2017: Martin Luther. Die Lieder, hrsg. Jürgen Heidrich und Johannes Schilling. 2017. Stuttgart: Reclam und Carus-Verlag. Korth 2017: Lass uns leuchten des Lebens Wort. Die Lieder Martin Luthers (Im Auftrag der Franckeschen Stiftungen anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 vorgelegt und erläutert von Hans-Otto Korth. Mit einem Nachwort von Patrice Veit). Halle und Beeskow: Verlag der Franckeschen Stiftungen und ortus musikverlag. Alpermann und Evang 2018: Mit Lust und Liebe singen. Lutherlieder in Porträts, hrsg. Ilsabe Alpermann und Martin Evang. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Aktuelle Gesangbücher EG: Evangelisches Gesangbuch. Stammausgabe der Evangelischen Kirche in Deutschland, erarbeitet im Auftrag der EKD und ihrer Gliedkirchen, […]. 1993. Hannover et al. (Separatausgaben der verschiedenen Landeskirchen). GL: Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch. 2013. Hrsg. von den (Erz-)Bischöfen Deutschlands und Österreichs und dem Bischof von Bozen-Brixen. Stuttgart: Katholische Bibelanstalt.
Literatur Baltruweit, Fritz und Mechthild Werner. 2017. Spiritualität. In Die Welt hinterfragen. Dokumente eines Aufbruchs, hrsg. Margot Käßmann, 81–86. Leipzig: edition chrismon.
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Evang, Martin. 2018. Aus tiefer Not schrei ich zu dir (Psalm 130; EG 299). In Mit Lust und Liebe singen. Lutherlieder in Portraits, hrsg. Ilsabe Alpermann und Martin Evang, 121–125. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hahn, Gerhard. 1981. Evangelium als literarische Anweisung: Zu Luthers Stellung in der Geschichte des deutschen kirchlichen Liedes. München: Artemis. Hamm, Berndt. 2016. Ablass und Reformation: Erstaunliche Kohärenzen. Tübingen: Mohr Siebeck. Hofmann, Andrea. 2015. Psalmrezeption in reformatorischem Liedgut. Entstehung, Gestalt und konfessionelle Eigenarten des Psalmliedes, 1523–1650 (Arbeiten zur Kirchen- und Theologiegeschichte Bd. 45). Leipzig: Evang. Verlagsanstalt. Kadelbach, Ada. 2017. »INt erste singet me eynenn düdeschen Psalm«: Hermann Bonnus und die Bedeutung des Singens für die Reformation am Beispiel Lübecks. In Paul Gerhardt im Blauen Engel, hrsg. Ada Kadelbach (Mainzer Hymnologische Studien Bd. 26), 19–36. Tübingen: Narr Francke Attempto. Klek, Konrad. 2003. „Aus tiefer Not“: Zur bemerkenswerten Rezeption einer einzigartigen Melodie in der Orgelmusik. Musik und Kirche 73: 290–296. Klek, Konrad. 2017. Luther und das Lied: Beobachtungen zu Luthers Melodiegestaltung und Gesangbuchkonzeption. In Martin Luther als Praktischer Theologe, hrsg. Peter Zimmerling et al. (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie Bd. 50), 223–236. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Korth, Hans-Otto. 2005. Zur Entstehung von „Vom Himmel hoch“. Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie (JLH) 44: 139–154. Lipphardt, Walther. 1964. Ein Mainzer Prozessionale (um 1400) als Quelle deutscher geistlicher Lieder. JLH 9: 95–121. Rößler, Martin. 2001. Liedermacher im Gesangbuch: Liedgeschichte in Lebensbildern. Stuttgart: Calwer Verlag. Schneider, Matthias. 2007. 273 Ach Gott, vom Himmel sieh darein. In Liederkunde zum Evangelischen Gesangbuch, Heft 13, hrsg. Georg Hahn und Jürgen Henkys, 63–68. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Zimmerling, Peter. 2015. Evangelische Mystik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Musik und Rhetorik – oder: wie Musik predigt Anhand ausgewählter Choralbearbeitungen Johann Sebastian Bachs aus dem ‚Orgelbüchlein‘ Ingo Bredenbach
Die Rhetorik, die noch zu Johann Sebastian Bachs Zeit den Lehrplan der Lateinschulen bestimmte, ist im heutigen Sprachgebrauch meist verkommen zu einem negativen Begriff. „Bloße Rhetorik“ wirft man einem Politiker vor, der wortreich und mit Worthülsen Dinge zu verschleiern sucht, ohne substanzielle Informationen zu äußern. Per definitionem ist Rhetorik aber „jede allgemein reflektierte oder intensiv entwickelte Technik wirkungsvollen Redens“. Sie bedient sich neben dem überlegten Aufbau einer Rede vor allem der sogenannten rhetorischen Figuren, also der „vom normalen Sprachgebrauch zur Belebung der Rede bewusst abweichenden Redewendungen“. Einige Beispiele aus der sprachlichen Rhetoriklehre: • die ‚Prolepsis‘ oder ‚Antizipation‘ (= Vorwegnahme eines sprachlichen Zusammenhangs außerhalb des syntaktischen Zusammenhangs); Beispiel: „… der Dieb, wenn ich den erwische …“. Der normale Sprachgebrauch wäre gewesen: „ … wenn ich den Dieb erwische …“. • die ‚Aposiopesis‘ (= das Verstummen, also das Abbrechen der Rede); Beispiel: „Ich will euch … !“ • die ‚Ellipsis‘ (= Mangel, meint das plötzliche Abbrechen eines Gedankens); Beispiel: „Ende gut, alles …“, also das Weglassen eines Wortes, das aus dem Sinnzusammenhang durch den Zuhörer ergänzt werden kann © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_6
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• der ‚Chiasmus‘ (= Stellung über Kreuz nach dem Schema ab-ba); Beispiel: „Er war der guten Hort, der Schrecken der Bösen“ • die ‚Hyperbel‘ (= Überschuss; der Ausdruck wird durch Vergrößerung so gesteigert, dass er wörtlich genommen nicht mehr zutrifft, also eine Übersteigerung der Glaubwürdigkeit); Beispiel: „Seine Hand sei weiß wie Lilien, rein wie die Unschuld“ • die ‚Climax‘, eine im Sinne stufenweiser Steigerung angeordnete Wort- oder Satzreihe; Beispiel: „veni, vidi, vici“ („Ich kam, sah und siegte“) Diese Reihe ließe sich bezüglich der sprachlich-rhetorischen Figuren fast beliebig fortsetzen. Nun gibt es speziell in der deutschen Kompositionslehre der Barockzeit eine Entsprechung sogenannter musikalisch-rhetorischer Figuren. Diese komponierten Phänomene kommen z.B. auch in der italienischen Barockmusik vor, dort wurden sie aber in der Regel nicht bezeichnet. Die deutschen Musikschriftsteller der Barockzeit versuchten, musikalische Phänomene in einer Kongruenz zu den sprachlich-rhetorischen Mitteln und Figuren zu setzen und so zu katalogisieren und zu erläutern. Musikalisch-rhetorische Figuren meinen einen bewussten Verstoß gegen Kon trapunktregeln des strengen (einfachen Satzes) in rhythmischer, melodischer und harmonischer Hinsicht – oft in der Frage der Dissonanzbehandlung. Sie sind allerdings nicht einfach ‚Fehler‘, sondern quasi sinnvolle Abweichungen von den Regeln. Als solche gewinnen Sie eigenständige Funktion in der Musik. Es gibt einige direkte Entsprechungen wie z.B. das Setzen von Pausen (die ‚Abruptio‘ bzw. ‚die Aposiopesis‘) oder die Figur der ‚Ellipsis‘, die in der Musik das Verschweigen einer erwarteten Konsonanz meint. Darüber hinaus gibt es zahlreiche musikalisch-rhetorische Figuren, die nur in der Musik vorkommen, wie beispielsweise • die ‚Dubitatio‘ (= Zweifel), womit jegliche Form des Trugschlusses in der harmonischen Fortschreitung gemeint ist. • der ‚Passus duriusculus‘ (= allzu harter Schritt oder „eine Stimme wendet sich gegen sich selbst“), in heutiger Terminologie: Chromatik in einer oder mehreren Stimmen. Häufig kommt der ‚Passus duriusculus‘ im Umfeld des Begriffs „Sünde“ vor; verwandt ist der ‚Saltus duriusculus‘ (in den u.a. Notenbeispielen als p.d. bzw. s.d. abgekürzt). Die Funktion der musikalisch-rhetorischen Figuren liegt in zweierlei. Zum einen der ‚Hypotyposis‘, also der ‚Abschilderung‘ eines Geschehens. So kann beispielsweise beim Begriff „Himmelfahrt“ eine Aufwärtsbewegung (‚Anabasis‘) der je-
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weiligen Stimme(n) und bei der Beschreibung beispielsweise einer ‚Höllenfahrt‘ eine Abwärtsbewegung (‚Katabasis‘) komponiert werden. Und zum anderen in der ‚Emphasis‘, der ‚Nachdrücklichkeit‘, mit der etwas ‚in Musik übersetzt‘ wird.
Exkurs: Bachs Kenntnisse der Rhetorik Seit dem Mittelalter war das Bildungsideal der ‚septem artes liberales‘ (= sieben freie Künste, die in ein Quadrivium mathematischer Künste (Musik, Arithmetik, Geometrie und Astronomie) und in ein Trivium sprachlicher Künste (Rhetorik, Grammatik und Dialektik) eingeteilt wurden) bestimmend für die Lehrpläne der allgemeinbildenden Schulen und der Universitäten. Im Verlauf des Humanismus der Renaissance und der Entwicklung im 17. Jahrhundert verschiebt sich die Musik von den mathematischen zu den sprachlichen Künsten und nimmt eine Mittelstellung ein. Nachwievor gibt es zahlreiche musikwissenschaftliche Literatur des Barocks, die die mathematischen Proportionen der Musik darstellen, entsprechend dem Bibelwort aus Weisheit 11,20: „Aber du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“. Dieses Bibelwort bildete die auf Pythagoras zurückgehende und das Mittelalter beherrschende Grundlage für die Musikanschaung des Barock, in der die Musik die Schöpfungsordnung Gottes in ihren zahlenmäßig erfassbaren Proportionen der Intervalle spiegelt. In der Vorstellung der Zeit findet der Makrokosmos der Schöpfung im Mikrokosmos in der Musik einen Widerhall (Stichwort: Johannes Keplers ‚Sphärenharmonie‘, bei der das Verhältnis von Sonnenferne und Sonnennähe in den Umlaufbahnen der einzelnen Planeten ein ganzzahliges Verhältnis bildet. Kepler nahm deshalb an, dass die Planeten Intervalle produzieren würden, die den musikalischen Intervallen mit ihren ganzzahligen Schwingungsverhältnissen entsprächen – also die Planeten Klänge erzeugen würden). Bach besuchte von 1693–1695 die Lateinschule in Eisenach, deren Klassenstärke zeitweise über 80 Schüler betrug. Von 1696 nach dem Tod beider Eltern bis 1700 besuchte er die lutherisch geführte Lateinschule in Ohrdruf; mit elf Jahren war er bereits Primus der Klasse und mit 14 überholte er die sonst 15- bis 17-Jährigen und stand an fünfter Stelle. In diesem Ohrdrufer Gymnasium, das Bach schließlich als Zweitbester verließ, bestanden die wöchentlich 30 Schulstunden aus den Unterrichtsfächern Latein, Griechisch, Mathematik, Logik, Rhetorik und den theologischen Fächern. Hier ging man nach Leonhard Hutters „Compendium locorum theologicorum“ (1610) vor, das auch noch Bachs Schulausbildung in der Michaelis-Schule in Lüneburg (1700–1702) bestimmen sollte. Dieses Buch des Wittenberger Theologieprofessors Hutter war ein katechetisches Lehrbuch, das in Anlehnung an Philipp Melanchthon die Glaubenslehre in Fragen und Antworten
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aufteilte. Zudem lernten die Schüler einer Lateinschule den Katechismus Martin Luthers und den Psalter auswendig. Von 30 Schulstunden in der Woche fielen auf das Fach Musik in der Prima und Sekunda je fünf Stunden, in der Tertia und Quarta vier. Der Unterricht in Musik war davon geprägt, dass die Lateinschüler an den Wochentagen die Chormusik für den sonntäglichen Gottesdienst zu üben hatten. Durch Singen bei Hochzeiten, Beerdigungen und anderen Anlässen, wie dem Singen auf den Straßen (Kurrende-Singen) trugen die Schüler selbst zu ihrem Lebensunterhalt bei, eine Praxis, die noch in Leipzig zur Zeit Bachs als Thomaskantor üblich war. In der Prima erhielt Bach zweimal wöchentlich zweistündigen Unterricht in Rhetorik durch den Rektor unter Benutzung der „Rhetorica gottingensis“ von Heinrich Tolle aus dem Jahre 1680. Man wird sich Bach bezüglich der Rhetorik und der Theologie als einen umfänglich gebildeten Menschen vorstellen müssen, der dann in Leipzig nicht nur Kontakt zu Johann Christoph Gottsched (1700–1766) hatte, einem der prägenden Literaturtheoretiker der Aufklärung und Professor für Poetik, Logik und Metaphysik an der Universität Leipzig, sondern auch zu weiteren Vertretern der universitären Rhetoriklehre. So beispielsweise zu Johann Abraham Birnbaum (1702–1748), der Bach gegen eine polemische Streitschrift Johann Adolph Scheibes (1708–1776) wortreich und gewandt verteidigte, u.a. mit der Anmerkung über Bach: „Die Theile und Vortheile, welche die Ausarbeitung eines musikalischen Stückes mit der Rednerkunst gemein hat, kennet er so vollkommen, dass man ihm nicht nur mit einem ersättigendem Vergnügen höret, wenn er seine gründlichen Unterredungen auf die Aehnlichkeit und Uebereinstimmung beyder lenket; sondern man bewundert auch die geschickte Anwendung derselben, in seinen Arbeiten“.1 Musikalisch-rhetorische Figuren sind zunächst einmal nicht mit Inhalt gefüllt, sondern sie dienen dazu, in der je konkreten kompositorischen Situation entweder den Sinn (‚Sensus‘) eines Wortes oder den ‚Scopus‘, das Ziel bzw. die zentrale Aussage eines Textes in Musik zu übersetzen. Dies gelingt in wortgebundener Chormusik oder Musik für Vokalsolisten deutlich einfacher als in Instrumentalmusik. Eine Zwischenstellung nehmen choralgebundene Kompositionen ein, zumal wir bei dem Bildungsstand auch gerade der Gottesdienstgemeinde, deren Bildung an den Lateinschulen tiefgehend von Bibel, Katechismus und Gesangbuch bestimmt war, davon ausgehen müssen, dass die Strophen der jeweilig zu singenden Lieder auswendig gekannt wurden. Anhand ausgewählter Beispiele aus dem wohl seit Ad1 Birnbaum, Johann Abraham. 1739. Verteidigung Anmerkungen, zit. n. Bach-Dokumente, Bd. 2, Nr. 441.
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vent 1713 in Weimar entstandenen ‚Orgelbüchlein‘, einer mustergültigen Sammlung Bachscher Choralbearbeitungstechniken werden nun musikalisch-rhetorische Figuren dargestellt: Als Vorbilder für den ‚Orgelbüchlein-Typus‘, den Bach quasi erfunden und zur Vollendung geführt hat, können der norddeutsche Orgelchoral, dessen Hauptvertreter Dietrich Buxtehude (1637–1707) war, mit seiner kolorierten (verzierten) Solostimme und Satztypen der Choralpartita (= Variationen über eine gegebene Melodie) gelten. Hieraus entwickelte Bach einen Typus, der geprägt ist 1. von der einstrophigen Präsentation des cantus firmus, meist im Diskant und meist ohne Zwischenspiele 2. von einem durchgehend vierstimmig ausgearbeiteten Satz 3. von einem obligat (= selbstständig) geführten Pedal („… indem in solchen darinne befindlichen Choralen das Pedal gantz obligat tractiret wird“, wie es auf dem Titelblatt heißt, das Bach in Köthen hinzugefügt hatte) 4. von einer strengen motivischen Bindung der figurierten Gegenstimmen 5. von der Übersetzung des ‚Sensus‘ einzelner Wörter oder des ‚Scopus‘ des gesamten Textes durch musikalisch-rhetorische Figuren in Musik Geplant hatte Bach 164 Choralbearbeitungen – für diese hatte er bereits die Seiten mit Notenlinien rastriert und mit Titeln versehen, so dass wir die Gesamtanlage des ‚Orgelbüchleins‘ kennen; letztlich hat Bach lediglich 46 Choralbearbeitungen ausgeführt. Meist lassen sich die Choralbearbeitungen auf einen Generalbass-Satz zurückführen.2 Neun der Choralbearbeitungen sind so angelegt, dass der cantus firmus im Kanon geführt wird, oft teilweise gegen gewisse Widerstände, da sich manche Melodie nicht in allen Belangen als kanonfähig erwies. Es gibt zwei Sonderfälle: „Ich ruf zu dir“ (BWV 639) ist dreistimmig und die weit ausschwingende Bearbeitung von „In dir ist Freude“ (BWV 615) weist Vorimitationen auf. Binnen-Imitation dagegen gehört zu einem Kennzeichnen einiger herausragender Beispiele des ‚Orgelbüchleins‘, wie z.B. „Helft mir Gotts Güte preisen“ (BWV 613), „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend“ (BWV 632), „Dies sind die heil’gen zehn Gebot“ (BWV 635) oder „Wenn wir in höchsten Nöten sein“ (BWV 641, s.u.). Die Gründe, warum das ‚Orgelbüchlein‘-Projekt nicht vollendet wurde, lassen sich nur vermuten – eventuell hat sich das Prinzip der motivischen Bindung mit je einer einzigartigen Lösung erschöpft, so dass Bach sich im ‚Orgelbüchlein‘ kompositorisch nicht wiederholen wollte? 2
Siehe besonders E. Seidel 1998.
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Aller Wahrscheinlichkeit nach erklang im Gottesdienst am 1. Advent 1713 in der Schlosskirche zu Weimar als Choralvorspiel zum seit Jahrhunderten vorgesehenen Wochenlied „Nun komm, der Heiden Heiland“, eine Bereimung des Hymnus „Veni redemptor gentium“ des Ambrosius von Mailand (339–397) durch Martin Luther, die Choralbearbeitung BWV 599, mit der Bach das ‚Orgelbüchlein‘ eröffnet. Der cantus firmus wird im Sopran – von wenigen Ausnahmen abgesehen – unverziert präsentiert und an zwei Stellen mit Pausen unterbrochen (‚Tmesis‘ = Zerschneidung eines Wort- oder Satzzusammenhangs). Nu kom der Heyden heyland / der yungfrawen kynd erkannd. Das sych wunnder alle welt / Gott solch gepurt yhm bestelt. Martin Luther (1524)
Nun komm, der Heiden Heiland, der Jungfrauen Kind erkannt, dass sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt. Heutige Fassung des Ev. Gesangbuchs
Das Augen- oder besser das Ohrenmerk sei auf die vierte Choralzeile gelenkt, in der es heißt „Gott solch Geburt ihm bestellt“. Ein durchschnittlicher Komponist hätte sich eventuell der musikalischen ‚Verdeutlichung‘ des Wortes „Gott“ oder „Geburt“ oder „ihm bestellt“ gewidmet. Bach dagegen übersetzt und verdeutlicht das Wort „solch“: Mit einer Häufung von musikalisch-rhetorischen Figuren weist Bach auf dieses eine Wort „solch“ hin, mit dem Luther die Geburt Christi in der Niedrigkeit einer Krippe in einem Stall andeutet. Genau am Übergang von Takt 7 zu Takt 8 bringt Bach folgende Figuren: • • • •
eine ‚Abruptio‘: alle vier Oberstimmen pausieren in Takt 8,1 ein ‚Antitheton‘: fünfstimmig am Ende Takt 7, einstimmig zu Beginn Takt 8 ein ‚Saltus duriusculus‘, zweimal hintereinander (f-h und dis-e) eine ‚Ellipsis‘: der erwartete cantus firmus-Ton (a) wird verschwiegen und ein Sechzehntel später ‚nachgeliefert‘ – nur entsteht durch den ‚Saltus durius-culus‘ (f-h) im Bass nun • eine ‚Relatio non harmonica‘, eine unharmonische Beziehung zwischen Bass und Sopran (eine Septime h-a), die nicht entstanden wäre, wenn Bach im Bass den Ton a geschrieben hätte. Dadurch hätte der Bass zum einen eine Oktave zum cantus firmus-Ton (a) gebildet und zum anderen wäre der ‚Saltus durius culus‘ (f-h) vermieden worden; dies wäre der „normale musikalische Sprachgebrauch“ gewesen!
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Hier erweist sich, dass Bach den Sinn des Wortes „solch“ fast überdeutlich mit fünf bewussten Verstößen gegen Kompositionsregeln in Musik übersetzt. Die gesamte Choralbearbeitung ist weitgehend von der Figur der ‚Subsumptio‘ (= Anhebung von unten) geprägt; dies meint, dass der gewünschte Ton über seine untere Nebennote erreicht wird, eine Manier aus dem Arpeggieren von Akkorden z.B. in Cembalomusik. Diese ‚Subsumptiones‘ führen zu einem Motiv, das ausgesprochen deutlich nach der Sechzehntelpause in Takt 1, nach der Tmesis erklingt und das man als Figur des ‚Chiasmus‘ lesen kann: hierbei sind Noten so angeordnet, dass die Verbindung der ersten und vierten und der zweiten und dritten notierten Note das Bild eines Kreuzes ergeben. Dieses Motiv kommt nur an zwei Stellen im cantus firmus vor, jeweils nach einer trennenden Sechzehntelpause: in Takt 1 auf das Wort „komm“ und in Takt 8 beim Wort „solch“. Man spricht bei einem derartigen Motiv von ‚Augenmusik‘, da die Tonanordnung zu sehen, aber kaum hörend zu erfassen ist. Weitere Beispiele für ‚Chiasmus‘-Motive: die Anordnung der Töne in der Basslinie in „Vom Himmel hoch“ (BWV 606) und in „Da Jesus an dem Kreuze stund“ (BWV 621) oder auch in der Motivik des Liedes „Vater unser im Himmelreich“ (BWV 636). Zugleich kommt dieses Motiv in einer einstimmigen Linie (s. Sopran Takt 1,3 oder Tenor Takt 5,2) und auch quasi im Überlegato vor (s. Alt und Tenor Takt 1 oder Takt 5,1). Wie viele weitere Choralbearbeitungen der Advents- und Weihnachtslieder im ‚Orgelbüchlein‘ ist auch diese von der Figur der ‚Katabasis‘, der abwärts gerichteten Bewegung der Gegenstimmen zum cantus firmus geprägt, womit Bach eventuell das Herabsteigen des Gottessohnes versinnbildlichen wollte. Es ließen sich weitere, fein gesetzte musikalisch-rhetorische Figuren aufzeigen, was den Umfang dieses Essays aber sprengen würde. Nachdem am Beispiel von BWV 599 deutlich hörbar wurde, wie Bach den ‚Sensus‘ eines Wortes ausdrückt, soll mit der Choralbearbeitung über „Durch Adams Fall ist ganz verderbt“ (BWV 637) der kompositorische Umgang Bachs mit dem ‚Scopus‘ eines Textes deutlich werden. Durch Adams Fall ist ganz verderbt menschlich Natur und Wesen, dasselb Gift ist auf uns ererbt, daß wir nicht kunntn genesen ohn Gottes Trost, der uns erlöst hat von dem großen Schaden, darein die Schlang Evam bezwang, Gotts Zorn auf sich zu laden. Text: Lazarus Spengler (1524), Melodie: 1525; geistlich Wittenberg 1529
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Der ‚Scopus‘ dieses Chorals, in dem die Theologie und Problematik der Erbsünde thematisiert wird, ist durch die Vokabeln „Adams Fall“ der „ganz verderbt ist“, bereits in der Titelzeile benannt. Es handelt sich bei dieser Choralbearbeitung Bachs quasi um ein Lehrstück angesichts der offensichtlichen Häufung von musikalisch-rhetorischen Figuren zum Ausdruck des gänzlich verderbten Falls Adams.
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Ohrenfällig sind zum einen die ‚Saltus duriusculi‘ in der Bassstimme: die verminderten Septimen, abwärts gerichtet, noch dazu als pathetische Akzente, da die längere Zielnote auf den Zählzeiten 2 und 4 steht, die an sich im Taktgefüge unbetont sind. Zum „normalen Sprachgebrauch“ hätte es ausgereicht, fallende Intervalle zu komponieren und nicht mit verminderten Septimen ‚gänzlich verderbte‘ Intervalle (‚Hypotyposis‘). Ferner schreibt Bach eine fallende Harmonik, die mit der kirchentonalen Anlage (dorisch mit Ausweichungen ins aeolische) des cantus firmus kaum vereinbar ist: die Harmonik fällt ab der dritten cantus firmus-Note in Quinten von H-Dur über e-moll und A-Dur nach d-moll; besonders H-Dur ist in diesem Zusammenhang quasi nicht erlaubt, somit ein bewusster Fehler Bachs in der Harmonisierung des cantus firmus als Abweichung vom „normalen Sprachgebrauch“. Besonders interessant ist zudem die Figur der ‚Heterolepsis‘ (= „Ergreifung einer anderen Stimme“ nach Christoph Bernhard (1628–1692), einem Kompositionsschüler von Heinrich Schütz oder der „geschehenen Verwechslung der Resolution (=Auflösung)“, eine Definition von Johann David Heinichen (1683–1729), einem Zeitgenossen Bachs in Dresden). Denn der zweite Ton des jeweiligen ‚Saltus duriusculus‘ zielt quasi als Leitton zu einer Auflösung, die aber im Bass nicht erfolgt; vielmehr schreibt Bach stattdessen eine Pause (‚Tmesis‘ oder ‚Ellipsis‘). In Takt 2, beim dritten ‚Saltus duriusculus‘ wird dessen zweiter Ton (gis) als Leitton nach a im Bass weitergeführt. Ersatzweise übernimmt nun der Tenor im Takt 1 die Auflösung des gedachten Zieltons: dis (im Bass) führt zum e (Tenor), desgleichen führt cis im Bass zum d im Tenor (= ‚Heterolepsis‘). Eine Hypothese könnte sein, dass diese „geschehene Verwechslung der Resolution“ (also die Dissonanzauflösung durch die Tenorstimme) ein Sinnbild der Erlösung durch Jesus Christus sein könnte, vereinfacht ausgedrückt: der „ganz verderbte Fall Adams“ mit den verminderten Septimen und nachfolgender Tmesis im Bass wird vom Tenor ‚richtiggestellt‘. Es finden sich viele Beispiele dafür, dass der Tenor in Bachscher Orgelmusik Jesus Christus repräsentiert, beispielsweise „Christe, aller Welt Trost“ (BWV 670), „Jesus Christus, unser Heiland“ (BWV 688) oder „Christ, unser Herr, zum Jordan kam“ (BWV 684), jeweils aus dem „3. Theil der Clavierübung“. Für die Hypothese, dass hier die Figur der ‚Heterolepsis‘ vorliegt, gibt es keinen Beleg, sie ist aber ausgesprochen sinnfällig, da sie sich in der gesamten Choralbearbeitung BWV 637 wiederfinden lässt (siehe auch die korrekte Auflösung der nicht aufgelösten Leittöne in den Takten 2, 4 und 8 im Bass durch den Tenor). Die Konsequenz, mit der Bach diese Nicht-Auflösung von Leittönen komponiert, scheint zumindest eine solche Deutung zu ermöglichen. Gesteigert werden die ‚Saltus duriusculi‘ im vorletzten und letzten Takt durch die
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Verkettung von drei Septsprüngen. In Takt 11,4 entsteht dadurch ein weiterer ungewöhnlicher ‚Saltus duriusculus‘ (dis-f = eine verminderte Terz), zudem entsteht an dieser Stelle eine ‚Relatio non harmonica‘ zwischen Bass (dis) und Alt (d), nach heutiger Nomenklatur: ein ‚Querstand‘. Im Übergang von Takt 9 nach Takt 10 findet sich die Figur der ‚Cathachresis‘ (= missbräuchliche Nutzung einer Dissonanz): dis und es im Bass. Es sei noch auf die zahlreichen ‚Passus duriusculi‘, besonders in der Altstimme hingewiesen. Der Alt beginnt ‚frecherweise‘ vor dem cantus firmus und greift in den Bereich des cantus firmus ein (wohl ein ‚Hyperbaton‘), indem der Altton a zugleich der erste erwartete cantus firmus-Ton ist. Einen ähnlichen Eingriff in den Bereich einer anderen Stimme gibt es in Takt 2,3. Auch im Tenor finden sich wenige ‚Passus duriusculi‘; besonders interessant in Takt 2,2; hier entsteht durch die Fortschreitung h-b ein übermäßiger E-Dur-Septakkord mit verminderter Quinte. Zudem finden sich die Kreuzfigur (‚Chiasmus‘) in der Bassstimme (Takt 2, 6, 8 und in Takt 11f. zweimal ineinander verschränkt) sowie in der Tenorstimme (Takt 1,2 und in Takt 7,2). Auf eine Besonderheit sei noch hingewiesen: in Takt 9,4 und 10,1 – der Text der Choralzeile heißt „darein die Schlang Evam bezwang“ – gehen Tenor und Alt beim Wort ‚Evam‘ eine Liaison ein, in dem sie in parallelen Terzen geführt sind. Diese Figur der ‚Gradatio‘ (= „eine Noten-Figur, wenn nehmlich zwo Stimmen per Arsin & Thesin, d. i. auf- und unterwerts gradatim (schrittweise) Tertzenweise mit einander fortgehen“, Johann Gottfried Walther, Vetter J.S. Bachs in seinem „Musicalischen Lexikon“, Leipzig 1732) führt eigentlich zu einer Aufhebung der Selbstständigkeit der Stimmen, da die eine Stimme von der anderen abhängig geführt ist. Bei diesen vier parallelen Terzen entfernt sich der Alt so weit vom cantus firmus in Takt 10,1, dass man die Figur der ‚longinqua distantia‘ (= (zu) großer Abstand) erkennen kann (Stichwort: Sünde als Getrenntsein von Gott). Und in Takt 10,1 führt Bach Alt und Tenor mit einer quasi gestörten ‚Gradatio‘ weiter, die aus Quarten und übermäßigen Quarten besteht; hier also scheint die Schlange Eva bezwungen zu haben, die zuvor beide in Takt 9,4 ‚einträchtig‘ in Terzen einhergingen. Mit dieser Choralbearbeitung als ‚Lehrstück‘ erweist sich Bach als theologisch und rhetorischer ‚musicus doctus‘.
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Als letztes kurzes Beispiel mag der Anfang der Choralbearbeitung zu „Wenn wir in höchsten Nöten sein“ (BWV 641) dienen: der cantus firmus, im Sopran liegend, wird stark durch Figurationen und Ornamente koloriert und weist somit auf norddeutsche Vorbilder hin. Anders als beispielsweise in den Choralbearbeitungen Dietrich Buxtehudes (1637–1707), die meist von zeilenweiser Vorimitation geprägt sind – d.h. Alt, Tenor und Bass imitieren mit musikalischem Material der jeweils nachfolgenden Choralzeile diese vor, verlegt Bach diese Vorimitation in die Innenstimmen, zugleich zum cantus firmus. Anders als beispielsweise im in Weimar entstandenen und in Leipzig überarbeiteten „Wenn wir in höchsten Nöten sein“ (BWV 668a), auch überliefert als „Vor deinen Thron tret ich hiermit“ (BWV 668) auf die gleiche Melodie: Hier gibt es eine regelgerechte Vorimitation, an die sich eine Antwort des Themas in Umkehrung anschließt, das zugleich kontrapunktiert durch einen ‚Passus duriusculus‘ wird, bevor dann die leicht kolorierte Oberstim-
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me mit dem cantus firmus einsetzt. Ab hier (T.8) erweist sich die Komposition als nahezu wörtliche Übernahme des musikalischen Satzes aus BWV 641. In beiden Choralbearbeitungen ist häufig die Figur der ‚Gradatio‘ anzutreffen, wohl eine Ausdeutung des Wortes „wir“. In BWV 668 scheint Bach noch Zweifel anmelden zu wollen, indem er in Takt 10,3 nun einen Trugschluss (= ‚dubitatio‘) schreibt und damit die Fassung in BWV 668a verbessert. In BWV 640 sei nur auf zwei besondere musikalisch-rhetorische ‚Übersetzungen‘ des Textes in die Musik durch Johann Sebastian Bach hingewiesen: in Takt 2 werden die „höchsten Nöte“ durch die Figur der ‚Exclamatio‘ (= Ausruf) und der Figur der ‚Hyperbole‘, der Übertreibung durch Überschreitung des Notensystems, emphatisch dargestellt. In der 3. Strophe dieses Liedes geht es um Reue, die mit dem theologischen Begriff der Buße bzw. Umkehr verbunden ist. Die Beobachtung, dass Bach die zweite Stimme innerhalb der Imitation sowohl in BWV 641 als auch in BWV 668a als Umkehrung des Motivs bzw. des Themas schreibt, kann als kompositorische Darstellung dieser Buße bzw. Reue gesehen und gehört werden.
Literatur Bartel, Dietrich. 1985. Handbuch der musikalischen Figurenlehre. Laaber: Laaber-Verlag. Eggebrecht, Hans Heinrich. 1959. Musicus poeticus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Hiemke, Sven. 2007. Johann Sebastian Bach. Orgelbüchlein. Kassel et al.: Bärenreiter. Küster, Konrad. 2016. Musik im Namen Luthers – Kulturtraditionen seit der Reformation. Kassel et al.: Bärenreiter. Marti, Andreas: „… die Lehre des Lebens zu hören“. Eine Analyse der drei Kantaten zum 17. Sonntag nach Trinitatis von Johann Sebastian Bach unter musikalisch-rhetorischen und theologischen Gesichtspunkten (Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie Bd. 46). Bern: Peter Lang. Schmitz, Arnold. 1950. Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik Johann Sebastian Bachs. Mainz: Schott. Schulze, Hans-Joachim (Hrsg). 1975. Johann Sebastian Bach. Leben und Werk in Dokumenten. Eine Anthologie. München: dtv & Kassel et al.: Bärenreiter. Seidel, Elmar. 1998. Johann Sebastian Bachs Choralbearbeitungen in ihren Beziehungen zum Kantionalsatz, 2 Bde. Mainz: Schott. Wolff, Christoph. 2000. Johann Sebastian Bach. Frankfurt a.M.: S. Fischer.
Sagbar – unsagbar Gedanken zum Wesen der Musik Dieter Schnebel
Was sagt uns Musik? Tja, was sagt sie? – Nichts! – Sie hat nichts zu sagen, denn ihr fehlen die Worte – wenn sie sich nicht wie in der Vokalmusik und Liedern solche aus der Sprache leiht. Wohl aber bewegt sie uns, macht uns froh, lässt uns tanzen, vermag uns in einen Ausdruck von Trauer, ja in Depression zu versetzen. Gar geht sie in die Tiefe und rührt da in der Tat an Unsagbarem. Wir hörten in den letzten Tagen beim Musikfest in Berlin in kurzen Abständen die beiden letzten Sinfonien von Bruckner, die Achte und die Neunte. Und in den langsamen Sätzen, da waren Momente jener Tiefe. Da klang, wie soll ich sagen, etwas Transzendentes, etwas Metaphysisches. Jene Tiefe aber ist die der Seele – wobei wir wieder bei einem rätselhaften Begriff wären. Seele, was ist das? Aber nähern wir uns nun der Musik erst einmal sachlich …
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Das Wesen der Musik
Materiell gesehen – materialistisch begriffen – ist Musik vokal bzw. instrumental erzeugte schwingende Luft. Und sie spielt in Räumen. Ihre Vibrationen werden in der Regel im Sinnesorgan des Ohrs, aber auch insgesamt körperlich wahrgenommen, vermögen an, ja unter die Haut zu gehen. Musik geht aber auch an den Kopf, in den Bauch – und in die Beine. So bewegt uns die Materie der Musik, ihre rhythmisierten Klänge anders als die durch Zeichen oder Inhalt vermittelten der bildenden oder literarischen Künste, unmittel© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_7
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bar; sie vermögen uns eben zu erschüttern, auch zu rühren – bis hin zu Tränen. Die Klänge aber erzeugen in uns Resonanz, ein Mitschwingen, das sowohl den Leib erzittern lässt wie auch im Kopf Gedanken anstößt. Musik ist eben unmittelbar erregend, also die wohl sinnlichste aller Künste. Überhaupt hat die Kunst Musik eine eigene Körperlichkeit. Zumal in der Marschund Tanzmusik. Ohnehin ist Musik ursprünglich leiblich: die Laute der Kleinkinder bilden ihren Anfang (und das letzte Röcheln und Stöhnen der Sterbenden ihr Ende). Der Atem aber ist die Basis jeglicher Musik. Auch der Herzschlag mag ein Regulativ sein. In beidem aber waltet Periodik.
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Ausdruck, Gefühl, Seele
Jene Laute am Anfang und Ende des Lebens beinhalten Lust und Weh, oder ein Dazwischen: Ruhe. Hier aber geschieht Ausdruck – auch im Wortsinn: Aus-druck. Tatsächlich ist Musik stets expressive Kunst. Was indes darin geäußert wird, sind Gefühle. Solche sind als ein Vorsprachliches schwer zu beschreiben, betreffen indes Wohl und (oder) Wehe, Lust/Schmerz. Die Vokabeln der Deskription, die herangezogen werden, sind eher moralisch: „gut oder schlecht“ oder ästhetisch: „schön/hässlich“ u.ä. Angesiedelt sind die Emotionen der Musik zwischen Freude und Schmerz (wie viele Trauermusiken gibt es!); Liebe und Tod (alle Opern handeln davon!). Geht es in den Schmerzensmusiken um die Gefühle körperlicher Leiden, so in denen der Freude stets, und sei’s auch nur irgendwie – um Sinnlichkeit (siehe oben). Jedenfalls ist Musik ein eigenes Medium und zwar vor der Sprache gelegen. Rezipiert aber wird Musik primär übers Gehör – sie ist ja akustische Kunst – geht von da indes eben in innere Tiefen. Landet in der Seele, was immer das sei. Jedenfalls hat sie mit Gefühlen zu tun. Ist vielleicht gar ein Gefühls-Ich, wortlos, namenlos, jenseits von Vernunft/Verstand, eigentlich gar kein Ich. Womöglich das, was Freud Es nannte: eine dritte (untere) Instanz neben Ich und Über-Ich.
3 Lebensvorgang Indes hat das eine eigene Problematik – Musik ist nicht nur unsagbar, sondern auch schwer fassbar. Anders als die Werke der Bildenden Künste oder die in Schriftzeichen gebannten der Literatur, die man jederzeit anschauen oder zur Hand nehmen kann, erscheinen die der Musik kaum greifbar – wie übrigens die des Theaters –
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als Zeitabläufe nur in den Aufführungen oder der Reproduktion wirklich da, freilich zugleich vergehend. Ihre Prozesse von Spannungen-Entspannungen mögen als eine wie immer artifizielle Analogie zu Lebensvorgängen gesehen werden – eine Art ars vivendi. Schopenhauers Musikquintessenz des Lebens.
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Musik – Religion (Musik – Gefühl – Religion)
Es gibt noch etwas, das ähnlich wie Musik in der Seele beheimatet ist: Religion. Wenn wir Gott sagen, was meinen wir da, was geschieht da in uns. Im alten Israel durfte man seinen Namen nicht aussprechen, Jahwe – irgendwo wird er gedeutet: „ich bin der ich bin“, genauer „der ich sein werde“ – also als Zukunft. Aber wenn wir Gott denken, was spüren wir da in uns – Nähe oder was sonst? Aber nüchtern nun zum Thema Musik – Religion. Es gibt da mannigfache Berührungspunkte, gar Parallelen. Allerdings kann es hier nicht um die verschiedenen Erscheinungsformen der Religionen gehen, sondern nur um das Allgemeine. Jedenfalls bestehen vielerlei Verbindungen. In den meisten Religionen gehört Musik zu den Ritualen. Wo sie ausgegrenzt sind, z.B. im IS, ist die Religion selbst unmenschlich.
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Religion und Gefühl
Auch in der Religion spielen wie in der Musik Gefühle eine Rolle. Man denke an Gebet und Andacht, welche ja selbst emotionale Vorgänge sind. Erst recht gilt das von der Meditation, jenem Nach-innen-, ja In-die-„Tiefe“-Gehen, wovon schon die Rede war. Der große romantische Theologe Friedrich Daniel Schleiermacher definierte Religion als „das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ und verortete sie also im Emotionalen. Aber auch sein Widerpart, der große Karl Barth im 20. Jahrhundert, mit seinem Grundgedanken: „Gott, der ganz Andere“ – heute möchte man zeitgemäßer sagen: der/die/das ganz Andere: fern menschlicher Kategorien und in deren Gefolge die Ablehnung allen religiösen (Un-)Wesens. Aber auch da geschieht der Zugang in der Begegnung mit einem Unfassbaren und letztlich emotional.
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Musik – Religion
Noch einmal Religion-Musik – diesmal umgekehrt: Musik-Religion: die Präsentationsformen der Musik: Konzert, auch Oper, ähneln religiösen Ritualen. Ein Kollektiv findet sich zusammen zu gemeinschaftlichem andächtigen Anhören, eben von Musik, die wiederum auf der Bühne, gleichsam dem Altarraum, von einem Kollektiv ausführender Musiker realisiert wird. Dies wiederum in gemeinsamer hingebungsvoller Tätigkeit. Im Grunde ist das Konzert eine Art Gottesdienst in einem gemeinsamen Glauben, eben an die Musik. Allerdings säkular, ohne Bezug auf einen Gott. Ist er womöglich gerade in solch gott-losem Ritual anwesend? Übrigens: die Vorbereitung der Musik, das Üben, ähnelt wiederum den religiösen Exerzitien. Eine neue Dimension gewinnt solche Aufführung von Musik, wenn diese sich mit Sprache verbindet; sei es geistlich in Motetten, Passionen, Oratorien, sei es weltlich in den Liedern und Opern. So gesehen ist Musik eine eigene Religion, atheistisch in Gefühlen gründend, die dann doch wiederum zu einem Jenseitigen streben, Transzendenz suchen. So ist es kein Zufall, dass Komponisten Musik selbst zur Religion zu machen suchten, die Erlösung spenden sollte. Das begann bei Wagner in seinem „Bühnenweihfestspiel“ „Parsifal“. Oder doch schon bei Bach, dem als „Fünften Evangelisten“-Verehrten. Jedenfalls weitergehend in den Ekstasen Skrjabins und schließlich in den Weltraumfantasien der „Sirius-Stücke“ Stockhausens und dem gigantischen siebenteiligen Opernzyklus „Licht“.
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Musik und Psychologie
Abgesehen von streng konstruierten Werken – bisweilen allerdings auch da – eignet der Musik ein assoziatives Wesen: ein Ton gibt den anderen. Deren Verknüpfungen ähneln psychischen Vorgängen, und ihre Verläufe sind quasi deren Äußerungen. Vielleicht geht uns die Kunstmusik darob so nahe. Jedenfalls geschieht hier Analoges zu psychoanalytischen Prozessen, in deren Assoziationsströmen Seelisches unmittelbar – hier allerdings in der Tat zu Wort kommt. Und sich ohnehin eine Art motivischer Arbeit abspielt.
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8 Gedächtnis In der Psyche ist aber auch eine Art Organ beheimatet, das für die Musik konstitutiv ist: das Gedächtnis, ja die „Seele“ ist dies wohl selbst. Hier vollzieht sich das musikalische Denken als solches in Gefühlswerten, quasi in Emotionsvokabeln (eben „Motive“ genannt). Und es geschieht als „Kom-ponieren“, als Erstellen eines Zusammenhangs: in Reihen (Wiederholen), Variieren, Fortsetzen, Kontrastieren, usf.; dann in der Herstellung großformaler Zusammenhänge: Steigerungen, Höhepunkte, Rückgänge (decrescendi), Tiefpunkte. Also werden kraft des Gedächtnisses die musikalischen Formen geschaffen, seien es die kleinen ABA-Gebilde von Liedern und Tänzen, seien es die großen von Opern, Oratorien, Sinfonien. Dies geschieht einerseits durchaus rational, zugleich aber unmittelbar emotional: im Erzeugen von Schönheit – freilich als Prozess.
9 Schönheit Und von solcher sei nun die Rede. Wie im Leben selbst aber waltet auch in der Musik ein Bedürfnis nach Schönheit, bzw. empfinden wir ein solches. In ihren erregenden Abläufen ereignen sich immer wieder Momente oder ganze Passagen von Schönheit: wenn eine Melodie zu Herzen geht, oder Klänge uns erwärmen, auch Rhythmen uns in Ekstase versetzen, oder wenn eine schon gehörte musikalische Gestalt wieder auftaucht – und wir dann unwillkürlich sagen mögen „wie schön!“. Indes gibt es auch Unschönes, gar Erschreckendes. Jedenfalls gehört beides dazu: Moll oder Dur, Klang und Geräusch. Die ästhetischen Werte ließen sich serialisieren, reichten von extrem hässlich bis äußerst schön; und dazwischen fände sich ein Null (zero) – weder das eine noch das andere. In alledem ist es ein Seelenleben, das sich da spiegelt.
10 Erinnern Im Wahrnehmen der musikalischen Formen aber ereignet sich die Arbeit des Erinnerns. Ja, Musik ist das Medium der Erinnerung. Denn als Ganzes existieren die musikalischen Kunstwerke nur in ihr (oder als Material zu Papier gebracht in den Noten und Partituren). In der Er-Innerung geschieht das In-Beziehung-Setzen zu einem Früheren – auch zu einem Künftigen – etwa durch (um es mit einem musikalischen Begriff zu sagen) „Motivik“. Das Verstehen von Musik beruht ja auf dem Wieder-Erkennen von Klängen, Rhythmen, Themen, etc. – und auf Wieder-
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holung. Dies überaus gefühlsmäßig, zuweilen gar nostalgisch, im Heimweh nach einem Vergangenen, Verlorenen. Man denke an Mahlers „Posthorn“ (Dritte Sinfonie, dritter Satz). Dieses Erinnern ist wiederum unmittelbare seelische Tätigkeit – Wieder-holung: das Heran- Heraufholen eines Vergangenen in die Gegenwart; vergleichbar dem, was sich, freilich verbal, in psychoanalytischen Prozessen abspielt. Voll Verheißung: das Versprechen von Glück. Um noch einmal auf die erwähnte Analogie von Kunst und Leben zurückzukommen. In letzterem wiederholt sich nach dem großen Heraklit nichts wirklich: einerseits weil in seinem unaufhörlichen Fluss sich ständig alles verändert, andererseits auch wir uns selbst. In der Kunst Musik aber kann sich Wiederholung als Erscheinung überraschend ereignen. Bei der Uraufführung von Feldmans viereinhalbstündigem Streichquartett war ich schon bald in diesen seltsam verdämmernden Zustand einer gleichmäßigen Wahrnehmung (oder Halbwahrnehmung) geraten, in die einen die minimalistische Musik versetzt. Nach langer, langer Zeit schreckte ich quasi auf: das hast du doch schon vor einer Stunde gehört! Und dann, zumal in der Klassik und Romantik, das Glück der Reprise; wenn das Hauptthema nach all dem Durchführungsgewimmel unverändert – jedoch oft wie von einer Aura umgeben – wieder erscheint. Hier ereignet sich etwas, was im Leben nie geschieht: die wörtliche Wiederkehr eines Vergangenen. So vermag die Gefühlskunst Musik Vergangenes als Neues heraufzuholen aus dem dunklen Sumpf des Gewesenen, und ebenso Zukünftiges beschwören als große Möglichkeit – und die Macht der Vergangenheit zu brechen. Freilich bedarf es auch hierzu des offenen Ohrs.
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So ist Musik Utopie im Wortsinn: Nicht-Ort (und Un-zeit!). Das macht ihren wehmütigen Ton aus. Denn ihr Grundgefühl ist ja die Sehnsucht – unerfüllt und doch verheißungsvoll (davon später). Hier gründet abermals die musikalische Schönheit: als sehnsüchtig utopische Kunst beschwört sie Trauer (über Vergangenes) und Glück (über die Möglichkeit von Zukunft), ja beschwört das Vergangene selbst herauf. Im Grunde ist Schönheit, zumal in der Musik, ein Vorgang, ein Prozess von quasi seriellen Werten des Schönen – un/schön bis überirdisch schön. Somit ist Musik selbst wie gesagt ein ästhetischer Prozess. Wo denn auch quasi Phasen verschiedener Dichte von Schönheit (auch solche von deren Absenz) aufeinander folgen und ein Beziehungsnetz bilden.
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Hierzu ein Zitat von Hölderlin: „Wie der Zwist der Liebenden / sind die Dissonanzen der Welt / Versöhnung ist mitten im Streit / Und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern / Und einiges ewiges glühendes Leben ist alles“ (Schluss von Hyperion).
12 Theologie Und nun ein theologisches Wort zur Musik: lange Jahrhunderte war sie ohnehin eine geistliche Kunst. Jedenfalls ist komponieren als Denken – Er-denken von Klängen in der Zeit eine geistige Tätigkeit, auch eine Gabe – Gnade. Dem Denken ist aber auch Sinnlichkeit eigen; es ist gewissermaßen wonnig und als psychische Aktivität hat es eine eigene Schönheit. Das Material der Musik aber ist wie gesagt schwingende Luft, die sich in Schallwellen im Raum ausbreitet. Die körperliche Basis der luftigen Kunst aber, wo sie im Gesang erzeugt wird, und von daher auch instrumentale Aktionen steuert, ist der Atem, dessen Erzeugung in den Lungen und vom Zwerchfell gesteuert bis zum Beckenboden hinabreicht und also den ganzen Leib umfasst. Hierzu ein Bibelzitat: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Die Erde aber war wüst und öde („tohuwabohu“). Und Finsternis lag über der Urflut. Und der „ruach“ Gottes schwebte über den Wassern“ (Gen 1,1f.). Das hebräische Wort „ruach“ bedeutet sowohl Atem und Geist. Also – das gewaltige Schnaufen Gottes über dem urweltlichen Chaos. Dieses aber beinhaltet auch seinen waltenden Geist, der eben das Chaos bändigt. Und dies nun auf die Musik bezogen, die ja dem Atem (ruach) entspringt: ist sie nicht überhaupt geistig? Ja, geistlich, indem sie Anteil hat am göttlichen ruach?
13 Sehnsucht Indes: das allen musikalischen Gefühlen zugrundeliegende Urgefühl ist eben die Sehnsucht. Ernst Bloch nannte den ersten Klang eines vorzeitlichen Blasinstruments – also den Anfang der Musik – einen „Ruf ins Entbehrte“.1 Wirklich zielen ihre Töne qua Schallquellen in eine Weite; suchen wohl eine Antwort, ein Echo, oder sind einfach Botschaften an ein Irgendwo. In all den musikalischen Tönen 1
Bloch, Ernst. Das Prinzip Hoffnung, Bd. 3: „Der Klang der Hirtenflöte, der Panflöte, der Syrinx bei den Griechen (was überall dasselbe bedeutet), soll die ferne Geliebte erreichen. So beginnt Musik sehnsüchtig und bereits durchaus als Ruf ins Entbehrte.“
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aber liegt eben eine Wehmut (vielleicht am schönsten gefasst in der Musik Schuberts) – dies ob ihrer Vergeblichkeit. Aber selbst darin birgt sich der Versuch, über die Vergängnis hinaus zu gelangen. Rein theoretisch ziehen die Schallquellen hinaus in ein Unendliches, in ein All, in dem sie sich freilich im fernsten Echo verlieren. Das aber ist die Utopie der Musik, ihr überirdisch schönes, transzendentes Wesen, und: ihr Mysterium.2
14 Dankbarkeit In alledem aber geschieht letztlich eine mehr oder weniger große Entspannung, eine Lösung – gar Erlösung? Ist Musik, wie schon vermutet, nicht doch auch irgendwie Religion? Hat jedenfalls damit zu tun. Das wie auch immer geartete Schöne evoziert Emphase, ja ein großes Sich-lösen und darin das Gefühl von Dankbarkeit. Das ebenso schöne lateinische Wort hierfür ist „gratia“. Dies impliziert wie auch das griechische „charis“ oder das hebräische „chesed“ Anmut, Grazie, Leichtigkeit – und Gnade (Geschenk, Gabe). Etwas, das uns zuteilwird, von außen, einem anderswo – oder von innen? – uns zukommt, von einem anderen oder inneren Unfassbaren, gar Jenseitigem. Das uns denn auch staunen lässt. Die angemessene Antwort aber ist so etwas wie das Gebet: „Ich danke!“
15 Résumé Um nochmals auf den Anfang zurückzukommen: „Das Sagbare und das Unsagbare“ – ja, das Unsägliche, das der Musik eigen ist. Und sie ist eben anders als die meinende Sprache. Aber eines ist beiden gemeinsam: Kommunikation – Mitteilung. Die der Musik findet in einer geheimnisvollen Tiefe statt – ähnlich der Kommunion in der katholischen Kirche. Sie verbindet, auch im Doppelsinn des Wortes: vermag zu heilen. Ja, in gewisser Weise ist Musik gelebte Frömmigkeit, freilich säkular, aber doch nah an jeder Religion. Musik spricht eben an, aber unmittelbar, ohne Worte. Sie wird über die Psyche rezipiert. Da ist sie zunächst ein ganz Ursprüngliches, nämlich Stimme. Solche aber erzeugt Töne – ja, „der Ton macht die Musik“, und damit schafft sie Stimmung.
2
Dolphy, Eric: „When you hear music, after it’s over, it’s gone in the air. You can never ever capture it again.“
Sagbar – unsagbar
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Die Ober- und Untertöne der Musik rühren aus der spektralen Struktur des Klangs. Dieser aber kommt aus dem Bauch, seinen da gelegenen Organen. Jene Ober- und Untertöne haben indes etwas Jenseitiges. Wenn im Obertongesang die Zweistimmigkeit gelingt, ist es fast wie ein Wunder: wo kommt das her? Die Klangvokabeln der Musik sind indes – anders als die Worte der Sprache – allgemeinverständlich. Musik ist international. Hierin gleicht sie der Sprache der Liebe. Auch da bedarf es keiner Worte. Die Kommunikation des Sex’ hat kaum solche, vielleicht ein „Du“ oder ihr Grundsatz „Ich liebe Dich“. Der Rest aber ist Lallen, Gestöhn und Schnaufen. Es fällt mir auf, dass ich dauernd metaphorisch rede. Vielleicht lässt sich nicht anders über Musik sprechen – oder soll man sagen: stammeln? Da ist tatsächlich ein Meta – oder ein Trans. Wie in der Metaphysik, die von Transzendenz handelt. Der Musik wohnt ein anderes inne, schwer fassbar, also Jenseits – wenn Sie den Begriff Sprache unbedingt brauchen, eine Metasprache. Der amerikanische Psychiater Oliver Sacks, der in einer Klinik mit Demenzkranken arbeitete (wir reden auch von „Geistesgestörten“; in der Tat ist da der Intellekt außer Kraft gesetzt), erzählt von einem Alzheimer-kranken alten Musiker, der längst die Sprache verloren hatte. Indes war er fähig, einen Chor zu dirigieren: Kommunion der Musik. Zum Schluss ein Persönliches: Meine verstorbene Frau Iris hatte auch Alzheimer. Sie war Musikerin und über die Musik hatten wir uns gefunden. Ihr Beruf – sie war hochintelligent – war Übersetzerin, das Übertragen einer Sprache in eine andere. In ihrer fortschreitenden Demenz blieb indes das Hören von Musik erhalten. Noch sechs Wochen vor ihrem Tod waren wir in der Philharmonie: Achte Bruckner, eine Stunde und zwanzig Minuten hoch komplizierte Musik, und sie war die ganze Zeit konzentriert dabei – oder sollte man sagen in sich? Wir hörten vor dem Zubettgehen meistens noch eine CD und da sagte sie immer wieder, wohl weil sie etwas wiedererkannte: „Oh, wie schön!“ Was geht da in einem vor? Mit dieser Frage entlasse ich Sie.
Sinn und Sound – ein Machtkampf? Wort und Ton im Spannungsfeld kirchenmusikalischer Praxis Bernhard Leube
Das Verhältnis von Wort und Ton ist in der Kirche eine im wahrsten Sinn des Wortes spannende Angelegenheit, die sich immer wieder in zuweilen skurrilen Geschichten aus dem Energiefeld des Verhältnisses von Pfarrer*innen und Kantor*innen zu personalisieren scheint. Das Klischee, als könnten Pfarrer und Kirchenmusiker nicht gut miteinander, ist allerdings in den meisten Fällen der Kooperationen in den Gemeinden von der Wirklichkeit überholt: aufs Große und Ganze gesehen können Pfarrerinnen und Kantoren gut miteinander. Dennoch: es gibt nach wie vor Geschichten, die sich Kantoren beim Konvent abends beim Bier kopfschüttelnd oder lachend oder beides erzählen und es wird sie weiter geben. Dahinter steht die Geschichte des Verhältnisses der beiden Machtbereiche von Wort und Ton, in der die Musik Magd der Theologie und der Kantor Knecht des Pfarrers war. Wenn es klemmt, sind es tatsächlich häufig Machtkämpfe. Aber sie haben abgenommen. Die Säkularisierungs- und Emanzipationsgeschichte der Musik und vollends die Popkultur haben allerdings Schübe hervorgebracht, die inzwischen das traditionelle Verhältnis gelegentlich umkehren.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_8
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Bernhard Leube
Eine Einleitungsgeschichte
Ein Kollege bittet mich kurz vor Weihnachten um Rat. Eine professionelle Sängerin, zusammen mit ihrem am Ort prominenten Ehemann engagiertes Mitglied der Kirchengemeinde, Leute also, mit denen man sich’s nicht verscherzen sollte, will an Heiligabend im Gottesdienst „First of May“ von Sarah Brightman singen. Sie singt ab und zu im Gottesdienst und sucht ihre Gottesdienstbeiträge zuvor auf youtube aus. Der Kollege geht zuhause auf youtube, hört das Lied an, bespricht sich mit seiner Kantorin und die beiden sehen „First of May“ für Heiligabend als eher ungeeignet an. Der Kollege teilt seine Bedenken der Sängerin und ihrem Ehemann mit und löst damit Unverständnis, ja Verärgerung aus. Sarah Brightman, wird ihm entgegnet, sei eine weltberühmte Sängerin, die dieses Lied an Weihnachten in Wien gesungen habe und ein schwäbischer Landpfarrer sieht da ein Problem? In dem Lied sei von „Christmas trees“ die Rede, es sei sehr gefühlvoll und an Weihnachten ginge es doch um Gefühle. Wenn sie das Lied nicht singen dürfe, dann singe sie gar nicht mehr in der Kirche. Man verständigt sich darauf, im Amt für Kirchenmusik in Stuttgart eine Stellungnahme einzuholen. Damit bin ich im Spiel. Text und Musik von „First of May“ muss ich mir auch erstmal im Netz besorgen:1 1 When I was small, and Christmas trees were tall, / we used to love while others used to play. / Don’t ask me why, but time has passed us by, / someone else moved in from far away. 2 Now we are tall, and Christmas trees are small, / and you don’t ask the time of day. / But you and I, our love will never die, / but guess who’ll cry come first of May. 3 The apple tree that grew for you and me, / I watched the apples falling one by one. / And as I recall the moment of them all, / the day I kissed your cheek and you were gone. 4 Now we are tall, and Christmas trees are small, / and you don’t ask the time of day. / But you and I, our love will never die, / but guess who’ll cry come first of May. 5 When I was small, and Christmas trees were tall, / do do do do do do do do do … / Don’t ask me why, but time has passed us by, / someone else moved in from far away.
Im Netz finde ich noch einiges mehr. Das Lied beschließt Sarah Brightmans Album „Christmas in Vienna“. Mit Plácido Domingo, Helmut Lotti und Riccardo Cocciante singt sie verschiedene Weihnachtslieder, „Santa Claus is coming to 1
Das Musikvideo: Sarah Brightman – First of May – Christmas in Vienna. 2010. Video Clip. https://www.youtube.com/watch?v=QS7ly4VnXnY. Zugegriffen: 22. Dezember 2017. Der Text: First of May Songtext. http://www.songtexte.com/songtext/bee-gees/ first-of-may-7bd6ba48.html. Zugegriffen: 22. Dezember 2017.
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town“, „Child in a manger“ und andere, auch „Adeste fideles“, „Stille Nacht“ in fünf Sprachen und eben „First of May“. Das Lied ist ursprünglich eine 1969 publizierte Single der Bee Gees, der Titel, teilt Barry Gibb, einer der Komponisten, mit, 2 ginge auf den Geburtstag seines Hundes Barnaby zurück. Das Lied avancierte zur Filmmusik, Sarah Brightmans Aufnahme ist eine von zahlreichen Cover-Versionen. In der Tat ist in „First of May“ gleich in der ersten Strophe von Weihnachtsbäumen die Rede, aber sie bilden lediglich den Haftpunkt dafür, dass die Zeit vergeht: Als ich klein war, waren Weihnachtsbäume groß … Frag’ nicht, warum das so ist. Die Zeit ging irgendwie an uns vorüber. Die nächste Zeile wird am Ende des Liedes wiederholt und ist für das Verständnis des Liedes wichtig: „… someone else moved in from far away“ – jemand anderes zog ein von weit her. Ist hier eine Schwangerschaft gemeint? Ein Kind, das „von weit her“ empfangen wird? Das könnte ein Anknüpfungspunkt für Weihnachten sein. Nur: wer spricht zu wem? Jetzt sind wir groß – zweite Strophe – und Weihnachtsbäume sind klein. Ja, die Zeit vergeht. Du fragst nicht nach der Zeit eines Tages. Du und ich, heißt es weiter, unsere Liebe wird nie sterben. Redet hier eine Mutter zu ihrem Kind? Es dürfte noch ungeboren sein, denke ich, denn es heißt: rate mal, wer da schreien wird, wenn er kommt am ersten Mai. Ist das der errechnete Geburtstermin? Das mit dem Hund wusste ich da noch nicht. Ich denke in diesem Setting weiter – das Kind muss auf die Welt gekommen sein. Trotz des un-weihnachtlichen 1. Mai: das wäre ein weihnachtliches Motiv. Dann die dritte Strophe: der Apfelbaum, der für dich und mich wuchs, verlor seine Äpfel, einen nach dem anderen. Das erinnert an den Tag, als ich deine Wange küsste „and you were gone“. Das heißt nun nicht nur: und du warst weg, sondern: … und du bist gestorben. Eine überraschende Wendung. Nun wird – wie in Schock und Trauer und deshalb ein bisschen mechanisch – als vierte Strophe die zweite Strophe wiederholt. In der fünften Strophe schließlich geht es noch weiter zurück, Regression in der Trauerarbeit: als ich klein war und die Weihnachtsbäume groß …, die Sängerin summt, sinniert: do do do do do …, aber frag nicht, wie die Zeit verging, jemand anderes zog ein von weit her … Das ist, resümiere ich, das Lied einer Mutter an ihr gestorbenes Kind, ein „Kindertotenlied“, wie bei Gustav Mahler. Die Liebe über den Tod hinaus ist in diesem 2
First of May (Bee Gees song). 2018. https://en.wikipedia.org/wiki/First_of_May_ (Bee_Gees_song). Zugegriffen: 03. Januar 2018.
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Lied aber so speziell, dass sie schwerlich für das Weihnachtsereignis und für die Liebe steht, von der an Weihnachten die Rede ist. Und ein gestorbenes Kind als Hinweis auf den später am Kreuz sterbenden Jesus scheint mir hier dann doch zu weit hergeholt. Für Sarah Brightman, deren Ehe mit dem Musical-Komponisten Andrew Lloyd Webber 1990 kinderlos geschieden wurde, schwingen bei diesem Lied gewiss Erfahrungen missglückter Schwangerschaften mit.3 Ob das ursprünglich bei den Bee Gees eine Rolle spielte, kann ich nicht sagen. Es ist jedenfalls nachvollziehbar, dass die Erfahrung abgebrochener Schwangerschaften an Weihnachten schmerzt, wenn sich alles um ein neugeborenes Kind dreht. Nun dürfte das alles bei einem ersten Hören schwerlich so differenziert wahrnehmbar sein. „Christmas tree“ und „First of May“ dürften im Ohr bleiben, das eine weihnachtlich, das andere nicht. Die stärkere Botschaft ist die über den Sound gehende Emotion. Menschen werden von einer schönen Stimme beeindruckt und bewegt. Musik bringt vorhandene Gefühle zum Ausdruck und verstärkt sie. Musik erzeugt aber auch Gefühle, in Einverständnis oder Abwehr. Mit welchen Stimmungen die Menschen in einen Weihnachtsgottesdienst kommen, wissen wir nicht. Wir müssen mit einem breiten Spektrum rechnen, das von Traurigkeit bis Glückseligkeit reicht. Das Lied hat eine emotionale Botschaft, aber welche? Und: was soll gefühlt werden, wenn der Text kaum eine Rolle spielt? Gefühl an Weihnachten soll, ja muss sogar sein. Aber worauf soll es sich richten? Wenn nur Gefühle erzeugt werden, die nicht mit einem Inhalt verbunden sind, fühlt der Mensch sich selbst und bleibt bei sich selbst als Fühlendem. Aber solche Gefühle sind stumm und für einen Weihnachtsgottesdienst zu wenig. Manchen mag diese Selbstbezogenheit reichen. Aber: „Die Menschen präsentieren sich selbst vor Gott im Gottesdienst, aber sie feiern nicht sich selbst“, heißt es im württembergischen Gottesdienstbuch.4 Wir feiern vielmehr das unbegreifliche Ereignis und Geheimnis, dass Gott als Kind zur Welt kam. Die Weihnachtsfreude ist gewiss Weihnachtsfreude, aber eben Weihnachtsfreude. Eins hängt im andern. Vom alten Richard Gölz (1887–1975) gibt es aus dem Jahr 1925 die Äußerung: „… es kommt nie darauf an, was wir erleben, sondern was wir erleben“.5 Oder werden die mit „First of May“ erzeugten Emotionen von ihrem Ursprung abgelöst und auf Weihnachten übertragen, so wie es individuell empfunden wird? Ursprungskontexte werden im heutigen Gebrauch 3 4 5
Sarah Brightman. Den Traum von einem Kind habe ich aufgegeben. 2013. BUNTE, 26. März. www.bunte.de/stars/sarah-brightman-den-traum-von-einem-kind-habe-ichaufgegeben-1514.html. Zugegriffen: 03. Januar 2018. Gottesdienstbuch 2004, S. 31. Gölz 1925, S. 23.
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ja oft ausgeblendet und Lieder auf andere Situationen übertragen, wie exemplarisch an Dietrich Bonhoeffers „Von guten Mächten“ zu sehen ist. Musik in der Kirche nimmt Anteil am Verkündigungsauftrag der Kirche, so die Ordnung des kirchenmusikalischen Dienstes in der Präambel, also im Grundsatz.6 Es wäre an anderer Stelle zu diskutieren, ob damit über die Rolle der Musik in der Kirche schon alles gesagt ist. Wenn eine Musik aber einen Text hat, was in der Popularmusik die Regel ist, dann muss sie daraufhin befragbar sein. Verantwortlich dafür ist nicht nur der den Gottesdienst leitende Pfarrer, sondern gefragt ist ebenso die Kantorin, die nach der kirchenmusikalischen Ordnung der Kirche für die Klanggestalt des Gottesdienstes nicht nur mitverantwortlich, sondern verantwortlich ist,7 auch wenn sie nicht alle musikalischen Stücke des Gottesdienstes selbst ausführt. Es ist in Ordnung, wenn Kantorin und Pfarrer kritisch prüfen, wo eventuell Grenzlinien verlaufen. Die Zeiten, in denen es „schwarze Listen“ mit konkret benannten, abzulehnenden Musikstücken gab, sind allerdings vorbei.8 Heute zählt die Kraft der Argumente, die vor Ort gegeneinander abzuwägen sind. Es gibt in den letzten Jahrzehnten eine eindeutige Öffnung und mehr Großherzigkeit, was die Berücksichtigung von Musikwünschen angeht. Das ist gut! Dabei geht es allerdings um Trauungen oder Bestattungen, aber Weihnachten, wiewohl inzwischen eine Art Kasualie, ist nicht der persönlich-biographische Anlass eines Gemeindegliedes, sondern eines der Hauptfeste der Kirche. Der Tenor meiner Stellungnahme geriet skeptisch. 6 7 8
Frisch 2013, Nr. 800, S. 1. Frisch 2013, Nr. 802, S. 1. Im Konfliktfall müsste das bedeuten: letztverantwortlich. Eine Reihe von Erlassen aus den 1950er- und 1960er-Jahren haben, ausgelöst durch eine Aufführung von Claudio Monteverdis Marienvesper 1954 in der evangelischen Markus-Kirche in Stuttgart, den Gemeinden enge Grenzen gezogen und die Verantwortlichen verpflichtet, die jegliche mariologische Musik ausschließenden Richtlinien „scharf einzuhalten“ (Erlass des Ev. OKR Stuttgart Nr. 14337 vom 21.12.1954). Ein weiterer, theologisch substantiell argumentierender Erlass zur Musik bei Kasualien enthielt in Anhängen neben konstruktiven Vorschlägen auch Listen mit Stücken und Liedern, die abgelehnt werden sollen (Erlass des Evang. Oberkirchenrats Nr. A. 8255 vom 30. Juni 1959). Faktisch wurden die Erlasse aber permanent und zunehmend unterlaufen, bis sie schließlich 2002 unter Hinweis auf die Ordnung des kirchenmusikalischen Dienstes, den Richtlinien zur C-Ausbildung und den Hinweisen zur Gottesdienstgestaltung in der damals neuen Bestattungsagende aufgehoben wurden (Rundschreiben des Landeskirchenmusikdirektors vom 5. Februar 2002). In diese Linie gehört inzwischen die Einleitung „Die Musik im Gottesdienst“ in: Gottesdienstbuch 2004, S. 30–41.
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Biblische Notizen zur Musik
Was geschieht, wenn ein Text klingt? Unbestritten vernebelt Musik zuweilen die Sinne, schafft Trance-Zustände und schwächt die Aufmerksamkeit auf den Text. Manche haben daraus abgeleitet, der Musik Zügel anlegen zu müssen. Aber das Wort ist ein Klangereignis, der Klang ist der Leib des Wortes.9 Schrift und Druck sind Speichermedien, die nicht klingen und das Ereignis deshalb nur ganz partiell festhalten können. Neumen und Noten halten Bewegungen und Tonhöhen abstrakt fest, d.h. vom Klang abstrahiert. Druckerschwärze klingt nicht. Erst mit der Erfindung der Tonaufzeichnung 1877 durch Thomas Edison und 1887 durch Emil Berliner begann die Konservierung von Schall. Nun ist auch die Bibel ein Schriftdokument, das an sich nicht klingt. Der ursprüngliche Sound der Texte ist verflogen. Was heißt das?
2.1
Altes Testament
Was in der Bibel zur Musik zu finden ist, sind Notizen.10 Normative ästhetische Maßstäbe sind nicht zu erwarten. Zwar sind zahlreiche Liedtexte überliefert,11 aber wir wissen nicht, wie sie ursprünglich geklungen haben. Bei einer Reihe von Psalmen ist sogar bekannt, wie die Melodien hießen, nach denen sie gesungen werden sollten,12 aber niemand weiß mehr, wie sie zu singen sind, niemand. Die Überschriften vieler Psalmen machen Angaben zur musikalischen Ausführung. Auch wenn hier, wie gesagt, längst nicht mehr alles verständlich ist, bleibt z.B. die Angabe „lamenazzeach“13 interessant, die bei Luther mit „vorzusingen“ (vgl. 1. Chr 15,21), in der Zürcher Bibel mit „für den Chormeister“ wiedergegeben, also wenigstens mit einem Impuls zur Vortragsmusik zu interpretieren ist. Unter Inst9 Vgl. Reich 1997, S. 11–27. 10 Die einschlägige Literatur ist gleichwohl umfangreich, vgl. z.B. Arnold 2009, S. 55–77; Gradenwitz 1961. Dort c.1: Musik in der Wüste; c.2: Die Heilige Stadt; Kurzschenkel 1971, S. 81–113; Sendrey 1970; Staubli 2007; Seidel 1994, S. 441–452; Wetzel 22013, S. 368–385. 11 Vgl. Schuberth 2007, S. 392–401. 12 In der Luthertextversion von 2017: Ps 9,1: „Schöne Jugend“; 49,1: „Jugend“; 22,1: „Die Hirschkuh der Morgenröte“; 45,1; 69,1; 80,1: „Lilien“; 46,1: „Junge Frauen“; 56,1: „Die stumme Taube unter den Fremden“; 57,1; 58,1; 59,1; 75,1: „Vertilge nicht“; 60,1: „Lilie des Zeugnisses“. 13 Vgl. jeweils Vers 1 in den Psalmen 11; 13f.; 18–21; 31; 36; 39–42; 44; 47; 62; 64–66; 68; 70; 77; 85; 109; 139; 140.
Sinn und Sound – ein Machtkampf?
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rumenten ist am wichtigsten die siebensaitige Handleier, der Kinnór.14 Fernab des kraftvollen Kirchensounds von heute mit Orgel und elektrischen Verstärkungsmöglichkeiten15 weist der Kinnór auf einen durchaus intimen Klangcharakter. Aber es geht biblisch auch anders: das in Ps 150 genannte Instrumentarium macht klanglich dann doch einiges her. Wenn Abraham „den Herrn anruft“ (Gen 12,8; 13,4), muss man sich das nicht wie ein gesprochenes Eingangsgebet im württembergischen Predigtgottesdienst vorstellen, sondern im Singsang mit erhobener Stimme.16 Von der berauschenden Wirkung der Musik, hervorgerufen durch Instrumente, ist die Rede 1. Sam 10,5; 2. Kön 3,15, wenn Prophetengruppen oder einzelne Musiker Begeisterung und Trance auslösen. Nicht übergangen werden darf der biblische locus classicus für die Musiktherapie: David besänftigt den von depressiven Schüben heimgesuchten Saul mit Musik auf der Handleier, dem Kinnór (1. Sam 16,23). Musik spielt in der Welt der Bibel eine selbstverständliche Rolle wie in den benachbarten Kulturen auch, professionelle Musik am Hof, im Tempel, Alltagsmusik mit Volksliedern, Musik und Tanz, aber Musik ist biblisch kein separates theologisches Thema. In der Prophetie können Liedformen selbst zu Botschaften werden, wenn Jeremia für die Ankündigung des Untergangs Jerusalems die Form des Leichenliedes benutzt (vgl. Jer 9,16f.). Bei Amos gerät die Musik, nicht zuletzt die Kultmusik überhaupt, also: die „Kirchenmusik“, ins Feuer der Sozialkritik (Am 5,24; 6,4–6). Die gedruckten biblischen Quellen zur Musik sind Texte ohne Klang, die ursprünglich aber Sing-, Sprech- und Hörstücke sind. „Lesen“ heißt: hörbar lesen, sich selbst und anderen vorlesen. Der Klang ist der Leib des Wortes. Luthers und die Zürcher Übersetzung von Ps 1,2 „… sinnt über seinem Gesetz Tag und Nacht“ lassen nicht erkennen, dass es heißen muss „… über seiner Weisung murmelt tages und nachts …“, wie es bei Buber-Rosenzweig heißt. Zum Text muss Stimme kommen. Luthers Wort, dass die Noten den Text lebendig machen,17 muss modifiziert 14 vgl. Ps 33,2; 1. Kön 10,12. Bilder bei Staubli 2007, S. 19–22. 15 Ganz zu schweigen von bombastischen Psalmvertonungen wie der des 100. Psalms, op. 106 (1908/09) von Max Reger für großen Chor und großes spätromantisches Orchester. Vielleicht ist in ihrer spröden Verhaltenheit Igor Strawinskys Psalmensinfonie den Ursprüngen näher. 16 Der Sound orientalischer Liturgien mag dem nahekommen. 17 Luther, WATR, Nr. 2545b.
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werden: die Stimme ist es, die den Text zum Klingen und damit zum Leben bringt. Der biblische Text will klingen.
2.2
Neues Testament
Common sense zur Musikauffassung des Neuen Testaments ist, dass die ersten Christen selbstverständlich an der jüdischen Singkultur partizipieren, sie sind ja Juden, dass sie aber bei der Expansion im griechisch-sprachigen Raum Instrumente meiden, weil sie in außerchristlichen Kulten gang und gäbe sind. Paulus nennt zwar die Posaune als Zeichen der Gottespräsenz, wenn er von der Auferstehung am Ende der Zeiten redet (1. Kor 15,52; vgl. Joel 2,1; Zeph 1,16), er erwähnt sie auch als militärisches Signalinstrument (1. Kor 14,8). Solange der Tempel steht, und die ersten Christen am dortigen Gottesdienst teilnehmen, wird dort die Kultmusik vokal und instrumental ausgeführt (vgl. 1. Chr 15,16–24; 16,5f.; 5,12–14). Beim urchristlichen Gottesdienst in Korinth ist nur von menschlichen Stimmen die Rede (1. Kor 14,14.26).18 Vielleicht sind aber da und dort doch Instrumente im Gebrauch gewesen, denn in Visionen der Johannesoffenbarung haben die Märtyrer, die ein neues Lied singen, Harfen19 in der Hand (Apk 14,2f.; 15,2f.; vgl. 5,8). Aber das ist bei den Exegeten umstritten. Dass der Klang der Leib des Wortes ist und so zur Einwohnung Christi wird, ist greifbar an den klassischen Stellen, die in kirchenmusikalischem Kontext gern herangezogen werden: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen“ (Kol 3,16; gleichlautend Eph 5,19). Die Partizipialkonstruktion des Satzes im Griechischen macht deutlich, dass das Wort Christi und damit Christus selbst „unter euch“ wohnt, indem die Menschen in unterschiedlichen Gattungen singend einander lehren und ermahnen.
18 Die 1. Kor 14,7f. erwähnten Instrumente lassen nicht auf gottesdienstlichen Gebrauch schließen. 19 Die „Kithara“ entspricht dem bereits genannten Kinnór, der Handleier (vgl. Ps 98,5).
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Der Sinn der Musik
Der Sinn eines Liedes lässt sich durch Exegese des Textes allein nicht erfassen. Auch der Klang eines Liedes ist sinnvoll, die Atmosphäre, die durch Klänge und nicht allein durch Sprechen entsteht. Gesang hat bei den Christen immer eine Rolle gespielt, in höchstem Ansehen stand das Singen der Psalmen. In aller Regel sind die Gepflogenheiten und Errungenschaften der Musik in der Kirche mit Zustimmung, ja Begeisterung begrüßt und gebraucht worden, ja, die abendländische Musik hat sich nicht erst seit der Reformation in wichtigen Teilen überhaupt als Kirchenmusik entwickelt. Ausgesprochene Musikskepsis ist selten, aber gerade sie trägt Wesentliches bei für das Verstehen, was mit Musik geschieht. Ich denke weniger an Äußerungen wie die von Clemens von Alexandrien, der die ganze Chromatik „den schamlosen Ausschweifungen der Trunkenheit“20 überlassen will, aber ich möchte Sie auf eine kleine Wanderung mit einigen exemplarischen Haltepunkten mitnehmen.
3.1 Augustinus Klassische Formulierungen der Musikskepsis finden wir bei Augustinus.21 Er bezeichnet die Musik zwar wie später Luther als Gottesgeschenk, aber seine Musikerfahrungen lösen bei ihm eine reflektierte Distanz aus. Als er nach Mailand kommt und die Gottesdienste bei Ambrosius erlebt, ist er hingerissen und rührt ihn die Musik zu Tränen: „Wie weinte ich bei den Hymnen und Gesängen auf Dich, mächtig bewegt vom Wohllaut dieser Lieder Deiner Kirche […] die Tränen flossen und mir war wohl bei ihnen.“22 Die spätere Ambivalenz formuliert er klassisch: „Die Freuden des Gehörs hatten mich fester umstrickt und ins Joch gebeugt […]. Noch heute kann ich, an den Weisen, die von Deinen Worten durchseelt sind, gern mich ein wenig verruhen, wenn sie mit angenehmer, künstlerischer Stimme gesungen werden. […] Gleichwohl, da sie eben durch die Wortgedanken […] um den Eingang in mich werben, beanspruchen sie in meinem Herzen einen Platz […] und es fällt mir nicht leicht, ihnen den gemäßen einzuräumen. Mitunter will mir scheinen, ich gäbe den Melodien doch mehr Ehre, als ihnen gebührt […] meine Sinnenfreude hintergeht mich oft: statt daß der empfindende Sinn sich der Vernunft als Begleiter anschlösse […], nimmt er sich heraus, ihr voranzugehen und sie [sc. die Worte] auf 20 Zit. n. Kurzschenkel 1971, S. 118. 21 Vgl. Kurzschenkel 1971, S. 115–150. 22 Augustinus 41980, S. 447, Buch IX, c. 6.
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seinen Weg zu bringen […]. Wenn es mir geschieht, daß mich das Singen mehr bewegt, als das gesungene Wort, […] ist es […] meine sträfliche Sünde, und ich möchte dann lieber gar nicht singen hören.“23
Augustinus sieht aber selbstkritisch seine Neigung zu Rigorismus. Es war doch auch die Musik, die ihn der Kirche zugeführt hat. „Manchmal aber, übermäßig auf der Hut […], fehle ich durch allzugroße Strenge […]. Dennoch, wenn ich meiner Tränen gedenke, die ich damals, in der ersten Zeit meiner Rückkehr zum Glauben, bei den Gesängen Deiner Kirche vergossen habe, und wenn es doch auch heute nicht, die Melodien sind, die mich bewegen, sondern die gesungenen Worte, wenn sie mit reiner Stimme im gehörigen Wortfluss (‚convenientissima modulatione‘) gesungen werden, dann ersehe ich wiederum auch den großen Segen dieser Einrichtung.“24 Die Ambivalenz dieser Sätze und das Schwanken in ihnen sind deutlich. Vor diesem Hintergrund aber völlig überraschend beschreibt Augustinus in den „enarrationes in psalmos“ den Jubilus, d.h. wortloses, begeistertes, heute müsste man sagen: charismatisches Singen ohne Text, oder noch elementarer: Fußballfan-Gesänge, als höchsten Ausdruck der Freude, die sich über das, was sie singt, verstandesmäßig keine Rechenschaft ablegt: wir jauchzen, wenn wir loben, was sich nicht in Worte fassen lässt.25 „Und wenn Du über Gott nicht sprechen kannst, aber auch nicht schweigen darfst, was bleibt da übrig als zu jubeln?“26 Hier verschlingt die Musik das Wort regelrecht, aber das Ereignis ist deswegen noch nicht sinnlos.
3.2 Gregorianik Ganz anders stehen die Verhältnisse in der Gregorianik. Hier ist die Musik so sehr Dienerin des Wortes, dass Godehard Joppich (*1932), einer der bedeutendsten Protagonisten der Gregorianik im 20. Jahrhundert, sagen kann, Gregorianik sei gar keine Musik, sondern lediglich Betonung des Wortes.27 Dabei gibt es in der Gregorianik Stücke für Vorsänger, die in der Schwierigkeit einer ambitionierten Opernarie in nichts nachstehen. Die Gregorianik verwirklicht radikal und phantasievoll, dass das Wort ein Klangereignis ist. Die Musik steht völlig im Dienst 23 Conf. X, c. 33; Augustinus 41980, S. 563, 565, 567; vgl. Kurzschenkel 1971, S. 128f. 24 Augustinus 41980, S. 565; vgl. Kurzschenkel 1971, S. 126. 25 Vgl. Kurzschenkel 1917, S. 128. 26 Enarr. in Ps 32,8; PL 36; 283; zit. n. Kurzschenkel 1917, S. 129. 27 Mündlich in diversen Seminaren.
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des Wortes und seiner ausdeutenden Darstellung, sie bereichert nicht den Gottesdienst, sie ist Gottesdienst. Der für gregorianische Verhältnisse niederschwellige Normalfall eines Psalms im Wechsel, für den wir Beispiele auch im Evangelischen Gesangbuch haben (EG Wü 779–786), ermöglicht schnell die für unser Thema erhellende Erfahrung, dass die Aufmerksamkeit, wenn man zum ersten Mal auf diese Weise in einen Psalm hineingeht, von den Tönen, von der Silbenverteilung und dem rechtzeitigen Abweichen vom Reperkussionston, von der Länge der Pausen und vom Wechsel der beiden Gruppen absorbiert ist. Je häufiger aber eine Wiederholung stattfindet, desto weniger Aufmerksamkeit braucht die Musik, sie wird geläufig – Geläufigkeit ist immer ein Effekt von Übung – und desto mehr öffnet sich die Landschaft des Wortes, die zwar gleich bleibt, aber sich doch je nach Kontext und Stimmung, wie bei einer Landschaft in verschiedenen Jahreszeiten, Licht- und Wetterverhältnissen, unterschiedlich darstellt. In der Klanglandschaft tun sich jedes Mal wieder neue Sichtweisen, Blickwinkel, Einsichten und Aspekte des Textes auf. Eine Melodie ist die Verankerung des Textes im Körpergedächtnis, dann kann sich, wer singt, ein Leben lang zu stets neuen Texterkundungen aufschwingen oder sich von den Tönen in die Innenwelt der Worte hineintragen lassen. Emmi Bonhoeffer, die Ehefrau des von Nazis ermordeten Klaus Bonhoeffer, des Bruders von Dietrich Bonhoeffer, berichtet von einem der letzten Besuche im Gefängnis bei ihrem Mann zwischen Todesurteil und Hinrichtung. Klaus habe gesagt, „er brauche dort nichts weiter, er habe ja die Matthäus-Passion bei sich; und als ich [sc. Emmi Bonhoeffer] meinte, es sei doch schön, daß er bei der Lektüre die Musik hören könne, sagte er: ‚Ja, aber auch der Text! der Text!‘“28
3.3
Martin Luther
Luthers Verhältnis zur Musik ist ein vielbearbeitetes, großes Thema.29 Ich beschränke mich jetzt auf eines seiner Lieder, das, was das Wort-Ton-Verhältnis anbelangt, zu einem der genialsten zählt. Das aus einer mittelalterlichen Antiphon entwickelte „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“ (EG 518) wird heute kaum gesungen, ist aber im neuen, ab 1. Advent 2018 geltenden Wochenliedplan am 24. Sonntag nach Trinitatis, der allerdings selten vorkommt, wieder platziert. Der Melodiebeginn auf die Worte „Mitten wir im Leben sind“ eröffnet mit den vier aufsteigenden Tönen den „Lebens“-Raum einer Quart, der anschließend bei 28 Grabner und Röder 32005, S. 30. 29 Aus der neueren Literatur vgl. z.B. Küster 22017.
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den folgenden Worten „mit dem Tod umfangen“ nach oben und nach unten ausgeweitet, also „umfangen“ wird. In allen drei Strophen trägt diese Tonfigur Aussagen über zwei Dinge, wobei immer das Zweite das Erste umfasst oder übertrifft: In Strophe 1 wird das Leben vom Tod „umfangen“, in der Wiederholung des Stollens menschliche Sehnsucht nach Hilfe von der Gnadengabe Gottes „umfasst“. In Strophe 2 wird mit dieser Tonfigur die Anfechtung des Todes von Bildern der Höllenangst getoppt bzw. „umfangen“, in der Stollen-Wiederholung liegt im musikalischen Umgreifen eine Hoffnung, denn „solche Not“, in der wir gefangen sind, möge von der Befreiung daraus umgriffen werden. In Strophe 3 wird die Höllenangst theologisch getoppt bzw. zugespitzt auf die Rede von der Sünde, in der Stollenwiederholung die Unruhe des sündigen, d.h. von Gott getrennten Menschen vom Ruheort, an dem er stressfrei bleibt. An einer weiteren Stelle macht die Musik eine erstaunliche Aussage. Der Grundton der phrygischen Melodie ist e. Sie ist vorreformatorisch bereits weit verbreitet.30 Für Luthers Erweiterung der mittelalterlichen Antiphon in ein dreistrophiges Lied adaptiert Johann Walter die Melodie und ändert die Vorlage an einer markanten Stelle. In der Vorlage kommt man bei „das bist du, Herr, alleine“ auf dem Grundton e an,31 während Walter das Wort „alleine“ eine Terz tiefer auf den Basiston c hinabführt, der in der Melodie nur hier, d.h. „alleine“ beim Wort „alleine“ vorkommt. Die unmittelbar folgende, tonwiederholende Achtelnote ist lediglich ein Sprungbrett fürs Weitere, und ändert nichts daran, dass der Basiston c einmal bei „das bist du, Herr, alleine“ auftaucht, ein musikalisches Bild dafür, dass es eine andere Basis als allein Christus nicht gibt (1. Kor 3,11). In der Musik geschieht, wovon im Text die Rede ist.
3.4
Huldreich Zwingli und Johannes Calvin
Dicht neben diesem Idealfall des Ineinanders von Wort und Ton steht der radikal musikskeptische Zwingli. Seine Haltung, im Gottesdienst ohne Musik auszukommen,32 erschließt sich durch einen Blick auf seine Vorstellung von der „Andacht im Geist“. Für ihn vollzog sich die Begegnung zwischen Gott und Mensch wortlos im Innern des Einzelnen, wofür alles Störende von außen, wie Bilder und eben 30 Blankenburg 1978, S. 146ff., bes. S. 152–155. 31 Blankenburg 1978, S. 153. 32 Grundlegend Knellwolf 1989, S. 45–86; vgl. die Darlegungen von Söhngen 1967, S. 32–53, die sich im Begriff der „Andachtspsychologie“ kristallisieren; vgl. neuerdings Kunz 2006, S. 125–135.
Sinn und Sound – ein Machtkampf?
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Musik, ferngehalten werden muss.33 Komplexe Polyphonie und zerdehnte Silben erschweren die Andacht. Es mag bei Ralph Kunz’ Hypothese bleiben, dass für Zwingli Musik im Gottesdienst keinen Erkenntnisgewinn bringt,34 und bei der Feststellung, dass bald nach Zwinglis frühem Tod der Gemeindegesang im Zürcher Gottesdienst Einzug gehalten hat. Dass Musikskepsis gleichwohl zu einer profilierten Kirchenmusik führen kann, ist am Beispiel des unter Johannes Calvins Regie entstandenen Genfer Psalters ablesbar. Dem Genfer Reformator verdanken wir in diesem Zusammenhang eine griffige Formel für das Verhältnis von Sinn und Sound. In der Vorrede der Teilausgabe des Genfer Psalters von 154235 spricht Calvin zunächst allgemein über den Gottesdienst – er ist nicht da „pour amuser le monde“36 –, um sich dann programmatisch zur Musik zu äußern. Das Singen der Psalmen nach einem genauen Plan, der alle 150 Psalmen in Liedform auf die Gottesdienste eines halben Jahres verteilt, ist Kenn- und Markenzeichen des reformierten Gottesdienstes. Musik ist möglich, aber nur in direkter Verbindung mit dem biblischen Wort, denn die Musik selber hat „eine verborgene und fast unglaubliche Kraft […], die Herzen in der einen oder anderen Weise zu bewegen.“37 An anderer Stelle sagt er: „Man muss sich nur gründlich hüten, dass nicht das Ohr mehr Aufmerksamkeit auf die Melodie verwendet, als das Herz auf den geistlichen Sinn der Worte.“38 Augustinus lässt grüßen! Man muss der Musik deshalb Zügel anlegen. Die Kantoren an St. Pierre in Genf, die die Melodien des Genfer Psalters schufen,39 hatten klare Vorgaben, die aus der genannten Vorrede zu entnehmen sind: die Musik darf nicht „léger“ und „volage“, d.h. „locker-leicht“ und „flatterhaft“ sein, die Gesänge müssen „poids et majesté“40, Gewicht und Würde haben, der „chant ecclésiastique“ muss – Quintessenz und Faustformel reformierter Musikskepsis – „convenable au sujet“41 sein, seinem Gegenstand angemessen. Konkret hieß das für die Melodienkomponisten des Genfer Psalters unter Calvins Regie, sangliche Melodien zu erfinden ohne komplizierte Rhythmen, wie bei einigen Liedern Luthers zum Beispiel, abgesehen von 33 34 35 36 37 38 39
Vgl. Kunz 2006, S. 129. Kunz 2006, S. 131. Französisch und deutsch z.B. bei Jenny 1983, S. 270–281. Jenny 1983, S. 270. Jenny 1983, S. 279. Calvin, Institutio III, 20, 32, zit. n. Söhngen 1967, S. 66. Guillaume Franc (ca. 1515–1570, z.B. EG 255), Loys Bourgeois (ca. 1510– nach 1561, z.B. EG 300), Pierre Davantès (ca. 1525–1561, z.B. EG 282). 40 Jenny 1983, S. 276. 41 Jenny 1983, S. 280.
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der langen Schlussnote mit nur zweierlei Notenwerten, Vierteln und Halben, ohne Punktierungen, denn das wäre ja tänzerisch und „pour amuser le monde“, keine Melismen, strikt syllabisch, also pro Silbe ein Ton, immer im geraden Takt, auch der Dreiertakt wäre Tanz, keine großen Intervallsprünge, um emotionale Energien im Zaum zu halten, und dennoch führen die Melodien insgesamt oft großräumige Bewegungen aus. Trotz der restriktiv klingenden Regeln steht der Genfer Psalter als zusammenhängende Sammlung von 125 Melodien, die bis heute im Gebrauch sind und den Grundsound der reformierten Welt bilden, in der Melodiengeschichte auf einsamer Höhe, eine charaktervolle Musik, die den Text wunderbar trägt!
3.5
Paul Gerhardt und Johann Crüger
In der Barockzeit erlebt die Musik gewaltige Emanzipationsschübe als Emanzipation von der Kirche, und als Emanzipation vom Wort – der Ton dem Wort nicht mehr untertan, sondern ebenbürtig. In diese Strömung gehört eine, wenn nicht die wichtigste der Regeln, die Martin Opitz in seinem epochalen „Buch von der deutschen Poeterey“ 162442 aufstellte: die Übereinstimmung von Wort- und Versakzent. Die Worte haben im Deutschen einen natürlichen Akzent, den wir beim Sprechen setzen, ohne nachzudenken. In der Dichtung vor Opitz wird die Akzentsetzung frei gehandhabt, Akzente können in jeder Strophe eines Gedichtes an anderen Stellen sitzen. Ein schönes Beispiel dafür ist Elisabeth Crucigers „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ (EG 67). Ein Akzent ist ein musikalisches Phänomen, aber er muss sich dem Fluss der Worte fügen. Das ändert sich mit Opitz. Jetzt steht unabhängig von einem konkreten Text ein Akzentschema fest, wir reden von Jamben, Trochäen, Daktylen, etc., und nun muss sich ein poetischer Text dem Akzentschema fügen, die Akzente können nicht mehr frei gesetzt werden. Die Meisterschaft Paul Gerhardts besteht unter anderem darin, dass er die Opitzschen Regeln alle einhält, wir aber den Eindruck einer wunderbar organisch-natürlich fließenden Dichtung haben. Gerhardts vielfach vertonte Texte sind ursprünglich bekannt geworden durch das Gesangbuch „Praxis Pietatis Melica“, das der Berliner Kantor Johann Crüger 1647 erstmals unter diesem Titel herausgab. Crügers eigene Melodien und Melodiebearbeitungen43 zählen in ihrer kunstvollen Unaufdringlichkeit zum klassi42 Opitz 1991. 43 „Nun jauchzet all, ihr Frommen“ (EG 9), „Wie soll ich dich empfangen“ (EG 11), „Fröhlich soll mein Herze springen“ (EG 36), „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen“ (EG 81), „Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“ (EG 112), „Zieh ein zu
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schen Melodienbestand des Gesangbuchs, charaktervoll, spielen sich aber nicht in den Vordergrund, Sinn und Sound in ideal ausbalanciertem Verhältnis!
3.6
Pietistische Musikästhetik
Unter dem Einfluss des Pietismus fließen bzw. fliegen der Musik neue Funktionen zu, die uns bis heute beschäftigen. Nicht, dass der Text keine Rolle mehr spielte, aber nun bekommt die Musik anders als vorher einen Drive zu nonverbaler Expression der Emotion des Glaubens. Die Erleichterung durch die Bekehrung, dass das Herz durch die Last der Sünde jetzt nicht mehr niedergedrückt ist, drückt sich nun auch in der Musik und in der Art des Singens aus. Jetzt gibt es, bei Calvin undenkbar, en masse Melodien im Dreiertakt (vgl. EG 1; 66; 317; 386 u.ö.). Aber der Pietismus ist sehr kritisch gegenüber weltlicher und institutionell verfasster Musik. Künstlerisch anspruchsvolle Kirchenmusik, die häufig „unverständlich“ bleibe,44 rückt doch am Ende den Künstler in den Vordergrund. Stattdessen wird das persönlich verantwortete und aktiv mitvollzogene Singen und Musizieren der Laien gefordert, wir beobachten eine Emotionalisierung und Popularisierung der musikalischen Sprache, eine Psychologisierung der Musik und eine Tendenz zur Funktionalisierung der Musik hin auf Erweckung, Mission, Gemeindeerbauung. Die Linien lassen sich bruchlos bis in die praise-music der Gegenwart ziehen. Das 1704 von Johann Anastasius Freylinghausen in Halle herausgegebene „Geist-reiche Gesangbuch“, das klassische pietistische Gesangbuch zieht 1714 ein Gegengutachten der Wittenberger theologischen Fakultät auf sich, ein klassisches Dokument der Hymnologie, in dem zunächst daran erinnert wird, was ein ordentliches Kirchenlied ausmacht45 und welchen Charakters die Melodien sein müssen, nämlich, „… dass die Gesänge so wohl in ihrem metro als darauff gesetzten [sic] Composition und Noten etwas ernsthafftes, andächtiges und gottseliges in sich fassen, nicht aber auf eine üppige, leichte, fast liederliche Art der weltlichen Gesänge hinaus lauffen. Denn es ist allerdings in der Music, darin die Lieder gesetzet sind und gesungen werden, etwas, wodurch das Menschliche Herz so wohl in Freude als Trauren gesetzt und also durch eine gewisse springende und tanzende Art von Melodeyen wohl gar deinen Toren“ (EG 133), „Nun danket all und bringet Ehr“ (EG 322), „Ich singe dir mit Herz und Mund“ (EG 324), „Lobet den Herren, alle, die ihn ehren“ (EG 447). 44 So etwa Spener; vgl. Bunners 2004, S. 434. 45 Möller 2000, S. 178f.
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in eine empfindliche Veränderung und Anfang einer Raserey gebracht werden kan, da denn diese und noch mehrere Umbstände es nicht wohl verstatten wollen, solche springende, hüpfende und leichtsinnige Lieder so wohl in der Kirche singen zu lassen als denen Leuten zu ihrer Hausandacht zu recommendiren und in die Hände zu legen …“
Die „Bedenken“ gegen das Freylinghausen’sche Gesangbuch kommen auf den Punkt in dem Vorwurf: „Endlich […] finden wir in dem erwehnten Gesang=Buche sehr viel hüpffende, springende dactylische Lieder, welche mehrentheils mit ungeistlichen und fast üppigen Melodeyen versehen sind, und insonderheit sich zu der Gravitaet der hohen Geheimnisse, die sie in sich halten sollen, im geringsten nicht reimen …“.46 Das hätte der von den Lutheranern sonst so kritisierte Calvin nicht besser sagen können. Der Coburger Theologieprofessor Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) hatte schon deutlich früher den neuen Liedern in Halle vorgeworfen, durch eingängige Melodien würden die Leute verführt, Irrlehren anzunehmen.47 In seiner Schrift „Disputatio de propagatione haeresium per cantilenas – Von Fortpflantzung derer Secten durch die Lieder“48 hat er seine Ansichten niedergelegt. Das sind sehr moderne Auseinandersetzungen! Gegenüber der Lobpreismusik von heute stehen ähnliche Vorwürfe im Raum, eine gründliche theologische Aufarbeitung fehlt jedoch bis heute,49 und wohl auch ein Verständnis dafür, warum diese Lieder dermaßen erfolgreich sind. Es gibt da und dort kleine Anzeichen dafür, dass die thematische Engführung und die einseitig autoritären Gottesbilder, die mit mainstream-Pop-Klängen eingeatmet werden, von den Protagonisten gesehen und erweitert werden sollen. Mit Albert Freys Lied „Die Welt ist aus den Fugen“50 und ein paar anderen Beispielen kommt mit der Formulierung von Erfahrungen auch der Ferne Gottes vielleicht ein theologischer Ton in die Szene, der bisher nicht zu hören war.
46 Zit. n. Möller 2000, S. 178–180. 47 Vgl. Bunners 2004, S. 440. Das Phänomen taucht bereits im arianischen Streit der Alten Kirche auf, vgl. Möller 2000, S. 8–11. 48 Online zugänglich: https://play.google.com/books/reader?id=2ZZVAAAAcAAJ&pri ntsec=frontcover&output =reader&hl=en&pg=GBS.PP4. 49 Ansätze bei Bubmann 2016, S. 239–246; vgl. Page und Malessa 2008. 50 Feiert Jesus! Liederbuch Fünf. 2017. Holzgerlingen: SCM Hänssler, Nr. 114.
Sinn und Sound – ein Machtkampf?
3.7
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Kleines Zwischenfazit
Wie lässt sich nun nach unserer kleinen Wanderung durch diese Landschaft von Musikauffassungen das Verhältnis von Sinn und Sound bestimmen? Im Sinne einer Definition: gar nicht! Lieder bzw. Vokalmusik sind ein unzertrennliches und doch unterscheidbares Ineinander von Wort und Ton. Schon im Sprechen hat ein Text seinen Klang. Entgegen einem weit verbreiteten Irrtum, nach dem die Musik da anfängt, wo das Wort aufhört, hat das lebendige, d.h. erklingende Wort auch gesprochen immer schon Rhythmus, Tempo, Dynamik, Tonhöhe, seinen Klang, ist also auch Musik. „Musik ist […] stets im Spiel, dem Wort nicht gleichartig, aber gleichrangig.“51 Beim Glauben, der nach Paulus aus dem Hören (Röm 10,17) und dem ihn weckenden Wort kommt, ist deshalb immer Musik im Spiel. Wort und Ton. Sinn und Sound bilden im Lied eine Einheit, deren Teile untrennbar verbunden und doch unterscheidbar sind. Eine Anleihe in der Dogmengeschichte mag noch ein Stück weiterhelfen: das Ineinander von Wort und Ton im Klangleib des Wortes rückt das Phänomen des Liedes in die Nähe des Inkarnationsgedankens und zu den Kategorien der altkirchlichen Lehre von den zwei Naturen Christi, die 451 auf dem Konzil von Chalcedon dogmatisiert wurde. Wie in der Person Christi göttliche und menschliche Natur „unvermischt und unverwandelt, ungeteilt und unzertrennt“ beieinander sind, so, könnte man sagen, sind im Erklingen eines Liedes Sinn und Sound „unvermischt und unverwandelt, ungeteilt und unzertrennt“ beisammen, jedes zwar für sich beschreibbar, aber keines ohne das andere. Schärfer als in dieser Unschärfe lässt sich das Phänomen des Mit- und Ineinanders von Sinn und Klang wohl nicht fassen.
4
Richard Strauß, Capriccio
Einer der sicher schönsten Hinweise auf die Unmöglichkeit, das Verhältnis von Sinn und Sound definitorisch zu klären, ist die letzte Oper von Richard Strauss (1864–1949). Die 1942 in München uraufgeführte einaktige Oper „Capriccio“, ein von Strauss und seinem Librettisten Clemens Krauss, der die Uraufführung auch dirigierte, so genanntes Konversationsstück, erörtert in einer in ein Schloss in der Nähe von Paris im Jahr 1775 verlegten Handlung die Frage, ob in der Oper Wort oder Ton Vorrang haben. Der zeitgeschichtliche Kontext des Uraufführungsjahres dürfte für die Interpretation des Stückes keine Rolle spielen, vielmehr zieht hier einer der wichtigsten Opernkomponisten des 20. Jahrhunderts sein Resümee. 51 Gottesdienstbuch 2004, S 30.
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Der Dichter Olivier und der Komponist Flamand kabbeln sich, immer wieder kluge Überlegungen anstellend, durch das ganze Stück. Als Flamand einen Text von Olivier vertont und das Stück der Gräfin widmet, wendet sich der Komponist selbstbewusst zum Dichter: „Deiner Verse Licht scheint mir heller zu strahlen.“ Der Dichter pikiert: „Du raubst meine Worte und schmeichelst dem Ohr.“52 Der Theaterdirektor La Roche beansprucht, dass er es ist, der die Dinge auf den Punkt bringt dadurch, dass er sie in Szene setzt: „Regie die Lösung, Regie das Geheimnis.“53 Nichts ohne Darstellung: „Und wo wär’ eure Sprache, was sind eure Töne ohne Deklamation und Gesang? Ohne die Darstellung durch den Akteur, den Zauber seiner Persönlichkeit, ohne sein Kostüm? He?“54 Die Gräfin verkörpert im Stück die Stimme, die die Einheit von Wort und Ton favorisiert, ohne aber eine Definition geben zu können: „Trägt die Sprache schon Gesang in sich, oder lebt der Ton erst getragen von ihr? Eins ist im andern und will zum andern. Musik weckt Gefühle, die drängen zum Worte. Im Wort lebt ein Sehnen nach Klang und Musik.“55 Am Ende soll die Gräfin anhand des während der Handlung von Olivier und Flamand für die Gräfin gedichteten und komponierten Stückes entscheiden, ob Wort oder Ton den Vorrang haben, aber sie tut es nicht: „Sind es die Worte, die mein Herz bewegen, oder sind es die Töne, die stärker sprechen – […] Vergebliches Müh’n, die beiden zu trennen. In eins verschmolzen sind Worte und Töne – zu einem Neuen verbunden. Geheimnis der Stunde – Eine Kunst durch die andere erlöst! […] Ihre [sc. der Autoren] Liebe schlägt mir entgegen, zart gewoben aus Versen und Klängen. Soll ich dieses Gewebe zerreißen? […] Wählst du den einen, verlierst du den andern! Verliert man nicht immer, wenn man gewinnt?“56 Die Dinge liegen mit dem gedruckten Text resp. Notentext nicht ein für alle Mal fest, sondern ergeben sich jedes Mal von neuem in der Aufführung57 und in der individuellen Rezeption, mal so, mal so. Das ist bei einer Oper nicht prinzipiell anders als bei einem Kirchenlied. Es bleibt zwischen Sinn und Sound ein ständiges Spiel der Kräfte in einem geladenen Energiefeld. Der Sinn eines Liedes schlummert nicht einfach im Text und die Emotion im Sound, sondern im erklingenden Sound tut sich – „zu einem Neuen verbunden“ – ein Sinn auf, das Wort will klingen. Die Balance ist jedoch permanent gefährdet, und die Auffassung, es gehe 52 53 54 55 56 57
Krauss und Strauss 1987, S. 34. Krauss und Strauss 1987, S. 17. Krauss und Strauss 1987, S. 48. Krauss und Strauss 1987, S. 33. Krauss und Strauss 1987, S. 89f. Vgl. Fischer-Lichte 32005, S. 281–314.
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doch um eine schöne Musik und der Text sei sekundär, ist nicht nur bei „First of May“ oder in der praise-music anzutreffen. Auch bei Claudio Monteverdis Marienvesper sagen manche, die Mariologie sei für Evangelische doch kein Problem, Latein verstehen eh nur die wenigsten.58
5
Stets von neuem: ein Balanceakt
Der Weihnachtsgottesdienst übrigens, von dem eingangs die Rede war, wurde schlussendlich doch mit dem Lied „First of May“ eröffnet. Der begleitende Orchestersound kam von der Konserve aus Lautsprecherboxen. Der Kollege berichtet hinterher, mehr als die „Christmas trees“ sei textlich wohl tatsächlich nicht wahrgenommen worden, aber es habe eine andächtige Stimmung geherrscht. Mit Strauss’ „Capriccio“ könnte man mit einer gewissen Resignation sagen: „Wer hört auf die Worte, wo Töne siegen!“59 Auch wenn die Kampfmetaphorik verabschiedet werden sollte, ist doch deutlich, dass nicht nur in der Popularmusik, sondern auch im traditionellen Kirchenlied viel, nicht selten die meiste Aufmerksamkeit von der Musik absorbiert wird, und der Text läuft eher zufällig mit. Viele können von Liedern berichten, die sie jahrelang singen, bevor sie den Text überhaupt wahrnehmen. Eines der prominentesten Beispiele ist „der weiße Neger Wumbaba“. So singt einer jahrzehntelang, um als Erwachsener festzustellen, dass es in Matthias Claudius’ Abendlied heißt „… und aus den Wiesen steiget der weiße Nebel wunderbar“ (EG 482,1).60 Es bleibt ein Unbehagen zurück, wenn ein Heiligabend-Gottesdienst mit „First of May“ eröffnet wird. Kirchenmusik ist mehr als nur ein Stimmungsgenerator. Der bereits genannte Richard Gölz schrieb in der Zeit der Singbewegung, als man Renaissance- und frühbarocke Musik wieder entdeckte, im Geleitwort des von ihm herausgegebenen Chorgesangbuchs, dem „Gölz“, provokant: „Das Beste und Schönste an der alten Kirchenmusik sind die – Texte.“61 Ich möchte das für die Musik aller Epochen gelten lassen und plädiere dafür, anspruchsvoll zu sein, nicht unverständlich, aber anspruchsvoll. Es gibt schöne Worte, die Wort und Ton auf Augenhöhe beschwören, gegenseitige Wertschätzung, auch große Wertschätzung, ist in aller Regel da, aber in den un58 59 60 61
Vgl. Leube 2005, S. 4–9. Der Theaterdirektor La Roche in: Krauss und Strauss 1987, S. 22. Hacke und Sowa 2004, S. 12. Gölz 1975, Geleitwort S. 233.
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gleichen Anstellungsverhältnissen von Pfarrer*innen und Kantor*innen, um mit einer unerledigten Aufgabe zu schließen,62 überdauern die alten Asymmetrien in überaus stabilen Verhältnissen.
Literatur Arnold, Jochen. 2009. Musik in der Bibel. In Musik-Horizonte (Festschrift für Siegfried Bauer), hrsg. Ingo Bredenbach et al., 55–77. München: Strube. Augustinus. 41980. Confessiones | Bekenntnisse (lateinisch und deutsch). Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. Blankenburg, Walter. 1978. Johann Walter – der Urheber der endgültigen Gestalt der Weisen von „Wir glauben all an einen Gott“ und „Mitten wir im Leben sind“. Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 22: 146–155. Bubmann, Peter. 2007. Das Amt der Kirchenmusik im Kuratorium der Lebenskunst. Eine pastoraltheologische Zukunftsvision. In Musik im Raum der Kirche. Fragen und Perspektiven. Ein ökumenisches Handbuch zur Kirchenmusik, hrsg. Winfried Bönig, 268– 278. Stuttgart/Ostfildern: Carus/Matthias-Grünewald-Verlag. Bubmann, Peter. 2016. Flucht ins Formelhafte? Praise-Songs – eine theologische Kritik. Musik und Kirche 86: 239–246. Bunners, Christian. 2004. Musik. In Geschichte des Pietismus, Bd. 4, hrsg. Martin Brecht et al., 430–456. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Fischer-Lichte, Erika. 32005. Ästhetik des Performativen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Frisch, Michael (Hrsg). 2013. Recht der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Bielefeld: Bertelsmann. Gottesdienstbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg. Erster Teil: Predigtgottesdienst und Abendmahlsgottesdienst. 2004. Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft. Gölz, Richard. 1925. Ein neues Lied wir heben an. Ein Beitrag zum Aufbau der Evangelischen Kirche. Berlin: Burckhardthausverlag. Gölz, Richard (Hrsg). 1975. Chorgesangbuch. Geistliche Gesänge für ein bis fünf Stimmen. Kassel et al.: Bärenreiter. Grabner, Sigrid und Hendrik Röder (Hrsg). 32005. Emmi Bonhoeffer. Essay – Gespräch – Erinnerung. Berlin: Lukas Verlag. Gradenwitz, Peter. 1961. Die Musikgeschichte Israels. Von den biblischen Anfängen bis zum modernen Staat. Kassel et al.: Bärenreiter. Hacke, Axel und Michael Sowa. 2004. Der weiße Neger Wumbaba. Kleines Handbuch des Verhörens. München: Antje Kunstmann. Jenny, Markus. 1983. Luther Zwingli Calvin in ihren Liedern. Zürich: Theologischer Verlag Zürich. Knellwolf, Ulrich. 1989. Die Musik im reformierten Gemeindegottesdienst. In Musik in der evangelisch-reformierten Kirche. Eine Standortbestimmung, hrsg. Institut für Kirchenmusik der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich et al., 45–86. Zürich: Theologischer Verlag Zürich. 62 Vgl. dazu etwa Bubmann 2007, S. 268–278.
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Krauss, Clemens und Richard Strauss. 1987. Capriccio. Ein Konversationsstück für Musik in einem Aufzug, op. 85. Libretto. Mainz: Fürstner Musikverlag. Kunz, Ralph. 2006. Gottesdienst evangelisch reformiert. Liturgik und Liturgie in der Kirche Zwinglis. Zürich: Pano Verlag. Kurzschenkel, Winfried. 1971. Die theologische Bestimmung der Musik. Trier: Paulinus-Verlag. Küster, Konrad. 22017. Musik im Namen Luthers. Kassel et al.: Bärenreiter. Leube, Bernhard. 2005. Neue Wege mit Maria. Württembergische Blätter für Kirchenmusik (72): 4–9. Möller, Christian (Hrsg). 2000. Kirchenlied und Gesangbuch. Quellen zu seiner Geschichte. Tübingen/Basel: Francke Verlag. Opitz, Martin. 1991 [1624]. Buch von der Deutschen Poeterey. Stuttgart: Reclam. Page, Nick und Andreas Malessa. 2008. Lobpreis wie Popcorn? Warum so viele Anbetungslieder so wenig Sinn ergeben. Witten: Brockhaus Verlag im SCM-Verlag. Reich, Christa. 1997. „… davon ich singen und sagen will.“ Überlegungen zum Verhältnis von Musik und Evangelium. In Evangelium: klingendes Wort. Zur theologischen Bedeutung des Singens, dies., 11–27. Stuttgart: Calwer Verlag. Schuberth, Dietrich. 2007. Biblische Texte zum Singen. Über die Kantabilität poetischer Texte in der Heiligen Schrift. Musik und Kirche 6/2007: 392–401. Seidel, Hans. 1994. Artikel Musik und Religion I. In TRE, Bd. 23, 441–452. Berlin: de Gruyter. Sendrey, Alfred. 1970. Musik in Alt-Israel. Leipzig: Deutscher Verlag für Musik. Söhngen, Oskar. 1967. Theologie der Musik. Kassel: Stauda. Staubli, Thomas et al. 2007. Musik in biblischer Zeit und orientalisches Musikerbe. Freiburg (Schweiz): Katholisches Bibelwerk. Wetzel, Christoph. 22013. Musik in der Bibel. In Praxis Posaunenchor – Handbuch für Bläserchorleitung, hrsg. Irmgard Eismann und Hans-Jürgen Nonnenmann, 368–385. Stuttgart: Buch + Musik.
Von der Kirche in den Konzertsaal. Religiöse Gehalte in der Instrumentalmusik
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Musikinstrumente und christliche Religionspraxis Annotationen zu einer komplex entspannten Beziehung Thomas Schipperges
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Im Anfang
Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος. Lógos – das ist im Johannes-Prolog der Begriff für den Ursprung der Dinge, vor Beginn der Schöpfung. Es ist viel darüber nachgedacht und geschrieben worden, Kluges, Rätselhaftes, Vertracktes. Auch Goethes Faust, in seinem Studierzimmer, sinnt hierzu nach: Geschrieben steht: ‚Im Anfang war das Wort!‘ Hier stock’ ich schon! … Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muss es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn.
So denkt Faust weiter: „Im Anfang war die Kraft!“ – und weiter: „Im Anfang war die Tat!“ Die Fortführung der Übertragungsversuche geht dann im Geheule des Pudels unter, der Faust beim Osterspaziergang zugelaufen ist. Das Bemühen geht darum, was Ausgangs- und Bezugspunkt unseres Denkens, Fühlens und Handelns ist. Was hätte Faust, vom Pudel ungestört, nicht noch alle einfallen können; dichten wir also Goethe (mit ein wenig holpernder Hybris) fort: „Im Anfang / war der Klang“. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_9
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Thomas Schipperges
Musik kommt ins Spiel. Die alte Pythagoras-Legende, von Platon im Timaios (35B–36B) aufgegriffen, benennt die Harmonie der Welt über die Wohlgeordnetheit ganzzahliger Proportionen. Zahlen sind Musik, Musik ist Ordnung, Ordnung ist Harmonie. Himmel, Erde und Mensch sind geordnet durch harmonischen Klang. Diese antike Denkschiene,1 durch Boethius vermittelt, bestimmt das musikalische Weltbild im ganzen Mittelalter2 und noch weit darüber hinaus. Sie wird in Abbildungen musiktheoretischer Schriften reflektiert, in Miniaturen etwa zu Johannes von Affligems De musica (13. Jahrhundert)3 oder Franchinus Gafurius Theorica Musicae (15. Jahrhundert),4 von Johannes Kepler, Robert Fludd (Abbildung der Welt als Monochord)5 oder Athanasius Kircher aufgegriffen, angedeutet noch in Goethes „Die Sonne tönt nach alter Weise“ oder Schopenhausers Rede von der tönenden Weltidee, im 20. Jahrhundert neu beschrieben durch Hans Kayser, Paul Hindemith6 und andere mehr. Der Gedanke einer derart musikalisch geordneten Harmonie als Grundlage des Kosmos findet sich unter griechisch-hellenistischem Einfluss in der Bibel selbst:7 Aber du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet (Weisheit 11,21).
1 Vgl. etwa Abert 1899; Richter 2006. 2 Vgl. Haas ²2007 [2005]. 3 Miniatur der Hs. München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm. 2599, fol. 96 v; Pythagoras, der in der Schmiede die Proportionen und Intervalle entdeckt, wird in dieser Miniatur parallel gesetzt mit Abbildungen des Monochords sowie König Davids an der Harfe; vgl. Smits van Waesberghe 1969, S. 62f. 4 Miniatur der Hs. London, British Museum Add. 4913, fol. 17 r; mit Hämmern dargestellt ist hier der biblische Jubal, Pythagoras an proportional gestimmten Glocken, Gläsern, Saiten und Holzstäben; vgl. Smits van Waesberghe 1969, S. 64f. 5 „Hic autem monochordum mundanum cum suis proportionibus, consonantiis & intervallis exactius composuimus, cujus motorem extra mundum esse hoc modo depinximus“; hier folgt die benannte Abb.; Robert Fludd (Robertus de Fluctibus): Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris metaphysica, physica atque technica Historia. Oppenheim 1617, S. 90. 6 Hindemith 1937, S. 27: „Die Intervalle waren Zeugnisse aus den Urtagen der Weltschöpfung: geheimnisvoll wie die Zahl, gleichen Wesens mit den Grundbegriffen der Fläche und des Raumes. Richtmaß gleicherweise für die hörbare wie die sichtbare Welt: Teile des Universums, das in gleichen Verhältnissen sich ausbreitet wie die Abstände der Obertonreihe, so daß Maß, Musik und Weltall in eins verschmelzen“. 7 Die hier zitierten deutschen Übersetzungen folgen dem revidierten Texte Lutherbibel 2017 (https://www.die-bibel.de/bibeln/online-bibeln/lutherbibel-2017/bibeltext/bibel/ text).
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Wo warst du, als ich die Erde gründete? […] Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie die Messschnur gezogen hat? Worauf sind ihre Pfeiler eingesenkt, oder wer hat ihren Eckstein gelegt, als die Morgensterne miteinander jauchzten und alle Gottessöhne jubelten? (Hiob 38,4–7). Als er die Himmel bereitete, war ich da, als er den Kreis zog über der Tiefe. […] als er dem Meer seine Grenze setzte und den Wassern, dass sie nicht überschreiten seinen Befehl; als er die Grundfesten der Erde legte (Sprüche 8,27 und 29).
Wer misst die Wasser mit der hohlen Hand, und wer bestimmt des Himmels Weite mit der Spanne und fasst den Staub der Erde mit dem Maß und wiegt die Berge mit einem Gewicht und die Hügel mit einer Waage? (Jesaja 40,12). Auch Johannes schreibt seinen Prolog um 100 n. Chr. aus der antiken Philosophie und Literatur heraus. Von hierher reflektiert er den lógos. Die Tradition der harmonischen Zahlenproportionen füllt diesen Begriff also im besten Sinne: lógos steht für das Prinzip, das Ordnung und Sinn stiftet auf allen Ebenen des Kosmos. Zahlenmäßig, d.h. harmonisch proportioniert sind die kosmischen Sphären als musica mundana, der Mensch in seinen leib-seelischen aber auch sozialen Beziehungen als musica humana und die irdisch klingende Musik als musica instrumentalis (wobei lat. instrumentum, griech. organon, Werkzeug, die menschliche Stimme selbstredend miteinschließt). Auf dieser, auch biblisch fundierten, Zugangsebene einer den Kosmos umspannenden ars musica stellt sich die Frage nach einem Konflikt zwischen Religion, auch Gottesdienst, und Instrumentalmusik erst gar nicht. Instrumentum oder organon ist hier Teil des Grundprinzips eines harmonischen Schöpfungsplans, Grundlage also auch von Religion, Kult und Liturgie.
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Altes Testament
Im Alten Testament der Bibel kommt Musik über Musikinstrumente in die Welt.8 Mit Lamech, in siebter Generation nach Adam und Eva, ist die Urzeit abgeschlossen. Von grundlegenden Kulturschöpfungen ist nun die Rede (Gen 4,19–24). Lamech hatte zwei Frauen, Ada und Zilla. Ada gebar Jabal, den Stammvater der Hirten, und Jubal, „von dem sind hergekommen alle Zither- und Flötenspieler“ (Gen 4,21). Zilla gebar Tubalcain, den Stammvater der Schmiede (Gen 4,22). Die
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Vgl. etwa Seidl 1989; Schipperges 2009.
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von Jubal erfundenen Musikinstrumente sind kinnor9 und ’ûgāb10; weitgehend Einigkeit herrscht, dass es sich hier um Instrumente der Gruppen Chordophone (Saiteninstrumente) und Aerophone (Blasinstrumente) handelt.11 Isidor von Sevilla12 benennt den Erz- und Eisenschmied Tubalcain, Halbbruder des Jubal, als Hämmerer (malleator) und Verfertiger (faber) und begründet damit eine lange literarische und bildkünstlerische Tradition zu musikalischen Schlaginstrumenten (Metallophone und Idiophone), in der immer wieder auch beide Figuren, Jubal und Tubalcain, als „Tubal“ zu einem pythagoräisch geprägten inventor musicae zusammenflossen.13 Diese Verbindungslinie knüpft etwa auch eine Abbildung in den ikonographisch exzeptionellen Rothschild Canticles aus Flandern (frühes 14. Jahrhundert; Yale University MS 404, f. 6v); sie zeigt in einer Darstellung des Trivium der Septem artes liberales eine Pythagoras/Jubal/Tubalcain-Musikerfigur, die rechtshändig einen Glockenkranz und linkshändig ein Portativ bedient. Zwei Dinge lassen sich festhalten: 1. Musik wird als Kulturleistung des Menschen erfunden, als geformter Klang ist sie nicht von Anfang an vorhanden; 2. Musik wird über Instrumente erfunden. Musikinstrumenten fallen in den biblischen Texten immer wieder zentrale Rollen zu, im gesellschaftlichen Gemeinwesen nicht weniger als im Kult (der sich freilich bis zum Tempelbau ohnehin kaum als abgetrennter Bereich festmachen lässt). Der Priesterstand, die Leviten, gebraucht Musikinstrumente, die Priestergewandung ist mit Glöckchen am Saum besetzt, die korachitischen Tempelvorsänger Asaf, Heman, Etan/Jedutun (biblisch in Dreizahl, in der Rezeption zur Vierzahl erweitert14) werden auch in der Rezeption des Mittelalters nie ohne Instrumente bildkünstlerisch wiedergegeben. 9
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Die Septuaginta übersetzt hier kithara (an späterer Stelle auch organon und psalterion), die Vulgata cithara (später organum, psalterium, lyra), Luther Harfe (später, konkret zugewiesen, Davidsharfe), in anderen Übersetzungen begegnen Leier, Zither, Geige, Psalter und weitere Instrumente. Die Septuaginta übersetzt organon, die Vulgata organum (auch hydraulis), Luther Pfeife, andere Flöte, Schilfrohrflöte, Hirtenpfeife. Sendrey (1970, S. 243) folgt hier der Klassifikation von Hornbostel und Sachs 1914. Etymologae III, S. 16, 22; hierzu Haas ²2007 [2005], S. 193; vgl. Hüschen 1958, S. 399. „Petrus Comestor, auf den sich Jacobus von Lüttich stützt, schreibt denn auch zu Tubal in seiner Historia scholastica, dieser sei nicht nachträglich Erfinder irgendwelcher Instrumente, sondern der musica selbst gewesen“; MPL 198, Sp. 1079: „Non instrumentorum quidem, quae longe post inventa fuerunt, sed inventor fuit musicae, id es consonantiarum […]“ (Haas ²2007 [2005], S. 193 und Anm. 347). So etwa in der Abbildung des Tiberius-Psalters (British Library London, Cotton MS. Tiberius C.vi, fol. 30 v; Mitte 11. Jahrhundert): der thronende David mit der Harfe
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Musikinstrumente sind biblisch eine fraglose Selbstverständlichkeit. Das Instrumentarium umfasst Saiten- (Leiern, Harfen, Lauten) und Blasinstrumente (Widderhorn, Trompeten, Flöten, Doppelrohrinstrumente des antiken aulos oder unserer Oboen) sowie Schlaginstrumente in reicher Fülle (Klappern, Rasseln, Becken, Glöckchen, Sistren, Schrapstäbe).15 Die Psalmen gehen im Wortlaut zurück auf ψάλλειν (psallein), „die Saiten schlagen, zupfen, klingen“ und rund ein Drittel aller Psalmen sind mit hebr. mizmor, „gezupftes Lied“, bezeichnet. Psalm 150 listet einen allen Lobpreisenden offenen Instrumentenkatalog. Gott selbst wird als Instrumentenbauer thematisiert. Numeri 10,2 gibt er bei Mose die Herstellung von zwei Trompeten (hebr. chaˇşôşrâh, griech. σάλπιγξ, lat. tuba) in Auftrag. Und während es in der Bibel sonst kaum technische oder klangliche Hinweise zu Musikinstrumenten gibt, erlässt Gott selbst hier einige konkrete Anweisungen. Als Material ist Silber angegeben, es wird getrieben oder gehämmert, nicht gegossen. Die Form des Instruments ist biblisch nicht angezeigt. Funde (allerdings bronzener) Trompeten aus Ägypten16 geben auch hierzu eine recht genaue Vorstellung, die sich mit entsprechenden Beschreibungen in Flavius Josephus’ Jüdische Altertümer (1. Jahrhundert n. Chr.) oder auch mit den im Titusbogen in Rom festgehaltenen Trompeten, hier abgebildet als Raubgut aus dem Tempel in Jerusalem nach dessen Zerstörung 70 n. Chr. Es handelt sich um gerade Trompeten mit Mundstück; das lange Schallrohr erweitert sich am unteren Ende zum Schallbecher. Das Blasen dieser Instrumente, spezifizierte Signale für die Gemeinde mit dynamischer Abstufung (Num 10,7), ist an dieser Stelle allein den aaronitischen Priestern vorbehalten (Num 10,8). Unterschiedliche etymologische Herleitungsversuche des hebräischen Wortes hasosera spiegeln indes eine denkbare Verbindung von äußerer und innerer Funktion sowie Klang biblischer Musikinstrumente: Das arabische hazar (versammeln) verweist auf die Funktion der Trompeten, die Gemeinde zur Versammlung zu rufen, ein Wort ähnlicher Wurzel bedeutet „eng“, aber auch „vor innerer Erregung heulen oder schreien“; Wilhelm Gesenius17 schließlich verweist auf die Onomatopoesie des Wortgebildes, die Wiedergabe seiner klanglichen Eigenschaft, verin der Mitte, die vier Tempelvorsänger, namentlich benannt, mit differenzierten Instrumenten: Klappern, Fidel, Längspfeiffe, Schofar. 15 Vgl. Braun 1994; Kammerer 2006. 16 Fundstücke aus Grab Tut-Anch-Amuns (Mitte 2. Jahrtausend v. Chr., also etwas vor der Zeit des Exodus); bekannt sind auch Exemplare aus Syrien. 17 Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament 2008 [1815]; Nachdruck der 18. Aufl., Berlin: Springer.
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gleichbar der Handtrommel tof (lat. tympanum), der feinsilbrigen Zymbel (zilzal) oder dem Glöckchen (pa’aˇmôn, griech. κώδων, lat. tintinnabulum). Die Funktionen des Blasens der hasosera erscheinen markant differenziert: erstens als Signal zur Sammlung und zum Aufbruch in den einzelnen Lagern (Num 10,2–7), um die Aufmerksamkeit des Volkes zu sichern (praktischer Zweck), zweitens als Signal im Krieg (Num 10,9), um die Aufmerksamkeit Gottes zu sichern (Mittel zur dringlichen Anrufung Gottes) und drittens als Signal im Kult (Num 10,10), ein akustisches Zeichen beim Opfer selbst also, um die Erinnerung der Gemeinde an Gott wachzuhalten (kultischer und ethischer Zweck).18 Mit einer besonders reichen Fülle an Musikinstrumenten sind die Szenen um David ausgestattet. David als Psalmist und sein (letztlich vergebliches) Musizieren vor dem gemütskranken Saul (1. Sam 16) figurieren als topisch gewordene Beispiele für Psalter und Harfe. Und mit großem instrumentalem Aufwand überführt David die Bundeslade in den Tempel nach Jerusalem. Die festliche Ausstattung dieser liturgischen Prozession erhellt der biblische Bericht gleich an drei Stellen mit jeweils einem ganzen Instrumentenkatalog. 2. Sam 6,1–23 5 David und ganz Israel tanzten und sangen vor dem Herrn her mit aller Macht im Reigen, mit Liedern, mit Harfen und Psaltern und Pauken und Schellen und Zimbeln.
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1. Chr 13,7–14 8 David aber und ganz Israel tanzten mit aller Macht vor Gott her, mit Liedern, mit Harfen, mit Psaltern, mit Pauken, mit Zimbeln und mit Trompeten.
1. Chr 15,25–29 28 So brachte ganz Israel die Lade des Bundes des Herrn hinauf mit Jauchzen, Posaunen, Trompeten und hellen Zimbeln, mit Psaltern und Harfen.
Neues Testament
Die Texte des Neuen Testaments erwähnen an neunundzwanzig Stellen vier Musikinstrumente in differenzierten gesellschaftlichen und kultischen Kontexten: bei profanen Ritualen, im erläuternden Vergleich, im Rahmen des Weltgerichts, schließlich konkret religiös konnotiert.19 Es ist der alttestamentlich bezeugte Tem18 Luthers Übersetzung: „damit euer Gott an euch denke“, interpretiert in eine andere Richtung. Die Trompeten werden als Stimme Gottes eingeführt, sollen also umgekehrt die Erinnerung an Gott wachrufen: „zum Gedächtnis vor eurem Gott“, d. h. um dem Volk Gottes Gegenwart zu signalisieren. 19 Vgl. Smith 1962; McKinnon 1987; Braun 1994.
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pelkult, den auch Jesus und seine Apostel als Selbstverständlichkeit vorfinden. Dementsprechend begegnen im Neuen Testament keine neuen Hinweise auf Musikinstrumente im Gottesdienst. Mt 6,2 spricht übertragen vom salpixein beim Almosengeben, von Luther mit Posaunen wiedergegeben. Mt 9,23 beschreibt das Totenritual für die Tochter eines Synagogenvorstehers mit Bläsern. Die Offenbarung des Johannes entwirft – von der jüdischen und frühchristlichen Tradition geprägt – eine ganze himmlische Liturgie. In ihrem Zentrum stehen die vierundzwanzig Ältesten vor dem Lamm mit ihren citharae.20 Die salpinx (Trompete, Vulgata: tuba, Luther: Posaune) der Apokalypse findet sich bereits in den Ankündigungstexten der Evangelien (Mt 24,31) und Briefen (1 Kor 15,52; Hebr 12,19); sie wird – wenn auch grundsätzlich mehr als numinoses Geräusch denn als ästhetisch geformter Klang zu denken – von Engeln oder Gott selbst geblasen.
4 Kirchenschriftsteller Neben dem biblischen Befund, besser: ihm gegenüber, steht eine divergente Vielfalt von Aussagen und Auslegungen zum gottesdienstlichen Gebrauch von Musikinstrumenten in der frühen christlichen Kirche. Im Blick auf die Kirchenväterschriften ist immer wieder mit reichen Quellenzeugnissen die Zurückweisung des Instrumentalen geltend gemacht worden.21 Insgesamt dominieren Aussagen über das Singen im Gottesdienst sowohl im griechischen wie lateinischen Schrifttum. Grundsätzlich aber wird auch die menschliche Stimme „nur als sekundäre Teilhaberin am Vollzug des Lobes Gottes geachtet. Von primärer Bedeutung war allein das Wort Gottes“.22 Betrachtet man unter dieser Prämisse die Äußerungen zur Musik im Kontext der Patrologie insgesamt, so relativiert sich auch die Relevanz konkreter Aussagen zur instrumentalen Gottesdienstbeteiligung. Von Augustinus abgesehen, spielt Musik bei den Kirchenvätern – gegenüber etwa Exegese und Apologetik, Homilie und Seelsorge – insgesamt nur eine bescheidene Rolle. Erst mit Isidor von Sevilla (gest. 636), dem letzten westlichen Kirchenvater, ändert sich dieses Bild. Auch hier aber ist Differenzierung geboten. Selbst generelle Verbote von Musikinstrumenten im Gottesdienst richten sich in der Regel nicht gegen Instrumente 20 Zur ikonographischen Tradition: Hammerstein ²1990 [1962], Abb. 2–7. 21 Hierzu Hammerstein ²1990 [1962]; McKinnon 1968; Hammerstein 2000 [1973]; Hammerstein 1974; Giesel 1978; Laube-Przygodda 1980; Žak 1984; McKinnon 1987. 22 Laube-Przygodda 1980, S. 211.
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an sich, sondern gegen ihren usus oder eben abusus beim ausgelassenen Tanz oder zur reinen Ergötzung des Ohres im Kontext der Sünden der luxuria. Im Gottesdienst indes stehen Verkündigung (praedicatio) und Bekenntnis (confessio) über das Wort im Zentrum. So beinhaltet die strenge Verdammung von Musikinstrumenten durch die Kirchenväter und Kirchenschriftsteller wohl weniger den Gegensatz von laus dei sine und cum instrumentis; sie betrifft vielmehr das laus dei in instrumentis, 23 d. h. Klingendes unter Verzicht auf Inhalte der Wortverkündigung.24 Hier lauern Tod und Verderben, wie es der stets gestrenge Hieronymus im Blick auf Hymnen- und Psalmengesang ausführt: „Hymnis dicuntur et tu citharam tenes! Psalmi canuntur et tu psalterium sonas aut tympanum! Merito vae, qui salutem negligis, mortem eligis“.25 Zum anderen richtet sich die Abwehr nicht allein oder gar gezielt auf Musikinstrumente im Gottesdienst. Zahlreiche jüdisch-alttestamentarische ebenso wie antik-pagane Traditionen gelten als grundsätzlich abgetan und abgelegt.26 „Singen zu leblosen Instrumenten“ wertet Justin der Märtyrer im 2. Jahrhundert als Zugeständnis an die schwachen und unverständigen Israeliten.27 Origenes im 3. Jahrhundert mahnt die Christen, nicht wie ehedem die Juden zu Psalterium und Cythara zu singen, vielmehr aus geist- und sinnerfülltem Herzen.28 Hieronymus im 4. Jahrhundert wendet sich nicht weniger generell gegen den jüdischen Gottesdienst; berühmt-berüchtigt blieb sein Vergleich des Synagogengesangs mit Eselsgeschrei.29 Noch Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert verwahrt sich gegen eine Judaisierung der christlichen Gemeinde durch Nutzung von Harfen und Psalter. In
23 Page 1989, S. 213, Anm. 42; Page 1987, S. 161. 24 Völlig um schlägt diese Trennlinie im kunstreligiösen Denken der Frühromantiker. Bei Wilhelm Heinrich Wackenroder oder Ludwig Tieck etwa erscheint die reine Instrumentalmusik als nichtgegenständliche Kunst dem Alltag am weitesten enthoben und damit der offenbarten Religion am nächsten oder gar dieser gleich. 25 MPL 14, Sp. 716; zit. nach Hammerstein 2000 [1993], S. 161. 26 Hierzu Quasten 1930; Schuberth 1968, S. 94ff. Noch 2015 zog ein Aufsatz des Berliner Systematischen Theologen Notger Slenczka (2013) einige öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, weil er, in Tradition von Marcion (gest. 160) oder Friedrich Schleiermacher und Adolf von Harnack, die Relevanz des Alten Testaments für den gelebten christlichen Glauben auf ihre Historizität begrenzt wissen wollte. 27 MPG VI, Sp. 1353ss; Laube-Przygodda 1980, S. 268f. 28 Origenes, Selecta In Psalmos, MPG XII, Sp. 1304; Laube-Przygodda 1980, S. 269f. 29 Grützmacher 1908, S. 258f.; Schneider 1978 [1954], S. 201 (Schneider war Mitarbeiter des „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“).
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diesem Verständnis reduziert sich die Frage nach instrumentalem Gotteslob weitgehend auf Darlegungen zum Volk Israel. Die Gestaltung der Musik der Synagoge nach der Zerstörung des Tempels ergibt indes ein völlig unsicheres Bild. Sicherlich mussten künstlerische Gestaltungen bereits hier allein aus Gründen des Möglichen zurücktreten. Und ebenso unklar bleibt das Bild von der musikalischen Ausgestaltung frühchristlicher Gottesdienste. Zumal Bezüge frühchristlicher Orantendarstellungen (etwa in den Marcellinus-Petrus- oder Calixtus-Katakomben in Rom aus dem 2. Jahrhundert) zur Figur des Orpheus weisen zumindest die Idee einer Begleitung von Oden, Hymnen und Psalmen in Fortführung der antiken und jüdischen Musikpraxis mit gezupften Saiteninstrumenten nicht gänzlich zurück. Zeugnisse der differenzierten Befürwortung zumindest des Psalteriums als Begleitinstrument gottesdienstlicher Gesänge geben selbst noch Clemens von Alexandrien an der Wende zum dritten oder Prosper Tiro von Aquitanien im 5. Jahrhundert.30 Mit differenziertem Blick beschreibt der Schriftsteller (und spätere Heilige) Prosper Aquitanus die instrumentale Klangerzeugung in seiner Expositio Psalmorum: „‚Laudate eum in chordis et organo‘ (Ps 150,4); id est, in quolibet instrumento musico, quod vel pulsu potest sonare, vel flatu“.31 Auch Augustinus kennt die Praxis des Psalmensingens mit lyra oder cithara.32 Wenn auch in der realen liturgischen Praxis im späteren Mittelalter Musikinstrumente in Textzeugnissen nur noch in Gestalt von Orgeln33 und Glocken begegnen34, so spiegelt eine anhaltende ideelle Präsenz von Musikinstrumenten und Instrumentalmusik im Himmel wie auf Erden etwa eine bildkünstlerische Darstellung aus dem 15. Jahrhundert: das Jesuskind auf dem Schoß Mariae, wie es Musik aktiv und lebhaft am Psalterium erprobt und erlernt (Meister von St. Laurenz, Maria im Paradiesgarten, um 1420, Sammlung Ludwig, Leihgabe nach Köln, Wallraf-Richartz-Museum).
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Laube-Przygodda 1980, S. 269. MPL LI, Sp. 426; Laube-Przygodda 1980, S. 216. Weitere Beispiele bei Laube-Przygodda 1980. Beschreibungen von Orgeln in Italien, Spanien und England finden sich seit dem 7. Jahrhundert (die Quellen zitiert Buhle 1903, S. 57); ins Frankenreich zu Pippin ließ sie 757 Konstantin aus Byzanz einführen, 826 verschaffte Ludwig der Fromme seinem Palast in Aachen ein ebensolches Instrument. Berichten über Kirchenorgeln in Augsburg und München um 800 begegnet Buhle mit Skepsis (S. 59). 34 Žak 1984, S. 233.
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5 Allegorien Musikinstrumenten-Allegorien in konkret heilgeschichtlichem Rahmen finden sich in langer Tradition durch Texte der Kirchenväter bezeugt.35 In seinem Protreptikos beschreibt Clemens von Alexandrien den Menschen als ein von Gott nach seinem Bilde geschaffenes harmonisches Instrument: Zu einem schönen, von Geist erfüllten Instrument hat der Herr den Menschen gemacht nach seinem Bilde; denn auch er selbst ist ein melodisches und heiliges Instrument Gottes voll Harmonie, überweltliche Weisheit, himmlischer Logos.
Und er stellt Orpheus dem wahren, vom lógos inspirierten Musiker Christus gegenüber und verknüpft Jesus über seine Abstammung zudem mit David: Der göttliche Logos aber, der von David stammt und doch vor ihm war, verschmähte Lyra und Harfe, die leblosen Instrumente, erfüllte durch den heiligen Geist diese Welt und dazu auch die Welt im Kleinen, den Menschen, seine Seele und seinen Leib mit Harmonie und preist Gott mit diesem vielstimmigen Instrument, dem Menschen.
Gegenstand christologischer Betrachtungen werden Musikinstrumente in ähnlicher Allegorese auch bei Origenes, Basilius, Augustinus, Athanasius und anderen: „Die Christen als Instrument Gottes“ ebenso wie „Die Glieder des Leibes als Instrumente“.36 Origenes knüpft einen Zusammenhang der Glieder des am Kreuz Gemarterten mit dem Tympanon und der harmonischen Übereinstimmung der Glieder im Heiligen Geist mit dem Psalterium.37 Mit Blick auf Form, Material und Tonerzeugung verbindet sich das Saiteninstrument bei Isidor mit dem menschlichen Körper und dem Leiden Jesu. Die cithara steht allegorisch für das Leiden Jesu. Das Holz des Instrumentes verbindet sich mit dem Holz des Kreuzes, die gespannten Saiten symbolisieren den Köper und sein Leiden. Die cithara hatte diese Wirkungsmacht nicht aus sich heraus, sondern darum, weil sowohl die Form des Kreuzes Christi, die sich auf mythische Art aus dem Holz und
35 Žak 1984, S. 233–235; vgl. Hammerstein ²1990 [1962]; McKinnon 1968; Hammerstein 2000 [1973]; Hammerstein 1974; Giesel 1978; McKinnon 1987. 36 Laube-Przygodda 1980, S. 250–260, 261–275. 37 Origines, Selecta In Psalmos, MPG XII, Sp. 1680; Laube-Przygodda 1980, S. 270.
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dem Verlauf der Saiten ergab, als auch das Leiden, das aus ihr klang, die Geister des Dämons unterdrückte.
Die bildliche Allegorese einer Darstellung im Speculum Humanae Salvationis (um 1360; ULB Darmstadt, Hs 2505, f. 42v) verknüpft die Figur „tubal“ mit Jesu und assoziiert die Pythagoras-Legende mit dem biblischen Schmied „thubalkaym“. Das hölzerne Psalterium in Dreiecksform als Attribut des Musikers allegorisiert das Kreuz Jesu, das Schmiedehandwerk verweist auf das Einschlagen der Nägel in Hände und Füße Jesu. Reinhold Hammerstein fasste Hintergründe und Inhalte des theologischen Symbolismus im Blick auf die Musikinstrumente konzis zusammen: „So gab man ihnen einen anderen, allegorischen oder symbolischen Sinn, der aus ihrem Namen, ihrer Form, ihrem Material, ihrem Klang abgeleitet wurde. Insgesamt werden die (Psalter-)Instrumente als die Christenheit, die Tuba als das göttliche Wort, das Psalterium als Zunge Gottes oder als corpus Christi, seine Dreiecksform als Trinitätssymbol, die Cithara als Kreuz Christi oder als Symbol für die vita activa, das Tympanon als Abtötung des Fleisches, die Cymbala als Lippen zu Gottes Lob gedeutet. Auch die zahllosen Darstellungen des Cithara oder Harfe spielenden König David haben nicht so sehr realistischen Abbildcharakter, als vielmehr symbolische und attributive Bedeutung.“38
6 Moral Musik wird gerne eingeteilt in gute Musik und schlechte oder zumindest weniger gute Musik. Das kann aus einem Bauchgefühl heraus passieren: Etwas gefällt – oder es gefällt weniger oder nicht. Duke Ellington, bezogen auf die Unterscheidung zwischen U- und E-Musik als Massen- versus Hochkultur meinte einmal: „Es gibt gute Musik, und es gibt die andere Musik. Und wenn es gut klingt und sich gut anfühlt, dann ist es gut“.39 Gewiss lassen sich auch rational nachvollziehbare Kriterien finden und musiktheoretisch begründet ästhetische Urteile fällen. Auch über die Begründung von „gut“ und „schlecht“ freilich lässt sich lange und trefflich streiten. Nicht mehr streiten lässt sich, wenn es um das Urteil gut und schlecht im Sinne von richtiger Musik versus falscher Musik geht – um musikmoralische Urteile 38 Hammerstein 2000 [1973], S. 59. 39 Zitiert nach: Kreye, Andrian. 2010. Amerikanische Kultur: Liebesgrüße aus Berlin. Süddeutsche Zeitung, 17. Mai.
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also. Schon im Schrifttum des frühen China wurde die ethische Kraft der Musik thematisiert. Der richtige menschliche Umgang mit ihr galt als relevant für den Erhalt von Kosmos und Staat. Richtige Musik erhält die Stabilität des Staates, falsche Musik destruiert. Das aber bedeutet grundsätzlich: Richtige Musik ist gut und gute Musik ist schön.40 Falsche Musik wird „als unmoralisch bekämpft“.41 Ein staatstragender Musikmoralist ist auch Platon. Musik gilt ihm als Mittel der Erziehung (Nomoi 658d) und ist so an Richtigkeit und Nutzen gekoppelt. So entfaltete sie ihre Wirkung in „Zaubergesängen“ für die Seelen junger Menschen (668a). Auch der Chortanz wird nur richtig ausgeführt, wenn er das Richtige zum Ausdruck bringt (654b und c). In Platons Idealstaat wird Musik entsprechend aussondernd differenziert; bestimmte Modi oder Melodien machen den Mann kriegstüchtig, andere führen zu Üppigkeit und Verweichlichung (Politeia 398b–400b). Phänomene des Musikmoralismus lassen sich über die ganze Musikgeschichte hinweg nachzeichnen. Robert Schumann, ein grandioser Musikkritiker, urteilte immer wieder gern musikmoralisch. Virtuosen hielt er für Könner ohne innerlich erfühlte Tiefe – nicht nur ein künstlerisches Fehlverhalten, vielmehr ein menschlicher Makel. Adorno, ein unerbittlicher Musikmoralist, wandte sich gegen verworfene Phänomene wie die Musik Igor Strawinskys, die Blockflötengemeinde oder den Jazz. Auch die Grabenkämpfe um die Neue Musik der 1950er Jahre stützen sich nicht selten – auf beiden Seiten – auf einen moralischen Überbau. Religionen, die auf das Heil des Menschen sehen, sind prädestiniert für Musikmoralismus. Musik wirkt! Sie entfaltet Wirkungen – positiv und negativ. Ebenso wie es eine göttlich inspirierte Musik gibt, kann Musik auch dämonische Kunst sein und die betreffenden Musikanten sind Diener oder Gehilfen der Dämonen, Spielmänner des Teufels.42 Zeugnisse der „Entrüstung der Moralisten gegen unangemessene Formen der Musik in der Kirche“43 finden sich viele, nicht ausgespart 40 Hierzu mit entsprechenden Textnachweisen und ausführlichen Literaturhinweisen Grimm 1995 (Musikanschauungen der klassischen Zeit, Sp. 708f.); auf ein abweichendes Beispiel verweist Reinhard (1956, S. 18) im Kontext der Musik des Königs Wu: „Diese ‚Wu-Musik‘ ist nach den Worten des Konfuzius vollkommen schön, aber nicht vollkommen gut, weil sie den kriegerischen Charakter Wus kennzeichnet. Wir haben hier eine der wenigen Schriftstellen vor uns, in denen in der Musik ‚gut‘ und ‚schön‘ voneinander geschieden werden. Sonst ist das Gute auch immer schön und das Schöne auch immer gut“. Der Utilitarismus des Mohismus, begründet parallel dem Konfuzianismus im fünften Jahrhundert von Mo Di (Mozi, Mo-tse, latinisiert Micius), indes betrachtete Musik generell ästhetisch – und damit grundsätzlich als nutzlos. 41 Reinhard 1956, S. 23. 42 Vgl. Salmen 1960; Hammerstein 2000 [1973], S. 65–72. 43 Žak 1984, S. 235.
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bleiben Orgeln, Glocken und als zu kunstgemäß angesehener Gesang. Auch alle Versuche kirchenmusikalischer Reformen blieben konsequent vom Gedanken der Läuterung getragen. Dass Musikinstrumente in derart musikmoralischem Rahmen zu Marterwerkzeugen werden können, zeigen fabelhaft anschaulich etwa die Höllendarstellungen von Hieronymus Bosch. In Der Garten der Lüste (um 1500; Prado, Madrid) sind die Verdammten an Musikinstrumente gefesselt oder werden zum Choral gezwungen. Nahezu idyllisch erscheint dagegen eine Darstellung von Egbert II van Heemskerck: Luthers Eintritt in die Hölle44 (um 1700; Internationales Museum der Reformation, Genf). Abgebildet sind zwei vokal-instrumentale Standard-Ensembles der Luther-Zeit, ein Solosänger mit Traversflötenspieler und die Pfeiffer-Trommler-Gruppe.45 Stefan Lochners Das Weltgericht (um 1435; Wallraf-Richartz-Museum, Köln) weist dem Instrumentalen im Gefilde der Seligen indes breiten Anteil zu, während sich die Verdammten mit tumber Trommel und teuflischer Tuba zu begnügen haben. Hier setzt sich der Gedanke der Kirchenschriftsteller und Kirchenväter fort, dass die Vorsicht gegenüber der Verwendung von Musikinstrumenten im Gottesdienst eschatologisch begründet ist: Die irdische Kirche im Übergang fordert zum Verzicht mit Blick auf die Wortverkündigung auf – nach heilgeschichtlicher Vollendung vollzieht sich das himmlische Gotteslob wieder umfassend und im Sinne der Psalmen.46
7 Verordnung Nahezu durchgehend in der Kirchen- wie der Musikgeschichte belegt sind Eingriffe in die Musik der Kirche. Sie gehen im Grundsatz zurück auf die beiden brieflichen Randbemerkungen des Paulus, die seit Jahrhunderten Stoff bieten für Diskussionen über die wahre Art der Kirchenmusik und sich bereits bei den Kirchenväter zum topischen „non voce, sed corde canere“ verdichteten. In seinem Brief an die Epheser mahnt der Apostel: „Ermuntert einander mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Her44 Treffender angesichts der abgebildeten Idylle wohl: … Höhle. 45 Ein Parallelbild des Künstlers Calvin in der Hölle bildet keine Musik ab. Calvin, der in seiner reformatorischen Neuorientierung Instrumentalmusik generell für Predigt und Gottesdienst als törichte oder gar lächerliche Nachahmung alttestamentlicher Tempelmusik verwarf, muss auch in der Hölle ein für allemal ohne Musikinstrumente auskommen. 46 Laube-Przygodda 1980, S. 227.
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zen“ (Eph 5,19). Und ähnlich im Brief an die Kolosser: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen“ (Kol 3,16). Paulus verweist fraglos auf die dringende Notwendigkeit einer inneren Beteiligung des Herzens beim Gebet. Darüber hinaus aber lässt dieses „cantantes et psallentes in cordibus vestris“ (Vulgata) verschiedene Deutungen zu und die grundlegende Differenz von singen „aus vollem Herzen“ (so die Zürcher Bibel und die Einheitsübersetzung) oder „in euren Herzen“ war bereits bei den Kirchenvätern Ausgangspunkt für Diskussionen über Musik im Gottesdienst. Auf der einen Seite verweist die Nebeneinanderstellung von Nomen ψαλμός und Verb ψάλλειν wohl nicht auf eine Tautologie sondern eine ergänzende Analogie, d.h. ein vokales und instrumentales Gotteslob. Auf der anderen Seite lässt sich ein Singen im Herzen dezidiert nicht sinnlich denken und nicht einmal akustisch vernehmbar. Es ist geistig, ohne Klang und Schall. Aus dieser Lesart speist sich etwa die Legende der Heiligen Cäcilie aus dem 5./6. Jahrhundert – bevor sie seit dem 14./15. Jahrhundert gegengewendet zur Patronin der Kirchenmusik wurde.47 Raffaels Gemälde Die heilige Caecilia (1514; Bologna, Pinacoteca Nazionale) nimmt, wie Hammerstein deutlich gemacht hat, den Bedeutungsgehalt der Legende in ihrer Wertung der weltlich-irdischen Musik generell neu in den Blick. Es spiegelt sich hier die generelle „Ohnmacht der irdischen gegenüber der himmlischen Musik“.48 Die Instrumente, einschließlich des Portativs, fallen zum oder liegen zerbrochen am Boden und der Blick der Heiligen geht innerlich entrückt und unhörbar im Herzen singend nach oben: „Venit dies in quo thalamus collocatus est et cantantibus organis illa in corde suo soli Domino decantabat dicens: fieri cor meum et corpus meum immaculatum, ut non confundar“.49 Dass es um den Gegensatz von irdischer und himmlischer Musik geht, nicht eine Abwertung von Musikinstrumenten, zeigt ein Kupferstich von Marcantonio Raimondi nach einem Raffael-Entwurf (Bologna, Pinacoteca Nazionale), der in die Engelsmusik Lira da braccio, Triangel und Harfe einbezieht.50 Und aus dieser Lesart begründen sich zahlreiche Versuche, Musik im Gottesdienst auch grundsätzlich einzugrenzen und einzuschränken. Immer wieder haben sich kirchliche Institutionen zu Fragen der Musik geäußert und musikalische 47 48 49 50
Hammerstein 2000 [1993] und 2000 [1995] (dort weitere Literatur zum Thema). Hammerstein 2000 [1993], S. 161. Hier zit. n. Hammerstein 2000 [1993], S. 165f. Hammerstein 2000 [1993], Abb. 5, S. 177.
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Fragen im kirchlichen Rahmen organisiert, über Konzils- und Synodalbeschlüsse oder Verlautbarungen einzelner Bischöfe, Kongregationen oder selbst des Apostolischen Stuhls, in approbationes, bullae, constitutiones, decreta, enzyclicae, epistulae, instructiones, regolamenti und anderen Zeugnissen mehr. Dies reicht von der Einrichtung spezifischer Sängerschulen durch die Päpste Sylvester im 4., Hilarius im 5. oder Gregor im 6. Jahrhundert über die Verordnung eines einheitlich gedachten Liturgiegesangs – des Gregorianischen Chorals – im karolingischen Großreich bis zu liturgischen Reformbestrebungen und kirchenmusikalischen Eingriffsversuchen wie etwa der prominent erinnerten Constitutio Docta Sanctorum Patrum Johannes XXII. (um 1317/25), den Forderungen der Kardinalskommission im Kontext des Konzils von Trient (1564/65) oder dem Motu proprio Pius’ X. (1903). Prominent mit der Frage des Instrumentalen befasst sich die Enzyklika Annus qui Papst Benedikts XIV. vom 19. Februar 1749. Sie wendet sich aus aktuellem Anlass und regional gebunden an die Bischöfe des Kirchenstaates. Prosper Lambertini, seit 1740 Papst, gilt als ein grundsätzlich geistig offener Jurist und Historiker. So hob er etwa den Bann gegen die Lehre des Kopernikus auf, erweiterte die Vatikanische Bibliothek, berief zahlreiche Gelehrte an seinen Hof, besetzte naturwissenschaftliche Lehrstühle an kirchlichen Hochschulen und löste das Aufführungsverbot über die Theater in Rom. Vor dem Heiligen Jahr 1750 äußerte der Papst angesichts bevorstehender Pilgerscharen seine Sorge um die Heiligkeit des Gotteshauses und den Gehalt des Gottesdienstes. Konkret befasst sich die Enzyklika mit der Textverständlichkeit sowie mit Musikinstrumenten, außerliturgischen Gattungen und theatralischem Stil im Gottesdienst. Kirchenmusik habe nicht durch Süßigkeit der Melodie die Sinne zu erfreuen, sondern auf das Wort zu achten. Eine grundsätzliche Wendung gegen Figural- und Instrumentalmusik im Gottesdienst formuliert die Enzyklika nicht. Sie reglementiert indes das Instrumentarium, indem sie bestimmte Instrumente zu gottesdienstlicher Musik zulässt (neben der Orgel Streicher, Oboen oder Fagotte zur Unterstützung von Singstimmen) und andere, aufgrund ihrer vorausgesetzten exzessiv instrumentalen Theatralik, explizit ausschließt (Pauken, Blechbläsern und Flöten). Ähnlich bei den Gattungen: Sinfonien ernsten Gehalts bleiben im Gottesdienst zugelassen, „wo sie üblich sind“, also in Messe und Vesper, während nichtliturgische Motetten ebenso wie Rezitative und Arien während der Karwoche verboten sind. Die Trennlinie verläuft einmal mehr also nicht zwischen instrumental und vokal, sondern zwischen dem, was in
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diesem Bereich als angemessen oder nichtangemessen betrachtet wurde. Und eine gesamtkirchliche Rezeption war ohnehin nicht intendiert.51 Erst die kirchenmusikalische Restaurationsbewegung des Caecilianismus im 19. Jahrhundert nahm diese Enzyklika als Maßstab für die Einordnung von Kirchenmusik generell auf. Über die kontrapunktisch entschlackte Euphonie der Musik Palestrinas und orientiert an der Palestrina-Legende konstruierten die Cäcilianisten das Ideal einer musica sacra „a cappella“, an dem sich vor allem im südeuropäischen Raum weite Kreise orientierten und dem sich 1870 eine päpstliche Approbation auf dem Ersten Vatikanischen Konzil im Kampf um die Reinheit der Tonkunst anschloss. 1903 löste der Motu proprio Pius’ X. über die Differenzierung von kirchentauglichem (Orgel) und kirchenuntauglichem (Klavier) Instrumentarium eine neue kirchenmusikalische Restauration aus, die in der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils (1963) (Art. 120) bedingt abgemildert wurden. 1997 durfte noch Bob Dylan mit Gitarre vor Johannes Paul II. auftreten, ehe Benedikt XVI. 2007 Piero Marini als Zeremonienmeister im Officium de liturgicis celebrationibus summi pontificis durch Guido Marini ersetzte. Von 2011 datiert ein Brief Papst Benedikt XVI. an das Päpstliche Institut für Kirchenmusik über den Vorrang der Gregorianik im Gottesdienst.
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A cappella
A cappella ist primär ein Stilbegriff: alla cappella, nach Art der Kapelle, d. h. des päpstlichen Sängerchors an der Cappella Sistina in Rom. Der A-cappella-Stil bezeichnet seit dem 15. Jahrhundert einen mensural notierten, kontrapunktisch gebundenen Satz in gemessenem Zeitmaß, etwa dem Alla-breve-Takt. Selbst reine
51 Ähnlich regional verhallten die vom Geist der Aufklärung getragenen Versuche Josefs II. im zweiten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, als weltliche Autorität in die kirchenmusikalische Praxis einzugreifen. Mit begrenzter Nachhaltigkeit griff Fürsterzbischof Hieronymus Joseph Colloredo in Salzburg den Gedanken einer „Abstellung des unnöthigen religiösen Aufwandes“ in seinem Hirtenbrief des Jahres 1782 auf (Hirtenbrief des Fürst-Erzbischofs zu Salzburg. Die Abstellung des unnöthigen religiösen Aufwandes; die Anpreisung des fleißigen Bibellesens; die Einführung eines teutschen Kirchengesangbuches; dann verschiedene Pastoralverordnungen und Ermahnungen an die Seelsorger, zu würdiger Führung ihres wichtigen Amtes, betreffend). Zur Weiterführung dieser Bestrebungen vgl. Fellerer 1976; Morelli 2004; und andere.
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Instrumentalwerke, Ricercare a cappella, können in diesem stilistischen Sinne impliziert sein. Die Frage nach einer Beteiligung von Instrumenten stellt sich für die mehrstimmige Musik dieser Zeit nicht. Üblich waren – mit Ausnahme der Praxis der Capella Sistina – vokal-instrumentale Aufführungen. Musikinstrumente spielten die Stimmen colla parte mit oder übernahmen einzelne Stimmen durchaus auch ganz. Einzelne Stimmen lassen sich (wenn auch nicht unbestritten) aufgrund textloser Überlieferung, ihrer Faktur oder von Angaben wie „trompette“ oder „tuba“ als genuin instrumental erdacht beschreiben und deuten. Und wenn auch Musikinstrumente (einschließlich der Orgel) in der tagtäglichen Liturgie zwar eher keine Verwendung fanden, so ist der Alternatimvortrag des Chorals doch seit dem vierzehnten Jahrhundert bezeugt. Für ihre festlichen Messfeiern hielten sich die großen Kirchen und Stifte, nicht anders als die weltlichen Höfe, neben den vokalen Kapellen auch umfassende Instrumentalensembles. Blechbläser und Bläserensembles in repräsentativen Gottesdienstzusammenhängen finden sich seit Ende des 14. Jahrhunderts bezeugt, 52 so der Gebrauch von Trompeten am Hof des französischen Königs Karl VI. in Texten von Philippe de Mézières 1384 und 1389, 53 1385 zur Hochzeit des (späteren) Herzogs Johann ohne Furcht in Cambrai, 1403 in Innsbruck bei einer Messe zur Begegnung von Herzog Philipp von Burgund mit dem italienischen König, 1416 zum Einzug der Engländer auf dem Konstanzer Konzil, 1436 zur Einweihung der Kathedrale in Florenz und so weiter und so fort.54 Solche Beispiele spiegeln generell den Zuwachs der instrumentalen Ausschmückung von Gottesdiensten im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts. Krönungen, fürstliche Hochzeiten, diplomatische Begegnungen, Empfänge und andere weltliche und kirchenzeremonielle Feierlichkeiten verlangten nach musikalisch festlich ausgestalteten Messen. Als Luther 1542 seinen Freund Nikolaus von Amsdorf zum ersten lutherischen Bischof weihte, begleiteten fünf Trompeten den Weiheakt im Dom zu Naumburg. Erasmus von Rotterdam – gleich Luther der Musik nicht abgeneigt – beklagt Anfang des 16. Jahrhunderts, selbst päpstliche Auftritte seien inzwischen vom kriegsähnlichen Schall und Theaterpomp der tubae, cornu und litui begleitet. Eine selbständige Instrumentalmusik – und damit die Trennung der Bereiche – existiert ab etwa Mitte des 15. Jahrhunderts und bleibt noch lange gebunden an 52 Žak 1984, S. 236. 53 Žak 1984, S. 236f. 54 Žak 1984, S. 236–243; vor einigen Jahren gestattete mir Dr. Wolfgang Schnabel einen Einblick in seine unveröffentlichte Schrift Instrumentale Musik im Gottesdienst [2006]. Auch hier finden sich zahlreich entsprechende Beispiele.
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vokale Gattungen der Kirchenmusik wie Messe und Motette. Die Ergänzung oder Substitution von liturgischen Formen durch reine Instrumentalmusik entwickelt sich seit dem 17. Jahrhundert zur konfessionsübergreifenden Selbstverständlichkeit, in Gattungen etwa wie der Canzone, Sonata oder Sinfonia da chiesa, immer wieder auch mit konkreten Titelverweisen wie in Claudio Monteverdis Sonata sopra Sancta Maria (Marienvesper, 1610), Tarquino Merulas Canzoni, overo sonate concertate per chiesa (1637) oder Johann Jakob Frobergers Canzoni dopo L’Epistola (1649). Eine Sondergattung seit dem 19. Jahrhundert bilden instrumentale Psalmen, so Julius Reubkes Der 94. Psalm. Große Sonate c-Moll für Orgel (um 1856) oder Charles Valentin Alkans Super flumina Babylonis. Paraphrase über Psalm 137 op. 52 für Klavier (1859) und im 20. Jahrhundert Robert Hegers De profundis für Streichquartett, Michael Denhoffs Aus tiefer Not für Orgel oder Sofia Gubaidulinas De profundis für Akkordeon und Bajan.
9 Luther Im evangelischen Bereich beruft man sich zur Autoritätssicherung in Sachen der Musik gerne auf Martin Luther. Dessen Musikauffassung lässt sich zwar, aus einer ungeheuren Vielzahl weit verstreuter Äußerungen quer durch sein Leben hindurch, auch nicht immer eindeutig festlegen. Auch Luther kennt einen abusus musicae und auch er mahnt unablässig den richtigen Gebrauch und die richtige Einstellung zur Musik an. Insgesamt aber denkt Luther die Möglichkeiten der Musik grundsätzlich weiter und universaler als es die Kirchenväter oder römisch-katholische Verlautbarungen tun. Luther betont den göttlichen Ursprung der Musik generell. Die Musik als donum dei steht gleich hinter der Theologie, eng mit ihr und dem sie ausfüllenden Wort verwandt. Wiederholt greift Luther Trompete und Posaune auch als Metapher für die Macht der Predigt auf. Die Fähigkeit zur musikalischen Textauslegung spielt für Luther eine zentrale Rolle und begründet etwa seine Bewunderung speziell für die Kompositionen von Josquin Desprez. Luthers Zugang zur Musik insgesamt ist aber frei, fromm und fröhlicher. Luthers Einstellung zur Musik verbindet sich womöglich mit seiner eigenen Musikausbildung. In Erfurt absolvierte er sein Studium auch der septem artes liberales, wobei, wie J. Andreas Loewe 2013 plausibel machte, 55 sein Studium der musica namentlich auf Johannis de Muris Musica speculativa, einem zentralen 55 Loewe 2013.
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Text des 14. Jahrhunderts, beruhte und damit auf dem eingangs dargelegten pythagoreischen quadrivial-harmonikalen Musikbild. In diesem Sinne reflektiert Luther – im Zeitalter einer gerade aufblühenden eigenständigen Instrumentalmusik – auch den Zuwachs an kunstreichen Instrumenten: Zu Davids zeiten ist die Musica nicht so Kuenstreich gewesen, als sie jtzt ist zu unsern zeiten. Ein instrument als Psalter von zehn Seiten ist fast das hoechste und Kuenstreichste gewesen. Die anderen gemeinen Instrumenten haben drey oer vier Seiten ghabt. Itzt aber ist die Musica uber die mas gestiegen, Wir haben mancherley und viel Kunstreicher Instrumenta, da zu Davids zeiten nur Psalter, Harffen, Geigen, Pfeiffen, Cymbeln etc. gewesen sind. 56
Und wenn das schon die irdische Musik ist, wie wird dann erst die Musik im Himmel sein. So unser Her Gott in diesem leben in das scheißhauß solche edle gaben gegeben hat, was wirdt in jhenem ewigen leben geschehen, ubi omnia erunt perfectissima et iucundissima?57
In einer Diskussion über religiöse Autoritäten und Musik der 1980er Jahre bemerkte der protestantische Kirchenrat und Musikforscher Walter Blankenburg: „Ich könnte sagen: im evangelischen Bereich ist alles erlaubt – persönlich aber wurde ich hinzufügen: leider“.58
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56 Dr. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe, WA), S. 45, 206. 57 WA Tischreden (TR), S. 4, 191. 58 Walter Blankenburg, Diskussionsbemerkung. In: Baumann und Fischer 1984, S. 113; vgl. Honegger et al. 1986, S. 115; vgl. etwa Beierwaltes 1954; Kurzschenkel 1971; Bielitz 1998.
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Prometheus und Dionysos Negation des Subjekts in Beethovens Spätwerk1 Johannes Picht
Wie kein anderer Komponist vor oder nach ihm hat Ludwig van Beethoven (1770– 1827) den Raum des persönlichen Subjekts musikalisch durchmessen. Seine Musik entdeckt aber – dieser Schritt vollzieht sich im Übergang zu seinem Spätwerk –, dass dieser Raum nicht die Struktur eines Kosmos hat und dass der Prozess seiner Erkundung nicht zu einem in sich ruhenden Ende führt, sondern in eine Krise. Natürlich ist auch instrumentale Musik schon vor Beethoven Ausdruck menschlicher Seelenbewegungen. Aber erst bei ihm – vor ihm allenfalls beim späten Mozart – wird die innere Zerrissenheit des Einzelnen zum musikalischen Ereignis. Erst mit Beethoven werden Leid, Anstrengung, Schmerz und Gewalt nicht mehr nur exemplarisch, wie auf einer Bühne, dargestellt, sondern sie wirken als Elemente der Musik selbst auf den Hörer ein. Der Hörer selbst – und vor ihm der Spieler – muss leiden und sich anstrengen, wenn er sich überhaupt von dieser Musik erreichen lassen will. Beethoven hebt wie kein anderer Komponist vor ihm die Distanz zwischen sich und uns auf, er tut uns etwas an. Schon in diesem Sinne vermittelt seine Musik eine Gewalterfahrung. Darüber hinaus aber findet bei Beethoven als Erstem Böses und Vernichtendes als unmittelbare Erfahrung Eingang in 1
Gekürzte und bearbeitete Fassung einer Arbeit, die unter dem Titel „Beethoven und die Krise des Subjekts“ in zwei Teilen in der Zeitschrift Musik & Ästhetik erschienen ist (J. Picht 2007/2008). Die hier vorgelegte Fassung wurde erstmals in der Zeitschrift PSYCHE – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 63 (2009) veröffentlicht. Für die jetzige Publikation wurden einige kleinere Änderungen vorgenommen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_10
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die Musik. Die Beethoven’sche Welt ist auch in dem Sinne menschlich, dass man sie, wenn man will, psychopathisch nennen kann. An ihm hat sich deshalb wie an keinem anderen Komponisten die Debatte darüber entzündet, inwieweit Musik von der historischen Persönlichkeit des Komponisten und seinem biographischen Schicksal her zu verstehen ist, wie weit sie über ihn als Person Auskunft gibt. In diesem Sinne erreicht der Prozess des Auftauchens des persönlichen Subjekts, der das 18. Jahrhundert auch musikalisch prägt, mit Beethoven einen End- und Höhepunkt. Sein Spätwerk enthält darüber hinaus bereits eine Vorahnung dessen, was man als Untergang des Subjekts im 20. Jahrhundert bezeichnen könnte. Zwar ist immer schon aufgefallen, dass Gewalt als Realität und Erfahrung ein Inhalt dieser Musik ist. Aber bisher ist kaum versucht worden, genauer zu fassen, wie sich Gewalt im musikalisch-ästhetischen Detail vermittelt, noch auch, welchen Ort sie im Bedeutungsgefüge der Beethoven’schen Musik hat. Dies dürfte damit zusammenhängen, dass die Gewalt ebenso wie die der Gewalt zugrundeliegende Vernichtungserfahrung beinahe von Anfang an – auch schon von Beethoven selbst – umgedeutet und überlagert wird von idealisierenden und heroisierenden Tendenzen,2 psychoanalytisch gesprochen also von Abwehrtendenzen. Die Frage nach der Gewalt in der Musik führt an den Rand eines Abgrunds, der mit herkömmlichen musikwissenschaftlichen Analysekategorien nicht auszuloten ist. Hier können klinische Erkenntnisse und Konzepte der Psychoanalyse dem Verständnis weiterhelfen. Zunächst muss jedoch ein Zugang zum geschichtlichen Ort von Beethovens Musik hergestellt werden. Dieser ergibt sich aus einer Betrachtung des Subjektbegriffs und seiner Geschichte.3
1
Zum Begriff des Subjekts, seiner Geschichte und seiner Repräsentation in der Musik
Der Begriff des Subjekts geht uns meist allzu leicht über die Lippen, ohne dass wir uns klar machen, welche gedanklichen Entscheidungen wir damit ungeprüft übernehmen. Er wurzelt in der aristotelischen Aussagelogik und verweist daher auf einen metaphysischen Horizont, in dem zwischen dem Bleibenden, mit sich selbst Identischen, „Zugrundeliegenden“ einerseits und seinen veränderlichen Erscheinungsformen und Attributen andererseits scharf und prinzipiell unterschie2 3
Vgl. Geck 1989. Vgl. G. Picht 1985.
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den wird. Aus diesem Horizont kann man den Begriff des Subjekts nicht völlig lösen, ohne dass er sinnlos wird. Er nötigt uns daher, wenn wir ihn benutzen, innerhalb dieses Horizonts zu denken. Das ist auch dann so, wenn wir es übersehen oder leugnen. Der Rang, Subjekt zu sein, war in der Antike und das ganze Mittelalter hindurch Gott vorbehalten. Dass der einzelne Mensch diese vormals göttliche Stellung übernimmt, ist angelegt in der auf Descartes zurückgehenden Entscheidung, die Gewissheit wahrer Erkenntnis nicht mehr in Gottes Schöpfungsplan, sondern im „Ich denke“ zu verankern. Die Einsetzung des Individuums als Subjekt wird aber vollends erst in der Aufklärung vollzogen. Vor allem Kant ist es, der den einzelnen Menschen in die Position setzt, als Subjekt seine Welt mittels seiner Verstandesbegriffe selbst zu ordnen – wobei er allerdings den Unterschied zwischen dem intelligiblen und dem empirischen Subjekt nie aus den Augen verliert. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, etwa im Sturm und Drang, führt diese Entwicklung in einer schon die Romantik vorbereitenden Wendung dahin, dass sich das Subjekt in der Unmittelbarkeit seiner affektiven Regungen zu erkennen sucht und diese dem eigenen Inneren zuordnet. Aber diese Regungen lassen sich nicht individualisieren. So wird zwar das private Ich zum Zentrum der Subjektivität, es stößt aber in seiner eigenen Tiefe auf elementare Kräfte, die das Subjekt übersteigen und sprengen. Als Konsequenz – und als Reaktion auf die Romantik – wird das Subjektparadigma bei Nietzsche in aller Radikalität als Illusion entlarvt. Beethovens Musik spiegelt diesen Prozess wider und ahnt sein Ende voraus. Seinem Ideal nach ist er ein politischer Künstler, wie ihn Schiller in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ von 1795 gefordert hat.4 Während aber dieses Ideal vom Gedanken der Freiheit des Subjekts getragen ist, setzt sich in der Musik Beethovens im Lauf seiner Entwicklung die Erkenntnis durch, dass das, was sich da als Subjekt zu konstituieren sucht, Kräften ausgesetzt ist, von denen es abhängig und bedroht ist und die es nicht zu beherrschen vermag. Wie erscheint nun dieses neuzeitlich gewendete Subjekt in der Musik? Die Zeit der Herrschaft des „Ich denke“ und des Subjektivismus in der Philosophie zwischen Descartes und Nietzsche fällt zusammen mit der Emanzipation der Instrumentalmusik und der Epoche der funktionalen Dur-Moll-Tonalität. Es ist zugleich die Epoche, die man als das „thematische Zeitalter“ in der Musikgeschichte bezeichnet hat, weil in ihr die Regel gilt, dass musikalische Prozesse und Formen aus Themen, d.h. aus tonal gebundenen, rhythmisch und melodisch differenzierten Gestalten hervorgehen. Entsprechend entwickelt die Instrumentalmusik dieser Epoche eine überschaubare Anzahl von formalen Typen, denen gemeinsam ist, 4
Schiller 2004, Bd. 5, S. 570f.
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dass sie aus Themen erwachsen, wie etwa die Fuge, die Variation, das Rondo oder der Sonatensatz. Damit sind drei Elemente benannt – Tonalität, Thematik und formale Typologie –, die sich in der Musik zur Einschreibung dessen eignen, was der Begriff des Subjekts bezeichnet, nämlich Identität jenseits von Veränderungen. Das Subjekt denkt sich außerhalb der Zeit. Wenn etwas Außerzeitliches im Zuge einer zeitlich ausgebreiteten Struktur sinnfällig werden soll, muss es ständig oder doch zumindest wiederkehrend präsent sein. Zur Dur-Moll-Tonalität gehört die bemerkenswert stabile Regel, dass ein Musikstück in der Tonart endet, in der es begonnen hat; von dieser Regel gibt es über annähernd 300 Jahre hinweg nur ganz vereinzelte echte Ausnahmen. Die Tonart bleibt also im Verlauf des Stückes erhalten und stellt auf diese Weise ein Element von Identität dar. Da die Tonalität im Übergang von den kirchentonalen Modi zur funktionalen Dur-Moll-Tonalität (im Lauf des 17. Jh.) und erst recht nach Erfindung der Wohltemperierten Stimmung und des Quintenzirkels zu Beginn des 18. Jh. die Eigenschaft entwickelt hat, modulierend zu sein, entfaltet sich hier eine musikalische Möglichkeit, „Geschichten“ zu erzählen – „Schicksale“ oder „Wege“, die das Subjekt durchläuft, bevor es dann aber unweigerlich zu sich zurückkehrt. Damit wird sinnfällig, dass die Identität des Subjekts – repräsentiert durch die Tonika – Veränderungen standhält. Auch musikalische Themen sind nicht nur an ihrer tonalen Geschlossenheit und melodisch-rhythmischen Prägnanz zu erkennen, sondern sie werden als solche dadurch bestätigt, dass sie wiederkehren. Erst durch ihre Wiederkehr erweisen sie sich als Träger von Identität. Entsprechend sind die musikalischen Formen, die die Epoche entwickelt hat, fast durchgängig und in erster Linie davon bestimmt, dass und wie Themen wiederkehren – wie in der Reprise des Sonatensatzes – oder doch als Organisatoren des musikalischen Geschehens präsent bleiben, wie in der Variation. Dass wir überhaupt von musikalischen Formen sprechen und so dem zeitlich Verlaufenden eine quasi-simultane Einheit zusprechen, setzt bereits voraus, dass wir aus dem Fluss der Zeit heraustreten und ihn gewissermaßen von oben überblicken, also eine Subjektperspektive außerhalb der Zeit einnehmen. Die Formen haben als Typen darüber hinaus eine eigene Identität; jeder musikalisch gebildete Zeitgenosse wusste, was ein Scherzo war, an welcher Stelle einer Sonate man es erwarten konnte und welchen Verlauf es typischerweise nehmen würde. Es gibt also auch ein Form-Subjekt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzt sich das Bewusstsein dafür durch, dass der einzelne Mensch – dem es doch nach Kant aufgegeben ist, Träger der reinen Vernunft zu sein – in sich widersprüchliche Strebungen und Einstellungen zu vereinen hat. Es kommt dann auch in der zeitgenössischen Musikästhetik in Abgrenzung zum Barock die Forderung nach Einheit in der Mannigfaltigkeit auf. Die formale Geschlossenheit eines Musikstücks – auch ein Element von Identität und
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somit eine Ausformung des Subjektgedankens – ist nun immer größeren inneren Gegensätzen abzuringen. Darin liegt nach Auffassung der Zeitgenossen auch eine moralische Forderung: Einheit in der Mannigfaltigkeit, Konstanz gegenüber der Vielfalt affektiver Zustände, ist ein Charaktermerkmal, nicht nur ein ästhetisches Postulat. Mit Charakter ist jetzt nicht mehr nur ein bestimmter Affekt oder Typus bezeichnet, sondern erstmals auch die Vorstellung einer aus der Integration von widersprüchlichen Affekten erwachsenden und ihnen gegenüber resistenten Struktur.5 Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die Geschlossenheit der Identität erst erworben werden muss und immer durch Widersprüchlichkeit bedroht bleibt. Dies sind bereits Merkmale, wie sie für den psychoanalytischen Charakterbegriff noch heute konstitutiv sind. Unser Charakterbegriff hat Wurzeln in der Beethovenzeit. So hat die Frage nach dem Subjekt in der Musik bei Beethoven eine besondere geschichtliche Gestalt: Sie muss sich auf die volle Spannung dieses Begriffs zwischen einer transzendental-metaphysischen Instanz und einem privaten, in sich widersprüchlichen seelischen Selbst einlassen. Nur so ist es zu verstehen, dass Beethovens Musik zugleich als Inbegriff individuell-emotionaler Expressivität wie auch als Darstellung philosophischer Erkenntnis gelten kann.6 Wir verstehen sie erst, wenn es uns gelingt, uns in einen Horizont zu versetzen, in dem dies zusammenfallen kann. Diese Spannung ist nicht nur Beethovens persönliche Angelegenheit; sie ist der Epoche eigen, in der er lebte. Das muss man in Erinnerung rufen, weil wir zu leichtfertig geneigt sein könnten, seine Musik einseitig als Ausdruck seiner individuellen Persönlichkeit aufzufassen. Dass wir überhaupt auf die Idee kommen können, das zu tun, verdanken wir musikalischen Möglichkeiten, die er selbst entwickelt und exploriert hat – aber auch dies nicht als Privatsache, sondern als Reaktion auf Strömungen seiner Zeit. Das musikalische Subjekt Beethoven darf nicht einfach mit dem biographischen Subjekt gleichgesetzt werden.
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Das musikalische Subjekt bei Beethoven
Bei der Behandlung der musikalischen Form ist auch in den frühen Sonaten Beethovens schon eine Tendenz erkennbar, die statische Eindeutigkeit der Zuordnung von Formteilen aufzulösen und die Durchführung aufzuwerten, also Dramatisch-Prozesshaftes zu betonen. In die überwiegend expansiv-vitale Welt des frühen Beethoven sind Sätze wie das Largo der D-Dur-Klaviersonate op. 10,3 oder 5 6
Vgl. Dahlhaus 1987. Vgl. Adorno 1993; Gülke 2000.
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die Adagio-Einleitung zum Finale des B-Dur-Streichquartetts op. 18,6 wie Keile von Melancholie hineingetrieben. Neben den traditionellen lexikalischen Chiffren des melancholischen Affekts findet er hier neue Mittel, Vereinzelung und Bewegungsstillstand musikalisch darzustellen, und zu der empfindsamen Melancholie des 18. Jahrhunderts tritt eine grüblerisch-intellektuelle, „saturnische“ Qualität.7 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist Beethoven, trotz äußeren Erfolgs, unzufrieden mit seinen bisherigen Arbeiten und sucht, wie er sagt, einen neuen Weg. In Stücken aus dieser Zeit werden erstmals Thema und tonales Zentrum nicht mehr bereits zu Anfang unmittelbar und eindeutig präsentiert, und auch die formale Struktur bleibt in wichtigen Elementen vieldeutig und unklar. Im Sinne der These, dass Tonalität, Thematik und Form Repräsentanten des Subjekts in der Musik sind, ist hier ein Punkt erreicht, an dem das Subjekt nicht mehr von Beginn an gegeben ist, sondern allmählich „auftaucht“, im Verlauf entsteht oder sogar überhaupt latent – wenn auch eindeutig als Bezugspunkt wirksam – bleibt. Im Kopfsatz der Dritten Symphonie (Eroica) von 1803 tritt erst in der Coda die endgültige Gestalt des Themas zutage. Der ganze Satz läuft darauf hin, so dass die Musik in völlig neuer Weise auf ein Ziel gerichtet ist und hierdurch etwas Drängendes erhält. Aber auch wenn die Coda-Version des Themas nach Gestus und formaler Position als die endgültige Gestalt daherkommt, kann sie nicht beanspruchen, das eigentliche Thema zu sein. Indem das Thema unterschiedliche Gestalten annimmt, hat der Begriff des „Themas“ vielmehr selbst eine neue Bedeutung angenommen. Er bezeichnet jetzt nicht mehr eine bestimmte Tonfolge an der Oberfläche, sondern eine in der Tiefe liegende, gleichsam abstrakte Struktur, die die an der Oberfläche auftauchenden Gestalten als unterschiedliche Realisierungen hervorbringt und sich durch sie hindurch sukzessive entfaltet.8 Nicht anders ist es im Finale der Eroica, wo die Folge der Variationen das Thema nicht voraussetzt, sondern allmählich formt; die am Anfang einzig vorhandene Basslinie stammt aus der Ballettmusik „Die Geschöpfe des Prometheus“ (op. 43), die von der Erschaffung der Menschen durch den Titanen handelt. Spätestens von jetzt an sind Beethovens Werke auch in dem Sinne „Individuen“, dass sie nicht mehr einfach Exemplare einer bestehenden Gattung sind. Die musikalische Entwicklung ist an einen Punkt gekommen, an dem jedes „Thema“ seine eigene „Form“ hervorbringt; es stellt „Probleme“, deren „Lösung“ jeweils ganz neu gefunden werden muss. Die Form ist nicht mehr gegeben und muss ausgefüllt werden, sondern sie entsteht. Sie ist in emphatischem Sinne Prozess. Ihre Einheit muss erzielt werden. Die Kräfte, von denen die Musik und die thematische Ent7 8
Vgl. Dahlhaus 1987. Vgl. Dahlhaus 1987.
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wicklung angetrieben werden, haben aber einen Grad der Dynamik und Divergenz erreicht, der jede Einheit sprengen und zerstören könnte. An dieser Stelle kommt die Kategorie des Willens ins Spiel: Will man formale Geschlossenheit und Einheit erreichen, will man die Kräfte unter eine Idee zwingen, will man ein Subjekt schaffen, das „Charakter“ hat, dann müssen die Kräfte „bewältigt“ werden. Das Subjekt kann sich nicht mehr voraussetzen; es muss sich fortwährend neu konstituieren und behaupten; es ist Resultat einer Anstrengung des Willens, angetrieben von einem ethischen Postulat. Romain Rolland (1930) hat deshalb von Beethovens „heroischem Stil“ gesprochen. Etwa ab 1807 beginnt das Lyrische gegenüber dem Heroischen mehr und mehr in den Vordergrund zu treten. In den Kopfsätzen finden sich jetzt häufiger gemäßigte Tempi, und die Themen sind liedhaft und kantabel. Themen dieser Art enthalten weniger dialektische Spannung, weniger Latenz und weniger motivischen Impetus und bieten sich daher weniger an für eine prozesshafte, dynamisch-dramatische Entfaltung. Die Form wird nicht mehr mit der Logik motivischer Arbeit aus Gegensätzen und gegen Widerstände hervorgetrieben; sie entwickelt sich eher rhapsodisch-fortspinnend und offen. An die Stelle einer notwendigen Entwicklung tritt die „Notwendigkeit, einen Weg zurückzulegen“.9 Kehrseite der Kantabilität ist jedoch ein gesteigerter Abstraktionsgrad motivischer Bezüge, die sich netzartig zwischen Haupt- und Nebenthemen sowie zunehmend auch über die verschiedenen Sätze einer Sonate erstrecken und so eine zwar fühlbare, beim Hören jedoch kaum im Einzelnen nachvollziehbare Matrix von Einheit bilden. Einige Jahre später entstehen Stücke wie die Achte Symphonie von 1812 und ihr Finale, in dem den früheren symphonischen Idealen geradezu, wie Louis Spohr es ausdrückte, die Zunge herausgestreckt wird.10 Hier gibt es keine heroische Lösung, keinen Sieg der Idee, aber auch keine melodiöse Schönheit mehr. Auch Ironie wäre ein zu freundliches Wort für die desillusionierte Grimmigkeit des Witzes der Achten Symphonie. Beethoven geht auf Abstand zu den Formen, die er selbst entwickelt hat. Danach vollendet er zwölf Jahre lang keine Symphonie mehr. 1815 beschäftigt sich Beethoven mit Plänen zu einer Bacchus-Oper. Kein zufälliges „Sujet“: Schon bei Platon verkörpern Apollon und Dionysos (Bacchus) die beiden Pole, aus denen Musik und auch alles andere hervorgeht; Apollon steht für Struktur, Beharren, Ordnung und Einheit, während Dionysos Bewegung, Kontinuum und die Kräfte repräsentiert, die Neues hervorbringen, die aber auch ins Chaos stürzen können. In das Skizzenbuch mit ersten Ideen für diese Oper – die über dieses Stadium nicht hinauskam – notiert Beethoven: „Dissonanzen vielleicht in 9 Gülke 2000. 10 Vgl. Geck 2005.
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der ganzen Oper nicht aufgelöst oder ganz anders da sich in diesen wüsten Zeiten unsere verfeinerte Musik nicht denken lässt“.11 Hier kündigt sich „Dionysisches“ mit einer Vehemenz an, die alles, was bisher Identität und Halt zu gewährleisten schien, zu zertrümmern imstande ist. In dieser Zeit geht Beethovens Produktivität, gemessen an vollendeten Werken, stark zurück. Das kann Gründe haben, die uns verborgen bleiben. Aber bemerkenswert ist doch, dass das Werk, das aus dieser Zeit des relativen Schweigens auf einmal aufragt wie ein gewaltiger Block und sie zugleich beendet, eins der sperrigsten, schwierigsten, radikalsten und rücksichtslosesten ist, die er je geschaffen hat, die sogenannte „Hammerklaviersonate“ (op. 106), vollendet 1818. Danach ist, auch wenn es noch Werke konventionelleren Zuschnitts gibt, eigentlich nichts mehr wie vorher. Was man mit dem Begriff des Spätstils umfasst, ist eine nicht sehr große Anzahl von Werken, die nicht mehr, wie bis 1812, das, was auch die Zeitgenossen ästhetisch beschäftigte, in paradigmatischer Form formulieren. Vielmehr hat man hier den Eindruck, dass Beethoven ganz eigene Rätsel lösen muss, mit denen er seiner Zeit weit voraus ist. In diesem Sinne sind die späten Werke radikal persönlich, es umgibt sie eine Aura der Vereinsamung, auch wenn die Neunte Symphonie zu Millionen sprechen will. Kompositionstechnisch ist diese letzte Phase von Beethovens Schaffen davon geprägt, dass die Abstraktion im Herstellen motivischer Bezüge weiter vorangetrieben wird und ein Extrem erreicht, das auch in der Musik des 20. Jahrhunderts kaum überschritten wird.12 Dies führt unter anderem an den Rand der Auflösung von Tonalität. Zugleich exploriert Beethoven intensiver als je zuvor traditionelle kontrapunktische Techniken und greift kirchentonale Modi auf. Eigenartigerweise stehen sich vorausweisende und archaisierende Elemente dabei nicht kontrastierend gegenüber, sondern sie erscheinen ungetrennt als Aspekte ein- und desselben Vorgangs, einer gewonnenen Distanz gegenüber der musikalischen Gegenwart, so dass man den Eindruck bekommen kann, hier auf einem Gipfel zu stehen, von dem aus die gesamte Geschichte des musikalischen Subjektivismus von Monteverdi bis Schönberg überblickt wird. Was einmal das Beethoven’sche Subjekt war, hat sich aus der Musik herausgehoben; es konstituiert sich nicht mehr, indem es ihre Formen hervorbringt und kompositorische Probleme bewältigt, sondern es steht jenseits der Formen, Konventionen und Verfahren; es sucht in ihnen keinen Halt und keine Verankerung mehr; es „fährt durch sie hindurch“, wie es Adorno genannt hat, und „lässt sie als Trümmer stehen“.13 Das nihilistische Moment, das 11 Zit. n. Rexroth 1979. 12 Vgl. Dahlhaus 1987. 13 Adorno 1993.
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sich schon in der Achten Symphonie angekündigt hatte, ist beim späten Beethoven stets präsent. In der Einleitung zum Finale der Neunten Symphonie gewinnt das Nihilistische geradezu programmatische Qualität, wenn die vorangegangenen drei Sätze zitiert werden, um sie dann abzulehnen. Zugleich ist dieses Finale ein ebenso ergreifender wie scheiternder Versuch, das, was da einbricht, in einer neuen Form, einer neuen Subjektivität noch einmal positiv zu bändigen. Die Hinwendung zur menschlichen Stimme, die wir vor allem mit der Neunten Symphonie verbinden, geschieht allerdings nicht nur dort. Sie ist Facette eines weiteren prägenden Zuges im Spätwerk, der sich nicht mehr immanent im Sinne einer kompositionstechnischen Fortentwicklung begründen lässt, nämlich einer Tendenz zu extremer, bisweilen bis an den Rand eines Zerreißens der musiksprachlichen Strukturen gesteigerter Expressivität. Diese hat nichts von Effektsuche. Vielmehr spürt man hier einen Menschen, der seine ganze Meisterschaft als Künstler und die ganze unübertroffene Subtilität und Kraft seiner musikalischen Mittel dazu einsetzt, gegen die Barriere anzurennen, die ihn von den Mitmenschen trennt.14 Über der Missa Solemnis steht: „Von Herzen – Möge es wieder – Zu Herzen gehen.“ Auch in den späten Streichquartetten, etwa in der Cavatina des B-Dur-Streichquartetts op. 130 von 1825 (und hier insbesondere in dem kurzen recitativischen Mittelteil, der in der ersten Geige mit der Spielanweisung „beklemmt“ versehen ist) kann man unmittelbar hören, wie aus dem metaphysisch verankerten oder sich heroisch behauptenden Subjekt ein einsames und verängstigtes Ich geworden ist, das geradezu darum fleht, das Du zu erreichen, ohne das es nicht existieren kann.
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Negation und Gewalt
Die Anerkennung des Du nicht nur als eines anderen Subjekts, sondern als Bedingung des Ich ist ein epochaler Schritt; sie bedeutet in der Konsequenz die endgültige Überschreitung und Auflösung des metaphysischen Horizonts, in den sich der europäische Mensch mit der Usurpation des Subjekts versetzt hatte. Indem es sich selbst zum Subjekt und das Du (und mit ihm die ganze sogenannte Außenwelt) zum Objekt erklärte, suchte sich das Ich des Du zu bemächtigen. Aber das Du ist in Wirklichkeit ständige Voraussetzung des Ich und ihm letztlich immer entzogen. Es enthält als Möglichkeit immer eine Negation, die sich in keiner Dialektik mehr aufheben lässt: Das Du kann das Ich vernichten. Diese existenzielle Bedrohtheit, deren Abwehr der Subjektbegriff diente, kommt nun zu Bewusstsein, ebenso wie 14 Vgl. Kerman 1979.
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das fundamentale Potenzial von Gewalt, das von Anfang an einer jeden Beziehung von Ich und Du innewohnt. Psychoanalytische Konzepte können helfen, den inneren Zusammenhang von Negation und Gewalt durchsichtig werden zu lassen. Die Begriffe von Negation und Gewalt, die sich hierbei ergeben, nehmen nicht in erster Linie konkrete Aktionen oder ihre physischen Folgen, sondern vor allem das in den Blick, was Negation und Gewalt bedeuten kann, also die psychologische Dimension. Nur in ihr lassen sich auch die musikalischen Signaturen von Negation und Gewalt adäquat erfassen. Eine derartige Begrifflichkeit lässt sich etwa gewinnen aus dem Konzept des „impingement“ von Donald W. Winnicott. Er beschreibt Negation und Gewalt in der prototypischen Situation der Abhängigkeit des Ich vom Du, der frühen Mutter-Kind-Beziehung: „Wenn alles gut geht, kann das kleine Kind (infant) nicht wissen, was ihm zur Verfügung gestellt und wovor es bewahrt wird. Nur wenn es nicht gut geht, merkt das Kind, nicht dass die Mutter versagt hat, sondern die Folgen, welcher Art auch immer, dieses Versagens; das heißt, das Kind merkt, dass es auf eine Einwirkung (impingement) reagieren muss. Wenn die mütterliche Fürsorge hinreicht, wird im Kind eine Kontinuität des Seins aufgebaut, die die Basis für Ich-Stärke ist; Folge des Versagens (failure) mütterlicher Fürsorge ist dagegen jedes Mal, dass die Kontinuität des Seins unterbrochen wird vom Reagierenmüssen auf die Folgen dieses Versagens, wodurch das Ich geschwächt wird. Derartige Unterbrechungen stellen eine Vernichtung (annihilation) dar und sind offensichtlich mit Schmerz von psychotischer Qualität und Intensität verbunden. Im Extremfall existiert das Kind ausschließlich auf der Basis einer Kontinuität von Reaktionen auf Einwirkungen und von Wiederherstellungen (recoveries) nach solchen Reaktionen“.15
Gewaltsam kann demnach eine Einwirkung heißen, wenn sie die Kontinuität des Seins unterbricht und zu einer Reaktion zwingt. Winnicott kennzeichnet eine solche Einwirkung als Vernichtung; denn sie schafft, wenn auch vielleicht nur momentan, eine Situation, in der die kontinuierliche Funktion des Ichs unterbrochen ist, also eine psychotische Situation. Der Grenzfall der auch biologischen Vernichtung ist hier eingeschlossen; denn was die Bedrohtheit der Funktion des Ich betrifft, besteht kein Unterschied zwischen Tod und Psychose. Hervorzuheben ist, dass Winnicott hier weniger ein konkretes Handeln der Mutter vor Augen hat, wie wir zunächst vielleicht erwarten würden, wenn von gewaltsamer Einwirkung die Rede ist, als vielmehr das Versagen, also das Fehlen oder Verfehlen oder auch Verweigern der mütterlichen Funktion. 15 Winnicott 1960 (Übers. v. Verf.).
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Winnicotts Beschreibung lässt sich unmittelbar auf Problem und Geschichte des Subjektes übertragen. Dessen fiktive apriorische Gegebenheit entspricht dem Erleben des Ich, das von keinem Gewordensein und von keinem Nichtgewesensein weiß; in dem Moment, wo das Ich beginnt, da zu sein, ist es für alles, was es weiß, immer schon da gewesen. Das Subjekt-Konzept dient aber auch dem Abwehrbedürfnis des Ich, das den ständig drohenden Kollaps seiner Identität und Kontinuität und das Bewusstwerden seiner durchgängigen Bedingtheit und existenziellen Abhängigkeit fürchtet wie den Tod. Wie auch André Green (mit Bezug auf Hegel) bemerkt, entsteht Subjektivität „aus Not, wie ein Prellbock gegen die Gefahr der Vernichtung in einer Welt, von der man getrennt ist und die als solche feindlich geworden ist, da sie mit einem selbst nicht übereinstimmt“.16 Die vielfältigen Varianten und Hierarchien der „Arbeit des Negativen“, die Green beschreibt, bewegen sich zwischen zwei Polen, die ich als „Verneinung“ und „Vernichtung“ begrifflich voneinander trennen möchte. Verneinung ist eine logische Operation, in der das, was verneint wird, denkmöglich bleibt, ja sogar in seiner Denkmöglichkeit bekräftigt wird. Verneint werden lediglich Attribute; das Ich, die subjektive Struktur, bleibt von der Verneinung unberührt. Vernichtung setzt dagegen die Voraussetzung von Logik außer Kraft, denn sie setzt das Ich außer Funktion. Während Verneinung in sprachliche Strukturen eingeprägt ist und in ihnen dargestellt werden kann, ist Vernichtung dem sprachlichen Ausdruck letztlich entzogen. Sprache kann Vernichtung niemals darstellen, sie kann nur auf sie verweisen, denn Vernichtung ist das Undenkbare schlechthin. Ein großer Teil der Arbeit des Ich wie auch aller Kulturarbeit besteht in dem Bemühen, Vernichtung in Verneinung zu transformieren. Auch Beethoven hat zweifellos deshalb komponiert. Die unterschiedlichen Formen und Signaturen, die sich hier ergeben können – und die auch in Beethovens Musik zu finden sind –, entsprechen den unterschiedlichen kreativen und kompromissbildenden Lösungsversuchen, die das Ich finden muss, um eine mit Vernichtung drohende Negation zu bewältigen. Auf eine gefühlte oder tatsächliche Bedrohung antwortet das Ich aber nicht nur mit Verarbeitungs- und Denkvorgängen, sondern primär und von seiner biologischen Basis her mit einer „fight-flight“-Reaktion. Von daher kann insbesondere manifest gewaltsames Verhalten in der Regel als Reaktion auf eine gefühlte oder tatsächliche Bedrohung des Ichs verstanden werden.17 Auch scheinbar unmotivierte Gewaltausbrüche können als Versuche gelten, einen drohenden Kollaps oder Kohärenzverlust des Ichs abzuwehren. Die von Glasser getroffene Unterscheidung zwischen selbstverteidigender und sadistischer Gewalt (Perelberg 1999) setzt die 16 Green 1993 (Übers. v. Verf.). 17 Mitchell 1993; Fonagy 1993.
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Durchgängigkeit dieser Regel nicht außer Kraft, denn auch sadistische Gewalt dient der Kontrolle und „Objektifizierung“ des als bedrohlich erlebten Du.
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Negation des Subjekts und gewaltsame Reaktion in der Hammerklaviersonate
Meiner Interpretation zufolge sah sich der späte Beethoven der Aufgabe gegenüber, Verneinung und Vernichtung musikalisch darzustellen. Von ihrem Ursprung im Primärprozess und ihrem Wesen als „urteilslose Logik“18 her ist Musik a priori nicht einmal in der Lage, Verneinung darzustellen. Weder der einzelne Ton noch die primordiale Beziehung zwischen Tönen lassen sich verneinen. Hat die Musik jedoch einmal sprachähnliche bzw. subjektive Strukturen entwickelt, so ist damit auch die Möglichkeit gesetzt, diese zu negieren. In der Neunten Symphonie (vollendet 1824) wählt Beethoven, um Verneinung auszudrücken, tatsächlich den Übertritt in die verbale Sprache, deren Struktur Verneinung als Möglichkeit enthält; ich vermute daher, dass es nicht so sehr der Übergang zur menschlichen Stimme als vielmehr der zur Sprache ist, der in der Neunten Symphonie den Einsatz von Sängern motiviert. Demgegenüber ist die – annähernd gleichzeitig konzipierte, aber einige Jahre früher vollendete – Hammerklaviersonate Schauplatz von Beethovens Bestreben, nicht nur Verneinung, sondern auch Vernichtung und die instinktiv-elementare Gewalt, die auf die Vernichtungsdrohung reagiert und das Subjekt zu restituieren versucht, mit musikalischen Mitteln Gestalt werden zu lassen. Zwar kehrt die Hammerklaviersonate in mancher Hinsicht zur klassischen Geschlossenheit der Form zurück, die besser geeignet ist, Gegensätze und Spannungen zum Austrag zu bringen, als die offen-rhapsodischen und zyklischen Formen, mit denen Beethoven in den Jahren zuvor experimentiert hatte.19 Aber das ist kein rückwärtsgewandter Schritt. Denn die Aussage und zugleich die Wahrheit der Hammerklaviersonate ist, dass diese Form nur noch mit geradezu nackter Gewalt zum Abschluss gebracht wird. Der Versuch der Neunten Symphonie, das Du im „Seid umschlungen, Millionen“ noch einmal aufzuheben, verfängt dagegen nicht mehr. In den Streichquartetten, denen Beethoven seine letzten drei Jahre fast ausschließlich widmet, spricht er nur noch zu wenigen. In einer ausführlichen Analyse habe ich, bezogen auf die drei Repräsentanten der musikalischen Subjektivität: Tonalität, Thematik und Formtypus, detailliert 18 Adorno 1993; vgl. auch Adorno 1963. 19 Vgl. Rosen 1997.
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gezeigt, wie sich in der Hammerklaviersonate Negation des Subjekts darstellt.20 Ferner habe ich die Ausdrucksformen von Gewalt aufgezeigt, die sich in der Hammerklaviersonate finden. Es wäre ein Missverständnis, wenn der Eindruck entstünde, die Hammerklaviersonate sei mit den Kategorien „Negation“ und „Gewalt“ vollständig charakterisiert. Aber die Signaturen von Negation und Gewalt in der Hammerklaviersonate erweisen sich als so zahlreich und durchgängig, dass diese Thematik als zentraler Bestandteil der „poetischen Idee“ des Werkes gelten muss. Exemplarisch sei hier auf die Coda des zweiten Satzes eingegangen, wo die Negation des tonalen Subjektes am deutlichsten hervortritt (Abb. 4.1). Der Satz trägt die Überschrift „Scherzo – Assai vivace“ und steht wie die ganze Sonate in B-Dur. Aber das erweist sich als trügerische Äußerlichkeit. Zwar beginnt und endet der Satz in B-Dur, wie sich das gehört. Aber am Beginn der Coda, nachdem B-Dur bereits im Forte wieder erreicht und durch Kadenz bestätigt ist, erscheint auf einmal der Ton „H“. Man hört dies als neapolitanische Sekunde, also als erniedrigte II. Stufe; aber Beethoven schreibt nicht „Ces“, wie es dann korrekt wäre, sondern „H“, also eine Negation des Grundtons: „H“ ist „B“ mit einem Auflösungszeichen. Die Negation kommt leise daher, die Reaktion darauf ist laut. Zweimal werden „B“ (Forte) und „H“ (Piano) gegeneinander gesetzt, dann erscheint, wo man wieder „B“ (Forte) erwarten würde, stattdessen „Ais“ (Piano). Den dynamischen Wechsel kann man unmittelbar hören, den enharmonischen Wechsel (von „B“ zu „Ais“) dagegen nicht; man kann ihn allenfalls aus dem funktionalen Zusammenhang mit dem Folgenden erschließen. Er ist bedeutsam und belegt zugleich, dass vorher „H“ statt des akustisch identischen „Ces“ keine Nachlässigkeit im Schreiben ist, sondern dass Beethoven sehr genau notiert. Der enharmonische Wechsel von „B“ zu „Ais“ kann nur bedeuten, dass „B“ gewissermaßen nachgibt und unter die h-mollIdentität gezwungen wird. Dieses Nachgeben der Tonart-Identität, das durch die dann folgende h-moll-Version des Kopfmotivs bekräftigt wird, führt zunächst zu einem Stocken des musikalischen Flusses (Beethoven schreibt, genau kalkulierend, „un poco ritardando“ vor). Die Reaktion darauf ist manifest gewaltsam, der Satz prügelt sich mit einem fast klonischen Presto-Ausbruch förmlich nach B-Dur zurück, um dort mit einer Floskel zu enden, der man die Verharmlosung des Geschehenen anhört. Es wird so getan, als sei „nichts passiert“.
20 J. Picht 2007.
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Das oszillierende Gegeneinander von B-Dur und h-moll an dieser Stelle lässt sich mit keiner herkömmlichen harmonischen Operation erklären, es ist keine Rückung, schon gar keine Modulation. Man kommt nicht umhin, festzustellen, dass diese Takte in zwei einander widersprechenden Tonarten zugleich stehen. Dies ist, soweit meine Kenntnis reicht, beispiellos. Beethoven sprengt damit den Rahmen der herkömmlichen Tonalität und lässt ihn zugleich stehen; das gilt latent für die ganze Sonate, aber hier kommt es zutage. In der Coda eines kurzen Scherzos führt es darüber hinaus zu einer auch formalen Krise, denn es ist kein Platz mehr, die hier aufbrechende Spannung innerhalb der Proportionen der Form musikalisch zu vermitteln und die tonale Identität wieder sicher zu etablieren. Das Stocken des musikalischen Flusses in diesem Moment erscheint deshalb als Ausdruck von Ratlosigkeit, ja sogar von Angst. Sie schlägt um in eine gewaltsame Reaktion, mittels derer der von der Konvention erforderte Schluss in B-Dur erzwungen wird. Dieser Presto-Raptus ist zwar noch in einem zählbaren Metrum notiert, lässt sich aber nicht mehr in eine klassische Syntax und Semantik von Figur, Motiv oder Me-
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lodie einordnen. Die musikalische Sprachlichkeit erscheint hier durchbrochen von einem geradezu körperlichen, nah am Geräusch angesiedelten Affektausbruch. Erst durch ihn hindurch wird wieder „B“ erreicht. B-Dur ist im Beethoven’schen Werk eine häufige Tonart mit breitem Affektspektrum. Ebenso wie die Nachbartonarten hat es meist eine diesseitige, bestätigende Färbung, weniger heroisch als die Eroica-Tonart Es-Dur, wenn auch weniger naturhaft als die Pastoraltonart F-Dur. Man ist versucht zu sagen: „B“ wie Beethoven; es scheint jedenfalls eine Tonart, die sich gut eignet, das persönliche Subjekt zu repräsentieren. Wie Es-Dur ist B-Dur eine ausgesprochene Blechbläserund Fanfarentonart; das befreiende Trompetensignal im „Fidelio“ steht natürlich in B-Dur. Dieser positive Charakter wird in der Hammerklaviersonate unterstrichen von dem Text, den das Kopfthema des ersten Satzes ursprünglich vertonen sollte: „Vivat vivat Rudolphus“ – gemeint ist Erzherzog Rudolph von Habsburg, Neffe Josephs II. und jahrelang Freund, Schüler und Förderer Beethovens, dem eine imposante Reihe der wichtigsten Werke gewidmet ist, so auch die Hammerklaviersonate. Ganz anders h-moll, eine vom Grundton her unmittelbar benachbarte, im System des Quintenzirkels aber weit entfernte und im Beethoven’schen Werk seltene Tonart. In ein Skizzenbuch von 1816 schreibt Beethoven die Bemerkung „h-moll schwarze Tonart“.21 Die vielleicht bedeutendste Referenz für h-moll in Beethovens Werk ist das „Agnus Dei“ aus der Missa Solemnis mit der Textzeile „Miserere nobis“. Auch von der Tonartencharakteristik her erscheint somit h-moll als negatives Gegenstück zu B-Dur. Alfred Brendel (persönliche Mitteilung) hat mich darauf hingewiesen, dass das Scherzo der Hammerklaviersonate als „Burleske“ aufzufassen und somit die Frage nach der Beziehung des Komischen zum Destruktiven aufgeworfen ist. Dies ist ein für Beethoven sehr charakteristischer Zug. Wenn Rosen (³1997) die Coda als „a brutal joke that is as much sinister and dramatic as good-humoured“ bezeichnet, dann scheint mir das letzte Attribut allerdings einem Verharmlosungsbedürfnis geschuldet.
21 Uhde 1986.
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Von Prometheus zu Dionysos: Beethoven zwischen Hegel und Nietzsche
Für Adorno (1993) besteht eine enge Beziehung zwischen Beethovens Musik und der Philosophie von dessen Zeitgenossen Hegel. Bei Hegel wird Negation entdeckt als Motor der Geschichte wie auch der Entwicklung von Subjektivität und Selbstbewusstsein. Aber die subjektiv-metaphysische Grundstruktur des Denkens bleibt im Hegelschen System in Gestalt des „absoluten Geistes“, der durch die Geschichte hindurch zum Bewusstsein seiner selbst kommt, erhalten. Erst bei Nietzsche bricht sich die philosophische Erkenntnis Bahn, dass die Denkfigur des Subjekts selbst als zeitenthobener Identität eine Illusion ist und – psychoanalytisch gesprochen – einem Abwehrbedürfnis entspricht. Lässt sich die Hammerklaviersonate so verstehen, dass Beethoven, über Hegel hinausgehend, diese prinzipielle Negation des Subjekts vorausgeahnt hätte? Kehren wir nochmals zurück zu der Coda des zweiten Satzes. Indem er hier für einen kurzen Zeitraum von wenigen Takten offenbar werden lässt, dass zwei einander negierende Tonarten zugleich bestehen, sprengt Beethoven den Rahmen der herkömmlichen Tonalität. Zwar lässt er ihn zugleich stehen; die kurze Konfrontation reicht aber aus, die B-Dur-Affirmation und damit das Prinzip der tonalen Identität als Illusion zu entlarven. Eine dialektische Synthese findet nicht mehr statt. Der anschließende Presto-Klonus lässt, indem er sie überschreitet, die Grenze zwischen musikalischer Sprachlichkeit und kaum strukturiertem Geräusch bewusst werden. Für einen Moment bricht hier etwas Archaisch-Wüstes in die Musik ein, das ihre herkömmlichen „verfeinerten“ Ausdrucksweisen und ästhetischen Gesetze außer Kraft setzt und als ephemeren Firnis bloßstellt, der der Gewalt dieses Untergrunds kaum gewachsen ist. Dieser Ausbruch hat etwas Betäubendes, ja er kann an die Herkunft der Musik aus dem Lärm erinnern, mit dem das Todesröcheln des Opfertiers übertönt wird.22 Es scheint hier, als müsse die Negation selbst wiederholt werden, bis sie so weit transformiert ist, dass sie ihrerseits verneint werden kann. Gleich danach erscheint das Kopfthema wieder in B-Dur in einem tändelnden, echohaften Pianissimo, als sei nichts geschehen. Hier ist der Abwehrmechanismus der Verleugnung musikalisch dargestellt; das thematische und tonale Subjekt erscheint als Farce. Allerdings wird es auch nicht aufgegeben. Aber es ist vom Nihilismus ausgehöhlt. Das Dionysische, das hier wirksam wird, lässt an den Dionysos-Propheten Nietzsche denken. Bei Beethoven wie bei Nietzsche ist Dionysos nicht ohne Antipoden denkbar: nicht nur Apollon steht er gegenüber, sondern auch Christus. 22 Vgl. Türcke 2001.
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Konzeptionelle Überlegungen zu einer Neunten und Zehnten Symphonie, die sich mitten in den Skizzen zur Hammerklaviersonate finden, belegen die Idee einer Verknüpfung beider Prinzipien in Form von „Adagio Cantique…Herr Gott Dich loben wir“ und „im Allegro Feier des Bacchus“.23 Dies legt nahe, auch in der Hammerklaviersonate nach Spuren dieser Verknüpfung zu suchen. Begnügt man sich jedoch nicht mit der bloßen Feststellung eines Nebeneinanders, will man die Bedeutungszusammenhänge genauer verstehen, dann eröffnet sich ein komplexer Horizont, den ich hier nur andeuten kann. Beethovens Beziehung zum Religiösen ist nicht unter einen einfachen Begriff zu bringen, und sie ist insbesondere nicht zu erfassen, wenn man unter Religiosität nur Christentum versteht. In Beethovens Entwicklung erscheinen Figuren der griechischen Mythologie in Momenten der Krise und der Neuorientierung. An die Stelle von Prometheus, der Beethovens „heroische“ Periode eingeleitet und beherrscht hatte, tritt als Leitund Zäsurfigur des Spätwerks Dionysos. Beiden, Prometheus und Dionysos, ist gemeinsam, dass sie bestehende Ordnungen herausfordern und gefährden. Beide weisen Züge auf, die sie Latenzen der Christusfigur verkörpern lassen. Prometheus, der die Menschen erschaffen hat, ist wie Christus Mittler zwischen der Götterwelt und den Menschen, denen er das göttliche Licht und Feuer bringt; was aber im Christentum als Gnade Gottes erscheint, ist bei Prometheus ein räuberischer Akt der Rebellion gegen Gottvater. Der zur Strafe an den Kaukasus geschmiedete Titan Prometheus ist zugleich Bruder des gefallenen Engels Lucifer und Vorläufer des zur Sühne gekreuzigten Christus. In Beethovens Umdeutung des Prometheus-Mythos – wie man sie in dem Salvatore Viganó zugeschriebenen, sicherlich aber von Beethoven entscheidend beeinflussten Libretto zu dem Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“ findet – laufen die Menschen, kaum dass sie entstanden sind, Gefahr, von Prometheus in enttäuschtem Zorn vernichtet zu werden. Prometheus selbst wird von Melpomene erdolcht, dann jedoch von Pan und seinen Faunen wieder zum Leben erweckt.24 Das bedeutendste kirchenmusikalische Werk aus Beethovens mittlerer Periode, das Oratorium „Christus am Ölberge“ (op. 85), zeigt Christus in dem einen Moment, in dem er dem Willen des Vaters einen eigenen Willen entgegensetzt, und der Zorn Christi gegen die schlafenden Jünger ist ein genaues Analogon zu der Enttäuschung des Beethovenschen Prometheus über seine Geschöpfe. Thomas Mann hat diese Szene im Doktor Faustus zum Ausgangspunkt einer Identifikation des „prometheisch“ ringenden Beethoven mit Christus gemacht. 23 Rexroth 1979. 24 Vgl. Schleuning 1999.
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Mit Prometheus ist eine Identifikation möglich; sie verspricht eine Bestätigung eigener Subjektivität im Sinne von radikalem Neuentwurf und Behauptung gegen reaktionäre Kräfte. Dieses „titanische“ Pathos hat namentlich im deutschen Kulturraum eine Tradition, die von Luther über Beethoven bis Sigmund Freud reicht.25 Dagegen steht die Gestalt des Dionysos jenseits der Reichweite des Subjekts. Mit Dionysos identifiziert man sich nicht, man wird von ihm ergriffen und in eine Bewegung versetzt, die aus allen Identifikationen herauszureißen imstande ist. Dionysos ist Kontinuum gegen Struktur, Zeit gegen Raum, Veränderung gegen Beständigkeit. In einer Zeit, in der sich die Götter an den Himmel zurückgezogen haben und zu abstrakten Prinzipien und Idealen geworden sind, ist Dionysos derjenige Gott, der diese Distanz aufhebt, der unter und in die Menschen fährt, sie berauscht und verstört und ihre eingefahrenen moralischen Ordnungen hinwegfegt. Der „Enthusiasmus“, die Erfahrung, dass Gott in die Menschen fährt, ist mit allem Schrecken, den dies auslöst, der Kern und zugleich die verborgene Kehrseite der christlichen Lehre von der „Menschwerdung Gottes“. Dass die Analogie Dionysos-Christus ein in der Beethovenzeit präsenter Topos war, belegt etwa Hölderlins Hymne „Brot und Wein“. Dionysos hat viele Gesichter, sie reichen vom Rausch des Zerstörens bis zur sublimen Spiritualität. Der Dionysos der Hammerklaviersonate scheint ein Abkömmling des finsteren Dionysos Zagreus, Sohn der Persephone, zu sein. Erinnern wir uns an den destruktiven Impuls des Beethoven-Viganóschen Prometheus, der seine Geschöpfe aus Enttäuschung wieder vernichten will, den eine „innere Stimme“ aber davon abhält. Stattdessen werden sie zu Apollon in eine höhere Sphäre verbracht, wo sie zu Menschen im Sinne eines humanistischen Ideals erzogen werden. Dem Beethoven der Bacchus-Oper und der Hammerklaviersonate ist es nun aber nicht mehr möglich, Konstruktives und Zerstörerisches auf der „höheren Sphäre“ einer Synthese zum Ausgleich zu bringen. Kein Ideal und kein Wille vermögen das Negative mehr einzubinden und aufzuheben. Es bleibt nur, die Negation selbst zu einem Teil des kompositorischen Konzepts zu machen. „Da haben Sie eine Sonate, die den Pianisten zu schaffen machen wird, die man in fünfzig Jahren spielen wird!“ Es wäre eine lächerliche Banalisierung, diese auf die Hammerklaviersonate bezogene Bemerkung Beethovens (in einem Brief an seinen Verleger, vgl. Uhde 1986) nur auf die spieltechnischen Probleme zu beziehen, so als sei es ihm darum gegangen, die Fingerfertigkeit der Pianisten herauszufordern. Mit dem zu seiner Zeit aufkommenden Virtuosentum haben die Schwierigkeiten der Hammerklaviersonate wenig zu tun. Beethoven ist sich vielmehr bewusst, dass er Musik der Zukunft schreibt. Auch dies erinnert an Nietz25 Vgl. Weizsäcker 1978.
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sche und dessen Entwurf einer „Philosophie der Zukunft“.26 Aber was bedeutet es, Musik der Zukunft zu schreiben? Wir können von heute aus erkennen, dass die Hammerklaviersonate kompositionstechnische Elemente enthält, die auf die Neue Wiener Schule, auf Schönberg und seine Schüler vorausweisen. Dies bedeutet jedoch nicht mehr, als dass Beethoven derartige Problemstellungen bereits gegenwärtig waren. Dass zunächst über Jahrzehnte hinweg niemand daran anknüpfte und diese Stellen deshalb auf uns heute prophetisch wirken, ist ihm nicht zuzuschreiben. Musik der Zukunft bedeutet mehr als bloße Avantgarde. Sie entsteht nicht schon dadurch, dass tradierte Strukturen einfach aufgegeben und durch andere ersetzt werden; hätte Beethoven z. B. atonale Musik geschrieben, wäre dies noch keine auf Zukunft als Modus verweisende Musik, sondern lediglich ein Experiment mit einer anderen Gegenwart gewesen. Das radikal Zukünftige, das Beethoven in der Hammerklaviersonate in die Musik einführt, besteht nicht in den technischen und stilistischen Neuerungen, die sie auch enthält; sondern was diese Musik zu einer Zukunftsmusik macht, ist dieser Zukunfts- und damit Geschichtsbezug selbst. Die Hammerklaviersonate repräsentiert in anderer Weise als alle Musik vor ihr die Geschichte als Inhalt der Musik. Sie tut dies nicht nur, indem sie Reminiszenzen und Antizipationen enthält. Ihr Geschichtsbezug ist nicht nur Darstellung von Geschichtlichem, sondern Hervorbringen von Geschichte. Sie verabschiedet sich davon, die Gegenwart, dem metaphysischen Horizont entsprechend, für eine Inkarnation der ewigen Gegenwart des Kosmos zu halten. Sie will vielmehr ein Aufbrechen von der Gegenwart in die Offenheit der Zukunft. „Aufbrechen“ ist hier im vollen Wortsinn zu verstehen: Das Verlassen des gegenwärtigen Ortes bedeutet einen Bruch mit den Traditionen und Strukturen, die der Gegenwart ihr Gepräge geben. Um dies als musikalischen Vorgang zu zeigen, muss Beethoven eine Musik entwerfen, die zu den Strukturen, aus denen sie im jeweiligen Moment besteht, eine immer wieder aufweisbare Distanz herstellt. Eine solche Musik darf nicht in ihren Strukturen ruhen und sich nicht mit deren Präsentation begnügen. Dargestellt werden muss vielmehr im musikalischen Prozess selbst, wie die Struktur, indem sie entsteht, schon abstirbt, hülsen- und scheinhaft wird.27 Die Norm besteht noch, aber der Verlust ihrer Bedeutung wird deutlich gemacht. Die Mittel, mit denen dies geschieht, sind die vielfältigen Formen der Negation, die ich dargestellt habe. Deshalb sucht und betont Beethoven in der Hammerklaviersonate wie im gesamten Spätwerk die klassischen Strukturen, bricht sie zugleich aber ständig wieder auf, lässt sie offen und ungewiss werden. Er konstituiert das Subjekt, um 26 Vgl. G. Picht 1988. 27 Vgl. Adorno 1937; Adorno 1963.
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seine Brüchigkeit und Fiktionalität, letztlich aber um seine Geschichtlichkeit zu demonstrieren. Diese Versetzung in einen radikal zeitlichen Sog ist das eigentlich Dionysische in Beethovens Spätwerk.
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Abschließende Bemerkungen
Wie kaum ein anderer Komponist vor oder nach ihm hat Beethoven immer neu um formale Konzeptionen gerungen, in denen jedes Element schlüssig auf alle anderen Elemente so bezogen ist, dass ein kohärentes Ganzes entsteht.28 Zugleich hat kein anderer dieses Ganze größeren Spannungen ausgesetzt als er. Mit den gefundenen Wegen und Lösungen war er nie zufrieden. Sein Werk ist geradezu eine Enzyklopädie von Formen, wie subjektive Identität zunächst vorausgesetzt oder postuliert, dann entwickelt, erkämpft, erzwungen wird; wie sie angezweifelt, unterminiert, zerstört wird; und wie sie gewaltsam restituiert, erheuchelt, erfleht und schließlich in ihrer illusionären Flüchtigkeit transparent wird. Findet sich für diesen musikalisch-psychologischen Vorgang eine Entsprechung in dem, was wir über den Menschen Beethoven, seine Entwicklung und seine Geschichte wissen? Ist das, was einerseits Dokument einer geistesgeschichtlich sich Bahn brechenden Erkenntnis ist, andererseits Ausdruck einer persönlichen Erfahrung? War gerade Beethoven aus persönlichen Gründen disponiert dazu, die Thematik der Bedrohtheit des Subjekts durch Negation in derartiger Tiefe und Vielfalt aufzugreifen und zu gestalten? Ist vielleicht die Krise des Subjekts das Gemeinsame, wodurch das musikalische Subjekt mit dem biographischen Subjekt Beethoven verbunden ist? Es liegt uns allzu nahe, der Illusion zu verfallen, wir verstünden ein Kunstwerk, wenn wir es mit Daten aus der Biographie des Künstlers verknüpfen können – so als wüssten wir irgendetwas über den kausalen Charakter einer solchen Verknüpfung. Würden wir die musikalischen Sachverhalte durch die Biographie kausal zu erklären versuchen, so würde dies unser Verständnis einengen, ja verhindern. Zwar kann das Biographische als ein zusätzlicher Resonanzraum dienen, als Ort der Anreicherung mit Assoziationen, als Illustration. Die Relation wäre dann eine ähnliche wie die zwischen den verschiedenen Elementen einer psychoanalytischen Kasuistik, über deren „musikalischen“, d.h. nicht-kausalen und doch nicht beliebigen Bezug zueinander man aus der Vertiefung in Beethovens Musik und ihre Technik der motivischen Verknüpfungen viel lernen kann. Gerade Beethovens Werk legt es ja, wie schon gesagt, nahe, nach dem Menschen Beethoven zu fragen, und hier findet sich in der Tat eine Fülle von Hinweisen auf 28 Vgl. Gülke 2000.
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eine verunsicherte Identität und ihre Folgen.29 Aber wir laufen dabei Gefahr, dem Sog einer Abwehr zu erliegen, die das Unerhörte der Erkenntnis, die aus Beethovens Musik spricht, in bequeme „Erklärungen“ zurückbiegen möchte. Was lässt sich hier überhaupt erklären? Während sich das Prometheische einer psychoanalytisch-theoretischen Perspektive noch relativ – und trügerisch – mühelos zu fügen scheint, indem man zum Beispiel Prometheus zum „replacement child“ des Ödipus macht, sind alle Versuche, Dionysos in einen theoretischen Bezugsrahmen einzufügen, von vornherein mit dem Makel behaftet, dass ihr defensiver Aspekt nur allzu offensichtlich ist. Eine Theorie ist eine subjektive Struktur; ein Prinzip, das subjektive Strukturen auflöst, setzt sich über jeden Versuch, es theoretisch einzufangen, hinweg. Die psychoanalytische Praxis ist schon immer und unaufhörlich mit Dionysischem konfrontiert. Es ist deshalb bemerkenswert, dass die Psychoanalyse über weite Strecken ihrer Geschichte dem Thebanerkönig Pentheus gleicht, dem der wüste Gott ein Graus war und der ihn fesseln wollte, aber statt seiner nur einen Stier zu fassen bekam. Die Nüchternheit des Pentheus erweist sich als Form des Wahnsinns; gerade indem er Dionysos zu bändigen meint, ist er ihm erlegen. Dionysos geht auch in einer Triebtheorie nicht auf, er lässt sich nicht auf Biologisches reduzieren; vor allem aber unterläuft er die Fiktion einer Distanz und Differenz des Erkennenden zum Erkannten, die einer jeden theoretischen Konzeptionalisierung zugrunde liegt. Bei Beethoven führt die Begegnung mit dem Dionysischen dazu, dass die subjektiven Strukturen – das, was die Musiktheorie beschreiben kann – transparent werden für eine Zukunft, die sie durch ihre eigene Auflösung eröffnen. Auch psychoanalytische Konzeptionen können, das, was er gestaltet hat, heute zwar begrifflich ein Stück weit einholen. Wir müssen dabei eingestehen, dass er uns nicht nur zeitlich, sondern auch in der Differenzierung und der strukturellen Abstraktion und Allgemeinheit, wie sie nur der musikalischen Sprache eignet, weit voraus ist. Diese Musik setzt aber nicht nur ihre eigenen Strukturen, sondern zugleich auch unsere Muster des Erklärens außer Kraft. Sie zeigt, dass sie nicht einfach „Material“ ist, auf das die Methoden und Konzepte der Psychoanalyse angewandt werden können. Sie ist vielmehr ihrerseits „Psychoanalyse“ in dem Sinne einer differenzierten Kenntnis psychischer Abläufe, die sie präziser, vielfältiger, knapper und offener darstellen kann als die verbale Sprache, die wir sonst benutzen müssen. Der Vorteil der Musik ist, dass sie nicht in Aussagesätze gebunden ist. Sie ist von dem, was sie beschreibt, nicht getrennt, sondern hebt es in sich auf, ohne es zu verfestigen. 29 J. Picht 2008.
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Mendelssohn, Schubert, Liszt, Bruckner Ihre Frömmigkeit, ihre Kirchenmusik Peter Planyavsky
Franz Schubert wurde 1797 geboren, Anton Bruckner ist 1896 gestorben; innerhalb dieses Zeitraumes finden auch die Lebensspannen von Mendelssohn und Liszt Platz. Wir befassen uns also mit einem Zeitraum von ziemlich genau 100 Jahren. Wenn man diese 100 Jahre mit denen davor und mit denen danach vergleicht, stellt man fest, dass die Voraussetzungen für die Kirchenmusik nicht ideal waren. Für die Kirchenmusik der Lutheraner merkt Georg Feder an, dass es zu Mendelssohns Zeit eine bodenständige, verpflichtende Tradition gerade in der protestantischen Kirche nicht mehr gab und dass sich damals die Theoretiker der Liturgie und der Kirchenmusik ständig neue Gedanken darüber machten, wie die „wahre Kirchenmusik“ am „vernünftigsten“, „zweckmäßigsten“ und „erbaulichsten“ zu gestalten sei.1
Eine der Säulen der protestantischen Kirchenmusik, die Singeschulen bzw. die Schulchöre, war durch die Entwicklung der alten Lateinschulen zu modernen Gymnasien allmählich eingebrochen. Die Kurrende kam als Relikt einer Kirchlichkeit in Verruf, die in der säkularisierten Umwelt mehr und mehr belächelt wurde. Mit lateinischen Motetten und Chorälen durch die Straßen zu ziehen hatte in der modernen Welt keinen Platz mehr. Der neu entstehende Konzertbetrieb – zunächst eine Sache des Bürgertums, dann auch der städtischen Verwaltung – entzog 1
Feder 1978, S. 104.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_11
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der kirchlichen Musikpflege finanzielle und personelle Kräfte. Dazu kommt eine neue Sicht auf die Ziele des Gottesdienstes; sein Wert wurde in der Aufklärung allein nach seiner erbaulichen Wirkung bemessen. Die Predigt hatte den Vorrang, was sich beim Kirchenbau gelegentlich in der Anbringung der Kanzel unmittelbar über dem Altar manifestierte. „Edle Simplizität“ war das neue Zauberwort. Oberster Zweck der Kirchenmusik war fortan die Erbauung, d.h. die Erregung andächtiger Gefühle. Und so konnte man am Ende des 18. Jahrhunderts hören – z. B. von Johann Adam Hiller –, dass „Musik zur Erweckung der Andacht zwar nicht überflüssig, aber auch nicht unentbehrlich ist“. Der Zweck der Erbauung sollte im übrigens für alle Gemeindeglieder gelten; „nicht nur Latein- und Musikkenner“ sollten die Figuralmusik und die Choralvorspiele verstehen können, sondern allen sollte alles verständlich sein. Diese Geschmacks- und Stilwende äußert sich generell in einer Bevorzugung des Melodischen und im Zurückdrängen des Kontrapunktischen. „Daneben kommt immer stärker die Vorstellung auf, dass Simplizität und Würde sich am besten im pathetischen akkordischen Satz aussprächen.“2 Johann Sebastian Bachs Werke hatten ihre Bedeutung verloren; sie galten wegen zu großer Künstlichkeit und Mangel an Erbaulichkeit als unkirchlich. Die katholische Kirchenmusik hatte sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts noch nicht von den Reformen der Aufklärer erholt. Es sei nur kurz erinnert an den Salzburger Fürsterzbischof Hieronymus Graf Colloredo, der seinem Angestellten Wolfgang Amadeus Mozart Vorschriften über Länge und Gestaltung der Messkompositionen machte.3 Damit war er ganz auf der Linie der Herrschenden. Schon Maria Theresia setzte sich für den deutschen Volksgesang ein, und Joseph II. ist unter anderem mit seinem Verbot aufwändiger Begräbnisprozessionen in die Geschichte eingegangen (und mit der Erfindung des mehrmals verwendbaren Klappsarges). Die Forderung, den Gottesdienst bis in Details des Vollzuges rationaler und vernünftiger zu machen, musste notwendigerweise der Idee einer künstlerisch hochwertigen Kirchenmusik zuwiderlaufen. Aber auch materiell gesehen war der reformerische Einschnitt umfassend und folgenschwer. Unzählige Musiker und Sänger, die von den häufigen – bisweilen täglichen – Hochämtern gelebt hatten, wurden brotlos. Ich folge hier kurz einer Überschau von Karl Mitterschiffthaler, der im speziellen die Kirchenmusik in 2 3
Feder 1965, S. 221. Am Rande sei jedoch erwähnt, dass ein Produkt dieses Frontalzusammenstoßes die Form der Missa brevis et solemnis war, die Mozart gleichsam notgedrungen neu entwickeln bzw. zur Hochblüte treiben musste. Vgl. Planyavsky 2010b.
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Oberösterreich im Blick hatte; doch kann man seinen Befund getrost für den ganzen österreichischen Raum als gültig ansehen: Statt der lateinischen Hochämter an Wochentagen war nur mehr eine Segenmesse mit Normalliedern erlaubt. Musikinstrumente waren nur in Stadtkirchen bei Sonntags- und Festtagsgottesdiensten zugelassen. Für sämtliche kleineren Pfarren – und diese waren in der Provinz bei weitem in der Überzahl – wurde jegliche instrumental begleitete Musik verboten. […] Gegenüber feierlicher Kirchenmusik und lateinischem Gesang erhielten Predigt und muttersprachlicher „Normalgesang“ Vorrang. […] Dieser Niedergang der Kirchenmusik wurde durch das musikinteressierte Bürgertum, das sich in diesem Zeitraum immer mehr als kulturtragende Schicht etablierte, vor allem in den Städten teilweise abgefangen.4
Im Zuge einer Gegenüberstellung der evangelischen und der katholischen Situation mutet es für lutherische Ohren irritierend an, wenn Mitterschiffthaler als Resultat meldet: Binnen Kürze setzte sich der Volksgesang in der Messe als Idealform durch, führte schließlich zum Deutschen Hochamt5 und verdrängte das feierliche, instrumentalbegleitete lateinische Hochamt.
Zu all dem kamen noch die Ideen einer „neuen alten“ Reinheit der Sakralmusik; dergleichen wird man später auf der katholischen Seite in abgewandelter Form im Cäcilianismus wiederfinden. Die kulturgeschichtlichen Prämissen beruhen auf einer verklärenden Besinnung auf das Reine, Nicht-Zeitgenössische, das Natürliche und Erhabene. Einer der Urahnen dieser Anschauung war Anton Justus Friedrich Thibaut (1774–1840), der allein die menschliche Stimme – notabene ohne Instrumentalbegleitung gleichwelcher Art! – als geeignet erachtete, eine wahrhaft sakrale Musik hervorzubringen. Gemeinsam ist beiden christlichen Konfessionen, dass die zusehends autonom gewordene Sakralmusik nicht mehr in die statische Liturgie passen wollte, die in einer Art Wechselwirkung immer noch statischer wurde. Der Rationalismus, der die Liturgie – bzw. den Kultus, wie man damals lieber sagte – in beiden Konfessionen in die Enge trieb, drängte die sakrale Musik aus dem Raum des Sakralen hinaus. Carl Dahlhaus konstatiert: „Die Idee einer Musik, die religiös ist, ohne 4 5
Mitterschiffthaler 2008, S. 203f. Mit diesem terminus technicus wurden zwischen 1800 und 1965 je nach Zeitpunkt und Region durchaus verschiedene Typen der Gestaltung bezeichnet, worauf aber hier nicht eingegangen werden kann.
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liturgisch zu sein, war eines der zentralen Motive, die das ästhetische Denken der Epoche bestimmte.6 Es gilt aber auch, dass sich bereits wieder eine Trendwende anbahnt in der Zeit, in der die vier Komponisten wirken. Für den lutherischen Bereich hatte das Reformationsjubiläum von 1817 einige Anstösse gegeben; so erschien 1818 der „Versuch einer musikalischen Agende“ von Johann Friedrich Naue. König Friedrich Wilhelm III. setzte sich persönlich dafür ein, dass neben der Predigt auch dem Gebet und dem Gesang wieder mehr Raum gegeben werden sollte. Katholischerseits wurden die Vorschriften der Reformer offen oder versteckt ignoriert, sodass sie allmählich Stück für Stück wieder außer Kraft gesetzt und 1850 endgültig aufgehoben wurden. Dennoch konnte die Kirchenmusik nie wieder das werden, was sie vor dem Einbruch des Rationalismus gewesen war. Wie sieht das nun im Detail bei den vier Komponisten aus? Franz Schuberts kurze Lebenszeit deckt sich mit diesem vermeintlichen, aber nicht dauerhaften Sieg der vernünftigen Liturgie. Einerseits hatte Schubert noch die gute alte Zeit im Blick; er strebte bereits in fast noch jugendlichem Alter die Position des Vize-Hofkapellmeisters an. So schrieb er bezüglich seiner As-DurMesse an einen Freund: „Meine Messe ist geendet und wird nächstens produziert werden; ich habe noch die alte Idee, sie dem Kaiser Franz. I. oder der Kaiserin zu weihen d.h. zu widmen, da ich sie für gelungen halte.“ Andererseits war er bereits durch und durch ein Kind des Bürgertums, welches für die Kirchenmusik immer wichtiger wurde. In seiner Heimatpfarre Lichtental – heute im 9. Bezirk von Wien – gab es eine reiche kirchenmusikalische Tradition, an die er anschließen konnte.7 Die Mehrzahl seiner Messen gelten als für die Liturgie zu lang. Darüber konnte man verschiedener Meinung sein und ist es noch heute; in Österreich werden alle seine Messen innerhalb der Liturgie gespielt. Diese Vertonungen laufen also der Rationalisierung des Gottesdienstes zuwider; darüber hinaus aber köchelt seit 200 Jahren die Frage, ob Schubert fromm war oder im Gegenteil ein Revoluzzer, vielleicht sogar ein Feind der Kirche. Genährt wird die Diskussion dadurch, dass Schubert in allen Credo-Vertonungen den Satz „Et unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam“ ausgelassen hat. Der gründliche Kenner der Wiener klassischen Kirchenmusik Erich Benedikt hat eine akribische Übersicht über Textauslassungen in zahlreichen Messen des Stilkreises vorgelegt.8 Auslassungen in 6 Dahlhaus 1973, S. 884. 7 Vgl. Benedikt 2014. 8 Vgl. Benedikt 1999.
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vertonten Texten, so sein Fazit, sind zu Schuberts Zeit – und darüber hinaus – so häufig anzutreffen, dass von da her nicht für oder gegen seine Religiosität argumentiert werden kann. Es bleibt allerdings auffällig, dass es immer nur dieser eine Satz im Credo ist. (Um kurz auf Franz Liszt vorauszugreifen: er lässt nichts aus, sondern verwendet in seiner Graner Festmesse an der betreffenden Stelle eigens noch einmal das Wort „credo“, was im Überschwang sogar grammatikalisch holperig gerät: credo unam ecclesiam.) Wenn man die Gesamtwirkung der Schubertschen Kirchenmusik im Blick hat, ist die Sache mit dem fehlenden Satz eine unbedeutende Fußnote. In den Messen findet sich die gesamte Palette der Ausdrucksmöglichkeiten eines jungen Romantikers. Was die Dimensionen betrifft, kümmert er sich nicht um die Liturgie – nicht in den großen Messen. Die Messe in G-Dur ist kompakter, bricht aber auf andere Art die Konventionen auf, wie denn in jeder seiner Messen irgendeine neue Gestaltungsidee zu finden ist.9 Schubert hat aber auch für die ganz bodenständige, bürgerliche Kirchenmusik der Wiener Vorstadt komponiert, vor allem mehrmals für seinen Bruder Ferdinand Schubert, der ebenfalls Lehrer und Chorleiter war.10 Da findet man etwa ganz praktische, um nicht zu sagen harmlose, Gesänge für die Feier des Palmsonntags; sie sind in deutscher Sprache und galten daher damals nicht offiziell als Musik für die Liturgie, nicht als vertonter Kultus per se, sondern als schmückendes Beiwerk, das der lateinischen Rezitation dieser Texte durch den Priester als zweite Schicht übergelagert war. (Dies ist übrigens auch der Grund, warum die zuvor beschriebenen Textauslassungen die amtlichen kirchlichen Stellen nicht beschäftigten; es galt ohnehin nur das als vollzogen und tatsächlich ausgesprochen im Sinn der Liturgie, was der Priester vollzog und aussprach.) In diesen Stücken für die Praxis nimmt sich der Vollblutromantiker ganz zurück und ist hier wirklich Diener des Kultes. Das ist noch nicht alles, denn seine mit weitem Abstand meistgesungene geistliche Musik ist die Deutsche Messe. Diese Gesänge, ursprünglich für Chor mit oder ohne Begleitung, sind ja schon von der Dichtung her weit entfernt von der Liturgie. Es sind Texte, die ausdrücken, was der andächtige Messbesucher denkt oder sich denken soll; es ist eine einfache Poesie des frommen Gefühls, und wenn man hier dem Theologischen nachspüren will, wird man sehr bald auf Grund laufen. „Ehre, Ehre,“ heißt es im Gloriagesang, „… stammeln auch wir, die die Erde gebar.“ – „Eine hübsche heidnische Vorstellung,“ merkt Michael Gassmann in 9 Vgl. im Kapitel Schubert in Planyavsky 2010a, S. 299–307. 10 Ferdinand Schubert (1794–1859) war in Maria de Mercede (der heutigen Kirche des Wiener Priesterseminars) tätig, dann als Organist ebenfalls in Lichtental, ab 1920 als Chorregent in der Pfarrkirche Altlerchenfeld.
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einer treffenden Analyse11 an und fährt fort: „Die Behauptung sei gewagt, dass es gerade die Unschärfe der Theologie ist, die Johann Philip Neumanns Texte vor der Kritik der Laien schützt, eine Unschärfe, die auch viele Neue Geistliche Lieder [sc. der Gegenwart] auszeichnet.“ Insgesamt ist der Zyklus ein Nachfahre der Deutschen Messe von Michael Haydn und insofern auch eine Frucht der aufklärerischen Reformen. Gibt es nach all dem einen präzisen Befund über Schuberts Verhältnis zur Liturgie? Jedenfalls keinen, der sich in einen kurzen Satz packen ließe. Die großen Messen entsprechen innerlich den Vorschriften der Kirche (allerdings nicht denen der liturgischen Reformer der Aufklärung). Die kleinen Werke dienen der Praxis und lassen nicht den Jahrhundertmusiker spüren. Die Deutsche Messe ist weder großer Schubert noch auch nur annähernd liturgisch im engeren Sinne. Gleichviel – all das hält sich seit 200 Jahren auf den Bestsellerlisten. Da wollen wir um sein Ave Maria lieber gleich einen großen Bogen machen … Schubert war auch aktives Mitglied der sogenannten Unsinnsgesellschaft, einer lockeren Runde von Intellektuellen – ein wenig unangepasst, soweit das in der damaligen bürgerlichen Enge möglich war, und dort war man sicher nicht fromm.12 Beim nächsten Komponisten, Anton Bruckner, kann man sich hingegen die Frage nach der Frömmigkeit sparen. Als er einmal gefragt wurde, ob er wirklich so fromm sei, wie man sage, erwiderte er: „Wie hätt’ ich denn sonst das Kredo [sic] meiner f-Moll-Messe komponieren können?“13 Bruckner war mehr als fromm; er war obsessiv katholisch und führte genaue Aufzeichnungen über die Anzahl der an einem Tag gebeteten Vater unser und Gegrüßet seist du Maria.14 Den Vertretern der Kirche, mit denen er zu tun hatte, begegnete er mit einer Mischung aus Unterwürfigkeit und Sturheit. Im Vergleich zu den kleinen Bauerndörfern Ansfelden und Windhaag, in denen Bruckner seine frühen Jahre verbrachte, war das bürgerliche Umfeld der Familie Schubert sicherlich ein Biotop des Intellektuellen.15 Grundschullehrer waren sie alle, und man muss sich vergegenwärtigen, dass damals für diesen Berufsweg eine gewisse musikalische Ausbildung verpflichtend vorgeschrieben war. Wie Schubert war auch Anton Bruckner in der Tradition einer
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Gassmann 2004, S. 7. Vgl. Steblin 1998. Auer 1922, S. 85. Umfassende Erörterungen zu Bruckners Frömmigkeit bei Horn 1996. Eine eingehende Erörterung von tatsächlichen oder vorgeblichen Beziehungen bzw. Parallelen zwischen den beiden Komponisten bei Hilmar 2001.
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Kirchenmusik der kleinen Verhältnisse aufgewachsen, hatte dann allerdings im Stift St. Florian rasch ein größeres Repertoire kennen gelernt. Für Anton Bruckner waren nicht die Tendenzen zur Rationalisierung eine Gefahr, sondern die immer stärker werdenden Forderungen des aufkommenden Cäcilianismus. Es waren Kirchenmusiker und Theologen, die zu diesem neuen Angriff auf die Musik für die Kirche geblasen hatten; dazu kam noch die besonders gefährliche Spezies der theologisch ausgebildeten Kirchenmusiker. Der Kern dieser Ideologie besteht aus einer Rückbesinnung auf die „eigentliche“ Liturgie, die als Gegensatz – oder zumindest als Gegenüber – der Kirchenmusik gesehen wurde, sofern sich diese nicht auf Palestrina und weitere Meister der „altklassischen Polyphonie“ (wie es genannt wurde) bezog. 1868 wurde der Cäcilienverband gegründet, eine Einrichtung, die so wahrscheinlich nur in Deutschland entstehen konnte. Die Gründerväter waren Carl Proske, ursprünglich Arzt, später Theologe und Priester, und Franz Xaver Witt. Liturgiefähigkeit wurde an stilistischen Elementen und an Besetzungen festgemacht. Wesentliches Merkmal war die offen ausgesprochene Geringschätzung gerade jener Errungenschaften, die für das 19. Jahrhundert kennzeichnend waren: der stürmischen Entwicklung der Harmonik, der Verfeinerung der Instrumentierung, somit der Ausweitung der kompositorischen Mittel im Allgemeinen. Bei programmatischen Ansagen und allgemeiner Propaganda blieb man nicht stehen, sondern gab den immer wieder aktualisierten Vereinskatalog heraus, in dem Kompositionen als kirchenmusikalisch-korrekt oder als unkirchlich klassifiziert wurden. Und so gibt es auch bei Bruckner wie bei Schubert die großen, die Liturgie nahezu sprengenden Messen und andererseits die kleine, praktische Kirchenmusik, aber eben aus anderen Gründen. Immer spürte Bruckner das wachsame Auge eines Cäcilianers auf seinen Noten ruhen; so war etwa der Chorleiter im Stift St. Florian, Ignaz Traumihler, ein Anhänger dieser Richtung. Als ihm Bruckner seine neue Motette Os justi brachte, schrieb er vorsorglich dazu: „Ohne # und b; ohne Dreiklang der 7. Stufe; ohne 6/4-Akkord, ohne Vier- und Fünfklänge.“ Bei der ersten Leseprobe jedoch, so berichtet ein Gewährsmann, habe Traumihler „trotz seiner cäcilianischen Ohren die Tonart nicht begriffen“.16 Chromatik galt den Cäcilianern grundsätzlich als unsakral: „Diatonische Musik ist gesunde, chromatische Musik ist kranke Musik,“ schreibt noch im Jahr 1919 Peter Wagner, einer der späteren Chefideologen.17 In diesem Spannungsfeld komponierte Anton Bruckner, weit im Hintergrund – oder eher tief drinnen – immer seinen eigentlichen Adressaten, den lieben Gott, im 16 Novak 1985, S. 245. 17 Wagner 1919, S. 91.
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Blick und nicht die Stilwächter in Regensburg. Immerhin wirkte in seiner Nähe, in Gmunden, Johannes Ev. Habert (1833–1896), der österreichische Gegenpol zum Cäcilianismus. Im Sinne einer markanten österreichischen Gegenbewegung propagierte er die „Veredelung und Vervollkommnung der kirchlichen Instrumentalmusik“. Sein Ziel, dem zeitgenössischen symphonischen Satz kirchliche Vertiefung zu verleihen, fand in Anton Bruckners Kirchenmusik eine ideale Verwirklichung.18 Die e-Moll-Messe nimmt eine Sonderstellung im gesamten Schaffen des 19. Jahrhunderts ein; sie ist die Antwort eines Genies auf den Cäcilianismus, auf den Versuch, Kirchlichkeit, Liturgie und letztlich auch Religiosität auf dem Gebiet der Musik im alten Stil zu konservieren, d.h. die Kirchenmusik so traditionell zu machen, wie die Kirche selbst es war.“19 Unbesehen so mancher titanenhafter Strecke in den großen Messen bleibt Bruckner in der formalen Gestaltung traditionell und bietet keine verblüffenden Neuansätze wie Schubert.20 Überraschungen erzielt er vor allem durch harmonische Wendungen oder gelegentlich durch eigenwilligen Periodenbau. Man muss auch bei ihm wie bei Schubert konstatieren: Eine enge Verzahnung mit der Liturgie war ihm kein Anliegen – und konnte es im traditionellen Umfeld auch nicht sein. Bei Franz Liszt lagen die Dinge wieder anders. Sein Leben weist, grob gesprochen, eine weltliche und eine geistliche Phase auf. Er war noch sehr jung, als er bereits zum europaweit gefeierten Virtuosen geworden war. Das hat er einerseits genossen, andererseits mit einer gewissen Selbstverachtung kritisch reflektiert. Er sah sich selbst bisweilen als Unterhaltungsquelle, die ihn abhielt, seine hehren Ziele zu verfolgen. Immer stärker empfindet er die Diskrepanz zwischen seinem Virtuosendasein und seiner sich festigenden religiös-sozialen Einstellung.21 Diese rührte nicht zuletzt von manchen Ideen her, die er um 1830 in Paris aufnahm; da verbanden sich schwärmerische, sozialkritisch-religiöse Ideologeme zu einem utopistischen Weltverbesserungs-Gemenge. Nur durch die Kunst könne die Menschheit besser werden, war der Tenor. Über zukünftige Kirchenmusik sagte Liszt, sie habe die Aufgabe, „den Menschen zu trösten“. 18 Mitterschiffthaler 2008, S. 212. 19 Kirsch 1978, S.154. 20 Einzig im frühen Requiem finden sich zwei völlig unterschiedlich lange, gleichsam asymmetrische Hosanna-Vertonungen. 21 Dieser Themenkreis ist sehr kompakt zusammengefasst z.B. bei Schwarz 1973, bes. S. 13–19.
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Heinrich Heine spottet über Liszts Begeisterung für diese Strömungen: „Höchst merkwürdig sind seine Geistesrichtungen, er hat große Anlagen zur Spekulation […] Der Himmel weiß, in welchem Geistesstall er sein nächstes Steckenpferd finden wird.“22 Das wesentliche für unser Thema drückt Arnold Schering so aus: Lange bevor er sich dem geistlichen Stande und der eigentlichen Kirchenmusik zuwandte, ist in den besten seiner Klavier- und Orchesterkompositionen ein religiöser Grundton eigen. Ohne irgendwie an Kirchenstil erinnert zu werden, hört man ihn aus den Stücken […] heraus.23
Das mag subjektive Sicht sein, doch wird sie von einer Reihe von Autoren geteilt. Die Bezeichnung „religioso“ ist ja nichts Ungewöhnliches in den Pariser Salons; in romantische Gefühlseindrücke ist damals immer auch Religiöses einbezogen. So kann die Zweiteilung der Lisztschen Persönlichkeit direkt bis in die Kompositionen hineinwirken. Im 3. Stück der Apparitions (1834) gibt es einen Abschnitt avec coquetterie, dann folgt eine Fermate und sogleich ein Abschnitt religiosamente, und das entpuppt sich als Walzer von Franz Schubert, der hier kirchentonal gesetzt ist. In den Klavierstücken findet sich eines mit dem Titel Trauung Mariä; 1849 komponiert Liszt einen Totentanz für Klavier und Orchester, mit einer Paraphrase über das De profundis und Variationen über das Dies irae. Liszt selbst sagt, er habe die Intonation g-a-c, die im Gregorianischen Choral oft vorkommt, gleichsam als tonisches Motiv des Kreuzes verwendet. – Diese knappe Auswahl an religiösen Spuren inmitten Liszts weltlicher Phase genügt für den Nachweis, dass seine beiden Lebensphasen chronologisch unterschieden, aber doch nicht durch einen Bruch getrennt sind. Schon 1835 schreibt Liszt ein Fragment Über die zukünftige Kirchenmusik. Es gilt als erwiesen, dass die eigentliche Autorenschaft seiner Freundin Gräfin Marie d’Agoult zukommt. Es ist eine utopische Vision einer neuen kirchlichen Musik, mit der eben weniger Kirchenmusik im Sinne von liturgischer Gebrauchsmusik gemeint ist, sondern eine neue Art allgemein-religiöser Musik für das Volk, für den Menschen, für die Menschheit. Es heißt dort: Diese Musik, die wir in Ermangelung einer anderen Bezeichnung die humanistische taufen möchten, sei weihevoll, stark und wirksam, sie vereinige in kolossalen Verhältnissen Theater und Kirche, sie sei zugleich dramatisch und heilig, prachtent22 Heine 1964, S. 100., zit. n. Niemöller 1978, S. 121. 23 Schering 1926, S. 33f., zit. n. Niemöller 1978, S. 119.
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faltend und einfach, feierlich und ernst, feurig und ungezügelt, stürmisch und ruhig, klar und innig.24
Da bekommt man eine Ahnung, was sich Franz Liszt bei seiner Graner Festmesse (1856) gedacht haben könnte. Das luxuriös besetzt Werk ist liturgisch gedacht, aber dass es da auch Hintergedanken gibt, erfährt man aus Liszts Regieanweisung für die Stelle judicare: „Während dieser zwölf Tacte sollen die Schalltrichter der Hörner, Trompeten, Posaunen und Tuba in die Höhe geschwungen, die Spieler aufrecht stehend, und die Instrumente dem Auditorium [!] zugewendet sein.“ Da hat der Virtuose Liszt den Abbé Liszt erfolgreich überredet, ein bisschen fromme Show zu machen! Die andere, ganz im Gegenteil im engeren Sinn liturgisch fokussierte Seite des Komponisten tritt dann ab den Sechzigerjahren hervor. Franz Liszt übersiedelt für einige Jahre nach Rom, um sozusagen im Schatten der kirchlichen Zentrale an einer Reform der Kirchenmusik zu arbeiten. 1865 empfängt er die niederen Weihen. Er plant eine Edition von Werken Lassos und Palestrinas mit Dynamik und Tempoangaben; ebenso projektiert er eine Ausgabe des vierstimmigen MessOffiziums [?] für das gesamte Kirchenjahr, womit vermutlich „vierstimmig gesetzte gregorianische Gesänge“ des Propriums gemeint sind. Der Vatikan interessierte sich nicht sehr intensiv für Liszts Reformen. Rückblickend von 1915 heißt es jedoch in einer Ästhetik der katholischen Kirchenmusik: Wenn auch Liszts kirchenmusikalischen Bestrebungen nicht die offizielle Anerkennung zuteil wurde, so stand er doch bei Pius IX. in hohem Ansehen.25
Der Ausdruck „hohes Ansehen“ dürfte noch zu vorsichtig gewählt sein. Am 11. Juli 1863 hat Pius IX. persönlich den Komponisten in seinem Haus besucht, das etwa eine Stunde von Rom entfernt lag.26 Und ein anderer Autor aus dieser Zeit schreibt: Davon, dass die Kirche eine künstlerische Kraft mit dieser speziellen Begabung für die geistliche Tonkunst, wie sie in Jahrhunderten nicht so leicht mehr zu finden sein 24 Zit. n. Niemöller 1978, S. 126f. 25 Möhler 1915, S. 335. 26 Information aus einem ungezeichneten Beitrag in Musica divina 9 (5/6) aus dem Jahr 1921, S. 44–45, wo man sich auf einen „kürzlich im ‚Neuen Wiener Tagblatt‘ veröffentlichten“ Beitrag des „bekannten und geschätzten Musikschriftstellers Ludwig Karpath“ bezieht, der die singuläre Begebenheit mit einem Brief einer Verehrerin Liszts an die Mutter des Komponisten untermauert.
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wird, in organisatorischer Beziehung so gänzlich ungenützt ließ, dürfte sie schließlich selbst den meisten Schaden haben. 27
Mit den führenden Cäcilianern pflegt Liszt übrigens Freundschaften. Sie machen ein paar kritische Anmerkungen, aber insgesamt kann er sich ein paar schräge Akkorde mehr leisten als Anton Bruckner.28 In dieser Zeit entstehen Kompositionen, die sehr viel präziser auf die Liturgie ausgerichtet sind.29 An Orgelwerken sind hier vor allem die Missa pro organo (1879) und das Requiem für Orgel (1883) zu nennen. Letzteres ist in eine Art Bearbeitung des Requiem für Männerchor und Orgel. Die Missa ist zur Gänze rein instrumental und spürt in manchen melodischen Formulierungen den lateinischen Worten des Messtextes nach und auch der Stimmung des andächtigen Christen. Das erinnert ein wenig an Schuberts Deutsche Messe, wiewohl dort die Gemütslage mit Worten ausgedrückt wird. Zoltan Kodaly wird im 20. Jahrhundert eine ähnliche, weitaus umfangreichere Missa brevis ohne Text liefern; erst später arbeitet er sie zu einer Messe für Chor und Orgel um. Dass die rein instrumentalen Mess-Sätze von Franz Liszt „einen direkten historischen Bezug zu den Tabulaturen in den Orgelbüchern des 15. und 16. Jahrhunderts erhalten“, wie Peter Schwarz suggeriert,30 dürfte ein wenig weit hergeholt sein. Die genannten historischen Orgelstücke waren Vertreter der entsprechenden Abschnitte in den gregorianischen Gesängen und galten zu ihrer Entstehungszeit als vollgültige Elemente des liturgischen Vollzugs; das änderte sich erst durch die Reformen des Konzils von Trient. Die Sätze von Liszt hingegen sind in Noten gegossene subjektive Frömmigkeit und insofern Vorläufer etwa von Kyrie, Gloria und Benedictus in Max Regers op. 59. Wenn es um Felix Mendelssohn und seine Kirchenmusik geht, wird man zuallererst auf seine eine, einschlägige Äußerung verweisen. Er schreibt am 12. Jänner 1835 an den Prediger Alfred Bauer:
27 Möhler 1915, S. 344. Der Autor zitiert hier ohne Quellenangabe die Äußerung eines Robert Louis. 28 Vgl. Scharnagl 1986. 29 Hierbei sind aus heutiger Sicht, d.h. im Sinne des gegenwärtigen katholischen Liturgieverständnisses, einige bedeutsame Einschränkungen angebracht. Detaillierte Erörterung bei Planyavsky 1987, bes. S. 72. 30 Schwarz 1973, S. 117f.
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Eine wirkliche Kirchenmusik, d.h. eine solche Musik für den evangelischen Gottesdienst, die während der kirchlichen Feier ihren Platz fände, scheint mir unmöglich und zwar nicht bloß, weil ich durchaus nicht sehe, an welcher Stelle des Gottesdienstes die Musik eingreifen (d.h. mit innerer Notwendigkeit eingreifen) sollte, sondern weil ich mir überhaupt diese Stelle nicht denken kann. Vielleicht hast du mir etwas zu sagen, das mich darüber klarer macht; aber bis jetzt weiß ich nicht – auch wenn man von der Preußischen Liturgie absieht, die alles derartige abschneidet – wie es zu machen sein sollte, dass bei uns die Musik ein integrierender Teil des Gottesdienstes, und nicht bloß ein Konzert werde, das mehr oder weniger zur Andacht anrege. So ist auch die Bachsche Passion gewesen; – sie ist als ein selbstständiges Musikstück zur Erbauung in der Kirche gesungen worden; – von eigentlich kirchlicher, oder wenn du willst gottesdienstlicher Musik kenne ich nur die alt-italienischen Sachen für die päpstliche Kapelle, wo aber wieder die Musik nur begleitend ist, und sich der Funktion unterordnet und mitwirkt wie die Kerzen, Weihrauch usw.31
In der Tat berichtet Mendelssohn aus Rom, er habe „viele Stunden den Psalmen und Lamentationen und Messgesängen gelauscht. […] Der Priester stellte sich mitten vor den Altar, und intoniert, nach einer kleinen Pause, mit seiner heiseren alten Stimme das Seb. Bach’sche Credo.“32 Der katholischen Kirchenmusiker des späten 20. Jahrhunderts zuckt instinktiv zusammen, wenn er von Mendelssohn die Formulierung „integrierender Bestandteil“ hört, denn dieser Ausdruck war in den Reformen des II. Vatikanischen Konzils zu einem Schlüsselsatz geworden.33 Aber Mendelssohn meint etwas anderes, und Georg Feder drückt es drastisch aus: Mendelssohn spricht der eigentlich gottesdienstlichen Musik den Kunstcharakter ab, indem er sie als rein funktionale bezeichnet. […] Damit hat er die tendenzielle Unvereinbarkeit von Musik mit autonomem Kunstanspruch und liturgischer Gebrauchsmusik angesprochen. […] Die praktische Grundlage für Mendelssohns kirchenmusikalisches Schaffen lag zunächst auch weniger in der lebendigen Erfahrung von liturgischer Musik, die es damals zumindest im aufgeklärten Berlin überhaupt 31 Nach Feder 1978. 32 Mendelssohn Bartholdy 1862. Die Zitate finden sich in Briefen aus Rom (4. April 1831, S. 124–130) und Neapel (S. 163–180). Mit der etwas befremdlichen Umschreibung „Bach’sches Credo“ ist die gregorianische Intonation gemeint, die zur Zeit Bachs im lutherischen Gottesdienst gebräuchlich war und die er als Hauptthema des ersten Abschnittes des Symbolum Nicenum (in der h-Moll-Messe) verwendet hat. 33 Konstitution über die heilige Liturgie 1964. Bereits im ersten Satz des Abschnittes über die Kirchenmusik (Art. 112–121) wird festgestellt, dass „der mit dem Wort verbundene gottesdienstliche Gesang einen notwendigen und integrierenden Bestandteil der feierlichen Liturgie ausmacht.“ Dies ist gegenüber der früheren Einschätzung der musica sacra in kirchlichen Dokumenten geradezu ein Paradigmenwechsel.
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kaum noch gab, als vielmehr in seiner Teilnahme an den Proben und Konzerten der Singakademie.34
Wie schon angedeutet, bahnte sich allerdings eine Trendwende an. Das äußerte sich zunächst in Beiträgen, Pamphleten und Diskussionen. Aber nach den Anstößen durch König Wilhelm III. ging sein Sohn Friedrich Wilhelm IV. weiter35 und vergab Kompositionsaufträge für neue liturgische Musik; die Komponisten waren August Eduard Grell, Otto Nicolai, Carl Loewe und eben Mendelssohn, dessen Beauftragung schon kraft seiner Stellung als „Generalmusikdirektor für kirchliche und geistliche Musik“ am Königshof nahelag.36 Mendelssohns Vokalwerk ist sehr umfangreich. Da finden sich – genau wie bei den anderen besprochenen Komponisten – auch etliche kurze Stücke; der Spruch zwischen Epistel und Alleluja gehörte dabei zu den wenigen Stellen im Gottesdienst, an denen überhaupt Musik möglich war, und diese quantitative Enge wird der Komponist wohl gemeint haben mit seinem Dictum über die spärlichen Möglichkeiten der Musik für diese Liturgie. Diese Evangeliensprüche fallen allerdings nicht schlichtweg in die Kategorie „für die Praxis“; die zum Teil achtstimmigen Kompositionen sind sozusagen große kleine Musik. Andererseits beklagt sich Mendelssohn einmal, dass er in seinem Te Deum homophon-choralartig schreiben müsse. Aber die wirklich einfachen Psalmen für England hat er ja doch auch komponiert. Schon zwischen 1827 und 1832 hatte er fünf Choralkantaten geschrieben, die ungedruckt blieben. Weitaus bekannter sind die fünf Psalmkantaten (komponiert 1830–1843), die in den Gestaltungsmitteln völlig auf der Höhe der Zeit sind und nichts von einer rationalistischen Verknappung ahnen lassen. Dass das offizielle Ideal der a-cappella-Gesang war, ist hier nicht zu spüren, und es gibt andererseits ja auch genug unbegleitete Chormusik von Mendelssohn. Zum einen haben diese Kompositionen sicher der Erbauung der Gläubigen gedient (und waren nicht „gekünstelt“, wie man damals primär polyphone Musik abschätzig bezeichnete), 34 Feder 1978 1978, S. 115. 35 Der König gründete 1843 den Berliner Domchor, interessanterweise nach dem Vorbild der Petersburger Hofkapelle; er galt als bester A-cappella-Chor Deutschlands. Nach Feder 1965. 36 Die Beziehungen zwischen Komponist und Königshaus wird bisweilen sehr kritisch gesehen: „Dass sein Protestantismus Mendelssohn wohl doch nicht so sehr am Herzen lag, verrät allein schon das Steife, Zeremonielle, formalistisch Distanzierte, ja Falsche [!] mancher seiner Kirchenkompositionen, die er meist im Auftrag des preußischen Königs schrieb, dem er, wie Berlin überhaupt, äußerst reserviert gegenüber stand. Es waren halt Auftragskompositionen.“ Vgl. Riehn 1980.
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sie sind aber andererseits keineswegs Produkte der Verflachung und Beschränkung.37 Der Historiker Joh. Gustav Droysen hat Mendelssohns Bedeutung für die protestantische Kirchenmusik klar erkannt, als er dem Komponisten 1842 schrieb: Es ist ganz einzig, wie Deine Musik gerade hier bei dem protestantischen ernsten Publikum rechten Eingang findet. Und das ist eine große Errungenschaft für Dich, dass Du einer bestimmten Bewegung in der Zeit auf so unzweideutige Weise entsprichst und an ihre Spitze trittst […] Es ist etwas damit, dass die protestantische Musik, die seit Johann Sebastian Bach still gelegen […] endlich wieder lebendig wird.38
Auch Mendelssohns Herkunft hat sicherlich zu seinen Vorstellungen einer Kirchenmusik zwischen den Strömungen beigetragen. Felix trat 1812 zum Christentum über, die Eltern 1816. Im Elternhaus verkehrten Künstler und Intellektuelle – sozusagen von Goethe abwärts –, und die Familie war bestrebt, sich kulturell möglichst anzupassen.39 Sein Großvater Moses Mendelssohn war ein berühmter Philosoph, der eine neue deutsche Bibelübersetzung betrieben hatte, die 1783 abgeschlossen wurde. Über Mendelssohns persönliche Frömmigkeit wissen wir wenig; wenn, dann war er eher in der reformierten Kirche mit ihrem trockenen Gottesdienst beheimatet.40 Umgekehrt darf man die Anregungen nicht unterschätzen, die er auf seinen oftmaligen Reisen nach England empfangen hat. Auch dort wurden allmählich mit dem Oxford Movement und dem Cambridge Movement Reformen angebahnt, die auf eine deutlichere liturgische Prägung der Gottesdienste und eine bessere Integration der Musik abzielten.41 Und zusätzlich lag wohl noch die Atmosphäre der Händelschen Oratorien und Anthems in der Luft, und
37 „Die Wahl undramatischer und handlungsarmer [!] Psalmtexte mag der theologisch nazarenischen Auffassung der Zeit entsprochen haben, was Einsatz und Entfaltung musikdramatischer Mittel ohnehin weitgehend verbot.“ Köhler 1995, S. 74. 38 Vgl. Feder 1978. 39 „Es gab fast keinen bedeutenden Berliner, oder Berlin besuchenden ausgezeichneten Fremden, der nicht in den aufeinanderfolgenden Generationen im Hause Moses Mendelssohn’s, Abraham Mendelssohn-Bartholdy’s, Hensel’s und Dirichlet’s gewesen wäre.“ Hensel 1904, S. 80. 40 Feder 1978 nennt Mendelssohns Konfirmationsbekenntis, sodann seine Hochzeit in der Französischen Reformierten Kirche in Frankfurt, weiters die Predigt bei seiner Totenfeier durch einen reformierten Prediger. 41 Vgl. Clark 2002. Die deutlichste Veränderung betraf die Verlegung des Chores und der Orgeln in die Nähe des Presbyteriums („chancel“), was die Voraussetzung für die spätere Blüte der Kirchenmusik im viktorianischen Zeitaltar sein sollte.
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das hat Mendelssohn – über die Orgelwerke hinaus – eindeutig beeinflusst, wie man etwa am Lobgesang sehen kann.42 Felix Mendelssohn war ein Umtriebiger, ein workaholic, wie man heute sagen könnte, der vermutlich nie, wie Bruckner, stundenlang mit der lieben Orgel und dem lieben Gott allein sein wollte. Er hatte aber auch keine zweite Lebensphase, in der er hauptsächlich mit sakralen Gedanken und Noten beschäftigt war wie Liszt. Er war nicht in einem klar definierten kirchenmusikalischen Biotop aufgewachsen wie Franz Schubert.43 Bei allem Wohlklang und bei allem Optimismus, und auch bei all seiner freundlichen Melancholie war Mendelssohn ein rationaler und intellektueller Künstler, der – die Einschätzung sei dem Autor verziehen – an eine Schauspielmusik, eine Symphonie und eine geistliche Kantate mit derselben innig-distanzierten Professionalität heranging. Schubert, Bruckner, Liszt und Mendelssohn: alle vier hatten eigentlich ihre große Kirchenmusik, die durch keinen Kunstgriff in den Rahmen der Liturgie zu bringen war, und sie hatten auch ihre Stücke für die Praxis. Das ist Ergebnis genug, wenn man es der Sakralmusik des frühen 18. Jahrhunderts gegenüberstellt. Als Coda dieser Überlegungen sei ein sehr rascher Blick auf die Verhältnisse in Italien im späten 19. Jahrhundert gestattet, wobei es um katholische Kirchenmusik geht.44 Er führt am Schluss zu einer ökumenisch verblüffenden Anmerkung eines zeitgenössischen Berichterstatters. Es war durchaus üblich, dass die Gottesdienstteilnehmer die von der Empore schallenden hohen Töne mit Applaus und BravoRufen quittierten. Sakralmusik war dort und damals eine abgeschlossene Welt im Schatten der unübertrefflichen Opernkomponisten, und in dieser Welt verstanden einander Musiker und Publikums aufs beste. Da trat einmal in Turin fast gleichzeitig ein protestantischer Gesangsverein mit Werken von Palestrina, Josquin und Ockeghem auf. Der Berichterstatter stellt beides gegenüber und fragt sich schließlich, ob er nicht besser die Konfession wechseln sollte; er schließt mit den Worten: „Was für ein Unterschied zwischen dem Konzert des protestantischen Chores und dem Hexensabbath in unserer Kathedrale!“45
42 Vgl. Krummacher 1985. 43 „Die kirchlichen Werke von Haydn, Cherubini und Hummel waren ihm [M.] oft nicht ernsthaft genug; sein Urteil über eine ‚skandalös lustige‘ Haydn-Messe nimmt bereits die Einstellung des Cäcilianismus [!] vorweg.“ Feder 1978 1978, S. 116. 44 Brandazza und Brandazza 1990, S. 65–68. 45 Musica Sacra (nicht identisch mit der Zeitschrift des Allgemeinen Cäcilienverbandes Deutschland) 10 (8), Mailand 1896, S. 126f., zit. bei Brandazza und Brandazza 1990.
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Autonome Musik und religiöser Sinn Thomas Erne
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Vorspiel: Luther und die Folgen für die Musik. Religiöser Sinn und autonomer Klang
Eine der Langzeit-Folgen Luthers für die Musik ist ihre Autonomie.1 Mit Autonomie ist gemeint, dass sich die Musik von außermusikalischen Bedingungen unabhängig macht und sich nach ihren eigenen Regeln bestimmt. Diese Autonomie, die sich in der Zeit Beethovens, spätestens aber mit Schönberg programmatisch etabliert, ist „ein Moment jener Ausdifferenzierung der Vernunft, die die Regeln ungleicher Vernunftformen ausdrücklich und dadurch unabhängig werden lässt“.2 Die Ausdifferenzierung ungleicher Vernunftformen – Michael Hampe spricht von einer „Vielfalt der menschlichen Reflexionsformen und Erkenntnisstrategien“3 –, hat zur Folge, dass die Musik nicht mehr ohne weiteres religiösen Zwecken dient. Wenn die Musik ihrer eigenen ästhetischen Vernunft folgt – wie gestaltet sich dann ihr Verhältnis zur christlichen Religion? Viele Beispiele belegen, dass geistliche Musik auch unter Bedingung ihrer Autonomie möglich ist. Ich nenne nur ein bekanntes Beispiel, György Ligetis Vertonung des Lux aeterna für 16-stimmigen Chor a capella, die durch Stanley Kubricks Film Odyssee 2000 berühmt wurde. Aber wie lässt sich diese Beziehung verstehen – theologisch und philosophisch? Ich möchte Ihnen drei Antworten vorstellen. Die erste Antwort stammt von Friedrich Schleiermacher. Felix Mendelssohn-Bartholdy bietet mit seiner Musik 1 2 3
Vgl. [in diesem Band] H.M. Dober, Luther und die Folgen für die Musik Hindrichs 2014, S. 22. Hampe 2014, S. 365.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_12
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gewissermaßen den „sound of“ Schleiermachers These. Die zweite stammt von Karl Barth. Barth war der Meinung, dass ihr Mozart musikalisch am besten Ausdruck verleiht. Die dritte Antwort stammt von einem Philosophen, Gunnar Hindrichs. Er orientiert sich mit seiner Antwort in erster Linie an Schönberg, Cage, Nono, Ferneyhough, Stockhausen, Lachenmann, Huber etc. Meine These ist nun: Schleiermacher kann uns die intrinsische Beziehung der Musik auf Religion darlegen, scheitert aber an ihrer Autonomie. Barth kann genau umgekehrt die Autonomie der Musik theologisch verständlich machen, aber nicht mehr ihren religiösen Sinn. Das führt bei Barth zu der absurden Konsequenz, dass ausgerechnet die geistliche Musik Mozarts theologisch nicht mehr anschlussfähig ist. Gunnar Hindrichs schließlich skizziert ein Modell, wie der autonome Klang der Musik auch mit einem religiösen Sinn vermittelt werden kann, ohne dass die Autonomie der Kunst dementiert oder ihr religiöser Sinn verabschiedet werden muss.
2 Schleiermacher und Felix Mendelssohn-Bartholdy – religiöse Bindung und freies Spiel Musikalisches Glaubensbekenntnis Felix Mendelssohn-Bartholdys Vater, der Bankier Abraham Mendelssohn betreibt die Konversion der Familie zum Protestantismus. Felix wird mit sieben Jahren 1816 in Berlin evangelisch getauft. Sein Protestantismus gehört in die Geschichte der Assimilation des jüdischen Bürgertums im Preußen des 19. Jahrhunderts, das sich um den Preis der Konversion gesellschaftliche Anerkennung erhoffte. Aber Felix’ Verhältnis zum evangelischen Glauben geht in dieser Assimilationsgeschichte nicht auf. Das zeigen seine frühen Choralkantaten.4 Sie sind sein „musikalisches Glaubensbekenntnis“. In diesen Kantaten äußert sich ein junger selbstbewusster Protestant an der Schwelle zum Erwachsensein, der ein eigenständiges Verhältnis zur evangelischen Religion unterhält, ohne seine jüdischen Wurzeln zu verleugnen.5 Kirchenmusik ist für Mendelssohn nicht nur eine Werkgattung. 4
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Die Werkgruppe „Wer nur den lieben Gott lässt walten“, „Jesu meine Freude“, „O Haupt voll Blut und Wunden“, „Christe du Lamm Gottes“, „Wir glauben all an einen Gott“, „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ und „Ach Gott vom Himmel sieh darein“ hat Mendelssohn selbst nicht veröffentlicht. Sie liegt erst seit 1962 im Druck vor und wird seitdem in ihrer Bedeutung für Mendelssohns Gesamtwerk diskutiert, vgl. Literaturbericht bei Wüster 1996, S. 15–24. Vgl. Wüster 1996, S. 15–24.
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Kirchenmusik steht für eine religiöse Referenz seines Gesamtwerks, auch seiner Instrumentalmusik. Mendelssohn flicht Choralzitate und Choralhaftes nicht nur in seine explizit religiöse Musik oder in quasi-religiöse Instrumentalwerke wie der Reformationssymphonie ein, sondern auch „in reine Instrumentaltatsachen“,6 etwa im Finale des Klaviertrio in c-moll op. 66 oder in der Cellosonate op 58/III. Choralzitat und Choralhaftes „sind charakteristisch für Mendelssohns Komponieren und ziehen sich durch sein gesamtes Schaffen“.7 Offenbar war Mendelssohn wie Schleiermacher der Meinung, dass auch reine „Instrumentaltatsachen“ nach einem erkennbaren Anschluss an die Religion verlangen, um sich ihrer immanent-religiösen Struktur bewusst zu werden.8 Den Beweis dafür, dass „die wahre Ausübung der Kunst religiös ist“,9 tritt Mendelssohn am 11. März 1829 an. Eduard Devrient, der Freund, wirkt als Sänger an der denkwürdigen Wiederaufführung der Matthäuspassion von Bach mit. Er spürt, dass „andächtige Schauer, die mich bei den eindringlichsten Stellen durchrieseln, auch durch die todtenstillen Zuhörer wehten“.10 Der Schwester Fanny erscheint „der überfüllte Saal […] wie eine Kirche, die tiefste Stille, die feierlichste Andacht herrschte in der Versammlung“.11 Das ist kein Zufall, denn die Aufführung der Passionsmusik ist bereits ein Gottesdienst, wie Gustav Droysen, der Hauslehrer von Felix und späterer Professor für Geschichte, im Blick auf die Berliner Aufführung der Matthäuspassion notiert. Sie ist „sich [in der Religion] selber erkennende [musikalische] Andacht“.12
Religiöser Sinn der Musik Mendelssohn kannte Schleiermacher persönlich. Schleiermacher war häufig im Hause der Mendelssohns zu Gast. Julius Schubring, der Hauslehrer der Kinder 6 7
Geck 2009, S. 82. Koch 2003, S. 200. Koch besteht zwar darauf, dass das Choralhafte in Mendelssohns Instrumentalmusik „allein auf musikalische Aspekte zurückzuführen“ sei, schließt aber „biographische Impulse nicht aus. Der stark emotionale, bisweilen pathetische Charakter macht das vielmehr eher wahrscheinlich“ (S. 205). 8 Vgl. Scholtz 1981, S. 88. 9 Und zwar „… weil sie den Schein des autonomen Subjekts durchbricht und die irreduzible Rezeptivität des Lebens zur Erfahrung bringt“ (Käfer 2006, S. 4). 10 Devrient 1869, S. 67. 11 Fanny an Klingemann, Berlin 22.3.1829, in: Hensel 1929, S. 197. 12 Gustav Droysen in der AMZ 1829 im Blick auf die Aufführung der Matthäuspassion zitiert bei Wüster 1996, S. 48.
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Schleiermachers, war mit Felix befreundet, schrieb das Libretto des Paulus und Elias und beriet ihn in theologischen Fragen.13 In einem Brief von 1830 an Schubring gibt sich Mendelssohn als Anhänger der Theologie Schleiermachers zu erkennen.14 Das hat durchaus sachliche Gründe. Mendelssohn ist ein klangvoller Beleg für Schleiermachers musikreligiöse Grundthese. Nach Schleiermacher kommen in der Beziehung von Religion und Musik beide zu ihrer Vollendung: „Nur in der unmittelbaren Beziehung auf das Höchste, auf die Religion, und eine bestimmte Gestalt derselben [nämlich Schleiermachers], hat die Musik ohne an ein einzelnes Factum geknüpft zu werden, doch Gegebenes genug, um verständlich zu sein“.15 Schleiermacher nennt das Höchste, das die Musik zum Ausdruck bringt, ihre „symbolische Würde“.16 Diese Würde besteht darin, dass die Musik ein Ganzes, eine Stimmung ausdrückt, die die einzelnen musikalischen Vorkommnisse in sich aufnimmt. Zur symbolischen Würde gehört, dass das Einzelne, im Fall der Musik das musikalische Material, Ton, Klang, Rhythmus in einer Gesamtstimmung aufgeht, in der die musikalischen Einzelereignisse zugunsten eines inneren Zusammenhangs, ihres Bezugs auf das Unendliche zurücktreten.17 Diese innere Verbindung von Musik in ihrer symbolischen Würde zum Unendlichen findet seinen sprechenden Ausdruck in der geistlichen Musik, in Kantaten, Passionen und Oratorien.
Musikalische Autonomie Nun ist nicht alle Musik mit dem Höchsten verknüpft. Das war auch Schleiermacher bewusst. Musikalische Unterhaltung – vermutlich darf man die unzähligen Menuette, Gavotten, Sarabanden denken, die in der Hausmusik der damaligen Zeit gespielt wurden – gehören in eine andere Kategorie, die Schleiermacher den geselligen Stil nennt.18 In diesen geselligen Formen folgt Musik ihrem Spieltrieb. Sie hält den Zuhörer in den partikularen musikalischen Eindrücken gefangen und der Bezug auf die Gesamtstimmung tritt in den Hintergrund. Schleiermacher überlagert nun beide Stilformen, um beides zu artikulieren, die religiöse Beziehung wie die Eigenständigkeit der Musik. Das ist sein konstruktiver Geniestreich. Der 13 Vgl. Koch 2003, S. 148. 14 Vgl. Todd 2003. S. 197, mit Hinweis auf Schubring 1892. 15 Schleiermacher 1970, S. 246. 16 Schleiermacher 1984, S. 24. 17 Vgl. Schleiermacher 1984, S. 24. 18 Vgl. Schleiermacher 1984, S. 22, 76–81. Zum Stil in Schleiermachers Ästhetik vgl. Lehnerer 1987, S. 348–362.
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religiöse Stil steht mit dem geselligen Stil in einem funktionalen Verhältnis. Im Blick auf die religiöse Bindung sorgt der gesellige Stil für die Freiheit der Kunst. Denn Musik, die ihre Freiheit verlöre, könnte auch kein Symbol des religiös Unendlichen sein. Sie würde zum Kunsthandwerk, das einem praktischen Interesse der Religion an bestimmten Wirkungen dient: „Eine solche [Kunst] aber, die nur die religiöse Seite entwickelt, würden wir nicht für eine freie halten, sondern glauben, dass eine praktische Tendenz [in der Religion] sich einer übrig gebliebenen Kunstgeschicklichkeit bedient“.19 Und umgekehrt: Im Blick auf die reine Instrumentalmusik sorgt die symbolische Würde, die Korrespondenz der Musik mit der Religion, die bei Mendelssohn explizit wird im Choralhaften der Musik und im Bezug auf religiöse Texte, dafür, dass das musikalische Spiel nicht beliebig wird und sich in Zufälligkeiten verliert. „Die Kunst“ so Schleiermachers Formel, „beweist ihre Freiheit durch die spielende losere Seite, und ihre innere Notwendigkeit durch die symbolische und höhere“.20 Schleiermachers komplexe religionsästhetische Figur scheint Mendelssohn aus dem Komponistenherz gesprochen zu haben. Denn 1840 komponiert er eine kühne Entsprechung dieser Formel, sein Opus 52, den Lobgesang. Mendelssohn nennt das Werk eine „Sinfoniekantate nach Worten der heiligen Schrift“ und stellt der Erstausgabe ein Motto aus Luthers Gesangbuch von 1525 voran: „Sondern ich möchte alle Künste, sonderlich die musica, gern sehen im Dienste deß, der sie gegeben und geschaffen hat.“21 Das Hybridgebilde „Sinfonie-Kantate“, das zwischen Bach-Kantate und Beethovens Neunter Sinfonie (1824) steht, dirigiert Mendelssohn in der Thomaskirche in Leipzig anlässlich der dreitätigen 400 Jahrfeier der Erfindung des Buchdrucks durch Johannes Gutenberg. Der Lobgesang wird vom Publikum überwältigend positiv aufgenommen. Dabei ist es nichts weniger als der Versuch, das Herzstück der autonomen Musikkultur, die Sinfonie, in eine neue protestantische Kirchenmusik zu integrieren. Während Beethoven beim Referenzobjekt, dem Finale der Neunten Symphonie „… opposed instrumental and choral forces for different ends“ einsetzt, verfolgt Mendelssohn im Lobgesang, „a unified whole, in which the addition of text served to complement and explicate the abstract symphonic form“.22 Es ist dieses „unified whole“, die funktionale Integration autonomer und textgebundener Musik, ganz im Sinne Schleiermachers, die für eine „curiously mixed 19 20 21 22
Schleiermacher 1984, S. 24. Schleiermacher 1984, S. 24f. Todd 2003, S. 397. Todd 2003, S. 398.
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reception“23 des Lobgesangs sorgt. Der Lobgesang gehört zu Lebzeiten Mendelssohns zu seinen beliebtesten Stücken beim Publikum. Seine hybride Form sorgt dagegen bei Kritikern für den meisten Gesprächsstoff. Selbst der Freund Robert Schumann empfiehlt eine Trennung von autonomer Sinfonie und textgebundenen Chorsätzen zum Vorteil beider.
Wirkungsgeschichte Am Ende wird es die sich etablierende Autonomie der Musik sein, an der das Schleiermacher-Mendelssohn’sche Versöhnungsmodell zerbricht. Nicht die Beziehung auf das Höchste wird die Musik als eine unbewusste Form des Absoluten ausweisen. Es ist die vollständige Vermittlung ihrer Form mit den selbst gesetzten Formgesetzen, die in der 12 Ton-Technik von Schönberg programmatisch vertreten wird. Diese konsequente Vermittlung der Musik mit sich selbst rückt sie nach Adorno in die Nähe des Absoluten.24 Den Bruch mit der Religion, der aus dieser Autonomie des musikalischen Klanges folgt, nimmt schon Schleiermacher im Aufkommen der reinen Instrumentalmusik wahr.25 Während er in seiner Ästhetikvorlesung von 1819 der Instrumentalmusik nur eine relative Selbstständigkeit zubilligt, vor allem gegenüber der an geistliche Texte gebundenen Musik, korrigiert er diese Position in seiner Akademievorlesung von 1831. Jetzt sieht er den höchsten Triumph der Musik darin, dass sie, wie in Beethovens Sinfonien, „der Sprache ganz Lebewohl sagt und alle Lebensschauer, welche die Seele durchziehen können, verkörpert in dieser unendlich abwechselnden Fülle von Tonfolgen und Zusammenhängen“.26 Die für Mendelssohns gesamtes Werk zentrale Figur einer intrinsischen Verbindung der Musik mit der religiösen Unendlichkeit als ihrem natürlichen Gehalt, hat mit Beethoven seine Überzeugungskraft verloren. Für einen Musikstil, der so intim mit der Religion verbunden ist wie der Mendelssohns, gibt es in der Moderne, in der sich der Gedanke musikalischer Autonomie durchsetzt und die christliche Religion ihre gesellschaftliche Verbindlichkeit verliert, keinen Platz mehr, außer in Nischen, etwa der erneuerten evangelischen Kirchenmusik, die Komponisten wie Hugo Distler, Ernst Pepping und Helmut Bornefeld verfolgen. 23 24 25 26
Todd 2003, S. 397. Vgl. Adorno 1978, S. 461. Vgl. Scholtz 1981, S. 140. Schleiermacher 1984, S. 179.
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3 Barth und Mozart – freies Spiel, ohne religiöse Bindung Schleiermacher und Karl Barth verbindet, trotz der theologischen Differenzen, die Barth immer wieder betont, ein gemeinsames Problembewusstsein: Beide sehen, dass die moderne Autonomie der Kultur, insbesondere die der Musik eine theologische Herausforderung darstellt, die für die Frage der kulturellen Relevanz des Christentums entscheidend ist. Die Lösungen, die beide anbieten, sind jedoch diametral entgegengesetzt. Was ist nun die Antwort, die Barth auf die Frage nach einem religiösen Sinn autonomer Musik gibt? „Meine erste Begegnung mit großer Musik – ich muss damals etwa fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein – war meine Begegnung mit Mozart. Es handelt sich – ich sehe die Situation noch vor mir – um ein paar Takte aus der ‚Zauberflöte‘ (‚Tamino mein! O welch ein Glück!‘), von meinem Vater auf dem Klavier angeschlagen. Sie gingen mir ‚durch und durch‘. Ich bin älter und schließlich alt geworden. Ich habe noch viel mehr und ganz anderes von Mozart gehört. Er wurde mir je länger je mehr zu einer Konstante meines Daseins.“27
Schlichte, aber folgenreiche Akkorde, die Vater Barth seinem Sprössling vorspielt. Die Musik Mozarts, die der Knabe Barth so unmittelbar-körperlich erlebt, bleibt auch für den alten Karl Barth ein Gegenstand höchster Lust und um Verstehen bemühten Hörens. Wenige Begleiter von Barths theologischem Werdegang können von sich behaupten eine Konstante in seinem Dasein geblieben zu sein. Mozart aber hielt Barth die Treue. Das hat, neben dem Zufall – der Vater hätte auch den Tristanakkord anschlagen können –, einen sachlichen Grund. In Mozarts Musik vernahm Barth eine weltoffene und weltüberlegene Freiheit, die je länger er diese Musik hörte und je besser er sie zu verstehen glaubte, dem zentralen Anliegen seines theologischen Denkens entsprach. Barth hat den Inbegriff der musikalischen Freiheit Mozarts als Umkehrung des Verhältnisses zwischen den großen dunklen und den kleinen hellen Erfahrungen verstanden, als das Ja, das stärker ist als das Nein: „Diese tröstliche, diese für jeden, der sie vernimmt, köstliche Wendung“, eine Wendung, „… in deren Kraft das Licht steigt und der Schatten, ohne zu verschwinden, fällt.“28 Trotzdem schrieb Barth keine Theologie der Musik Mozarts. Eher distanziert stand er einer theologischen Deutung Mozarts gegenüber. Das Buch seines Schüler Karl Hammer, immerhin die Dissertation, die er bei Barth schrieb, behandelte er mit mildem Spott: „(Hammer) hat sich zu einer theologischen Deutung Mozarts 27 Barth 1956, S. 7. 28 Barth 1956, S. 42f.
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hinreißen lassen. Ich bin wohl neugierig, ob aus der Schule meines Nachfolgers einmal auch so merkwürdige Arbeiten hervorgehen werden!“29 Anders als sein Schüler sieht Barth die Pointe der Musik Mozarts gerade nicht in ihrem theologischen Gehalt, sondern in der zweckfreien Autonomie, die nichts anderes tut als ihrer eigenen Logik zu folgen. Und eben diese autonome Spielfreude macht die Musik zu einem herausragenden Beispiel der Schöpfung, die Barth als den „Spielraum des Lebens“30 begreift, in dem der Mensch in „seinem eigenen Weg und Lauf zum Zuge kommt.“31 Mozarts Musik ist also gerade in ihrer profanen Weltlichkeit, diesseits aller außermusikalischen Referenzen, ein Lehrstück der Schöpfungslehre Barths. Barth war daher auch kein Freund der Kirchenmusik Mozarts, sondern seiner Opern und Instrumentalmusik. Unschwer lässt sich die Akzentverschiebung gegenüber Schleiermacher erkennen. Während Schleiermacher die freie spielerische Seite der Musik, den geselligen Stil für belanglos hält und das freie Spiel nur die Beziehung der Musik auf das Höchste ausbalanciert, begreift Barth genau umgekehrt die in sich zweckfreie Bedeutungslosigkeit des musikalischen Spiels als die theologische Pointe der Musik Mozarts. Wenn die Theologie eine Aufgabe gegenüber der Musik hat, dann die, entschieden ihre bedeutung(s)-lose Autonomie zu betonen, denn genau dieses souveräne Spiel der Musik, jenseits außermusikalischen Sinnzuschreibungen, macht die Musik theologisch relevant. Aber wie kann das souveräne Spiel der Musik, das sich außermusikalischen Zuschreibungen entzieht, nun doch theologisch relevant sein? Im Rahmen seiner Darstellung der protestantischen Theologie im 19. Jahrhundert geht Barth auf das Besondere von Mozarts Musik ein. Mozart gehört in die Vorgeschichte der Theologie des 19. Jahrhunderts, in die Kultur des 18. Jahrhunderts.32 Die Musik dieser Zeit ist in erster Linie ein Handwerk, die inventorische Handhabung von musikalischen Regeln. Das schließt das Genie als Konstitutivum des Schaffensprozesses aus. Die Musik und auch die Kunst dieser Zeit ist unromantisch, sie ist geradezu das Gegenbild zur Musik des 19. Jahrhunderts, in dem für Barth mit Beethoven die Romantik beginnt. Das zweite Moment ergibt sich aus Barths Analyse des Zeitgeistes. Denn hier zeigt sich, dass der Künstler des 18. Jahrhunderts noch ungebrochen auf eine objektiv gültige Ordnung, auf ein Harmoniegesetz vertrauen konnte, das er in sich 29 Brief an Prof. Eichroth vom 4. April 1964 (Barth 1975, S. 241f.); außerdem: Hammer 1964. 30 Barth 1950, S. 5. 31 Barth 1950, S. 98. 32 Barth 1947, S. 49–53.
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selbst abgebildet vorfindet. Komponieren bedeutet, die objektive Ordnung der Welt auf das musikalische Material anzuwenden. Der Künstler des 18. Jahrhunderts tritt daher in doppelter Weise hinter sein Werk zurück, einerseits hinter die Sachlichkeit, mit der er die Regeln der Kunst anwendet und anderseits hinter die objektive Ordnung der Welt, an deren Erkennbarkeit er glaubt. Vor diesem Hintergrund erklärt sich die spielerische Freiheit der Musik des 18. Jahrhunderts, die für Barth den Höhepunkt der Musikgeschichte darstellt: „Alle frühe Musik ringt noch viel zu sehr mit dem Rohstoff des Klanges und von der späteren Musik von Beethoven ab muss man wohl sagen, dass sie die Tonwelt viel zu wenig gewollt und geliebt hat, als dass man sie in derselben Eindeutigkeit als Spiel verstehen könnte.“33 Mozart steht nun für Barth genau auf der Schwelle des 18. zum 19. Jahrhunderts: „Er gehört noch ganz dem 18. Jahrhundert an und war doch auch schon einer von den Menschen des Übergangs“.34 In Mozarts Musik meinte nun Barth eine Musik zu hören, die die zerrissene Existenz des Menschen des 19. Jahrhunderts aufgreift – berühmt ist Kierkegaards Definition des Menschen als einer „Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit“, die sich zu sich selbst verhält35 –, ohne selber von diesen Widersprüchen zerrissen zu werden. Mozarts Musik macht vielmehr das „… durch kein irdisches Spiel aufzuhebende Rätsel der menschlichen Existenz sichtbar“36 – Barth denkt vor allem an Mozarts Don Giovanni – und zwar so, dass sie in diesen Widersprüchen Spiel, d.h. musikalisch autonom bleibt. Wie gelingt nun der Musik Mozarts diese Darstellungsleistung? Wie kann sie „in einer ganz ungemeinen Weise frei von allen Übersteigerungen, von allen prinzipiellen Brüchen und Entgegensetzungen“ klingen und zugleich diese prinzipiellen Brüche hörbar machen? Indem die Musik im Spiel die prinzipiellen Brüche, die Erfahrung von Schuld, Leid, Krankheit und Tod ihres prinzipiellen Charakters entkleidet. In diesem begrenzenden, relativierenden Sinn ist die spielerische Freiheit der Musik mit dem Humor verschwistert. Auch der Humor ist eine Beweglichkeit im Endlichen, die die prinzipiellen Widersprüche der menschlichen Existenz relativiert und den „Ernst der Gegenwart“ einklammert. Das Spiel der Kunst wie das des Humors nimmt die „in die Gegenwart hineinragende Zukunft Gottes noch ernster … [als] den Ernst der Gegenwart.“37 Im Spiel der Musik Mozarts wie im Spiel des Humors zeigt sich für Barth daher eine Wahrnehmung der Welt, wie sie im Licht ihrer 33 34 35 36 37
Barth 1947, S. 52. Barth 1947, S. 404. Kierkegaard 1982, S. 8. Barth 1947, S. 53. Barth 1978, S. 445.
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eschatologischen Wirklichkeit erscheint.38 In dieser letzten und tiefsten Entsprechung fand Barth in Mozart eine Konstante seines Daseins. Einen Verwandten im Geiste, der auf seinem Gebiet, der Musik vollbrachte, was im Sinne des Theologen und Menschen Barth war, eine Freiheit des Existierens, die Gottes überlegenem Ja entspricht. Im Grunde verfügt Barth mit seiner Mozartinterpretation über ein leistungsfähiges Modell, das auch den außermusikalischen Sinn eines musikalisch autonomen Werkes erläutern kann. Barth kann zeigen, wie die musikalische Autonomie – in seinen Worten, die spielerische Freiheit der Musik Mozarts –, sich erhält und gerade darin außermusikalische Gehalte, – im Fall Mozarts das existentielle Drama des Menschen im 19. Jahrhundert –, zur Geltung bringt. Das ist überzeugend, sieht man von der etwas skurrilen Tatsache ab, dass er dieses Modell auf Mozart beschränkt. Warum aber soll dieses Modell nicht ebenso musikalisch souverän, religiöse Gehalte zur Darstellung bringen können? Vermutlich liegt der Grund für diese Beschränkung in Barths reformiertem Misstrauen gegen jegliche religiöse Darstellung. Beide Beschränkungen, die auf Mozart und die auf seine weltliche Musik, sind aber sachlich nicht zwingend. Löst man Barths Ansatz aus seiner Mozartschwärmerei und seinem reformierten Ikonoklasmus, dann zeigt sich eine Struktur, wie musikalische Autonomie einen außermusikalischen Sinn zur Darstellung bringt, ohne ihre Autonomie zu opfern. Gunnar Hindrichs verfolgt ohne diese Beschränkungen mit etwas anderen begrifflichen Mitteln einen ähnlichen Ansatz wie Barth: Die Musik der Avantgarde kann in ihrem Eigensinn ein Gleichnis sein. Sie kann in ihrem musikalischen Eigensinn als etwas anderes, beispielweise als religiös gestimmt, gehört und verstanden werden.
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Gunnar Hindrichs – die Autonomie des Klanges und der außermusikalische religiöse Sinn
Gunnar Hindrichs entfaltet den Begriff der ästhetischen Autonomie nicht im Rahmen einer Theorie ästhetischer Erfahrung, wie etwa Rüdiger Bubner,39 sondern im Rahmen einer Theorie des Kunstwerks,40 das seinen gesellschaftlichen Bedingungen weder als ein kunstfremdes Außenhalb gegenübersteht, noch von diesen äußeren Voraussetzungen heteronom bestimmt wird. Im Blick auf die autonome Musik beschreibt Hindrichs die Referenz auf eine externe Sinndimension so: „Musikali38 Vgl. Barth 1956, S. 8. 39 Zur Krise des Werkbegriffs, vgl. Bubner 1989, S. 30ff. 40 Vgl. Hindrichs 2014, S. 15.
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sche Klänge werden nicht nur als etwas verständlich, das auf andere musikalischen Klänge bezogen ist. Sie werden oft auch als etwas verständlich, das auf Außermusikalisches bezogen ist: auf ein Gefühl, auf ein Lebewesen, auf ein Konzept.“41 Hindrichs schlägt vor, diese Beziehung der autonomen Musik auf einen außerkünstlerischen Sinn, der die Musik in einem neuen Licht erscheinen lässt („als etwas“), mit der aus der biblischen Texthermeneutik bekannten Figur des vierfachen Schriftsinns verständlich zu machen.42 Es handelt sich bei dieser Interpretationsmethode um ein Modell, das die Beziehungen des (biblischen) Textes auf Sinndimensionen erschließt, die zu diesem Eigensinn hinzutreten und ihn „als etwas“ verständlich machen. Vierfach wird der Text gedeutet in seinem Eigensinn (literal), im Blick auf seine impliziten Grundlagen (allegorisch), auf das Subjekt des Betrachters (tropologisch) und im Blick auf das, was am Text als noch nicht eingelöstes Versprechen aufscheint (anagogisch). Hindrichs überträgt nun dieses hermeneutische Modell zur Interpretation biblischer Texte auf den Beziehungsreichtum, den ein Kunstwerk als autonomes Werk zu seinen außerkünstlerischen, ihm aber nicht äußerlichen Sinndimensionen unterhält. Der vierfache Schriftsinn bietet sich folglich auch als ein Modell an für das Problem, das uns beschäftigt: Wie lässt sich mit autonomer Musik ein religiöser Sinn verbinden, ohne die Autonomie der Kunst zu dementieren, noch den religiösen Sinn als äußerliche Zutat zu behandeln? In Hindrichs Modell, das er aus dem vierfachen Schriftsinn gewinnt, bleibt der Eigensinn der Musik nicht nur erhalten. Der literale Eigensinn der Musik, die Beziehung des musikalischen Klangs auf andere Klänge ist vielmehr diejenige Grundschicht, die auch die Beziehung auf den außerkünstlerischen Sinn trägt. Der außerkünstlerische Sinn ist daher kein Außerhalb des Kunstwerks, wie etwa der Text beim Parodieverfahren, sondern der religiöse Sinn ist ein Außerhalb im Kunstwerk. Der religiöse Sinn ist die außermusikalische Referenz, die das autonome Musikstück als religiöse Ausdrucksform erschließt und sich als eine bestimmte Beleuchtung des Kunstwerks am künstlerischen Eigensinn selber bewähren muss. Noch einmal Gunnar Hindrichs: „Musikalische Gegenwart erhalten Trauer, Vogel und Heldentum [Beispiele für Außermusikalisches] nur in Gestalt folgerichtiger Klänge der musikalischen Logik“.43 Folgt man den Überlegungen Hindrichs zum außermusikalischen Sinn des autonomen Klangs – und ich folge exemplarisch nur der allegorischen Sinndimension 41 Hindrichs 2014, S. 214. 42 Hindrichs 2014, S. 217–224. 43 Hindrichs 2014, S. 217. Hinzufügung in der Klammer v. Verf.
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–, so könnte man vom lateinischen Text des Totengedenkens, dem Lux aeterna,44 das Ligeti 1966 für sechzehn Stimmen vertont hat, als einer implizite Prämisse reden, die das autonome Musikstück Ligetis als etwas, nämlich als religiöses Gebet verständlich macht. Eine solche allegorische Deutung ist dem Kunstwerk Ligetis nicht äußerlich. Vielmehr evoziert die musikalische Struktur einen Klangraum, in dem die einzelnen Stimmen sich auflösen in eine schwebende Unendlichkeit. Der Gesichtspunkt, der es uns erlaubt, ein Musikstück aus einer religiösen Perspektive zu sehen, muss daher in der Logik des Kunstwerkes selber liegen. Hindrichs nennt diesen Gesichtspunkt deshalb eine „implizite Prämisse“,45 weil das lux aeterna in Ligetis Komposition uns diese Deutung gewissermaßen „zu glauben aufgibt“. 46 Die Formulierung, es handele sich um etwas, das uns das Kunstwerk „zu glauben aufgibt“, zeigt, dass sich die Prämisse weder einfach aus dem Kunstwerk ergibt, noch von außen herangetragen wird. Was als implizite religiöse Prämisse eines Kunstwerks, etwa der religiöse Anspruch der Komposition Lux aeterna gelten kann, muss zwar im Kunstwerk angelegt sein, aber dieser Gesichtspunkt ergibt sich nicht zwingend aus seiner Form. Die Wahl des Gesichtspunkts, der als „implizite Prämisse“ in Frage kommt, ist offen, wenn auch nicht beliebig. Das eine Werk veranlasst uns, eine Beziehung zu bestimmten Ideen oder Landschaften als implizite Prämisse des autonomen Klangs anzunehmen, etwa in der Programmmusik von Liszt. Der Choraltext „Komm, o Tod, du Schlafes Bruder“ wie auch die Choralzitate von Johann Sebastian Bach in Robert Krampes Vertonung von 2008 veranlassen uns dagegen als implizite Prämisse dieses Stückes eine religiöse Dimension anzunehmen. Aber diese Annahme ist eine Arbeitshypothese, die sich im Hören und Erleben von Krampes musikalischer Textur bewähren muss, daran also, ob der Text und die Choralzitate uns den autonomen Klang der Musik Krampes als einen religiösen Ausdruck verständlich machen können. Vielleicht kann man auch sagen, dass ein religiöser Text die Beziehung des autonomen Musikstücks auf seinen außermusikalischen Sinn explizit zum Thema des autonomen Werkes macht. Die äußeren Zeichen – etwa das Lux aeterna – sind nicht schon der religiöse Sinn, sondern ein Richtungssinn, ein Hinweis, den das Werk gibt, es könnte als religiöses Werk verständlich werden. Das Werk muss aber dann auch diese explizite Beziehung auf einen außerästhetischen Sinn selber zum Thema seiner musikalischen Textur machen. Das Werk bringt dann „durch sich 44 Lux aeterna luceat eis, Domine: Cum Sanctis tuis in aeternum: quia pius es. Requiem aeternam dona eis, Domine: et lux perpetua luceat eis. – Cum Sanctis tuis in aeternum: quia pius es. 45 Hindrichs 2014, S. 221. 46 Hindrichs 2014, S. 222.
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selbst mit zum Vorschein“,47 dass und was es mit einem außerästhetischen Sinn verbindet. Das Werk stößt gewissermaßen aus sich heraus die Rezeption in eine bestimmte Richtung an, ohne sie vollständig zu determinieren. Man könnte sagen, das Werk Ligetis bietet von sich aus das ewige Licht, in das wir eines Tages eingehen werden, als einen möglichen Sinnzusammenhang an, der zwar außerhalb des autonomen Werks liegt, aber ein Außerhalb im Inneren des Werkes ist. In diesem Sinn kann man von einer christlichen Musik unter der Bedingung der Autonomie der Kunst sprechen: Religiöse Motive, Texte, etc. sind nicht als solche Garant eines religiösen Sinnes eines autonomen Kunstwerkes. Sie machen es nicht zu einem religiösen Werk, aber sie zeigen, dass die implizite Beziehung auf einen außerkünstlerischen religiösen Sinn in einem autonomen Werk vergegenwärtigt wird. Die reflexiven Differenzen im geformten Material,48 die religiösen Zeichen und Motive wie biblischen Texte, oder Choralhaftes, sind Richtungsangaben, die der Rezeption einen Richtungssinn anzeigen, der aber nur dann nicht in die Irre führt, wenn die Richtung durch das Werk und seine formale Folgerichtigkeit eingelöst wird.
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Nachspiel: (Autonome) Musik und die Folgen
Was folgt aus diesen Überlegungen für das Verhältnis von Religion und Musik? Ich würde sagen, dass unter der Bedingung der Autonomie des Klangs sich die Fragestellung umkehrt. Es geht dann nicht mehr nur und in erster Linie um die Folgen Luthers, oder allgemeiner, die Folgen der christlichen Religion als Horizont des Unbedingten für die Musik, sondern auch und umgekehrt um die Folgen der autonomen Musik für Luther und die religiöse Praxis, die sich auf ihn beruft. Denn es könnte sein, dass im autonomen Klang, in Ligetis lux aeterna, ein Geheimnis hörbar wird, das in keine Sprache übersetzt werden kann. Ein Unsagbares, das die religiöse Sprache gerade deshalb bereichert, weil es sich nicht in Worte, nur in Klänge fassen lässt.
47 Hindrichs 2014, S. 222. 48 Dietrich Korsch sieht dagegen nur die Möglichkeiten, an einem spezifisch christlichen Modus des Selbstzugs in der Kunstbegegnung festzuhalten, nicht aber an materialen Differenzen im Kunstwerk: „Es ist klar, daß die Erfassung des Unterschieds [von Kunst und Religion] nicht über material differente Werke laufen kann“ (Korsch 1997, S. 44).
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Thomas Erne
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Autonome Musik und religiöser Sinn
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Vom Konzertsaal in den Jazzkeller und zurück in die Kirche
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Luthers Erben und das Unbehagen vor der spielerischen Dissonanz der Freiheit des Jazz Uwe Steinmetz
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Jazz als Kirchenmusik
Wie steht es aus reformatorischer Perspektive um das Verhältnis von Religion und Musik, wenn der Jazz mitspielt? Qualifiziert sich Jazz als Kirchenmusik? Hätte heute, 501 Jahre nach der Reformation Martin Luther eine Jazzkirche gutgeheißen, gar gern in ihr frei a la Predigt Slam improvisierend und in engem Kontakt zu den Musikern verkündigt? Würde Martin Luther Jazz lieben, so wie der 445 Jahre jüngere Dr. Martin Luther King Jr., als Musik der Hoffnung, die heilend und verbindend in einer fragmentarischen Lebenswelt gerade durch ihre eigene innerliche Fragilität wirkt? Jazz verbindet heute in singulärer Qualität die Klangwelten der Gegenwartsmusik durch die integrativen Möglichkeiten der Improvisation – von Hip-Hop, Rockmusik, Weltmusik, Elektronischer Musik bis hin zu Neuer Musik. Dies spiegeln auch die in den vergangenen Jahrzehnten konstant wachsenden Studierendenzahlen der Jazzausbildungsgänge in den deutschen Musikhochschulen und die international ausstrahlende Qualität der jungen Jazzszene in Deutschland wieder, die genau zwischen und mit diesen Genres, zwischen Avantgarde und Popmusik, erfolgreich aktuellen Jazz kreiert. Im Vergleich zur Neuen Musik ist die Nähe zur Spiritualität im Jazz deutlich ausgeprägter, nicht nur im Blick auf die afroamerikanischen Wurzeln in den Spirituals und Gospels. Einige der bedeutendsten Aufnahmen wie die Sacred Concerts © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_13
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von Duke Ellington und A Love Supreme von John Coltrane sind weltweite Bestseller mit spirituellem bzw. sogar liturgischem Hintergrund. Auch im zeitgenössischem Jazz finden sich etliche renommierte Künstler, die vieles in ihrer Musik als dezidierten Ausdruck christlicher Spiritualität begreifen – u.a. Ike Sturm, Brian Blade, Tord Gustavsen, Take Six, Janne Mark, Gregory Porter und Robert Glasper. Eine besondere Qualität des Jazz ist es bis heute, sich dem Kanon der jeweiligen gegenwärtigen Popularmusik als Inspirations- und Interpretationsgrundlage zu bedienen, wie dies in den USA seit den 1930er Jahren geschieht. Aus schlichten Liebesliedern oder mit höchster Kunstfertigkeit gedichteten Broadwayschlagern werden durch die Adaptions- und Transformationsprozesse des Jazz herzzerreißende, abgründige und vieldeutige Werke die eine offene spirituelle Semantik entfalten – z.B. in Wayne Shorters Improvisationen über Joni Mitchells Both Sides Now oder John Coltranes Version von My Favorite Things. Ausgehend von dieser reichhaltigen spirituellen Jazztradition eröffnet sich ein Reigen an Klangfarben, in denen auch in traditionellen liturgischen Formen Wort und Musik neue Verbindungen eingehen können. Eine Jazzkirche kann einen lebensechten Crossover in allen Facetten betreiben, denn Jazz ist körperliche, lebensnahe Musik, erdgebunden, mit Blick blauwärts, in den Himmel. Jazzgottesdienste sind Seismographen für kulturelle Entwicklungen und Trends in unserer Gesellschaft, die den Wortklang der Liturgie inspirieren und aktualisieren können, so wie Johann Sebastian Bach in seinen Kantaten, Passionen und Motetten die Theologie seiner Zeit kommentiert und neu interpretiert. Auch in der 2017 gegründeten Evangelischen Popakademie in Witten hat Jazz zumindest als popularmusikalische Spielart einen Platz in der kirchenmusikalischen Ausbildung bekommen. Ist es nur eine Frage der Zeit, bis sich offiziell in deutschen Großstädten Kirchen mit einem Jazzschwerpunkt in der Tradition der amerikanischen Jazzministries gründen? Jazz und Kirche zusammen – das ist jedenfalls keine neue Idee. Seit über 60 Jahren beschäftigen sich auch evangelische Kirchen in Deutschland immer wieder mit diesem, zunächst vermutlich unheiligen, und vielleicht für die Sache unfruchtbaren, auf jeden Fall aber unbequemen Paar. Es lohnt ein Blick zurück in die Erstbegegnung(en) von Kirche und Jazz, um den obigen Fragen und diesen Dissonanzen näher zu kommen.
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Erdige Musik mit Himmelsblick: Jazz in der Kirche und die Kirche im Jazz
Während Improvisation von der Alten Kirche bis in das 18. Jahrhundert hinein eine immer weiter abnehmende Rolle in den Liturgien der Kirche spielte,1 ließen im 20. Jahrhundert die aus den USA stammenden Jazzgottesdienste eine neue gottesdienstliche Improvisationskultur aufblühen. Dabei beeinflusste die Musik von Anfang an das Wort und die Wortwahl, Sprache und Gesang gingen gemeinsam neue Klangpfade, die sich ästhetisch an gegenwärtiger Dichtung und Musikschaffen orientierten.2 Jazz, wie alle wesentlichen Stile der amerikanischen und westlichen Popularmusik, ist bis heute geprägt von der Verschmelzung des kulturell-musikalischen Erbes der seit dem 16. Jahrhundert überwiegend aus Westafrika stammenden Sklaven mit der europäisch geprägten Musik und Religion Nordamerikas. Das Ende des Bürgerkrieges 1865 und die damit einhergehende Abschaffung der Sklaverei gaben den Anstoß zur Entwicklung jener Musikstile, die wir heute Jazz und Blues nennen. Mit der Etablierung der ersten protestantischen Kirchen mit afroamerikanischer Prägung entstand Gospel als eigenes Genre der Kirchenmusik, während die Spirituals schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts in konzertanter Form internationale Berühmtheit erlangten, z.B. durch die Fisk Jubilee Singers oder dem Sänger Paul Robeson. Spirituals erzählen in der ersten Person von Gotteserfahrungen: Everytime I feel the spirit, I pray; sie klagen: Sometimes I feel like a motherless child, Nobody knows the trouble I have seen; und erhoffen in Anlehnung an biblische Erzählungen die eigene Befreiung: Go Down Moses, Freedom, Oh Freedom. Spirituals stehen daher in der Tradition der Psalmen als persönliche Rede zu Gott in allen ihren intimen Facetten und werden oft konzertant und durcharrangiert aufgeführt. Gospels dagegen waren die ersten Hymnen für den Gemeindegesang in den neuen afroamerikanischen Kirchen des 20. Jahrhunderts. Gospel-Hymnen haben liturgische Funktion und werden in der Tradition der Ring Shouts traditionell von einem Vorsänger gesungen, dem ein Chor und die Gemeinde bekräftigend, improvisierend und kommentierend antwortet. Sie sollen in der Gemeinschaft Gottes Wirklichkeit erlebbar machen. Viele der frühen Komponisten des Jazz arbeiteten sowohl als Kirchenmusiker als auch in Nachtclubs und Theatern. Dazu zählen zwei Musiker, die zu den wich1 2
Vgl. Steinmetz 2018. Zur Verdeutlichung können hier die Klangbeispiele und Hörempfehlungen dienen, die sich auf der Website www.bluechurch.ch befinden.
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tigsten Protagonisten populärer Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA gehören: Thomas A. Dorsey, unter dem Namen „Texas Tommy“ als Bluesmusiker erfolgreich und zugleich der Vater der modernen Gospelmusik, und Duke Ellington, einem der bedeutendsten und wegweisenden Komponisten des frühen Jazz. Thomas Dorsey arbeitete in den 1930er Jahren als einer der ersten afroamerikanischen Jazzmusiker zugleich als Kirchenmusiker. Seine Anstellung in der Pilgrim Baptist Church, einer großen Baptistengemeinde in Chicago, ermöglichte ihm, sich auf das Komponieren und die Verbreitung der neuen Gospelmusik zu konzentrieren. Er begann mit Solo-Sängerinnen statt mit Chören in Gottesdiensten zu arbeiten, und engagierte berühmte Blues- und Jazzsängerinnen wie Mahalia Jackson und Della Reese, die sonst in denselben Clubs wie Billie Holiday und Ella Fitzgerald sangen. Jazz ging auf diese Art in die Kirche. Der große Innovator Louis Armstrong war auf der Seite des kommerziellen Jazz der erste, der sich mit den christlichen Wurzeln des Jazz innovativ auseinandersetzte. Er nahm zwischen 1930 und 1941 eine Reihe an Spirituals und Eigenkompositionen auf, die auf biblischen Texten beruhten und Wort und Musik in der Improvisation neuartig kombinierten. In der 1940 aufgenommenen Komposition Cain and Abel,3 einer verlängerten Bluesform mit einer an Zwischenmodulationen und Sekundärdominanten reichen Bridge erzählt er beispielsweise zunächst im Sprechgesang (wie ein Vorläufer des Rap) diese biblische Geschichte und gelangt ähnlich wie im heutigen religiös inspirierten Hip Hop zu einem moralischen Fazit, bevor er über die gesamte Form mit der Trompete improvisiert. Hier wird er dann zum ‚Prediger mit der Trompete‘ – seine Improvisation folgt in der Dramaturgie eng dem Verlauf seines Sprechgesangs; Wörter, musikalisches Vokabular und deren Semantik sind eng ineinander verschränkt und inspirieren sich klanglich. Kirche wurde so erstmalig auf die Jazzschallplatte gebannt. Ob Musiker nun in Gottesdiensten oder in Clubs spielten, die Kirche als Ort der kulturellen Begegnung vereinte sie als Treffpunkt: Gospel und Tanzmusik gehörte hier zur musikalischen Grundversorgung. Hinzu kam, dass aufgrund der hohen Temperaturen in den Südstaaten Fenster und Türen der Gotteshäuser häufig offen standen. So wurde Gospelmusik unüberhörbar und gehörte zum festen Bestandteil des heimatlichen Klangraums und, wie der Blues, zum Grundrepertoire der Jazzmusiker. Die Musiker, die den Liturgical Jazz ab den 1950er Jahren begründeten,
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Armstrong und His Orchestra 1940.
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einte durch ihre Herkunft und Sozialisation konsequenterweise ein Ziel: himmelwärts gerichtete Klänge mit bodenständigen, irdischen zu verbinden.4 Zum Zeitpunkt der ersten religiös intendierten Jazzkompositionen hatten sich alle wesentlichen Stile des Jazz in den USA entwickelt und es war ein Bewusstsein dafür gewachsen, dass Jazz als genuine Amerikanische Klassische Musik5 auch einer Musica Sacra, einer spirituellen Klangsprache bedurfte. Gleichzeitig war Jazz nun in Europa, Afrika, Südamerika und Asien heimisch geworden, und bildete eigenständige Verbindungen mit den jeweiligen musikalischen Kulturen. Als Geburtsstunde des Genres Liturgical Jazz gilt das 1959 entstandene Album des Tenorsaxophonisten Ed Summerlin.6 Seine im Jazz-Fachmagazin Downbeat hoch gelobte Aufnahme Liturgical Jazz bezieht sich auf die Form eines Morgengebets aus dem Book of Common Prayer und enthält neben liturgisch geprägten Kompositionen Choralvariationen und musikalisch ausgestaltete Lesungen. Die Klangsprache der Kompositionen ist im Cool Jazz, also einer Stilistik der damaligen Jazz Avantgarde verankert. Summerlin komponierte das Werk auf Anregung eines befreundeten Pastors der methodistischen Kirche, in der auch die Schallplattenaufnahme entstand. Der Erfolg seiner Suite war für ihn sicherlich im Voraus nicht abzusehen. Summerlin tourte mit seiner Musik jahrelang in Kirchen und Colleges quer durch die USA und begeisterte nachhaltig für gottesdienstlichen Jazz. In den 1960er Jahren etablierte sich in der lutherischen Saint Peter’s Church in Manhattan aufgrund der persönlichen Kontakte des Pastors John Garcia Gensel zur Jazzszene der Stadt in den 1960ern eine der ersten ständigen kontinuierlichen Experimentier- und Spielstätten für Jazz als Kirchenmusik und begründete damit die weltweit erste Jazzministry. Noch heute finden dort mehrmals in der Woche Jazzgottesdienste und Andachten mit prominenten New Yorker Musikern statt. Der Jazzbassist Ike Sturm ist dort als Jazzkirchenmusiker angestellt. 1965 feierte Duke Ellingtons erstes Sacred Concert7 vor 2500 Besuchern in der Grace Cathedral San Francisco Weltpremiere. Trotz heftigster Reaktionen aus kirchlichen Kreisen, inklusive Todesdrohungen gegen die beteiligten Pfarrer, wur4 5 6
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Die Frage, warum Duke Ellington in seinem ersten Sacred Concert einen z.B. Steptanz verwenden musste, erklärt sich hierdurch nicht als Provokation für die Kirche, sondern als nötiges und natürliches kompositorisches Ausdrucksmittel. Vgl. hierzu Koll und Steinmetz 2016; Arnold-Forster 2017. Summerlin 1959. Allerdings nahm schon 1954 George Lewis „and his Ragtime Band“ die erste Schallplatte mit Jazz-Arrangements von Hymnen in der Kirche vom Jazzenthusiasten Rev. Alvin Kershaw während einer Vesper in der Holy Trinity Episcopal Church in Oxford Ohio auf: Jazz at the Vespers. Ellington 1966.
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de es ein großer Erfolg und gilt als erstes Konzert, das modernen Jazz als geistliche Musik, als Sacred Jazz präsentierte. Ellingtons Sacred Concerts bildeten für die nächsten Jahrzehnte den Archetyp und die qualitative Referenz für alle weiteren großformatigen Werke des kirchenmusikalischen Jazz. Duke Ellington weigerte sich nachdrücklich, seine für Kirchen komponierte Musik als Jazz zu bezeichnen.8 Er sah in dem neuen Genre eine Bestätigung, dass Jazz als geistliche Musik eine eigene Form von „klassischer amerikanischer Musik“ geworden war. Im selben Jahr hatte der Tenorsaxophonist John Coltrane, inspiriert von seinem eigenen Erweckungserlebnis, A Love Supreme9 aufgenommen. Der 4. Satz, Psalm, beginnt im Stile eines vertonten Dankgebets Coltranes, das er auf der Rückseite der Schallplatte ohne Erklärung der Vertonung abdrucken ließ.10 A Love Supreme avancierte zu einem der meistverkauften Jazzalben aller Zeiten und war grundlegend für eine Bewegung im Jazz, die oft als Spiritual Jazz bezeichnet wurde und brachte so Liturgie auf die Jazzbühne. In der Rückschau lässt sich diese Emanzipation des religiösen Erbes der afroamerikanischen Musik im modernen Jazz von den ersten eigenständigen Kirchen bis zu den ersten Jazzministries als ein mindestens 200 Jahre umfassender Prozess beschreiben:11 1770: Erste afroamerikanische Baptistenkirche in Silver Bluff, Georgia. Ring Shouts und Spirituals bilden mit herkömmlichen Hymnen und liturgischen Formen den Nährboden für eine neue Kirchenmusiktradition. ab 1865: Schnelles Wachstum eigenständiger afroamerikanischer und integrierter Kirchen nach dem Ende des Bürgerkrieges und als Folge der Erweckungsbewegung. Spiritualsammlungen werden publiziert und werden auch in Europa schnell populär.
8
In dem PR-Material, das Ellingtons Agentur versandte (unveröffentlicht, aus dem Privatbesitz des Autors las autorisierte Kopie von Alice Babs) wird mehrfach auf den Unterschied zwischen „verjazzten Messen“ und Ellingtons Werken hingewiesen, hier ein Zitat von Seite 6: „Do not refer to Duke Ellington’s Sacred Concert as a Jazz Mass or a Jazz Concert. It is neither. A Jazz Mass takes liberties with – or improvises upon – a traditional ritual and its music. Duke Ellington’s Sacred Concert is a wholly original program/worship service/religious celebration for orchestra, choir and soloists, it must never be considered jazz.“ 9 Coltrane 1965. 10 Porter 1999, S. 231ff. 11 Vgl. Weisenfeld 2015.
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ab 1900: Entwicklung des frühen Jazz im Süden der USA (Ragtime, New Orleans Jazz), Gospel entsteht als neue genuin afroamerikanische Musikform. bis 1970: Verständnis von Jazz als Spirituelle Musikform, Entwicklung von Liturgical Jazz, Sacred Jazz und Spiritual Jazz. Auch im geteilten Nachkriegsdeutschland fanden besonders in den evangelischen Kirchen diese neue Form von Kirchenmusik und ihre soziokulturellen und politischen Dimensionen Beachtung. Bereits am 8. Oktober 1956 kam es zur ersten großen kirchlichen Jazzveranstaltung in der Marktkirche in Halle mit mehr als 2000 interessierten Besuchern.12 Arno Lehmann, Dekan der theologischen Fakultät in Halle, hatte einen Abend mit Dixieland-Jazzband, Spiritualchor und Podiumsgesprächen unter dem Titel ‚Jazz und Kirche‘ organisiert, ein Radiomitschnitt befindet sich im Schallarchiv in Leipzig. 1965 gründete der L. Schwann-Verlag in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Kirche des Rheinlandes das Label SCHWANN/AMS. Der Verlag sollte eine neue Vision von Kirchenmusik dokumentieren, präsentieren und multiplizieren. Es entstand u.a. die Produktion der ersten deutschen Jazzmesse von Hermann Gehlen mit klassischem Chor und dem Orchester Kurt Edelhagen,13 eine bis heute reizvolle und herausfordernde Komposition, die Elemente europäischer Kirchenmusik mit amerikanischem Modal- und Cool Jazz verschmolz. Darüber hinaus gab es auch Klassikproduktionen mit Aufnahmen Neuer Musik.14 Die Jazz-, Blues- und Spiritualmessen der 1960er und 1970er Jahre in Ost- und Westdeutschland bildeten sowohl den Nährboden für das Entstehen neuen Liedguts als auch für eine veränderte gottesdienstliche Klangsprache in der Verkündigung wie in der Musik.15 Durch den schnellen Wandel in der Popularmusik mit dem Aufkommen der vom Rock’n’Roll inspirierten Beatmusik und politischen 12 Vgl. Rudorf 1964, S. 87. 13 Gehlen 1969. 14 Während dieser visionäre Verlag leider nur für wenige Jahre aktiv war, gründete sich in Norwegen die Kirkelig Kulturversted (KKV), die bis heute nun in einem seit vielen Jahrzehnten gewachsenen Katalog an Produktionen dokumentieren, wie Jazz und Weltmusik klingt, die sich liturgisch versteht, oder musikalisch von christlicher Spiritualität geprägt ist. 15 Beispielhaft lässt sich diese Entwicklung an der Musik der Duisburger Gospelgroup verfolgen, die aus den Duisburger Jazzmessen des katholischen Kirchenmusikers Leo Schuhen hervorgingen. Sie adaptierten zunächst Spirituals („Du, Herr, gabst uns dein festes Wort“), die auch für den Gemeindegesang tauglich wurden. In den Folgejahren entstanden zunehmend kritisch-provokante Rock-, Folk- und Protestsongs eher konzertanten Charakters.
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Protestliedern verschwand allerdings in den Folgejahren die Improvisation schnell wieder aus diesen alternativen Gottesdiensten. Das spirituelle Erbe des Jazz, seine „Kernkompetenz“ der Improvisation und seine religiösen Bedeutungsebenen im konzertanten und säkularen Kontext wurden dabei oftmals vernachlässigt.16 Jazz fristete künftig in der deutschen Kirchenmusik ein Nischendasein als ein Schlagwort für komplexere Popularmusik, manchmal auch in Verwechslung mit Gospels und Spirituals oder in durchkomponierten Arrangements für Chor und Orgel, in denen bevorzugt Stile des Jazz bis 1960 kopiert wurden. Damit vollzog sich eine Entkopplung zwischen dem, was als Jazz in Kirchen dargeboten wurde, und was parallel dazu in Jazzclubs an moderner Musik erklang, ähnlich wie im 19. Jahrhundert zuvor in der komponierten Kirchenmusik und der Avantgarde der Konzertmusik. Erst als prominente Jazzmusiker im ausgehenden 20. Jahrhundert christliche Spiritualität als eine wesentliche Inspirationsquelle in das Zentrum ihres musikalischen Schaffens rückten und, wo es möglich wurde, auch in Kirchenräumen konzertierten,17 wuchs in Deutschland erneut ein Interesse an der Kombination dieser Musik mit gottesdienstlichen Formen.18 Dies äußert sich seit etwa 20 Jahren in neu entstehenden Jazzgottesdienstreihen, Publikationen, Tagungen und Lehrveranstaltungen in den Ausbildungsstudiengängen. Dabei ist das wechselseitige Lernen zwischen Jazzmusikern und Theologen bisher im Vergleich zum gefestigten und erprobten Kanon an kirchenmusikalischer und liturgischer Tradition wenig untersucht und dokumentiert. Dies mag auch ein Zeichen dafür sein, dass sich mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts der in der Philosophie postulierte Wandel von einer Postmodernen zu einer Postsäkularen Gesellschaft vollzogen hat, und Musiker wieder ermutigt sind, der Religiosität eine Klangwelt in ihrer Musik zu verschaffen. Diese Wechselwirkungen zwischen postsäkularen Strömungen und der Emanzipation des religiösen Ausdrucks im modernen Jazz weitergehend zu untersuchen, wäre sicherlich ein lohnenswertes Unterfangen. Hier soll lediglich auf die drei aktuellen vitalen Strömungen hingewiesen werden, in der Jazz christlichen Glaubens- und Erfahrungswelten begegnet, und diese sich in ihm klanglich wiederspiegeln: I. Spiritual Jazz: Ein eigenes Genre im Jazz seit 1965. Jazz ist hier eine Form universalistischer Gottesannäherung und Gotteslobes und auch eine der Meditation 16 Eine ausführliche Diskussion bietet im deutschsprachigen Raum Fermor 1999. 17 Beispielhaft wären hier u.a. zu nennen: Garberek 1994; Blade 1998; Gustavsen 2003. 18 Für einen Überblick über gegenwärtige kirchennahe Künstler und jazzaffine Kirchen sei hier wieder auf das internationale Netzwerkportal www.bluechurch.ch verwiesen.
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dienliche Musik. Oftmals kontemplativ, modal, mit frei improvisierten langen Formen, interreligiös und interkulturell motiviert und undogmatisch in der religiösen Aussage. Hörempfehlungen: A love Supreme (John Coltrane, Impulse! 1965) What was said (Tord Gustavsen, ECM 2016) II. Sacred Jazz: Jazz in der Tradition der Geistlichen Musik, also einer religiös inspirierten Konzertmusik, die häufig außerhalb von Kirchräumen zu hören ist. Er lebt von den religiösen Erfahrungswelten der jeweiligen Künstler, die ihre Musik in Jazzclubs und zugleich, gottesdienstlich dienend, in Kirchen spielen. Diese Musik ist aufgrund der Ausgangsmotivation der Künstler, ihre spirituellen und religiösen Erfahrungen mit ihrer Musik zu verbinden, sowohl im Konzertsaal, dem Jazzclub als auch in der Liturgie zu Hause. Hörempfehlungen: A Concert of Sacred Music (Duke Ellington, RCA 1965–66) Jazz Mass (Ike Sturm, im Eigenverlag 2009) III. Liturgical Jazz: Gottesdienstlicher Jazz, der in der Tradition der Kirchenmusik aus einer der Liturgie dienlichen Musik wie Jazzarrangements von Chorälen, Hymnen und liturgischen Kompositionen und Jazzmessen besteht. Inspiriert von religiösen Erfahrungen der Künstler können in Ausnahmefällen auch Konzertprogramme aus Chorälen, Spirituals oder Hymnen wie z.B. in der Musik von Charlie Haden19 oder Bobby McFerrin20 entstehen, die auf Augenhöhe mit säkularem Jazz in Clubs und Konzertsälen erklingen. Hier wird biblisch und liturgisch dienlich mit Klängen des Jazz nacherzählt und religiöse Aussagen werden nachempfunden. Hörempfehlungen: Liturgical Jazz (Ed Summerlin, Ecclesia 1959) Pilgrim (Janne Mark, ACT 2017) Dabei lassen sich mindestens sieben typische Spielarten des gottesdienstlichen Gebrauchs von Jazz und seiner Akteure in der heutigen Jazzgottesdienstpraxis differenzieren: • Gospels, Spirituals und Blues erklingen als Gemeinde- oder Vortragslieder. • Choräle erklingen in neuen Arrangements in Stilistiken des Jazz. • Gottesdienstliche Aufführung von Jazzmessen oder Einbinden von Liturgischen Kompositionen wie Gloria, Kyrie, Sanctus, Agnus Dei. 19 Haden und Jones 1995. 20 McFerrin 2013.
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• Einbinden von Kompositionen des Sacred Jazz und Spiritual Jazz. • Einbinden von religiös inspirierten Werken aus der Pop- und E-Musik. • Inszenierung eines Dialogs von Werken aus der Pop-und E-Musik als Kommentar und als eigenes liturgisches Moment. • Musikalisches Ausdeuten oder Erzählen von biblischen Geschichten, und z.B. Psalm-Improvisationen oder Predigtkommentare. Gemeinsame Improvisationen mit Worten und Musik. Bei all diesen Formen spielt der Dialog und Zusammenklang mit dem gesprochenen Wort eine entscheidende Rolle für eine atmosphärisch ‚stimmige‘ Liturgie. Hier bildet die Klangsprache des Jazz Herausforderungen und Inspirationen für die liturgischen Akteure, biblische und gegenwärtige Sprache mit der traditionellen Liturgie kreativ-spannungsvoll in Beziehung zu setzen, und auch mit Worten zu improvisieren.
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Dissonanzen der Freiheit – Jazz als Herausforderung für die Kirche
Die gemeinsame Geschichte von Jazz und Kirche ist nicht frei von Dissonanzen, sie lebt von diesen und von der Spannung zwischen erdverbundenen und himmelwärts gerichteten Klängen. Wenn diese Spannungen allerdings politisiert werden, wie es in den Jazzgottesdiensten in Deutschland und auch in den USA in den 1960er Jahren passierte, Musik also für eine politische Agenda funktionalisiert wird, besteht immer die Gefahr, dass ihr inneres und innerliches Wesen dabei verloren geht. Bei einem Bezug auf rein menschliche und menschgemachte Konflikte fehlt dem Jazz der nötige Himmelsblick, und den Musikern die Freiheit im Spiel mit Dissonanzen. Gilt es, dem religiösen Ausdruck und Potential des Jazz näher zu kommen, so möchte ich im Folgenden sechs Qualitäten und ihre Potentiale für Jazzliturgien konkretisieren, die seit einem Jahrhundert Jazzgeschichte, von den Ragtimebands aus New Orleans bis zu den improvisierenden Hip-Hop-Kollektiven um Terrace Martin und Kamasi Washington, Bestand haben und mir daher als immanent für die Klangsprache des Jazz erscheinen: BLUE NOTES INKULTURATION & CROSSOVER CALL & RESPONSE PARTIZIPATIVE ZEITLICHKEIT DIEGETISCHE NARRATIVITÄT INTEGRATIVE MODALITÄT
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Diese sechs Spielarten von intrinsischen, konstituierenden Elementen des Jazz sind ineinander synergetisch verwoben, und erzeugen in ihrer Summe, der gemeinsamen Resonanz, Potentiale für den Wert von Jazz als gottesdienstlicher Musik. Ich möchte anregen, jeden dieser sechs Aspekte auch als Herausforderungen für eine Diskussion über gegenwärtige Gottesdienstformen und Kirchenmusik zu betrachten.
3.1
Blue Notes als Dissonanzen des Triumphes
Im Akt der Improvisation vollzieht der Musiker einen Sprung ins Ungewisse, in eine Zukunft, der er sich anvertraut nicht allein im Vertrauen auf das erarbeitete musikalische Rüstzeug, sondern auch in dem grundsätzlichen Optimismus, dass dieser Sprung ins Ungewisse seinen Lohn nach sich zieht, zumindest in der Freude, die jedem kreativen Akt zu eigen ist. […] Insofern eignet ihm immer ein Moment der Transzendenz. Diese mag sich im Selbstverständnis des einzelnen Musikers im musikalischen Akt selbst erschöpfen, sie steht jedoch in einem theologischen Kontext, insofern Musik wie jede Form der Kunst die Frage nach dem Ganzen der Wirklichkeit aufwirft und im schöpferischen Prozess zu bewältigen sucht. Insofern kann Jazz auch als aktualisierte Form menschlicher Gottsuche gedeutet werden. Die Spiritualität des Jazz verweist auf wesentliche Momente christlicher Frömmigkeit. Der Ereignischarakter des kreativen Prozesses kann analog der eschatologischen Spannung der Botschaft Jesu gesehen werden. Die Herrschaft Gottes ist nicht, sie ereignet sich in jenem und jedem Kairos der Geschichte, der dem Willen Gottes in der Welt zum Durchbruch verhilft. Nachfolge Jesu heißt, sich darauf einzulassen, dass das ‚Geschehensereignis‘ der Herrschaft Gottes in Jesus Christus endgültig Fuß gefasst hat in dieser Welt.21
Die Integration der Blue-Notes22 in den improvisierten Soli des frühen Jazz durch Solisten wie Louis Armstrong und ganz wesentlich in den harmonisch komplexen Kompositionen Duke Ellingtons ist neben dem Gestaltungselement des Phänomens der Improvisation ein wesentlicher Faktor, warum Jazz oftmals als spirituelle und spezifisch hoffnungsstiftende Musik rezipiert wird. Martin Luther King Jr.
21 Böcker 2004. 22 Ursprünglich im Blues vokal tief intonierte Terz, Quinte und Septime eines DurAkkordes.
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bezeichnet Jazz in seinem berühmten Geleitwort zu den ersten Berliner Jazztagen 1964 sogar als Musik des Triumphes.23 Im Gegensatz zu einer fein durchdachten komponierten Polyphonie, in der Dissonanzen funktional eingeordnet werden können und ihre Auflösungen geahnt werden und vorhersehbar sind, verharren Jazz und Blues in der manchmal überraschenden und auch beängstigenden Zeitlosigkeit von Dissonanz – oder vielleicht auch mit Paulus im ‚ängstlichen Harren der Kreatur‘ (Röm 8,19) –, um schließlich die Zeitlichkeit zu bewältigen und zu einer oftmals ebenso überraschenden Auflösung zu gelangen. Diese Überraschungsmomente fordern Spieler und Hörer heraus, eigene Narrative, Fragen, Zweifel und Auflösungen zu imaginieren. Dies kann emotional oder kontemplativ passieren, oder auch ein Wachrufen von nicht aufgelösten biografischen Spannungen erzeugen: Die Musik geht uns in jedem Fall auf einmal unvermittelt nahe. Genau hier entsteht Improvisation. Jazzimprovisation wäre ohne diese spielerisch gefundenen überraschenden Spannungen und Dissonanzen nicht denkbar. Im Gegensatz zu den mittlerweile vertrauten Dissonanzen des Blues, der Gospelmusik und der Spirituals bietet der Jazz die Dissonanz in der Konsonanz, die Spannung und die Auflösung als Überraschung im Moment. Solche Überraschungsmomente können selbstverständlich in der Musik und auch in der Liturgie komponiert und bis ins letzte Detail wohldurchdacht vorbereitet sein. Allerdings sind dann die Akteure nicht mehr Teil des überraschenden Momentums, sondern es gibt Vorführende und Rezipienten wie in einem Konzertsaal oder im Theater. Es gibt weniger körperlich und emotional geteilte Interaktion und damit weniger rituelle Dynamik und Verbundenheit zwischen Publikum und Ausführenden, zwischen Gemeinde und Liturgen. Jazzgottesdienste verbinden also in ihren Liturgien die überraschenden Dissonanzen von Worten und Musik mit der jahrtausendealten Tradition der Kirche in einem gemeinschaftsstiftenden Momentum. Dabei sind Dissonanzen und Konsonanzen Kinder ihrer jeweiligen Zeit, sie sind Klangfarben, die nur im Kontext des Gegenwärtigen ihre volle Gültigkeit bekommen. Dieses kollektiv erlebbare Momentum ist ganzheitlich, körperlich, es ist sinnlich und geistig erfahrbar und kreiert intuitives, stilles Wissen und Gewissheiten. Es ist weder ganz rational noch komplett irrational, es ist im Wesen poetisch. Improvisation versucht von dieser Wesenheit her nicht ewige Antworten auf unsere Wirklichkeit zu geben, sondern diese ewig in Frage zu stellen und (maximal) gegenwärtige Auflösungen anzubieten. Improvisation ist dabei nicht das 23 King, Martin Luther, Jr. 1964. On the Importance of Jazz. http://www.hartford‑hwp. com/archives/45a/626.html. Zugegriffen: 25. Januar 2018.
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Gegenteil der Komposition, der Formulierung einer bis ins Letzte durchdachten und rational durchdrungenen Antwort, sie ist deren Partnerin und nötiger Widerspruch derselben zugleich: Komponierte Musik und verfasste Worte stehen immer in Gefahr zu veralten, das improvisatorische Spiel mit ihnen kann sie zeitlos und im Moment neu erlebbar machen. Improvisation dient zudem oftmals als Vorstufe für die Komposition und wird nur als Spiel mit dem Konkreten fassbar. Selbst in einer ganz freien Improvisation, sei es musikalisch oder mit Lauten und Worten, ist es erst das Wechselspiel der Deutungsebenen des Unbegreiflichen und des Vertrauten, welches aus sich und über sich selber hinaus zu weisen und uns zu verändern vermag. Dabei muss das improvisatorische Material, die kompositorische Substanz relevant sein für die Improvisierenden, sie muss diese gegenwärtig berühren und ergreifen. Die Liturgie ist wie die Musikgeschichte erfüllt von Geschichtlichem und Geschichten, von Klängen der Worte und Musik vieler Jahrhunderte, benötigt aber zugleich auch den Blick auf das Gegenwärtige und Zukünftige in einer spannungsgeladenen, fast eschatologischen Haltung, wenn sie religiös aussagekräftig sein und bleiben möchte. Improvisation kann hier eine ‚gütige‘ Partnerin sein, um Vergangenes durch moderne Klänge neu erlebbar zu machen ohne als komponierte radikale Avantgarde mit der Tradition und ihren Regeln zu brechen. Denn Improvisation entsteht immer aus einem Moment der Begegnung: des Alten mit dem Neuen, des allgemein gewordenen Geschichtlichen mit dem zeitlich gebundenen Persönlichen und der Begegnung von Kulturen untereinander. Dabei sind Grenzüberschreitungen und persönliche Transformationserlebnisse für die Improvisierenden wie bei den Rezipienten unausweichlich. Im gottesdienstlichen Kontext fordert Improvisation dazu heraus, nicht nur Selbstvergewisserung und eine Bestätigung des eigenen Glaubens und eigener Gewohnheiten, also der persönlichen Lebenskultur, zu erwarten, sondern eine Haltung der Offenheit für persönliche Veränderungen durch Begegnung mit anderen und dem Heiligen mitzubringen. Dies lässt sich als ein Fokus auf das Wirken des Heiligen Geistes deuten: Wie alle Musik aus dem Wechselspiel zwischen vorgegebenen Regeln und Kontingenz, d.h. aus unvorhersehbaren Momenten entsteht, so eröffnet auch der Heilige Geist einen Zwischenraum zwischen Ordnung und Unordnung. Man könnte diesen Zwischenraum Nicht- Ordnung (non-order) nennen. So gehört zum Beispiel das Phänomen des Lachens weder der Ordnung noch der Unordnung an, sondern der Nicht-Ordnung. In diesem Improvisations-Raum entsteht Neues, Überraschendes und Unvorhersehbares. Improvisation bezieht sich dabei nicht nur auf das Vergangene, sondern antizipiert auch Zukünftiges. So ist auch das Wirken des Heiligen Geis-
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tes ein Vorgeschmack der neuen Schöpfung. Improvisation braucht dazu aber eine Bedingung: Freiheit von Angst.24
3.2
Improvisation und Inkulturation als postsäkularer liturgischer Crossover
Wenn wir nun durch Improvisation in der Liturgie berührt werden, wenn wir etwas Neues über unseren Glauben erfahren und lernen, und diesen Moment verinnerlichen, dann vollziehen wir dabei einen Akt persönlicher Inkulturation: wir bringen Gedanken über Dinge oder Ansichten von einer Kultur in eine andere, in unsere eigene Lebenskultur. In unserer westlichen Individualkultur kann schon allein der Austausch zwischen den Lebenskulturen zweier Menschen als Inkulturation betrachtet werden. Musik, die wir als fremd empfinden, kann, wie alle Künste, in eine positive Auseinandersetzung mit dem uns Vertrauten führen, wenn wir Kunst als etwas begreifen, von dem wir lernen wollen, das uns im Fremden Vertrautes und im Vertrauten Fremdes spiegeln kann und über sich hinaus auf das Transzendente verweist. Wie findet dies seinen Platz im Gottesdienst? Ich kumm auß frembden landen her und bring euch vil der newen mär. Dies ist der Titel des Volksliedes, das Martin Luther angeblich von seinen Kindern gehört hat, als sie tanzend seine stockende Arbeit an einer Weihnachtspredigt in seinem Arbeitszimmer unterbrachen. Ungeachtet dieser wahrscheinlich konstruierten schönen Anekdote inspirierte der Text und die Melodie dieses bekannten Gassenhauers Martin Luther zur Dichtung Vom Himmel hoch da komm ich her, die erstmals 1535 in der dritten Auflage des Wittenberger Gesangbuches von Joseph Klug abgedruckt wurde.25 Nachdem das Lied aber mit Erfolg in den Kirchen gesungen wurde, änderte Luther in den folgenden Jahren die ursprüngliche Melodie zu seiner eigenen, der heute noch berühmten und setzte sich nachdrücklich dafür ein, dass die von ihm verwandte ursprüngliche Volkslied-Melodie nicht mehr in Kirchen erklang. Die Gründe hierfür sind nicht klar belegt. Hans-Otto Korth kommt in seiner Untersuchung zu dem Schluss, dass es Luther mit steigender Bekanntheit und Autorität daran lag, in seinem Gesamtwerk auch eine neue Tradition geistlicher Musik mit zu begründen, die sich nicht auf
24 Begbie, Jeremy. „Was kann Theologie vom Jazz lernen?“, Vortrag am 04. März 2017 in der Universität Leipzig nach Mitschrift des Autors. 25 Vgl. Korth 2005, S. 139. Vgl. dazu den Beitrag von K. Klek in diesem Band.
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Kontrafakturen weltlicher Lieder stützte.26 Korth stellt auch die Vermutung an, dass sich Luther von dem ihm hoch verehrten Josquin des Prez hat inspirieren lassen, der in späteren Schaffensjahren seine geistliche und weltliche Musik strikt auseinanderhielt.27 Musik und Theologie waren eng für Martin Luther verbunden, er erkannte die Qualität der Musik, das Herz und die Seele direkt und unabhängig von Worten als ein Geschenk Gottes zu berühren und öffnete so Freiräume für die Verwendung von säkularen Melodien und der Instrumentalmusik in den protestantischen Liturgien der kommenden Jahrhunderte. Luther ging jedoch von der Rolle der Theologie als leitender Kraft aus, die steuern musste, wie Musik in der Liturgie verwendet werden sollte. Für ihn sollte nichts aufgeopfert werden, nur um modern zu sein. Für Luther war also bei aller Annäherung an seine Gegenwartskultur die eigene Aneignung wichtig, nicht die Stilkopie, nicht eine Aufopferung der eigenen Kultur für die Kopie einer anderen. Also echte Inkulturation, ein künstlerischer, ein transformatorischer Prozess. Ich möchte daher vorschlagen, dass das kulturelle Erbe der Reformation sich nicht unwesentlich auf derartigen Inkulturationsprozessen gründet, in denen die kirchliche Kultur eine andere, eine Transformation der Gegenwartskultur in ihren Kirchräumen und Liturgien beheimatet, und nicht versucht, diese schlicht zu imitieren. Dietrich Stollberg betrachtet Kunst und Religion als gemeinsame Kulturphänomene.28 Gemeinsam sei Kunst und Religion die Darstellung des Undarstellbaren, beide seien Suchende und Fragende, beide führten zur Transzendenz. Für Christen bedeutet dies in lutherischer Tradition ein freier, selbst verantworteter Gottesglaube aus Gottes Gnade in enger Beziehung und Hinwendung zu den Mitmenschen und ihren Kulturen. Dabei ist es aus der Sicht des zuvor Gesagten eine Selbstverständlichkeit zu ergänzen, dass dies eine Hinwendung zur gegenwärtigen heutigen Kultur und ihren Menschen bedeutet und keine Fokussierung auf die vergangene. Diese Art des persönlichen Glaubenswachstums durch die Hinwendung zu dem Fremden in uns und dem anderen neben uns ist in der Geschichte des Christentums seit Jesus Christus nichts Neues – allerdings haben sich die Orte verändert, an denen dies stattfindet. Die bedeutenden Werke Geistlicher Musik der letzten 150 Jahre stammen von Künstlern, die zu großen Teilen nicht mehr in Kirchen arbeiten, sondern in Konzertsälen, im Jazz wie in der Komponierten Musik oder der Pop- und Rockmusik. Im Fall von Bildender Kunst und der Dichtkunst verlaufen diese Abbrüche noch deutlich stärker. 26 Korth 2005, S. 153. 27 Korth 2005, S. 154. 28 Vgl. Stollberg 2014. Vgl. dazu den Beitrag von D. Korsch in diesem Band.
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Aus einer zunehmend säkularen Welt des 20. Jahrhunderts ist nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine postsäkulare geworden. Es gibt ein erneuertes breites Interesse an Spiritualität, aber nicht zwingend damit verbunden ein Interesse an der christlichen Kirche. Die Herausforderungen haben sich verschoben – Glauben ist kein grundsätzliches Problem mehr, das es zu überwinden gilt, aber Begriffe wie eine ‚authentische Sprachfähigkeit‘ in einer pluralistischen, multireligiösen und a-religiösen Kultur gewinnen an Bedeutung. Die religiösen Institutionen verlieren dagegen an Relevanz. Mittlerweile zwei Generationen im modernen Jazz von Brian Blade, Tord Gustavsen bis Robert Glasper und Terrace Martin erzählen ihre eigenen spirituellen Erfahrungen durch eine postsäkular anmutende Klangsprache überwiegend außerhalb von Kirchen, während Duke Ellington noch seine Sacred Concerts bewusst in Kirchen aufführte. Einer der theoretischen Architekten des Postsäkularen, Charles Taylor, argumentiert ausgehend von dem Begriff einer umfassenden Menschlichkeit, die aus der ‚Fülle‘ von Transzendenz und Immanenz gleichsam schöpft. Er bezeichnet eine Säkularisierung, die Vernunft über den Glauben stellt, als ausgrenzenden Humanismus. Taylor sieht in dem gemeinsamen Lernen voneinander ein neues Zeitalter, das in der Lage ist, die geschichtlich gewachsene Relativierung und, in der Konsequenz, die Abwendung von aller Transzendenz zu etwas Neuem, zu einer neuen Lebensfülle, zu versöhnen. Er geht dabei nicht davon aus, dass das Religiöse durch den Kontakt mit Andersgläubigen oder Nichtgläubigen entzaubert und relativiert wird, sondern sieht dies als Chance einer persönlichen Glaubensstärkung, die sich ihrer Fragilität bewusst ist, und sich den Alternativen gestellt hat. Die fluide, improvisierende und genreverbindende Klangsprache des Jazz ermöglicht, im liturgischen Crossover dieser postsäkularen Fragilität im Glaubensausdruck Klang zu verleihen, sowohl verletzlich als auch einzigartig, und selbstverständlich immer undogmatisch.29 29 Auffallend ist, dass gerade in diesen Crossover-Prozessen von religiös inspiriertem Jazz außerhalb von Kirchräumen die spirituelle Semantik der Musik oftmals in den Rezensionen besonders hervorgehoben wird. Gleichzeitig wird die Musik aber keineswegs als „Kirchenmusik“ betrachtet. Hier ein Zitat aus einer CD-Rezension von Tord Gustavsens mit dem Deutschen Schallplattenpreis ausgezeichneten Produktion von 2017: „What Was Said is grounded in a fundamental faith and devotion to God that Gustavsen, by blatantly mixing Muslim and Christian languages, wants us to realize is beyond a specific religious belief. He comes in reverent peace, with music gentle and powerful enough to convey the message.“ (Robson 2016. Tord Gustavsen: What Was Said. https://jazztimes.com/reviews/albums/tord-gustavsen-what-was-said/. Zugegriffen: 23. März 2018).
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3.3
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Call & Response: It don’t mean a thing if it ain’t got that swing
Jazz ist dank seines afroamerikanischen Erbes30 eine kollektive und prozessorientierte Musik. Selbst bei den ‚Soli‘ gibt es ein interaktives hörendes und reagierendes Kollektiv. Zuhören, und das Hören aufeinander, erzeugt intuitives Agieren. Musiker nennen daher oftmals auch wachsendes Vertrauen als Basis gelingenden Zusammenspiels, eine gesellschaftlich relevante Qualität die in anderen Kontexten oftmals verloren geht. In den letzten Jahrzehnten veranstalten Jazzmusiker daher zur Aufbesserung ihrer Honorare z.B. sehr erfolgreiche Fortbildungen für Manager und andere Führungskräfte, um Teambuilding erlebbar zu machen. Der musikalische Archetyp dieser bedeutsamen Aspekte des modernen Jazz sind die Ring Shouts und Circle Dances aus den afroamerikanischen Feldkirchen des 17. bis 19. Jahrhunderts in den USA. Die Gemeinde steht tanzend im Kreis und klatscht oder benutzt Schlagstöcke um gemeinsam einen Rhythmus aufzubauen auf dessen Basis ein in der Mitte des Kreises stehender Solist seine Auslegung einer biblischen Geschichte im Sprechgesang erzählt. Der Solist ist dabei austauschbar. Wenn er mit seinem Abschnitt der Geschichte fertig ist, deutet er auf jemand anderen im Kreis, der dann in die Mitte geht, und die Geschichte fortsetzt.31 Die Rhythmen und Sprechgesänge erinnern überraschend deutlich an Aufnahmen aus der Blütezeit des Swing und Bebop – an Rhythmen von Schlagzeugern wie Gene Krupa und Kenny Clarke und Sängern wie Cab Calloway, Louis Armstrong und Jon Hendricks. Bedeutsam erscheint mir, dass hier, wie in einer Jam Session des Jazz, die Rolle der Solisten wechseln kann. Alle Beteiligten sind zugleich Hörende als auch Gestaltende, statt schlichtweg Solisten oder Begleiter, und dabei entweder aktiv oder passiv. Es gibt keine uniforme Kollektivität, Tanz und die Rhythmen werden je nach Vermögen und Einfall gestaltet, und nicht vorbereitet erprobt und choreografiert. Das Kollektiv ist also keinem Solisten unterworfen, dessen Stil kopiert werden muss. Dies ist, um ein Beispiel aus der moderneren Kirchenmusikpädagogik zu bemühen, ein diametral anderes Konzept, als wenn ein alter Choral mit Tanzschritten und Bodypercussion (die genauso vom vorführenden Kirchenmusiker imitiert werden muss) gesungen wird. Eine andere wichtige musikalische Form ursprünglich afrikanischen Ursprungs, der Work Song, verdeutlicht zwei hiermit zusammenhängende weitere Aspekte des Jazz: die Körperlichkeit und das Flow-Erleben. Der Rhythmus von Work Songs 30 Vgl. Taylor 1985. 31 Vgl. Rosenbaum 1998.
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wird strukturiert durch den Rhythmus der Arbeit – z.B. Holz hacken. Der Vorsänger (auch hier können natürlich die Positionen wechseln) singt die Strophen, die Gruppe antwortet mit einem Refrain. Dabei entsteht ein körperlich fühlbares Hin- und Herschwingen, eine Bewegung des Ausholens, Zuschlagens, Erholens, ähnlich den Atemprozessen die unser alltägliches Leben in unserem Körper begleiten und ermöglichen. Diese Musik ist nicht auf den Taktschwerpunkten wie in der westlichen Musiknotation fixiert oder auf ebenmäßig den Takt füllende Viertel verteilt. Stattdessen entstehen zwischen den Schlägen, den offbeats, die wichtigen melodischen Spannungsbögen. Hier liegt das Prinzip des Swing, aber auch das des Samba mit seinen eigenen afrikanischen Wurzeln verborgen. Sowohl in der Clave der südamerikanischen Musik als auch in der ternären Swing-Phrasierung gibt es als zentrales Strukturelement das Hin- und Herschwingen zwischen ‚Schwer und Leicht‘. Zur Veranschaulichung genügt es, das Marschieren in Europäischer Tradition mit den Marchingbands in New Orleans, oder Samba und Swing Tänzen zu vergleichen, schnell wird deutlich, wie körperlich verschieden diese Traditionen Europäischen und Afrikanischen Erbes sind. Die rhythmischen Grundlagen des Jazz (und auch die der Spirituals, Gospels und vieler daraus hervorgegangener Popmusik) begründen sich als Erbe der afrikanischen Musik in körperlichen Erfahrungsprozessen (Atmung, Arbeit, Herzschlag), nicht aus der zwingenden Abstraktion zur Notation eines fixierten Taktes und festen Metrums. Sie werden durch kollektives Aufeinander-Hören gestaltet, und nicht durch Folgen eines Dirigenten und Befolgen eines Dirigats. Zum Zweiten gibt es ein ebenfalls vertrauensstiftendes und gemeinschaftsbildendes Element in der Kollektivität des Call & Response – Fragen und Antworten schwingen hin- und her, die Frage impliziert schon die Antwort und diese die nächste Frage. In der kollektiven Kommunikation der Jazzimprovisation entfaltet sich dieses Element auf ähnliche Weise: der Solist lotet aus, wieweit seine musikalischen Impulse die Band herausfordern, ihm neue Ideen zu liefern. Eine totale Befremdung durch eine unbeantwortbare Frage wird nicht angestrebt, sie widerstrebt dem Wesen dieses Musizierens. Übertragen auf eine theologische Perspektive wird also z.B. nicht nach einem Bild Gottes gefragt, nach einer präzisen rationalen Beschreibung des Göttlichen. Es ist implizit, dass diese unbeantwortbaren Fragen dem musikalischen Grundprinzip nicht dienlich sein können, da sie den Sinn des Call & Response verfehlen. Gleichzeitig zeigt die fortwährend innovative Geschichte des Jazz, dass die Zahl der Fragen und Antworten unerschöpflich erscheint, besonders, so lange sich junge Künstlergenerationen darin wiederfinden und kreativ betätigen. Daher lässt sich in der Jazzgeschichte im Vergleich zur Europäischen Kunstmusik weniger von abgeschlossenen und überholten stilistischen Epochen sprechen, sondern eher
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in den oftmals zuvor bemühten Bildern: den stetig wachsenden und sich verzweigenden Baumdiagrammen zur Jazzgeschichte (Jazztree) mit vielen gleich starken Zweigen auf derselben Höhe und ähnlichen weit verzweigten Wurzeln. Oder auch der Idee von der Jazzimprovisation als Eintauchen in einen alles geschichtlich und künftig verbindenden Fluss der Ideen und Expressivität. Die Rhythmen des Jazz werden konsequenterweise ebenso als infiniten ‚Puls‘ oder ‚Timeline‘ aufgefasst, statt als fix umrissene Takte fester Länge und Geschwindigkeit. Der in Musikerkreisen beliebte Begriff Groove für gelingende Rhythmen beschreibt dieses Phänomen – es groovt wenn dieses Gefühl eines infiniten Kontinuums fühlbar wird. Die Sehnsucht auf eine finale Kadenz oder die fest umrissene Wiederholung rückt in unbestimmte, da zugleich auch irrelevante, weite Ferne. Der Moment vertieft sich im vertikalen Erleben der Gegenwart, im Flow.
3.4
Zeitlichkeit und Partizipation
Im Jazz wird durch das Unvermögen der Reproduzierbarkeit eines Konzertes die Zeitlichkeit und die Vergänglichkeit, also die Kostbarkeit des Moments, deutlicher und intensiver noch als in anderen musikalischen Genres. Daher ist auch das Spiel, das Erschaffen und Brechen mit nachvollziehbaren Formen (Reprise, Cantus firmus, Leitmotiv und Variation, etc.) eine besondere Herausforderung für Musiker und Hörer. Jazz ist eine Live-Musik, sie ist am vitalsten im gegenwärtigen Moment und entrückt zugleich von diesem durch diese Qualität. Die ersten grundlegenden Studien über die Gehirnaktivität in der Jazzimprovisation von Charles Limb32 an der University of California konnten zeigen, dass die Teile des Gehirns, die für das Verständnis von Sprache und Syntax sowie für den persönlichen Ausdruck (Erinnerungen, Geschichtenerzählen usw.) relevant sind, aktiver werden – diese liegen sowohl in der rechten als auch in der linken Gehirnhälfte. Gleichzeitig werden die Areale, die eine reflektierende Selbstzensur sowie ein rationales, reflektierendes Verständnis ermöglichen, inaktiver, um die Ideen frei und ungehindert fließen zu lassen. Musikalische Improvisation ist daher syntaktisch, sie ist in der Lage, das persönliche Vokabular sinnvoll anzuordnen, aber nicht notwendigerweise semantisch in dem Sinne, dass alles im Moment erfasst, abstrahiert und erinnert wird. Dies ist eine Erfahrung, die Jazzmusiker aus der Praxis eindrücklich kennen. Es ist in der Regel unmöglich, sich auch bei einer sehr gelungenen Improvisation zu erinnern, was gespielt wurde. Wird, wie z. B. im Free Jazz, auf ein ausgewähltes 32 Loṕez-González und Limb 2012.
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Vokabular an Akkorden, einer festen melodischen, harmonischen und rhythmischen Form verzichtet, verdichtet sich dieser Prozess bis hin zum tranceartigen Flow-Erleben, in dem nur noch das Ultrakurzzeitgedächtnis, auch ‚Echoisches Gedächtnis‘ genannt, in Zeiträumen bis zu etwa 500ms aktiv ist. Die musikalische Interaktion beruht dann auf unmittelbarem Hören und Reagieren auf das Vernommene – nicht unähnlich der freien Zungenrede. Einige religiös geprägte Musiker wie David Murray und Albert Ayler bezeichnen ihre improvisierende Musizierhaltung daher oftmals als speaking in tongues. Charles Limb bezog in seinen Studien auch Hörerfahrungen unter Profis und Nicht-Musikern ein, und zeigte, dass beim Hören von Jazz bei beiden Gruppen sehr ähnliche Aktivitätsmuster wie bei der praktischen Ausführung entstanden. Diese durchaus etwas überraschenden Ergebnisse belegen damit neurologisch, wie zwischen Ausführenden und Hörenden ein Gemeinschaftsgefühl durch synchrone Gehirnaktivitäten entstehen kann. Dies ist auch für den liturgischen Kontext sehr relevant, wenn nach Möglichkeiten gefragt wird, inwiefern Jazz eine partizipatorische Qualität aufweist.
3.5
Diegetische Narrativität und Präsenz: Jazzimprovisation als Emmaus-Erlebnis
Das aufmerksame Zuhören und innere Mitempfinden beim Jazzhören wird neben dem Aspekt der Zeitlichkeit durch das Element des Erzählhaften, des momentanen Re-Komponierens, (wieder) Er-findens des Werkes verstärkt. Dies weist Parallelen zum auswendigen Erzählen von Geschichten auf. Die Jazz und die Rock-Poptradition sind orale Traditionen mit persönlichen Musizierhaltungen und personifizierten Klängen wie in der Musizierpraxis anderer Weltkulturen, z.B. der höchst komplexen aber primär oral tradierten Klassische indische Musik. Dabei gibt es naturgemäß wie in der Volksmusik verschiedene Strömungen, Schulen und deren Meister. Ein uniformer Klang und eine absolute Ästhetik sind im Jazz daher nicht erstrebenswert, sondern nutzlos. Mit Jazz als Propagandamusik ließe sich (glücklicherweise) ein Krieg weder beginnen noch gewinnen. Die Einheit, die Jazz herstellen kann, liegt in einem anderen kollektiven Erleben. So wenig wie es eine uniforme Klangästhetik im Jazz gibt, so wenig gibt es allerdings auch keine reine individuelle Klangästhetik, wie es häufig den Komponisten in der E-Musik zugeschrieben wird. Während in der komponierten Musik der Komponist durch das Verfassen eines Werkes vor der Aufführung zumindest einen künstlerischen Akt, der primär nur an seine Person gebunden ist, vollendet, vollendet sich Jazz immer nur auf der
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Bühne – und im Moment, nicht für die Ewigkeit. Dies ist das Werkhafte im Jazz und es ist daher immer auch ein kollektives Werk zwischen allen Beteiligten – den Akteuren und den Rezipienten. Dabei ist die Komplexität der musikalischen Sprachfähigkeit höchst individualisiert, sie entfaltet sich aber im Vergleich zum Virtuosentum der klassischen Konzertmusik in einem von vornherein als kollektiv angelegten Kreations- und Kommunikationsraum. Der brasilianische Komponist Chico Mello untersucht in seiner Dissertation Mimesis und musikalische Konstruktion33 die Prozesse der Akkulturation und Kolonialisierung ausgehend von den Musikkulturen seines Heimatlandes. Er betrachtet dabei eingehend die Spannungen zwischen der Europäischen Musiktradition und den heimischen, und durch Akkulturation heimisch gewordenen Afrikanischen Musikkulturen, bei der Erschaffung einer kulturellen Identität. Mello konstatiert: Offenkundig ist die Suche eines/er Komponisten/in nach einer profilierten, „authentischen“ Identität eine Charakteristik der westlichen Kultur. Diese Suche ist in westlichen Subkulturen – wie Popularmusik, Jazz, improvisierte Musik – allerdings weniger individuell als in der klassischen „ernsten“ Musik, sondern findet eher kollektiv statt, da die Identität der Gruppe eine wichtige Rolle spielt. In anderen Kulturen, in welchen es die Unterscheidung Komponist-Improvisator-Musiker gar nicht gibt, findet die Suche nach dem Persönlichen immer innerhalb eines kollektiven Systems statt, und nicht in der Entwicklung einer ausschließlich persönlichen Musiksprache.34
Jazz möchte also nicht erzählen – Jazz kann sich einer Erzählhaltung im Gegensatz z.B. zur komponierten Minimalmusic nicht entziehen, Jazz erzählt immanent aufgrund seiner konstituierenden Prozesse, da er von vornherein intrinsisch, aus einer Dialogsituation des Er-findens entstammt. Dies weist zahlreiche Parallelen zu den Erzähl- und Hörstrukturen in den antiken oral geprägten Kulturen auf. Die Englische Theologin Carol Harrison untersucht in ihrem Buch The Art of Listening in the Early Church die auditory culture, eine ‚Kultur des Hörens‘ in der frühen Christenheit. Sie zeigt, wie der Prozess des verstehenden Hörens Wissen, Glauben und kulturelle Identität oftmals intuitiv als tacit knowledge formt. Harrison beschreibt, ausgehend von Augustinus’ Predigten, die Notwendigkeit zur Improvisation in einer antiken Kommunikationskultur des Sprechens, Singens und Hörens, um sich im gegenwärtigen Moment begeisternd mit den Hörern durch einen poetischen Fluss von eigenen Gedanken, 33 Mello 2010. 34 Mello 2010, S. 264.
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Bildern, Metaphern und Abstraktionen über biblische Texte zu verbinden. Diese Begeisterungsfähigkeit führt zu erhöhter Präsenz und authentischer Rede der Sprechenden, oder biblisch gedacht, zu den brennenden Herzen am Ende des Weges nach Emmaus. Jeder, der Jazz live erlebt hat, weiß um diese besonderen Momente der Ergriffenheit, deren Ursprung sich selten mit Kriterien aus der klassischen Konzertmusik beschreiben lassen, weil sie nicht aus vorführenden, imitatorischen Musizierprozessen entstanden sind, sondern aus erzählenden, und entdeckenden. Daher erscheint es zur weiteren Differenzierung hilfreich, dem Jazz eher diegetische Qualitäten, in denen der Urheber und seine Zuhörer immer auch unmittelbar verstrickt sind, zuzuschreiben, und im Kontrast dazu der aufgeführten komponierten Musik überwiegend mimetische, in der ein zuvor verfasstes Werk rekonstruiert wird. Dieser Unterschied hat gerade für die Stärkung der communitas im gottesdienstlichen Kontext eine große Bedeutung.
3.6
Modalität und die integrativen Klangwelten des Spiritual Jazz
Im New York der 1940er Jahre begegneten und befruchteten sich die Europäische und Amerikanische Avantgarde im Jazz so eng wie nie zuvor in seiner Geschichte: Igor Strawinskys’ Feuervogel (UA 1910) und das Sacre du printemps (UA 1913) bildeten neben anderen zeitgenössischen Werken europäischer und amerikanischer Komponisten eine besonders große Inspiration und Ressource für viele Bebop Musiker und beeinflusste z.B. die Klangsprache von Charlie Parker und George Russell maßgeblich.35 Nachdem ein Novum der frühen virtuosen Jazzimprovisation zunächst das melodische, horizontale Spiel ausgehend von einem tonalen Zentrum der Grundtonart war, entwickelten Saxophonisten in der ausgehenden Ära des Swing wie Lester Young und Coleman Hawkins, und vor allem dann Charlie Parker im Bebop die Fähigkeit, vertikal auf die zu Grunde liegenden Akkorde einzugehen. Beim vertikalen Spiel wird die Melodik immer vom zu Grunde liegenden Akkord bestimmt. Vom Solisten wird eine Einheit zwischen Melodie und Klangraum des Akkordes angestrebt – ähnlich wie in den Solopartiten von Johann Sebastian Bach, in dem ein einstimmiges Melodieinstrument gleichzeitig bewegte Harmonik abbildet. Gleichzeitig beschleunigte sich das Tempo der Kadenzen und Modulationen in entfernte Tonarten so weit, dass der Saxophonist John Coltrane mit seiner 35 Vgl. Russell 1949/1972.
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Aufnahme Giant Steps36 einen Endpunkt für sich und viele seiner Kollegen bis heute erreichte, und in der Band des Trompeters Miles Davis nach einem dritten Weg in der Improvisation suchte. Miles Davis und John Coltrane griffen die Ideen des Komponisten und Pianisten George Russell auf, der Anfang der 1950er Jahre ausgehend von der Idee von Davis „Charlie Parker knows all the chords, I want to learn all the scales“37 analysierte, welche Tonleiter und Tonleiterverwandtschaften sich aus der neuen vertikalen Spielweise der Bebop-Musiker in Kombination mit von Gershwin, Strawinsky, Scriabin und Berg eingefärbter Harmonik ergeben hatte. Russell veröffentlichte 1953 sein Lydian Chromatic Concept und begründete damit die erste Harmonielehre, die direkt aus der Praxis der Jazzimprovisation stammte. Er lieferte im Jahr 1959 zugleich die kompositorische und improvisatorische Inspiration für den von ihm protegierten Pianisten Bill Evans und Miles Davis in ihrer Zusammenarbeit für die Aufnahmen von Kind of Blue. Kind of Blue wird auch als Geburtsstunde des Modal Jazz betrachtet, da in der Anwendung von Russells’ Theorie die Klangfarben der Modi der Alten Musik und damit auch der Kirchenmusikgeschichte als melodische und harmonische Grundlage dienten. Jede der fünf Kompositionen des Albums präsentiert die Modi als eigenständige Klangfarben.38 Allerdings wurden diese nicht ähnlich modernen Skalen als siebentönige Tonleitern aufgefasst, sondern als „konsonanter Kern“ eines Tonraumes, der sich bis hin zu einem 11-Ton-Raum erweitern lässt. So ergeben sich Möglichkeiten einer klangsinnlich modulierbaren Tonalität, die je nach Improvisationsgrundlage eher Farben des Blues, wie bei Duke Ellingtons Akkorden, oder synästhetische symmetrische Klänge a la Olivier Messiaen und George Russell zulässt. George Russell beschrieb in seiner Klangraumtheorie das ordnende Element hinter diesen Klangräumen als „tonale Schwerkraft“.39 So wie ich den Begriff Groove als Beispiel eines infiniten rhythmischen Kontinuums unter 3.2 verwandt habe, so bietet es sich an, Tonal Gravity als entsprechendes Pendant für das infinite 36 Coltrane 1960. 37 George Russell im Gespräch mit dem Autor in Boston, MA im Januar 2001. 38 So What = Dorisch; Freddie Freeloader = Mixolydisch; Blue in Green = Lydisch; All Blues = Mixolydisch; Flamenco Scetches = Ionisch, Mixolydisch, Phyrgisch, Dorisch. Nach Studien des Autors mit George Russell. 39 Ein vergleichsweise eindeutiges Beispiel von dem Russell seine Theorie entwickelt ist das Phänomen, dass beim Intervall der Quinte immer ihr unterer Ton als Grundton empfunden wird, bei der Quarte der obere. Der obere Ton der Quinte ist anteilig schon als Oberton im Grundton der Quinte natürlicherweise anteilig vorhanden und bestimmt unser Konsonanz- und Dissonanz-Empfinden.
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Klangspektrum der Harmonien und Melodien des Jazz zu sehen. Es ist wie der Groove ein Ordnungsprinzip hinter dem messbar und differenzierbar Hörbaren, welches eine intuitive ahnende Stimmigkeit von komplexen Klängen und Improvisationen produziert. Unschärfen, die bei einer objektiven Analyse und Bestimmung auftreten, sind immanent. Diese Unschärfen eröffnen aber den nötigen Freiraum interkultureller und integrativer Dissonanzen in vertraute Klänge – so finden Blue Notes, Ragas, Byzantinische und Afrikanische Skalen und auch Messiaen Modi ihren gemeinsamen Platz in den Harmonien des Jazz. Diese zu Grunde liegende Komplexität der vom Cool Jazz beeinflussten Musik von Kind of Blue verhinderte nicht, dass die Aufnahme zu einem Welterfolg wurde. Vielleicht ermöglichte sie es sogar. Bis heute gilt Kind of Blue als eine der meistverkauften Schallplatten der Jazzgeschichte. Die sparsamen Improvisationen und die Reduktion auf modale Klänge, in denen Untertöne der alten Kirchenmusik und der sakralen Musiktradition Afrikas, Indiens und Persiens schimmerten, führte zu enthusiastischen Rezeptionen, die der Musik eine große spirituelle Ausstrahlung zusprachen. Die Musikwissenschaftlerin Franya Berkman, die intensiv über den Spiritual Jazz der 1960er und 1970er forschte, betont dabei eine Besonderheit in Coltranes’ integrativer Klangsprache: „One should keep in mind, nevertheless, that John Coltrane never applied non-Western musical genres in an orthodox manner; he took aspects of these traditions and absorbed them in his own jazz-based modal structures. With their attendant transcendent or healing properties, these non-Western sources were filtered through a personal musical and spiritual philosophy of expressing ‘inner truth’.“ 40
Berkman weist hier auf einen ‚Filterprozess‘ in der spirituell integrativen Klangwelt John Coltranes hin, der gesteuert werde durch eine ‚persönliche spirituelle Philosophie‘ die ‚innere Wahrheit‘ auszudrücken. Ähnlich hätte dies vielleicht Martin Luther 1539 formuliert, nachdem er die unter 3.2 erwähnte eigene Melodie für ‚Vom Himmel hoch da komm ich her‘ verfasst hatte, um das Lied näher an die ihm innewohnende (für Luther Gottgegebene) ‚innere Wahrheit‘ zu bringen.
40 Berkman 2007, S. 45.
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Das Unbehagen vor der spielerischen Dissonanz der Freiheit des Jazz
In den zurückliegenden sechs kurzen Betrachtungen habe ich neben zentralen musikalischen Elementen und Prozessen des Jazz zudem versucht, deutlich zu machen, dass Martin Luthers Umgang mit Sprache und Musik seiner Zeit durch persönliche Inkulturation eine gottesdienstliche Einbindung der von ihm wahrgenommenen Gegenwartskultur ermöglichte. Dabei geht es mir nicht um Transkulturelle- oder Akkulturationsprozesse wie sie im frühen Christentum und kolonialen Christentum dominierten, sondern eine Aneignung des Fremden, die dem Anderen einen Spielraum im Eigenen zuweisen kann, ohne es zu kompromittieren oder zu imitieren, das transformierte Tanzlied als Verkündigungslied in der Liturgie, der Musicalhitsong als Ort der Gottesbegegnung im Jazzclub. Luthers Arbeitsweise in der Kreation neuer kirchlicher Musik für den sakralen Raum weist für mich deutliche Parallelen auf mit den Crossover Prozessen des Jazz, und das umso deutlicher, wenn durch die Transformation eines (vermeintlich) profanen Liedes ein bedeutsames Werk des Spiritual Jazz entsteht, das dann in Jazzliturgien seinen Platz finden kann. Der knappe Rückblick in die Geschichte von Jazz und Kirche zeigt allerdings auch, dass es immer seitens der Kirchen, ihrer Gemeinden und ihrer Leitung in der Theologie und Kirchenmusik Brückenbauer geben musste, die beweglich zwischen Jazzbühne und Altarraum in beiden Welten und sozialen Milieus zu Hause waren. Wenn demgegenüber Jazz in der innerkirchlichen Diskussion als nicht gemeindetaugliche, hochkulturelle Nischenmusik und marginale Facette der Popmusik abgetan wird, dann evoziert dies für mich die Gegenfrage, ob hier nicht eigentlich die, die Jazz und die Gegenwartsmusik derartig verordnen und abkanzeln, in der Tat eine hochkulturelle exklusive Kirche für ein „Abo-Publikum“ propagieren, eine Gemeinde, die besorgt um den Verlust des gottesdienstlichen Aktes als primäre Form einer kulturellen und sozialen Selbstvergewisserung ist, und Angst vor neuen Worten und Klängen und anderen Musikkulturen hat? Kann es eine Vision von Kirche sein, die schon den Anspruch auf eigenes Kulturschaffen in der Gegenwart aufgegeben hat und sich auf hochkulturelle Dialogräume darüber zurückzieht, Kulturkirchen ohne Gemeinden finanziert, anstatt prioritär Gottesdienste mit neuer Musik und Künstlern der freien Szene zu feiern und die Kirchengemeinden an der Basis zu unterstützen die mit Herzblut dieser Vision an der Basis nachgehen? Oder überwiegt das Unbehagen vor den frei erspielten Dissonanzen des Jazz in Wort und Musik? Jazzmusiker werden jedenfalls kaum aufhören, religiös inspiriert und motiviert zu arbeiten – es bleibt die Frage, wie lange es sich die evangelische Kirche leisten sollte, auf diese Klangfarben als Facette ihrer Gottesdienste zu verzichten.
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5 Ausblick Meine Eingangsfragen habe ich nicht eindeutig beantworten können. Ich habe Martin Luther gegenüber allerdings ein Wohlwollen gezeigt, dass ich der Institution der evangelischen Kirche in einigen Feldern aufgrund eines von mir hinderlich wahrgenommenen Beharrungsvermögens verweigert habe. Es erschien mir relevant, eine inhaltliche Kongruenz zwischen Luthers Umgang mit Musik und Facetten von religiös motiviertem Jazz aufzuzeigen, da ich diese Aspekte zentral in meiner Praxis als gottesdienstgestaltender Jazzmusiker benötige, und bei vielen Kollegen ebenso wiederfinde. Aus heutiger Sicht gebietet nicht nur das Erbe von Martin Luther und Martin Luther King Jr. eine wache, und sich der Gegenwartsmusik öffnende und einladende Haltung mit Lust zum Mitspielen. Auch die Geschichte der Resonanzen zwischen Jazz und Kirche, die auch in Deutschland schon über 60 Jahre alt sind, stiftet Hoffnung: Hier abschließend zwei kurze Auszüge aus der Rede von Arno Lehmann in der Marktkirche in Halle 1956 in der zuvor erwähnten Veranstaltung über Jazz und Kirche: „Die Mutter Kirche ist alt, aber jung und modern wie gestern und ehedem, und wie sie immer sein wird bis ans Ende der Tage. Darum auch das was wir heute tun in Gottes Namen und zu seinem Lobe.“ „Das ist amerikanische Musik […] die plötzlich hier 1956 in Deutschland von fünf jungen Leuten gesungen wird, genauso wie es in Deutschland, England, in Frankreich, in Polen oder irgendwo Menschen gibt, die Jazzmusik spielen, und die sie spielen, als wäre es ihre eigene Musik. Und ich darf darauf hinweisen, dass die Negro-Spirituals und dass der Jazz nicht die erste Musik sind, die sich eine Welt erobern konnten […] aber die belebende musikalische Botschaft ebenso wie die Offenbarung der Menschlichkeit, die sich in diesen Negro-Spirituals uns dargibt, darf nicht überhört werden.“41
Es bleibt zu hoffen, dass die evangelische Kirche in Deutschland weder den Jazz noch andere moderne Musik, deren religiöse Klangsprache und die Motivation ihrer Schöpfer überhört, und kontinuierliche Dialogräume für Theologen, Kirchenmusiker und Musikschaffende der freien Szene fördert, in denen bewährte Liturgien im Wechselspiel mit moderner Musik erprobt werden, in denen gemeinsam mutig improvisiert wird, und in denen Gottesdienste gefeiert werden, die in die Gegenwartskultur durch ihre Klangsprache und ihre begeisterte, inspirierte und kreative Gemeinde ausstrahlen. 41 Transkription des Autors nach einem Tonbandmitschnitt im Schallarchiv des Liturgiewissenschaftlichen Instituts der VELKD bei der Universität Leipzig.
Luthers Erben und das Unbehagen vor der spielerischen Dissonanz …
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Literaturverzeichnis Arnold-Forster, Tom. 2017. Dr. Billy Taylor: “America’s Classical Music,” and the Role of the Jazz Ambassador. Journal of American Studies, Cambridge University Press and British Association for American Studies 51 (1): 117–139. Berkman, Franya. 2017. Appropriating Universality: The Coltranes and 1960s Spirituality. Journal of American Studies 48 (1): 41–62. Böcker, Tobias. 2004. (Anti-)Thesen zu Theologie und Jazz. Magazin für Theologie und Ästhetik 29. https://www.theomag.de/29/tob1.htm. Zugegriffen: 26. März 2018. Fermor, Gotthard. 1999. Ekstasis: Das religiöse Erbe der Popmusik als Herausforderung an die Kirche. Stuttgart: Kohlhammer. Koll, Julia und Uwe Steinmetz (Hrsg). 2016. Jazz und Kirche: Philosophische, theologische und musikwissenschaftliche Zugänge (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität Bd. 29). Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Korth, Hans-Otto. 2005. Zur Entstehung von Martin Luthers Lied „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her“. Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 44: 139–154. Loṕez-González, Mońica und Charles J. Limb (Hrsg). 2012. Musical creativity and the brain. Cerebrum: Epub. http://dana.org/Cerebrum/2012/Musical_Creativity_and_the_ Brain/. Zugegriffen: 25. März 2018. Mello, Chico. 2010. Mimesis und musikalische Konstruktion. Herzogenrath: Shaker. Porter, Lewis. 1999. John Coltrane: His life and music. Ann Arbor, MI: The University of Michigan Press. Rosenbaum, Art. 1998. Shout Because You’re Free. The African American Ring Shout Tradition in Coastal Georgia. Athens, GA: University of Georgia Press. Rudorf, Reginald. 1964. Jazz in der Zone. Köln: Kiepenheuer. Steinmetz, Uwe (Hrsg). September 2018. Blue Church: Improvisation als Klangfarbe im Evangelischen Gottesdienst (Beiträge zu Liturgie und Spiritualität Bd. 31). Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Stollberg, Dietrich. 2014. Religion als Kunst: Nachdenken über Praktische Theologie und Ästhetik. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt. Taylor, William „Billy“. 1985. Jazz: America’s Classical Music. The Black Perspective in Music 14 (1): 21–25. Weisenfeld, Judith. 2015. Religion in African American History. Oxford Research Encyclopedia of American History: Epub. http://americanhistory.oxfordre.com/view/10.1093/ acrefore/9780199329175.001.0001/acrefore-9780199329175-e-24. Zugegriffen: 27. März 2018.
Tonträger Armstrong, Louis und His Orchestra. 1940. Cain And Abel. Decca. Shellac. Blade, Brian. 1998. Fellowship. Blue Note. CD. Coltrane, John. 1960. Giant Steps. Atlantic. LP. Coltrane, John. 1965. A Love Supreme. Impulse!. LP. Ellington, Duke.1966. Sacred Concert. RCA. LP. Garberek, Jan. 1994. Officium. ECM. CD.
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Uwe Steinmetz
Gehlen, Hermann. 1969. Jazzmesse 1966. Schwann. LP. Gustavsen, Tord. 2003. Changing Places. ECM. CD. Haden, Charlie und Hank Jones. 1995. Steal Away. VERVE. CD. Lewis, George und His Ragtime Band. Jazz at the Vespers. OJC/Riverside. LP. McFerrin, Bobby. 2013. Spirityouall. SONY CLASSICAL. CD. Russell, George. Recorded 1949, released 1972. A Bird in Igor’s Yard, Buddy de Franco & his Orchestra. Capitol. LP. Summerlin, Ed. 1959. Liturgical Jazz. Ecclesia. LP. Hörbeispiele und Netzwerk für Jazz und Theologie: www.bluechurch.ch
Melodie als Gebet Hans-Martin Gutmann
„Glücklich sind die Frau, der Mann, die nicht nach den Machenschaften der Mächtigen gehen, nicht auf dem Weg der Gottlosen stehen, noch zwischen Gewissenlosen sitzen, sondern ihre Lust haben an der Weisung Gottes, diese Weisung murmeln bei Tag und Nacht.“
Das ist der Beginn von Psalm 1, der Beginn des Psalters. Was bedeutet das: „die Weisung Gottes murmeln“? Hierzu gibt es in der rabbinischen Literatur ausführliche Diskussionen. Und es wird hier auch überlegt, ob die Weisungen Gottes gesummt werden.1 Mit Melodien? Gibt es eine Nähe zwischen Melodie und Gebet? Musik kann, wie Peter Bubmann formuliert, als „Einstimmung in das Heilige“ wahrgenommen werden,2 sie findet ihre religiöse Kraft im Feld zwischen Mystik und Ekstase.3 Das Stichwort Ekstase ist auf jeden Fall wichtig, beispielsweise auch in Gotthard Fermors Blick auf das religiöse Erbe in der Popmusik.4 Aber können Melodien ekstatisch sein – oder ist es nicht eher die rhythmische Kraft von Musik? Das war auch Harald Schroeter-Wittkes erste Reaktion, als ich ihn zu meinem Thema um Rat gefragt habe. Bei einigem Überlegen hat er mir dann aber doch
1 2 3 4
Mündliche Auskunft der Hamburger Alttestamentlerin Corinna Körting, 8. September 2017. Bubmann 2002. Bubmann 1997. Fermor 1999.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_14
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Hans-Martin Gutmann
noch freundschaftlicherweise Hinweise auf seinen Band „Musik als Theologie“ geschickt.5 Hier finden sich Beispiele für den Zusammenhang von Melodie und Gebet. Schroeter-Wittke zeigt, wie das Amen als liturgisches Musikstück, das ja bekanntlich mit wenig Worten auskommt, als Schluss vieler liturgischer Stücke im Gottesdienst musikalisch immer stärker ausgeweitet wird, bis es schließlich eigenständige Amen-Gesänge gab. In Beethovens Missa solemnis wird das Amen im Gloria genauso wie im Credo breit auskomponiert. Es gibt – ohne jeden gesungenen Text – komponierte Piano-Gebete, beispielsweise von Tekla Badarzewska-Baranowska und Franz Liszt im 19. Jahrhundert. Und wir haben im 20. Jahrhundert wundervolle Tier-Gebete von Frieder Meschwitz für eine Sprechstimme und Klavier (1979), die Melodie übernimmt das Instrument, die Sprechstimme selbst singt keine Melodie. Beispielsweise das Gebet des Ochsen: „Herr, gib mir etwas Zeit. Die Menschen sind immer so gehetzt. Lass sie doch verstehen, dass ich einfach nicht eilig sein kann. Gib mir Zeit zum Kauen. Gib mir Zeit, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Gib mir Zeit zu Schlafen. Gib mir Zeit zum Nachdenken. Amen.“ Es geht in der musikalischen Praxis wie im musikalischen Erleben um Phänomene wie Mystik und Ekstase, Energie und Kraft. Und es geht um Form und Gestalt als zweites notwendiges Gewicht. Und gerade hier, in diesem Gegenüber von im weitesten Sinne Energetischem und Gestalt, scheint mir das Gesicht der Melodie seinen Ort zu finden. Und zwar, denke ich, in jeder musikalischen Epoche in besonderer Weise. Konrad Klek hat beispielsweise für den ersten Luther-Choral „Nun freut euch, lieben Christen gmein“ (vor Ende 1523) gezeigt, dass Luther, ehe er eine eigene Melodie für seinen Text komponiert hat, diesen urevangelischen Jubelschrei einer schon existierenden Melodie gewissermaßen eingedichtet, ihr eingeschmiegt hat. Der Text folgt der Melodie, die Melodie hat das Gewicht, und zwar sowohl in ihrer energetischen wie ihrer als Gestalt gewonnenen Wirklichkeit. Konrad Klek schreibt: „Diese Freuden-Melodie, mit den Tonrepetitionen in hoher Lage am Anfang stark appellativ gehalten und aufrüttelnd, ist offensichtlich die Urmelodie reformatorischen Singens.“6 Okay. Liebe Kollegen und Kolleginnen, Noch mal von vorn. Eigentlich muss ich meinen Beitrag mit ein paar Bekenntnissen beginnen. Als ich mir das Thema vergegenwärtigt habe, das ich in einem umnachteten Moment zugesagt haben muss, habe ich mich gefragt, ob ich eigentlich noch alle Tassen im Schrank habe. Normalerweise habe ich ja ein paar Assoziationen, wenn 5 6
Schroeter-Wittke 2010, S. 188–198. Klek 2017, S. 225.
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ich mir angucke, wozu ich sprechen soll. Diesmal über Tage nichts. Nada. Na, das kann ja was werden. Und ein zweites. Ich habe nur sehr begrenzt Ahnung von Musik. Ich habe weder Musik noch Musikwissenschaften studiert. Ich habe im Alter von 6 Jahren (ich bin jetzt 64) mit Klavierunterricht angefangen, mit 10 dann Kirchenorgel. Mit 16 war Schluss. Wenn ich nicht ein gutes Jahr später, zunächst als Gitarrist, in die Rockszenerie im Raum Goslar hineingeraten wäre, die in den Siebzigern sehr lebendig war, wär’s das gewesen. Seitdem bin ich immer „nur“ Spieler gewesen, in den unterschiedlichsten Rock-, Jazzrock-, Modern Jazz-, Free Jazz- und Blues/ Gospel-Formationen. Ich höre viel. Ich spiele viel. Das ist alles, was ich an Kompetenzen mitbringe. Als ich 2001 nach Hamburg gekommen bin, bin ich von Hamburgs damals schon ältester Freejazz-Band Tisch5 adoptiert worden. Und ich habe Michael Schirmer kennen gelernt, mit dem ich seitdem jeden Montag 9 Uhr die Woche mit einer Probe beginne. Was für eine Freude und Ehre. Das ist der Hintergrund, von dem aus ich zum Thema was sagen kann. Ich bin ein grottenschlechter Notist. Ich habe kaum Ahnung von klassischer Musik und null Ahnung von aktueller E-Musik, wenn man denn an der Unterscheidung von E- und U-Musik festhalten will. Meine Felder sind die populäre Musikkultur (vor allem die, die in den 70ern mal populär war) und Jazz. That’s it.
I Ich beginne mit einigen Wahrnehmungen, Einfällen und Erinnerungen zu den Musikfeldern, zu denen ich selbst praktischen Zugang habe, die insgesamt eine kleine Phänomenologie zum Thema „Melodie als Gebet“ geben können. Kenne ich Melodien, die ohne Text als Gebet gelten können? Mir fallen spontan Beispiele ein, in denen die Melodie zumindest in den Milieus, denen ich zugehöre, so bekannt ist, dass man, ohne den gesungenen Text mitzuhören, einstimmen und den Text mitbeten könnte, selbst wenn man sich in der Regel nicht klarmacht, dass es sich um ein Gebet handelt. Ein Beispiel: Janis Joplin: O Lord, Wont’t You Buy Me a Mercedes Benz (Album Pearl, 1970). Ich kenne umgekehrt populärkulturelle Songs, deren Melodie ich mir – wie bei vielen Zweitonmelodien der gegenwärtigen deutschen Schlager- und Popkultur – ums Verrecken nicht merken kann; und die ich, gerade in Verbindung mit dem zugehörigen Video, für ein intensives Gebet halte: wie Silbermonds Himmel auf aus dem März 2012. Wieder andere Werke nehme ich als zugleich innige und differenzierte Gebete wahr, vor allem aus der Verbindung von Text und musikalischer Atmosphäre, wobei – es geht um Hiphop – die Melodie gar keine zentrale Rolle spielt. Ich denke
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an Sido. Der in der Hauptstadt der DDR aufgewachsene Hiphopper Klaus Würdig hat sich unter diesem Künstlernamen Sido bislang als schlimmer Finger mit frauenfeindlichen und Gewalt verherrlichenden Texten einen Namen gemacht und veröffentlicht aus heiterem Himmel 2008 beim Label Aggro Berlin eine CD Ich und meine Maske. Darauf findet sich unter dem Titel Danke eine Nummer, deren wiederkehrende Hookline heißt: „Dies ist kein Gebet“. Es ist aber eins: Das hier ist kein Gebet, ich will nur Danke sagen. Dafür, dass Du mir ’nen Engel schickst an manchen Tagen. Dafür, dass Du mir das Leben zeigst. Für Dein Vertrauen dank ich auch – Danke, dass du an mich glaubst. Das ist kein Schlüssel zum Himmel, ich will nur Danke sagen. Dafür, dass Du mir zeigst: Ich brauche keine Angst zu haben. Dafür, dass Du mir das Leben zeigst. Bitte halt mir einen Platz frei in der Ewigkeit. Danke für Deine Güte. Ich bin das gar nicht wert. Warum werde ich und nicht Du wie ein Star verehrt? Ich weiß: Da, wo ich bin, wär’ ich nicht ohne Dich. Mach dafür, was du willst mit mir – Schon’ mich nicht. Alles hat seinen Grund. Alles hat zwei Gesichter. Alles passiert, weil es passieren soll. Ich mein guck mich an. Ich war ganz unten. Ich war der letzte Scheiß. Doch nur damit ich mein neues Leben zu schätzen weiß. Ich hab meinen Sohn wieder. Ich bin gesund – Mama auch. Ich fühl mich wie in Mamas Bauch. Schlecht gelaunt sieht anders aus. So soll es bleiben. Ich will mich nicht mehr mit Dir streiten. Ich bin ein neuer Mensch, wenn diese Zeilen Dich erreichen. Amen.
Okay. Fallen mir Melodien ein, die ohne ausdrücklichen Textbezug als Gebete gelten können? Ganz sicher, denke ich: John Coltrane: A Love Supreme (1965). Der italienische Jazzjournalist und damalige Herausgeber der Mailänder Jazzzeitschrift „Musica Jazz“ Arrigo Polillo schreibt dazu: „Es will ein Loblied auf Gott sein und stellt den – später soll sich zeigen: vorläufigen – Schlusspunkt von Johns langer Forschungsreise in die Welten der Töne und des Geistes dar“. Und dann, als vorläufige Schlusspunkte der kleinen Sammlung: Der fast ausschließlich als Instrumentalist arbeitende verehrungswürdige Jazzgitarrist John Scofield kehrt in einer Veröffentlichung ausdrücklich zum Gospel und damit offenbar zu seinen musikalischen Wurzeln zurück. John Scofield nimmt 2009 in New Orleans ein Album mit Gospels
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und Country-Songs auf (Piety Street). Hier findet sich u.a. der Gospel His Eye is on the Sparrow. Dieses Lied gibt es in x Versionen: Dottie West, Whitney Houston und viele andere. Bei John Scofield funktioniert, denke ich, in diesem musikräumlichen Kotext die Melodie als inniges Gebet, auch wenn der Text selbst nicht mitgesungen wird. Und schließlich: Es gibt traditionelle Herz-Schmerz-Choräle, die auch ohne Text das Gebet transportieren, das der Text mitteilt. Ein Beispiel ist: Abide with me des schottischen Anglikaners Henry Francis Lyte (1847), in zig kirchlichen und populärkulturellen Adaptionen und Übersetzungen, u.a. in einer Jazzversion von Clerical Beauties, die wir gleich zu Gehör bringen werden. Wie auch ein musikalisches Morgengebet ohne jeden Text, das wir vor zehn Jahren in unserem Album Invocation veröffentlichen haben: Morning Prayer.
II Sehen wir nach einem Blick auf Musik jetzt auf das Beten. Beten braucht Übung. Beten braucht wie jede Praxis der Frömmigkeit wiederkehrende Orte, wiederkehrende Zeiten und Gesten. Antiritualismus ist nirgends eine hilfreiche protestantische Haltung, und mit Blick auf das Beten erst recht nicht. Und hier findet sich eine Parallele zur Praxis der Musik. Eine leiborientierte Praxis muss erlernt und immer wieder – alltäglich – geübt werden, in der das Viele in einer je eigentümlichen Artikulation des Allgemeinen hier und jetzt zur Gestalt gebracht wird, und zwar so, dass nicht nur „gewusst“ und „reflektiert“ wird, sondern auch als mentale und körperliche Äußerung an den Tag gebracht wird. Wer betet, soll sich darin üben genauso wie alle, die ein Instrument spielen. Jede/r, der die Praxis der Frömmigkeit leben möchte, sollte eine spezifische Form der Präsenz, des Kontaktes zu sich, zu den anderen Menschen, zu Gott einüben, eine Gegenwärtigkeit, die noch Anderes und mehr ist als die Summe von Gewusstem und Reflektiertem. Das immer wiederholt geübte Beten wird eine vertrauend-vertraute Raum-ZeitGestalt setzen, ohne rigide zu wirken. Die Regel sozialer Unauffälligkeit (Matthäus 6,5) verhindert eine vorschnelle Außen-Identifizierung mit spezifischen innerkirchlichen Milieus, deren Lebensgefühl zu wenig die Freiheit des Christenmenschen atmet. Umgekehrt ist in einem globalisierten Christentum, was die Kraft des Gebets abgeht, viel beispielsweise von afrikanischen Christen zu lernen, die in Metropolen wie Hamburg sehr präsent sind, auch über die Grenzen lutherischer Kirchlichkeit bis weit ins pentekostale Christentum hinein.7 Eigene 7
Hier habe ich (HMG) vor allem aus dem Kontakt mit afrikanischen Pastorinnen und Gemeindeleiterinnen gelernt, die im ATTIC-Programm der Missionsakademie
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alltägliche Einübung in ein Fluss-Geschehen, in dem ich im Namen des dreieinigen Gottes von zerstörerischen Machtansprüchen befreit und in Seine heilsame Gegenwart einbezogen werde, ist Voraussetzung dafür, dies auch mit anderen und für andere zu können.
III Melodie als Gebet – ich sehe jetzt weiter zunächst auf das Beten. Nach meinem Urteil können vor allem solche Gebetsformen in Frage kommen, bei denen eine gesteigerte emotionale Intensität im Mittelpunkt steht. Der Raum von Möglichkeiten hierfür ist groß. Er spannt sich auf zwischen Innigkeit des Gefühls bei Lob und Dank, Klage und Anklage bei Trauer und Verzweiflung, schließlich Lebenslust bei ekstatischer Glückserfahrung, die als Jauchzer zur Melodie geraten kann. Es geht in meiner Sicht der Dinge um die energetische Qualität und Dichte im performativen Sprechakt des Gebets. Das in der deutschen Praktischen Theologie bisweilen mit größerer Distanz (und Unkenntnis) als in Ethnologie und Kulturanthropologie thematisierte Thema der „Magie“ wird beim Beten unaufgeregt und beiläufig gelöst. Im performativen Sprechakt des Betens wird die Wirklichkeit Gottes als die ausgesprochen, die hier und jetzt heilsam machtvoll im Raum ist. „Magie“ in solchen performativen Sprechakten ist niemals (anders als in manchen Diskursen vermutet) vorwissenschaftlich technische Weltbeherrschung, sondern Ausdruck von Verbundenheit zwischen allem Lebenden und mit der Quelle allen Lebens, lebendig im Raum von Sozialität, Beteiligung, Empathie, communitas.8
Hamburg theologisch fortgebildet werden, vor allem im Hinblick auf gemeinsames Geist-erfülltes Beten. 8 Besonders deutlich wird dieser Wirklichkeit setzende, und zwar CommunitasWirklichkeit setzende Charakter des Gebets, nebenbei bemerkt, in Martin Luthers Tauftheologie und dem hier artikulierten Verständnis des Gebets. Luther fordert hier exorzistische Sprechhandlungen vor der eigentlichen Taufhandlung: „Fahr aus, Du unreiner Geist, und gib Raum dem Heiligen Geist.“ Dies wird während der eigentlichen Taufhandlung durch ein Bekenntnis wiederholt, das die Paten anstelle des Kindes ablegen: „Darnach lass’ der Priester das Kind durch seine Paten dem Teufel absagen …“ (BSLK, 540, 19ff.). Bemerkenswert ist, dass die dreimalige Wiederholung von Frage und Bekenntnis (entsagst du dem Teufel – und allen seinen Werken – und all seinem Wesen) der darauf folgenden trinitarischen Glaubensformel formal entspricht.
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Das zentrale theologische Thema in diesem communitas-Wirklichkeit setzenden Charakter des Gebets ist, denke ich: Segen. Im energetisch verstandenen Beten finden Menschen Kontakt zum Segensfluss, mit dem Gott als Schöpfer alles Leben trägt, lebendig macht und erhält. Wer betet, schmiegt sich in den Segensfluss ein, mit dem Gott alles Leben eröffnet, erhält, bewahrt und rettet. Segen wird erbeten und gegeben vor allem in Übergangs-, Krisen- und Grenzsituationen, bei biographischen und gemeinschaftlichen Brüchen und Abbrüchen, in denen das Leben nicht einfach weitergeführt werden kann, sondern neu vergewissert und gestaltet werden muss – z.B. bei Geburt, Eheschließung, Beerdigung.9 Segen ist der Lebensfluss, die Lebensenergie, die wir Menschen mit allem Lebendigen teilen. Als Segen Gottes wird Segen so erbeten und zugesprochen, dass diese Lebensenergie als die Macht des Schöpfers und Gebers allen Lebens hier und jetzt ausgerufen und in ihrer lebenserhaltenden Kraft diesen versammelten Menschen mitgeteilt wird. Segen ist der machtvolle Fluss an Lebensenergie, der Leben in seiner Lebendigkeit bewahrt und erhält (1.Mose 1; 4.Mose 6 und öfter). Segen umfasst nicht nur die Menschen, sondern richtet sich an alle Geschöpfe Gottes, an alles Leben (1.Mose 1). Segen ist inhaltlich: Lebenskraft, die Kraft also, die es dem Leben ermöglicht, zu gedeihen, zu wachsen, lebendig zu sein, sich zu verschenken, Überfluss zu haben und zu geben. Segen ist das Innerste des Lebensstroms, das die Menschen mit allen Lebewesen teilen. Segen richtet sich gegen alles und schützt vor allem, was die Beziehung zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf stört und zerstört, gegen alles, was die lebendige Beziehung der Menschen untereinander und mit allen Lebewesen der Lebensumwelt zunichtemacht. So wird – als Kehrseite der Medaille – Segen zum Fluch gegen die Mächte des Todes, gegen zerstörerische Gewalt, gegen Ungerechtigkeit, gegen den Gegen-Gott, Mammon, gegen die Zerstörung des Shalom durch Orientierung an Gewalt und ausschließlich mächtigem Eigeninteresse, gegen die blinde Macht von Geld und unbegrenzter wirtschaftlicher und politischer Herrschaft. Fluch bewirkt die Zerstörung der Lebenskraft (5.Mose 26). Segen unterscheidet sich von anderem Handeln und anderen Gaben Gottes dadurch, dass er inklusiv und nicht exklusiv ist, dass er alles Lebendige einschließt und nicht ausschließt, was als „anders“ oder als „fremd“ gilt.10 Segen breitet sich 9
Insofern sind alle kirchlichen „Kasualien“ Segenshandlungen: In der Situation von Bruch und Abbruch wird Segen als kontinuierlicher Lebensfluss angesichts und gegen die Gefahren zugesprochen, die in Lebensübergängen, Grenzsituationen des Lebens neben allem, was Lebensfreude schenkt, mit einem drohenden Einbruch des Chaotischen, Lebenszerstörenden immer auch da sind. 10 Z.B. 1.Mose 12; 16 und Folgekapitel (Segen für Isaak und für Ismael, für Sara und für Hagar), 1.Mose 27 (Erstgeburtssegen für Jakob, aber auch für Esau).
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in konzentrischen Kreisen aus. Segen schließt Gottes Menschen, Gottes Volk, und zunehmend alle Menschen, alle Lebewesen, alles Lebendige ein. Wer betet, schmiegt sich in diesen Lebensfluss des Segens ein. Er/sie vertraut in Klage und Anklage zerstörerische, unfrei und unlebendig machende Gefühle diesem Lebensfluss an, so dass sie entsorgt werden können. Er/sie öffnet sich in Lob und Dank der stärkenden und heil machenden Wirklichkeit dieses Lebensflusses und lässt sich von ihm tragen und bisweilen auch zurechtstellen. Wer betet, kommt immer wieder auch in Kontakt zur Quelle, zum Grund, zum Schöpfer des Segens, dieses lebenserhaltenden energetischen Flusses, ohne den kein Leben existieren könnte. Auch unser eigenes Leben nicht. Im Fürbittengebet wird die Kraft des Sprechaktes, mit dem sich Betende in den Segen Gotten einschmiegen, über das Eigene ausgeweitet. Der Horizont geht allemal über das betende Individuum, über die betende versammelte Gemeinde hinaus und wird jetzt ausdrücklich auf alle die bezogen, die Gottes Segen gerade jetzt besonders dringlich brauchen. Wer für die aktuellen Nöte der Menschen beten will, muss informiert sein über das, was auf ihrer Seele lastet, was den Leib verkümmern lässt und die Hoffnung verdorren. Und zwar im Nahbereich der Gemeinde vor Ort genauso wie in dem, was über Massenmedien und soziale Netzwerke die Menschen verstört, aufregt, verängstigt, in ihrer Lebensgewissheit und im schlimmen Fall in ihrem Leben bedroht. In jedem Fürbittengebet ist ablesbar, was jeweils gerade „vorn“ ist, was besonders die Herzen und Sinne der Menschen beschäftigt an Anliegen in Leid, Schrecken, Angst, aber auch Hoffnung. Gott wird immer als der angesprochen, der in der Weltwirklichkeit schon da ist: als der Gott, der alles und so auch uns erschaffen hat. Der das Werk seiner Hände nicht fahren lässt. Der für die Bedrohten, für die Leidenden, für die Kranken eintritt. Der mit seiner Präsenz und seiner guten und heilsamen Macht helfen kann.
IV Melodie als Gebet – ich möchte mit ein paar Postulaten zum Thema schließen. Dabei rede ich als improvisierender und komponierender Musiker in den Feldern Jazz und Rock, Soul und Gospel, Blues und freier improvisierender Musik – und ich bin gespannt, wie Kolleg*innen über all dies denken, die in anderen Musikfeldern bewandert sind.
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• Melodie kann dann zum Gebet werden, wenn ein gutes Verhältnis von „Energie“ und „Gestalt“ gefunden wird. • Dazu gehört: es muss eine energetische und eine Gestalt-Kurve erkennbar sein. Die Melodie soll ein Ziel haben, einen Höhepunkt, eine Intensitätssteigerung, etwas, worauf sie hinläuft. • Und: Die energetische Kurve soll dazu beitragen, dass Zerstörerisches abfließen und „entsorgt“ werden kann, und dass Heilsames einfließen kann. • Wer Melodie als Gebet gestaltet – ob spontan, in einer Improvisation, oder als geplante Komposition – soll sich über das Lebensgefühl und die Lebenssituation Aufschluss geben, die zum Ausdruck gebracht werden soll. Welche Gefühlsräume stehen im Vordergrund: Zorn, Trauer, Lebenslust, Freude, ekstatische Hochstimmung, Depression, Glücksgefühl, Melancholie usw.? Und welche Gebetshaltungen sollen zur Gestalt gebracht werden? Möglichkeiten sind beispielsweise: Klage, Lob, Dank, Bitte – mit den Steigerungsmöglichkeiten: Flehen, Anklagen, Jubeln usw. • Wer Melodie als Gebet entwickelt, sollte zugleich eine Praxis der Frömmigkeit entwickeln, die für ihn/sie gut ist und die auch ausdrückliche Sprechhandlungen immer einschließt. Sprachliche und musikalische Gebete sind keine ausschließende Alternative, und ich werde in dem Maße musikalisch beten lernen, wie ich dies auch in Sprechakten übe. • Ich muss kein Hochleistungsbeter und kein Hochleistungsmusiker sein. Manchmal ist eine gesummte Melodie als Gebet stimmiger und intensiver als ein auskomponiertes Werk. • Immer geht es darum, sich zu öffnen – oder zumindest nicht zu verschließen und zu vernageln – gegenüber dem Segensfluss, der immer da ist, auch vor und jenseits meiner eigenen Bemühungen, mich dem zu öffnen. Deshalb hat musikalisches Beten immer auch mit Atmen zu tun. • Wer eine Melodie als Gebet gestalten will, soll einen Ort in seinem Herzen offen halten für den Geber, die Geberin des Segens, welchen Namen sie in welcher Religion auch immer haben mag. Und es sollte immer wechselseitiger Respekt, wechselseitige Achtung herrschen zwischen musikalischen Beter*innen unterschiedlicher Religionen. Manche Kollegen im Jazzbereich sind z.B. nach einer Konversion in eine andere Religion erst zu musikalischen Betern geworden – beispielsweise Dollar Brand/Abdullah Ibrahim, aber auch viele andere. • Genauso wie die Offenheit für Begeisterung zur Kompetenz gehört, in Melodien zu beten, so auch die Haltung der Demut: Wir sind nicht Herren über unsere Einfälle. Jeder musikalische Einfall ist erfüllter Augenblick, ist Geschenk: Geschenk des Geistes des Gottes, der Himmel und Erde gemacht hat und das Werk seiner Hände erhält.
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Literaturverzeichnis Bekenntnisschriften der Evang.-Lutherischen Kirche (BSLK). Bubmann, Peter. 1997. Von Mystik bis Ekstase. Herausforderungen und Perspektiven für die Musik in der Kirche. München: Strube. Bubmann, Peter. 2002. Einstimmung ins Heilige. Die religiöse Macht der Musik. Karlsruhe: Evang. Akademie Baden. Fermor, Gotthard. 1999. Ekstasis. Das religiöse Erbe in der Popmusik als Herausforderung an die Kirche. Stuttgart et al.: Kohlhammer. Klek, Konrad. 2017. Luther und das Lied. Beobachtungen zu Luthers Melodiegestaltung und Gesangbuchkonzeption. In Martin Luther als Praktischer Theologe, hrsg. Peter Zimmerling et al., 223–236. Leipzig: EVA. Schroeter-Wittke, Harald. 2010. Musik als Theologie. Leipzig: EVA.
Ausgewählte Jazz-Standards und ihre Texte Django Hödl
Die im Verlauf der Tagung auf der Jazz-Session am 18. September 2017 von Martin Grünenwald (Drums), Django Hödl (Posaune), Axel Kühn (Bass), Johannes Steidle (Piano) und Uwe Steinmetz (Saxophon) gespielten Stücke sind auch als Beispiele dafür zu verstehen, wie vielfältig Musik und Religion miteinander verknüpft sind. Im Sinne eines formalen Begriffs von Religion kann in ihnen ein Ausdruck der Sehnsucht oder der Klage hörbar werden (Chega de Saudade [No More Blues]). Im Sinne material bestimmter Bedeutung können die gesungenen Texte aber auch auf Institutionen (Come Sunday, The Preacher) und Symbole (Heaven, Angel Eyes) der überlieferten – hier christlichen – Religion Bezug nehmen. Oder aber die Semantik der Texte ist, ohne hierbei ausdrücklich auf Weihnachten oder die Taufe bezogen zu sein, damit in Assoziation zu bringen (A Child is Born, God Bless the Child). Im Sinne einer allgemeinen Religionspraxis sind schließlich einzelne Instrumentalstücke von ihren Komponisten als Gebete verstanden worden (so etwa Dear Lord von J. Coltrane).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_15
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Chega de Saudade (No More Blues) – A.C. Jobim
No more blues I’m going back home No more blues I promise no more to roam Home is where the heart is The funny part is My heart’s been right there all along No more fears And no more sighs No more tears I’ve said my last good-byes If trouble beckons me I swear I’m going to refuse I’m going to settle down There’ll be no more blues Everyday when I am far away My thoughts turn homeward, forever homeward I’ve travelled round this world in search of happiness But all the happiness I found was in my hometown No more blues I’m going back home No more blues I’m through with all my wanderings Now I’ll settle down and never roam Find a man and make a home When we settle down There’ll be no more blues Nothing but happiness When we settle down There’ll be no more blues
Django Hödl
Ausgewählte Jazz-Standards und ihre Texte
Angel Eyes – M. Dennis
Try to think that love’s not around But it’s uncomfortably near My old heart ain’t gaining no ground Because my angel eyes ain’t here Angel eyes, that old Devil sent They glow unbearably bright Need I say that my love’s misspent Misspent with angel eyes tonight So drink up all you people Order anything you see Have fun you happy people The laughs and the jokes on me Pardon me but I got to run The fact’s uncommonly clear Got to find who’s now number one And why my angel eyes ain’t here Oh, where is my angel eyes Excuse me while I disappear Angel eyes, angel eyes
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Heaven – D. Ellington
Heaven, my dream Heaven, divine Heaven supreme Heaven come by Every sweet and pretty thing Life with love to bring Heavenly heaven to me is just the ultimate degree to be Heaven, supreme Heaven, my dream Heaven my dream. Come Sunday – D. Ellington
Ooooh … Lord, dear Lord above, God almighty, God of love, Please look down and see my people through. I believe that God put sun and moon up in the sky. I don’t mind the gray skies ’cause they’re just clouds passing by. Heaven is a goodness time. A brighter light on high. Do unto others as you would have them do to you. And have a brighter by and by. Lord, dear Lord above, God almighty, God of love, Please look down and see my people through. I believe God is now, was then and always will be. With God’s blessing we can make it through eternity. Lord, dear Lord above, God almighty, God of love, Please look down and see my people through.
Django Hödl
Ausgewählte Jazz-Standards und ihre Texte
The Preacher – H. Silver
You’d better talk to the preacher – Tell him how you feel And listen close to the preacher – Tell you love’s for real He’ll lead you out of the darkness – Into the light You’ll find how happiness lies – In treating everyone right The preacher preaches on Sundays – All through the day And those who go there to listen – Cheer him when he says He’ll lead you out of the darkness – into the light You’ll find how happiness lies – In treating everyone right
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A Child is Born – T. Jones
Now out of the night New as the dawn into the light Oh this child, innocent child, Soft as a fawn This child is born One small heart One pair of eyes One work of art Here in my arms Here he lies Trusting and warm Blessed this bond A child is born Now out of the night New as the dawn into the light Oh this child, innocent child, Soft as a fawn This child is born One small heart One pair of eyes One work of art Here in my arms Here he lies Trusting and warm Blessed this bond A child is born
Django Hödl
Ausgewählte Jazz-Standards und ihre Texte
God bless the Child – B. Holiday
Them that’s got shall have Them that’s not shall lose So the Bible said and it still is news Mama may have, Papa may have But God bless the child that’s got his own That’s got his own Yes, the strong gets more While the weak ones fade Empty pockets don’t ever make the grade Mama may have, Papa may have But God bless the child that’s got his own That’s got his own [Repeat: x2] Money, you’ve got lots of friends Crowding round the door When you’re gone, spending ends They don’t come no more Rich relations give Crust of bread and such You can help yourself But don’t take too much Mama may have, Papa may have But God bless the child that’s got his own That’s got his own Mama may have, Papa may have But God bless the child that’s got his own That’s got his own He just worry ’bout nothin’ Cause he’s got his own Yes he’s got his own
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Jüdische Stimmen: musikalische Tradition und geschichtliche Erfahrung
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„moving in and out of different feelings“ Die Mahler-Einspielungen des Uri Caine zwischen Transformation, Dekonstruktion und emotionalem Statement Frank Thomas Brinkmann
1 Herzblut „Meine Musik ist Ausdruck meiner selbst. Sie spricht für sich, hat ihre eigene Seele. Ich will mich in ihr selbst offenbaren, mich erklären“,1 soll der junge Kapellmeister Gustav Mahler2 vor der vorletzten Jahrhundertwende autobiografisch erklärt haben, womöglich, nachdem er bereits (schriftlich) niedergelegt hatte, inwieweit bereits seine ersten Symphonien den Inhalt seines ganzen Lebens zu erschöpfen vermochten: „es ist Erfahrenes und Erlittenes, das ich mit meinem Herzblut niederschrieb. Wahrheit und Dichtung in Tönen, und wenn einer gut zu lesen verstünde, müßte ihm in der Tat mein Leben darin durchsichtig erscheinen.“3 Mahler, so wird gern betont, hat sich wohl nach solchen Lesenden gesehnt – und 1
2 3
Zit. n. Wessling 1974, S. 138. Allerdings hat Wessling, der sich in den letzten zwei Jahrzehnten des vergangenen Jahrtausends wiederholt Plagiats- und Fälschungsvorwürfen stellen musste, die Quellensicherheit seiner Zitate nie angemessen belegen können. Es steht zu befürchten, dass auch das besagte Zitat einer frei erfundenen Textmenge zuzurechnen ist. Floros 2010. Bauer-Lechner 1912, S. 184; vgl. Kilian 1984, S. 26.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_16
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Frank Thomas Brinkmann
folgerichtig verraten: „Eine wahre Befreiung wäre es für mich, einmal einen zu finden, der aus sich und aus der Partitur sehend und hörend wird.“4 Nun, als einen solchen habe ich mich nie wirklich verstehen wollen, wohl aber als einen, der mit Anfang, Mitte Zwanzig – also etwa gleichaltrig mit Mahler, als er seine erste Tondichtung verfasste – zunächst von seiner fünften, sodann von der zweiten Symphonie und ihrem gewaltigen Finale schwer getroffen und gerührt wurde. (Das ist übrigens keine unübliche, vielmehr eine allzu gewöhnliche Mahlerrezeptionskarriere, ganz abgesehen davon, dass es in der Popkultur der 1980er und 1990er Jahre durchaus als en vogue galt, ein Mahler-Faible zur Schau zu tragen, und es wurde schon als ambitioniert und avantgardistisch goutiert, wenn man musikgeschmacklich aus solcherlei Höhenlage herab freundlich grüßen konnte.) Definitiv muss ich hinzufügen, dass es seinerzeit in meiner freundeskreislichen Umgebung gang und gebe wurde, die Silvesterfeier anlässlich des Jahresüberschlags nicht in einer Knallfroschorgie ausufern zu lassen, sondern sich zwischen zwei wattstarken High-End-Boxen zum stillen Konsum des „gesunden, kräftigen, letzten Satzes“5 der Zweiten einzufinden, um punktgenau zur Stunde Null dem Chor der Auferstandenen und Erlösten zu folgen: „O glaube, mein Herz, o glaube: / Es geht dir nichts verloren! / Dein ist, ja dein, was du gesehnt, / Dein, was du geliebt, was du gestritten! / O glaube: Du wardst nicht umsonst geboren! / Hast nicht umsonst gelebt, gelitten! / Was entstanden ist, das muß vergehen! / Hör auf zu beben! / Bereite dich zu leben! / O Schmerz! Du Alldurchdringer! / Dir bin ich entrungen. / O Tod! Du Allbezwinger! / Nun bist du bezwungen! / Mit Flügeln, die ich mir errungen, / in heißem Liebesstreben / werd ich entschweben / zum Licht, zu dem kein Aug gedrungen! / Mit Flügeln, die ich mir errungen, / werd ich entschweben! / Sterben werd ich, um zu leben! / Auferstehn, ja auferstehn wirst du, / mein Herz, in einem Nu! / Was du geschlagen, / zu Gott wird es dich tragen!“
Konsensfähig und anrührend war sie, die gesungene Empfehlung des sensiblen Komponisten, und seine einfühlsam – eben mit besagtem Herzblut – zu Notenpapier gebrachte Selbstdeutung ging dem Auditorium ebendort hin: also zu Herzen. Welch kühner, aber versöhnender Gedanke, sich strebend Flügel zu erringen, um hinweg schweben zu können aus allen Niederungen der Vergänglichkeit, hin zu dem ersehnten Gotte; welch große Idee, in der eigenen Selbstwerdung eine Art Unvergänglichkeit erlangt zu haben. Das erlösende Wort, das sich nicht von allein einstellen will: Mahler sagt es sich selbst, doch nicht nur; er verkündet geradezu die frohe Botschaft, dass das Leben in dem Augenblick seinen letzten Sinn und 4 5
Zit. n. H. Blaukopf, S. 7f. Blaukopf und Blaukopf 1994, S. 103.
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seine Weihen erhält, in dem man sich seiner selbst, in Frei-sein und Person-sein, vergewissert. Damit freilich positioniert sich der Musiker eigenartig profiliert auf einem Plateau, das für lange Zeit weitestgehend für die Religionskundigen – bzw. für die Dogmen klassischer Theologie, die Fragmente jüdisch-christlicher Religionstraditionen und die narrativ-erbaulichen Kabinettstückchen kirchlicher Verkündigung – reserviert war. Und mit welch radikaler Pointe er aufwarten wollte: „Es ist kein Gericht – Es ist kein Sünder, kein Gerechter – kein Großer – und kein Kleiner – es ist nicht Strafe und nicht Lohn! [Lediglich] Ein allmächtiges Liebesgefühl durchleuchtet uns mit seligem Wissen und Sein.“, schreibt der Komponist später kommentierend in einer Art programmatischer Verständnishilfe,6 die mich, den als unzeitige Geburt nur indirekt von Mahler Berührten, nach wiederholter Lektüre zu einem seltsam theologieverdächtigen Thesengeflecht inspirieren sollte: Als ich 1997 von einer Projektgruppe der WGTh – Religionskulturelle Transformationen am Beginn des 20. Jahrhunderts – um eine Mitwirkung bei drei grundlegenden Tagungen, zudem um einen eigenständigen Beitrag gebeten wurde, nahm ich mir zu zeigen vor, dass Gustav Mahler, jene Schlüsselfigur der jüngeren Musikgeschichte, deren Symphonien als „Schlussstein am Wunderbau der abendländischen Symphonik“7 gelten sollten, als „gläubiger Mensch“8 und „religiöses Genie“9 der vorletzten Jahrhundertwende einen bleibenden Beitrag zur Transformationsund Neucodierungsgeschichte jüdisch-christlicher Sinngehalte hat leisten können. Mein Ziel war damals, die üblich gewordene religionshermeneutische Kühnheit nahezu übergriffig auf die Spitze treibend, „die Person und das Schaffen eines Juden, der ‚mit vollstem Bewußtsein Katholik geworden‘10 ist, einer liberaltheologisch-kulturwissenschaftlichen Lesart zu unterwerfen und den ‚musikalischen Wiener‘ des ausgehenden 19. Jahrhunderts für eine Rekonstruktion der (protestantischen) Religionskultur Deutschlands im (angehenden) 20. Jahrhundert“11 zu gewinnen! Nun, das Material, auf das ich mich kaprizierte – allerlei überlieferte Selbstaussagen, gut erhaltene Briefausschnitte, eigenständige Kompositionskommentare und -leitgedanken – gab es letztendlich her, ein eigentümliches Fazit (a)
6 7 8
La Grange und Weiß (Hrsg) 1995, S. 87f. Robert Heger, zit. n. Wessling 1974, S. 328. Angeblich Alma Mahler in einem Gespräch mit Berndt W. Wessling, zit. n. Wessling 1974, S. 13 [In der Forschung wird allerdings angezweifelt, dass Wessling Alma Mahler jemals getroffen hat!]. 9 Vgl. Wessling 1974, S. 14. 10 Wessling 1974, S. 13. 11 Brinkmann 2001.
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hinreichend zu belegen und zu inszenieren, um es alsdann (b) gefällig umrankt zu platzieren: Mahler, so wollte ich resümieren, „war nicht nur in musikalischer Hinsicht ein ‚Mensch zwischen den Zeiten‘, sondern auch im Blick auf seine Religion und Religiosität ein ‚Virtuose auf den Schwellen‘. Alle Versuche, ihn einer Hochreligion, einer Konfession oder einer philosophischen Weltanschauung eindeutig zuzurechnen, müssen scheitern“: mit plakativen Signaturen (Verräter des Judentums,12 karrierebewusst „konvertierter Christ“, von Nietzsche in den Bann gezogener Philosoph,13 „pragmatischer Modernist“ mit Schwächen für William James und Henri Bergson14) und gehässigen Prädikaten (mystischer Katholik, weltabgewandter Todessehnsüchtler mit einer Fluchtbewegung zu esoterischen Meditationen15) war er nicht begriffen, wohl aber mit der Denkfigur des protestantischen Weges, der dort beschritten wird, wo man immer wieder neu artikuliert und kommuniziert, wie man sich den Deutungsaufgaben fragmentarischen Lebens zu stellen bzw. mit Sinnerrungenschaften der Weltwirklichkeit standzuhalten gedenkt.16 Ich war (und bin eigentlich weiterhin) fest überzeugt von der Richtigkeit meiner Denkkapriolen, obschon ich mich tatsächlich weitestgehend auf Textzeugnisse, also auf Wortmengen verlassen und konzentriert hatte, um von dort aus musikalische Decodierungsversuche zu wagen und auf eine Art religionshermeneutisch-tiefenpsychologische Entschlüsselung von Mahlers Wesen zuzusteuern. Die einfache Pointe bleibt gewiss auch zutreffend, ist längst hinreichend belegt und bestätigt: Mahlers Musik ist vollständiger, hochemotional aufgeladener Ausdruck seines Lebens- und Selbstverständnisses.17 Und dennoch, es ist längst einzugestehen, dass sich meine religionshermeneutische Leidenschaft in einem Forschungslager verselbständigt und ausgetobt hatte, wo hilflos wortfixiert den manischen Höhen und depressiven Tiefen genialer Komponisten nachgespürt – und letzten Endes lediglich das altprotestantisch-barocke Dogma von der optima ars: musica als Donum dei et ancilla theologiae verbraucht und dekliniert wird.18 Doch 12 13 14 15
Vgl. Bernstein 1998, S. 14–17. Vgl. Wessling 1974, S. 137. Vgl. Wessling 1974, S. 293. Diesbezüglich wird immer häufiger auf Mahlers „Lied von der Erde“ verwiesen; vgl. auch Bernstein 1998, S. 16f. 16 Angelehnt an Leese 1938, S. 140f. 17 Z.B. Schaefer 1996. 18 Zur Frage nach dem Verhältnis von Text (Dichtung etc.) und Musik findet sich u.a. bei Arne Stollberg eine weiterführende typologische Ausdifferenzierung; vgl. Stollberg 2017.
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was für das Vokalwerk eines Johann Sebastian Bach etwa gelten mochte, nämlich, dass die Musik als Dienerin des Wortes dessen Aussagegehalt untermalt und überhöht, veranschaulicht und empathisch illustriert, das war nicht allein mit der romantic perspective Mozarts, wonach die „Poesie der Musick gehorsame Tochter seyn“ solle, konterkariert worden, sondern hatte sich mit den musiktheoretischen Betrachtungen und den musikpraktischen Demonstrationen des mächtigen Ludwig und des großen Richard – Mahler schrieb u.a. an Alma, es gäbe für ihn nur Beethoven und Wagner19 – nahezu erledigt. Schon Jahrzehnte vor Mahler20 hatte der ‚Wagnerian‘ view fokussiert, wie zwischen männlicher, zeugender Dichtkunst und weiblicher, gebärender Musik eine regelrechte Vermählung, eine innige Verschmelzung von Wort und Ton – exemplarisch im „Bayreuther Gesamtkunstwerk“ – zustande kommt.21 Anders formuliert: wer den Zugang über Textmengen wählt, die das Wort als Grundeinheit der Sprache fixieren, muss berücksichtigen, dass diese Texte weder ein Dominanzmerkmal enthalten noch den gesamten Interpretationshorizont für komplexe Texturgewebe auszuleuchten vermögen – etwa für eine Textur, die unter anderem aus Tönen und Klängen zu Harmonien und Melodien verdichtet ist, die einer eigenständigen grammatischen Logik folgen dürfte und der nicht ohne Weiteres mit eindimensional-metaphorischen Lesarten oder traditionellen semantischen Dechiffriermaschinen beizukommen ist. Ein Hörerlebnis am Ende des 20. Jahrhunderts sollte mich eigentlich schon früh auf diese Spur gesetzt haben, denn ich war – rein zufällig – am 18. und 19. Juli 1998 in Toblach/Südtirol gewesen, als das Uri Caine-Ensemble einen Preis entgegengenommen und sich artig mit zwei Konzerten bedankt hatte.22 Doch um mehr zu verstehen, auch, wie es dazu kam, muss man zwei, drei ineinander verwobene Anekdoten zwischenschalten, in denen es wesentlich um Menschen mit Herzblut für Mahler geht.
19 „… Beethoven. Es gibt nur den und Richard – und sonst Nichts! Merk Dir’s!“. La Grange und Weiß (Hrsg) 1995, Briefe an Alma Nr. 91, S. 209. 20 Haller 2005. 21 Vgl. Stollberg 2017, S. 66f. 22 Vgl. Gustav Mahler Musikwochen 1998.
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2 Anekdoten Das Multitalent Franz Winter, so verrät uns ein bekanntes Online-Lexikon,23 wird am 26. November 1950 in Tegernsee geboren, wächst in Österreich auf, besuchte das Jesuitenkolleg Stella Matutina in Feldkirch/Vorarlberg und das Musische Gymnasium der Benediktiner in Niederaltaich, absolviert eine Schauspielausbildung an der Otto-Falckenberg-Schule in München,24 ist als Schauspieler tätig, erhält im damaligen Westberlin einen „Förderpreis für die junge Generation“ der Akademie der Künste, arbeitet von 1985 bis 1988 als Schauspieldirektor in Gießen, fernerhin als Regisseur im Sprech- und Musiktheater, beteiligt sich – überwiegend als Autor – an v.a. kulturhistorischen Filmproduktionen (Polygram International), etwa über die Renaissance in Florenz oder die Kulturlandschaft der Loire und schreibt preisverdächtige bzw. nominierte Bücher.25 Sein Bruder Stefan Winter leitet von 1985–1995 das von Polydor gestützte deutsche Plattenlabel JMT (Jazz Music Today) Productions, das zeitweilig eine Reihe etablierter Musiker und ambitionierter Newcomer unter Vertrag hatte – so etwa Django Bates, John McLaughlin, Paul Motian, Gary Thomas, Steve Coleman, Greg Osby und Cassandra Wilson. Als JMT mangels finanzieller Rückendeckung des Mutterkonzerns geschlossen werden muss, gründet Stefan mit Bruder Franz 1997 das eigene Label Winter & Winter und setzt mit einigen JMT-Künstlern die Tonträgerproduktion fort. Etwa zur gleichen Zeit entwickelt Franz Winter – als Ausdruck eines annähernd jahrzehntelang fließenden, vermutlich besonders österreichischen Herzblutes – die Idee einer besonderen multimedialen Produktion: Originaldokumente und Fotografien aus der Hinterlassenschaft Mahlers lichtet er photographisch ab, die Schwarzweißbilder reichert er mit farbigen Landschaftsaufnahmen aus dem Pustertal, aus Wien, New York und anderen Wirkungsstätten des Künstlers an, sucht nun noch den Klang. Von der Option, sich mit einer anbiedernden, filmmusikähnlichen Verniedlichung des musikalischen Vermächtnisses zu helfen, nimmt Winter sofort Abstand, fragt vielmehr nach einer Adaption von Mahlers Musik, 23 Vgl. Franz Winter (Schauspieler). Die Faktizität der dort abgelegten Informationen kann nicht geprüft, wohl aber hinterfragt bleiben. Die verwendete Signatur „Anekdote“ will diesem Umstand entgegenkommen. 24 Unter Winters Stationen als Schauspieler wird das Deutsche Theater in Göttingen, Staatliche Schauspielbühnen Berlin, das Burgtheater Wien, das Münchner Staatstheater am Gärtnerplatz und die Salzburger Festspiele gelistet; 1974 hat Winter einen Gastauftritt in der Fernsehserie „Der Kommissar“ (Folge: Der Segelbootmord). 25 Winter 2011, Operation Rheingold; ders. 2012, Orfanelle. Venedig-Roman. 2011 ist Winters Rheingold für den „Leo-Perutz-Literaturpreis“ nominiert.
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die die Komplexität des Themas bedient. Stefan Winter kann helfen und vermittelt aus seinem Künstlerportfolio Uri Caine (*8. Juni 1956), der einer intellektuellen jüdischen Familie entstammt, Schüler des französischen Pianisten Bernard Peiffer gewesen ist, ein Studium der Komposition an der University of Pennsylvania absolviert hat, als U-E-Grenzgänger in lokalen Jazzclubs aufspielt – und tatsächlich sehr gern bereit ist, sich an der Collage zu beteiligen. Man war gespannt. Als der Winter’sche Projektfilm26 als Prototyp im New Yorker Avantgarde-Jazzclub The Knitting Factory vorgeführt wird, gerät er dank eines einzigartigen Score von Uri Caine zu einer Performance, die alle Sinne anzurühren vermag. Caine hatte sich nicht nur ein Jahr lang mit Mahlers Leben und Werk befasst, Partituren studiert, Themen wie Melodien ergründet und seine erlesenen Fundstücke aus Mahlers tonaler Sehnsuchtssprache mit Motiven, Idiomen und Montagen zahlreicher Stilrichtungen angereichert, sondern auch einige der besten New Yorker Musiker versammelt, um jene „einfühlsame und tiefe musikalische Verbeugung vor einem der bedeutendsten Komponisten unseres Jahrhunderts“27 vorzutragen, die kurz darauf gar noch im Studio wiederholt und auf einen Tonträger gebracht wird. Die Einspielung erhält den Titel „Urlicht“, vermag es an Congenialität – mit Winter sowieso, mit Mahler aber auch – aufzunehmen und darf letzten Endes einen Meilenstein in Caines Karriere markieren, die 1997 erstmals geadelt wird: Die Jury der renommierten 17. Gustav-Mahler-Musikwoche in Toblach, seinerzeit bestehend aus Volkmar Fischer, René Karlen, Paolo Petazzi und Ulrich Schreiber, verleiht ihm unter dem Präsidium von Attila Csampai (München) einen Sonderpreis abseits der traditionellen Kategorien A bis C (Monoaufnahmen, Stereoaufnahmen, Neuproduktionen); die begehrte Auszeichnung geht, so der wiederholt online platzierte Erinnerungstext, „an den Jazz-Pianisten und Komponisten Uri Caine für seinen neuen, unkonventionellen Weg der Verknüpfung von Mahlers Botschaften mit der rauen, polyglotten, anarchischen Stilvielfalt des zeitgenössischen amerikanischen Jazz.“28 Die Toblacher Musikwoche, nun: das ist kein Event wie jedes andere, ebenso wenig, wie Toblach selbst ein Ort wie jeder andere hätte sein können. Denn immerhin hatte Mahler hier – also im heutigen Südtirol – die Sommermonate 1908–1910 verbracht, hatte hier im Hochpustertal auf dem Trenkerhof in Altschluderbach Quartier bezogen, hatte hier sich, quasi am Fuße der Drei Zinnen, immer wieder in jenes hölzerne Refugium am Wildpark zurückgezogen, das später Komponierhäuschen genannt werden und die Elite der Mahlerforschung und der Mahler26 Riethmüller 2010, S. 484. 27 Gustav Mahler – Urlicht 1997. 28 Schallplattenpreis 1997.
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interpretation wie ein Magnet anziehen sollte. Die Gustav-Mahler-Musikwochen in Toblach verstehen sich seit ihrer Einrichtung 1981 als anspruchsvolles, international anerkanntes Musikfestival, als Begegnungsort von Musik, Wissenschaft und Diskographie. Zu den anerkannt unvergessenen Momenten und Highlights der sogen. Ära Lanz – Josef Lanz hatte 1994 die künstlerische Leitung übernommen und den Anspruch formuliert, einerseits einheimische Kreativität und Kultur, andererseits bislang unerforschte Mahler-Themen in den Fokus der Musikwochen zu stellen – gehören nicht nur in dieser programmatischen Hinsicht sowohl (1.) das Nachtkonzert am Komponierhäuschen in Altschluderbach, das von Uri Caine und Freunden ein Jahr nach der Preisverleihung aus Dankbarkeit und Wertschätzung aufgeführt wurde, als auch (2.) das am Folgetag vom selben Ensemble dargebotene, Aufsehen erregende Konzert „Mahler in Toblach“, letzteres übrigens – im Grunde Urlicht, allein in abweichender Stückfolge – auch als Live-Mitschnitt auf CD international sehr beachtet. Es ist nicht vermessen zu behaupten, dass in Toblach – also an jenem Ort, von dem Hubert Stuppner später erklärte, dass dort „Musisches und Mentales, Ethisches und Ästhetisches, aufeinander treffen sollen, im Sinne Mahlers, der Musik nicht nur als Tröstung und Bekenntnis, sondern auch als eine gültige Aussage über die Welt im Ganzen verstand.“29 – mit Uri Caine mehr als nur eine neue Mahler-Perspektive aufgezeigt worden war: „Mit großem Gespür“, so betont Alfred Pranzl in einer Rezension für skug (SubKulturUnderGround), das österreichische Journal für Musik, „legte Caine […] die jüdischen Wurzeln in Mahlers Musik bloß, beispielsweise den morbiden Trauermarsch aus der ‚Fünften Symphonie‘“,30 und weiterführend erklärt er: „Unter den genialen New Yorker Musikern, die […] Mahler zu einem jiddischen Jazzer erheben, müssen die Bläser, DJ Olive und Jim Black (dr) noch hervorgehoben werden. Und selbstverständlich die schluchzende Geige von Mark Feldman und Aaron Bensoussans (voc, Oud) Stimme, die beim Rezitieren aus den ‚Kindertotenliedern‘, ‚Des Knaben Wunderhorn‘ und beim Schlüpfen in die Rolle eines Kantors (‚Das Lied von der Erde‘) um einiges mehr an Gänsehaut verursacht als die Sänger auf den Originalen. Alle dürfen sich in freien Jazzpassagen – auf ‚Ging heut’ morgen übers Feld‘ sind die zugrundeliegenden Mahler-Kompositionen kaum verifizierbar – austoben, doch der wahre Esprit liegt in der an jiddischen Volks/Kirchenmusiktraditionen orientierten Interpretation von Mahlers an sich schon großartiger Musik.“
29 35 Jahre Gustav Mahler Musikwochen in Toblach. 30 Pranzl 1999.
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Die Einschätzung von Pranzl bleibt den Beweis nicht schuldig. Es braucht nicht zwingend ein geübtes Gehör, um wahrzunehmen, wie sensibel Caine die jüdischen Wurzeln der Mahler’schen Musik aufgespürt bzw. allerlei jiddische Traditionssplitter der beteiligten Lebenskulturen – Mahlers und der eigenen! – freigelegt hat, auch, wie es ihm gelungen war, das ausdrucksästhetische Vermächtnis des hochemotionalen Ahnen mit jazzigen Passagen in Echt- und Jetztzeit zu vermengen und mit Ostküsten-Lokalkolorit – von Little-Italy-Tarantella über Lower-Eastside-Klezmer bis hin zu afro-amerikanischen Trauerzugchorälen31 – zu synchronisieren. Wäre also davon nun eine Weile zu plaudern, um am Ende wieder in den gewohnten Jargon zu verfallen? Ausgerechnet Franz Winter, dessen urlicht-Geschichte nun wirklich auf eine nachhaltige Auseinandersetzung mit Caine schließen ließe, gibt in seinen urlicht-Kommentaren32 Anlass zu der Vermutung, dass bestimmte Lesarten hartnäckig sind. Sein Mahler-Urteil ist seltsam durchwachsen, er schreibt, zunächst sehr überzeugend: „Vielleicht hat die dramatische Komplexität des zuendegehenden 19ten Jahrhunderts im alten Österreich in kaum einem Lebenswerk so sehr ihren Ausdruck gefunden wie in dem Gustav Mahlers, mit allen Wurzeln, Adern und Verwerfungen. Janusköpfig ist seine Musik auf der Schwelle, die klanggewordene Krise. Er ist Sammler, Bewahrer und Zerstörer. Im Schatten Wagners, in der sich verflüchtigenden Aura Bruckners ist er es, der sich noch einmal in der Musikgeschichte um den großen Ausdruck bemüht. Und er durchsetzt, kollagiert ihn mit allen nur möglichen trivialen Klängen seiner Zeit, mit Märschen, Tanzmusiken, mit Volksmusik, mit Kuhglocken und Schellen, mit Schnarren und Schlegelhieben. […] Kein musikalischer Ausdruck ist ihm fremd, alles wird gesucht, aufgespürt, zitiert, verwendet, vorgeführt, aufgebaut, hingehalten, um dann unter Hohngelächter und Schmerzensschreien aufgerieben zu werden, bis nur noch die dünne Melodie einer Geige bleibt, gespielt von einem übernächtigten vergessenen Musikanten in einem ausgebrannten Haus.“
Soweit d’accord; nahezu jeder Mahler-Kenner würde sich an den Bruder-Jacob-Kanon und das parodistische Bild von „Des Jägers Leichenbegängnis“ im dritten Satz der I. Symphonie erinnern, sich die Verwendung von entstellten Rheingoldmotiven und Parzival-sowie Siegfried-Zitaten in I/4, II/2, V/3 u.ö. vergegenwärtigen und kopfnickend sekundieren – wäre da nicht jenes Fazit, in dem Winters Beobachtungen kollabieren, wenn er, offenbar in einem Amalgam aus alpenkatholischer
31 Riethmüller 2010, S. 484. 32 Abgedruckt im Inlet von Urlicht (Winter&Winter 1998).
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Frömmigkeit, austriabarocker Sentimentalität und adornoesker33 Resterinnerung schwelgend, bilanziert: „Der konvertierte Jude versucht sich als letzter Mystiker in christlicher Weltschau. Und in der Gegenüberstellung seines musikalisch-kulturellen Erbgutes, der ‚Städtel-Musiken‘, der Kantor-Melodien aus der Synagoge, der klagenden Klarinettenweisen, artikuliert er prophetisch den Holocaust des 20sten Jahrhunderts.“ Einmal ganz abgesehen davon, dass 1. der so genannten eschatologischen Deutungsperspektive schon 1921 von Paul Bekker widersprochen worden ist, und 2. die Teilthese von der musikalischen Holocaust-Antizipation – sie bezieht sich gemeinhin erstens auf die mittleren34 bis späten Symphonien, und zweitens hat u.a. Jens Malte Fischer35 für letztere Phase überzeugend demonstriert, dass Mahlers oft als Referenz herangezogener dissonanter Neuntakkord (1. und 5. Satz der X. Symphonie) eher im Zusammenhang mit Mahlers Ehedrama (Alma Mahler hatte ein Verhältnis mit Walter Gropius) zu sehen ist – ähnlich unhaltbar ist wie die Behauptung, Mahler habe mit der V. Symphonie das Unglück, nämlich den Tod seiner Tochter Maria 1907 herbeikomponiert,36 stellt sich natürlich Frage nach der Haltbarkeit und Aussagekraft der typischen Signaturen – Konvertierter Jude, Mystiker in christlicher Weltschau – aus der späten Mitte des letzten Jahrhunderts. Philipp Bohlman37 ist einer von vielen, die sich über musik- und kulturtheoretische Zugänge vorsichtig mit diesen Signaturen, exemplarisch mit Winters Fazit auseinandergesetzt haben; nachdrücklich betont er, dass die Frage nach Mahlers Religionszugehörigkeit und Religionsaffinität (und das gilt i.Ü. nicht nur für Mahler!) keineswegs mit einer Analyse des entdeckten musikkulturellen Brauchtums beantwortet werden könnte. Die sogenannte jüdische Musik, soviel bleibe festzuhalten, würde in der Rezeption bzw. im Modus der Aneignung und Ausübung verinnerlicht, gäbe auch der Emotionalität Möglichkeit
33 Das bezieht sich u.a. auf die Bemerkung von Adorno, man müsse, „um Mahler recht zu hören, an jenem Einverständnis teilhaben, das sich herstellt, wo Musik österreichisch gesprochen wird.“ (1963, S. 119). 34 Vgl. z.B. Schaefer 21996, S. 639. 35 Fischer 2003. 36 Alma Mahler wird zitiert: „Er hat sowohl mit den Kindertotenliedern als auch mit der Sechsten sein Leben ‚anticipando musiziert‘“; vgl. Oechsle 2010, S. 291. 37 Bohlmann 2004, S. 252.
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zum Ausdruck – aber wäre deshalb nicht als „religiös“ zu beschwören, sondern eher dem kulturgeronnenen Repertoire symbolischer Formen zuzurechnen. Mahler und Caine, so wollte Bohlman offenbar verstanden werden, zehren beide von dem Zeichenrepertoire und den musikalischen Narrativen ihrer gemeinsamen, wenngleich raumzeitlich nicht identischen Heimatkultur; so, wie sie jeweils beide nicht anders können, als ihre verinnerlichte Musik – eine ganz eigene Semantik, ganz eigene Grammatik – mit der Fülle an Klängen, Gongschlängen, Dissonanzen (etc.) ihrer Zeit zu vermählen, so kann Caine selbstverständlich gar nicht anders, als Mahler so zu spielen, wie er spielen würde, wenn er Mahler wäre, damals wie heute. Das ist nicht mehr Interpretation, das ist nicht mehr Perspektive, das ist berechtigte Transformation und geht darüber hinaus, wird zu einem Statement der Identifikation. Denn für Caine, der sich offensichtlich von den veralteten religionskulturellen Zuordnungsdebatten und den denkakrobatischen Versuchen zu Mahlers letzter Konfession wenig hat beeindrucken lassen, scheint evident zu sein, dass man bestimmte kulturelle Szenarien vor dem geistigen Auge bewegen und alsbald verschlingen und verinnerlichen muss, um sodann Mahler spielen zu können, als wäre man Mahler; er spricht es aus: „Ich habe Mahlers Musik gewöhnlich in Konzerten des Philadelphia Orchestra gehört. Und da dachte ich manchmal: Wenn du diese Passage auf einer jüdischen Hochzeit spielen würdest, würden sie dich rausschmeißen. Man müsste es viel wilder spielen.“38 Caine hat es getan – und ganz nebenbei auch seine favorisierten Mahler-Stücke in immer wieder neuen Abfolgen präsentiert:
38 Schaal 2000, S. 63.
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Mahler
Symphonie Nr. I „Titan“ (1884–1888) 3. Satz Symphonie Nr. II „Auferstehung“ (1888–1894) 2. Satz Andante moderato 4. Satz /„Urlicht“ Symphonie Nr. V (1901–1902) Trauermarsch (1. Satz) Adagietto Lied von der Erde (1908–1909) Der Einsame im Herbst Von der Jugend Der Trunkene im Frühling Der Abschied Des Knaben Wunderhorn (1892–1896) Wer hat dies Liedlein erdacht Der Tambourg’sell Verlorene Müh Des Antonius von Padua Fischpredigt Rheinlegendchen Lob des hohen Verstandes Wo die schönen Trompeten blasen Lied des Verfolgten im Turm (Fünf) Rückertlieder Liebst Du um Schönheit… Kindertotenlieder (1901–1904) Nun will die Sonn so hell aufgehn Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen Nun seh ich wohl, warum so dunkle Flammen… Wenn dein Mütterlein tritt zur Tür herein Lieder eines fahrenden Gesellen (1883–1885) Ging heut morgen übers Feld Die zwei blauen Augen von meinem Schatz Wenn mein Schatz Hochzeit macht a
Frank Thomas Brinkmann
Orig.Caine zählung (Zählung) Prime Toblach Dark Light 1+2 Flame
2 3 5 6 2 3 5 6 8 9 10 11
PL 5
T2 1
PL 7a PL 6
T2 2 T2 3
PL 1 PL 8
T1 1 T1 5+6 DF 6 DF 10
PL 9 PL 11
T2 4–5
PL 10 PL 2
T1 4
1
DF 9 DF 13 DF 11 DF 3 DF 5 DF 7 DF 2+14
1 4 2 3
PL 3 PL 4
T1 3 T1 2
2 4 1
PL 7b
T2 2
DF 1 DF 12
DF 4 DF 8
Als Besonderheit wird in Urlicht 7 das „Andante moderato“ (Symph II) verarbeitet mit „Ging heut morgen …“. b Dito.
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Der „Dekonstruktivist“
Caines finaler Horizont für „seinen“ Mahler wurde in seiner gespielten Transformation aus einer jazzigen Perspektive auf den Klassiker der Moderne vermessen; ausgespannt freilich hat er diesen Horizont im einem Selbstbewusstsein besonderer Identität: Was ich hier tue, so scheint er geradezu apodiktisch zu inszenieren, ist zwar nicht performierte jüdische Religion, aber es ist und bleibt „jüdische Musik“39 in ihrem Wesen. Auch dort, wo die Stilfiguren der Eastside-Avantgarde luzide schillern und allerlei Miniaturen aus dem american melting pot of cultures miteinander verjazzt um die Harmonien und Rhythmen der Welt ringen, bricht sie noch klagend und humorvoll, zitternd und lebendig, sehnsuchtsvoll verschwommen und messianisch klar hervor. [Eine bewusst provokative Assoziation sei an dieser Stelle platziert, muss allerdings ohne Kommentare und Argumente auskommen: Wie Gott prinzipiell nur durch Gott verstanden und erkannt werden kann, und wenn es ein zum Sohne transformierter Gott ist, so wird Mahler natürlich nur durch Mahler verstanden, erkannt und gespielt werden. Oder eben durch einen transformierten Mahler, eine Mahler-(Re-)Inkarnation. Uni Caine könnte in diesem Sinne als Mahlerus resurrectus des 21. Jahrhunderts aufgegriffen werden; er war nicht allein sein Interpret, sondern seine vollständige Offenbarung. Aber gewiss muss man sich mit solchen Thesen nicht nur bei der Gottesgelehrtheit, sondern auch bei der Musikwissenschaft hüten.] Wie man mit Musikern und ihrem Vermächtnis spielen kann, hat Caine übrigens in der Folgezeit immer wieder demonstriert. Seit annähernd 20 Jahren führt er vor, inwieweit man Wagner verspielt anlegen bzw. verspielen kann,40 wie sich Johann Sebastian Bach über Blues‑, Latin-, Klezmer- und Stomp-Elemente vervariationieren lässt, dass Mozart auch Mozart bleibt, wenn sein Erbe modernisiert 39 Vgl. Freedman 2000; dieser bezeichnet Caine übrigens aus musikalisch-intellektueller Sicht als Artie Shaw unserer Zeit (S. 198f.). 40 Caines Arbeit an Wagner (und Venedig) präsentiert Wagner zwischen pompös und mozardesk, kurzum: deutsch – und ist insofern eine Variation der Nietzsche-Lesart (Nietzsche 1969). Etwas anders urteilt Müller 1997: „Uri Caine […] enttarnt […] Richard Wagner als saumseligen Kaffeehausmucker. […] Der Walkürenritt auf dem Schifferklavier, den Liebestod zum Sahnebaiser, und zur Meistersinger-Ouvertüre ist Damenwahl; ein Wagner zum Schunkeln. Dabei ist Caine nicht eigentlich despektierlich in seiner Exegese. Der Vortrag des Sextetts zeugt vom feierlichen Ernst […]. Caines Wagner ist bestechend in seiner zwingenden Inbrunst, aber in groteskem Abstand zur Idee des Bayreuther Gesamtkunstwerkers. […] Eine Platte mit Witz, charmant und liebevoll.“
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und mit „Scratches“ unterlegt wird – oder wie sich Robert Schumanns Dichterliebe-Zyklus mit japanisch vorgetragenen Gedichten verträgt. Am Ende jedoch bleibt Caines Verfahren mahlerisch, und kein „Ausdruck ist ihm fremd“ (s.o.); ganz wie der große Meister inszeniert er abwegige orchestrale Ensembles und versucht sich an der differenziert-hohen Webkunst, indem er zitierte Tonfolgen mit abstrusen Geräuschen, vertraute Codizes und ambitionierte Sequenzen zu Klangteppichen verknüpft, deren fragile Struktur dennoch Verweischarakter hat, über sich hinauszeigt! Caine zerlegt und arrangiert neu, er klärt auf – und verklärt im nächsten Augenblick. Ein Mahler redivivus also, oder bloß ein Dekonstruktivist, der sein Handwerk versteht, wie es einige gern sagen? Nun, dass zu den „hervorstechendsten Werke(n) aus Uri Caines Diskografie“ seine „Dekonstruktionen bedeutender Werke“ zählen müssen, ist längst bei Wikipedia angekommen; dass sein dekonstruktivistisches Prinzip keineswegs, wie man annehmen könnte, eine antihermeneutische Pointe anstrebt, wird freilich verschwiegen. Aber genau so haben wir es uns vorzustellen, nämlich als ein Schwanengesang auf die simple eindimensionale Hermeneutik der Herrschenden (wir erschließen, was wir erschließen wollen!) zu Gunsten einer Hermeneutik zweiter Ordnung, die auf die Congenialität von Werkautor und Werkinterpret baut und hier das stärkere autoritäre Moment setzt: Caine vermag im Modus seiner Mahler-Performances zu einer Mahler-Transformation zu werden, quasi ekstatisch über das dialogische Verhältnis zwischen Text und Interpret hinauszuwachsen, aber eben nur, weil er sich zuvor bei seiner Auseinandersetzung mit Mahlers Leben und Œuvre intensiv hineinbegeben – und sich quasi dem Opus und dem Erstkreateur hat unterwerfen können. Die vermeintlich rekonstruierbare, weil angedacht vorhandene statisch-unflexible Sinneinheit, die eindimensional sinn- oder religionshermeneutisch erschlossen werden will, verweigert sich natürlich, weil es sie nicht geben kann. Erst in jenem intensiven Prozess der (ästhetischen und emotionalen) Unterwerfung, der sich übrigens verblüffend kompatibel an Susan Sontags „Erotics of Art“41 anschmiegt, werden jene Kräfte freigesetzt, die den Blick für erweiterte Sinnzusammenhänge ermöglichen, ja, mehr noch: die Potenz congenialer, raumzeitlich nicht kongruenter Konvivenz42 freisetzen. In diesen Konvivenzmomenten sind sich zwei Charaktere begegnet, die Gemeinsamkeiten haben. Und beide, Mahler wie Caine, haben sich gelegentlich dieses besonderen ironischen Verfahrens bedient, das nicht auf schlichte Wiedererkennungen abzielen 41 Gemeint ist natürlich die Schlusspointe aus: Sontag 2003, S. 22. 42 Etwas einfacher formuliert: Es geht um Macht und Möglichkeit, in geistigem, geistlichem, sinnlichem Einvernehmen mit/bei jemandem zu sein, obwohl er vor 100 Jahren gelebt hat.
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will, sondern die Sehnsucht nach Wiedererkennungen als solche bzw. als bürgerliches Strukturmoment von Existenz und Sinnkonstruktion entlarvt. Beide, Mahler wie Caine, haben – dekonstruktivistische oder postmimetische, nichtinterpretierende Hermeneutik? – genau solche Texte im Modus des ironischen Verbrauchs dekonstruiert und gleichzeitig reanimiert, rearrangiert und neu kreiert, die sich einer eindimensionalen Vereinnahmung durch unsensible Charaktere entziehen;43 sie erhalten ihre Würde dadurch, dass sie sich selbst stilistisch hinterfragen und parodistisch durchkreuzen – und mit Widersprüchen zwischen Inhalt, Aussage und Gehalt einerseits, musiksprachlicher Ausgestaltung andererseits die berühmte „Wunde offenhalten“, daraus das Blut der Herzen rinnt. Und zwar zu anderen Herzen hin, auf andere Herzen zu.
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Epilog in Fragmenten
2003 stellt Uri Caine mit „Dark Flames“ eine weitere Arbeit vor, die mahlereske Handschrift trägt; allerdings fragt man bisweilen vergeblich, welche Tonstücke des großen Wieners verarbeitet werden. Denn Caine spielt nicht mehr Mahler nach, jedenfalls nicht mehr als dessen Interpret; mehr tritt er auf wie einer, der der Schwer- und Anziehungskraft völlig nachgegeben, Werkherz und Herzblut vollständig aufgesogen hat. Er erscheint nun quasi als dessen vollendete Transformation – viel weniger und doch weitaus mehr als eine Reinkarnation! Caine spielt auf – und präsentiert gleichsam als musizierender Mahler redivivus, was er zuvor Mahler-congenial empfunden, entwickelt und komponiert hat.44 43 Uri Caine: „You know, I would say generally that sometimes people might read more into it than is there, and sometimes they sort of pass over the variety of what we’re trying to do. They go for the more easily identifiable things. Not to mention that there’s also, in this particular case, a sensitivity to whether or not the music is parodying fusion and that type of sound that came out of that era – or whether it’s actually embracing it. A lot seems to depend on whether they think that we’re sort of making fun of it as we’re playing it or actually taking it seriously. There is a lot of humor in it, or an attempt at humor – whether people find it funny or not. But to me, it’s more about the variety of all those things, of being able to move within, and in and out, of those things. And that’s also true with some of the other musical projects that I’ve done, and also, I would say in general, with music that I enjoy. There’s an element of transforming things and moving in and out of different feelings, and that’s certainly a part of this project.“; aus Olson 2006. 44 Vgl. Olson 2006: „Well, as you said, the first Mahler record that I made was back in ’97. Since that record came out, I’ve had the opportunity to play that music a lot on the road and to sort of develop it with a core group of players. And because Mahler’s
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Den möglichen Einwand, dass er die charmant eingesetzten parodistischen Spurenelemente, von denen schon Mahler reichlich Gebrauch machen konnte, am Ende nur zu einer plumpen Parodie verdichten konnte, weist er zurück;45 ebenso distanziert er sich von allen eindimensionalen Zuschreibungen, die ihn allein als Jude, Märtyrer, Jazz-Musiker, Experimentalisten oder Dekonstruktivisten apostrophieren wollen:46 Wie schon der große Gustav M. nur unter der Signatur des Allumfassers recht erfasst werden konnte, so will auch Uri Caine im Sinne eines en kai pan verstanden bzw. als eines in allem und alles in einem erfasst werden.
forms, especially his symphonies, are so long and complex, in the beginning I was gravitating towards his songs, which are shorter forms, but which really encompass a lot of different types of emotions and feelings. So I think that Dark Flame was an attempt to make a CD that was really derived from Mahler’s songs, which, in a way, have certain forms and certain references which I used as a jumping-off point to make my arrangements. […] And it was very interesting to work with musicians who didn’t necessarily know who Mahler was, but who, by the end of the session when we listened back, said it sounded like Chinese folk music. Then, when I played them the original Mahler, they were shocked. That’s something that happens a lot to the musicians that play in my group. I mean, some of them know Mahler very well, but some of them don’t – and I think if you present it as a certain form and let the improvisations give it a life of its own, and then when they go back to the original Mahler, they see what transformations have taken place. […] You’ve got some of the Kindertotenlieder that have a very folk-based feeling referring to Bohemian folk music, maybe klezmer music. There’s the Song of the Earth which was the big song cycle which he wrote at the end of his life based on Chinese poetry – which is interesting because a lot of Mahler’s chinoiserie, based on that idea that he was going to capture Chinese music, ends up sounding very much like another type of folk music. So I just thought it would be interesting to take the songs that had the most, I guess, stereotypical Chinese sound, the pentatonic scale, etc., etc., and actually have Chinese musicians play that music as if it were folk music.“ 45 Olson 2006: „Many people look at Mahler’s music, and, really, all compositions, as things that are fixed, unchangeable – you can’t change it. So they don’t like it at all; they think that I’m either parodying it or somehow disrespecting it or they just don’t like the idea of it at all. And I understand why people have those deep feelings about it, because people care very deeply. Those that do care that much are going to have strong opinions about whether this is a valid thing to do.“ 46 Vgl. Olson 2006: „One night you’re playing in a Mahler festival where you have a lot of people listening in the audience who are maybe reading things into the music that either aren’t there, or that you meant to do, or that you didn’t mean to do. People argue, “Are you trying to say that Mahler was a Jewish martyr? All these things that come up. The next night you’re playing at a jazz festival and the comment is, “wow, you have a deejay on stage. The next night you’re playing at an avant-garde festival, and people are saying, “Oh, you’re deconstructing this beautifully.“
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2015, also 25 Jahre nach seiner Einführung, wird der Toblacher Schallplattenpreis vorübergehend ausgesetzt. Der Jury-Vorsitzende Attila Csampai erklärt dazu: „Der explosive Zuwachs von Mahler-Aufnahmen in den 1970er und 1980er Jahren war das entscheidende Motiv für die Gründung unseres Schallplattenpreises vor einem Vierteljahrhundert, und wir können da, glaube ich, mit einigem Stolz auf eine exzellente Ausbeute zurückblicken und zurückgreifen. Trotzdem scheinen sich in den letzten Jahren die auch hier in Toblach schon früh geäußerten Befürchtungen, dass Mahlers unheimliche Popularität und auch der sich wandelnde Zeitgeist sich irgendwann gegen den fortschrittlichen und utopischen Geist seiner Musik wenden könnten, in einer fast lautlos sich vollziehenden interpretatorischen Nivellierung allmählich zu bewahrheiten: Ulrich Schreiber, der große, vor Jahren verstorbene deutsche Musikkritiker, brachte sein Unbehagen hier in Toblach schon Anfang der 1990er Jahre in einem Vortrag auf den Punkt, als er Mahler so wörtlich den Niedergang zum Klassiker attestierte. Vor allem scheint den heutigen Dirigenten der Enthusiasmus und das scharfe Profil der frühen Mahler-Propheten abhanden gekommen zu sein […]. Ist Mahlers utopisches Potenzial durch seine massenhafte Aufführung gar schon erschöpft? Mahlers Popularität hat offenbar auch den Blick auf sein Werk und unser Verhältnis zu seiner Musik, verändert. […] Und natürlich hat sich auch der so genannte Zeitgeist in den letzten Jahrzehnten entscheidend geändert. Mahler ist längst nicht mehr der Prophet, der verkannte Held, die Ikone einer intellektuellen Avantgarde […], [einer] neuen kritischen Generation von Kulturschaffenden. Für sie war Mahler stets mehr als ein verschmähter jüdischer Komponist: Er avancierte damals zu einer Pop-Ikone der 68er-Generation, und seine zerrissenen aber noch ganzheitlichen musikalischen Weltentwürfe boten dieser kritischen Generation eine neue spirituelle Ebene für die Emanzipation und das komplette Ausleben der eigenen Gefühle. […] Mahler wurde zu einer Ikone eines neuen Kulturverständnisses. Diese Generation ist heute im Rentenalter […]. Heute ist Konformismus, nüchterne Distanz, Gelassenheit, angesagt, und diese Coolness verträgt sich kaum mit Mahlers emphatischen Botschaften. Mahler sitzt heute im Pantheon der grossen Musiker und gilt vielen als historische Grösse, nicht mehr als Zeitgenosse der Zukunft. […] Und diese unabwendbare Domestizierung zu einem Klassiker spiegelt sich am deutlichsten in der klingenden Mahler-Rezeption. […], und wir sind jetzt zu dem für uns alle schmerzlichen Entschluss gekommen, diesen Schallplattenpreis nach 2015 für eine gewisse Zeit ruhen zu lassen […]. Andernfalls hätten wir unsere Wertmaßstäbe als unabhängige Musikkritiker stark absenken müssen. Die Zukunft wird zeigen, ob wir unrecht hatten.“47
Ja. Die Zukunft wird so manches zeigen. Auch, was von Uri Caine, einem der innovativsten Mahler-Interpreten und Preisträger der letzten Jahrzehnte, bleibt und geblieben ist. 47 Csampai n.d.
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Sehnsucht und Musik Andrea Poma
Einige Grunderfahrungen des Menschen, des Einzelnen wie der Kollektivität, sind untrennbar mit der Musik verbunden, sowohl in dem Sinne, dass aus ihnen Musik hervorgeht, als auch in dem Sinne, dass die Musik ein konstitutiver Bestandteil ist, der sie nährt. Eine solche Erfahrung ist der ilinx, das heißt die Veränderung des normalen Bewusstseinszustands, die Ekstase, die zur Dimension des Heiligen gehört und in zahlreichen Kulturen für rituelle oder Orakelzwecke angestrebt wird. Eine wesentliche Dimension dieses Zustands des Schwindels und des Verlusts der Selbstkontrolle, der oft als Besessenheit durch eine Gottheit interpretiert wird, ist der musikalische Ausdruck. Geprägt ist diese Musik gewöhnlich durch eine beträchtliche Lautstärke, das Vorwiegen von Schlaginstrumenten (bisweilen begleitet durch Blasinstrumente, Aerophone und Rasseln) und eine vorwiegend rhythmische Dimension (beharrlich wiederholte Rhythmen). Wenn die menschliche Stimme vorkommt, äußert sie sich in unartikulierten Formen oder in Wörtern bzw. kurzen Formeln, die halluzinatorisch wiederholt werden und oft mit Tänzen oder, genauer gesagt, mit frenetischen Körperbewegungen einhergehen. Unschwer kann man eine solche Musik auch in den Diskotheken unserer Städte vernehmen, und wahrscheinlich ist die – zusammen mit anderen Mitteln wie halluzinatorischen Lichteffekten und der Einnahme von Halluzinogenen und Rauschmitteln – angestrebte und erzielte Wirkung, genau wie in anderen Sakralkulturen, genau die Erfahrung des ilinx. Eine weitere wichtige Erfahrung, die Musik hervorbringt und sich von ihr nährt, ist die Herrlichkeit. Die zumeist kollektive Feier der Machtäußerung (einer Gottheit, eines Herrschers, eines siegreichen Generals usw.) hat an der Musik eine © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_17
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wesentliche Dimension. In diesem Fall handelt es sich um eine feierliche, pompöse Musik, die in erster Linie Bläsern und Blechbläsern anvertraut wird, begleitet von Schlaginstrumenten. Es ist eine in heiteren und perfekten Formen komponierte Musik. Die menschliche Stimme kommt dabei zumeist als Chor zum Einsatz, und sofern sie von Körperbewegungen begleitet ist, sind diese langsam, beherrscht und in ihrer Form streng geregelt. Man könnte fortfahren, weitere menschliche Erfahrungen aufzulisten, die eng mit der Musik verbunden sind. Eine solche Auflistung wäre möglich, da es verschiedene, aber nicht sehr zahlreiche solcher Erfahrungen gibt. Doch das ist hier nicht mein Ziel. Es geht mir vielmehr um eine Reflexion über eine besondere unter diesen Erfahrungen, die den Kern bildet, aus dem die lyrische Musik entspringt: die Sehnsucht. Unter lyrischer Musik verstehe ich hier jede Modulation, in Metren, Modi oder Tönen, die die Liebe zum Thema hat, das heißt jeden Gesang des Liebenden für den Geliebten oder die Geliebte. In der postmodernen Gegenwartskultur, in der wir alle leben, scheinen die Bedingungen für die Erfahrung der Herrlichkeit und die mit ihr verknüpfte Musik nicht gegeben zu sein, da das Fehlen der Form ein wichtiges, offenkundiges Merkmal dieser Kultur darstellt. Doch auf diesen Punkt gehe ich nicht näher ein, sondern überlasse das Feld den Musikern und Musikwissenschaftlern. Wichtig und aktuell scheint mir dagegen folgende mögliche Alternative zu sein: Die Abwesenheit der Form kann als Emanzipation erlebt werden und der traurigen dionysischen Freude Ausdruck und Raum geben oder man kann im deutlichen, tiefen Bewusstsein von der Gegenwart dieser Abwesenheit leben. Die erste Alternative wurde in der Philosophie bekanntlich von verschiedenen Autoren der Postmoderne entwickelt, die ein ‚dionysisches‘ Programm nach der Art Nietzsches anstreben. Die andere Alternative ist die einer ‚lyrischen‘ Philosophie, in der das Thema Sehnsucht im Mittelpunkt steht, das ich in einigen früheren Schriften zu skizzieren versucht habe.1 Heute möchte ich darüber nachdenken, ob dieser zweite Weg auch für die Musik interessante Implikationen haben kann. Die Sehnsucht, deren Bedeutung ich in anderen Beiträgen eingehend erörtert habe, ist das lyrische Gefühl. Ihr entspringt eine Musik mit besonderen Kennzeichen, die in der westlichen Kultur, der wir angehören, aber auch in anderen Kulturen, eine außerordentliche Entwicklung erfahren hat und weiter erfährt. Andernorts habe ich die Sehnsucht als das Gefühl der ‚Gegenwart der Abwesenheit‘ definiert. Denn der durch die Sehnsucht erzeugte Liebesgesang ist kein bloßer Ausdruck der Emotion gegenüber dem Liebesobjekt. Wenn der Geliebte anwesend ist, wird der Liebende ihn kaum besingen, weil er von der Befriedigung seines 1
Vgl. etwa Poma 2017, S 85–125.
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Begehrens erfüllt ist. Aber auch wenn der Geliebte abwesend ist, entsteht kein Gesang, wenn es kein Liebesobjekt gibt. Die Sehnsucht dagegen ist das Gefühl, das man aufgrund der tief empfundenen Abwesenheit eines Liebesobjekts fühlt: aufgrund der Gegenwart seiner Abwesenheit. Daraus entsteht eine Musik, die, wie der Name besagt, vorwiegend von Saiteninstrumenten erzeugt wird und sich durch einen Kontrapunkt und eine Harmonie auszeichnet, die tendenziell komplex sind und sich der Auflösung sperren. Die menschliche oder durch Instrumente ersetzte Stimme, die in dieser Musik eine wichtige Rolle spielt, neigt dazu, durch Modulation und Chromatik gekennzeichnete melodische Linien zu entwickeln. Die Sehnsucht besingt also die Gegenwart der Abwesenheit des Liebesobjekts. Dies impliziert einen paradoxen Charakter der lyrischen Musik, der ihre Seele und zugleich ihren Motor ausmacht. Einerseits ist es dem Liebenden nämlich unmöglich, ein Objekt zu besingen, das nicht anwesend oder verloren gegangen ist oder erst noch kommen wird. Andererseits ist er aber von dem unwiderstehlichen Bedürfnis getrieben, zu singen. Denn die Intensität, mit der jene Abwesenheit gegenwärtig ist, bewegt seine Seele mit einem Pathos, das nicht zu schweigen vermag. Dies ist also die Erfahrung sowohl der sprachlichen Lyrik – der griechischen, lateinischen und derjenigen zahlreicher moderner Sprachen – als auch der musikalischen (Sonette, Madrigale, Lieder usw. im Mittelalter, in der Renaissance, im Zeitalter des Barock, der Klassik und Romantik usw.). Ich kenne keinen literarischen Ort, der diesen Zustand und folglich den Ursprung und die Dynamik der lyrischen Musik besser und gedrängter ausdrücken würde als den Psalm 137: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hingen wir an die Weiden, die daselbst sind. Denn dort hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserm Heulen fröhlich sein: ‚Singet uns ein Lied von Zion!‘ Wie sollten wir des HERRN Lied singen in fremden Landen? Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde ich meiner Rechten vergessen.
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Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, wo ich nicht dein gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein“ (Psalm 137, 1–6).
Die Psalmen waren bekanntlich Gedichte, die gewöhnlich gesungen wurden, und nicht von ungefähr war dieser Psalm einer der meistgesungenen in allen Epochen der Musiktradition. Israel verzichtet im babylonischen Exil darauf, seine Liebe zu Jerusalem zu besingen („Unsere Harfen hingen wir an die Weiden, / die daselbst sind“), weil dies in der Ferne und Trennung, unter der Abwesenheit des Liebesobjekts unmöglich ist („Wie sollten wir des HERRN Lied singen / in fremden Landen?“). Gleichzeitig kann Israel jedoch nicht davon ablassen zu singen, und zwar nicht nur aufgrund des Drucks seiner Verfolger („Denn dort hießen uns singen, / die uns gefangen hielten“), sondern auch und vor allem, weil gerade die Gegenwart jener Abwesenheit zum Singen drängt und gesungen sein will („Vergesse ich dein, Jerusalem, / so werde ich meiner Rechten vergessen. / Meine Zunge soll an meinem Gaumen kleben, / wo ich nicht dein gedenke, / wo ich nicht lasse Jerusalem / meine höchste Freude sein“). Die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit zu singen sind die paradoxe Antriebskraft des lyrischen Gesangs, also des Gesangs aufgrund der Gegenwart der Abwesenheit der Geliebten. Dies schließt noch eine weitere unauflösbare Spannung ein, die ein fruchtbarer Quell des musikalischen Ausdrucks ist. Gemeint ist die Spannung zwischen der Unruhe des Suchenden und der Ruhe des erreichten Zieles. An sich kann die Beziehung zwischen der Bewegung der Suche und der Ruhe des Ziels als die offensichtliche, banale Dynamik jeder Suche begriffen werden, die keinerlei unauflösbare Spannung impliziert. Doch im Fall der Lyrik haben wir es nicht mit dieser gewohnten Dynamik zu tun, sondern vielmehr mit einer Suche, die sich aus der als Abwesende gegenwärtigen Ruhe speist, und mit einer Ruhe, die als nie errungener Sinn der Suche erlebt und besungen wird. Für diese der Sehnsucht eigene Spannung gibt es zahlreiche musikalische Beispiele. Eines kann hier stellvertretend für viele andere angeführt werden: Text und Musik des Schlussliedes aus Gustav Mahlers Liederzyklus Das Lied von der Erde. Darin singen die beiden Freunde, die sich zum Abschied treffen, genau die unauflösliche Verflechtung zwischen dem Umherziehen und dem Ruhen, zwischen der Abwesenheit, die als Sinn des Abschieds gegenwärtig ist, und der Gegenwart einer Ruhe, die nur als „ewig […] ewig“ erhofft wird: „alle Sehnsucht will nun träumen“. Der Liebende sehnt sich nach der Ruhe zusammen mit dem Geliebten, erlebt je-
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doch die Unruhe der Suche; mit der Laute in der Hand irrt er in jede Richtung, weil der Geliebte abwesend ist: „Ich stehe hier und harre meines Freundes; / Ich harre sein zum letzten Lebewohl. / Ich sehne mich, o Freund, an deiner Seite / Die Schönheit dieses Abends zu geniessen. / Wo bleibst du? Du lässt mich lang allein! / Ich wandle auf und nieder mit meiner Laute / Auf Wegen, die vom weichen Grase schwellen“. Der Freund antwortet ihm, die gleiche Situation ausdrückend: „Wohin ich geh’? / Ich geh’, ich wand’re in die Berge. / Ich suche Ruhe für mein einsam Herz. / Ich wandle nach der Heimat, meiner Stätte. / Ich werde niemals in die Ferne schweifen. / Still ist mein Herz und harret seiner Stunde!“
Die ungelöste und unlösbare Spannung zwischen Unruhe und Ruhe ist somit eine unüberwindliche Implikation des Paradoxes zwischen der Unmöglichkeit und der Notwendigkeit des lyrischen Gesangs. Diese Spannung und dieses Paradox bilden den Kern der zur Sehnsucht gehörenden Erfahrung der Gegenwart der Abwesenheit des Liebesobjekts. Aus ihnen entspringen die unerschöpflichen Wege des Kontrapunkts, der harmonischen Modulation und der Melodieentwicklung der lyrischen Musik, gleich ob es sich um Poesie, Gesang oder Instrumentalmusik handelt. Es sind Wege auf der ewigen Suche nach der Form, in dem Bewusstsein, dass diese nicht bleibend erreicht werden kann. 1949 urteilte Theodor Adorno: „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“,2 während er sich später in der Negativen Dialektik korrigierte: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben“.3 Beide Feststellungen von Adorno sind richtig, und zwar gleichzeitig richtig, vorausgesetzt die erste wird nicht ohne die zweite getroffen und umgekehrt. Die Gegenwart der Abwesenheit der Geliebten ist das, was die lyrische Musik nicht zu singen vermag, wie sie möchte und was sie gleichwohl stets zu singen versucht, weil dieser Gesang gleichzeitig unmöglich und notwendig ist. Genau das tut zum Beispiel Arnold Schönberg in dem bekannten Oratorium op. 46, A Survivor from Warsaw. Er verwendet einen absolut nicht poetischen Text – die Erzählung eines Juden, der dem Angriff der Nationalsozialisten auf das Warschauer Ghetto entgangen ist – und schreibt dazu eine Musik, in der gewollt nichtmusikalische Elemente wie Geräusche, Schreie und wütende Befehle dominieren. Interessanterweise erklärt die Erzählerstimme zu Beginn des Oratoriums, dass sie von diesem schrecklichen, tragischen Ereignis nur den Gesang des Shema’ in 2 3
Adorno 1977, S. 30; vgl. auch Adorno 1974, S. 422. Adorno 1996 [1966], S. 355.
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Erinnerung hat („I remember only the grandiose moment when they all started to sing, as if prearranged, the old prayer they had neglected for so many years – the forgotten creed!“): „des Herrn Lied“, den Psalm 137! Doch der großartige Chorgesang des Shema’ kommt erst am Ende der Komposition und wird von Personen gesungen, die der Erzählung nach alle schon tot sind („The next thing I heard was a soldier saying: ‘They are all dead!’“). Es handelt sich folglich um eine Vision, die Erinnerungen ganz anderer Art wachruft, die dem Erzähler in Wahrheit sehr wohl gegenwärtig sind und die er in ihren furchtbaren Einzelheiten beschreibt. Zwar wird die Liebe Israels zum Herrn besungen, aber über den Leidensweg der dramatisch konkreten Erfahrung von Hass und Gewalt. In Schönbergs Oratorium findet die dramatische Erzählung in einem Moment der Apotheose und der – wenngleich schmerzlichen – Herrlichkeit ihren Epilog: im Chorgesang des Shema’. Der Gedanke geht zu einem anderen jener Tragödie gewidmeten lyrischen Gesang, in dem die Liebe für die Gegenwart der Abwesenheit so qualvolle und intensive Töne annimmt wie in keinem anderen mir bekannten Fall. Nicht von ungefähr lebt darin, gleichsam in einer Paraphrase durch das Erlebte, die Sehnsucht des Psalms 137 wieder auf. Der jiddische Dichter Jizchak Katzenelson lebte im Warschauer Ghetto und nahm am Widerstand gegen die Nationalsozialisten teil. 1943 wurde er in das Durchgangslager nach Vittel deportiert, während seine Frau Hanna und seine beiden Söhne Ben Zion und Ben-Jomin 14- und 11-jährig nach Treblinka deportiert und ermordet wurden. 1944 wurde Katzenelson nach Auschwitz überführt, wo er starb. Nach der Befreiung von Vittel am 12. September 1944 wurde ein Manuskript von Katzenelson gefunden, das in drei Flaschen unter einem Baum des Lagers vergraben war. Ein weiteres handschriftliches Exemplar wurde gerettet und gelangte nach Israel. Wolf Biermann, der Herausgeber der deutschen Ausgabe des Werks, bezeichnet es als ein „Poem“4 und übersetzt den Titel mit „Großer Gesang“, doch der Originaltitel lautet „Dos lied“, und tatsächlich handelt es sich um ein Lied, vielmehr um eine Liedersammlung mit einem offensichtlich lyrischen Charakter. In diesem Text begegnen wir allen zuvor behandelten Themen: der Sehnsucht nach dem geliebten Volk, der ermordeten Frau und den ermordeten Söhnen; der Gegenwart ihrer tragischen Abwesenheit; der Unmöglichkeit zu singen und ihrer Notwendigkeit zugleich. Auch in diesem Gesang gibt es eine – dramatische und paradoxe – Apotheose, in der trotz allem die Herrlichkeit glänzt. In Nachahmung der Anrufung des Psalms 24 (vv. 7ff.: „Machet die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, dass der König der Ehren einziehe!“ usw.) wendet der Dichter sich tragisch 4
Biermann 2004, S. 9 passim.
Sehnsucht und Musik
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an die Himmel, die so leer sind wie eine Wüste. 5 Er singt: „Ihr habt gar keinen Gott in euch. Und drum, ihr Himmel, macht / Jetzt weit weit eure Tore auf, ja, reißt sie auf, sperrangelweit / Lasst ein die Kinder meines Volkes, das nun ausgerottet wird / Gequält zu Tode, lasst, ihr Himmel, unsre Kindlein in euch ein / Macht auf das Himmelstor für diese massenhafte Himmelsfahrt / Ein ganzes Volk ist an ein Riesenkreuz genagelt, tief im Leid / Lasst alle rein, o jedes meiner umgebrachten Kinder wäre gut / Genug, könnt’ leicht ein Gott auf Erden für Euch, Himmel, sein“.6 Gezielt formuliert der Dichter seinen schmerzlichen Liebesgesang als eine an Leib und Seele durchlittene Paraphrase des Psalms 137, von dem wir ausgegangen sind. Die Strophen des ersten Liedes, mit dem Titel „Sing!“, fangen so abwechselnd an: „‘Du, sing! …/ Wie kann ich singen …/ ‘Sing! …/ Wie soll ich singen …/ ‘Ja, schrei ein letztes Lied in diese Welt …/ Wie singen! …/ ‘Sing dennoch! …/ Wie kann ich singen“. Dann fordert der Dichter sein ermordetes Volk dazu auf, zu schreien, versammelt es um sich und singt schließlich: „Kommt alle, von Treblinka, Auschwitz, Belzec, von Ponar Von Sobibor, mit aufgerissnen Augen kommt, macht los! Ich will, dass Euer stummes Schrein zu einem Schrei erstarr Im Schlamm, im Sumpf versunken und in faulem Moss Kommt, ihr Verdorrten, aufgerieben und zermahlt, lauft los! Macht einen Kreis um mich! Rück weiter, rück! Komm, Opa! Oma, Mama mit dem Kindchen aufm Schoß Nun seid ihr Dünger, Knochenmehl und Seifenstück Ich muss euch alle nochmal anschaun. Grade drum Kommt alle, denn ich muss euch spürn. Ich muss ja und ich will Mein Volk sehn, ausgerottet, letzter Blick, versteinert, stumm Ich singe … gib die Harfe her … ich spiel!“7
Literatur Adorno, Theodor W. 1974 [1962]. Engagement. In Noten zur Literatur (= Gesammelte Schriften Bd. 11), hrsg. Rolf Tiedemann, 409–430. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 5 6 7
Vgl. Katzenelson 2004, S. 105. Katzenelson 2004, S. 105. Vgl. Katzenelson 2004, S. 49–53.
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Adorno, Theodor W. 1977 [1949]. Kulturkritik und Gesellschaft. In Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, ders., 11–30. In Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen (= Gesammelte Schriften Bd. 10.1), ders., hrsg. Rolf Tiedemann, 9–287. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. 51996 [1966]. Negative Dialektik. In Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit (= Gesammelte Schriften Bd. 6), ders., hrsg. Rolf Tiedemann et al. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Biermann, Wolf. 62004. Jizchak Katzenelson, ein Jude. In Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk, Jizchak Katzenelson, hrsg. Wolf Biermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Katzenelson, Jizchak. 62004. Großer Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk, hrsg. Wolf Biermann. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Poma, Andrea. 2017. Cadenzas. Philosophical Notes for Postmodernism (Studies in German Idealism Bd. 18). Basel: Springer International Publishing. Originalausgabe: 2014. Cadenze. Note Filosofiche per la Postmodernita. Mailand/Udine: Mimesis Edizioni.
Die Klagegestalt des göttlichen Namens Die Aufhebung der Epoche aus dem verlorenen Gedanken der Einzigkeit Gottes Arnold Schönbergs Weg von Mattsee nach Amerika mit der Oper Moses und Aron Peter Fischer-Appelt
1 Ich werde die Theologie Arnold Schönbergs skizzieren, wie sie nach dem so genannten Mattsee-Erlebnis literarisch-musikalische Gestalt annahm. In Mattsee, einem bekannten österreichischen Badeort, verbrachte der Komponist mit seiner Familie sowie mit Schülern und Freunden seit Anfang Juni 1921 die erste Sommerfrische nach seinem Militärdienst im Ersten Weltkrieg, geplant als Arbeitsurlaub bis in den Herbst hinein. Am 19. Juni erließ der Gemeindeausschuss von Mattsee an die Vermieter des Ortes ein antijüdisches Edikt, das, soweit rekonstruierbar, in ursächlichem Zusammenhang mit dem Aufenthalt der Schönberg-Gruppe stand. Schönberg, der zunächst von seiner Seite jedes Aufsehen vermeiden wollte, musste erleben, wie die so genannte „Causa Schönberg“ durch die Wiener und Salzburger Presse, u.a. auch in Form von üblen antisemitischen Leserbriefen, gezogen wurde. Er verließ Mattsee und fuhr mit seiner Familie und seinem Schülerkreis nach Traunkirchen in Oberösterreich; dort blieb er bis Ende Oktober 1921.1 1
Zum Mattsee-Ereignis vgl. Waitzbauer 2003. Ferner: Frank Bajohr 2003, S. 146. Bajohr kommt im deutsch-österreichischen Vergleich zu folgendem Ergebnis:
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0_18
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Das Mattsee-Ereignis hatte einschneidende Wirkungen auf Schönbergs Denken und künstlerisches Schaffen. Von da ab datiert seine Rückkehr zum Judentum. Schönberg war im März 1898, damals dreiundzwanzig Jahre alt, in der Dorotheerkirche zu Wien zum evangelischen Glauben Augsburgischer Konfession übergetreten. Ergänzt um die Namen Franz/Walter wählte er seinen Geburtsnamen Arnold zum Taufnamen; doch sein hebräischer Name war, nicht ohne lebensbestimmende Bedeutung, Abraham. Als er 1933 die Leitung der Meisterklasse für Komposition an der Preußischen Akademie der Künste aufgeben musste, kehrte Schönberg auf dem Weg von Berlin ins amerikanische Exil auch offiziell in die „Gemeinschaft Israels“ (Communauté d’Israel) zurück; dies geschah am 24. Juli 1933 im Beisein Marc Chagalls in der „Union Libérale Israélite“ in Paris an der Place Victor-Hugo.2 Das bedeutendste Werk, das Schönberg bei seinem Tod am 13. Juli 1951 in Los Angeles hinterließ, ist die Oper Moses und Aron. Sie blieb unvollendet, war in gedanklicher Nähe zu Mendelssohns ‚Elias‘ zunächst als Oratorium geplant, ehe Schönberg bei Beginn der Komposition im Juli 1930 sein zwei Jahre zuvor entworfenes Libretto mit „Oper in drei Akten“ überschrieb.3 Das Werk überragt nach dem „Während der österreichische ‚Sommerfrischen-Antisemitismus‘ den deutschen Bäder-Antisemitismus vor 1933 an Intensität deutlich übertraf und als Impulsgeber für antijüdische Maßnahmen im Deutschen Reich fungierte, kehrte sich dieses Verhältnis mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 beinahe um“ (S. 147). Vgl. auch: Muxeneder 2017. 2 Schönberg erhielt die Geburtsnamen Arnold (deutsche Eintragung) und Abraham (hebräische Eintragung) laut Geburts-Buch der Israelitischen Cultusgemeinde Wien, Eintragung Nr. 8023 vom 13. September 1874; Kopie der Urkunde in: Lazar 1994, S. 13. Die Eintragung über Schönbergs Austritt aus der Israelitischen Kultusgemeinde Wien datiert vom 21. März 1898; sein Eintritt in die protestantische Dorotheer-Gemeinde vom 25. März 1898, die Taufe erfolgte durch Pfarrer Alfred Formey, der Taufpate war sein Freund Walter Pieau; Kopien der Urkunden in: Nono-Schoenberg 1992, S. 27. Ein formeller Austritt aus der Dorotheer-Gemeinde ist nicht belegt; die Mitgliedschaft erledigte sich spätestens durch den letzten Umzug nach Berlin am 6. Januar 1926. Der Wiedereintritt in die jüdische Religionsgemeinschaft vor Louis Germain Levy, Rabbiner der Union Libérale Israélite in Paris, 24, rue Copernic, am 24. Juli 1933, im Beisein der Zeugen Dr. Marianoff und Marc Chagall, ist belegt durch Abdruck des Protokolls in: Stein 1979, S. 10. 3 Schönberg, Arnold. 1977, 1978, 1980, 1998 [1928–1932]. Moses und Aron. Oper in drei Akten. In Sämtliche Werke (Abteilung III: Bühnenwerke. Reihe A, Bd. 8., Teil 1: I. Akt, 1977; Teil 2: Zwischenspiel, II. Akt, Text zum III. Akt, 1978. Reihe B, Teil 1: Kritischer Bericht, Skizzen, 1980; Teil 2: Entstehungsgeschichte, Texte und Textentwürfe zum Oratorium und zur Oper, 1998), hrsg. Christian Martin Schmidt. Mainz/Wien: Schott/Universal.
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Ingenium seiner dodekaphonischen Komposition über einer einzigen Tonreihe alle Opern Richard Wagners an Varationsbreite bei strenger Geschlossenheit. Die gedankliche Anlage und die musikalische Umsetzung der Textdichtung dekonstruieren den Zug zur machtanmaßenden, rauschhaften Selbsterlösung in der Moderne als fundamentalen Widerspruch gegen die unverfügbare Bildlosigkeit Gottes in der Freiheit seiner Erwählung und Schöpfung.
2 Wenden wir uns nun der Entstehung der Dornbuschszene zu. Es ist gut bezeugt, dass Schönberg diese als Kantate komponierte Anfangsgeschichte der Befreiung Israels (Exodus 3,1–4,17) seit 1923 im Kopf, wenn nicht in Arbeit hatte. Die Idee der Szene „Moses am brennenden Dornbusch“, so benannte er das Projekt zunächst, mag er von seinem Freund Oskar Kokoschka übernommen haben. Dessen Schauspiel in fünf Szenen ‚Der brennende Dornbusch‘ besaß Schönberg in einem ihm gewidmeten Exemplar der Erstausgabe von 1917.4 Der spätere Wechsel zum Titel „Moses Berufung“ setzt voraus, dass Schönberg den theologischen Gehalt in der malerischen Szenerie entdeckte, und ferner, dass ihm infolge des Mattsee-Ereignisses von 1921 und der Bauhaus-Affäre von 1923 ein starkes Motiv zur Bearbeitung des Stoffes entstand.
4
Das Libretto schrieb Schönberg vom 3. bis 16. Oktober 1928 in Roquebrune-Cap Martin, veröffentlicht mit Korrekturen als: Schönberg 1957. Er komponierte die ersten beiden Akte der zunächst als Oratorium gedachten Oper mit Unterbrechungen vom 17. Juli 1930 bis 10. März 1932 in Lugano-Besso, Montreux-Territet und Barcelona. Die konzertante Uraufführung des Fragments (Akte I & II) fand am 12. März 1954 in der Hamburger Musikhalle durch Chor und Orchester des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) unter der Leitung von Hans Rosbaud statt, die szenische Erstaufführung am 6. Juni 1957 im Stadttheater Zürich. Die Reihe, über der die Oper komponiert ist lautet: a-b-e-d-es-des-g-f-fis-gis-h-c. Kokoschka 1917. Geschrieben 1911, erschienen 1913 in „Dramen und Bilder“, dann 1917 in der expressionistischen Reihe „Der jüngste Tag“, endlich 1919 in der Sammlung „Vier Dramen“; uraufgeführt zusammen mit „Hiob“ und „Mörder, Hoffnung der Frauen“ am 3. Juni 1917 im Dresdener Albert-Theater unter der Regie des Autors (vgl. Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 3. 1986. München: dtv, S. 1624). Die malerisch konzipierte Idee des Stückes könnte Schönbergs Aufmerksamkeit Jahre vor dem Anfangsgedanken einer künstlerisch-musikalischen Bearbeitung der Exodustradition auf die Dornbuschszene gelenkt haben. Ein Schönberg gewidmetes Exemplar der Ausgabe von 1917 befindet sich in seiner Bibliothek (Arnold Schönberg Center, Wien [BOOK K 37]).
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Indes, die durch Stigmatisierung erzwungene Zuspitzung des Bewusstseins seiner jüdischen Existenz musste noch nicht unbedingt so etwas wie die „Wiedererweckung des Gedankens seiner Väter in ihm“ bedeuten, um den Moses seiner später punktierten Dornbuschszene sprechen zu lassen. Mag der Komponist Schönberg schon den Anfangsklang seiner projektierten Kantate im Ohr gehabt haben, so gelang dem Bibelinterpreten Schönberg ihre Durchführung doch offenkundig vorerst nicht. Es musste als zweites Motiv, nun als Handlungsvorsatz, die Überzeugung von der Übernahme einer aktiven Rolle in der jüdischen Auswanderungs- und späteren Rettungsbewegung hinzukommen. Man könnte als Quintessenz des so verstandenen Verhältnisses von Theorie und Praxis festhalten: „Die Zuordnungen im Sein vollziehen sich nach Maßgabe des Tuns;“ der Zweckzusammenhang ordnet die Erkenntnis nicht nur, er gibt sie auch. 5 Als der gleichaltrige Ernst Cassirer (1874–1945) diesen philosophischen Fundamentalsatz in seiner Schrift ‚Sprache und Mythos‘ (1925) gerade niedergelegt hatte, entschied sich Schönberg dafür, die Herstellung der jüdischen Einheit als Aufgabe in seiner Existenz zu verankern. Doch wie sollte dieses Vorhaben auch nur begriffen, geschweige denn ausgeführt werden ohne einen Rückgang auf den Stiftungsursprung und den Begründungszusammenhang dieser Einheit? Die Suche nach diesem Grundgedanken spiegelt das existenzdialektische Credo op. 27 Nr. 2 ‚Du sollst nicht, du musst‘ vom Oktober 1925 wider.6 Darin schwebt der Gedanke des „Unbegrenzten“ und „unvorstellbaren“ Seins zwischen dem Pol des „Geistes“ und dem Gegenpool des „Bildes“. Der doppelte Imperativ „Du sollst dir kein Bild machen!“ – „Du musst an den Geist glauben!“ repräsentiert formal noch den Gestus der jüdischen Existenzphilosophie nach Art der Ich und Du-Schrift Martin Bubers (1878–1965).7 Das Credo op. 27 Nr. 2 enthält keine Bezugnahme auf die Erwählung der Väter wie in der Dornbuschszene und auch nicht den Gottesgedanken. Das Credo ist vielmehr, so könnte man sagen, ein heuristisches Modell zur Auffindung des Gottesgedankens, und zwar in einer genuin monotheistischen Fassung, die der dichterischen Göttervielfalt der Jakobsleiter theologisch überlegen ist.8 Was als Umweg erscheint, führt oft zur Lösung. Der Schritt aus dem stagnierenden Wien in die pulsierende Metropole Berlin eröffnet Schönberg mit der Übernahme der weltweit angesehensten Meisterklasse für Komposition eine erweiterte Perspektive, fruchtbare Kontakte und neue Produktivität. Mitte Juni 1926 liegt der 5 6 7 8
Cassirer 1925, S. 33. Wieder abgedruckt in: Cassirer 2003, S. 261. Schönberg 1980 [1925], S. 42–43. Buber 1954 [1923], S. 110–113. Schönberg 1985 [1917–1922]; Schönberg 1926, S. 37–65.
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1. Entwurf zu einem Schauspiel mit dem Arbeitstitel ‚Sprich zu den Felsen!‘ vor, das ein Jahr später unter dem programmatischen Titel Der biblische Weg fertig gestellt ist.9 In diesem Schauspiel erklimmt Schönberg eine erste Stufe der Vermittlung zwischen dem Bewusstsein seiner Auserwähltheit als Künstler und dem Vorsatz, der prophetische Anwalt der Juden in der messianischen Zeit ihrer Bedrohung zu sein. Im Exodus-Schema der Pessach-Haggada, in dem weder Moses noch Aron überhaupt vorkommen, konzipiert er ein Aussiedlerdrama, das auf einen utopischen Landstrich namens Neupalästina ausgerichtet ist. Auf ihm soll wie in einer pädagogischen Provinz das auserwählte Volk der Juden seinem auf die Welt ausstrahlenden Gottesgedanken leben können. Im Bündnis mit dem Kaiser von Ammongäa sind die Aussiedler zwar geschützt durch die Erfindung und den Besitz einer eigenen Strahlenwaffe. Nach innen jedoch sind sie gespalten durch Intrigen von Parteien und Personen. Erst der gewaltsame Tod des geistigen und politischen Führers bewirkt in Form einer Katharsis die Einigung des jüdischen Volkes aus der Kraft ihres messianischen Gottesgedankens. Der prophetische und politische Volksführer heißt in diesem Drama zunächst M, dann Max Aruns, Moses und Aron in einer Person. Er ist ein Charismatiker, eine Inkarnation geduldigen Denkens und Handelns, zwei Seelen in seiner Brust, ein Märtyrer seiner Aufgabe mit einem quasi synoptischen Tod; doch der Auftrag zu seiner Mission, die Berufung und Sendung, fehlt ihm. Er hat den Grundgedanken und setzt ihn schon im 1. Entwurf des Dramas vom 17./18. Juni 1926 als den einheitsstiftenden „Messias-Gedanken“ frei: „den Gedanken, der die Juden befreien wird; den Gedanken, der der Messias ist; der sie zum auserwählten Volk gemacht hat; den Gedanken des unsichtbaren, unvorstellbaren, einzigen, unteilbaren, allmächtigen ewigen Gottes, den kein anderes Volk denken kann als das jüdische.“10
Dieser wie vom Himmel gefallene Gottesgedanke mit drei Doppelgliedern, die mittelbündig auf den einen einzigen Gott ausgerichtet sein werden, aber noch das gedankliche Werden aus dem unsichtbaren und unvorstellbaren Sein verraten: Er 9
Schönberg 1994 [1926/27], S. 162–329. 1. und 2. Entwurf: S. 332–365 bzw. S. 366– 443. Erster und zweiter Entwurf werden mit BW1 bzw. BW2 gekennzeichnet, die Endfassung mit BW3. Die Zitate orientieren sich an den Originalquellen (1926–1927) (ASSV 1.2.1.2.): Erster Entwurf (Arnold Schönberg Center, Wien [T10.01]), Zweiter Entwurf ([T41.06]), Endfassung ([T12.01]). 10 Schönberg 1994 [1926/27], S. 365.
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trägt ganz Schönbergs eigene Handschrift. Aber der Rückgang vom utopischen Zionismus auf den existentialen Messianismus und die tendenzielle Ausrichtung aller Attribute auf die Einzigkeit Gottes verraten gleichermaßen deutlich den möglichen Einfluss des nachgelassenen religionsphilosophischen Hauptwerkes Hermann Cohens mit dem Titel Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums von 1919 (21929). Den Nachweis hierfür habe ich in einer Studie geführt, die im Journal of the Arnold Schönberg Center 2003 publiziert ist.11 Als Vermittler kommt der Schüler Cohens und Herausgeber der Encyclopaedia Judaica, Jakob Klatzkin, in Betracht.12
3 Um den nächsten Schritt zur Interpretation der Dornbuschszene zu machen, muss der enge Zusammenhang hervorgehoben werden, in dem das Schauspiel Der biblische Weg und die Oper Moses und Aron stehen. Vor vierunddreißig Jahren ist diese Beziehung von dem früh verstorbenen Musikwissenschaftlicher Michael Mäckelmann entdeckt und in seinem für die Schönberg-Forschung bahnbrechenden Werk ‚Arnold Schönberg und das Judentum‘ genau dokumentiert und analysiert worden.13 Doch lässt sich sein abschließendes Urteil nicht bestätigen, das „die Oper zum theologisch-ideologischen Kommentar des ‚zionistischen‘ Schauspiels macht“ (S. 190). Darin wird der Quantensprung an Erkenntniszuwachs verkannt, den Schönberg mit der Rückfrage nach den Voraussetzungen der gefährdeten Einheit des Judentums gewann. Dadurch wird die Oper nicht zu einem Kommentar 11 Fischer-Appelt 2003, S. 118–162. 12 Schönberg verbrachte drei Perioden seines Lebens in Berlin: von Dezember 1901 bis Juni 1903 als Kapellmeister an Ernst von Wolzogens „Überbrett!“ und als Lehrer am Stern’schen Konservatorium; von September 1911 bis September 1915, wo er u.a. Vorträge am Stern’schen Konservatorium hielt; von Januar 1926 bis 17. Mai 1933 als Vorsteher einer Meisterklasse für Komposition an der Preußischen Akademie der Künste; danach Emigration über Paris nach New York und Los Angeles. Beim dritten Aufenthalt in Berlin lernte er Jakob Klatzkin (1882–1948) kennen, einen Schüler Hermann Cohens, der ihm als Herausgeber der Encyclopaedia Judaica (10 Bde., 1928–1934) möglicherweise Einblick in Literatur zum Judentum, darunter Schriften Cohens, insbesondere in das postum erschienene Werk Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums gab. Inhaltlich lässt sich belegen, dass die ersten vier Kapitel dieses Werkes, vor allem das Mose-Kapitel „IV. Die Offenbarung“ eine Ressource für das Schauspiel Der biblische Weg und die Oper Moses und Aron gewesen sein könnten. 13 Mäckelmann 1984.
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des Schauspiels, sondern zu einem Kommentar des Freiheitsverständnisses der Neuzeit. In der Oper gelang es Schönberg, die losen Enden seiner bisherigen, aus dem Stoff der Exodustradition gestalteten Entwürfe zu verknüpfen: den Kantatenentwurf ‚Moses am brennenden Dornbusch‘ als Berufungsszene, die keine aus dem Anfang hervorgehende Fortsetzung gefunden hatte, mit der Neukonzeption eines „biblischen Weges“, der zuvor ohne tragenden Anfangsgedanken vom Zielbegriff Neupalästina her entwickelt war. Ferner abzusetzen die Rolle des berufenen Verkünders, der im Drama einen unlösbaren Konflikt zwischen prophetischer und politischer Führung zu bestehen hatte, von der Rolle des entsandten Übersetzers, die der Verkünder aus eigener Geistbegabung zuvor selbst spielen musste. Schließlich aufzulösen die Kontamination, die im Zeichen eines zugleich existentialen und utopischen Messianismus die Einheit stiftende Geltung des Gottesgedankens an die erhoffte Wirklichkeit eines materiellen Verheißungsgutes band. Um das zu leisten, musste Schönbergs Denken alle tragenden Elemente seines künftigen Werkes aus einem einzigen konzeptionellen Ansatz herleiten können. Der Punkt, um den es sich hier handelt, die Dimension, die dem Schauspiel ‚Der biblische Weg‘ fehlt, ist das Gehör für einen Klang, den ich den Anfangsklang des göttlichen Namens nenne. Er nötigt dazu, die dem Gottesgedanken intendierte Erkenntnis der Einzigkeit Gottes als Erkenntnis einer Ursprungsdifferenz zu fassen, die zwischen dem erwählenden wie erschaffenden Wort und einer Welt liegt, in der eben jener Gedanke als Existenzgrundlage des jüdischen Volkes besteht, und zwar in einer dreifachen Konnotation: Er begründet es, er erhält es, er erhält sich. Diese Klanggestalt des göttlichen Namens musikdramatisch, nicht oratorial wie lange geplant, zur Darstellung zu bringen, ist in der Oper zuvor niemals unternommen worden. Es bedeutet, jene Ursprungsdifferenz zum Thema der eigenen Zeit und unserer Epoche zu machen, und zwar in der genuinen Weise, in der sie dem Menschen als Erkenntnis des einzigen Seins Gottes noetisch, d.h. in ihrer raum-zeitlichen Dimension, aufgeht, aber gerade so die Einzigkeit des göttlichen Seins ontisch nicht in dieser Dimension des menschlichen Vorstellungsvermögens vergehen lässt. Der Einzige ist als der Ewige allgegenwärtig, aber als der Unsichtbare eben auch unvorstellbar. Ich versuche nun, die Durchführung dieser Thematik in der Dornbuschszene zu behandeln, und zwar so, dass ich zuerst den musikalisch-dramatischen, dann den semantisch-hermeneutischen und zum Schluss den theologisch-zeitkritischen Aspekt darstelle.
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4 In der Oper Moses und Aron isoliert Schönberg aus der biblischen Geschichte von der Berufung des Mose (Exodus 3,1–4,17) die Kundgabe des göttlichen Namens, jene die Identität ihres Subjektes nicht preisgebende Selbstvorstellung Gottes „Ich bin, der ich bin“ (3,14), und setzt sie an den Anfang aller Zeiten. In dieser Bedeutung, die Gottes Selbstsein im frei bestimmten Unterschied zu seiner Erwählung Israels und seiner Zuwendung zur Menschheit hervorhebt, ist die Namensformel nicht nur im biblischen Text (3,15; vgl. 3,6), sondern auch in Schönbergs Dornbuschszene mit der Kundgabe des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs als des Einzigen verbunden (Takte I, 35–40a i.V. mit I, 16–22). Diese Konstruktion lässt die theologische These erkennen, dass Gott vor aller Zeit das erwählte Wort ist, als das er sich im Ursprung der Schöpfung mit seinem Namen kundgibt. Hieran knüpft das musikalische Denkmuster an, wonach mit dieser in wörtlicher Rede stattfindenden Namenskundgabe, an die Gott sein Subjektsein zur anschaulich-begrifflichen Erfassung nicht preisgibt, ein Anfangsklang verbunden ist, der nie in eines Menschen Sinn kann, dessen Responsorium als Klanggestalt des göttlichen Namens jedoch des Menschen Ohr erreicht. Es ist, als sängen ihm die Engel seinen Namen wortlos zurück. In dieser Klanggestalt beginnt die Oper Moses und Aron mit einer von sechs Solostimmen aller Stimmlagen intonierten sphärischen Resonanzmusik. Gestützt auf sechs Instrumente, singen Sopran, Mezzosopran und Alt sowie, um einen Takt versetzt, Tenor, Bariton und Bass als Volkalise o ______ je einen Doppelakkord, der den Tonschritt der großen Sekunde von a nach h einhält. Kunstvoll sind die Akkorde in Symmetrie gesetzt: „Je drei Viertel werden sie ausgehalten, der erste und der letzte Akkord, übermäßige Quart und reine Quart, sind gleich; die beiden mittleren Akkorde, übermäßige Quint und kleine Terz, sind gleich, nur eine Verlagerung der Intervalle ist jeweils vorgenommen.“14 Die Klanggestalt des göttlichen Namens folgt dem Muster des Trishagions, das durch den Eröffnungsgesang von Moses und Aron hindurchschimmert, jener kultisch-musikalischen Tradition, deren Ursprungsszene in Jesaja 6 ohne Parallele in den biblischen Schriften ist. Nur hier umgehen die Seraphim die Erscheinung des Herrn; doch Schönberg entkleidet sie ihres mythischen Gewandes und nimmt den Stimmen die Identität von himmlischen Wesen. Nur hier ertönt das dreifache „heilig, heilig, heilig“ des laudatorischen Gesanges; doch Schönberg reduziert die musiksprachliche Sinngebung auf den von aller Subjektivität unberührten Vokal der Transzendenz. Und eben hier ist nach der literarischen Folie eine vergleich14 Wörner 1959, S. 45–47.
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bare Situation Anlass des Sanctus: die Berufung des gottgesandten Propheten zur Verkündung des göttlichen Willens, dessen Handlungsbestimmtheit mit einem eigenen Thema im Part der begleitenden Instrumente schon in den Takten 3 und 5 hervortritt und die folgende Sprachgestalt der Anrufung Gottes durch Moses begleitet. Uranfänglich, ewig und allgegenwärtig verweist die in den Solostimmen hörbare Klanggestalt des göttlichen Namens auf Gott als den einzigen, der, indem er handelt, doch in seinem Handeln nicht aufgeht, sondern ihm in der Freiheit seines Seins überlegen bleibt. Ist das der Tenor von Moses und Aron in der Exposition der hierauf bezogenen Konflikte, so kann er es nur aus der Reinheit der durchdringenden Eröffnungsakkorde sein, die, mit musiksprachlichen Intentionen noch nicht besetzt, nach einem treffenden Wort Theodor W. Adornos (1903–1969) sich darstellen als „eine Art musikalischer Neuschnee, in dem das Subjekt noch keine Spur hinterlassen hatte.“15 Als eine der vielen künstlerischen Ideen, die von präziser theologischer Kenntnis zeugen, darf man es ansehen, dass Schönberg den sechs Solostimmen nicht nur die Grundierung der Seraphim aus Jesaja 6, sondern auch das Erkennungsmuster der Gestalt des „Engels des Herrn“ (Mal’ak Jahwe) aus Exodus 3,2 gibt. Denn der auf den Prolog der Oper beschränkte Vokalgesang der Solostimmen geht nach der unmittelbar folgenden Gottesanrufung des Moses für den gesamten weiteren Verlauf der Kantate „Moses Berufung“ in einen gesanglichen Dialog mit der modulierenden Sprechstimme aus dem Dornbusch über, wobei die Solostimmen 39 Worte der Sprechstimme auslassen, aber drei hinzufügen: Das doppelte „nun verkünde!“ (Takte I, 14–15), „Verkünde!“ (Takte I, 89b–94) liegt allein im Munde der Solostimmen. Als sehr bemerkenswert muss man es ansehen, dass diese Gruppe von Individualstimmen in der 4. Szene des I. Aktes vier kritisch-ironische Interventionen vornimmt, alle direkt oder indirekt gerichtet auf Arons Sinnverschiebungen. So fügt Schönberg der Promulgation und Laudation des Namens Gottes – Funktionen, die von Anfang an in den Solostimmen liegen – die Rollen der Kommunikation und der Intervention in Bezug auf innerweltliches Geschehen hinzu, gestützt auf die Sicht der biblischen Schriften, wonach nicht die Seraphim und Cherubim, wohl aber die variablen Gestalten des Mal’ak Jahwe in spezieller Mission „mit einer Botschaft zu menschlichen Adressaten gesandt werden“.16 Schönberg gewinnt damit die Möglichkeit, die Handlungsbestimmtheit des göttlichen Willens 15 Adorno 1998 [1956/57], S. 656. 16 Görg 1999, Sp. 1279.
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musiksprachlich ins Spiel zu bringen, ohne das Subjekt der offenbarenden Rede in misslicher Weise zu einem Deus ex machina zu hypostasieren. In diesem Modell der ästhetisch-theologischen Rekonstruktion und Interpretation respondiert dem Anfangsklang des göttlichen Wortes die Klanggestalt des göttlichen Namens in derselben Relation, in der dem Eröffnungsgesang der sechs Solostimmen (Takte I, 1–7) die Bekenntnisgestalt der Anrufung des einzigen Gottes durch Moses (Takte I, 8–10) entspricht. Es ist das Modell einer doppelten ‚analogia relationis‘, deren innere Verbindung die unaufhebbare Subjektstellung Gottes ist, welche der Eröffnungsgesang der Solostimmen als die Klanggestalt des göttlichen Namens für das Denken intendiert.
5 Ich komme nun zu dem semantisch-hermeneutischen Aspekt der Dornbuschszene. Im Kern handelt es sich hier um Äquivokationen, Mehrdeutigkeiten nicht nur einzelner Worte, sondern ganzer sprachlicher Wendungen, die im weiteren Verlauf der Oper durch divergierende Intentionen der Protagonisten, aber auch des Volkes sowie bestimmter Gruppen und Individuen tragische und groteske Widersprüche hervorrufen und eine Verständigung nahezu unmöglich machen. Schon im biblischen Grundtext der Szene und insbesondere an deren Anfang (Exodus 3,1–6) konstituierte sich das Thema „Moses Berufung“ in einer keineswegs eindeutigen und fasslichen Gestalt für den Schafhirten, der seine Herde „hinter die Wüste“ trieb, „an den Berg Gottes, Horeb“ (3,1). Er ging, um zu „beschauen dies große Gesicht, warum der Busch nicht verbrennt“ (3,3), und er kam, um eine Stimme zu hören, deren Subjekt sich als der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs vorstellt, diese biblischen Gestalten zu Vätern des Mose erklärt und in Konsequenz dessen sich selbst zum Gott des Mose macht, worauf Mose sein Angesicht verhüllt, „denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen“ (3,6). In der Oper Moses und Aron ereignet sich Moses’ Berufung aus dem Gehör einer sphärischen Resonanzmusik, in der sechs Solostimmen aller Stimmlagen, gestützt durch je ein Instrument, einen Gesang auf die Vokalise o_____ durch das All erklingen lassen, als wäre dies der Anfangsklang des göttlichen Namens (Takte I, 1,1–7). Hierauf ertönt „möglichst langsam“, als müsste sich Erkenntnis erst dem Geist entringen, die skandierende Sprechstimme des Moses mit der Anrufung: „Einziger, ewiger, allgegenwärtiger, unsichtbarer und unvorstellbarer Gott!“ (I, 1, Takte 8–11)
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Dieser Gottesgedanke, eine in dieser Form nie gehörte Invokation, ist der gedankliche Spiegel eines „Ein-Falls“ im wörtlichen Sinne des Wortes, der wie durch Induktion aus der magnetischen Spannung zwischen der äußeren Klanggestalt von Tönen und der inneren Haltung des Hinhörens hervorgeht. Dieser schon im Text der Jakobsleiter pointierte,17 nunmehr gezielt komponierte Vorgang repräsentiert ein Verhältnis Gottes zum Menschen, in dem die sich offenbarende Beziehung des jenseitigen, bewusstseinsunabhängigen Gottes zum Menschen ihren noetischen, d.h. Erkenntnis stiftenden Anhalt nicht am äußeren Wort, sondern am äußeren Klang findet: an der Klanggestalt des göttlichen Namens! Fides ex auditu! Dieses revolutionäre Konzept Arnold Schönbergs bezieht sich wie der ganze Duktus der Dornbuschszene auf die Urgeschichte des Monotheismus, wie sie von dem brennenden, aber nicht verglühenden Dornbusch in der Steppe am „Berg Gottes“, dem Horeb, im Dialog zwischen Gott Jahwe und Moses ausgeht und in Exodus 3,1–4,17 beschrieben ist. In dieser Erzählung offenbart sich Jahwe dem Mose zuerst als der Gott seiner Väter, „der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“ (Exodus 3,6). Erst auf die Frage hin, in wessen Namen er Israel aus Ägypten befreien soll, kommt es zu einer zweiten Namensoffenbarung: „Ich werde sein, der ich bin“ (Exodus 3,14) soll Mose den Israeliten zu seiner Legitimation mitteilen. Diesen zweiten Namen nun, in dem Gott seine Identität, d.h. die Freiheit seines Gottseins weder an die erschaffene Welt noch an das erwählte Israel preisgibt, dieses „Ich werde sein, der ich bin“ setzt Schönberg in das Subjekt des Väternamens „Ich bin der Gott deiner Väter“, und zwar setzt er es in die Klanggestalt von vier Akkorden, die den Gesang der sechs Solostimmen eröffnen und die ganze Oper Moses und Aron wie ein immer wieder ausrichtendes Eichmaß durchlaufen. Diese vier Akkorde intonieren in dodekaphonischer Verstrebung durch einen vorlaufenden Fluss der Frauenstimmen und einen rücklaufenden Gang der Männerstimmen eine vollkommene Symmetrie in Gleichzeitigkeit. Man kann diese vier Akkorde (Takte I, 1, 1–3) die „Klanggestalt des göttlichen Namens“ nennen, wie ich es im Journal of the Arnold Schönberg Center 2003 vorgeschlagen habe.18 Immerhin verweist darauf auch Schönbergs Grundierung der Akkorde mit den melodischen Schritten vorlaufend von a nach h, rücklaufend von c nach b auf den Namen „Bach“. Denn Bach ist für Schönberg weder alt noch neu, sondern, wie er erst sagte, „bloß ewig“.19
17 Schönberg 1926. 18 Fischer-Appelt 2003. 19 Schönberg 1995 [1930], S. 219.
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Notenbeispiel 6 Solostimmen im Prolog der Oper, Takte 1–3 Aus: Kerling, Marc. 2002. Moses und Aron. In Arnold Schönberg. Interpretationen seiner Werke, Bd. 2, hrsg. Gerold W. Gruber, 191–231. Laaber: Laaber-Verlag. Hier S. 194.
Wenn man nun, einen Schritt weiter, den Zusammenhang der Klanggestalt des göttlichen Namens „Ich werde sein, der ich bin“ mit dem göttlichen Erwählungsnamen „Ich bin der Gott deiner Väter!“ noch genauer bestimmen will, so ist es für den Erfinder Arnold Schönberg, eine neu erstandene Renaissance-Figur wie Leonardo, wie ein zweiter Induktionsstoß, der dem Moses auf dem Grunde seiner Gotteserfahrung die Namen seiner Väter eingibt. Was sich am brennenden, nicht verglühenden Dornbusch abspielt, ist aus dem Gehör der äußeren Stimme Gottes die Erweckung der sich öffnenden inneren Stimme des Schafhüters, die Erinnerung an die uranfängliche Erwählung Israels und Moses’ Zugehörigkeit zu dieser Erwählungslinie, die in folgendem Dialog nach Moses’ Invokation aufleuchtet: Die Stimme „Lege die Schuhe ab: du stehst auf heiligem Boden (S, M, A). Bist weit genug gegangen: nun verkünde (T, Bar. B)!“ Moses „Gott meiner Väter, Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der du ihren Gedanken in mir wiedererweckt hast, mein Gott, nötige mich nicht, ihn zu verkünden. Ich bin alt; lass mich in Ruhe meine Schafe weiden!“ (I, 1, Takte 1–22)
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In der Anrede „Lege die Schuhe ab“ tritt aus der Klanggestalt des göttlichen Namens das darin verborgene Subjekt dieses Namens zur sprachlichen Eindeutigkeit hervor. Die Anrede ist Berufung zur Sendung, aber die Sendung empfängt ihre Handlungsbestimmtheit als Verkündigung des Gottesgedankens erst aus der Klanggestalt des göttlichen Namens. Sie weckt dadurch in Moses die Erinnerung an die Herkunft des in seiner Invokation ausgesprochenen Gottesgedankens. Dieser als „Ursprung“ bezeichnete Gottesgedanke (III, 1) zerlegt sich für Moses in die Grunderkenntnis der Erwählung der Väter, in deren Linie er sich durch diese Offenbarung eingegliedert sieht, und in die inhaltliche Erkenntnis der Einzigkeit Gottes, die den Vätern wie ihm aufging. Was wir hier hören, zeigt uns, dass der Gottesgedanke der Väter für Moses ein Erinnerungsphänomen ist, durch das im Hintergrund Schönbergs eigene Rückkehr zum Judentum hindurchscheint. Hierdurch erklärt sich auch, dass Schönberg in der „Stimme aus dem Dornbusch“, die in Korrespondenz zu Moses’ Sprechstimme ebenfalls eine nur denkende Sprechstimme ist, auffälligerweise den Mezzosporan durch eine Knabenstimme ersetzt. Moses erinnert sich auf einmal, was man ihm von seiner Rettung aus dem Schilfkörbchen erzählte, von seiner Mutter als gedungener Amme genährt, am Hof des Pharao aufgezogen, im Kontakt mit den Hebräern aufgewachsen, bis er einen folternden Ägypter erschlug und nach Midian floh, wo inzwischen Jahrzehnte vergingen. So zeichnet hier Schönberg Elemente seiner eigenen Biographie ein, so dass man das Werk auch aus einem künstler-biographischen Ansatz heraus interpretieren und inszenieren könnte; doch er trägt nicht durch. Betrachten wir noch genauer die zweite, durch sechs Sprechchöre gebildete Stimmengruppe: die „Stimme aus dem Dornbusch“. Die Chöre hinter der Szene können sich durch Mehrkanaltontechnik im Zuschauerraum zu einer einzigen Stimme vereinigen. Ihre Reichweite nur von Takt 11 bis 89 zeigt, dass sie in einem abhängigen Verhältnis zur Grundstimme steht. Es scheint offenkundig zu sein, dass sie als Hörphänomen der externen Grundstimme die Gedanken des Moses beeinflusst, die ebenfalls als Sprechstimme notiert sind. Die Dornbuschstimme repräsentiert, genauer gesagt, den Rückschlag der von Moses gehörten, ihn aus seiner Identität mit sich selbst und seiner Welt herausziehenden Grundstimme in eine in den tiefen Zweispalt mit sich selbst hineinziehende Reflexionsstimme. Sie ist die von einer vox externa ausgelöste vox interna des Moses. Sie unterdrückt das „nun verkünde!“ (I, 1, Takte 14–15) der Grundstimme des Anfangs am Dornbusch, und sie schweigt zum sechzehnfachen „Verkünde!“ der Schlusssequenz (I, 1, Takte 90–94), weil sie sich der einfachen Konsequenz der Gotteserkenntnis entzieht, die Moses mit seiner Invokation ausspricht. Die Grundstimme andererseits lenkt die
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beredte innere Stimme des Moses unbeirrbar in die Richtung ihres Auftrags „Nun verkünde!“; sie schweigt daher zu 39 Worten der Dornbuschstimme, die mehr oder weniger das Räsonnement des Moses widerspiegeln. Die Dornbuschstimme reflektiert sich in ihrer Hörgestalt, also in ihrer Wahrnehmung durch Moses, als ein Gesetz, das dem „alten“, zum Midianiter gewordenen Menschen Moses auferlegt, was nur der „neue“, in die Erwählungslinie seiner Väter eingegliederte Mensch Moses als Befreiungstat vollbringen kann. Glasklar kennzeichnet Schönberg diesen Umschlag der offenbarungsbestimmten Entsprechungsgestalt des Gottesgedankens in dessen gesetzesförmig bestimmte Reflexionsgestalt, wenn er die Dornbuschstimme sagen lässt: „Du musst dein Volk daraus befreien!“, während die Solostimmen das „du musst […] daraus“ verschweigen und dazu nur singen: „dein Volk befreien!“ (I, 1, Takte 26–27). In dieser Reflexivität argumentiert die innere Stimme des Moses gegen den Fortgang der Befreiungstat, die ihn soeben selbst erreichte, hin auf das Volk Israel in Ägypten, ein paradoxes Faktum, das die Untauglichkeit seiner Person für diese Befreiungsmission erweist. Fünf Argumente setzt er seinem Auftrag entgegen: Ich bin zu alt, mir fehlt die Kompetenz, die Legitimation, die Glaubwürdigkeit, ich bin dazu ohne Sprachgewalt. Wieder schimmern die Argumente durch, die Schönberg noch daran hindern, eine führende Rolle zur Vereinigung der europäischen Juden zu übernehmen, um deren Rettung zu organisieren.
6 Ich stelle nun drittens den theologisch-zeitkritischen Aspekt der Oper in den Vordergrund. Er lässt sich im Ansatz aus dem zweiten Teil der Dornbuschszene entwickeln. Wenn Moses tief im Keller seiner reflexionsbedingten Verzweiflung sitzt, bringt ein Orchesterzwischenspiel (T. I, 50b–53a) sein Räsonnement zum Schweigen und leitet über zum zweiten Durchgang der Dornbuschszene (T. I, 53b–94). Hier trifft seine innere Stimme als die Hörgestalt der Dornbuschstimme trotz bestimmter neuer Irritationen in Zwiesprache mit der Klanggestalt des göttlichen Namens. Genauer gesagt, ist es das Subjekt dieser Klanggestalt, das unter Wahrung seiner Verborgenheit die innere Stimme des Moses aus ihrer „incurvatio in seipsum“ löst, sie von ihrer Selbstbezüglichkeit befreit und mit einer Kaskade von unerhörten Eröffnungen den ganzen Menschen Moses mit seinem Verkündigungsauftrag in eine einzige Perspektive der Freiheit stellt. Revolutionäres Kennzeichen dieser Freiheitsperspektive ist die uneingeschränkte Zusage des in seiner Klanggestalt hörbaren Subjekts des göttlichen Namens, es werde sich selbst als der angerufene
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Gott des Seins an die Stelle des Ichs des Moses setzen, werde mehr als eine Ausfallbürgschaft für den Erfolg seines Einsatzes leisten, nämlich selbst eintreten für das Gelingen seiner Befreiungsmission. In einer Passage voll leuchtender Poesie und von großer theologischer Klarheit werden Schöpfung, Bund und Erwählung als Taten des einzigen Gottes aufgeboten, um mit dieser Grundangabe ihrer Gewissheit die folgende Verheißung, das Schlüsselthema der Oper, zu stützen (T. I, 79–85): Die Stimme
„Und das verheiße ich dir: Ich will euch dorthin führen, wo ihr mit dem Ewigen einig und allen Völkern ein Vorbild werdet.“
Es gehört nun zu den größten Meisterleistungen des Ingeniums Schönberg, wie er aus dieser Verheißungsformel die ganze Anlage der Oper Moses und Aron als das Paradigma eines doppelten Scheiterns entwickelt. Denn wie die änigmatische Formel die Befreiung des Volkes aus der ägyptischen Knechtschaft und seine Führung in das gelobte Land zu meinen scheint, so verspricht sie in Wahrheit die göttliche Führung in die Freiheit des Dienstes am reinen Gedanken des einzigen Gottes. Und wie dem Bild des Führens die Vorstellung eines Weges inhäriert, den das Volk aus eigenem Entschluss, doch mit Gottes Hilfe durch die Wüste zu gehen hat, so ist aus jener Verheißungsansage der gänzlich andere Sinn herauszuhören, dass die Wüste das Ende aller Wege des Menschen ist, wenn nicht Gott selbst seinem Volk entgegenkommt und es zu seiner Bestimmung führt. Leitfaden der Exposition des in der Verheißungsformel angelegten Paradigmas des Scheiterns ist der ontologische Widerstreit, der, verkürzt gesagt, zwischen der menschlichen und der göttlichen Freiheit besteht. Genauer gesagt, ist es die Freiheit der Selbstbestimmung des Menschen, nämlich zum Inbegriff des Bildes von sich selbst, die der Freiheit des bildlosen Selbstseins des einzigen Gottes widerstreitet, das in der Klanggestalt des göttlichen Namens hörbar wird und um dessentwillen als notwendig zu denken ist. Schönberg exponiert diesen Widerstreit als jeweils spezifischen Widerspruch der Denkform seiner Protagonisten zum Gedanken des Gottes des einzigen Seins. Mit Aron lässt er den Ansatz der „facultas imaginandi“, des Vermögens zur Projektion seines Gottesbildes aus dem Stoff des Weltbildes, scheitern. Mit Moses versetzt er den Denkansatz der „facultas se applicandi ad salutem“, und zwar in der erkannten Notwendigkeit der Verneinung, in den Modus des Scheiterns. Es ist nach Schönbergs klar erkennbarer Position der ideologisch-verfügende Einfluss der abendländischen, insonderheit der in das Grundgefüge der Neuzeit
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eingewanderten These vom „liberum arbitrium“, die Anmaßung des „freien Willens“, die nach der schon in der Jakobsleiter formulierten Kritik die menschliche Freiheit zur „Gewaltherrschaft des Stoffes“ verkommen ließ.20 Mit Aron gipfelt sie sich unter dem beanspruchten Beistand des allmächtigen Gottes, von dem in der allerersten Anrufung des Moses nicht die Rede ist, zum Leitbild der Selbstverwirklichung in der Führung eines gequälten Volkes auf. In dem reflektierenden Ich des Moses aber veranlasst diese Freiheitsvorstellung eine Gegenbewegung der Selbstläuterung, die er als Denkbewegung des Gottesgedankens gegen die ontologische Struktur der neuzeitlichen Subjektivität austrägt: „Unerbittliches Denkgesetz zwingt zur Erfüllung“ (T. I, 235–237). In dem bestimmten und exklusiven Sinn, in dem die Oper Moses und Aron als das bipolare Zentrum ihrer Handlung den Gedanken des einzigen Gottes und die Auserwähltheit seines Volkes zur Bezeugung dieses Gedankens namhaft macht, spricht sie der abendländischen Tradition das Recht ab, die Existenz des jüdischen Volkes in der Diaspora unter die Prämisse des Satzes vom freien Willen zu zwingen, der jener Tradition zugrunde liegt als der Anspruch, des Menschen Wesen und Wahrheit als seine letzte Bestimmung aus der Selbstbezüglichkeit der Subjektivität zu denken. Denn in jener Verbindung wird dem jüdischen Gottesgedanken mit der Anstößigkeit des Erwählungsglaubens seiner Träger auch die Wurzel des Widerstands gegen jegliche Machtanmaßung entzogen, welche das selbstgewählte Lebensziel ihrer Gastvölker als den gottgewollten Vernunftszweck ins Werk zu setzen verspricht. Die Oper ist auch ein Modell des Scheiterns der Assimilation. Es war Schönbergs Vision, mit dem Denkansatz dieses Werkes – man kann sagen: mit der Methode Hermans Cohens – die transzendentale Einheit des jüdischen Bewusstseins in der Gefährdungslage der jüdischen Diaspora seiner Zeit zu begründen, aus welcher Einheit allererst die Rettung der Juden möglich sein würde. Die schneidende Schärfe und tiefe Verzweiflung, mit welcher er die Figur des Moses im Gestus eines Propheten Elias aufzog, um auf der Ursprungserkenntnis 20 So im unkomponierten zweiten Teil der Jakobsleiter bei Beginn der langen Schlussrede des Protagonisten Gabriel, des Seelenführers in einer Typologie der Weltcharaktere (wie Schönberg 1926, S. 59): „Höret also: Immer war Gott. Aber im Anfang war der Geist und der mußte schaffen. Was er hervorbrachte, indem er sich vermehrte, konnte nur geringer sein, als er. So entstand der unendliche Raum und die unendliche Zeit – Endliches rief Unendliches hervor. Das Gewachsene überwucherte das Seiende, überwand es und unterwarf es dem freien Willen – so nannte der Stoff sich, als er seine Gewaltherrschaft begann.“
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der göttlichen Erwählung zu bestehen, lässt ihren Sinn jedoch in der vorgängigen Einschärfung der Unantastbarkeit Israels und jedes einzelnen seiner Kinder erkennen, deren Martyrium so wenig vorausbestimmt ist, wie ihr Existenzrecht erst dasjenige der gesamten übrigen Menschheit erkennbar macht.
7 Aus der Dornbuschszene der Oper Moses und Aron mit ihrer singulären Eröffnung einer vom Erwählungsgedanken getragenen Gotteserkenntnis, dem Reflexionskatarakt des erste Teils und der leuchtenden Verheißungskaskade des zweitens Teils lässt sich immerhin folgendes Résumé zum Zeitpunkt ihrer Komposition im Sommer 1930 festhalten:21 1. Gott lässt sich nur durch Gott erkennen, sein Sein als Handeln nur aus der Klanggestalt des göttlichen Namens, die den Kosmos für Moses hörbar durchdringt (I, 1, Takte 1–7; 11–94; 630–631; 708b–709 und 715–716a; 780; 894– 897). 2. Schon im Ursprung der Schöpfung und Erwählung ist des Einzigen Name (I, 1, Takte 36–40) „Ich werde sein, der ich bin“ als der Name der Väter Abraham, Isaak und Jakob (Exodus 3,6; 3,14), als der Name des Ewigen offenbar, der die Welt geschaffen hat, um Israel zu erwählen, und der sein Volk erhalten wird, um es zu befreien. 3. Wenn dieses Volk kraft göttlichen Gelöbnisses vor allem Völkern auserwählt ist und kraft göttlicher Verheißung für alle Völker ein Vorbild werden soll, dann hat es als Bundesvolk des einzigen Gottes eine dreifache Mission (I, 1, Takte 67–86): a) den Einzigen zu erkennen als den Ewigen, der seiner Schöpfung gegenüber in Freiheit besteht, der also nicht gedacht werden kann unter der Bedingung der oder in Analogie zur Vergänglichkeit der natürlichen Welt; b) dem Einzigen allein sich ganz zu widmen als dem Allgegenwärtigen, der zu seinem Erwählungsbund in Treue steht und auf Treue besteht, der also nicht gedacht werden kann unter der Bedingung der oder in Analogie zur Freiheit des menschlichen Willens als der Kraft, sich dem Heil zuzuwenden oder sich von ihm abzuwenden;
21 Dieses Résumé der theologischen Position Schönbergs habe ich entwickelt in: FischerAppelt 2003.
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c) alle Prüfungen zu bestehen, denen der Gedanke des einzigen Gottes als des Unsichtbaren und Unvorstellbaren ausgesetzt ist, sofern die immerwährende Versuchung besteht, den Gottesgedanken durch die rhetorische Kraft der Worte und die mythische Macht der Bilder seinem Ursprung zu entfremden und ihn so durch die sublime Gewalt der Instrumentalisierung abgrenzend zu beherrschen, statt ihn in freier Form auszudrücken. Schönbergs Oper Moses und Aron ist weder ein Werk sakraler Kunst noch ein der sakralen Elemente entkleidetes Ideendrama. Wenn sie über subtile Analysen ihrer Tonsetzung hinaus überhaupt etwas zu denken gibt, das sie über ein Paradestück der Zwölftontechnik erhebt, dann ist es die Inszenierung der Gegenperspektive zu dem alles beherrschenden Prinzip der neuzeitlichen Subjektivität: die Aufhebung der Epoche aus dem verlorenen Gedanken der Einzigkeit Gottes angesichts des heraufziehenden Totalitätsrausches der menschlichen Freiheit. In dieser Grundperspektive blieb die Oper Moses und Aron für Schönberg unvollendet. Darin ist sie aber auch unvollendbar, weil sich die Selbstbezüglichkeit des neuzeitlichen Bewusstseins gegenüber der nur hörbaren Freiheitsgestalt des Gedankens von der Einzigkeit Gottes durchsetzt. Dennoch: Das prophetische Wesen der Kunst bleibt die Gegenperspektive. Mit einem Wort Schönbergs: „Gedanken können den Geist so ungerufen und vielleicht sogar so unerwünscht überfallen, wie ein musikalischer Ton das Ohr oder ein Geruch die Nase erreicht“ (StG 51). Schönberg war der Meinung, oder sein Hauptwerk enthält die Aussage, dass die Klanggestalt des göttlichen Namens dem Denken eine andere Richtung gibt, in Hoffnung und Tat, als Kritik und Protest. Insofern ist die Oper auch und zuerst aus diesem Grunde unvollendbar, denn sie kennt vom Namen Gottes nur seinen Anfangsklang, nicht seine Gestalt. Sie blieb Fragment, weil ihr Verheißungsinhalt messianisch ist.
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Anhang: Schematische Übersicht Moses und Aron, 1. Szene Text: 3.–16. Oktober 1928 Komposition: 17. Juli 1930 – 10. März 1932 Reihe: a-b-d-e-es-des-g-f-fis-gis-h-c 0.0
Schöpfung zur Erwählung der Menschheit um Israels Willen durch das klangvolle Wort Gottes kraft seines ewigen Ratschlusses A.1 Prolog: Die Klanggestalt des Namen Gottes (Ex 3,6; 3,14) 6 SOLOSTIMMEN (S, M, A, T, Bar, B) singen vier symmetrische Akkorde O___
1. Szene: Moses’ Berufung A.2 MOSES
Einziger, ewiger, allgegenwärtiger, unsichtbarer und unvorstellbarer Gott! Der Einzige (Ex 3,14) tritt als der Gott der Väter (Ex 3,6) in Dialog mit Moses B.1 SECHS SOLOSTIMMEN – STIMME AUS DEM DORNBUSCH Lege die Schuhe ab: Bist weit genug gegangen; du stehst auf heiligem Boden; MOSES (sehr innig, flehentlich) Gott meiner Väter, Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der du ihren Gedanken in mir wiedererweckt hast,
T. 1–7
Selbstoffenbarung Gottes T. 8–11
Anrufung Gottes ähnlich Proslogion 2
T. 12–18
Evangelium als Berufung - Eingliederung in die Erwählung Israels; Wiedererinnerung
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B.2
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Mein Gott, nötige mich nicht, ihn zu verkünden. Ich bin alt, laß mich in Ruhe meine Schafe weiden! SECHS SOLOSTIMMEN – STIMME AUS DEM DORNBUSCH Du hast die Greuel gesehn, die Wahrheit erkannt: so kannst du [du mußt] dein Volk [daraus] befrein! MOSES Wer bin ich, mich der Macht der Blindheit entgegenzustellen? SECHS SOLOSTIMMEN – STIMME AUS DEM DORNBUSCH
T. 19–50/1
Berufung als Gesetz Moses’ Gegenargument
Der alte Mensch verweigert
Mangelnde Kompetenz
Dem einzigen Gott verbunden, mit dir einig, mit Pharao entzweit! MOSES Was bezeugt dem Volk meinen Auftrag? SECHS SOLOSTIMMEN – STIMME AUS DEM DORNBUSCH
Fehlende Legitimation
Des Einzigen Name! Der Ewige will es befrein, daß es nicht mehr Vergänglichem diene! MOSES Niemand wird mir glauben!
Keine Glaubwürdigkeit
SECHS SOLOSTIMMEN – STIMME AUS DEM DORNBUSCH Vor ihren Ohren wirst du Wunder tun, ihre Augen werden sie anerkennen. Von deinem Stab [werden sie hören,] deine Klugheit [bewundern;] Von deiner Hand [an] deine Kraft [glauben,] vom Wasser des Nil fühlen, was ihrem Blut befohlen! MOSES Meine Zunge ist ungelenk; ich kann denken, aber nicht reden.
Ohne Sprachgewalt
Die Klagegestalt des göttlichen Namens
U
Orchesterzwischenspiel
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T. 50/2–53/1
Umkehrung C.2 SECHS SOLOSTIMMEN – STIMME AUS DEM DORNBUSCH Wie aus diesem Dornbusch, finster, eh das Licht der Wahrheit auf ihn fiel, so vernimmst du meine Stimme aus jedem Ding. Aron [will ich erleuchten, er] soll dein Mund sein! Aus ihm soll deine Stimme sprechen, wie aus dir die meine! [Und ihr werdet] gesegnet [sein.] [Denn] das gelobe ich dir: Dieses Volk ist auserwählt, vor allen Völkern, das Volk des einzigen Gottes zu sein, daß es ihn erkenne und sich ihm [allein,] ganz widme: [daß es] alle Prüfungen bestehe, denen [in Jahrtausenden] der Gedanke ausgesetzt ist. Und das verheiße ich dir: Ich will euch dorthin führen, wo ihr mit dem Ewigen einig und allen Völkern ein Vorbild werdet. C.1
Und nun gehe! Aron [triffst du in der Wüste. Er kommt dir auf deinem Weg entgegen, daran sollst du ihn] erkennen.
T. 53/2–85
Evangelium als Subjektwechsel Sprachmittler
Segnung und Gelöbnis Auserwähltheit
Verheißung der Führung Einigung im neuen Bund T. 86–97
Sendung als Weisung zum Aufbruch
[ ] Die sechs Solostimmen, hochindividuell und hochdifferenziert, Symbol der Einzigkeit Gottes, vox externa für Moses; Eichmaß der Gedanken und Handlungen, schweigen zu 39 Worten der Dornbuschstimme. < > Die sechs sprechenden Chorgruppen der Dornbuschstimme, Symbol der Reflexivität des Bewußtseins, vox interna des Moses, schweigen zum Verkündigungsauftrag (3 Worte) der Solostimmen. Aus: Journal of the Arnold Schönberg Center 13/2016, hrsg. Eike Feß und Therese Muxeneder. Wien: ASC.
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Peter Fischer-Appelt
Literatur Adorno, Theodor W. 1998 [1956/57]. Musik, Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren. In Musikalische Schriften I–III (= Gesammelte Schriften Bd. 16), ders., hrsg. Rolf Tiedemann, 649–664. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft. Bajohr, Frank. 2003. »Unser Hotel ist judenfrei.« Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Fischer. Buber, Martin. 1954 [1923]. Ich und Du. In Die Schriften über das dialogische Prinzip, ders., 5–121. Heidelberg: Lambert Schneider. Cassirer, Ernst. 1925. Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen (Studien der Bibliothek Warburg Bd. 6). Leipzig/Berlin: Teubner. Cassirer, Ernst. 2003. Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926) (= Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe Bd. 16), hrsg. Birgit Recki. Hamburg: Meiner. Fischer-Appelt, Peter. 2003. Der Gottesgedanke im Verständnis Hermann Cohens und Arnold Schönbergs. In Arnold Schönberg und sein Gott | Arnold Schönberg and his God (Bericht zum Symposium | Report of the Symposium 26.–29. Juni 2002), hrsg. Christian Meyer. Journal of the Arnold Schönberg Center 5/2003: 118–162. Wien: ASC. Görg, Manfred. 1999. Artikel Engel II. Altes Testament. In 4RGG, Bd. 2 (völlig neu bearb. Aufl.), hrsg. Hans D. Betz et al., 1279. Tübingen: Mohr Siebeck. Kokoschka, Oskar. 1917. Der brennende Dornbusch. Schauspiel in fünf Szenen (= Bücherei Der jüngste Tag Bd. 41). Leipzig: Wolff. Lazar, Moske. 1994. Arnold Schönberg and His Doubles: A Psychodramatic Journey to His Routs. Journal of the Arnold Schönberg Institute 17 (1/2): 8–150. Mäckelmann, Michael. 1984. Arnold Schönberg und das Judentum. Der Komponist und sein religiöses, nationales und politisches Selbstverständnis nach 1921 (Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft Bd. 28). Hamburg: Karl Dieter Wagner. Muxeneder, Therese. 2017. Arnold Schönbergs Konfrontationen mit Antisemitismus (I). Journal of the Arnold Schönberg Center 14/2017: 11–32. Wien: ASC. Nono-Schoenberg, Nuria (Hrsg). 1992. Arnold Schönberg 1874–1951. Lebensgeschichte in Begegnungen. Klagenfurt/Wien: Ritter. Schönberg, Arnold. 1926. Texte. Die glückliche Hand. Totentanz der Prinzipien. Requiem. Die Jakobsleiter. Wien/New York: Universal Edition (= Universal Edition 7731). Schönberg, Arnold. 1957. Moses und Aron. Oper in drei Akten. Textbuch. Mainz: Schott. Schönberg, Arnold. 1980 [1925]. Vier Stücke für gemischten Chor, Nr. 2: „DU sollst nicht, du mußt“. In Sämtliche Werke (Abteilung V: Chorwerke. Reihe A, Bd. 18: Chorwerke I), ders., hrsg. Tadeusz Okuljar, 42–43. Mainz/Wien: Schott/Universal. Schönberg, Arnold. 1985 [1917–1922]. Die Jakobsleiter. Oratorium (Fragmente) für Soli, Chöre und Orchester (Nach Angaben des Komponisten für Aufführungszwecke in Partitur gesetzt von Winfried Zillig). In Sämtliche Werke (Abteilung VIII: Supplemente. Reihe A, Bd. 29), ders., hrsg. Rudolf Stephan. Mainz/Wien: Schott/Universal. Schönberg, Arnold. 1994 [1926/27]. Der biblische Weg. Schauspiel in drei Akten/ Arnold Schoenberg: The biblical Way. A Play in Three Acts (Translated from the German by Moshe Lazar). Journal of the Arnold Schoenberg Institute 17 (1–2, June & November 1994): 162–329.
Die Klagegestalt des göttlichen Namens
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Schönberg, Arnold. 1995 [1930]. Neue und veraltete Musik, oder Stil und Gedanke. Erste Fassung. In Stil und Gedanke, ders., hrsg. Ivan Vojtech, 215–231. Frankfurt a.M.: Fischer (= Fischer Taschenbuch 3616). Stein, Leonard. 1979. Forward: Schoenberg’s Jewish identity (A Chronology of Source Material). Journal of the Arnold Schoenberg Institute 3 (1): 3–10. Waitzbauer, Harald. 2003. Arnold Schönberg und das Mattsee-Ereignis. SommerfrischenAntisemitismus in Österreich und Salzburg. In Arnold Schönberg und sein Gott | Arnold Schönberg and his God (Bericht zum Symposium | Report of the Symposium 26.–29. Juni 2002), hrsg. Christian Meyer. Journal of the Arnold Schönberg Center 5/2003: 14–26. Wien: ASC. Wörner, Karl H. 1959. Gotteswort und Magie. Die Oper »Moses und Aron« von Arnold Schönberg. Heidelberg: Lambert Schneider.
Die Autoren
Luca Bertolino, Dr. phil., Professor für Moralphilosophie und Angewandte Ethik an der Università degli Studi di Torino. Forschungsinteressen und -schwerpunkte: Jüdisches Denken im 19. und 20. Jahrhundert, Neukantianismus, Philosophische Praxis. Jüngere Veröffentlichungen: Unbehagen und Behagen der Philosophie. Über den „gesunden Menschenverstand“ bei Franz Rosenzweig, Rosenzweig Jahrbuch / Rosenzweig Yearbook 2014, 8/9, 152–177; Мышление природы и природа мышления: Коген о Спинозе, Kantovsky Sbornik 2015, 53 (3), 48–65; Etiche applicate / Applied Ethics, Teoria 2016, 36 (2), 1–244 (Hg.); Etica e pratiche filosofiche, in: A. Fabris (Hg.), Etiche applicate. Una guida, Rom (Carocci) 2018, 353–363. Ingo Bredenbach, Professor für Orgelliteraturspiel und Orgelspiel im Gottesdienst; Kirchenmusikdirektor; Kantor der Stiftskirche Tübingen, Bezirkskantor im Evangelischen Kirchenbezirk Tübingen. Jüngere Veröffentlichungen: Musik & Humor. Essayistischer Vortrag mit Klangbeispielen am Flügel oder per CD. Werke von Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn, P.D.Q. Bach u.a., in: H.M. Dober (Hg.), Religion und Humor, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2017, 204–232; Musik-Horizonte. FS Siegfried Bauer (Hg. mit M. Čulo und B. Leube), München (Strube) 2009. Frank Thomas Brinkmann, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen; Gitarrist. Forschungsinteressen und -schwerpunkte: (Religiöse) Brauchtumsforschung und empirische Theologie; Spät- und postmoderne Religionstransformationen, popkulturelle Religionsminiaturen; Heilige Kosmen medialer Moderne; religiöse Heldenscripts und literarische Messiaskonstrukte; Performativität, Narrativität, Theatralität. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0
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Die Autoren
Jüngere Veröffentlichungen: Heimatgedanken. Theologische und kulturwissenschaftliche Beiträge (Hg. mit J. Hammann [pop.religion: lebensstil-kultur-theologie Bd. 4]), Wiesbaden (SpringerVS) 2018; Pop goes my heart. Religions- und popkulturelle Gespräche im 21. Jahrhundert (pop.religion: lebensstil-kultur-theologie Bd. 1), Wiesbaden (SpringerVS) 2015; Comics. Bilder, Stories und Sequenzen in religiösen Deutungskulturen (Hg. mit J. Ahrens und N. Riemer), Wiesbaden (SpringerVS) 2015. Hans Martin Dober, Dr. phil., apl. Professor für Praktische Theologie an der Evang.-theol. Fakultät in Tübingen; Pfarrer der Evang. Landeskirche in Württemberg; Posaunist. Forschungsinteressen und -schwerpunkte: Jüdisches Denken im 19. und 20. Jahrhundert (Cohen, Rosenzweig, Lévinas), Religionstheorie, Predigtlehre, Seelsorge. Jüngere Veröffentlichungen: Von den Künsten lernen. Eine Grundlegung und Kritik der Homiletik (APTLH Bd. 83), Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2015; Religion und Humor (Hg.), Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2017; Freiheit und Bindung des Willens in Hermann Cohens Ethik und Religionsphilosophie, in: Kerygma und Dogma 64 (2018/2), 116–137. Thomas Erne, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie mit Schwerpunkt religiöse Ästhetik und Kommunikation an der Philipps-Universität Marburg; Direktor des EKD-Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart; Kinder- und Jugendbuchautor. Forschungsinteressen und -schwerpunkte: Protestantische Kulturhermeneutik, Medientheorie, Kirche und Kunst, Film und Predigt, Liturgie und Theaterpädagogik, Kirchenarchitektur, Religiöse Kinder- und Jugendliteratur. Jüngere Veröffentlichungen: Hybride Räume der Transzendenz: wozu wir heute noch Kirchen brauchen: Studien zu einer postsäkularen Theorie des Kirchenbaus, Leipzig (EVA) 2017. Peter Fischer-Appelt, Dr. theol., Dr. h.c. mult., Professor. Universitätspräsident a.D. Jüngere Veröffentlichungen: Wilhelm Herrmann und Hermann Cohen. Der frühe Diskurs um die Selbstwerdung des Menschen, in: H.M. Dober/M. Morgenstern (Hg.), Religion aus den Quellen der Vernunft. Hermann Cohen und das evangelische Christentum (RPT 65), Tübingen (Mohr-Siebeck) 2012, 116–128; Arnold Schönberg und Karl Barth. Die Konstellation zweier Gedankenwelten in der Suche nach gewaltfreier Gotteserkenntnis, in: Journal of the Arnold Schönberg Center 13/2016, 11–33.
Die Autoren
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Hans-Martin Gutmann, Dr. theol, Professor em. für Praktische Theologie; Jazzpianist, Schriftsteller. Forschungsinteressen und -schwerpunkte: Homiletik, Liturgik und ihre Geschichte; Dialog zwischen Theologie und außertheologischen Wissenschaften in der Wahrnehmung kirchlicher Handlungsfelder und religiöser Lebensgestalten; Beziehung zwischen populärer Kultur und Religion; interreligiöser Dialog. Jüngere Veröffentlichungen: Evangelisch leben zwischen Religion, Politik und populärer Kultur, Berlin (EB) 2015; Irgendwas ist immer. Durchs Leben kommen. Sprüche und Kleinrituale – die Alltagsreligion der Leute, Berlin (EB) 2013. Django Hödl, Musiker und Leiter mehrerer Big Bands (u.a. der Uni-Bigband Tübingen); Konzertleitung in Montreux, Montevideo, Rom, Paris, Aix-en-Provence, Perugia, Petrosawodsk; Konzerte in Bilbao, Boston, Budapest, Palma, Montpellier und Marseille. Konrad Klek, Dr. theol., Professor für Kirchenmusik am Fachbereich Theologie; Universitätsmusikdirektor an der Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsinteressen und -schwerpunkte: Liturgik und Geschichte der Liturgie (insbesondere die ältere liturgische Bewegung um die Jahrhundertwende); Hymnologie; theologische Bachforschung; Geschichte und Theorie der protestantischen Kirchenmusik. Jüngere Veröffentlichungen: Davon ich singen und sagen will: Die Evangelischen und ihre Lieder (Hg. mit Peter Bubmann), Leipzig (EVA) 2018; Dein ist allein die Ehre. J.S. Bachs geistliche Kantaten erklärt, Leipzig (EVA) 2015–2017. Dietrich Korsch, Dr. theol., Professor em. für Systematische Theologie an der Philipps-Universität-Marburg. Forschungsinteressen und -schwerpunkte: Reformatorische Theologie, neuere Theologiegeschichte, Bildungstheorie und Ästhetik. Jüngere Veröffentlichungen: Religion der Liebe. Drei Fallstudien zur Oper in theologisch-musikästhetischer Betrachtung (Hg.), Leipzig (EVA) 2018; Antwort auf Grundfragen christlichen Glaubens. Dogmatik als integrative Disziplin (UTB 4560), Tübingen (Mohr-Siebeck) 2016. Bernhard Leube, Professor für theologische Grundlagen, Liturgik und Hymnologie an der Hochschule für Kirchenmusik in Tübingen; Pfarrer im Amt für Kirchenmusik beim Ev. Oberkirchenrat in Stuttgart. Jüngere Veröffentlichungen: Musik-Horizonte. FS Siegfried Bauer (Hg. mit I. Bredenbach und M. Čulo), München (Strube) 2009; Wort-Klänge: Musik zum Gottes-
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Die Autoren
dienst für Gemeinde und Chor. Beiheft zum Gottesdienstbuch I der evangelischen Landeskirche in Württemberg (Hg. mit Lothar Friedrich), München (Strube) 2003. Johannes Picht, Dr. med., Facharzt für Innere Medizin sowie für Psychosomatische Medizin; Mitherausgeber des „Jahrbuch der Psychoanalyse“, leitender Herausgeber der „PSYCHE – Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen“. Forschungsinteressen und -schwerpunkte: Psychotherapie und Psychoanalyse; Musik und Psychoanalyse. Jüngere Veröffentlichungen: Musik und Psychoanalyse hören voneinander (Hg.), Bde 1 und 2, Gießen (Psychosozialverlag) 2013–2015. Peter Planyavsky, Dr. phil., Dommusikdirektor, Professor für Orgel und Improvisation an der Wiener Musikhochschule (1980–2012), Dirigent. Tätigkeitsschwerpunkte: Konzerte für Orgel und Orchester; kirchenmusikalische Basisarbeit, Juror, Essayist. Jüngere Veröffentlichungen: Anton Heiller – Alle Register eines Lebens, Wien (Doblinger) 2009; Katholische Kirchenmusik Innsbruck (Tyrolia) 2010. Andrea Poma, Dr. phil., Professor für Philosophie an der Universität Turin. Forschungsinteressen und -schwerpunkte: Kritischer Idealismus und jüdisches Denken. Jüngere Veröffentlichungen: Yearning for Form and Other Essays on Herrmann Cohen’s Thought, Dordrecht (Springer) 2006; Cadenze. Note Filosofiche per la Postmodernità, Milano/Udine (Mimesis) 2014 [englisch: Cadenzas. Philosophical Notes for Postmodernism (Studies in German Idealism Bd. 18), Bern (Springer International Publishing) 2017]. Dieter Schnebel (14.3.1930 – 20.5.2018), Dr. Dr. h.c., Professor em. für Experimentelle Musik an der Hochschule der Künste Berlin; Mitglied der Berliner Akademie der Künste sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Forschungsinteressen und Tätigkeitsschwerpunkte: Studien zu Franz Schubert, Giuseppe Verdi, Richard Wagner, Anton Webern; experimentelle Arbeiten unter dem Einfluss von John Cage; eigene Kompositionen, u.a. Glossolalie (1959/1960), Maulwerke (1970) und Sinfonie X (1987–1992); Beiträge für den Kirchenpavillon der EXPO 2000 und die documenta 8. Thomas Schipperges, Dr. phil, Professor für Musikwissenschaft und Direktor des Musikwissenschaftlichen Instituts an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Forschungsinteressen und -schwerpunkte: Formen des Komischen in der Musik; Gattungsgeschichte (u.a. Messe, Serenade, Operette); Kurmusik (Geschichte, Or-
Die Autoren
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ganisation, Bildungswege der Musiker, Repertoire, Wirkungen & c.); Musik in der Bibel; Musik in der Bildwerbung; Wirkungsbeschreibungen von Musik. Jüngere Veröffentlichungen: Die Zukunft der Musik (Hg.), Hildesheim (Olms) 2014; Musikwissenschaft und Vergangenheitspolitik. Forschung und Lehre im frühen Nachkriegsdeutschland (Hg. mit J. Rothkamm), München (edition text + kritik) 2015; Musikwissenschaft – Nachkriegskultur – Vergangenheitspolitik (Hg. mit W. Auhagen, D. Schmidt, B. Sponheuer), Hildesheim (Olms) 2017; Musik – Tanz – Mannheim. Symposium zum 250-jährigen Jubiläum der Gründung der Académie de Danse (Hg. mit J. Rothkamm und M. Krause-Benz), Hildesheim (Olms) 2017. Uwe Steinmetz, Jazzsaxophonist; Komponist; Mitarbeiter am Liturgiewissenschaftlichen Institut der VELKD bei der Universität Leipzig; Mitbegründer des internationalen Netzwerkes Blue Church. Forschungsinteressen und -schwerpunkte: Grundlagen von Musik in verschiedenen Kulturen der Welt; Liturgische Potentiale des Jazz. Jüngere Veröffentlichungen: Jazz und Kirche. Philosophische, theologische und musikwissenschaftliche Zugänge (Hg. mit J. Koll), Leipzig (EVA) 2016; zahlreiche Auftragskompositionen sowie CD-Produktionen. Jürgen Stolzenberg, Dr. Phil., Professor em. für Geschichte der Philosophie am Seminar für Philosophie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Schriften Richard Wagners; Begründer und Mitherausgeber des Internationalen Jahrbuchs des Deutschen Idealismus. Forschungsschwerpunkte und -interessen: Kant/Neukantianismus; Heidegger; Hermeneutik und Musikphilosophie. Jüngere Veröffentlichungen: »Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben«. Formen expressiver Subjektivität in der Musik der Moderne, München (CarlFriedrich-von-Siemens-Stiftung) 2011; Tonalität, Zeit, Subjektivität. Überlegungen zu Theodor W. Adornos Beethoven-Fragmenten, in: R. Klein (Hg.), Gesellschaft im Werk. Musikphilosophie nach Adorno, Freiburg/München (Karl Alber) 2015; Bruckners Gott. Zum Adagio der Neunten Symphonie in: Musik & Ästhetik 2/2018; Ausdruck in der Musik (Hg.), München 2018.
Personenregister
A Adelmann, Dieter 81 Adorno, Theodor W. XV, XVII, 172, 190, 198, 230, 300, 315, 327 Albrecht, Christian 8 Alkan, Charles Valentin 178 Ambrosius von Mailand 120, 145 Andreae, Jacob 13 Aristoteles 5 Armstrong, Louis 246, 253, 259 Arnold, Gottfried 50 Äsop 42, 43, 44 Athanasius 170 Augustinus 46, 47, 48, 49, 50, 51, 145, 146, 149, 167, 169, 170, 263 Ayler, Albert 262
199, 200, 201, 202, 203, 225, 229, 230, 232, 233, 295 Hammerklaviersonate 190, 194, 195, 198, 199, 200, 201 Missa Solemnis XII, 17, 76, 77, 191, 197, 272 Neunte Sinfonie 77, 190, 191, 194, 229 Bekker, Paul 300 Benedikt, Erich 210 Benjamin, Walter 21 Berg, Alban 265 Bergson, Henri 294 Berg, Stefan XV Berkman, Franya 266 Bernhard, Christoph 123 Bernhard von Clairvaux 51 Béze, Théodore de 13 Biermann, Wolf 316 B Birkner, Hans-Joachim 15 Bach, Carl Philipp Emanuel XVI Birnbaum, Johann Abraham 116 Bach, Johann Sebastian VIII, 3, 8, 14, 21, 75, 78, 79, 80, 81, 110, 113, 115, 116, Blade, Brian 244, 258 Blankenburg, Walter 179 117, 120, 121, 122, 123, 124, 125, Bloch, Ernst 20, 133 126, 130, 208, 218, 220, 227, 229, Blumenberg, Hans 6, 14 236, 244, 264, 295, 303 Boethius 162 Badarzewska-Baranowska, Tekla 272 Bonhoeffer, Dietrich 141, 147 Barth, Karl XII, XV, 129, 226, 231, 232, Bonhoeffer, Emmi 147 233, 234 Bonhoeffer, Klaus 147 Basilius 170 Bornefeld, Helmut 230 Bates, Django 296 Brendel, Alfred 197 Beethoven, Ludwig van XIV, XVII, 9, 38, Brightman, Sarah 138, 139, 140 62, 183, 184, 185, 187, 188, 189, Bruckner, Anton XIV, 127, 135, 207, 212, 190, 193, 194, 195, 196, 197, 198, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 H. M. Dober und F. T. Brinkmann (Hrsg.), Religion.Geist.Musik, pop.religion: lebensstil – kultur – theologie, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22255-0
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213, 214, 217, 221, 299 Buber, Martin 78, 79, 322 Bubmann, Peter 271 Bubner, Rüdiger 234 Bülow, Hans von 70 Buxtehude, Dietrich 117, 125 C Cage, John 226 Caine, Uri 295, 297, 298, 299, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 307 Calloway, Cab 259 Calvin, Johannes 149, 151, 152, 173 Casper, Bernhard 66 Cassirer, Ernst 29, 31, 33, 322 Clarke, Kenny 259 Clemens von Alexandrien 145, 169, 170 Cohen, Hermann XVII, 17, 37, 74, 324, 334 Coleman, Steve 296 Coltrane, John XVII, 244, 248, 251, 264, 265, 266, 274, 281 Cruciger, Elisabeth 150 Crüger, Johann 150 Cyprian, Ernst Salomon 152 D Dahlhaus, Carl 209 Dalferth, Ingolf U. XV Davis, Miles 265 Denhoff, Michael 178 Dennis, Matt 283 Descartes 50, 185 Distler, Hugo 230 Dorsey, Thomas 246 Droste-Hülshoff, Annette von 60 Droysen, Gustav 227 Droysen, Johann Gustav 220 Dylan, Bob 176 E Egbert II van Heemskerck 173 Ehrenberg, Rudolf 60 Elisabeth von Schönau 50 Ellington, Duke 171, 244, 246, 247, 248, 251, 253, 258, 265, 284 Erasmus von Rotterdam 177 Evans, Bill 265
Personenregister F Feige, Daniel M. XV Fermor, Gotthard 271 Fitzgerald, Ella 246 Fludd, Robert 162 Forkel, Johann Nikolaus 48 Francke, August Hermann 50 Freud, Sigmund 128, 200 Frey, Albert 152 Freylinghausen, Johann Anastasius 151, 152 Froberger, Johann Jakob 178 G Gassmann, Michael 211 Gehlen, Hermann 249 Geiger, Hermann 79, 80 Gerber, Christian 13, 17 Gerhardt, Paul 150 Gershwin, George 265 Gesenius, Wilhelm 165 Glasper, Robert 244, 258 Goethe, Johann Wolfgang von 10, 161, 162, 220 Gölz, Richard 140 Gottsched, Johann Christoph 116 Green, André 193 Gropius, Walter 300 Gubaidulina, Sofia 178 Gustavsen, Tord 244, 251, 258 H Haden, Charlie 251 Hammer, Karl 231 Hammerstein, Reinhold 171, 174 Hampe, Michael 225 Händel, Georg Friedrich 80, 220 Hanslick, Eduard 55 Harrison, Carol 263 Hawkins, Coleman 264 Haydn, Joseph 76, 221 Haydn, Michael 212 Heesch, Matthias 5 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich XIII, 10, 193, 198 Heger, Robert 178 Heine, Heinrich 215 Heinichen, Johann David 123
Personenregister
Heinse, Wilhelm 49, 50, 51, 52 Hendricks, Jon 259 Heraklit 132 Herder, Johann Gottfried XIV Hieronymus 168 Hildegard von Bingen 50 Hiller, Johann Adam 208 Hindemith, Paul 162 Hindrichs, Gunnar XV, 226, 234, 235, 236 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus XIV, 6 Hoffmann, E.T.A. 15, 16 Hölderlin, Friedrich 133, 200 Holiday, Billie 246, 287 Homer 71 Houston, Whitney 275 Hutter, Leonhard 115 I Ibrahim, Abdullah 279 Isidor von Sevilla 164, 167, 170 J Jackson, Mahalia 246 James, William 294 Jean Paul 6 Jobim, Antonio Carlos 282 Jonas, Justus 89 Jones, Thad 286 Joplin, Janis 273 Joppich, Godehard 146 Josquin des Prez 7, 178, 221, 257 K Kant, Immanuel 67, 185 Katzenelson, Jizchak 316 Kayser, Hans 162 Kepler, Johannes 115, 162 Kierkegaard, Sören 233 King, Martin Luther, Jr. 243, 253, 268 Kircher, Athanasius 162 Kirnberger, Johann Philipp 110 Klatzkin, Jakob 324 Klee, Paul 3 Klek, Konrad 272 Koch, Heinrich Christoph 52 Kodaly, Zoltan 217
351 Kokoschka, Oskar 321 Korth, Hans-Otto 88, 256, 257 Krampes, Robert 236 Krupa, Gene 259 Küster, Konrad 10 L Lanz, Josef 298 Lasso, Orlando di 216 Lewandowski, Louis 81 Ligeti, György 225, 236, 237 Limb, Charles 261, 262 Liszt, Franz XIV, 207, 211, 214, 215, 216, 217, 221, 236, 272 Lochner, Stefan 173 Luther, Martin XI, XII, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 11, 12, 13, 14, 15, 17, 18, 19, 20, 21, 51, 87, 88, 89, 90, 91, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 102, 103, 105, 106, 108, 110, 116, 120, 143, 145, 147, 148, 149, 164, 166, 167, 173, 177, 178, 179, 225, 237, 243, 256, 257, 266, 267, 268, 272, 276 Lütkemann, Joachim 51 Lyte, Henry Francis 275 M Mäckelmann, Michael 324 Mahler, Alma 295, 300 Mahler, Gustav XIV, XVII, 9, 132, 139, 291, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 302, 303, 304, 305, 306, 307, 314 Mangelsdorff, Albert 9 Mark, Janne 244, 251 Martin, Terrace 252, 258 Mattheson, Johann 52 McFerrin, Bobby 251 McLaughlin, John 296 Melanchthon, Philipp 115 Mello, Chico 263 Mendelssohn Bartholdy, Felix XIV, 4, 9, 16, 110, 207, 217, 218, 219, 220, 221, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 320 Mendelssohn, Moses 220 Merula, Tarquino 178
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Meschwitz, Frieder 272 Messiaen, Olivier 265 Meyer-Blanck, Michael 16 Mitchell, Joni 244 Mitterschiffthaler, Karl 208, 209 Monteverdi, Claudio 37, 141, 155, 178, 190 Moritz, Karl Philipp XIV Motian, Paul 296 Mozart, Wolfgang Amadeus VIII, 38, 110, 183, 208, 226, 231, 232, 233, 234, 295, 303 Müller, Heinrich 50, 51 Murray, David 262 N Naue, Johann Friedrich 210 Neumann, Johann Philip 212 Nietzsche, Friedrich 7, 14, 20, 44, 45, 56, 185, 198, 201, 294, 303, 312 Nipperdey, Thomas 4 O Ockeghem, Johannes 221 Opitz, Martin 150 Origenes 168, 170 Osby, Greg 296 P Palestrina, Giovanni Pierluigi da 213, 216, 221 Parker, Charlie 264, 265 Paulus 173, 174, 254 Peiffer, Bernard 297 Pepping, Ernst 230 Petrucciani, Michel XVII Petrus Lombardus 49 Picht, Johannes 20 Platon 41, 42, 45, 68, 162, 172, 189 Plotin 47 Polillo, Arrigo 274 Porter, Gregory 244 Prosper Tiro von Aquitanien 169 Pythagoras 115, 162, 164, 171 R Raffael 174 Raimondi, Marcantonio 174
Personenregister Reese, Della 246 Reger, Max 143, 217 Reubke, Julius 178 Robeson, Paul 245 Rolland, Romain 189 Rosenstock, Eugen 60 Rosenzweig, Franz XIV, 17, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 77, 78, 79, 80, 81 Russell, George 264, 265 S Sachs, Klaus-Jürgen 62 Sacks, Oliver 135 Scheibes, Johann Adolph 116 Schiller, Friedrich XIV, 77, 185 Schirmer, Michael 273 Schleiermacher, Friedrich XV, 4, 6, 13, 18, 26, 27, 28, 29, 30, 34, 76, 129, 168, 225, 226, 227, 228, 229, 230, 231, 232 Scholem, Gershom 79 Schönberg, Arnold XII, XIV, XVI, XVII, 190, 201, 225, 226, 230, 315, 316, 319, 320, 321, 322, 323, 324, 325, 326, 327, 329, 330, 331, 332, 333, 334, 335, 336 Schopenhauer, Arthur XVII, 16, 44, 46, 54, 55, 56, 129 Schopenhauser, Arthur 162 Schreiber, Ulrich 307 Schroeter-Wittke, Harald 271, 272 Schubert, Ferdinand 211 Schubert, Franz XIV, 38, 134, 207, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 217, 221 Schumann, Robert 172, 230, 304 Schütz, Heinrich 3, 14, 123 Scofield, John 274, 275 Seel, Martin 20 Senfl, Ludwig 5, 7, 15 Seuse, Heinrich 50 Shorter, Wayne 244 Silver, Horace 285 Skrjabin, Alexander Nikolajewitsch 44, 130, 265 Sokrates 41, 42, 43, 44, 45 Sontag, Susan 304
Personenregister
Speratus, Paul 89, 91, 93 Spohr, Louis 189 Stockhausen, Karlheinz 130, 226 Stollberg, Dietrich 257 Stolzenberg, Jürgen XVI Strauss, Richard 153, 155 Strawinsky, Igor 143, 172, 264, 265 Sturm, Ike 244, 247, 251 Sulzer, Salomon 81 Summerlin, Ed 247, 251 T Tauler, Johannes 50 Taylor, Charles 258 Terstegen, Gerhard 50 Thibaut, Anton Justus Friedrich 209 Thomas, Gary 296 Thomas von Aquin 168 Tieck, Ludwig 52, 168 Tolle, Heinrich 116 Twain, Mark VII W Wackenroder, Wilhelm Heinrich XIV, 18, 52, 55, 168 Wagner, Richard VIII, XIV, 16, 17, 18, 20, 38, 44, 45, 56, 61, 62, 130, 295, 299, 303, 321 Walter, Johann 10, 93, 148 Walther, Johann Gottfried 124 Weber, Max XIII, 18, 25, 39 West, Dottie 275 Wilson, Cassandra 296 Winnicott, Donald W. 192, 193 Winter, Franz 296, 297, 299, 300 Winter, Stefan 296, 297 Würdig, Klaus 274 Y Young, Lester 264 Z Zwingli, Huldreich 148, 149
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