Idea Transcript
Projektgruppe „Gesellschaft nach dem Geld“
Postmonetär denken Eröffnung eines Dialogs
Postmonetär denken
Projektgruppe Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.)
Postmonetär denken Eröffnung eines Dialogs
Hrsg. Projektgruppe Die Gesellschaft nach dem Geld Universität Bonn Bonn, Deutschland
ISBN 978-3-658-21706-8 (eBook) ISBN 978-3-658-21705-1 https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Barbara Emig-Roller Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhalt
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Ein Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Projekt „Gesellschaft nach dem Geld“
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Eine Gesellschaft nach dem Geld ? Geschichtlicher Ort, Ausprägungen und Perspektiven gegenwärtiger Ansätze postmonetären Wirtschaftens . . . . . . . . Lars Heitmann
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Konzepte des Geldes
3
Die allgemeine Ware und ihre Mysterien. Zur Bedeutung des Geldes in der Kritik der politischen Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Lohoff
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Monetäre Mechanismen. Entstehung, Dynamik und Krise Tobias Aufderheide-Kohl
. . . . . .
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Trialog: Geld als Medium oder als (ausgesonderte) Ware ? . . . . . . . Ernst Lohoff, Hanno Pahl & Jens Schröter
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Über die Möglichkeit einer Gesellschaft nach dem Geld aus Sicht der evolutionären politischen Ökonomie, ihre Subjekte und die Rolle globaler Informationstechnologie . . . . Ernest Aigner & Manuel Scholz-Wäckerle
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V
VI Autor*innenverzeichnis
II
Imaginationen postmonetärer Ökonomie
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Das Geld als Alien. Postmonetäres in der utopischen Literatur und Science-Fiction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Annette Schlemm
213
III Vermittlung nach dem Geld 8
Kritisches zur Geldkritik Christian Siefkes
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
237
9
Kategoriale Grundlagen einer postmonetären Gesellschaft . . . . . . Stefan Meretz
265
10 Der postkapitalistische Feminismuskeks. Das Hauptgericht: Eine commonsschaffende Peer-Produktion als mögliche Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friederike Habermann 11 Trialog: Implizite und explizite Menschenbilder . . . . . . . . . . . . Friederike Habermann, Stefan Meretz & Christian Siefkes
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IV Medialität nach dem Geld 12 Nähern wir uns einer Gesellschaft ohne Geld ? . . . . . . . . . . . . Peter Fleissner
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13 Geld. Für eine non-monetäre Ökonomie . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Heidenreich
361
14 Das Geld und die digitalen Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jasmin Kathöfer & Jens Schröter
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Autor*innenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ein Vorwort Projekt „Gesellschaft nach dem Geld“
Alles dreht sich ums Geld. Keine irgendwie geartete individuelle oder kollektive Praxis, keine technologische oder wissenschaftliche Entwicklung scheint ohne Geld denkbar zu sein. Zwar wird Geld seit langer Zeit auch kritisiert, doch der Gedanke an eine ‚Gesellschaft nach dem Geld‘ löst Widerstand und Befremden aus. Dabei zeigen historische und anthropologische Studien (z. B. Le Goff 2011; Graeber 2012), dass Geld keineswegs immer die Rolle hatte, die es heute hat – und folglich auch wieder in andere Positionen treten kann. In dem 2015 beantragten und zum 1. Januar 2016 bewilligten Projekt „Die Gesellschaft nach dem Geld“ im Rahmen der VW-Förderlinie „Originalitätsverdacht/Konstellationen“ sollten erstens heterogene Wissensbereiche in einen Dialog treten und ihre Theorien und Kritiken des Geldes wechselseitig beleuchten. Dabei wurde zweitens ergebnisoffen über die Möglichkeit postmonetärer Organisations- und Produktionsformen nachgedacht (vgl. auch Nelson & Timmermann 2011). Doch warum erschien uns das überhaupt als relevant ? In der Gegenwart überlagern sich zwei Selbstbeschreibungen: Einerseits ist nach wie vor die Rede von ‚digitaler Revolution‘, ‚Mediengesellschaft‘, ‚Netzwerken‘, ‚Industrie 4.0‘. Andererseits wird die Gegenwart als ausgesprochen krisenhaft beschrieben: ‚Finanzkrise‘, ‚Wirtschaftskrise‘, ‚planetare Grenzen‘. Es gibt also einerseits die Beschreibung eines technisch-medialen Umbruchs und andererseits jene von tiefgreifenden gesellschaftlichen Störungen. Dem Projekt liegt die Vermutung zugrunde, dass es einen Zusammenhang gibt, der sich als die Kollision der digitalen Medien bzw. digitalen Technologien mit dem Medium Geld beschreiben lässt (und der zu anderen, älteren Konflikten wie etwa dem zwischen Geldvermehrung und Bedürfnissen hinzutritt). In zwei Hinsichten wird dies deutlich. Erstens scheinen die digitalen Medienprodukte kaum in der Warenform darstellbar zu sein. Digitale Güter sind im Prinzip beliebig reproduzierbar und somit nicht knapp. Eine auf Geld basierende Wissens- oder Informationsgesellschaft ist © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_1
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Projekt „Gesellschaft nach dem Geld“
ein Widerspruch in sich. Zweitens wird immer dringlicher die Frage diskutiert, ob die universell programmierbaren und daher vielseitig einsetzbaren digitalen Technologien nicht in allen Sektoren so viel Arbeit überflüssig machen, dass die gesellschaftliche Reproduktion über Lohnarbeit, d. h. Arbeitskraft im Tausch gegen Geld, problematisch wird (diese Probleme diskutiert der Beitrag von Peter Fleissner1). Aufgrund dieser offensichtlichen Probleme der Geldvermittlung entstanden und entstehen immer wieder imaginäre Selbstbeschreibungen der Gesellschaft, insbesondere in der Science-Fiction-Literatur, die eine postmonetäre Zukunft skizzieren (siehe dazu den Beitrag von Annette Schlemm). Nach der Krise 2008 breitete sich ein unbestimmtes Unbehagen über ‚das Finanzsystem‘ aus. Die Selbstverständlichkeit der monetären Organisation erscheint als zunehmend brüchig – sofern die Krise nicht verschwörungstheoretisch auf ‚gierige Spekulanten‘ zurückgeführt wird. Allerdings wurde in vielerlei Hinsicht einfach so weitergemacht wie zuvor, ohne dass eine breite und vor allem grundlegende Diskussion überhaupt begann (Mirowski 2014). Daher ist es notwendig, ergebnisoffen über Organisations- und Produktionsformen zu diskutieren, die das Geld nicht mehr als (zentrales) Medium verwenden (zur Frage, ob und wie Geld als Medium bestimmt werden kann, siehe den Trialog zwischen Lohoff, Pahl und Schröter; zur techno-institutionellen Evolution des Geldes, die zu einer erneuten Veränderung durch digitale Technologien führt, siehe Aigner & ScholzWäckerle). Doch warum scheint Geld so unverzichtbar ? Geht man von der kritischen Analyse von Ernst Lohoff in diesem Band aus, dann scheint Geld v. a. deshalb unverzichtbar zu sein, weil die Form der getrennten Privatproduktion als natürlich erscheint. Das heißt, trotz der offensichtlichen Gesellschaftlichkeit der Menschen überhaupt und der konkreten Gesellschaftlichkeit aller Produktion auch heute (man braucht Rohstoffe von anderen etc.) produzieren einzelne Personen bzw. Unternehmen für sich und vermitteln sich dann, ex post, an Märkten über Tausch. Wie Tobias Aufderheide-Kohl in diesem Band zeigt, wird eine solche Ermöglichung des Tauschs von der herrschenden ‚neoklassischen‘ Wirtschaftswissenschaft (vgl. Colander et al. 2004; vgl. auch Dobusch & Kapeller 2012) gegen jede historische und anthropologische Evidenz als Grund der Entstehung des Geldes behauptet.2 Eine solche These besagt, Menschen hätten schon immer getrennt privat produziert und getauscht – und Geld sei nur als praktisches Hilfsmittel erfunden worden. Sicherlich setzt die heutige hochdifferenzierte Marktwirtschaft Geld voraus und könnte wohl ohne es nicht funktionieren – aber haben Menschen wirklich immer getrennt privat produziert (Stichwort: 1 2
Siehe auch den Literaturbericht in Schröter (2017). Und ebenso wird sie schlicht wahrheitswidrig und mithin ideologisch Kinderköpfen in entsprechenden Kinderbüchern eingehämmert (vgl. Neiser & Butschkow 2000).
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Zünfte), und muss das immer so bleiben, gerade in einer Zeit, in der unausgesetzt die allseitige Vernetzung beschworen wird ? Prinzipiell kann man sich drei Optionen vorstellen, wie man Geld überwinden kann: a) Man findet Wege, wie der Tausch auch ohne Geld (und seine unerfreulichen Nebeneffekte) effektiv funktioniert, z. B., indem die relevanten Informationen anderweitig übermittelt werden oder die Koordination (partiell) an die selbst smart gewordenen Dinge und/oder an künstliche Intelligenzen delegiert wird. Das scheint der Kern des von Stefan Heidenreich vorgeschlagenen Konzepts einer postmonetären Ökonomie auf der Basis von algorithmischem Matching zu sein (siehe den Text von Stefan Heidenreich). b) Man ersetzt die Ex-post- durch eine Ex-ante-Vermittlung, d. h., es produzieren nicht alle getrennt voneinander für den Markt,3 sondern die Mitglieder einer Gesellschaft sprechen sich vorher ab, was sie brauchen und wollen, um daraufhin Entsprechendes zu produzieren und zu verteilen. Damit eröffnet sich das ganze Feld einer planvollen Ökonomie, die aber keineswegs zentral geplant sein muss – ein Modell, das sowohl theoretisch als auch historisch ohnehin kaum noch vertretbar erscheint (zu neuen Ansätzen zentraler Planung siehe aber den Beitrag von Peter Fleissner). Es gibt heute diverse Konzepte partizipativer Ökonomie, dezentraler und verteilter Planung (siehe zur theoretischen Kritik v. a., aber nicht nur, der zentralen Planung durch Hayek den Beitrag von Jasmin Kathöfer & Jens Schröter in diesem Band, die kritisch diskutieren, ob die Argumente Hayeks unter gegenwärtigen Medienbedingungen wirklich noch greifen). Ein zentraler Ansatz ist das Feld des Commonings und der Commons, das v. a. seit dem ‚Nobelpreis‘ für Ökonomie 2009 für Elinor Ostrom (1999) wieder intensiv diskutiert wird. Entscheidend ist hier die Idee, die ungesellschaftliche, da isolierte und dann über die Bewegung der Sachen (Waren- und Geldflüsse) koordinierte, Produktion durch eine gesellschaftliche, d. h. letztlich kommunikative, durch zum Geld alternative Medien koordinierte, Produktion zu ersetzen – und zwar in anderer Weise als etwa durch Staatsplanung (nicht umsonst verortet der Untertitel der deutschen Übersetzung von Ostroms Buch die Commons ‚jenseits von Markt und Staat‘).4 Eine solche Produktion benötigte logischerweise keine Märkte und kein Geld mehr, denn in ihr wird nicht getauscht. Man einigt sich darauf, was produziert werden soll, teilt die Arbeit auf, erstellt die Produkte und verteilt sie 3 Natürlich versucht man heute schon, etwa über Marktforschung, vorher in Erfahrung zu bringen, ob die angedachten Produkte wirklich benötigt werden – interessanterweise ist eine solche Vorausplanung schon ein Schritt in Richtung einer Ex-ante-Produktionsweise. 4 Diese Diskussionen gibt es schon lange – O’Neill (1996) hat etwa an die Position Otto von Neuraths erinnert, der schon in den 1920er Jahren argumentierte, dass eine auf die direkte Gebrauchswert-Aushandlung gestützte Ökonomie (ohne ein allgemeines Äquivalent als Vergleichsmaßstab) möglich sein müsste.
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Projekt „Gesellschaft nach dem Geld“
gemäß den anfänglich getroffenen demokratischen Beschlüssen. Commons und Commoning werden in den Beiträgen von Stefan Meretz und Friederike Habermann diskutiert und in dem Beitrag von Christian Siefkes kritisch reflektiert. Die schwierige Frage nach den in diesem kommunikativen Imaginären implizierten Menschenbildern wird im Trialog zwischen Habermann, Meretz und Siefkes diskutiert. c) Schließlich gibt es eine dritte Möglichkeit, die gegenwärtig insbesondere in den phantasmatischen Diskursen zu Technologien des 3-D-Drucks immer wieder aufscheint. In diesem Falle ist die Aufhebung der Tauschwirtschaft (also der kapitalistischen Produktion) ganz anders gedacht. Hier ist es nicht ein digital ermöglichter Naturaltausch wie in a) oder die Umstellung der paradoxalen, einerseits individuellen und andererseits indirekt gesellschaftlich vermittelten Produktionsweise auf eine von vornherein gesellschaftliche Produktionsweise wie in b). Vielmehr geht es um die Überwindung des Tauschs (und damit des Marktes und des Geldes) durch eine zwar nach wie vor individuelle, aber nicht mehr bloß partiale, sondern omnipotente Produktion. Was heißt das ? Unter Marktbedingungen muss jede/-r Produzent/-in am Markt tauschen (und erst recht diejenigen, die nur ihre Arbeitskraft verkaufen können), da man individuell nur einen bestimmten, kleinen Ausschnitt von Gütern herstellen kann (die Arbeitsteilung wird oft mit dem Tauschprinzip gleichgesetzt, obwohl man sich sehr wohl auch eine demokratisch-kommunikativ vermittelte Aufteilung der Arbeit vorstellen könnte). Wenn man nun aber eine ‚ideale Fabrikationsmaschine‘ hätte, die vor Ort wirklich alles herstellen könnte, was man will: Auch dann bräuchte man nicht mehr auf Märkten zu tauschen und mithin kein Geld mehr – so wie in der ScienceFiction-Fernsehserie Star Trek – The Next Generation, in der es mit dem ‚Replikator‘ eine solche ideale Produktionsmaschine gibt (siehe dazu den Beitrag von Annette Schlemm in diesem Band). Eine solche Maschine würde quasi von selbst den Kapitalismus aushebeln, aber ohne eine neue kommunikative Form und Infrastruktur, also eine gesellschaftliche Ex-ante-Organisation, zu erfordern (allerdings würde sie neue Kämpfe z. B. um das Eigentum an den zur Produktion notwendigen Daten heraufbeschwören – blieben diese Privatbesitz und verknappt, wäre auch ein Kapitalismus auf der Basis von 3-D-Druckern denkbar; Ähnliches gilt für die notwendige Energie und die erforderlichen Rohstoffe). Gleichsam von selbst und ohne die Mühen der politischen Aufklärung, Diskussion, des Kampfes und gar der Neuformierung von Subjektivität kann eine Maschine solcherart die bestehende Gesellschaftsform überwinden. Dieses technische Imaginäre dürfte der zentrale Grund für die Popularität der 3-D-Druck-Postkapitalismus-Utopie sein. So argumentiert etwa Jeremy Rifkin (2014, S. 7 – 26), dass die Ausbreitung des 3-DDrucks (und anderer Technologien wie der des ‚Internets der Dinge‘) unweigerlich zur Ausbreitung der ‚kollaborativen Commons‘ und mithin zu einem wesent-
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lich friedlichen Rückzug des Kapitalismus führen wird (siehe auch die Diskussion von Rifkins Position im Text von Friederike Habermann).5 Ob diese drei Optionen wirklich getrennte Optionen sind oder nicht vielmehr Phasen und Teile einer Transformation, die bereits stattfindet, bleibt abzuwarten (siehe dazu den Beitrag von Aigner & Scholz-Wäckerle). *** Eröffnet wird der Band mit einem Text von Lars Heitmann, der die Grundzüge des historischen Verhältnisses von monetären und nichtmonetären Wirtschaftsformen rekonstruiert und einen Überblick über gegenwärtige Ansätze postmonetären Wirtschaftens gibt. Danach folgt ein erster Teil, der sich theoretisch und historisch dem Geld zuwendet. Verschiedene (aber zwangsläufig nicht alle, vgl. Ingham 2005) Konzepte werden diskutiert – insbesondere ebenjene von Marx sichtbar gemachte und kritisierte Naturalisierung der ‚getrennten Privatproduktion‘, die Geld so unverzichtbar erscheinen lässt (Beitrag Lohoff aus wertkritischer Sicht), und dann ebenjene, die sich auf die Frage des Ursprungs des Geldes aus Schuldverhältnissen bezieht (Beitrag Aufderheide-Kohl): Die Annahme, dass Geld aus Schuldverhältnissen stammt, ist einerseits (wie erwähnt) ein notwendiges Korrektiv zur These, Geld sei friedlich aus immer schon bestehenden Tauschverhältnissen emergiert. Andererseits müsste dann auch die selbstkritische Frage gestellt werden, ob eine Gesellschaft nach dem Geld nicht auch eine Gesellschaft ohne Schuldverhältnisse wäre – was zunächst schwer vorstellbar erscheint (im Beitrag von Stefan Meretz wird jedoch auf diesen Punkt eingegangen und eine Alternative skizziert). Daran schließt sich ein Trialog an, also eine dezidiert multiperspektivische Auseinandersetzung, in der der Frage nachgegangen wird, ob Geld eher als Ware oder als Medium zu bestimmen sei. Diese Frage ist relevant, weil sie zu der größeren Frage führt, ob und inwiefern Geld nicht allein durch andere Organisationsformen, sondern eventuell auch durch alternative technologische Entwicklungen überflüssig gemacht werden kann. Wenn man annimmt, dass es keine gesellschaftliche Form ohne Technik und keine Technik ohne gesellschaftliche Form gibt, Technik also nicht neutral und mit Organisationsformen ko-konstitutiv ist, müssen immer institutionelle und technische Aspekte im Blick behalten werden. Gerade diesen techno-institutionellen Nexus des Geldes untersucht – mit Bezug auf die aktuelle Diskussion – der Beitrag von Aigner und Scholz-Wäckerle, der das Geld-Kapitel abschließt. 5
Siehe auch Schröter (2015). Siehe zur Kritik an verkürzten technoutopistischen Vorstellungen auch Fischbach (2017).
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Projekt „Gesellschaft nach dem Geld“
Das Zwischenkapitel von Annette Schlemm prüft, inwiefern Vorstellungen postmonetärer Organisationsformen in der utopischen Literatur und in der Science-Fiction anzutreffen sind. Diese Diskurse sind keineswegs ‚bloße Unterhaltung‘, sondern weisen darauf hin, dass es immer schon gesellschaftliche Selbstbeschreibungen bzw. Formen des ‚soziotechnischen Imaginären‘ (vgl. Jasanoff & Kim 2015) gegeben hat, die die scheinbare Naturalität des Geldes problematisieren. Von solchen – wie z. B. im Fall von Star Trek außerordentlich populären – Entwürfen geht die Möglichkeit aus, erstarrtes Denken wieder zu verflüssigen. Im nächsten Teil – „Vermittlung nach dem Geld“ – geht es (eher) um den institutionellen Teil des techno-institutionellen Nexus, der Geld ist. Zu Beginn problematisiert Christian Siefkes – selbst ein aktives Mitglied der Commons-Diskussion – historisch und theoretisch möglicherweise allzu naive Formen der Geldkritik und mit ihnen korrelierende Implikationen. Danach greift Stefan Meretz die Diskussion um die Commons (vgl. Ostrom 2009) auf und untersucht detailliert mögliche kategoriale Bedingungen für eine commonsbasierte postmonetäre Produktionsform. Anschließend diskutiert Friederike Habermann ebenfalls die commonsbasierte Peer-Produktion, problematisiert dabei aber insbesondere Gender-Asymmetrien, die sich auch auf das Verhältnis von Produktion und Reproduktion bzw. Care beziehen. Im anschließenden Trialog wird mit der Frage nach dem Menschenbild der commonsbasierten Produktionsform, dem der Charakter anhaftet, allzu optimistisch zu sein, ein Komplex diskutiert, der zu den beliebtesten Einwänden gegen eine commonsbasierte Produktionsform zählt. Die schon im Beitrag von Aufderheide-Kohl angedeutete Frage nach anthropologischen Aspekten monetärer und post- bzw. nonmonetärer Produktion wird so wieder aufgegriffen. Der abschließende Teil – „Medialität nach dem Geld“ – ist zwar schon vom Titel dem vorhergehenden Teil – „Vermittlung nach dem Geld“ – nahe, verschiebt aber die Diskussion auf die (medial-)technologischen Aspekte. Der Teil wird eröffnet mit einem Text von Peter Fleissner, der aus marxistischer Perspektive Daten zusammenträgt, die zeigen sollen, dass technologisch bedingt die Überwindung der Waren- und damit Geldform bereits angelegt ist. Überdies diskutiert er Studien zu neuen Modellen der ökonomischen Planung, die auf neuen Computertechnologien aufbauen – und so versprechen, Märkte und damit im Prinzip Geld obsolet zu machen. Die Rolle neuer Computertechnologien steht im Zentrum des gesamten letzten Teils – wird doch die Vermutung ausgelotet, diese technischen Veränderungen würden zwar nicht deterministisch zu anderen und ‚besseren‘ und gar ‚postmonetären‘ Verhältnissen führen, aber doch zumindest die gegebenen Verhältnisse in Bewegung versetzen (siehe die unaufhörlichen, aufgeregten Diskurse über ‚Industrie 4.0‘) und wenigstens andere Organisationsformen im Prinzip denkbar machen. In diesem Sinne untersucht Stefan Heidenreich Ökonomie als Netzwerkproblem und diskutiert, inwiefern algorithmische und ‚smarte‘ di-
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gitale Technologien eine Ressourcenallokation ohne Geldvermittlung möglich machen könnten. Der letzte Beitrag dieses Teils von Jasmin Kathöfer und Jens Schröter greift noch einmal die ‚sozialistische Kalkulationsdebatte‘ der 1920er und 1930er Jahre auf und diskutiert anhand einer medientheoretischen Lektüre einiger zentraler Texte von Friedrich von Hayek, ob das von ihm skizzierte Wissensproblem – das als schlagendes Argument zumindest gegen zentrale Planung verstanden worden ist – unter den Bedingungen mobiler, verteilter, spurbildender Me dien noch gilt oder ob nicht die Akkumulation von Informationen die Basis für eine dezentrale Planung (jenseits von Markt und Staat und insofern an die Commons-Debatte aus Teil II sinnvoll anschließbar) darstellen könnte. Das Projekt „Gesellschaft nach dem Geld“ sieht seine Arbeit zwischen (heterodoxer) Ökonomik, Soziologie, Commonstheorie und Medientheorie als Beitrag zur Eröffnung eines Dialogs, der helfen soll, eingefahrene Positionen in Bewegung zu bringen. Geld wächst nicht an Bäumen, es ist nichts Natürliches, es hat einen Beginn und kann vielleicht auch ein Ende haben oder doch zumindest seine Form verändern. Es ist nicht unwichtig, darauf hinzuweisen, dass wir nicht (oder nur am Rande) die Perspektive der Transformation, also wie man aus der Gegenwart in eine (möglicherweise wünschenswerte) postmonetäre Zukunft gelangen kann, diskutieren wollten. Es ging nur um die Frage, ob eine postmonetäre Produktions- und Lebensweise überhaupt denkbar ist. Der Diskussionsprozess im Projekt war kontrovers und es konnten nicht alle Differenzen und Probleme ausgeräumt werden – aber vielleicht liegt das bei einem derartigen Thema auf der Hand und ist auch gar nicht wünschenswert. Jedenfalls haben wir versucht, der internen Dynamik des Projektes durch die etwas ungewöhnliche Form des Buches Rechnung zu tragen. *** Wir danken der VW-Stiftung für die großzügige und unbürokratische Förderung des Projekts, Nicole Zöllner für unverzichtbare Mitarbeit und der Verwaltung der Universität Bonn und insbesondere Dagmar Ogon für die Unterstützung des Projekts. Ebenso danken wir Peggy Denda und Luisa Glees für ihre sorgfältige redaktionelle Hilfe. Wir hoffen, dass unser Projekt weiterführende Diskussionen anstoßen kann.
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Projekt „Gesellschaft nach dem Geld“
Literatur Colander, David, Hold, Richard, & Rosser, Barkley (2004). The Changing Face of Mainstream Economics. Review of Political Economy 16, 485 – 499. Dobusch, Leonhard, & Kapeller, Jakob (2012). Heterodox United vs. Mainstream City ? Sketching a Framework for Interested Pluralism in Economics. Journal of Economic Issues 46, 1035 – 1057. Fischbach, Rainer (2017). Die schöne Utopie. Paul Mason, der Postkapitalismus und der Traum vom grenzenlosen Überfluss. Köln: Papyrossa. Graeber, David (2012). Schulden: Die ersten 5 000 Jahre. Stuttgart: Klett-Cotta. Ingham, Geoffrey (2005). Concepts of Money. Interdisciplinary Perspectives from Economics, Sociology and Political Science. Cheltenham, UK: Elgar. Jasanoff, Sheila, & Kim, Sang-Hyun (2015). Dreamscapes of Modernity. Sociotechnical Imaginaries and the Fabrication of Power. Chicago/London: University of Chicago Press. Le Goff, Jacques (2011). Geld im Mittelalter, übers. v. Caroline Gutberlet. Stuttgart: Klett-Cotta. Mirowski, Philip (2014). Never Let a Serious Crisis go to Waste. How Neoliberalism Survived the Financial Meltdown. London u. a.: Verso. Neiser, Birgit, & Butschkow, Ralf (2000). Max macht Mäuse. Der Geld-Ratgeber für Kinder. Kempen: moses. Nelson, Anitra, & Timmermann, Frans (Hrsg.) (2011). Life without Money. Building Fair and Sustainable Economies. London: Pluto Press. O’Neill, John (1996). Who Won the Socialist Calculation Debate ? History of Political Thought XVII, 431 – 442. Ostrom, Elinor (1999). Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt, übers. v. Ekkehard Schöller. Tübingen: J. C. B. Mohr. Ostrom, Elinor (2009). Beyond Markets and States: Polycentric Governance of Complex Economic Systems. Nobel Prize Lecture, Stockholm. http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/economic-sciences/laureates/2009/ostrom_lecture.pdf (zugegriffen am 29. Juni 2017). Rifkin, Jeremy (2014). The Zero Marginal Cost Society. The Internet of Things, the Collaborative Commons, and the Eclipse of Capitalism. New York: Palgrave Macmillan. Schröter, Jens (2015). Der 3D-Druck und der Kapitalismus. Sprache und Literatur 115/116, 106 – 118. Schröter, Jens (2017, im Druck). Digitale Medientechnologien und das Verschwinden der Arbeit. In Caja Thimm, & Thomas Bächle (Hrsg.), Mensch und Maschine. Freund oder Feind ? Wiesbaden: Springer VS.
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Eine Gesellschaft nach dem Geld ? Geschichtlicher Ort, Ausprägungen und Perspektiven gegenwärtiger Ansätze postmonetären Wirtschaftens1 Lars Heitmann
Die Erde ist ein Irrenhaus. Dabei könnte das bis heute er reichte Wissen der Menschheit aus ihr ein Paradies machen. Dafür müsste die weltweite Gesellschaft allerdings zur Vernunft kommen. Joseph Weizenbaum
Einleitung Die gegenwärtige Phase gesellschaftlicher Entwicklung – das, was in den verschiedenen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft etwa als „Postmoderne“, „Globalisierung“, „Informationsgesellschaft“, „Finanzmarkt-“ oder „Turbokapitalismus“ bezeichnet wird – ist gekennzeichnet durch vielschichtige Krisen. Festmachen lässt sich diese Krisenhaftigkeit einerseits an objektiven Sachverhalten wie ökonomischen Wachstumsraten oder Verschiebungen im Verhältnis von ökonomischen und politischen Institutionen, wie sie am dauerhaften „Frisches-Geld-indie-Märkte-Pumpen“ vieler Zentralbanken oder allgemeiner an der Macht „der“ Wirtschaft gegenüber „der“ Politik (und damit auch gegenüber „der“ Gesellschaft) 1
Es handelt sich bei diesem einleitenden Kapitel um eine stark gekürzte Fassung einer im Rahmen des Projektes durchgeführten Studie über die Krisendynamik des neoliberalen Kapitalismus, Probleme markt-/geldorientierter Ansätze der Krisenlösung und sich herausbildende postmonetäre Ansätze des Wirtschaftens. Ich danke allen, die zur Entwicklung des Textes beigetragen haben: den Autoren des vorliegenden Bandes, ferner den Teilnehmern des Kolloquiums der Gesellschaft zur Förderung sozialökonomischer Handlungsforschung e. V. (Michael Danner, Manfred Hilke und Stephan Meins sowie insbesondere Arne Hilke für Kommentierungen, begriffliche Präzisierungen und den Hinweis auf Günther Anders), außerdem Holger Heide, Athanasios Karathanassis und Melanie Rippe.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_2
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abzulesen sind. Andererseits und darüber hinaus lässt sie sich an subjektiven Wahrnehmungen festmachen, v. a. an der Erfahrung, dass dieses „System“ dem Einzelnen viel abverlangt, aber (zu) wenig gibt, sich „Leistung nicht mehr lohnt“ oder Anforderungen gar nicht mehr zu erfüllen sind, aber auch daran, dass selbst Konsumieren und Viel-Haben das individuelle „Glück“ nur noch begrenzt bedingen. Nicht zuletzt sind die ökologischen und sozialen Folgen in den Augen (mittlerweile) vieler Menschen unübersehbar und nicht mehr akzeptabel.2 Im Lichte dieser objektiven Sachlagen und subjektiven Wahrnehmungen entwickeln sich auf breiter Ebene Diskussionen darüber, wo die Entwicklung der Gesellschaft (und das heißt v. a.: der Wirtschaft) in Zukunft hingehen soll. Diese Diskussionen erweisen sich bei genauerer Betrachtung als äußerst vielfältig: Während auf der einen Seite die bekannten Lösungsansätze rechter, liberaler und sozial demokratischer Art (und damit Ansätze, die durchweg die Lösung in der Reform des bestehenden Geldsystems sehen) diskutiert werden, formieren sich auf der anderen Seite Ansätze, die andere Erzeugungs- und Verwendungsweisen des Geldes anstreben (bspw. die Abschaffung der Giralgeldschöpfung oder des Zinses), sowie darüber hinausgehend Ansätze, die weder die „reformistischen“ noch „alternativen“ Wege mitgehen wollen und Lösungen jenseits des Geldes zu finden versuchen.3 Bemerkenswert ist, dass sich die „alternativen“ und bisweilen sogar die grundsätzlicheren, auf ein „Jenseits des Geldes“ gerichteten Debatten und Ansätze nicht 2
Siehe die Vielzahl von teils repräsentativen empirischen Untersuchungen, die darauf hinweisen, dass das „Paradigma“ des „Kapitalismus“ vielen Menschen unattraktiv erscheint. Siehe die aktuellen Umfragen von YouGov (https://yougov.de/news/2017/08/24/mehrheit-siehtkapitalismus-krimehrheit-sieht-kapi sowie https://yougov.de/news/2016/02/24/der-sozialismus-hat-deutschland-einen-besseren-ruf) wie auch den Harvard IOP Spring 2016 Poll (http://iop.harvard.edu/youth-poll/harvard-iop-spring-2016-poll). Siehe ferner Institut für Demoskopie Allensbach (2012); Pew Research Center (2012); Bertelsmann Stiftung (2012); BBC (2009). Bei allen zuvor wie nachfolgend angeführten Internetquellen erfolgte der letzte Zugriff am 12. 12. 2017. 3 Siehe die gegenwärtig zu verzeichnende Flut von Publikationen zum Thema „Postkapitalismus“ im Allgemeinen sowie geldlosem Wirtschaften im Besonderen. Zu „Postkapitalismus“ siehe u. a. Wright (2017); Mason (2016); Misik (2016); Creydt (2016); Frase (2016); Srnicek & Williams (2015, 2013); Marxistische Abendschule Hamburg (2015); Eversmann (2014); Rifkin (2014); Bender et al. (2012); Zelik (2011); Wallerstein & Müller (2010); Gibson-Graham (2006a, b). Zu geldlosem Wirtschaften siehe u. a. die im zweiten Teil des vorliegenden Textes angeführten Quellen. Eine allgemeinere soziologische Reflexion der Bedingungen und Grundprinzipien sowie der gegenwärtigen Notwendigkeit postmonetären Wirtschaftens findet sich bei Stengel (2016). Für einen Einblick in das Spektrum alternativ-ökonomischer Ansätze siehe Wright (2017, Kapitel 6 und 7); Konzeptwerk Neue Ökonomie e. V./DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften (2017); Voß (2015); Notz (2012); Adler & Schachtschneider (2010); Habermann (2009); Ressler (2008). In der Volksrepublik China wird derzeit über die Nutzung von „Big Data“ für die Re-Etablierung zentralistischer planwirtschaftlicher Verfahrensweisen nachgedacht (Konicz 2017).
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mehr nur in Nischen abspielen, von „Freaks“ und „Exoten“ geführt und gelebt werden, sondern auch vonseiten des politischen Systems sowie vonseiten der Wirtschaft verfolgt bzw. sogar unterstützt werden.4 Da die Ansätze alternativer Geldwirtschaft bislang, wie sich zeigen lässt, sowohl theoretisch als auch praktisch wenig zu überzeugen vermögen, rückt insbesondere das Feld geldloser Alternativen in das Zentrum des Interesses. Das heute vorfindliche und zur Debatte stehende Spektrum von Ansätzen postmonetären Wirtschaftens erweist sich dabei als äußerst vielfältig: Zu finden sind sehr verschiedene Ansätze wie etwa individuelle oder kleingruppenförmige Versuche geldlosen Lebens, „schenkökonomisch“ genauso wie „selbstversorgerisch“ orientiert und hierbei wiederum mit ganz unterschiedlichen Konzepten der Herstellung verbunden; anonymisierte urbane „Umsonstökonomien“ (der Herstellung wie auch der Verteilung und Nutzung); globale „virtuelle“ „vernetzte“ „Umsonstökonomien“; kleinräumige „subsistenzwirtschaftliche“ Lebensformen, auch hier wieder mit ganz unterschiedlichen Herstellungskonzepten verbunden; globalwirtschaftlich konzipierte „High-Tech-Planwirtschaften“, mit stärker demokratischen Elementen genauso wie mit stark zentralistischer, experto-/technokratischer Verfassung; technikaffine „Umsonstökonomien“ mit stark dezentralen, aber global integrierten Reproduktionskonzepten und mehr. Anders gesagt: Zu finden sind so verschiedene Dinge wie Aussteigertum, offene Stadt-Gemeinschaftsgärten, geldlose „Landkommunen“, globale „Freie-Software-Communities“, „Makerspaces“ oder weitreichende „computersozialistische“ Gesellschaftsentwürfe. Diese verschiedenen Organisationskonzepte sind wiederum mit sehr verschiedenen Weltbildern und Wertvorstellungen verbunden, von im weitesten Sinne esoterischen oder konservativen bis hin zu ultraliberalen Einstellungen.
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Hinweisen lässt sich hier auf die Berufung von Jeremy Rifkin als Berater der Europäischen Kommission; auf die Vielzahl von Publikationen und Forschungsprojekten zu „Commons“, „alternativer Ökonomie“, „urbaner Agrikultur“ u. a. von öffentlichen wie auch privaten Organisationen, das vorliegende Projekt eingeschlossen; auf die Vergabe des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften an Elinor Ostrom für ihre Theorie der „Commons“; auf die UN-Resolution 61/295 („Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker“); auf Äußerungen von Experten, die eher dem bürgerlichen-konservativen Lager zuzurechnen sind, wie bspw. Christoph Keese, Vizepräsident des konservativen deutschen Axel-Springer-Konzerns, der konstatiert, dass „Computersozialismus“ wohl möglich, wenn auch nicht wünschenswert sei (http://www.presseschauder.de/interviewmit-der-jungen-welt-digitaler-sozialismus-ist-denkbar-aber-nicht-wunschenswert); auf die Debatte über Computersozialismus in der Financial Times (https://www.ft.com/content/ 6250e4ec-8e68-11e7-9084-d0c17942ba93); auf die Veröffentlichung von Bini Adamczaks (2017) Einführung in den „Kommunismus“ bei MIT Press; sowie auf Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung (2015). Auch in den öffentlich-rechtlichen Medien findet sich eine Vielzahl von Beiträgen insbesondere zu geldlosem Leben.
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Im Folgenden geht es als Einführung in das Thema und Hinführung zu den nachfolgenden Beiträgen des Bandes darum, diese sehr verschiedenen gegenwärtig existierenden postmonetären Ansätze im Ganzen gesellschaftsgeschichtlich zu verorten, in ihrer Verschiedenheit systematisch und problemorientiert darzustellen sowie schließlich ihre Entwicklungsperspektiven im Hinblick auf eine mögliche „Gesellschaft nach dem Geld“ zu reflektieren. Ich werde dazu zunächst zeigen, dass der Anspruch des geldlosen Wirtschaftens auf dem Stand heutiger Forschung keineswegs abwegig erscheint: Zum einen kann davon ausgegangen werden, dass das Geld allein im Kapitalismus eine wesentliche, d. h. die die ökonomische Reproduktion wie auch die Gesellschaft im Ganzen prägende Rolle spielt und somit eine allgemeine Notwendigkeit der Geldverwendung, insbesondere in der spezifisch modernen Form, kaum plausibel zu begründen ist (1.1). Zum anderen zeigt sich in vielfacher Hinsicht, dass selbst innerhalb der Reproduktion des sich mit der Durchsetzung des Kapitalismus in der Moderne herausbildenden wirtschaftlichen Systems, entgegen allen Dogmen von der Notwendigkeit des Marktes, verschiedene nichtmonetäre Formen der Reproduktion eine immense Bedeutung haben (1.2). Der Blick auf diese häufig übersehenen Bereiche der heutigen Reproduktion verweist dabei auf die in „subsistenzwirtschaftlichen“ Bereichen gegebene Existenz von anderen als den durch die Geldwirtschaft geprägten Einstellungen und sozialen Handlungslogiken. Diese werden (in der Alltags- und politischen Praxis ebenso wie in den Wissenschaften) ebenfalls oftmals übersehen. Nach der Auffassung „subsistenzwirtschaftlich“ orientierter postmonetärer Ansätze gilt es jedoch, sie herauszuarbeiten und zu verallgemeinern, d. h. zur Grundlage der Reproduktion auch der heute (noch) monetär organisierten Bereiche zu machen (1.3). Aufbauend auf dieser grundsätzlichen Verortung postmonetären Wirtschaftens gebe ich im zweiten Abschnitt einen systematischen Überblick über gegenwärtige Ansätze postmonetären Wirtschaftens, also jene Ansätze, die gezielt versuchen, geldlose Praktiken der Reproduktion auszuweiten (2). Hierbei gehe ich zunächst auf die spezifischen zeitgenössischen Voraussetzungen der Entwicklung solcher Ansätze ein (Stichwort: „Postmoderne“), um die Vielfältigkeit ihrer gegenwärtigen Ausprägungen zu verstehen. Anschließend wird versucht, anhand der Differenzierung unterschiedlicher Grade der Arbeitsteilung eine Schneise ins Dickicht der vielen Ansätze zu schlagen (2.1). Vor diesem Hintergrund stelle ich einige ausgewählte Ansätze in der jeweiligen Richtung exemplarisch dar, wobei ich hier auch problematische Aspekte berücksichtige, wie sie in den Debatten vorgebracht werden (2.2). Den Abschluss bildet ein Ausblick auf mögliche Entwicklungsperspektiven postmonetärer Ansätze (3). Entsprechend dem Anspruch, eine überblicksartige, in das Thema einführende und die Beiträge des Bandes einleitende Studie durchzuführen, geht es mir bei
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der nachstehenden Darstellung v. a. darum, ein Gesamtbild des Feldes zu zeichnen. Die Darstellung geht dementsprechend im Zweifelsfall eher in die Breite als in die Tiefe; die Zeichnung des Gesamtbildes erfolgt in groben Linien. Vieles, das einer detaillierten Betrachtung zu unterziehen wäre, kann nur angerissen werden und muss kursorisch bleiben.5 Das gilt auch für die angeführte (Fach-)Terminologie.
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Mit Geld und ohne Geld: gestern – heute – morgen Seit Jahrhunderten suchen Forscher mittlerweile nach die sem sagenhaften Land des Tauschhandels – alle ohne Erfolg. David Graeber
1.1 Das Geld als Sonderform der Ökonomie In den Wirtschaftswissenschaften und der Soziologie wurden und werden oftmals universalistische Aussagen über das wirtschaftliche Leben der Menschen gemacht: allgemeine Annahmen über die Rationalität des wirtschaftlichen Handelns („Homo oeconomicus“) genauso wie Annahmen über allgemeine wirtschaftliche Praxisformen (Tausch) sowie Struktur- oder Funktionsprinzipien der Wirtschaft (Arbeitsteilung, „Wirtschaft als Kommunikation von Knappheit“ oder „Anpassung der Gesellschaft an die Umwelt“). Solche Universalisierungen suggerieren stets, dass heute dominierende wirtschaftliche Einstellungen und Organisationsformen völlig „normal“, gar: „natürlich“ sind – und dass es somit anders, als es ist, eigentlich gar nicht sein kann. Doch solche Universalisierungen werden in der gegenwärtigen Forschung auf vielfältige Weise kritisiert und widerlegt, wodurch sich die Perspektive eröffnet, dass es doch auch ganz anders sein könnte, dass also Menschen bei der Reproduktion ihres Lebens auch ganz anderen Orientierungen folgen und sich ganz anders organisieren könnten, als sie es heute tun.6 Dies gilt auch für das in der heutigen Wirtschaft zentrale Phänomen des Geldes sowie für seine wissenschaftliche Behandlung. Auch sie werden zunehmend kritischer Forschung unterzogen, wobei sich aus der kritischen Betrachtung des Geldes auch kritische Sichtweisen auf jene genannten allgemeinen Annahmen 5
Die angeführten Nachweise sind, sofern es sich nicht um wörtliche Zitate handelt, als Belege sowie als Hinweise zur vertiefenden Auseinandersetzung gedacht. Das längere Literaturverzeichnis kann dementsprechend auch als Leseliste oder Orientierung zum Weiterlesen verwendet werden. 6 Siehe zur Kritik an verallgemeinernden Betrachtungen des Wirtschaftens Gibson-Graham (2006a) sowie Polanyi (1977).
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hinsichtlich Rationalität, Organisation und Struktur des wirtschaftlichen Handelns ergeben. So herrschte hinsichtlich des Geldes lange der Glaube vor, es entspringe dem Tausch Ware gegen Ware, um diesen zu vereinfachen, und die Menschen hätten einen „natürlichen Hang“ zum Tausch. Dieser Glaube wird heute zunehmend angezweifelt: ■■ Es liegt heute eine Vielzahl von wirtschaftshistorisch orientierten Studien vor, die zeigen, dass Geld sich geschichtlich nicht aus dem Tauschhandel entwickelt, sondern sich unter spezifischen sozialen, kulturellen und psychologischen Bedingungen als Schuldverhältnis konstituiert hat.7 Geld kann somit auch nicht umstandslos als egalisierendes oder anderweitig emanzipatorisch sich auswirkendes „Medium“ betrachtet werden, wie dies häufig immer noch getan wird, sondern mit seiner Institutionalisierung und Verallgemeinerung sind stets Herrschafts- und Abhängigkeitskonstellationen gegeben. ■■ Die historisch orientierten Gelderklärungen sowie andere einschlägige wirtschaftshistorische Forschungen verdeutlichen zudem, dass Geldgebrauch, insbesondere in seiner heutigen, ubiquitären Form, keine menschheitsgeschichtliche Konstanz aufweist, sondern, blickt man auf die (derzeit als erwiesen geltenden) 160 000 Jahre der Entwicklung des Homo sapiens, ein geschichtlich junges Phänomen ist. Die Entwicklung des Geldes lässt sich hierbei grob wie folgt skizzieren:8 Vor der Entstehung von gemünztem Geld ab ca. 800 v. Chr. existieren verschiedene Formen des nichtmonetären Tausches: ritueller Tausch, Naturaltausch sowie Natural-/Warengeld (letztere seit der Jungsteinzeit, ab ca. 6000 v. Chr.).9 Zwar entwickeln sich im Zusammenhang mit diesen Formen des Tausches zum Teil vielfältige und umfangreiche Tauschbeziehungen, doch bleibt in Gesellschaften, in denen diese Formen des Tauschens vorkommen, der Tausch im Hinblick auf die Reproduktion der Menschen bzw. 7
Siehe hierzu die einschlägigen Untersuchungen von Heinsohn und Steiger, von Martin und von Wray und Graeber. Ausführliche Nachweise dazu sind dem Beitrag von Tobias Aufderheide-Kohl in diesem Band zu entnehmen. Türcke (2015) sowie Brodbeck (2012) argumentieren in ihren ausführlichen historischen Analysen ebenfalls gegen die Herleitung des Geldes aus dem Tausch. 8 Soweit ich sehe, fehlt es bislang noch an einer Darstellung, die das Ausmaß und die Bedeutung von Tausch und Geld bei der menschlichen Entwicklung umfassend rekonstruiert. Ich stütze mich auf Davies (2016); Herrmann (2015c); Boldt-Mitzka (2015); Graeber (2013); Wray (2012); Le Goff (2011); Pirenne (2009); Mikl-Horke (1999); Bleiberg (1995); Crone (1992); Bauer & Matis (1989); Polanyi (1977); Dalton (1971). Informativ ist auch der knappe Überblick bei Impulszentrum Zukunftsfähiges Wirtschaften (o. J.). 9 Dalton (1982) plädiert angesichts der teils strengen Zweckbindung von Natural-/Waren geldern sogar dafür, den Begriff des „Geldes“ hierfür nicht zu verwenden.
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Kollektive insgesamt eher ein Randphänomen. Dies gilt zumindest in der Hinsicht, dass nicht oder nicht überwiegend für den Tausch hergestellt wird, sondern Subsistenz die Basis der Gesellschaften bleibt. So bilden auch Hochkulturen, die noch kein gemünztes Geld verwenden, in der Regel zwar komplexe Tauschbeziehungen aus, doch basieren diese letztlich auf Subsistenz, Naturalabgaben und persönlichen Ausbeutungsverhältnissen. Auch Gesellschaften, die Münzgeld und umfangreiche Handelsbeziehungen entwickeln (China, Lydien/Griechenland, Rom), verwenden dieses Geld insgesamt nur begrenzt. Die Basis bleibt auch hier Subsistenz, und die meisten Menschen bleiben Bauern und/oder Sklaven. Mit dem Ende des Römischen Reichs bildet sich mit der Entwicklung des Feudalsystems der Geldgebrauch in Europa sogar wieder zurück und weitet sich erst allmählich im Verlaufe des Mittelalters wieder aus.10 Erst seit dem 16. Jahrhundert entwickeln sich mit der Verwandlung von Arbeit und Boden in Waren weitreichende geldwirtschaftliche Zusammenhänge („Kapitalismus“). Somit zeigt sich, dass insbesondere die extensive Verwendung des Geldes ein historisch sehr junges Phänomen ist. Die Besonderheit des in diesem Zusammenhang verwendeten Geldes lässt sich aber nicht nur historisch, sondern auch strukturell erschließen. So wird in der sozialwissenschaftlichen Geldforschung der strukturelle Unterschied zwischen vor-kapitalistischem und kapitalistischem Geld in verschiedener Hinsicht deutlich: ■■ Aus der Perspektive der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie wird deutlich, dass das heutige Geld im Unterschied zu allen anderen historisch existierenden Geldern nicht nur „Schuld“, sondern immer schon Kapital ist und dass die Verwendung des Geldes allein in Verbindung mit dem dieser Verwendung zugrunde liegenden, historisch-spezifischen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnis erfolgt: der Ausbeutung von arbeitenden Nichteigentümern durch nicht arbeitende Nur-Eigentümer auf Basis freier Verträge zwischen formal gleichen Rechtspersonen.11 Arbeit und Produktion finden hierbei nicht 10 Le Goff (2011), der die eingeschränkte Bedeutung des Geldes im Mittelalter betont, verweist darauf, dass die Menschen im Mittelalter noch über keinen Begriff von „Geld“ im eigentlichen Sinne verfügen. 11 Siehe für eine aktuelle Marx-Rezeption den Band von Mosley (2005). Marx (1872) spricht vom „doppelt freien Lohnarbeiter“, d. h., der Lohnarbeiter ist frei, Verträge zu schließen, aber zugleich (und immer schon) auch frei von „Produktionsmitteln“. Zu beachten ist hierbei, dass Verträge dann immer schon „Löwenverträge“ (Adorno) sind: Man kann nicht nicht kontraktieren, und man muss mit mächtigen „Partnern“ kontraktieren. Anzumerken ist ferner: Der Begriff der „Ausbeutung“ bezeichnet im Zusammenhang mit dem Lohnarbeits-
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mehr zur unmittelbaren Befriedigung von Bedürfnissen, sondern für den Austausch, d. h. zum Zwecke des Erwerbs bzw. Verkaufs, statt. Sie sind im Hinblick auf ihr Stattfinden überhaupt von der Erfüllung des Erwerbszwecks abhängig und damit letztlich davon, dass aus einer als Kapital eingesetzten Geldsumme mehr Geld wird. Geld verkörpert dabei stets dieses ihm zugrunde liegende Produktionsverhältnis und das damit geschaffene strukturelle soziale Verhältnis des ökonomischen Wertes. Zu betonen ist hierbei: Erst unter der Voraussetzung dieses spezifischen Herrschaftsverhältnisses spielt das Geld erstmals nicht nur eine Nebenrolle bei der Befriedigung von Bedürfnissen, sondern wird der Erwerb von Geld zur allgemeinen (d. h.: allen gemeinsamen) Voraussetzung des Lebens (Polanyi 1977). Erst jetzt bildet sich die Wirtschaft als ein Gesamtzusammenhang, in dem alle Einzelnen (via allgemein gültigem privaten Eigentum, globaler Arbeitsteilung sowie allseitig vergleichbaren Preisen) im Verhältnis zueinander stehen.12 Und erst jetzt müssen und können sich die Menschen allseitig egoistisch und zweckrational zueinander verhalten. ■■ Das (moderne) Geld in seiner Bestimmtheit als Kapital schließt ein, dass Tauschakte als Momente eines Gesamtsystems ineinandergreifender Kapitalkreisläufe stattfinden (Pahl 2008, S. 15 f., S. 152). Dies beinhaltet ein funktionales Verhältnis verschiedener Kapitalformen mit dem Kredit als einem zentralen Bestandteil des Gesamtsystems: Mit der Ausrichtung der Gesellschaft auf den Gelderwerb und der Gebundenheit dieses Gelderwerbs an die Erwirtschaftung von Profiten ergibt sich zwangsläufig die Herausbildung des Kredits verhältnis die gesellschaftliche Produktion und private Aneignung von „Mehrwert“ und ist somit keine ethische Kategorie, die sich auf ein etwaiges überdurchschnittlich „unfaires“ Verhalten des/der Kapitalisten bezieht. 12 Im wirtschaftssoziologischen Kontext wird dieser sich erst im Kapitalismus bildende universelle soziale Zusammenhang von kleinräumigeren Organisationsformen unterschieden: „[W]eder Traditionen und Institutionen, noch Organisationen, Netzwerke oder Macht – reichen hinsichtlich ihres Zeithorizonts sowie ihres Niveaus räumlicher und sozialer Universalisierung auch nur entfernt an den globalen Integrationsgrad geldvermittelter Handlungsketten heran. Soziale Netzwerke können […] nur auf das Verhalten jeweils direkt interagierender Marktteilnehmer einwirken, haben jedoch keinen Einfluß auf das Marktgeschehen, soweit es durch nicht direkt teilnehmende ‚dritte‘, ‚vierte‘ usw. Akteure bestimmt ist. Gerade diese anonymen dritten und sonstigen Teilnehmer sind aber im Marktgeschehen trotz aller Bemühungen um Organisation der Märkte immer und oft in kaum überschaubarer Zahl präsent und verursachen sozial unkontrollierbare Ereignisverkettungen. Wenn die Stimmung an der New Yorker Börse einbricht – so könnte man es pointieren – sind Millionen von Kleinbauern in Indonesien ruiniert, oder Arbeitskosten der deutschen Industrie steigen aufgrund der Verschiebungen der Währungsrelationen auf ein untragbares Niveau. Die Überlegenheit des Geldes über die Sphären der Organisation, der Politik und des Rechts resultiert daraus, daß es im Gegensatz zu letzteren das einzige wirklich ‚globale‘ System darstellt: Es umfaßt nicht nur die ganze Welt, sondern durchdringt sie auch bis in ihren letzten Winkel“ (Deutschmann 2001, S. 132).
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als zentraler Moment des kapitalistischen Funktionszusammenhangs (Heinrich 2003), und sei es nur für grundlegende oder aus Gründen der Konkurrenz zu treffende Investitionen, die nicht aus einer vorhandenen Geldsumme oder allein aus Gewinnen finanzierbar sind. ■■ Das so gegebene besondere, strukturelle Herrschaftsverhältnis beinhaltet ferner die „Verselbstständigung“ „des Ökonomischen“ zu einem gesellschaftlich objektiven Funktionszusammenhang mit einer eigenen „Dynamik“. Die sich mit der Entwicklung des Kapitalismus herausbildende „Anarchie der Warenproduktion“ (Friedrich Engels) führt objektive, von niemandem absichtlich hervorgebrachte, aber als Voraussetzung aller ökonomischen Handlungen gesetzte monetäre Phänomene wie Inflation, spezifische Wachstumsgrößen und Krisen mit sich, die wiederum Ausdruck des zum „automatischen Subjekt“ (Marx) verselbstständigten Kapitals sind.13 Diese „Verselbstständigung“ wird im Handeln und durch dieses hindurch reproduziert.14 ■■ Diese „Verselbstständigung“ des Ökonomischen hat dabei zugleich eine spezifische gesellschaftliche Dimension, die in der Soziologie häufig herausgestellt wird und die noch eine weitere besondere soziale Beschaffenheit der kapitalistischen Gesellschaft ausmacht: Die Ökonomie ist nicht nur als solche, d. h. in Gestalt der nicht beabsichtigten Dynamiken, die aus dem absichtsvollen wirtschaftlichen Handeln der Einzelnen folgen, „verselbstständigt“, sondern sie ist zugleich auch gegenüber „der Gesellschaft“ „verselbstständigt“ bzw. sozio logisch-funktionalistisch formuliert: „ausdifferenziert“ (Habermas 1981; Polanyi 1977). ■■ Dieser geschichtliche Prozess der „Verselbstständigung“ bzw. „Ausdifferenzierung“ der Wirtschaft gegenüber bzw. aus der Gesellschaft erweist sich als äußerst folgenreich: Mit der „Institutionalisierung des Geldmediums“ (Habermas) und der damit einhergehenden „Ausdifferenzierung“ von „Wirtschaft“ und „Gesellschaft“ begibt sich die Gesellschaft insgesamt in einen ökonomischen und soziokulturellen „Blindflug“15: Die (systemische) Entwicklung der Wirtschaft bestimmt nicht bloß die ökonomischen und politischen Handlungsmöglichkeiten, sondern auch die Entwicklung von sozialen Normen und individuellen Identitäten bleibt letztlich gebunden an die „Verwertung des Werts“.16 Diese „Verwertung des Werts“ führt, wie sich historisch zeigt, zu den 13 Siehe zu dieser Form der „anonymen Herrschaft“ auch Elbe et al. (2012). 14 Dies ist ein Kerngedanke der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie sowie der darauf aufbauenden Kritischen Theorie (Horkheimer, Adorno, Marcuse, Neumann). 15 Diese Metapher findet sich bei so unterschiedlichen Autoren wie Robert Kurz, Norbert Bolz und Harald Welzer. 16 Habermas (1981, Bd. 2, S. 232) spricht von einer „Steigerung der Systemkomplexität, die so hypertrophiert, daß die losgelassenen Systemimperative die Fassungskraft der Lebenswelt,
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vielfach ausgewiesenen Dynamiken der „Ökonomisierung“ sowie zu den damit einhergehenden massiven ökologischen, ökonomischen, sozialen und individuellen Verwerfungen und somit schließlich auch zur Frage nach möglichen Alternativen dazu.17 Das kapitalistische Geld erweist sich somit insgesamt nicht nur als historisch besonderes Phänomen, sondern es erweist sich zudem als wesentlicher Bestandteil einer qualitativ neuartigen Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Mit diesen Einsichten in den historischen sowie qualitativ neuartigen Charakter des Geldes stellt sich die im Kontext kapitalismuskritischer Bewegungen zentrale Frage nach ökonomischen Alternativen nunmehr auf spezifische Weise: Zum einen eröffnet sich mit der Einsicht in die historischen Ausprägungen des Geldes der Blick auf viele verschiedene mögliche andere Geldgebräuche und Geldformen. Zum anderen erlaubt die strukturorientierte Perspektive auf das Geld eine kritische Auseinandersetzung mit reformistischen Ansätzen hinsichtlich Wachstum und Geld (und dabei insbesondere heute prominenten ökologisch-wachstumskritischen Reformvorstellungen), zinskritischen Ansätzen sowie Ansätzen, die die Abschaffung der Giralgeldschöpfung anstreben. All diese Ansätze halten an der Vorstellung von Geld als allgemeinem Tauschmittel fest und stehen auf je spezifische Weise vor einem kaum zu lösenden Problem.18 Zentrale Einwände (neben vielen anderen) lauten, kursorisch gefasst: ■■ Wachstum lässt sich nicht ohne Weiteres bremsen oder gar stoppen: Entweder die Wirtschaft wächst oder sie schrumpft chaotisch.19 ■■ Zinsen erweisen sich als wesentliches Element des Funktionierens von Geld als allgemeinem Tauschmittel: kein Zins → kein Profit → kein Tausch.20 ■■ Die Eindämmung oder Abschaffung von Giralgeld ändert per se noch nichts an der Kapitalfunktion des Geldes und vermag so Krisen (und Ungleichheit) kaum zu verhindern.21
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die von ihnen instrumentalisiert wird, sprengen“. Zur grundsätzlichen ökonomischen „Umklammerung“ des Sozialen in der modernen Gesellschaft siehe Schimank (2008). Zur Analyse gegenwärtiger Formen der Ökonomisierung siehe Crouch (2017); Brown (2015); Sandel (2012). Zur Herausbildung von „multiplen Krisen“ siehe u. a. Cairó-i-Céspedes & Castells-Quintana (2016); Demirovic et al. (2011); Fotopoulos (2005). Einige grundlegende Argumente gegen verschiedene Ansätze der Geldreform finden sich bei Busch (2016); Weber (2015); Exner (2014); Bierl (2012); Altvater (2012, 2004). Siehe Herrmann (2015a, b); Deutschmann (2008, S. 50 ff.). Siehe Exner (2014); Altvater (2004). Altvater (ebd., S. 35) betont: „Zinsen kann man nicht abschaffen, ohne die kapitalistische Gesellschaft zu überwinden“. Siehe Weber (2015).
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Geht man davon aus, dass die Einwände gegen reformistische Vorstellungen zutreffen, so erscheint es heute plausibel, eher über eine Demonetarisierung der Ökonomie als über Reformen des Wachstumsmodells oder der Geldverwendung nachzudenken. Im Lichte der heute, d. h. im entwickelten Kapitalismus der Gegenwart, gegebenen Differenzierung von Lebensweisen schließt sich dabei aber die Frage an: Wie kann eine demonetarisierte, d. h. postmonetäre Ökonomie aussehen ? Welche Formen der Handlungskoordination und der sozialen Organisation lassen sich unter heutigen Bedingungen denken, wenn das Geld wegfällt oder nur noch eine Nebenrolle zu spielen vermag ? Bevor es um mögliche Antworten, die auf diese Fragen gegeben werden, geht, muss m. E. zunächst noch auf einen weiteren Aspekt der Besonderheit bzw. Begrenztheit des Geldes als Praxisform des wirtschaftlichen Handelns eingegangen werden: Der ausgewiesene monetär angetriebene und monetär organisierte menschheitsgeschichtlich einzigartige „Blindflug“ darf nicht, wie dies in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften häufig geschieht, darüber hinwegtäuschen, dass die Durchsetzung und Aufrechterhaltung des „verselbstständigten“ „Systems“ immer schon mit einer Vielzahl nichtmonetärer Praktiken einhergeht.
1.2 Kapitalismus und nichtmonetäre Reproduktion Die Phänomene der Monetarisierung, im Grundsatz von Arbeitskraft und Boden sowie ferner in Gestalt der fortschreitenden „Kommodifizierung“ aller möglichen Bedürfnisse, sind nur eine Seite der kapitalistischen Entwicklung: Bei genauerer Betrachtung erweist sich das moderne Produktionssystem immer schon als Einheit von monetären und nichtmonetären Praxisformen.22 Dies impliziert Verschiedenes: ■■ Das „System“ der „Verwertung des Werts“ beruht auf und erhält sich mittels zum Teil brutalster Gewalt. Dies beinhaltet die gewaltsame Aneignung von Räumen und „Ressourcen“ ebenso wie die Versklavung und Ausbeutung von Menschen, v. a. im „globalen Süden“.23 In diesem Zusammenhang gilt es auch nicht zu übersehen, dass Kapitalismus nur funktionieren kann, wenn ausbeutbare, d. h. qualifizierte sowie arbeitswillige Arbeitskräfte zur Verfügung stehen (Heide 2009, S. 11 ff., 2007a, S. 39 ff.). Diese Voraussetzungen mussten und 22 Es ist hierbei von vornherein klarzustellen, dass die im Folgenden aufgeführten nichtmonetären Praktiken nicht zwangsläufig Perspektiven für eine alternative Gesellschaft beinhalten. 23 Gerstenberger (2017); Brandt & Wissen (2017); Reinhard (2016); Hartmann (2016); Lessenich (2016); Chomsky (2001); Davis (2005); Harvey (2005); Chossudovsky (2002).
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müssen ebenfalls zum Teil mit äußerster Brutalität hergestellt werden (Heide 2009; Kurz 1999). Auch das moderne Schulsystem lässt sich noch als Ausdruck der gewaltförmigen Herrichtung arbeitswilliger und -fähiger sowie in die gegebenen „Funktionen“ der Arbeitsteilung passender Menschen begreifen (Huisken 2016). ■■ Im Kapitalismus werden Frauen durch unbezahlte Hausarbeit und Versorgung sowie Erziehung der Kinder ausgebeutet, indem sie mit ihrer häuslichen Arbeit für die Herstellung und Reproduktion der „Ware Arbeitskraft“ bzw. des „Arbeitsvermögens“ sorgen, womit i. d. R. auch Unterdrückungsformen durch die Ehemänner einhergehen (Bauhardt 2015, 2012). Dieser Bereich der sogenannten „sozialen Reproduktion“ beinhaltet im Wesentlichen gesellschaftlich gering geschätzte bzw. als selbstverständlich angesehene „Hausarbeit“ bzw. „Care-/Sorgearbeit“. „Care-/Sorgearbeit“ schließt zudem die Versorgung von „Alten“ und „Kranken“, also von nicht (oder nicht mehr) arbeitsfähigen Menschen, ein.24 Die Arbeit, die hier geleistet wird, bildet einen erheblichen Teil des Volumens der insgesamt in der Gesellschaft geleisteten Arbeitszeit: „Der Umfang der Reproduktionsarbeit betrug in der BRD im Jahre 2001 mit einem Gesamtvolumen von 96 Mrd. Stunden das 1,7-fache der insgesamt 56 Mrd. Stunden Erwerbsarbeit […]. Diese Arbeiten wurden zu 61 % von Frauen erbracht […]“ (Winker 2015, S. 19).25 Und es wird diesen offiziellen statistischen Befunden kritisch-ergänzend hinzugefügt: „Das hier genannte Ausmaß der Reproduktionsarbeit unterschätzt den tatsächlichen Umfang, da sich diese Studie auf Haus- und Sorgearbeit im engeren Sinn konzentriert; viele Aufgaben im Bereich der Bildung und der Gesundheit sind nicht erfasst. So werden Haus- und Gartenarbeit, Kochen und Spülen, Wohnungsreinigung, Wäsche, Tierund Pflanzenpflege, Einkaufen und Haushaltsorganisation, Betreuung und Pflege von Kindern und von erwachsenen Haushaltsmitgliedern sowie ehrenamtliche Tätigkeiten einbezogen. Nicht einbezogen sind jedoch Tätigkeiten wie das lebenslange Lernen oder die Aufrechterhaltung der körperlichen Fitness, die immer mehr Bedeutung gewinnen, um als Lohnarbeiter_in tätig bleiben zu können“ (ebd.).
Mit Blick auf die weltweite quantitative Ausprägung der Reproduktionstätig keit gehen selbst grobe Schätzungen von einem erheblichen Anteil der erfassten „reproduktiven“ Tätigkeiten aus: „Nach Schätzung von Wissenschaftlerinnen
24 Es sollte m. E. besser von „Tätigkeit“ statt von „Arbeit“ gesprochen werden, um die unentgeltliche Form dieses Handelns deutlich zu machen. 25 Aktuelle Daten siehe unter Statistisches Bundesamt (2015a, b).
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machen die vorwiegend von Frauen geleisteten Sorge-, Pflege-, Erziehungs-, Haushalts- und Subsistenzarbeiten global zwei Drittel aller Tätigkeiten aus. Das ist der grösste Oikonomia-Sektor auf Erden !“ (Scheub 2015, S. 11). ■■ Der Blick auf die „soziale Reproduktion“ eröffnet eine weitere Perspektive auf nichtmonetär organisierte Formen des Lebens im Kapitalismus: die der sogenannten „Subsistenz“.26 Diese bezeichnet ganz allgemein die vorfindlichen nichtmonetären Praxisformen: „Unter Subsistenz wird selbstversorgende Eigenarbeit verstanden. Subsistenzwirtschaft muss […] nicht individuell oder familiär organisiert sein, es könnte sich auch um ganze Regionen handeln. Dies schließt Vernetzung mit ein. Wesentliches Kriterium […] ist, dass die Erarbeitung des Lebensunterhaltes nicht geldvermittelt erfolgt, und dass eine gegenseitige Bereitstellung der Mittel zum Leben weitgehend ohne Tausch vor sich geht“ (Habermann 2009, S. 32).
„Soziale Reproduktion“ im engeren Sinne bildet somit einen Bereich der „Subsistenz“, „Subsistenz“ geht aber auch darüber hinaus. Zu ihr gehören auch die Formen bäuerlicher Selbstversorgung im „globalen Süden“ sowie die „subsistenzwirtschaftlichen“ Formen in den Städten (v. a. des „globalen Nordens“), die zum Teil über den häuslichen/familiären Bereich hinausgehen: „Über 30 Prozent der Weltbevölkerung leben noch unmittelbar von der Natur, d. h. sie stellen relativ viele Güter des eigenen Bedarfs und des lokalen Gemeinschaftsbedarfs selbst her, erzielen aber auch Überschüsse an Produkten und Diensten, mit denen sie über lokale Märkte ihr Umfeld versorgen. Das ist die ländliche Subsistenzwirtschaft. […] Von ebenso großer Bedeutung ist die städtische Subsistenzwirtschaft. Sie besteht aus Haushalts- und Familienarbeit, Eigenproduktion von Gebrauchsgütern und Reparaturarbeiten bis hin zum Selbstbau des eigenen Hauses, Nachbarschaftshilfe, Vereinsarbeit und ehrenamtlichen Tätigkeiten in der Versorgung mit Gemeinschaftsgütern, aber auch aus Gartenarbeit und privater Kleintierzucht. Weltweit wird in den Städten in beträchtlichem und wachsendem Ausmaß zur Selbstversorgung Gemüse angebaut und Geflügel und Kleintiere gehalten. Urban subsistence ist zu einem neuen Schlagwort geworden“ (Scherhorn et al. 1999, S. 1).27
26 Zu Ausprägung und Umfang von „Subsistenz“ im Kapitalismus siehe ausführlich BoldtMitzka (2015, S. 17 ff.). 27 Zur „urbanen Subsistenz“ siehe Dahm und Scherhorn (2008).
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Auch hier wird ein sehr hoher Anteil der nichtmarktförmigen Tätigkeiten an den bundesdeutschen bzw. weltweiten Tätigkeiten insgesamt ausgewiesen: „Für Deutschland hat das Statistische Bundesamt berechnet, dass auf die Subsistenzarbeit insgesamt annähernd zwei Drittel aller Arbeitsstunden entfallen; die Berufsarbeit nimmt nur das restliche Drittel ein. In anderen Industrieländern ist es ähnlich. Rechnet man die Länder mit noch größerem Subsistenzanteil ein, so sind weltweit höchstens ein Fünftel aller Arbeitsstunden bezahlte Arbeit“ (ebd.).
■■ Zu finden sind zudem weitere geldlose Praktiken der Reproduktion, die wie die Formen der „Subsistenz“ im engeren Sinne ganz alltäglich sind: das Naturaltauschen, einem Anderen etwas schenken, leihen oder ihm einen Gefallen tun, Dinge teilen bzw. gemeinsam nutzen.28 Diese Praktiken können im Unterschied zur „Subsistenz“, die immer als Aufwand von Arbeitszeit betrachtet und bemessen werden kann, kaum sinnvoll quantifiziert werden. Die sich so insgesamt herausstellende Vielfalt von Formen der wirtschaftlichen Reproduktion kommt auch im Bild des wirtschaftlichen „Eisbergs“ zum Ausdruck, das dem sichtbaren, d. h. herkömmlich mit Arbeit und Wirtschaft überhaupt identifizierten Bereich die häufig übersehenen nichtmonetären sowie ferner informellen Formen des Wirtschaftens qualitativ und quantitativ prägnant gegenüberstellt (siehe Abb. 1). Nichtmonetäre Praktiken sind dabei nicht nur in Form von Strategien der gewaltsamen Aneignung, der „sozialen Reproduktion“, der „Subsistenz“ im weiteren Sinne und anderen solidarischen bzw. altruistischen Beziehungen zu finden, sondern sind selbst noch ein selbstverständlicher Bestandteil von „Marktlogik“ und Unternehmensorganisation: ■■ Im Kontext von Debatten über „Ökonomisierung“ etc. ist zu berücksichtigen, dass kapitalistische Expansion auch Formen des Verschwindens geldförmiger Reproduktion mit sich bringt: Ehemals monetär organisierte Bereiche werden im Laufe der Zeit nicht mehr oder in geringerem Maße monetär organisiert, dann etwa, wenn es sich aus wirtschaftlicher oder politischer Sicht nicht mehr lohnt. Folgen solcher Entscheidungen sind Arbeitslosigkeit und Einkommenseinbußen. Für die Betroffenen bedeutet dies, dass sie Dinge, die sie vorher kaufen konnten, nunmehr mitunter überhaupt nicht mehr erwerben
28 Das ist auch den Darstellungen der Vielfalt ökonomischer Praxisformen bei Gibson-Graham (2008, o. J.) sowie Gudeman (2001) zu entnehmen.
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Abbildung 1 Das Eisbergmodell der modernen Ökonomie
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paid wage labour production for markets capitalist business
not for market not monetized under-the-table
in neighborhoods on the street informal lending volunteering in schools in church/temple
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Quelle: Gibson & Langdorn (2013)
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gifts friends favours retirement children’s labour
bartering consumer cooperatives self-provisioning
self-employment producer cooperatives moonlighting non-capitalist firms illegal unpaid
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können oder wieder selbst herstellen müssen (selbst putzen statt Haushaltshilfe, selbst kochen statt Restaurant oder Fertiggericht usw.). Bemerkenswert scheint hier: Nicht nur das Nichtmonetäre ist ein absolut normaler Zustand, sondern auch das Verschwinden des Monetären erweist sich als völlig normaler Vorgang.29 ■■ Sehr häufig wird in Debatten über die Natürlichkeit und Vorteile des Tauschens ausgeblendet: In den „für den Markt“ produzierenden kapitalistischen Unternehmen wird nicht getauscht, sondern geplant (Chang 2012, S. 266 ff.). Gegeben sind mitunter komplexeste arbeitsteilige Prozesse, die hierarchisch oder pseudo-marktförmig organisiert werden. Die „Steuerung“ der Unternehmen ist dabei heute oft informatisiert, ebenso die Arbeits-/Produktionsprozesse. ■■ Zu verzeichnen ist eine Tendenz, Arbeitsschritte aus Unternehmen unentgeltlich an Konsumenten auszulagern („Arbeitender Kunde/Konsument“) (Rieder & Voß 2010). Hierfür lässt sich eine Vielzahl von Beispielen anführen: Selbstbedienung in der Gastronomie, Kassenautomaten (in Supermärkten, an Tankstellen, in Bahnhöfen), Durchführung von Software-Updates, Konfiguration von individualisierten Produkten im Internet u. v. a. m. Insgesamt lässt sich somit sagen: Die Durchsetzung und Aufrechterhaltung der „Marktwirtschaft“ erweist sich bei genauerer Betrachtung als ein in sich gegenläufiges Geschehen, als Einheit verschiedenartiger monetärer und nichtmonetärer Praktiken und Beziehungen.30 Das „System“ verdankt seinen Bestand hierbei auch der direkten, d. h. nicht wertförmigen, sondern gewaltsamen Aneignung von (natürlichen) „Ressourcen“ sowie der direkten, d. h. nicht wertförmigen, sondern persönlichen Ausbeutung von Menschen. Auch die verschiedenen und sehr umfänglich vorhandenen Formen der „Subsistenz“ erweisen sich als wesentliche oder wichtige Beiträge zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen „Systems“. Sie sorgen für die Herstellung der „Produktionsbedingungen“: von der Arbeitsfähigkeit über die „soziale Integration“ bis hin zur Abfederung wirtschafts-/wachstumsfreundlicher Sozialpolitiken und wirtschaftlicher Krisen (Boldt-Mitzka 2015, S. 12 f.). Letztlich ist das „System“ nicht einmal immanent konsequent monetarisiert, viel-
29 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es sich hierbei nicht lediglich um temporäre Effekte handelt, die vom Markt zeitnah geregelt werden (können). Vielmehr liegt ein dauerhaftes strukturelles Phänomen vor, d. h.: Im Kapitalismus wird permanent aus systemischen Gründen Arbeitslosigkeit hervorgebracht. Dabei ist Arbeitslosigkeit aus unternehmerischer Sicht durchaus ein nützliches Phänomen, da die Existenz einer „Reservearmee“ (Marx) wie ein Damoklesschwert über jeder Lohnverhandlung schwebt. 30 Das Autorenkollektiv Gibson-Graham (o. J., 2008) spricht angesichts dieser Ausprägung der gegenwärtigen Wirtschaft auch von „Diverse Economies“.
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mehr wird bei der Reproduktion von Unternehmen in vielfacher Weise dekommodifiziert und geplant. In der Debatte über „ökonomische Alternativen“ wird dem Bereich der „Subsistenz“ eine besondere Bedeutung beigemessen: Dieser wird hier nicht nur als wichtiges Moment der Aufrechterhaltung des „Systems“ betrachtet, sondern auch als Ansatzpunkt für die Entwicklung einer (ganz) anderen Ökonomie gesehen. Hierauf gilt es, mit Blick auf die Frage nach der Verfasstheit postmonetärer Ökonomie näher einzugehen.
1.3 „Subsistenz“: Eine andere „soziale Logik“ ? Die „Logik“ des Denkens, Handelns und Fühlens innerhalb des kapitalistischen Reproduktionszusammenhangs lässt sich an verschiedenen sozialen Beziehungsformen und Handlungsorientierungen des Einzelnen festmachen: an Konkurrenzverhältnissen und strategischen Einstellungen der Menschen zueinander, an der Orientierung an abstrakten Werten (Geld), an den Ideologien und Praktiken der Naturbeherrschung, an der Unterordnung des Denkens, Handelns und Fühlens unter allgemeine „Sachzwänge“ (oft inkl. der Erfahrung der eigenen Ohnmacht) sowie an der Gleichgültigkeit gegenüber den ökonomischen, ökologischen, sozialen und teils sogar individuellen Folgen des eigenen bzw. kollektiven Handelns bis hin zur Bereitschaft, pure Gewalt (gewaltsame Aneignung von Räumen und Ressourcen, Versklavung, Krieg) zum Erreichen der eigenen Ziele anzuwenden. Alternative Sichtweisen machen nicht nur, wie gesehen, deutlich, dass die Ausweitungen der genannten Einstellungen einen spezifischen historischen Charakter haben, d. h. Produkte des Kapitalismus sind, und dass die Identifikation von Kapitalismus und Tausch ideologisch ist, sondern in den Debatten über „Subsistenz“ wird darüber hinaus darauf verwiesen, dass der Bereich der „sozialen Reproduktion“ bzw. „Subsistenz“ anderen als den im Kontext von Märkten und betrieblicher Organisation dominanten und diesen entgegengesetzten Handlungsorientierungen folgt.31 Genannt wird hier eine Vielzahl von Aspekten:32 ■■ Orientierung an Bedürfnissen statt Orientierung an abstraktem Reichtum (Geld) 31 Boldt-Mitzka (2015, S. 18) hält es angesichts dessen sogar für erforderlich, eine dem erheblichen Umfang sowie der „anderen Logik“ der „Subsistenz“ Rechnung tragende neue, umfassendere Theorie der „Modernisierung“ zu entwickeln. 32 Ich trage diese Aspekte zusammen aus Bennholdt-Thomsen (2011, 2010, 2006); Dahm & Scherhorn (2008); Mies (1994).
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Kooperation und gegenseitige Hilfe statt Konkurrenz und Stratifizierung Teilen statt Tauschen Kommunikation statt Anonymität Achtsamkeit und Pflege statt bedenkenlosem Gebrauch Leben-und-Leben-Lassen statt Auf-Kosten-anderer-Leben Genügsamkeit statt Maßlosigkeit „Intrinsische Motivation“ statt „extrinsischer Motivation“ (Geld, strukturelle Zwänge) ■■ Anerkennung der Würde des Anderen statt rücksichtsloser Durchsetzung egoistischer Interessen ■■ Einfühlsamkeit/Fürsorge statt Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen Diese qualitativ andere, dem Denken, Handeln und Fühlen innerhalb des kapitalistischen Tausch- und Produktionsprozesses gegensätzliche „Logik“ der „Subsistenz“ ist auch und schon immer da. Sie ist älter als der Kapitalismus und die mit ihm sich entwickelnden Denk-, Fühl- und Handlungsweisen. Doch existiert sie innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft prinzipiell keineswegs unvermittelt, ist sie doch immer schon in den kapitalistischen Tausch- und Produktionsprozess eingebunden und damit abhängig von diesem und in ihrer Wirksamkeit (strukturell) eingeschränkt (Boldt-Mitzka 2015). Hinzu kommt, dass die „andere Logik“ der „Subsistenz“ nicht per se mit „Emanzipation“ gleichgesetzt werden kann: Sie entfaltet sich genauso in gleichberechtigten Beziehungen zwischen Männern und Frauen wie in queeren und patriarchalen Formen des Zusammenlebens. Sie ist dabei auch nicht und war nie an spezifische Geschlechtsidentitäten gebunden – dies ist gegenüber „essentialistischen“ feministischen Sichtweisen, die die „andere Logik“ allein Frauen zuschreiben, zu betonen.33 „Subsistenzwirtschaftliche“ Ansätze fordern, diese „andere Logik“ zur Grundlage des Wirtschaftens überhaupt zu machen, d. h. auch den heute (noch) monetär organisierten Bereich gemäß „subsistenten“ „Logiken“ zu reorganisieren (Impulszentrum Zukunftsfähiges Wirtschaften o. J., S. 26 f.).34 Damit plädieren sie häufig (wie viele andere, nicht dezidiert „subsistenzwirtschaftlich“ argumentierende alternative Ansätze auch) für die Rückkehr zu eher „einfachen“ Lebensweisen.35 Sie 33 Zur Kritik am öko-feministischen „Essentialismus“ siehe Bauhardt (2012, S. 9 f.). 34 Auch das Autorenteam Gibson-Graham (2008, 2006a, b) sieht in den vielfältigen neben den im engeren Sinne kapitalistischen Formen des Wirtschaftens existierenden solidarischen Praxisformen einen Ansatz zum Aufbau postkapitalistischer Wirtschaftsformen. Nach Mies (2003) soll der Tausch/Markt im Rahmen zukünftiger „Subsistenzwirtschaft“ bestenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. 35 Siehe exemplarisch Bennholdt-Thomsen (2015, 2010).
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unterscheiden sich damit deutlich von einer Vielzahl anderer Ansätze der gegenwärtigen Debatte um die Entwicklung einer postkapitalistischen, bedürfnisorientierten und im weitesten Sinne „solidarischen Ökonomie“, die an der entwickelten Arbeitsteilung und der damit verbundenen Lebensweise festhalten und die Entwicklung elaborierter technologischer Verfahren, mittels derer komplexe arbeitsteilige Zusammenhänge der Herstellung und Verteilung geldlos organisiert werden könn(t)en, ins Zentrum ihrer Bemühungen stellen. Mit dem Hinweis auf dieses Spannungsverhältnis ist das Feld der gegenwärtig zu verzeichnenden diversen postmonetären Ansätze grob umrissen. Im Folgenden geht es darum, einen genaueren Über- und Einblick über bzw. in dieses Feld zu gewinnen.
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Kulturen des Postmonetären – Ein Blick durchs postmonetäre Kaleidoskop Das unbestrittene Kennzeichen und Grundprinzip ei ner demonetarisierten Wirtschaft jedenfalls ist eine Produktion36 für den Gebrauch anstelle des Profits. Andrea*s Exner, Justin Morgan, Franz Nahrada, Anitra Nelson & Christian Siefkes
2.1 Von der postmodernen zur postmonetären Gesellschaft Die Entwicklung von geldlosen Lebensweisen lässt sich aus gesellschaftstheoretischer Perspektive als gesellschaftliche Entdifferenzierung begreifen. Mit Habermas gesprochen: Das „verselbstständigte“ ökonomische „System“ wird in die „Lebenswelt“ („Gesellschaft“) zurückgeholt, und infolgedessen müssen neue, über die bereits existierenden verschiedenen Formen der „Subsistenz“ hinausgehende Formen der „Herstellung“ und „Verteilung“ gefunden und etabliert werden. Was überhaupt hergestellt wird, wie es hergestellt und verteilt wird, hängt nicht mehr wie in der Warenproduktion von privaten Entscheidungen unter der Form des Geldes und seiner objektiven, krisenhaften Dynamik ab, sondern ist nunmehr Gegenstand einer vom „stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse“ (Marx) befreiten gemeinschaftlichen Entscheidung.37 36 Richtig wäre m. E. „Herstellung“. 37 Diesen Gegensatz hat Marx im Kapital im Abschnitt über den „Fetischcharakter der Ware“ hervorgehoben. Die Verteilung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit auf die verschiedenen Produktionszweige erfolgt im „Verein freier Menschen“ im Gegensatz zur „Anarchie der Wa-
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Die heutige Entwicklung von Ansätzen der bewussten Gestaltung der „ökonomischen Reproduktion“ findet unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen statt, im Kern: unter der Voraussetzung einer historisch herausgebildeten „postmodernen“ „Kultur“.38 Diese ist Ausdruck der Auflösung der „fordistischen Massengesellschaft“, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, und umfasst verschiedene Aspekte, wie … ■■ … die sukzessive Auflösung von „Statusorientierungen“ durch die Etablierung „postmaterieller Werte“, im Zuge derer „Erfüllung“ und „Glück“ nicht mehr primär oder gar ausschließlich vom ökonomischen Erfolg abhängig gemacht werden. ■■ … die Auflösung bürgerlich-konservativer, auch von der verbürgerlichten Arbeiterbewegung lange geteilter Ideologien (patriarchale Geschlechterrollen, Glaube an Hierarchien, Ideal der Kleinfamilie, Bedürfnis nach Vereinzelung). ■■ … die Kritik am Konsumismus und damit einhergehend jene an der Massenproduktion (v. a. mit Blick auf deren ökologische und soziale Folgen). ■■ … die Kritik an der „Wachstumsideologie“, die ihre Versprechungen von Freiheit und Wohlstand für alle nicht zu halten vermag und sich zunehmend als sozial und ökologisch zerstörerisch erweist. ■■ … die Anerkennung der Legitimität sowie (infolgedessen) die „Re-Etablierung“ indigener Lebensweisen im Zuge der Herausbildung antikolonialer Bewe gungen wie auch im Zuge der Selbstrelativierung eurozentristischer Weltbilder. ■■ … die Wiederentdeckung und Anerkennung der Legitimität traditioneller Wissensbestände und deren Weiterentwicklung im Zuge v. a. des Erkennens der Unmöglichkeit objektiven Wissens (aber auch im Zuge des Erkennens der Destruktivität der vermeintlich „fortschrittlichen“ naturwissenschaftlichen Technologie). ■■ … die Entwicklung neuer („alternativer“) Weltbilder, Technologien, Identitäten und sozialer Beziehungsformen (ebenfalls im Sinne der zuvor genannten Relativierungen). ■■ … das Bedürfnis nach „basisdemokratischen“ Verfahren. ■■ … allgemein: die Anerkennung unterschiedlicher Bedürfnisse, Kulturen und Lebensweisen.
renproduktion“ (Engels) im Kapitalismus planvoll und ist somit den Menschen durchsichtig (Marx 1872, S. 92 f.). 38 Zur Darstellung der wesentlichen Aspekte der „Postmoderne“ siehe Zima (2016).
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Zu betonen ist dabei: Diese postmodernen Aspekte existieren in der Regel keines wegs im Sinne einer allgemeinen Gegentendenz, sondern das („fordistisch“) Eta blierte bleibt weiterhin erhalten, und meist sind die verschiedenen bürgerlichkonservativen und „alternativen“ Elemente auch durchmischt.39 Genauer: Die Übersetzung gegenkultureller Bewegungen in neue Verwertungsstrategien wird geradezu zur Signatur des neoliberalen Kapitalismus.40 So ergibt sich für die „postfordistische“, d. h. neoliberale Phase insgesamt das Bild einer ebenso stark differenzierten wie ambivalenten Gegenwartsgesellschaft, die schließlich auch den sozialen Hintergrund der Entwicklung neuer postmonetärer Ansätze bildet. Gegenwärtige postmonetäre Ansätze, seien sie nun eher praktisch oder eher theoretisch orientiert, starten somit von sehr verschiedenen Ausgangspunkten, und es bietet sich ihnen vor dem postmodernen Hintergrund eine geradezu gigantische Menge von möglichen historischen Bezugspunkten im Hinblick auf die Entwicklung von Bedürfnissen, Formen der Arbeitsteilung und Verteilung, Formen der Entscheidungsfindung und Konfliktlösung und nicht zuletzt von sozialen Wertorientierungen und kulturellen Überzeugungen (Weltbildern). Diese Bezugspunkte werden (wie sich bei der Sichtung des Gegenstandes gezeigt hat) in der Praxis auch gewählt und auf verschiedene Weise kombiniert, sodass gegenwärtig eine bemerkenswerte Vielfalt von Ansätzen zu verzeichnen ist. Dies umfasst auf den verschiedenen genannten Ebenen je ein breites Spektrum von Denk- und Handlungsformen: ■■ Auf der Ebene der Bedürfnisse: von „Minimalismus“ und Naturnähe über deutlich entwickeltere, aber „genügsame“ Bedürfnisorientierungen bis hin zur globalen Fortschreibung des modernen („hedonistischen“ und „konsumistischen“) Lebensstils (Verfügung über viele, differenzierte und komplexe Dinge). ■■ Auf der Ebene der Herstellung: von „primitivistischen“ Lebensweisen über kleinräumige Low-Tech-Herstellung (mit zum Teil sehr unterschiedlichen Konzepten) bis hin zur globalen High-Tech-Herstellung (mit und ohne modernes Arbeitsethos) sowie (darüber hinausgehend) bis hin zur im Hinblick
39 In der Soziologie wird eine gesellschaftlich dominant gewordene „Wertsynthese“ aus „traditionellen“ und „fortschrittlichen“ Wertorientierungen konstatiert (Keupp 2002; Klages 1993). Als extreme gegenwärtige Beispiele hierfür ließen sich nennen: Konservative oder gar rechte Ökos, (queer)feministische Karrierist_innen; „Lohas“, die mit ihrem SUV o. Ä. weite(re) Strecken in Kauf nehmen, um „gesunde“ und „Fair-Trade“-Produkte zu kaufen, deren ÖkoBilanz wiederum oftmals fragwürdig ist; „Punks“, die massenkulturelle Pop-Produkte konsumieren und in Kleinfamilien leben. 40 Siehe dazu Castells (2017); van Dyk (2009); Meyer (2007); Boltanski & Chiapello (2006); Hardt & Negri (2002, S. 283 ff.); Barbrook & Cameron (1997).
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auf Formen der Technologie und Arbeitsteilung (sowie Lebensweisen im Allgemeinen) offenen „Netzwerk“-Herstellung. Auf der Ebene der Verteilung: von Konzepten des Schenkens, des Beitragens und gegenseitiger Hilfe über (verschiedene Formen von) Naturaltausch bis hin zum Äquivalententausch (Tausch von „Arbeitszeiten“). Auf der Ebene der Entscheidungsfindung: von basisdemokratischen Verfahren über räteföderale Organisationsformen und gemischte Formen von Staat und Basisdemokratie bis hin zum autoritären Staatskonzept („Experto-“/„Technokratie“). Auf der Ebene des Eigentums: vom (familiären) Kleineigentum über Ge meindeeigentum bis hin zum Staatseigentum und schließlich jenseits der Eigentumsform überhaupt. Auf der Ebene der Gesellschaft bzw. Kultur: von ultraliberalen bis hin zu dogmatisch religiösen bzw. esoterisch gebundenen Lebensweisen und entsprechend von „queeren“ bis hin zu (teils streng) patriarchalen Orientierungen.
In Theorie und Praxis postmonetärer Ansätze werden Aspekte aus den verschiedenen Spektren vielfältig kombiniert, ganz so, als würden die postmodernen Subjekte der postmonetären Transformation durch ein Kaleidoskop sozialer und kultureller Möglichkeiten blicken und dabei je spezifische Bilder fixieren. Diese enorme Vielfalt lässt es zunächst schwierig erscheinen, die vorfindlichen Ansätze überhaupt zu gruppieren. Aus gesellschaftstheoretischer Perspektive ergibt sich jedoch eine Möglichkeit, die Ansätze zu unterscheiden, nämlich anhand der Frage, ob und inwiefern die Ansätze an einem hohen Grad von Arbeitsteilung und Technisierung (wie dies heute, im postmodernen Kapitalismus, gegeben ist) festhalten wollen oder ob und ggf. inwiefern dies nicht der Fall ist. Betrachtet man die verschiedenen Ansätze unter dieser Fragestellung, so ergeben sich drei grundsätzliche Richtungen von Antworten, denen sich die verschiedenen Ansätze zuordnen lassen (und die sich mit Habermas als sukzessive „Steigerung von Systemkomplexität“ begreifen lassen): 1) Arbeitsteilung und Technisierung sollen mehr oder weniger radikal zurückgenommen werden (= Low- und No-Tech-Perspektive). 2) Arbeitsteilung und Technisierung sollen beibehalten und (noch) „effizienter“ gestaltet werden (= High-Tech-Perspektive). 3) Arbeitsteilung und Technisierung sollen pluralistisch gestaltet werden (= Mul ti-Tech-Perspektive). Im Kapitalismus werden Nachfrage und Produktion über das Geld vermittelt. Entfällt dies, ist im Hinblick auf postmonetäre Ansätze zu fragen, auf welche Weise
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sie jeweils die bedürfnisbezogene Herstellung organisieren. Die verschiedenen in postmonetären Ansätzen entwickelten alternativen Formen der Organisation gilt es näher zu reflektieren. Im Folgenden sollen exemplarisch einige der Ansätze der jeweiligen Richtung dargestellt werden. Es geht dabei keinesfalls darum, eine erschöpfende Übersicht zu gewinnen.41 Herausgearbeitet werden sollen vielmehr die verschiedenen sozialen „Grammatiken“ der Ansätze sowie grundsätzliche Probleme, die sich in der jeweiligen Richtung stellen.42 Es werden dabei für jede Richtung drei Beispiele gebracht.
2.2 Paradigmen des Postmonetären 2.2.1 Rücknahme der Arbeitsteilung Gegenwärtig existiert eine Vielzahl von postmonetären Ansätzen, die eine mehr oder weniger weitreichende Rücknahme der Arbeitsteilung beinhalten. Hierbei können drei verschiedene Hauptrichtungen angeführt werden: (a) „Selbstversorger“, (b) „Primitivisten“ und (c) „Kommunen“. (a) Die erste Kategorie der Darstellung ist diejenige, die am verbreitetsten ist und die sich der größten öffentlich-medialen Aufmerksamkeit erfreuen kann: Gegenwärtig gibt es eine Vielzahl von Menschen, die versuchen, (zeitweise oder dauerhaft) aus dem „(Geld-)System“ „auszusteigen“. Sie tun dies aus verschiedenen Gründen: weil sie auf Kapitalismus „keine Lust mehr haben“, weil sie auf der Suche nach sich selbst sind, weil sie sich selbst verwirklichen wollen, weil sie etwas 41 Durch das Internet sind postmonetäre Ansätze (genauso wie die mediale und politische Auseinandersetzung mit ihnen) heute sehr sichtbar, wobei ich überhaupt nur englisch- und deutschsprachige Quellen erschließen konnte. Die im Rahmen der vorliegenden Studie durchgeführten Recherchen haben gezeigt, dass das Feld (allein in diesem beschränkten mir zugänglichen Umfang) eigentlich nicht mehr zu überblicken ist. Ich werde einige der bei der nachfolgenden Darstellung nicht berücksichtigten Ansätze zumindest in Fußnoten erwähnen. 42 Stowasser (2008) spricht (im Kontext der Darstellung seiner Vorstellung von „Anarchismus“) von der zugrunde liegenden (sozialen) „Grammatik“. Siehe auch wiederholt in Stowasser (2007). Auch Habermas (1981, Bd. 2, S. 576) spricht im Kontext seiner Analyse der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ von der „Grammatik von Lebensformen“, an der sich im Zuge der „Ausdifferenzierung von Lebenswelten“ und deren Konfrontation mit etablierten (patriarchalen) Normen soziale Konflikte „entzünden“. Im Kontext der Debatte um „Empire“ und die sich im „Empire“ herausbildenden Gegenkulturen spricht Virno (2005) von der „Grammatik der Multitude“. Gemeint sind stets die wesentlichen sozialen Prinzipien, nach denen sich emanzipatorische Lebensformen organisieren.
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„anderes“ gesellschaftlich voranbringen wollen oder weil sie (schlicht und einfach) die (gesellschaftliche) „Apokalypse“ fürchten.43 Es sind dabei verschiedene Formen des Sich-Entziehens zu finden.44 So gibt es eine Vielzahl von „Selbstversorgern“, die teils als Einzelne oder aber auch in sehr kleinen Gruppen versuchen, unabhängig vom Geld zu leben. Sie suchen sich (v. a. im „globalen Norden“) Nischen, in denen sie für den eigenen Bedarf herstellen. Die Bedürfnisse und Herstellungsweisen unterscheiden sich dabei zum Teil recht deutlich. Einige Beispiele: ■■ Gottfried Stollwerk lebt auf einem Bauernhof, auf dem er eine kleine, an traditionellen kleinbäuerlichen Verfahrensweisen orientierte Hauswirtschaft führt, mit der er versucht, möglichst unabhängig vom Geld zu werden.45 ■■ Jakob Zinkowski lebt in einer Jurte, die er aus teils im Wald gesammelten Materialien gebaut hat.46 (Manchmal wohnt er während des Sommers auch in einem Tipi.) Er nutzt Solar- und Windenergie, heizt mit einem Titanofen (mit extrem hoher Energieeffizienz) und ernährt sich durch „Containern“ (Sammeln weggeworfener Lebensmittel), „Stoppeln“ (Sammeln von Ernteresten auf Äckern), Naturaltausch (Tätigkeit gegen Nahrungsmittel) sowie durch eigenen Anbau. Weitere Dinge organisiert er sich aus „Umsonstökonomie“, Sperrmüll oder Hausabrissen. ■■ Daniel Pike hat sich in einem Wald ein kleines Refugium geschaffen, indem er aus im Wald aufgetriebenen Materialien ein kleines Lehmhaus („Mudhouse“) gebaut hat.47 Er nutzt Solarzellen und ernährt sich (vegan) von Gemüse aus eigenem Anbau, im Wald Gesammeltem sowie aufgestöberten Essensresten. ■■ Rick Austin versteht sich als „Überlebensgärtner“: Weit draußen im Wald entwickelt er gemeinsam mit seiner Frau Jane einen getarnten Garten, der ihr Überleben nach dem gesellschaftlichen „Kollaps“ und damit auch „nach dem Geld“ sichern soll.48 Gemeinsam entwickeln sie ein ausgetüfteltes „System“, das u. a. Elemente von „Permakultur“, Viehzucht und Vorratshaltung verbin43 Mit Letzterem sind die sogenannten „Prepper“ oder „Survivalists“ gemeint. Ein Eindruck dieser Kultur lässt sich gewinnen unter: http://www.prepperwebsite.com. Bei diesen Formen des „geldlosen Lebens“ handelt es sich allerdings eher um ein „Überwintern“ als um einen nachhaltigen alternativen Ansatz. 44 Ich gehe im Folgenden allein auf Ansätze der „Selbstversorgung“ ein. Hingewiesen sei auch auf die in der Bundesrepublik Deutschland bekannten Beispiele für individuelle bzw. kleinfamiliäre Versuche geldlosen Lebens von Schwermer und Fellmer. Siehe Schwermer (2015); Fellmer (2014). 45 Siehe dazu „Der Bauer Gottfried“, In Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Juli 2009, S. 8. 46 Siehe dazu https://www.youtube.com/user/JakobZinkowski. 47 Siehe dazu http://www.mirror.co.uk/news/uk-news/hermit-built-mud-hut-complete-7583117. 48 Siehe dazu http://secretgardenofsurvival.com.
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det. (Ausgetüftelte Gewächshäuser sorgen neben Gemüse für die Beheizung von Holzhaus und Wasser.) ■■ Immer mehr Menschen versuchen sich mit den Mitteln der „Permakultur“ selbst zu versorgen, teils mit alternativ-ökonomischem bzw. transformatorischem Anspruch, teils ohne.49 Ein Beispiel für die gezielte Verbindung von „Permakultur“ und „Schenkökonomie“ sind Mark Boyle und sein „Projekt“ „An Teach Saor“ (Gälisch für „The Free House“), das versucht, sowohl eine kleine Gruppe von Menschen selbst zu versorgen als auch eine geldlose öffentliche Begegnungs- und Kulturstätte aufzubauen.50 Trotz konkreter Unterschiede bei der Gestaltung des Lebens weisen diese Ansätze einige grundsätzliche Gemeinsamkeiten auf: Diese Ansätze der „Selbstversorgung“ sind allesamt „suffizient“. Das heißt: Die Bedürfnisse sind insgesamt (sehr) gering und unterscheiden sich damit deutlich von den bestehenden kapitalistisch geprägten Bedürfnissen, mit Ausnahme des „Prepper“-Paars Austin, das einen eher bürgerlich-modernen Lebensstil zu bewahren versucht. Und diese Ansätze sind (in der Regel) „low-tech“: Verwendet werden keine (komplexen) Maschinen, sondern einfache Werkzeuge, Geräte und Vorrichtungen. Im Hinblick auf ihre soziale „Logik“ sind diese Ansätze (sofern sich mehrere Menschen gemeinsam „selbst versorgen“) häufig recht unreflektiert. Etablierte (und zum Teil in emanzipatorischen sozialen Bewegungen bereits überwundene) patriarchale Identitäten sowie die damit einhergehenden Formen der Arbeitsteilung und Entscheidungsfindung werden unkritisch übernommen.51
49 Siehe mit ausdrücklichem Bezug auf Fragen des „geldlosen Lebens“ die Zeitschrift perma culture. practical solutions for self-reliance (https://www.permaculture.co.uk). 50 „Being the moneyless man, Mark and his team set about creating a free community space where people from all backgrounds (including you !) can meet, attend free workshops and courses, eat and drink, dance and perform music, play table tennis and pool, relax and take some time out, share skills and stories, all without a single penny changing hands. The smallholding and ‚free pub‘ is even built from local, natural and recycled materials !“ (https:// www.permaculture.co.uk/articles/tales-happy-pig-mark-boyles-free-pub). Für den Aufbau der Räumlichkeiten, der mithilfe von Freiwilligen durchgeführt wurde, ist das „Projekt“ allerdings auch auf Geldspenden (ca. 8 000 £) für die Beschaffung von Materialien angewiesen. Mark Boyle lebte zuvor als „Moneyless Man“ ein Jahr lang in einem geschenkten Wohnwagen (mit Solarzellen auf dem Dach für die Stromversorgung), mit Plumpsklo und ohne Toilettenpapier (Zeitungen !) und ernährte sich (vegan) von Gemüse aus eigenem Anbau, im Wald Gesammelten sowie Essensresten. Siehe Boyle (2013, 2012). 51 Im Rahmen der auf „Selbstversorgung“ ausgerichteten „Familienlandsitz“-Bewegung werden heteronormative Beziehungen idealisiert und gefordert, Homosexualität wird ausdrücklich abgelehnt. Siehe dazu NET-Journal 21, Nr. 5/6, Mai/Juni 2016, S. 64 (http://www.borderlands.de/net_pdf/NET0516S62-64.pdf).
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(b) In theoretischen Debatten wird die Position des „einfachen Lebens“ in radikaler Form vom „Primitivismus“ vertreten.52 „Primitivisten“ geht es um eine radikale Abkehr von der „Zivilisation“ überhaupt, d. h. nicht nur vom Kapitalismus, sondern von allen hochkulturellen Lebensformen. Nach Auffassung der „Primitivisten“ geht jegliche Form von „Hochkultur“ mit der Herausbildung von Herrschaft einher: Mit der Entwicklung der Arbeitsteilung im Zuge der Etablierung von Ackerbau und Viehzucht bilden sich demnach patriarchale, politische, ökonomische sowie alle weiteren sozialen und kulturellen Herrschaftsformen. Die „Industriegesellschaft“ bildet schließlich die höchste Form der Entwicklung von Herrschaft über Mensch und Natur. Insbesondere die sich mit zunehmender Arbeitsteilung vollziehende Entwicklung der Technik wird kritisiert: Sie isoliert und objektiviert die „Gegenstände“, schiebt sich somit zwischen Mensch und Natur und zerreißt so das „Netz des Lebens“. Befreiung bedeutet im Umkehrschluss die Auflösung aller Herrschaftsverhältnisse und damit aller „Zivilisation“ (im Kern: von Arbeitsteilung und Technik). In sehr radikalen Fassungen reicht dies bis hin zur Ablehnung jeglicher Form des symbolischen Denkens und Kommunizierens. Angestrebt wird eine „Verwilderung“ im Sinne einer „Wiederverbindung mit dem Netz des Lebens“ („Reconnecting with the web of life“). Die Menschen sollen intuitiv mit sich, den anderen Menschen und der Natur umgehen. Angestrebt werden ein lustvolles und spontanes Leben, gegenseitige Hilfe und ökologische Handlungsorientierung. Die Vorstellung, eine „freie Gesellschaft“ politisch zu „organisieren“ (wie dies für andere anarchistische Ansätze durchaus typisch ist), wird dabei abgelehnt: „Organizations, for anarcho-primitivists, are just rackets, gangs for putting a particular ideology in power. Politics, ‚the art and science of government‘, is not part of the primitivist project; only a politics of desire, pleasure, mutuality and radical freedom“ (Moore o. J.). „Verwilderung“ wird dabei im Allgemeinen gedacht als Re-Etablierung kleiner sozialer Einheiten, wie sie vor Beginn des Prozesses der „Zivilisation“ existiert haben. Indigene Kulturen dienen dabei als Orientierungspunkt und Inspirationsquelle, die Vorstellungen hinsichtlich eines zukünftigen „einfachen Lebens“ gehen aber darüber hinaus, wobei auch deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Vertretern festzustellen sind: Während einige „Permakultur“ für sinnvoll (und möglich) halten, plädieren andere für die (Selbst-)Versorgung durch Jagen und 52 Ich orientiere mich an den Darstellungen bei Flood (2004), Moore (o. J.) sowie unter https:// en.wikipedia.org/wiki/Anarcho-primitivism. Der „Primitivismus“ kann dem anarchistischen Spektrum zugeordnet werden. In diesem Spektrum findet sich gegenwärtig eine Vielzahl von zum Teil sehr unterschiedlichen postmonetären Ansätzen, die ich hier außen vor lasse. Hingewiesen sei auf Killjoy (2013); Stowasser (2009, 2008, 2007); Solidarity Federation (2003). Auch der Ansatz der Cooperativa Integral Catalana (2015) lässt sich m. E. diesem Spektrum zuordnen.
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Sammeln. Während einige Tiere töten (jagen) wollen, plädieren andere für Vegetarismus oder gar Veganismus. Gemeinsam ist allen Ansätzen der positive Bezug auf einfache Werkzeuge, da diese im Gegensatz zu komplexeren Technologien keinen (zwangsläufig) „entfremdeten“ Umgang mit der Natur mit sich bringen. (c) Einen deutlich höheren Grad an Arbeitsteilung (nicht unbedingt an Technisierung) als die bislang geschilderten Ansätze, aber einen deutlich niedrigeren, als er heute gegeben ist, streben auf „Selbstversorgung“ ausgerichtete „Kommunen“ an. Hierbei unterscheiden sich die Ansätze zum Teil sehr stark, wie sich im Falle der „Kommunen“ „Krishna Valley“ (1) und „Twin Oaks“ (2) zeigt. Da beide Varianten trotz sehr verschiedener Organisationsweisen seit längerer Zeit „funktionieren“, lohnt ein etwas ausführlicher Blick auf sie. (1) Im Kontext esoterischer Bewegungen finden sich verschiedene Versuche bzw. Beispiele geldlosen Lebens.53 Ein Beispiel für eine esoterisch fundierte, auf „Selbstversorgung“ ausgerichtete „Kommune“ ist das „Krishna Valley“ in Ungarn. Hier leben ca. 150 Menschen auf 260 Hektar Land in hohem Maße „selbstversorgt“.54 Ideelle Grundlage der Gemeinschaft ist ein „einfaches Leben“ mit dem Fokus auf den Dienst an der Gemeinschaft sowie auf „spirituelle Erfahrung“. „Selbstversorgung“ ist ein zentrales Element des Lebens, da sie die Gemeinschaft unabhängig von äußeren Einflüssen macht und dadurch mehr Raum für „spirituelle Entwicklung“ („Krishna-Bewusstsein“) lässt. (Die Nahrungs- und Energieerzeugung wurde deshalb von Anbeginn an konsequent auf „Autarkie“ ausgerichtet.) Ziel der „Selbstversorgung“ ist zudem eine „nachhaltige“ und „gesunde“ Lebensweise, die durch Kombination verschiedener traditioneller wie moderner Techniken des Anbaus und der Energiegewinnung sowie auch durch Verwendung alternativer medizinischer Techniken erreicht werden soll: „Traditionelle Methoden, wie das Pflügen mit Hilfe von Ochsen, und aktuelle Perma kultur-Prinzipien, wie Polykultur, Mulchen sowie Düngung mit Pflanzenjauchen wie Brennnessel-Beinwell-Jauche, bilden die Basis der biologischen Landwirtschaft im Krishna Valley. Krishna Valley versorgt sich selbst mit Gemüse, Obst, Getreide, Nüs53 Hierzu ist auch das durch verschiedene staatliche Institutionen geförderte indische Dorf „Auroville“ zu rechnen. Siehe dazu Eisenschenk (2016). Des Weiteren sei auf die spiritualistisch fundierten Ansätze von Tellinger (2013), Fasching & Erzengel Gabriel (2010) sowie Das (2014, 2012) verwiesen. 54 Ich folge hier den Darstellungen bei Rethy (2014) sowie http://wiki.yoga-vidya.de/Krishna_ Valley. Anzumerken ist: Auch diese Gemeinschaft ist immer noch auf gewisse Geldzuflüsse angewiesen. Einnahmen entstehen durch Tourismus, Verkauf von Lebensmitteln und handwerklichen Erzeugnissen sowie Bildungsveranstaltungen.
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sen, Milch und Honig. Alle Bewohner sind natürlich Vegetarier. Außerdem benutzen die Bewohner nachhaltige Methoden der Energiegewinnung: Sonnen- und Windenergie. Für die Reinigung der Abwässer wurde eine Pflanzenkläranlage, ein Schilfbeet, angelegt. Der natürliche Lebensstil spiegelt sich auch in der eigenen Gesundheitsversorgung. Die Ärzte praktizieren nach ayurvedischen Prinzipien, und auch die Lebensweise der Bewohner selbst ist nach Ayurveda ausgerichtet“ (http://wiki.yoga-vidya.de/ Krishna_Valley).
Die konkrete Gestaltung der „Selbstversorgung“ erfolgt gemäß einer klar definierten „Bedürfnishierarchie“, die zwischen „Grundbedürfnissen“ und „anderen Bedürfnissen“ unterscheidet: „Self-sufficiency in Krishna-valley is based on ten basic needs of the community. Primary needs of a community include food and water, housing, clothing, healthcare and education. Importance of the other needs varies between geographical location and the aims of the community. These include heating, lighting, transport, handcrafted products, arts and protection of the community. From these needs, food production is identified as the most important one […]“ (Rethy 2014, S. 14).
Die für die Befriedigung der Bedürfnisse erforderliche Herstellung erfolgt mittels einer klar geregelten hierarchischen Organisationsstruktur. Auf den unteren Ebenen sieht diese Organisationsstruktur keine Formen der demokratischen Mitbestimmung vor, lediglich thematische Eingaben können an die oberen Ebenen gemacht werden. Demokratische Elemente finden sich nur auf den höheren Hierarchieebenen, die ihrerseits eingebunden sind in organisatorische Zusammen hänge, die über die „Kommune“ im engeren Sinne hinausgehen: „Management of Krishna-valley is controlled by a board of directors, from which each member is responsible for one directorate controlling a certain aspect of life. Directors are appointed not by the community, but by the Hungarian Krishna-community, however in itself decision making in the board of directors is of democratic nature. Directorates are composed of departments, which are under the governance of the head of the departments. The heads of departments are appointed by the board of directors“ (ebd., S. 15).
Die höheren Ebenen bestimmen, welche Tätigkeiten verrichtet und wie diese verteilt werden sollen (wer also was wie tun soll). Die Mitglieder auf den niederen ausführenden Ebenen sind im Prinzip unentgeltlich tätig, erhalten dafür aber kostenlosen Zugang zu Gütern sowie auch geringe Geldzuweisungen. Der zeitliche Umfang der Tätigkeit beträgt sieben Stunden pro Tag an sechs Tagen in der Wo-
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che. Mitglieder, die nicht arbeitsfähig sind (etwa Frauen mit kleinen Kindern oder ältere Menschen), werden mitversorgt. So, wie die politische und ökonomische Organisation sehr stark hierarchisiert ist, so ist auch die „Gesellschaft“ hierarchisch aufgebaut: Die gesellschaftliche Hierarchisierung erfolgt v. a. nach „Kasten“ und „Lebensstadien“. Die Geschlechteridentitäten sind heteronormativ, Ehen werden über „Mentoren“ vermittelt. Die Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft ist sehr voraussetzungsvoll: Der Zugang zur Gemeinschaft ist überhaupt nur nach mehrjähriger „spiritueller Vorbereitung“ möglich und ist zudem mit einer mehrjährigen Probezeit verbunden. Insgesamt lässt sich somit festhalten: Die gesellschaftliche Ordnung der Krishna-Gemeinschaft ist in jeder Hinsicht hierarchisch. Die Bedürfnisse sind dabei sehr gering und starr festgelegt. Die Herstellung orientiert sich teilweise an modernen Verfahrensweisen, wobei die Arbeitsteilung wenig technisiert und daher mit einem hohen Zeitaufwand verbunden ist. Ohne die Werte/Normen der Krishna-Gemeinschaft zu teilen, ist es nicht möglich, in diesem Dorf zu leben: Sie bestimmen die Bedürfnisse, die Anerkennung der Herrschaftsstrukturen sowie allem voran den Zugang zur Gemeinschaft. Allgemein lässt sich hinsichtlich religiös und esoterisch orientierter Ansätze festhalten: Die „Einheit“ der jeweiligen Gemeinschaft basiert nicht auf formalen demokratischen „Grundwerten“, sondern auf einer konkreten kulturellen Ideologie. (2) Weitgehend unabhängig vom Geld ist auch die Lebensgemeinschaft „Twin Oaks“ in den USA. Die Gemeinschaft existiert seit 1967 und besteht gegenwärtig aus ca. 100 auf 141 Hektar Land lebenden Personen.55 Die (kollektive) „Selbstversorgung“ erfolgt im absoluten Gegensatz zu religiös oder spirituell/esoterisch geprägten Gemeinschaften auf der Grundlage der Anerkennung kultureller Vielfalt (verschiedener Bedürfnisse, Ethnien, religiöser und sexueller Überzeugungen). Auch die Mitgliedschaft ist nicht durch Eintrittsbeiträge oder kulturelle Aspekte beschränkt. Und auch die Entscheidungsstrukturen unterscheiden sich deutlich, wobei die Ökonomie nicht basisdemokratisch organisiert ist, sondern eher einem Modell der „flachen Hierarchie“ entspricht. Das Handeln der Mitglieder orientiert sich prinzipiell an Werten der Nachhaltigkeit („Twin Oaks“ versteht sich als „Öko-Dorf “), die Herstellung von Lebens55 Ich beziehe mich auf Wagner (2014), auf Erfahrungsberichte von Besuchern (Roth 2011; Glatz 2006; Hollick 1998) und auf die Selbstbeschreibungen eines Gemeinschaftsmitglieds (Kinkade with the Twin Oaks Community 2011) und der Gemeinschaft (https://www. twinoaks.org). Auch „Twin Oaks“ ist nicht vollständig unabhängig vom Geld. Einnahmen werden v. a. durch den Verkauf von in der Kommune produzierten Waren wie Saatgut, Hängematten und Nahrungsmitteln sowie durch Dienstleistungen (etwa Lektorat, Book-Indexing) erwirtschaftet.
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mitteln und Energie erfolgt mittels „alternativer“ Verfahrensweisen und die Bedürfnisse sind entsprechend niedrig, dabei aber durchaus vielfältig (bspw. gibt es sowohl Fleischesser als auch Vegetarier und Veganer). Vor diesem Hintergrund hat auch das Teilen von „Ressourcen“ (Fahrzeuge, Werkstätten und Werkzeuge, Wohnraum, Bücherei, Gemeinschaftshaus und -küche, Waschhaus) einen hohen Stellenwert. Die Bewohner von „Twin Oaks“ teilen darüber hinaus eine Vielzahl von Freizeitaktivitäten (Tanzen, Meditieren, Gesellschaftsspiele, Literaturkreise, Musik und Musicals machen). Die ökonomische Grundlage dieses Lebens wird ohne monetären oder sonstigen Äquivalententausch organisiert: Grundbedürfnisse wie Wohnen, Kleidung, Lebensmittel und medizinische Versorgung sowie Telekommunikation werden kostenlos zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug verpflichtet sich jedes erwachsene Mitglied, 42 Stunden pro Woche für die Gemeinschaft zu „arbeiten“, wobei „Arbeit“ hier ein weites Spektrum von Tätigkeiten umfasst: „[…] als Arbeit zählt hier alles, was zur Erhaltung der Gemeinschaft dazugehört: Neben den Tätigkeiten in den Betrieben, die für ein Einkommen sorgen – die Hängemattenwerkstatt, die Tofufabrik und die Samengärtnerei – sind es auch andere produktive Aufgaben, wie Arbeit im Gemüsegarten, Pflege der Nutztiere und Holzgewinnung. Aber auch alle reproduktiven Arbeiten, wie Kochen, Putzen, Reparieren. Und Kindererziehung. Und zum Beispiel Musik oder Yoga unterrichten. All das wird entlohnt mit Labor Credits, die die Kommune-Mitglieder selbst abzeichnen. So ist transparent, was ich tue. Und die ‚Quote‘, wie das zu leistende Arbeitspensum heißt, ist in diesem Modell schnell erreicht“ (Roth 2011).
In diesem „Arbeitssystem“ („Labour Credit System“) sind „Labour Sheets“ ein zentrales Element der „Ökonomie“, mit dem „Manager“ versuchen, die Wünsche der Mitglieder bezüglich Tätigkeiten und Arbeitszeiten mit den zu erledigenden Aufgaben in Einklang zu bringen: „Each week, every member fills in a labour sheet setting out what work they want to do for the following week. Also, each area Manager submits requests for labour to do the necessary tasks. A labour assigner then goes through the complex task of matching these two sets of demands. Draft assignments are then issued, and members have a chance to ask for revisions before the final assignments are made. Members are able to do much of their work whenever they wish during the day or week“ (Hollick 1998).
Die möglichst weitgehende Berücksichtigung von Bedürfnissen bei der Erledigung der Aufgaben wird als anspruchsvolles Unterfangen verstanden, das sich nicht ohne Weiteres computerisieren ließe.
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Die Bearbeitung der „Labour Sheets“ ist insgesamt Teil eines „Planer-Manager-Systems“, das nicht nur die Verteilung der Aufgaben durchführt, sondern auch die Entscheidungen über Art und Umfang des Herstellens trifft. Dieses Organisationssystem ist dabei nicht demokratisch im Sinne von „Basisdemokratie“, sondern entspricht eher dem Modell einer „flachen Hierarchie“ und weist eine klare Struktur auf: „Grundsätzlich ist die Gemeinschaft eine Art partizipative, rotierende Selbstverwaltung, in der jede Entscheidung von einzelnen Personen oder kleinen Gruppen stellvertretend für die Großgruppe getroffen wird. Eine tragende Rolle spielen hier die ‚Planer‘ und ‚Manager‘. Planer sind drei Menschen, die jeweils für 18 Monate in die Hauptverantwortung für das Projekt gehen. Jeweils nach sechs Monaten wird einer von ihnen durch eine neue Person ersetzt, so dass es zu einer konstruktiven Mischung von Erfahrung und frischem Wind kommt. Alle wichtigen organisatorischen Bereiche werden von den Managerinnen und Managern geregelt, zum Teil in Eigenverantwortung, zum Teil als kleine Gruppe. Darunter fallen sowohl Bereiche von großer wirtschaftlicher Bedeutung, wie das Hängemattengeschäft, aber auch die Wäscherei und die Gemeinschaftskleiderkammer. Planer und Manager sind diejenigen, die in Twin Oaks entscheiden. Während diese Begriffe normalerweise mit Machtpositionen assoziiert sind, sind sie in diesem Projekt wörtlich zu nehmende Tätigkeitsbeschreibungen. Manager und Planer zu sein, ist mit keinerlei Privilegien verbunden, sondern bedeutet eher einen Dienst an der Gemeinschaft: Man trägt besondere Verantwortung in der Gemeinschaft und versucht, mit gutem Gespür für die Gruppe die richtigen Entscheidungen zu treffen. Jede Entscheidung kann von jedem Mitglied angefochten werden. Die Verantwortlichen sind deshalb bemüht, nah an der Gruppe zu sein, zu erfahren, was die Gruppe braucht und in welche Richtungen ihre Meinungen gehen“ (Roth 2011).
Neben dem Anspruch der „Planer“, die Bedürfnisse der Gemeinschaftsmitglieder möglichst gut zu treffen, gibt es noch weitere Möglichkeiten, die eigenen Bedürfnisse einzubringen und auf die „Planung“ Einfluss zu nehmen: „Ein Großteil der thematischen Diskussionen läuft über eine Anschlagtafel, bestehend aus zwei Stellwänden mit vielen, vielen Klemmbrettern. Jede Person kann eine Diskussion zu einem beliebigen Thema starten, indem sie ein Thesenpapier anbringt. Wer sich an der Diskussion beteiligen will, antwortet mittels weiterer angehängter Blätter. Manchmal seitenlang, ausführlich recherchiert, mit Fachliteratur und Sendungsbewusstsein, manchmal mit nur einem Wort. Wenn die Manager also wissen wollen, ob das Kollektiv ein neues Gästehaus für notwendig hält, bekommen sie auf diese Weise eine Antwort. Bei brennenden Themen werden auch Treffen einberufen, abgestimmt
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wird dort jedoch nie. Diese Art der Organisation lässt es den Mitgliedern frei, zu wählen, wie sehr sie an Entscheidungen teilhaben und wie viel Verantwortung sie tragen möchten“ (Roth 2011).
Oder: „Ein sehr interessantes Beispiel für eine Institution der Aushandlung in Twin Oaks ist das sogenannte ‚Trade-Off-Game‘, durch das die Verteilung von Geldern und Arbeitsstunden für das kommende Jahr geregelt wird. Die ‚Planer‘ […] machen einen Haushaltsvorschlag für das kommende Jahr. Jeder Bewohner kann selber einen Idealplan aufstellen, der mit dem ursprünglichen Plan abgeglichen wird, so dass schließlich ein durch die Partizipation aller geschaffener Haushaltsplan erstellt wird“ (Wagner 2014, S. 148).
Zudem gibt es ein wöchentliches Gemeinschaftstreffen, bei dem die Mitglieder die Möglichkeit haben, ihre Anliegen mit den „Planern“ zu besprechen. Durch Unterschriftensammlung ist es sogar möglich, „Planungen“ zu verhindern (eine Mehrheit der Mitglieder muss unterschreiben). Durch „Veto“ (20 % der Mitglieder) kann die Einsetzung eines „Planers“ verhindert werden. Bei der Lösung von Konflikten können die Mitglieder „Moderatoren“, d. h. unbeteiligte Dritte, zu Hilfe holen oder ein sogenanntes „Process Team“ heranziehen (das auch im Falle von die Organisationsstrukturen der Gemeinschaft betreffenden Konflikten konsultiert werden kann). Grundlage aller Handlungen sind einige formale Satzungen sowie eine Vielzahl quasi kodifizierter Regeln („Policies“). Diese „Policies“ sind v. a. Resultat der „Arbeit“ in „Arbeitsgruppen“. Sie wurden im Jahr 2008 von einem „Process Team“ zusammengetragen und allgemein zugänglich gemacht. Die „Kommune“ ist darüber hinaus auf verschiedene Weise nach außen „vernetzt“: Sie ist gemeinsam mit sieben anderen „Kommunen“ Teil der „Federation of Egalitarian Communities“, innerhalb derer verschiedene Formen der gegenseitigen Hilfe (bspw. in Form der Unterstützung bei Ernteeinsätzen) etabliert wurden. Das „Netzwerk“ hat eine eigene „Verfassung“ und hält eine regelmäßige (einmal jährlich stattfindende) Versammlung ab.56 Es lässt sich festhalten: Nicht nur mit dieser spezifischen Form der „Vernetzung“ unterscheidet sich „Twin Oaks“ deutlich vom „Krishna Valley“. Auch die innere soziale Organisation unterscheidet sich qualitativ: Im Unterschied zu der 56 Weiterführende systematische Überlegungen zur umfangreicheren „Vernetzung“ von kleinen, auf Basis von „Labour Credits“ planmäßig herstellenden Einheiten finden sich bei Nelson (2016, 2012).
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ideologisch fundierten hierarchischen Organisationsstruktur von „Krishna Valley“ stellt das „Planungssystem“ von „Twin Oaks“ sicher, dass die Mitglieder trotz großer Differenzen bei den kulturellen Einstellungen motiviert sind, sich einzu bringen. In der Praxis zeigt sich allerdings, dass auch die „intrinsische Motivation“ mitunter begrenzt ist, etwa indem die Mitglieder einen gewissen Druck spüren, sich einzubringen, auch sind manche Mitglieder darauf bedacht, mit jeder noch so geringfügigen Tätigkeit „Labour Credits“ zu sammeln.57 Hinsichtlich der dargestellten Ansätze bleibt zudem festzuhalten, dass sie jenseits der unübersehbaren Unterschiede auch einige Gemeinsamkeiten aufweisen: ■■ Beide Gemeinschaften sind im ländlichen (nicht im urbanen) Raum angesiedelt. ■■ Die Mitglieder haben geringe Bedürfnisse (gemessen an der Normalität der „Konsumgesellschaft“, nicht im Verhältnis zu den oben geschilderten Ansätzen). ■■ Das Leben und damit auch die Herstellung sind ökologisch orientiert. ■■ Die Herstellung hat eher handwerklichen Charakter. ■■ Es besteht eine Pflicht, tätig zu sein, und (erst) die Erfüllung dieser Pflicht eröffnet einen freien Zugang zu lebensnotwendigen (und anderen) Dingen. ■■ Beide Gemeinschaften haben (als Ersatz für das Geld) keine demokratischen Verfahren der Entscheidung über Umfang und Art der Herstellung entwickelt, sondern spezifische, wenn auch sehr unterschiedliche Verfahren der „Planung“. Genauso wie bei „Einzelgängern“ und „klein(st)en Gruppen“ bedeuten diese Ansätze (trotz ihrer teilweise ausdrücklich pluralistischen Ausrichtung) einen sehr weitgehenden Bruch mit zentralen Elementen der modernen Gesellschaft. So findet nicht nur eine Abkehr statt von entwickelter Arbeitsteilung und entwickelter Technologie sowie von der Verfügung über differenzierte und komplexe Sachen, sondern ebenso von Urbanität, Anonymität und Individualisierung, solidarischem Handeln unter Fremden sowie demokratischen Verfahren der Entscheidungsfindung. Vielen (mit dem bestehenden „System“ unzufriedenen) Menschen dürfte diese Perspektive weder attraktiv noch zwingend erscheinen. Verschiedene Probleme des „Kommunenlebens“ (bspw. mangelnde oder fehlende Kompetenzen, Konflikte um Ressourcen, unzureichende Verfahren der Konfliktvermittlung, Fraktionierung und Nachwuchsmangel) zeigen sich auch 57 Eine kritische Auseinandersetzung mit „Twin Oaks“ findet sich bei Kuhlmann (2001).
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heute schon immer wieder (Clay 2017; Joha 2015). Es bedarf offensichtlich v. a. eines sehr grundsätzlichen Einstellungswandels bzw. der Fähigkeit, Konflikte zu lösen, um das Leben in einer solchen „Kommune“ gelingen zu lassen. Darüber hinaus stellt sich bezüglich kleinräumiger Ansätze („Intentional Communities“) noch in einer weiteren Hinsicht die Frage ihrer Um- und Durchsetzbarkeit: Ist es überhaupt möglich, dass sieben Milliarden Menschen (oder mehr) auf diese Weise gut, d. h. in erster Linie: auskömmlich, nachhaltig und in Frieden auf der Erde leben können ? Sind diese Ansätze also überhaupt verallge meinerbar ? 58 2.2.2 Perfektionierung der globalen industriellen Arbeitsteilung Neben den dargestellten Ansätzen mit geringer Arbeitsteilung finden sich verschiedene Ansätze, die diametral entgegengesetzt argumentieren: Durch die Perfektionierung der Arbeitsteilung soll ein allgemeiner hoher Lebensstandard möglich werden. Drei Perspektiven sind hier besonders relevant: (a) „Rätesozialismus“, (b) „Computersozialismus“ und (c) „Ressourcenbasierte Wirtschaft“.59 (a) Ein bekanntes Beispiel für rätesozialistische Ansätze ist das Konzept der „Participatory Economy“ („Parecon“).60 Hierbei handelt es sich um das Konzept einer planmäßig organisierten, hocharbeitsteiligen Herstellung durch individualisierte Einzelne, die ohne Märkte und mit möglichst „flachen“, demokratischen Organisationsformen auskommt.61 Die gesellschaftliche Herstellung findet gemäß diesem Ansatz (auf der institutionellen Basis von Kollektiveigentum) in selbstverwalteten Einheiten statt. „Verbraucher-“ und „Arbeiterräte“ („Councils“) bestimmen dabei, was und wie hergestellt wird. Die Mitbestimmung bei der Herstellung erstreckt sich sowohl auf 58 Bezogen auf „Kommunen“ wäre dies, soweit ich sehe, einmal rechnerisch zu ermitteln. Siehe zur Problematik der Verallgemeinerung von „Intentional Communities“ auch Siefkes in diesem Band. 59 Der Ansatz des „Matchings“ bleibt mit dieser Auswahl außen vor. Siehe dazu den Beitrag von Heidenreich in diesem Band. 60 Siehe Hahnel (2012); Albert (2006). Eine kurze Darstellung findet sich bei Sandström (2016, Kapitel 1) sowie unter: http://www.participatoryeconomics.info/wp-content/uploads/ 2014/11/Participatory-Economics.pdf. Auf das alternative geldlose Rätesystem der „Inklusiven Demokratie“ gehe ich an dieser Stelle nicht ein. Siehe dazu Fotopoulos (2008, 2005, 2003a). 61 Der Ansatz versteht sich ausdrücklich als postmonetär. Siehe hierzu http://www.participa toryeconomics.info/wp-content/uploads/2014/11/Participatory-Economics.pdf (dort insb. auf S. 51).
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die einzelne Herstellungseinheit als auch auf die gesamtwirtschaftliche Planung. Es wird dabei die Notwendigkeit der Entwicklung sehr aufwendiger Abstimmungs-/Entscheidungsprozesse angenommen. Je nach Reichweite der Entscheidung kann eine Abstimmung u. a. auf Nachbarschafts-, regionaler oder überregionaler (Staats-)Ebene notwendig sein, was wiederum nicht ohne ein gewisses Maß an repräsentativen Verfahren denkbar ist. Die Räte bestimmen dabei selbst ihr Abstimmungsverfahren (einfache Mehrheit oder Zwei-Drittel-Mehrheit oder Konsens). Herstellungs- und Verbrauchspläne werden in mehreren Diskussionsrunden für den Zeitraum eines Jahres erstellt (und falls nötig zwischenzeitlich verändert). Wichtiges Element der Planung ist das „Iteration Facilitation Board (IFB)“: eine Arbeitsgruppe, die während des Entscheidungsprozesses permanent die „Kosten“ (Auswirkungen der Herstellung einer Sache auf Möglichkeiten, etwas anderes herzustellen [„Opportunitätskosten“], Ressourcen, Aufwand der Tätigkeiten) darstellt. Der Ansatz der „Parecon“ geht dabei grundsätzlich (wie andere alternative Ansätze auch) davon aus, dass in einer postkapitalistischen Gesellschaft viele gegenwärtig erforderliche Tätigkeiten wegfallen (allgemein lassen sich in diesem Zusammenhang nennen: Rüstung, Verwaltung/Exekutive, Finanzindustrie, Werbung, Aufwendungen zur Bewältigung von Krisen/„Externalitäten“, aufwendige Infrastrukturen der globalisierten Produktion, die sich zum Teil als ökologisch unvertretbar erweisen). Der Einsatz von High-Tech im Herstellungsprozess ist prinzipiell möglich und gemäß dem grundsätzlichen Anspruch der „Effizienz“ auch gewünscht, sodass die Möglichkeit der Entwicklung einer Wirtschaft mit einem hohen Grad an Arbeitsteilung und Produktivität, d. h. mit niedriger individueller Tätigkeitsdauer bei gleichzeitig relativ umfänglicher Bedürfnisbefriedigung (in Gestalt der Verfügung selbst über komplexere Sachen), besteht. Die Tätigkeit in den Herstellungseinheiten wird in Form von „Tätigkeitsbündeln“ (bzw. „balancierten Tätigkeitskomplexen“) organisiert: Jeder Einzelne kann so prinzipiell gleichermaßen „anspruchsvolle“ wie auch „einfache“ Tätigkeiten verrichten, sodass niemand benachteiligt wird und somit alle Tätigen „motiviert“ sind. (Auch eine Wahlfreiheit im Hinblick auf die Ausführung einer spezifischen Tätigkeit wird dabei mitgedacht.) Dies ermöglicht wiederum eine demokratischere Planung, da jeder einen Einblick in die je spezifischen Teilfunktionen des Herstellungsprozesses hat. Der individuelle Zugriff auf die Resultate der Herstellung wird nicht über „den Markt“ (und auch nicht über eine andere Art von „Äquivalententausch“) geregelt, sondern erfolgt vermittels eines spezifischen Buchhaltungssystems: Jeder Beschäftigte erwirbt durch seine Tätigkeit „Verbrauchsrechte“ („Consumption Rights“), die auf einer Chipkarte gespeichert werden. Die Bestimmung des Umfangs dieser Zugriffsrechte erfolgt gemäß dem „Arbeitsleid“ (Anstrengung, Zeitaufwand der
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ausgeführten Tätigkeiten).62 Damit können Differenzen zwischen Herstellungsbereichen ausgeglichen werden (denkbar ist hier bspw. anstrengender Straßenbau vs. angenehme kulturelle Tätigkeiten). Insgesamt existiert somit zwar kein Äquivalententausch, aber es besteht doch eine „Logik“ von Leistung und Gegenleistung. Darüber hinaus wird auch Handel nicht ausgeschlossen, der allerdings nur als Naturaltausch möglich sein soll. Der Ansatz betont in normativer Hinsicht die „Offenheit“ („Diversity“) von Gesellschaft und Kultur sowie die zentrale Bedeutung von „Solidarität“ („sich umeinander kümmern und aus der Gemeinschaft Nutzen ziehen können, statt miteinander zu konkurrieren und sich gegenseitig niederzutreten“) und ökologischen Orientierungen im Hinblick auf die Gestaltung des Zusammenlebens. Es handelt sich somit insgesamt um den Entwurf einer postkapitalistischen/ postmonetären Gesellschaft, die wesentliche Elemente der kapitalistischen Gesellschaft aufgreift: einen hohen Grad an Arbeitsteilung und Technisierung/Effizienzsteigerung, eine „Logik“ von Leistung und Gegenleistung (einschließlich einer spezifischen Form der „Erwerbstätigkeit“) sowie eine „Gesellschaft“/„Kultur“ der Vereinzelung und (posttraditionalen) Individualisierung. Insbesondere die Gestaltung der Ökonomie nach Tauschprinzipien sowie damit verbunden die „betriebliche“ Form der Organisation von Tätigkeiten werden am Konzept der „Parecon“ (unter normativen Gesichtspunkten) kritisiert.63 Problematisch scheint aber noch ein weiterer (eher praktischer) Punkt: Die Annahmen eines reduzierten notwendigen Herstellungsumfangs unter postkapitalistischen Bedingungen sowie einer hohen Produktivität postkapitalistischer Arbeitsteilung führen zu dem Schluss, dass unter den veränderten Bedingungen ein hohes Maß an Bedürfnisbefriedigung bei geringem zeitlichen Tätigkeitsaufwand möglich (bzw. zu erwarten) ist. Unter dieser Voraussetzung ist es wiederum denkbar, dass die Menschen an aufwendigen demokratischen Planungsverfahren „partizipieren“. Hierbei stellt sich allerdings die Frage: Haben die Menschen Lust, (über die schlichte häufigere Abstimmung hinaus) an solchen Verfahren teilzuhaben ? Und: Können sie dies überhaupt, d. h.: Können sie die „Beiträge“ anderer unabhängig von wahrscheinlich fortexistierenden patriarchalen etc. Zuschreibungen als gleichwertig anerkennen, Kompromisse schließen, komplexe Sachverhalte verstehen und beurteilen, eigene Meinungen sprachlich artikulieren ? Vermutlich be62 Für eine eingehendere Auseinandersetzung mit dem Problem postmonetären „Accountings“ im Kontext des „Parecon“-Ansatzes siehe Sandström (2016). 63 Siehe auch die Debatte zwischen Albert und Siefkes bei Albert und Siefkes (2012/2013). Schilk (2010, o. S.) kritisiert: „Aus der Perspektive der Schenkökonomie könnte man Albert […] Fantasielosigkeit vorwerfen, weil er offenbar nicht anders kann, als in Dimensionen von Geld und Entlohnung zu denken: An allen Ecken und Enden wird gemessen, beurteilt und belohnt“.
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dürfte es in der gegenwärtigen Gesellschaft zunächst aufwendiger Lernprozesse, in denen die für radikale Demokratie erforderlichen sozialen „Kompetenzen“ erworben werden.64 Trotz dieser (normativen wie auch praktischen) Einwände (die im Übrigen nicht nur das „Parecon“-Modell im Besonderen, sondern ebenso rätedemokratische Ansätze wie den der „Inklusiven Demokratie“ betreffen) kann die häufig gegen radikal- bzw. rätedemokratische Ansätze vorgebrachte Behauptung, dass größere soziale Strukturen ohne staatliche Organisation prinzipiell nicht möglich sind, im Lichte einschlägiger Forschungen zu zeitgenössischen staatenlosen Gesellschaften (v. a. in Afrika und Südostasien) zurückgewiesen werden.65 (b) Im gegenwärtigen alternativ-ökonomischen Diskurs finden sich weiterhin verschiedene sozialistisch-planwirtschaftliche Modelle. Viele dieser Ansätze streben die Entwicklung einer postmonetären High-Tech-(Welt-)Ökonomie an. Polemisch (v. a. gegen „Graswurzelansätze“ gerichtet) wird die Position prominent vertreten durch die Vertreter des „Akzelarationismus“, die dafür plädieren, den Kapitalismus durch eine radikale „Beschleunigung“ des technologischen Wandels zu überwinden und durch eine Art „Technokommunismus“ zu ersetzen.66 Gemeinsame Grundidee der planwirtschaftlichen Ansätze ist die Aufrechterhaltung globaler Arbeitsteilung inklusive des Einsatzes von Hochtechnologie und Spezialisierung sowie eine dem zugrunde liegende moderne, konsumorientierte Lebensweise. Zum Teil recht deutliche Unterschiede finden sich im Hinblick auf die Art der Planung der gesellschaftlichen Herstellung sowie in der Art der Verteilung der Ergebnisse des Herstellungsprozesses. In den postsozialistischen Debatten steht nach der Erfahrung mit den Planwirtschaften des „real existierenden Sozialismus“ insbesondere die Frage nach demokratischeren Formen der Planung zur Debatte. Ein prominenter Ansatz findet sich im sogenannten „Computersozialismus“ von Cockshott und Cottrell.67 Sie entwickeln das Modell einer arbeitsteiligen und 64 In diesem Zusammenhang lässt sich auf Fotopoulos’ (2003b) Einwand hinweisen, dass mit der „Parecon“ lediglich einige wirtschaftliche Grundprinzipien formuliert werden, die offenlassen, wie diese v. a. politisch „eingebettet“ sind. Denkbar wäre demnach auch eine zentralstaatliche Rahmung der „Parecon“ (die Fotopoulos ausdrücklich kritisiert). 65 Siehe die sich zu diesem Problem ausdrücklich und eindeutig verhaltenden Studien von Amborn (2016) und von Scott (2009). 66 Siehe Srnicek & Williams (2015, 2013); Avanessian & Mackay (2014); Avanessian (2013). Als Referenz für einen radikalen technologischen Experimentiergeist nennen Srnicek und Williams das in Chile Anfang der 1970er Jahre entwickelte Cybersin-System. Siehe dazu Pias (2004). 67 Siehe Cockshott & Cottrell (2012). Siehe dazu weiterführend u. a. Internationale Forschungsgemeinschaft für Politische Ökonomie (2011). Als weitere Ansätze, die einen hohen Grad
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auf Äquivalententausch (Arbeitsquanta) ausgerichteten „konsumistischen“ Wirtschaftsform mit relativ starken partizipatorischen Institutionen.68 Grundsätzlich geht es Cockshott und Cottrell darum, das historisch entwickelte Niveau der gegenwärtigen Ökonomie, d. h. die hochgradige Arbeitsteilung sowie die private Verfügung über eine Vielzahl komplexer Konsumartikel, mittels anderer sozialer Organisationsformen weiterzuentwickeln und zu transformieren. Die kapitalistische Arbeits- und Konsumgesellschaft wird somit in einem planmäßigen „System“ quasi „aufgehoben“. Auf diese Weise soll der „Reichtum“ besser (und gerechter) verteilt sowie „effizienter“, „nachhaltiger“ und v. a. demokratischer hergestellt werden. (Wie bei der „Parecon“ würde auch hier die Befriedigung einiger spezifisch kapitalistischer Bedürfnisse überflüssig werden.) Zentrales Element dieses Ansatzes ist der Computer. Dieser ermöglicht sowohl eine präzise Form der Planung und Verteilung als auch die Umsetzung basisdemokratischer Verfahren. Kern der Planung und Verteilung ist eine auf dem „Gemeineigentum an Produktionsmitteln“69 basierende computerisierte „Arbeitszeitrechnung“: „C&C [Cockshott und Cottrell; L. H.] verstehen darunter [unter dem Begriff des „Sozialismus“; L. H.] eine Gesellschaft, deren Reproduktion bestimmt ist durch eine Planwirtschaft auf der Basis von Gemeineigentum an Produktionsmitteln und Ressourcen. Da in einer solchen Produktionsweise Markt und Geld keinen Sinn mehr haben, beruht ihre Rationalität in einer – computergestützten – Arbeitszeitrechnung. Die persönliche Aneignung wird über Arbeitszeitguthaben geregelt“ (Dunkhase 2014, S. 1).
Mit dem Computer ist es möglich, die für die Herstellung eines Gebrauchsguts aufzuwendende „Arbeitszeit“ genau zu bestimmen. Jeder Mensch erhält gemäß seiner geleisteten „Arbeitszeit“ Zugriff auf die hergestellten „Güter“. Cockshott und Cottrell betonen dabei, dass ein gewisser Teil an „Arbeitszeit“ bzw. des „So
an Arbeitsteilung (inkl. entsprechender Hochtechnisierung) und „Demokratisierung“ zusammendenken, sind zu nennen: „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ (Dieterich 2006), „bedürfnisorientierte Versorgungswirtschaft“ (Fresin 2005), „Wirtschaft ohne Markt“ (Harbach 2011), „partizipatorische Planung“ (Devine 2010; Callinicos 2014). Siehe zur Debatte über Aktualität und Möglichkeiten von Planwirtschaft Science & Society (2012), Das Argument (2010) sowie die grundlegenden und programmatischen Überlegungen bei Krys manski (2012, 2010). Krysmanski spricht hier u. a. von der Notwendigkeit und Möglichkeit der „Befreiung der Planungsdaten aus ihrem kapitalistischen Korsett“. In eine ähnliche Richtung weisen auch die Überlegungen von Dath (2008). 68 Siehe hierzu auch die Darstellung bei Fleissner in diesem Band. 69 Richtig wäre hier und im Folgenden nach meinem Verständnis „Herstellungsmittel“, „Herstellungsweise“, o. Ä.
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zialprodukts“ für die Versorgung von Menschen, die nicht im Herstellungsprozess tätig sein können, umverteilt werden muss. Die konkreten, individuellen Bedarfe nach „Konsumgütern“ werden nicht (wie in rätesozialistischen Ansätzen) in demokratischen Diskursen, sondern computertechnisch ermittelt; andere Dinge (bspw. „öffentliche Güter“) werden demgegenüber überhaupt nicht verkauft, sondern gemäß demokratischen Entscheidungen verteilt (und hergestellt): „In unserem Buch gehen wir davon aus, dass Supercomputer die Planung durchführen und es einen Echtzeit-Feedback-Mechanismus gibt. Dieser Mechanismus beruht auf zwei Quellen: Auf der einen Ebene sind das die Echtzeitdaten darüber, was z. B. tatsächlich in den Geschäften verkauft wird. Alles, was heute aus einem Supermarkt herausgeht, wird über den Barcode eingescannt. Wir verfügen über Computer, die diese Daten auf die Planungscomputer übertragen können, sodass wir einen Echtzeit-Input darüber haben können, was wirklich verkauft wurde. Zugleich gibt es viele Güter, die nicht als Waren verkauft werden. Über ihre Verteilung müssen demokratische Entscheidungen getroffen werden. Die Verbindung beider Mechanismen würde es einer Wirtschaft gestatten, sehr schnell zu reagieren.“ (Cockshott 2006, S. 5).
Stellt sich dabei heraus, dass die Nachfrage nach „Konsumgütern“ das Angebot übersteigt (oder umgekehrt), können „Gleichgewichtspreise“ berechnet werden („Marktalgorithmus“); die „Unstimmigkeiten“ werden sodann im weiteren Planungs- bzw. Herstellungsprozess berücksichtigt.70 Diese geldlose Ökonomie kommt nun zwar prinzipiell ohne Geld (und Markt), nicht aber ohne Staat aus. Dies betrifft nicht nur die Eigentumsform („Staatseigentum“), sondern auch den Planungsprozess, der von einer „Planungsbehörde“ vollzogen wird. Diese hat verschiedene Aufgaben: ■■ ■■ ■■ ■■
„Berechnung des Bruttooutputs Ressourcenverteilung in physischen Einheiten Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit (in Arbeitszeiten) Planoptimierung“ (ebd., S. 6).
Auch hier erweist sich der Computer als zentrales Mittel: Es erfolgt sowohl eine computerisierte Berechnung der Herstellung in stofflichen Größen („Matrix“) als
70 Fraglich scheint hier, wie es möglich ist, neue/andere Bedürfnisse bei der Herstellung zu berücksichtigen.
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auch eine computerisierte Berechnung der in einem hergestellten Ding enthaltenen „Arbeitszeit“ („Input-Output-Tabelle“). Der von der Planungsbehörde organisierte Planungsprozess soll insgesamt so demokratisch wie möglich gestaltet werden, wobei sich auch hier wiederum der Einsatz des Computers als wesentlich erweist. So geht es um die computergestützte direktdemokratische Entscheidung („Plebiszite“) über „Sachfragen“ wie die Höhe des nationalen Haushaltes und dessen Verwendung für öffentliche Aufgaben (wie Investitionen, Infrastrukturen, Gesundheit, Bildung usw.) sowie bspw. über internationale Verträge. Grundlage der Entscheidungen soll stets eine ausführlich geführte öffentliche Debatte sein, an der sich über die Nutzung mo derner mobiler Kommunikationstechnologien jedermann leicht beteiligen kann. Zugleich können Abstimmungen mittels solcher Technologien sehr leicht durchgeführt werden.71 Unter dem Strich erweist sich die gesellschaftlich produktive Tätigkeit der Einzelnen unter den Bedingungen des „Computersozialismus“ als immer noch relativ fremdbestimmt. Auch die (kapitalistische) Rationalität des Tauschs von „Äquivalenten“ bleibt erhalten. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit der Ansatz seinem eigenen Anspruch einer weitergehenden Demokratisierung gerecht zu werden vermag: Immer noch gilt das Mehrheitsprinzip, immer noch existiert die Gefahr der „Bürokratisierung“ und immer noch wird ein globales arbeitsteiliges und ressourcenintensives „System“ gedacht, das Fragen nach der Möglichkeit anderer, „nichtcomputersozialistischer“ Lebensweisen aufwirft.72 (c) Das absolute Gegenteil zu all jenen Ansätzen, die die Konzepte „Plan“ und „Demokratie“ (auf je spezifische Weise) zu vermitteln versuchen, ist der relativ bekannte Ansatz der „Ressourcenbasierten Wirtschaft“ („Resource-based Economy“): Er formuliert die postdemokratische Idee einer autoritär-technokratischen (Welt-)Planwirtschaft und kennt damit die geschilderten Probleme der demokratischen Selbstorganisation nicht.73 Ziel dieses Ansatzes ist ein weltweit „gleicher, hoher Lebensstandard“ im Rahmen des ressourcenmäßig und wissenschaftlich-technisch Möglichen, wobei auch 71 Es wird hier eine Art Mobiltelefon-Demokratie entwickelt, die voraussetzt, dass die Einzelnen sich informieren und auch an Abstimmungen teilnehmen. 72 Zur kritischen Auseinandersetzung mit dem „Computersozialismus“ siehe Neupert-Doppler (2016); Zelik (2011); Sandleben (2007); Sandleben & Cockshott (2007); Müller (2007); Stützle (2007). 73 Aufmerksamkeit erlangte dieser Ansatz v. a. durch die Filme der „Zeitgeist-Movement“. Zu den Grundlagen dieses Ansatzes siehe The Zeitgeist Movement (o. J.). Ich beziehe mich auf Schäfer und Winter (2010) sowie auf http://zeitgeistmovement-sn.de/downloads/RBE_kurz. pdf.
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hier davon ausgegangen wird, dass mit dem Wegfall der kapitalistischen Produktion viele Dinge nicht mehr hergestellt werden müssen und „Ressourcen“ somit anders verwendet werden können. Die Menschen sollen so materiellen Wohlstand genießen können, zugleich sollen die gesellschaftlich produktiven Tätigkeiten weitestgehend technisiert werden, sodass die Menschen sich mit anderen, sie interessierenden Dingen (z. B. Bildung, Freizeitaktivitäten) beschäftigen können. Die Organisation von Herstellung und Verteilung erfolgt dabei nicht mittels eines demokratischen Verfahrens, sondern im Gegenteil: Das politische System soll als Ganzes abgeschafft und durch ein globales und zentrales „RessourcenManagement-System“ ersetzt werden, das auch als das „Kybernisierte Industrielle System“ bezeichnet wird. Im Idealfall handelt es sich hierbei um einen radikalen Einsatz von Computern: Die Computer sollen so viele Entscheidungen wie möglich treffen, sodass eine besondere Hoffnung des Ansatzes auf der Entwicklung „Künstlicher Intelligenz“ liegt. (Jeder Einzelne kann dann Computer daraufhin befragen, ob ein von ihm erachtetes Problem tatsächlich eines ist.) Solange die „Künstliche Intelligenz“ jedoch noch nicht verfügbar ist sowie in der Phase des Übergangs hin zu einer solchen Ökonomie und auch in besonderen Krisensituationen (bspw. Krieg, Katastrophen), kommt dem Einsatz von „kompetenten“ und „intrinsisch motivierten“ „Experten“ eine besondere Bedeutung zu: „In einer Ressourcenbasierten Wirtschaft wird die Entscheidungsfindung graduell nicht mehr durch Politiker erfolgen. Statt dessen werden mit der Entscheidungsfindung interdisziplinäre Teams von Wissenschaftlern, Systemanalytikern, Ingenieuren, Computerprogrammierern usw. betraut. Die Teams werden nur temporär zur Lösung einer definierten Fragestellung zusammengestellt. Die Auswahl erfolgt streng nach dem Kriterium der Kompetenz einer Person auf besagtem Fachgebiet und in Bezug auf ihre Fähigkeit zu lösungsorientiertem Arbeiten. Die Teilnahme am Projekt erfolgt freiwillig, und sie erfolgt ohne Vergütung oder spezielle persönliche Vorteile gegenüber anderen Personen; das heißt, dass die Motivation der Menschen im Team intrinsisch sein muss“ (Schäfer & Winter 2010, S. 13 f.).
In diesem „System“ versuchen die „Experten“ den Herstellungsprozess konsequent zu automatisieren. Herstellung wie auch Verteilung erfolgen entlang einer Bedürfnispyramide, die vorsieht, erst die „Grundbedürfnisse“ und dann im Rahmen der (ressourcenmäßigen) Möglichkeiten weitere Bedürfnisse zu befriedigen – wobei es durchaus als möglich erachtet wird, bei richtiger Planung einen relativ hohen „Lebensstandard“ für alle zu realisieren. Für die praktische Entwicklung und Durchsetzung dieses „Systems“ wird eine spezifische Subjektivität als erforderlich erachtet: Die Menschen müssen lernen, die Welt (und v. a. die in ihr existierenden Probleme) nicht subjektiv (emotional,
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moralisch, religiös), sondern objektiv („rational“) zu betrachten. Dies wird v. a. dem religiösen Bewusstsein polemisch entgegengehalten. An die Stelle der Reli gion, die lediglich über eine bessere Welt spricht, tritt aus dieser Sicht eine nunmehr praktisch werdende „funktionelle Spiritualität“: „Eine Ressourcenbasierte Wirtschaft setzt hinsichtlich der Vorstellungen fürsorglicher Menschen, die in gegenseitigem Respekt und Eintracht zusammenarbeiten, alles in die Tat um, worüber die großen religiösen und philosophischen Lehrmeister von Anbeginn der Zeit stets geredet haben. Die Anwendung der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Methode, obwohl häufig als kalt und herzlos missverstanden, bietet sogar eine der grundlegendsten spirituellen Offenbarungen, die wir überhaupt kennen. Statt lediglich endlos über Frieden, Liebe, Harmonie unter den Völkern der Erde zu reden, kann die Wissenschaft tatsächlich an deren Verwirklichung arbeiten. Die Ergebnisse ihrer Arbeit sind in Form von Technologie von umwälzendem Nutzen für die gesamte Menschheit. Während viele Leute Mutter Teresas selbstlose Natur mit großer Bewunderung und Achtung ansehen, neigen nur wenige dazu, Alexander Fleming, den Entdecker des Penicillins, in ähnlich romantischer Weise zu betrachten. Penicillin hat bis heute unvergleichlich mehr Leben gerettet als jede wohltätige Idee oder Organisation. Wissenschaft, als Annäherung an die natürliche Funktionsweise unseres Universums, kann in Verbindung mit Technologie als Göttlichkeit in Aktion gesehen werden“ (The Zeitgeist Movement, o. J., Abschnitt „Funktionelle Spiritualität“).
Somit baut der Ansatz auf Prämissen auf, die noch nie so fraglich waren wie unter den derzeitigen postmodernen Bedingungen, stand doch die Objektivität der Wissenschaft noch nie so sehr infrage wie heute, sodass sich Probleme weniger denn je technisch definieren lassen und auch technische Lösungen nicht zwingend begründbar sind. Nicht einmal bestimmte technische „Lösungen“ für ein (technisch definiertes) Problem lassen sich nach heutigem Stand der Wissenschaft (nicht der Politik ! ) begründen. Vom Standpunkt der heutigen Wissenschaft aus muss demgegenüber gerade umgekehrt davon ausgegangen werden, dass Wissenschaften und Technik immer schon sozial eingebunden (und somit immer schon politisch) sind und dementsprechend soziale Verfahren für die Organisation von „Ressourcen“, Tätigkeiten sowie damit zusammenhängend für die Art und den Umfang des Technikeinsatzes gefunden werden müssen. Fraglich ist, ob die Menschen überhaupt einen „gleichen, hohen Lebensstandard“ wollen und mit welchen Mitteln sie arbeiten möchten. Mit Blick auf die Vielzahl der Lebensweisen, insbesondere angesichts der breiten Bewegung des „Post-Development“, erweist sich das Programm nicht nur als technokratisch, sondern dabei auch als zutiefst eurozentristisch.
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Die wesentlichen Unterschiede zwischen „Parecon“ und „Computersozialismus“ auf der einen sowie „Ressourcenbasierter Wirtschaft“ auf der anderen Seite sind festzumachen am Gegensatz von Demokratie vs. „Experto-“/„Technokratie“ (inkl. der entsprechenden ideologischen Implikationen) sowie am Gegensatz von Tauschen gemäß „Leistung“ vs. zentraler Verteilung. Gemeinsames Ideal aller in diesem Abschnitt dargestellten Ansätze ist aber – trotz der unübersehbaren Unterschiede – viel zu haben und wenig zu tun (also eine sehr hohe Arbeitsproduktivität). Gemeinsam ist ihnen auch prinzipiell die Annahme, dass die Gesellschaft auf einer Solidarität unter Verschiedenen bzw. Fremden aufbauen soll und kann. Grundsätzlich dürften Programme dieser Art heute für den „Mainstream“ der mit dem „System“ unzufriedenen (oder für anderes offenen) Menschen attrak tiver erscheinen als „suffiziente“ Ansätze. Es stellen sich aber mit Blick insbe sondere auf die postmoderne Pluralisierung der Gesellschaft gemeinsame Probleme. Zum einen: Wie wird mit „Differenz“ umgegangen ? Was ist, wenn Menschen anders (bspw. „low-tech“) leben wollen ? Wie wird mit Bedürfnissen umgegangen, die per se nicht durch industrielle Herstellung befriedigt werden können (bspw. unbehandelte, regionale Lebensmittel und Baustoffe, alternative Heilverfahren und Erziehung) ? Ist es denkbar, dass „Ressourcen“ dem industriellen Zugriff entzogen und für andere Herstellungsformen bereitgestellt werden ? Und weiter: Was ist mit indigenen Menschen, die (wenn man sie fragt) oft überhaupt nicht im Industriesystem mitmachen möchten ? Schließlich: Was ist, wenn in einer „freien“ und „wissensorientierten“ Gesellschaft Reflexionsprozesse stattfinden, die zu anderen Bedürfnissen führen, und zwar nicht nur „stofflich“, sondern auch sozial (wenn bspw. viele Menschen selbstorganisiert und ohne zu tauschen naturnah herstellen möchten und sogar Wege fänden, wie dies für alle möglich wäre) ? Wäre das Industriesystem in der Lage, sich im Sinne der veränderten Bedürfnisse der (vielen) Menschen zu transformieren ? Zum anderen und damit zusammenhängend: Wie wird angesichts von „Pfadabhängigkeiten“, die mit der industriellen Technik gegeben sind, mit technologischem „Fortschritt“ im Sinne der Entstehung von „effizienteren“ bzw. „nachhaltigeren“ und meist nicht industriellen Technologien umgegangen (Stichworte: „Fabbing“, „Permakultur“, „Lehm-Stroh-Bau“, „alternative Medizin“) ? Gerade extreme naturwissenschaftlich-technologische Fixierungen wie im Falle der „Ressourcenbasierten Wirtschaft“ lassen hier wenig auf Lernprozesse hoffen. Und ein dritter Punkt: Jeder Technik wohnen „Handlungsmaximen“ inne, die für die Nutzer der Technik zu „Imperativen“ werden. Wie wird also sichergestellt, dass in einem alternativen „System“ nur diejenige Technik entwickelt und genutzt wird, für die der „kategorische Imperativ“ gilt: „Habe nur solche Dinge, deren
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Handlungsmaximen auch Maximen deines eigenen Handelns werden könnten“ (Anders 2002, S. 298) ? Die so gefassten Probleme schlagen abschließend den Bogen zu einer weiteren Richtung des postmonetären Wirtschaftens, nämlich jener heute sich sehr lebendig entwickelnden Richtung, die Pluralität und Offenheit auf allen Ebenen des ökonomischen Handelns zum Prinzip macht. 2.2.3 Postindustrielle flexibel-multitechnologische Arbeitsteilung Die im Vorausgegangenen zutage getretenen Probleme wenig arbeitsteiliger Ansätze auf der einen sowie hocharbeitsteiliger Ansätze auf der anderen Seite scheinen in einer weiteren aktuellen Richtung postmonetärer Ansätze nicht aufzutreten: jene gegenwärtig viel diskutierten Ansätze, die sich unter dem Oberbegriff (postmonetäre) „Netzwerkökonomie“ fassen lassen. Ihnen geht es um die Entwicklung einer offenen, freiheitlichen und zugleich potenziell (nicht zwingend) hochkooperativen Ökonomie.74 Drei (theoretische und praktische) Perspektiven lassen sich für diese (ganz andere) Art von postmonetärer Ökonomie anführen: (a) „Open-Source-Bewegung“, (b) „urbane Umsonstökonomie“, (c) „Commonsbased Peer Production“ („Allmendefertigung durch Gleichberechtigte“). (a) Das wohl bekannteste Beispiel für die „Open-Source-Bewegung“ ist die Herstellung und Verteilung von Open-Source-Software. Open-Source-Software wird in der Regel durch Kooperation von Programmierern hergestellt.75 Diese erfolgt projektorientiert (insofern es stets um ein spezifisches technisches Anwendungsproblem zu tun ist). Es handelt sich dabei um eine kollektive dezentrale „vernetzte“ Herstellung, an der Menschen an verschiedenen Orten der Welt unabhängig von kulturellen, religiösen, sexuellen oder sonstigen Unterschieden teilnehmen können. Die grundsätzliche „Logik“ der Organisation des Herstellungsprozesses von Open-Source-Software wird von den beteiligten Akteuren mit dem Begriff der „Do-ocracy“ charakterisiert:
74 Die im Folgenden geschilderten Ansätze überschneiden sich mit teils dezidiert „schenkökonomischen“ Ansätzen, auf die ich nicht näher eingehe. Siehe dazu Vaughan (2016, 2008); Siebert et al. (2014). 75 Open-Source-Software wird vielfach auch von bezahlten Programmierern hergestellt. Ich beziehe mich im Folgenden nur auf geldlose Projekte.
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„Das Prinzip der Do-ocracy ist: Du drängst dich rein. Du drängst dich auf. Du erkennst einen Bedarf und machst irgendwas, kriegst unter Umständen auch einen Bug. Es gibt keine Einstiegshilfen. Du schreibst einfach eine Email: ‚Ich würde gerne mitmachen‘ … Dann kommt ein unverbindliches ‚Ja, toll, mach mal‘. Sonst nichts. Keiner schickt dich weg, aber es geht auch keiner auf dich zu: wie bei einer Party, wenn mehrere Gäste im Kreis stehen und sich unterhalten, und du stellst dich dazu. Irgendwann machst du einen Kommentar, steigst ins Gespräch ein, dann bist du drin. Das ist in diesen ganzen Freiwilligengeschichten so“ (Meike Reichle, zit. nach Habermann 2009, S. 203).
Diese „Do-ocracy“ lässt sich als eine sich letztlich von der Idee der „Demokratie“ unterscheidende Form der „sozialen Selbstorganisation“ verstehen: „A do-ocracy […] is an organizational structure in which individuals choose roles and tasks for themselves and execute them. Responsibilities attach to people who do the work, rather than elected or selected officials.“76 Die „Do-ocracy“ kommt sowohl ohne Konsensbildung als auch ohne (zeitliche oder soziale) Trennung von Entscheidung und Umsetzung aus. Die Teilnehmer an einem „Projekt“ (d. h. die Herstellenden) interagieren hierbei prinzipiell „auf Augenhöhe“. Es existiert lediglich eine (sehr) „flache Hierar chie“ in Gestalt des „Maintainer“-Prinzips: „Die Person, die Arbeit an einem Projekt koordiniert, wird ‚MaintainerIn‘ genannt. Er oder sie sammelt die eintreffenden Änderungen im Code, gibt erfahrenen und fleißigen KontributorInnen direkten Zugriff zum Code und sammelt Bugreports von AnwenderInnen. Üblicherweise sind MaintainerInnen selbst am aktivsten an der Arbeit an einem Projekt beteiligt. Ist jemand mit der Arbeit der MaintainerIn nicht zufrieden, so kann er oder sie notfalls auch zum Mittel des Forks […] greifen. Üblicherweise geben aber MaintainerInnen, sobald sie das Interesse an einem Projekt verlieren, freiwillig an die Leute, die noch am intensivsten daran arbeiten und arbeiten wollen, weiter. MaintainerIn ist also nicht ‚ChefIn‘, sondern bestenfalls ‚KoordinatorIn‘, deren Macht durch die Möglichkeit des Forks stets beschränkt ist“ (Schäfer 2005).
Die „Macht“ des „Maintainers“ ist also dadurch begrenzt, dass man sich „aufspalten“ und auf anderem Wege die Herstellung fortsetzen kann, womit seine „Macht“ strukturell nicht über die „Autorität“ des Moderierens hinausgehen kann. Diese zwanglose Form der Mitwirkung setzt besondere Formen der individuellen Motivation voraus. So kann die Motivation politisch sein und darin bestehen, dem Kapitalismus (v. a. dem Eigentumsprinzip) etwas entgegenzusetzen. 76 https://communitywiki.org/wiki/DoOcracy. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit werden Onlinequellen im Folgenden nicht im Fließtext, sondern in Fußnoten angeführt.
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Sie kann sich aber auch anders herleiten: aus der Lust, sich mit einem bestehenden Problem zu beschäftigen; aus der Anerkennung, an einem wichtigen Projekt mitzuwirken und/oder „Pionierarbeit“ zu leisten; oder aus der schlichten Freude, gemeinsam mit anderen kreativ tätig zu sein.77 Nicht zuletzt liefert auch das persönliche Bedürfnis der Programmierenden nach leistungsfähigen und kontrollierbaren Programmen einen Antrieb, Open-Source-Software zu entwickeln. „Intrinsische“ Gründe spielen also genauso eine Rolle wie „Status“, wobei dieser „Status“ nicht über das Innehaben von Machtpositionen oder über Geld definiert wird. Die Geldlosigkeit der Open-Source-Software beschränkt sich aber nicht nur auf ihre Herstellung, sondern auch auf ihre Verteilung, die in mehrfacher Hinsicht „frei“ erfolgt: Prinzipiell werden die Technologien unabhängig von Tausch genauso wie unabhängig von jeglicher anderen denkbaren kulturellen oder sozialen Beschränkung weitergegeben. Jeder kann darauf zugreifen und damit tun, was er will. Die Herstellung und Verteilung von Open-Source-Software bezieht potenziell alle Menschen ein, die über (einen) Computer verfügen. Selbst wenn man nicht mitzuprogrammieren vermag, kann man doch über die fertige Software verfügen oder über „Feature-Requests“ und „Bug-Reports“ an der Weiterentwicklung der Programme teilhaben. Diese „Logik“ der nichtkommerziellen, globalen „Technologieentwicklung“ sowie des dementsprechenden nichtkommerziellen und globalen „Technologietransfers“ bleibt schließlich nicht auf die Computertechnik (Software) beschränkt, sondern findet sich zunehmend auch in anderen Bereichen: ■■ So existiert eine „Freie-Kultur-Bewegung“, die „die Freiheit des Verteilens und Modifizierens von kreativen Werken – im Sinne von Free Content – über das Internet und anderen Medien bewirbt“78. ■■ So entwickelt „Open-Hardware“ kostenlose, allgemein verfügbare Muster bzw. Baupläne für 3-D-Drucker, Webstühle, Computer-Hardware, Techniken der Energieerzeugung, Landmaschinen u. v. a. m.79 ■■ So wird (nicht zuletzt) „Open-Source-Saatgut“ entwickelt, das (sofern es nicht kostenlos vertrieben wird) den Nutzern (zumindest) die freie Verfügung über 77 Siehe zu diesen Motivationsfaktoren ebenfalls Schäfer (2005). 78 https://de.wikipedia.org/wiki/Freie-Kultur-Bewegung. 79 Beispielsweise „RepRap“, „Shapeoko“, „Thingiverse“, „Airbike“, „Ardunio/Raspberry Pi“. Siehe hierzu die Hinweise bei Siefkes (2013, S. 14). Siehe auch https://en.wikipedia.org/wiki/ Open-source_hardware. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass das „Global Village Construction Set“ ein Konstruktionssystem entwickelt, mit dem aus einer relativ kleinen Zahl von Grundbaukomponenten eine Vielzahl von Geräten und Maschinen gebaut werden kann. Siehe http://opensourceecology.org.
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das (erworbene) Saatgut ermöglicht: „Open Source Saatgut ist zugänglich für jedermann. Das Saatgut kann ohne Einschränkung vervielfältigt, verkauft, weitergegeben oder züchterisch bearbeitet werden.“80 (b) Ansätze des geldlosen Herstellens und Verteilens finden sich aber nicht nur in „virtuellen“ und/oder globalen „solidarökonomischen“ Zusammenhängen, sondern auch in „urbanen“ Räumen. Solche Formen „urbaner Solidarwirtschaft“ haben aufgrund der in der Stadt nur beschränkt verfügbaren „Ressourcen“ gegenwärtig grundsätzlich eher beiläufigen Charakter, d. h., sie werden überwiegend von Menschen praktiziert, die ihre Grundversorgung prinzipiell monetär bewerkstelligen (wobei natürlich auch „Aussteiger“ an diesen Ökonomien teilhaben können). Dennoch bilden diese Formen einen klaren Gegenpol zur stratifikatorischen und ökonomisch ausschließenden sowie auch rassistischen, sexistischen etc. „Logik“ des Kapitalismus: Es geht bei den verschiedenen Ansätzen im Kern darum, „Räume“, Sachen, „Leistungen“ gemeinschaftlich zu nutzen. Die „Logik“ dieser Ansätze ist: „teilen“, „beitragen“, „schenken“, d. h.: Geben und Nehmen werden hier weitgehend oder gänzlich „entkoppelt“. Diese „solidarischen“ Formen finden dabei häufig unter Fremden und damit unabhängig von sozialen, kulturellen oder anderen Unterschieden statt.81 Es lassen sich grundsätzlich spezifische Formen der kollektiven Herstellung, der kollektiven Verteilung und der gemeinsamen Nutzung unterscheiden. ■■ Formen der Herstellung sind etwa: •• Gemeinschaftsküchen („Volxküchen“, „Küche für alle“): Menschen kochen gemeinsam. Die Zutaten dafür werden umsonst organisiert (geschenkt, „containert“). Das Essen wird mit allen geteilt, die essen möchten (unab hängig davon, ob jemand etwas beigesteuert hat oder nicht). Oftmals wird das Essen de facto allerdings mit der Bitte um eine kleine Spende abgegeben. •• „Brotaufstrichkooperativen“ („Broops“): Gruppen stellen gemeinsam jeweils in größeren Mengen bestimmte Brotaufstriche her und tauschen sie untereinander aus. •• Offenes „Urban Gardening“ bzw. offene „Urban Agriculture“: Freiwillige bauen (bspw. auf besetzten öffentlichen Flächen) gemeinsam etwas an, das allen zur Verfügung gestellt wird. 80 http://www.opensourceseeds.org. 81 Für einen Einblick in die vielfältigen Ausprägungen nichtkommerzieller, solidarischer Reproduktionsformen siehe Preissig (2016); Baier et al. (2016); Baier et al. (2015); Ich tausch nicht mehr (2015); Habermann (2009).
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•• „Repair-Cafés“: Menschen kommen zusammen zum Kaffeetrinken und Reparieren. Technisch versierte und interessierte Menschen und Laien versuchen gemeinsam, defekte Sachen zu reparieren. •• „Freie Universitäten“ („Open Universities“): Menschen kommen zusammen, um sich selbstorganisiert zu bilden. Das vielfältige Angebot in solchen Zusammenhängen umfasst philosophische „Seminare“ genauso wie Koch-, Yoga- oder Musikkurse u. v. a. m.82 ■■ Formen der Verteilung sind: •• „Umsonst-/Kost-Nix-Läden“ sowie „Bücherschränke/-kisten“, „Give-/Freeboxen“ und „Foodsharing-Schränke/-Stationen“: Menschen bringen Dinge, die sie nicht mehr benötigen, zu Abholstationen oder Räumlichkeiten, wo sie von anderen kostenlos (und ohne irgendeine andere Gegenleistung) entnommen werden können. •• Internetbasiertes „Freecycling“ („Verschenk-Netzwerk“): Hierbei handelt es sich um eine onlinebasierte Variante der „Umsonst-/Schenkökonomie“, die es ermöglicht, Dinge auch über den eigenen unmittelbaren Bewegungsradius hinaus zu bekommen sowie gezielt Suchanfragen zu stellen. •• Verschenkkisten (privat): Menschen stellen eine Kiste mit Dingen, die sie nicht mehr benötigen (oder anderen zur Verfügung stellen möchten), zur kostenlosen Mitnahme auf den Gehweg (meist vor die eigene Haustür). ■■ Formen der Nutzung sind: •• „FabLabs“/„Makerspaces“/„Offene Werkstätten“: Orte, an denen Menschen Maschinen, Geräte und Werkzeuge (u. a. 3-D-Drucker, CNC-Fräse, Lasercutter) kostenlos (oder gegen geringe Beiträge) benutzen können, um Dinge ihres Bedarfs für sich selbst (oder für andere) herzustellen. (Die komplexen Maschinen werden teils selbst wieder als „Open Hardware“ entwickelt, und man kann bei Bedarf „freie“ „Muster“ verwenden.) •• „Nutzergemeinschaften“ („NutziGems“): Menschen stellen sich gegenseitig Dinge unentgeltlich und ohne Erwartung einer sonstigen Gegenleistung zur Verfügung. (Lediglich die Mitgliedschaft kann daran gebunden sein, selbst überhaupt etwas zur Verfügung zu stellen.) Die ausgetauschten Dinge sowie die Organisationsformen sind vielfältig: Es können etwa Medien, Werkzeuge oder Videobeamer gemeinsam genutzt werden, die Nutzung kann „geschlossen“ (bspw. eine Hausgemeinschaft) oder „offen“ (bspw. eine öffentliche Online-Plattform) sein. Die Bereitstellung (die nach verschiedenen Regelungen stattfinden kann) beruht prinzipiell auf
82 Siehe ausführlicher bei Habermann (2009, S. 175 ff.).
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Vertrauen, wobei es Möglichkeiten der „Kontrolle“ gibt (bspw. Online-Ratings von Nutzern).83 •• Als eine Form davon sind „Leihläden“ („Leila“) zu nennen: Menschen teilen unentgeltlich Dinge, v. a. solche, die nicht sehr häufig benutzt werden (bspw. Waffeleisen, Werkzeuge, Gästebetten, Spiele, Campingausrüstung). Der Zugang ist an Mitgliedschaft gebunden, die im „umsonstökonomischen“ Zusammenhang durch Einbringen eines Gegenstands erlangt wird. Auch eine Mitwirkung im „Laden“ ist erwünscht. (Zudem wird oft ein geringer Mitgliedsbeitrag angesetzt.) Die gemeinsame „Grammatik“ dieser verschiedenen Formen ist: Man gibt, was man kann (bzw. was man nicht mehr braucht), und nimmt, was man braucht. Bedürfnisorientierung und freiwilliges Geben und Nehmen unter Fremden bilden hier den Kern. Die Arbeitsteilung erfolgt in diesen Zusammenhängen urbaner „Solidarwirtschaft“ aufgabenbezogen und meist auf freiwilliger Basis: Jeder, der sich für ein „Projekt“ interessiert, kann daran mitwirken. (Oft adressieren die „Projekte“ ihren Bedarf an die Öffentlichkeit.) Die Aufteilung von Teiltätigkeiten in „Projekten“ erfolgt spontan und ohne Hierarchie (gewissermaßen: „do-okratisch“). Die in diesen Zusammenhängen verwendete Technik erweist sich als heterogen: Es werden Werkzeuge wie auch Computer (als Mittel der Herstellung „virtueller“ Gegenstände und/oder als Organisations- und Kommunikationsmittel) oder computergesteuerte Maschinen (bspw. 3-D-Drucker) benutzt. Letztlich entscheiden stets die Beteiligten selbst, welche technischen Mittel sie zur Umsetzung ihres „Projekts“ verwenden möchten. Die einzelnen Initiativen ebenso wie die Mitwirkung in ihnen resultieren nicht aus zentraler Planung o. Ä., sondern basieren allein auf den persönlichen Motivationen der Menschen. Aus der sozialwissenschaftlichen „Beobachterperspektive“ betrachtet, lassen sich die verschiedenen Ansätze in ihrer (jeweiligen urbanen) Gesamtheit als Momente sich herausbildender bunter urbaner „Solidarökonomien“ verstehen, die den kapitalistischen Zusammenhang überlagern bzw. durchwurzeln: Eine Vielzahl von Akteuren mit unterschiedlichen Motivationen und sozialen Voraussetzungen bzw. Hintergründen agiert nebeneinander, jeder Einzelne oft in verschiedenen Zusammenhängen, und es entsteht damit ein Geflecht „solidarischer“ ökonomischer Beziehungen.84 (Geht man davon aus, dass diese Menschen auch Open-Source-Software verwenden, Dinge auf Portalen tei83 Siehe hierzu auch: http://www.projektwerkstatt.de/alternative/konkret_nutzigems.html. 84 Dieser Gedanke findet sich bezogen auf alternativökonomische Ansätze im Allgemeinen auch bei Misik (2016).
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len und/oder „Free Culture“ benutzen, so lässt sich sogar sagen, dass sich globale geflechtartige „solidarökonomische“ Zusammenhänge bilden.) Diese „solidarische Ökonomie“ ist heute ohne Zweifel noch randständig. Verschiedene Perspektiven ihrer Ausweitung lassen sich aber antizipieren: So könnten die bereits existierenden urbanen „Solidarökonomien“ v. a. im Hinblick auf die Grundversorgung ausgebaut werden (im Sinne bspw. von vollkommen subsistenten „Transition Towns“) und/oder die urbane „Solidarökonomie“ könnte systematisch mit Formen der geldlosen „solidarischen Landwirtschaft“ zusammengebracht werden.85 (c) Die bis hierher dargestellten Formen der „Open-Source“-Ökonomie, der urbanen „Solidarwirtschaft“ sowie die vielen anderen dargestellten Ansätze der geldlosen „solidarischen Ökonomie“ werden schließlich systematisch reflektiert und weitergedacht in einer wachsenden und mittlerweile relativ großen Bewegung, die die neueren Konzepte der „Commons“ und der „Peer Production“ ins Zentrum ihres Ansatzes stellt und zu verbinden versucht. Bekannte Bezeichnungen und Konzepte im Rahmen dieses Ansatzes sind: „Commons-based Peer Production“, „Peerconomy“, „Ecommony“.86 Teilweise gehen diese Debatten ihrerseits schon wieder in die Praxis ein. Einige Aspekte der Debatte seien kurz angeführt: (1) Der grundlegende Begriff bzw. das Konzept der „Commons“, d. h. der „Gemeingüter“, wird im Rahmen dieser Debatten nicht als „Sache“, sondern als komplexer sozialer Prozess gefasst: „Commons sind […] weder spezielle Güter, noch stellen sie eine spezielle Eigentumsform (z. B. eine konkrete Form des Gemeineigentums) dar. Noch viel weniger sind sie ‚Niemandsland‘ (res nullius), ein Bereich, in dem sich jede/r nach Gutdünken bedienen oder verhalten kann. Sie sind vielmehr vielfältige Arrangements zur Herstellung, Erhaltung und Weiterentwicklung von gemeinsam genutzten Ressourcen, die wir alle zum Leben brauchen. Oder knapper: Commons sind nicht, sie werden gemacht. Grundlegend dafür ist die Einsicht, dass Ressourcen, die für unser Leben und unsere kulturelle Entfaltung notwendig sind, fairer und nachhaltiger sozialer Aneignungsprozesse bedürfen; ein Miteinander, das auch ein Füreinander ist. Commons begründen und beinhalten eine Verantwortungsbeziehung zur Natur und zum je Anderen“ (Helfrich 2013, S. 2).
85 Siehe zu Letzterem bspw. das „bolo’bolo“-Konzept von P. M. (2015). 86 Siehe hierzu u. a. den Beitrag von Habermann in diesem Band sowie Habermann (2016); Siefkes (2013, 2008).
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Insofern es bei „den“ „Commons“ nicht um bestimmte Sachen (oder Eigentumsformen), sondern um die „Logik“ von sozialen Prozessen geht, wird in der Regel auch eher von „Commoning“ gesprochen. Dieses „Commoning“ stellt eine Form der bedürfnisorientierten sozialen Selbstorganisation dar und vollzieht sich somit im Wesentlichen (und strukturell) „jenseits von Markt und Staat“. (2) In ihrem Konzept von „Ecommony“ betont Habermann die „andere Logik“ der „Commons“ bzw. des „Commonings“. Demnach sind es zunächst vier Grundprinzipien, die die Menschen in einer „commonsbasierten“ Herstellungsweise verinnerlichen müss(t)en (und die sich de facto, wie sich gezeigt hat, in einer Vielzahl sozialer Praktiken wiederfinden lassen): ■■ „Besitz statt Eigentum: Bei Commons zählt, wer etwas tatsächlich braucht und gebraucht, und nicht das Recht zum Ausschluss anderer oder zum Verkauf; ■■ Teile, was du kannst; ■■ Beitragen statt Tauschen: tätig werden aus innerer Motivation – bei gesichertem Ressourcenzugang; ■■ Offenheit und Freiwilligkeit“ (Habermann 2016, S. 10).
(3) Hinzu kommt wesentlich die Perspektive der „Care-Ökonomie“, die auf die (Weiter-)Entwicklung einer „anderen“ Motivation als der im Rahmen der kapitalistischen Ökonomie üblichen abzielt. Hierbei geht es im Kern darum, Praktiken der gegenseitigen Hilfe, des kooperativen und solidarischen Handelns als „Selbstverständlichkeit“ zu re-etablieren: „Es geht um die Aufhebung von Profit-Logik zugunsten einer Logik von ‚Care‘ – so werden sorgende Tätigkeiten in feministischen Diskussionen zunehmend benannt. Dies ist nicht mit Altruismus zu verwechseln, sondern es steht für die ‚Wiederentdeckung des Selbstverständlichen‘ […]: der Tatsache, dass die allermeisten von uns selbstverständlich tätig werden, wenn wir die Notwendigkeit sehen. ‚Es ist selbstverständlich, dass Menschen als bezogen-freie Wesen mehr mehren wollen als ihren persönlichen Vorteil‘“ (ebd., S. 14). „[Es geht außerdem darum,] dass wir […] uns selbstverständlich mit- und nicht gegeneinander organisieren. Während derzeit für die Gesellschaft nur produktiv werden darf, wer Mitmenschen auskonkurrieren kann, ginge es stattdessen darum, kooperatives Tätigwerden wieder zu einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit zu machen“ (ebd., S. 26).
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(4) Der Gedanke der „Commons“ (bzw. des „Commonings“) wird außerdem verbunden mit dem Konzept der „Peer Production“, also des „Herstellens zwischen Gleichberechtigten“: „Der englische Begriff peers bezieht sich […] auf eine Gruppe von Gleichberechtigten oder Ebenbürtigen, die auf Augenhöhe aus freien Stücken zusammenarbeiten.“87 Es geht dabei um eine konsequente Enthierarchisierung der sozialen Beziehungen: Nicht nur gibt es keine zentrale politische Einheit mehr, die irgendeine Eigentumsform garantiert, es gibt auch keine zentrale politische oder ökonomische organisatorische Einheit mehr, die Herstellung und Verteilung organisiert. Es geht stattdessen um eine zwanglose, „intrinsisch motivierte“ Praxis der selbstorganisierten kollektiven Herstellung und darum, die Ergebnisse des Herstellens bedarfsorientiert zu teilen. Diese Form der Organisation treibt das Konzept der „Dezentralisierung“, das zentralistische Hierarchien (lediglich) graduell auflöst, substanziell weiter. In der „Logik“ des „Netzwerks“ der „Peers“ gibt es eine Vielzahl offener Verbindungen zwischen verschiedenen „Punkten“ (siehe Abb. 2). (5) Die Grundideen („Logiken“) von „Commons“ bzw. „Commoning“ und der „Herstellung zwischen Gleichberechtigten“ werden im Diskurs weiterhin mit der Entwicklung konkreter „Mechanismen“ der „Handlungskoordination“ zusammengedacht. Hierbei werden Verfahren entwickelt, die der „Logik“ „verteilter“ und „offener“ „Systeme“ sowie des „Commonings“ entsprechen, wie etwa das Organisationsprinzip der informationstechnisch gestützten „Stigmergie“, d. h. der „hinweisbasierten Aufgabenbearbeitung“, wie es aus der Wikipedia bekannt ist: „Stigmergie ist hinweisbasierte Aufgabenteilung. Bei Wikipedia weisen ‚rote Links‘ etwa darauf hin, wo noch ein Artikel geschrieben werden könnte. In einer To-Do-Liste steht, was noch gebraucht wird. Nicht eine einzelne oder kollektive Instanz weist mir eine Aufgabe zu, sondern Hinweise ‚schlagen mir vor‘, was ich tun könnte – die Entscheidung liegt allein bei mir. Eine Selbstauswahl hat enorme Konsequenzen für die Motivation. Ich entscheide mich nur für Tätigkeiten, die ich wirklich, wirklich tun will. Damit wird deutlich, dass eine Entfaltung der Stigmergie eine Abwesenheit von Sachzwängen und Fremdbestimmung voraussetzt. Stigmergie braucht die freie Entfaltung der Individualität. Sehe ich mich zur Wahl gezwungen, habe ich also nicht die Wahl der Nichtwahl, weil ich mich fremden Zwängen unterwerfen muss (etwa denen des Geldverdienens), so ist auch die Wirkung von Stigmergie begrenzt. Daher funktioniert Stigmergie auch nicht gut für kleine Systeme. Das wird jede* kennen, die auf die
87 https://commons-institut.org/was-ist-peer-produktion.
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Abbildung 2 Hierarchie vs. Netzwerk
Quelle: Helfrich (2015)
eigene To-Do-Liste schaut und weiß, dass niemand kommen wird, um die Aufgaben für eine* zu erledigen. […] So wie die individuelle Selbstentfaltung braucht Stigmergie ebenso die freie Verfügbarkeit der Beiträge für alle. Niemand setzt freiwillig Hinweise in Lösungen um, wenn diese anschließend privat angeeignet werden“ (http://keimform.de/2013/was-iststigmergie/print).
„Stigmergische“ Handlungskoordination ist demnach radikal offen, basiert auf absoluter Freiwilligkeit und kennt folglich auch keine Form der Verrechnung, sondern impliziert, dass die Ergebnisse des Tätigseins allgemein verfügbar sind. Die Idee besteht dann darin, diese Form der Organisation allgemein für die Organisation von Herstellung und Verteilung zu verwenden.88 (6) Das „Commoning“ im Rahmen „peer-ökonomischer“ „Netzwerke“ erlaubt (nicht zuletzt) eine im Verhältnis zum „Graswurzelansatz“ wie auch zu zentralistischen und großräumigen Ansätzen andere Technologie: Es ist prinzipiell techno88 Siehe zu „Stigmergie“ den Beitrag von Meretz in diesem Band.
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logisch offen. Aus dem Anspruch konsequenter Bedürfnisorientierung ergibt sich lediglich das Kriterium, dass die Technologie „angepasst“ sein muss, wobei dies eine Vielzahl von konkreten Formen der Technik ermöglicht. Es geht somit nicht um die Gegenüberstellung konkreter Verfahrensweisen, etwa „Permakultur“, automatische Maschinen und Computer oder „Fabber“, sondern um die Frage, was die Menschen im Rahmen einer bedürfnisorientierten Herstellungsform wollen und welche Technologien sie im „Commoning“ hervorbringen. Der Ansatz der „Commons“ erweist sich insofern als „multitechnologisch“ („Multi-Tech“). Werkzeuge, Maschinen und Computertechnik können prinzipiell vielfältig kombiniert werden.89 (Lediglich objektiv/allgemein schädliche Technologien sind ausge schlossen.) Insgesamt lassen sich so bei diesen „Commons“-Ansätzen einige zentrale Punkte festhalten, mit denen sie sich von allen bisher dargestellten Ansätzen unterscheiden: ■■ Kooperation auf der Basis von Freiwilligkeit; ■■ Handeln aus „intrinsischer Motivation“ (Interesse an einer Sache, menschliche „Selbstverständlichkeit“, sich um andere zu sorgen); ■■ Vertrauen (v. a. im Sinne einer Entkopplung von Geben und Nehmen); ■■ Vertrauen auf die Fähigkeit der Menschen, unter Anerkennung ihrer Verschiedenheit zu kooperieren bzw. Konflikte lösen zu können; ■■ Offenheit im Hinblick auf Bedürfnisse sowie Organisationsverfahren und Technologien. Vom gegenwärtigen Standpunkt aus löst der Ansatz trotz seiner prinzipiellen Attraktivität und der Tatsache, dass er in verschiedener Hinsicht „funktioniert“, wohl doch (noch) ein gewisses Unbehagen aus: Wie soll es ganz konkret gehen, dass für alle gesorgt ist, wenn der Einzelne (oder die kleine Gemeinschaft) sich weder selbst versorgen noch auf die Versorgung mit industriell hergestellten Dingen (also die Versorgung durch „die Gesellschaft“) zählen kann ? ! Hier müsste sich das „Commoning“ v. a. bei der kollektiven Herstellung und Verteilung von Mitteln der Grundversorgung praktisch bewähren. Auch stellt sich die Frage, wie komplexe Herstellungsvorgänge (bspw. Verkehrssysteme, Maschinen und komplexe Werkzeuge und Geräte, Verarbeitung von Chemikalien, größere Bauwerke, Energieversorgung, Telekommunikation, Metallverarbeitung) unter „Peers“ organisiert und wie – damit zusammenhängend – „Kompetenzen“ (v. a. Technik, Me-
89 Siehe zu technologischen Aspekten aus dem Kontext der Debatte über „Commons“ Euler und Gauditz (2017, S. 104); Cropp (2016); Tenenberg (2014).
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dizin, Kultur) zwischen Generationen weitergegeben oder überhaupt neu entwickelt werden könn(t)en.90
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Schluss – Perspektiven einer „Gesellschaft nach dem Geld“ Ich bekenne mich lieber zur Kantischen Idee des ewigen Friedens als zum Idealismus von Fichte, bei dem die Dy namik Selbstzweck wird, wenn nur die freie Tathandlung der Menschen sich fessellos entfaltet. Antwortet man darauf mit der Sorge, ob denn nun wirklich eine friedliche Gesellschaft nicht einschlafen, nicht stagnieren würde und sonst was, dann würde ich zunächst einmal sagen, das sind curae posteriores. Die Möglichkeit, daß die Welt zu schön werde, ist für mich so arg schreckhaft nicht. Theodor W. Adorno
Die vorausgegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass gegenwärtig eine Vielzahl verschiedener theoretischer und praktischer Ansätze postmonetären Lebens existiert. Es entwickelt sich damit jenseits der, wie sich gezeigt hat, ohnehin schon vorhandenen vielfältigen Praktiken der „Subsistenz“ eine enorme Menge an Wissen und Erfahrungen, wie Menschen ohne Geld (zusammen)leben können. Dies ist ein gewichtiges Gegenargument gegen diejenigen Positionen, die behaupten, dass es ohne Geld überhaupt nicht gehen kann, weil Gesellschaft ohne Geld zum Stillstand kommen und in Totalitarismus o. Ä. umschlagen muss.91 „Subsistenz“ in den verschiedensten Formen, „Umsonstökonomie“, Open-Source-Software, „Freie Kultur“ u. v. a. m. zeigen demgegenüber, dass es auch anders gehen kann, wobei sich „intrinsische Motivationen“ des Handelns ebenso zeigen wie die Fähigkeit, verschiedene elaborierte Technologien sowie egalitäre und freiheitliche Verfahrensweisen der Handlungskoordination zu entwickeln. Die Auseinandersetzung hat somit sehr deutlich gemacht, dass es heute nicht mehr um die Frage
90 Siehe zum Problem der peer-ökonomischen Herstellung komplexer Dinge Mats (2017, 2015). Zur kritischen Auseinandersetzung mit Stigmergie und Commoning siehe auch den Beitrag von Siefkes in diesem Band. 91 Dass es den Vertretern marktförmiger Organisation oft überhaupt nicht um den Markt als solchen, sondern lediglich um den Profit geht, der sich über den Markt realisieren lässt, machen die vielen oben aufgezeigten Beispiele für nichtmonetäre Formen der Aneignung, Produktion und Reproduktion im Kapitalismus deutlich, die ganz offensichtlich gern gebilligt werden.
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der Möglichkeit geldlosen Wirtschaftens überhaupt, sondern um dessen Ob und ggf. Wie und Wann geht. Hinsichtlich der existierenden Ansätze ist dabei grundsätzlich festzustellen, dass es sich stets buchstäblich nur um Ansätze handelt: Es sind erste Versuche und keineswegs fertige „Lösungen“, da sie aus dem Kapitalismus heraus entwickelt wurden und folglich noch in vielerlei Hinsicht von ihm beeinflusst sind. Es ist vom gegenwärtigen Standpunkt aus schlichtweg nicht möglich, zu wissen, was die Menschen in einer dem Geld nachfolgenden Gesellschaft materiell, sozial und geistig-kulturell wollen würden und wie sich infolgedessen Ökonomie, Kultur und Individualität „nach dem Geld“ entwickeln könnten. Alles, was in dieser Richtung getan und/oder gedacht wird, ist somit immer „nur“ ein erster Anfang, ein Sich-auf-den-Weg-Machen, ein Versuch, sich herauszuarbeiten, ein Sich-Vortasten in einen unbekannten emanzipatorischen Raum.92 Aber wie geht es auf diesen Wegen weiter ? Gegenwärtig führen sehr unterschiedliche Bedürfnisse, Werte und Organisationsvorstellungen zu entsprechend sehr unterschiedlichen praktischen und theoretischen Ansätzen einer „Gesellschaft nach dem Geld“. In ihrer Verschiedenheit schließen sie einander vielfach aus, sodass sich die Frage stellt, ob und ggf. wie sich die Koexistenz verschiedener „Kulturen des Postmonetären“ denken lässt. Diese Frage stellt sich dabei bereits im Hinblick auf den „Transformationsprozess“ aus dem Kapitalismus heraus. Ihre Beantwortung wird ein wesentlicher Bestandteil auf dem Weg der Herausbildung der „Gesellschaft nach dem Geld“ sein.93 Es wird sich dabei überhaupt zeigen müssen, ob die „Gesellschaft nach dem Geld“ (d. h.: nach dem Geld als Kapital) überhaupt eine Gesellschaft ohne Tauschmittel sein wird. Wie auch immer sich die Gestalt einer möglichen „Gesellschaft nach dem Geld“ konkretisieren wird, klar ist, dass es sich bei allen Ansätzen in diese Richtung immer schon um Transformationsbewegungen auf einem umkämpften gesellschaftlichen Terrain handelt. Hierbei lassen sich verschiedene Konfliktlinien erkennen: ■■ Eine ökonomische Konfliktlinie verläuft zwischen der Herausbildung und Entwicklung „solidarischer Ökonomien“ und ihrer Vereinnahmung für neue Verwertungsstrategien, bspw. zwischen einer nichtkommerziellen „Ökonomie des Teilens“ und einer kommerzialisierten „Sharing Economy“ (Metzger 2015; Lobo 2014). Zudem ist die „Durchkapitalisierung der Reproduktion“ (Bauhard 92 Siehe Konicz & Rötzer (2014); Klein (2013); Notz (2012); Habermann (2009). 93 Dass v. a. kleinräumige und/oder radikal-ökologische sowie peer-ökonomische Ansätze unter den Bedingungen der gegenwärtig gegebenen Formen der Arbeitsteilung (einschließlich ihrer ökologischen und technologischen Implikationen und Folgen) und Subjektivität (Wissen, Bedürfnisse) kaum verallgemeinerbar zu sein scheinen, spricht dabei mitnichten prinzipiell gegen ihre Umsetzbarkeit.
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2012, S. 7), d. h. die fortschreitende Entstehung eines „Care-Kapitalismus“, als zentrales Feld der Auseinandersetzung zu verzeichnen. Die Entwicklung und Durchsetzung einer „anderen Logik“ der Reproduktion erweist sich hierbei aus feministischer Perspektive nicht nur als Versuch der Überwindung ökonomischer „Ausbeutung“, sondern auch als Versuch der Überwindung patriarchaler Herrschaftsformen (Fraser 2017, S. 100). ■■ Politisch geht die Auseinandersetzung darum, Formen der „solidarischen Ökonomie“ gegen die in der Regel als alternativlos propagierten Wachstumspolitiken zu behaupten. Dies betrifft die Zurückdrängung von ausschließlich auf die Integration von Menschen in Erwerbsarbeit ausgerichteten Arbeitsmarktpolitiken, die Einhegung der fortschreitenden „Ökonomisierung“ von Ressourcen, Kulturen und Identitäten sowie das Erstreiten von Freiräumen für die Entwicklung sozialer „Experimentierfelder“ (Helfrich und Bollier 2015).94 Dazu erweist es sich als zwingend erforderlich, das grundsätzliche wirtschaftspolitische Dilemma der gegenwärtigen Politik zu lösen: Parlamentarische Politik wird eine alternative/geldlose Ökonomie nur sehr begrenzt fördern können, solange sie auf Basis einer von ihr institutionalisierten kapitalistischen Wirtschaftsordnung primär auf „Wachstum“ als Grundlage ihrer eigenen Handlungsfähigkeit ausgerichtet ist. Zugleich erzeugt dieses „Wachstum“ einen immer größeren subjektiven wie auch objektiven Bedarf an postkapitalistischen, alternativen/geldlosen Wirtschaftsweisen. Zum Ausstieg aus der „Wachstumsspirale“ (Binswanger) bedürfte es somit konkreter wirtschaftspolitischer Strategien des geordneten Schrumpfens, die bislang allerdings fehlen (Herrmann 2015b).95 ■■ Als ebenfalls zwingende Voraussetzung jeder weitergehenden gesellschaftlichen Emanzipation erweist sich die Entwicklung pluralistischer „zivilgesellschaftlicher“ Kulturen, d. h.: In sozialer bzw. kultureller Hinsicht geht die Auseinandersetzung darum, die Anerkennung unterschiedlicher Lebensweisen in praktischen wie auch theoretischen Zusammenhängen gegen sich ausweitende ausschließende und diskriminierende Einstellungen zu erreichen sowie einen säkularen, demokratischen Grundkonsens gegen autoritäre Entwicklungen zu bewahren bzw. auszuweiten.
94 Zur Zurückdrängung der kapitalistischen Ökonomie zugunsten von Formen der solidarischen Ökonomie siehe auch Gibson-Graham et al. (2013); Klein (2013); P. M. (2012); Internationale Forschungsgemeinschaft für Politische Ökonomie (2011); Bennholdt-Thomsen (2009). 95 Dies beinhaltet grundsätzlich eine intensive Auseinandersetzung mit den in bürgerlichen Verfassungen enthaltenen Möglichkeiten der Institutionalisierung nichtkapitalistischer Eigentumsformen. Siehe dazu Fisahn (2015).
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■■ Auf individueller Ebene geht es schließlich ebenfalls zwingend für jeden alternativ-ökonomisch bzw. emanzipatorisch orientierten Einzelnen darum, den Kapitalismus in sich selbst zu reflektieren, da die Geschichte alternativer Bewegungen immer wieder sehr deutlich gezeigt hat, dass Ausbruchsversuche wegen „der Gesellschaft“, d. h. wegen ihrer vielfältigen manifesten Gewaltverhältnisse, aber auch wegen „der Gesellschaft“ in den Menschen, d. h. wegen der Verinnerlichung der vom Kapitalismus geprägten Denk-, Fühl- und Wahrnehmungsweisen, scheitern können.96 Letzteres verweist auf einen m. E. wesentlichen Punkt: Die Entstehung einer „Gesellschaft nach dem Geld“ wird sich am Ende nicht auf theoretischem Terrain entscheiden, sondern davon abhängig sein, ob es gelingt, im Hier und Jetzt Praxisformen zu entwickeln, die es den Menschen ermöglichen, eine innere Sicherheit zu entwickeln, um in einem gemeinsam vollzogenen Vorgang den sozialpsychischen Ballast kapitalistischer Subjektivierungsprozesse abzuwerfen und so gemeinsam in Differenz aus dem Bann des Kapitals herauszutreten (Cooperativa Integral Catalana 2015). Hierfür spricht sowohl die Tatsache, dass objektive Gewissheiten verloren gehen, wie auch die kritisch-sozialpsychologische Selbstreflexion der Gesellschaft und die praktische Erfahrung sozialer Bewegungen. Spezifische Organisationsvorstellungen, einschließlich derjenigen, die im vorliegenden Band entwickelt und diskutiert werden, erweisen sich so als notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung auf dem weiteren Weg in die „Gesellschaft nach dem Geld“.
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Konzepte des Geldes
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Die allgemeine Ware und ihre Mysterien Zur Bedeutung des Geldes in der Kritik der politischen Ökonomie Ernst Lohoff
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Der Grundfehler der herrschenden Geldvorstellung
Wer wissen will, was den Inhalt „unserer“ Wirtschaft ausmacht, und die Brockhaus Enzyklopädie aufschlägt, erfährt unter diesem Stichwort Folgendes: „Wirtschaft dient innerhalb des menschlichen Daseins der materiellen Erhaltung und Sicherung des Lebens des einzelnen oder einer Vielheit von Menschen. Ihre Aufgabe und ihr Ziel ist die dauernde Deckung des menschlichen Bedarfs an Gütern und Leistungen.“ Die moderne warenproduzierende Gesellschaft unterscheidet sich diesem landläufigen Verständnis zufolge von allen anderen Produktionsweisen in der Geschichte also nur insofern, als sie den vermeintlich überhistorischen Inhalt allen Wirtschaftens, die Versorgung der Menschen mit Gütern, besonders effektiv erledigt. Auch wenn die Ökonomen seit jeher ein Faible für Robinsonaden haben, Menschen produzieren niemals isoliert für sich, sondern immer in einem sozialen Kontext, und sie sind zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse stets auf die Erzeugnisse anderer angewiesen. Das herrschende Denken kennt nur eine vernünftige Form des Zugangs zu den Produkten anderer: nämlich den Tausch. In einer hochgradig funktionsteilig organisierten Gesellschaft setzt der Händewechsel von Gütern via Tausch die Existenz von Geld voraus. Dementsprechend wird immer schon als selbstverständlich unterstellt, dass sich die Beziehungen der Wirtschaftssubjekte und überhaupt alle wirtschaftlichen Vorgänge monetär ausdrücken. Geld kann man bekanntlich weder essen noch taugt es zur Befriedigung irgendeines anderen sinnlichen Bedürfnisses. Damit liegen dem herrschenden ökonomischen Denken zwei einander widerstrebende Prämissen zugrunde. Auf der einen Seite setzt es den kapitalistischen Reichtum mit den produzierten Gebrauchsgütern und den von ihnen befriedigten Bedürfnissen in eins, auf der anderen Seite stellt sich ihm kapitalistischer Reichtum immer schon in der unsinn© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_3
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Ernst Lohoff
lichen Gestalt reiner Geldgrößen dar. Diese beiden Standpunkte lassen sich nur zusammenbringen, wenn man von einem ganz bestimmten Geldkonzept ausgeht, das Geld als eine dem Warenreichtum fremde Größe behandelt und ausgerechnet die universelle Darstellungsform allen kapitalistischen Reichtums aus dem kapitalistischen Reichtum herausrechnet. Zum bloßen „Schmiermittel der Wirtschaft“ verharmlost steht das Geld dem wahren Reichtum äußerlich gegenüber. Die Interpretation des Kapitalismus als einer angeblich an den Bedürfnissen der Menschen orientierten Produktionsweise findet sich bereits bei Adam Smith. In den 1760er Jahren predigte er seinen Glasgower Studenten: „The consumptibility, if we may use the word, of goods, is the great cause of human industry.“ (Smith 1896, S. 199) Laut Smith ist es also der konkrete stoffliche Nutzen produzierter Dinge, um den es in der Wirtschaft geht. Und auch die „Zweiweltentheorie“, derzufolge Geld und Ware wesensverschieden sein sollen, geht auf den Urvater der klassischen politischen Ökonomie zurück. In seinem Hauptwerk betonte er energisch: Geld, „das große Rad im Kreislauf[,] ist völlig verschieden von den Gütern, die es in Umlauf bringt.“ (Smith 2005, S. 238) Es zähle selbst nicht zum kapitalistischen Reichtum, sondern erleichtere nur den Güteraustausch. In dieser Deutung ließ sich Smith auch nicht durch den Umstand beirren, dass zu seiner Zeit noch ein erheblicher Teil der Zirkulationsmittel aus Goldmünzen bestand. Selbstverständlich betrachtete Smith das zur Prägung der Goldmünzen verwandte Material als solches als potenziellen Bestandteil des Warenreichtums. Weil er aber das Wesentliche an den Waren in ihrem konkreten stofflichen Nutzen verortete, war das Edelmetall nur insoweit wirkliche Ware, wie es tatsächlich für die Befriedigung sinnlich-stofflicher Bedürfnisse eingesetzt wurde, beispielsweise als Rohstoff für Schmuck oder als Füllstoff für hohle Zähne. Die Münzprägung bedeutet demgegenüber die Ausbürgerung des verwandten Edelmetalls aus dem Warenkosmos. Nur als Tauschmittel – und damit rein gesellschaftlich genutzt und der Verwendung für sinnlich-stoffliche Zwecke entzogen – wird Gold zu einer deaktivierten Ware.1 Es fällt aus dem gesellschaftlichen Reichtum heraus und steht diesem als etwas Wesensfremdes gegenüber. Die Wirtschaftswissenschaft hat seit den Tagen Adam Smiths viele Umwälzungen durchgemacht. Allerdings wurde sowohl die Mystifizierung der kapitalistischen Produktionsweise zu einer bedürfnisorientierten Wirtschaftsweise als auch die dazugehörige Vorstellung von der grundsätzlichen Wesensverschiedenheit von Geld und Ware immer fortgeschrieben. Diese liegt auch noch dem rein funktionalistischen Geldkonzept der heutigen Volkswirtschaftslehre zugrunde. Das herrschende ökonomische Denken unterstellt, dass das Geld als vermeintli1
Das als Ware deaktivierte Gold lässt sich reaktivieren. Dazu muss man die Münzen nur wieder einschmelzen und einer konsumtiven Verwendung zuführen.
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ches bloßes Zeichen wesensverschieden von den Waren sei, denen es gegenübertritt. Gleichzeitig schrumpft das Geld, indem es von seinen Funktionen her bestimmt wird, auf eine zwischen den Gütermarktwaren vermittelnde Instanz. Welche der drei klassischen Geldfunktionen (Zahlungsmittel, Wertaufbewahrungs- und Wertmessfunktion), die nach landläufigem Verständnis das Geld ausmachen, man auch betrachtet, in allen erscheint das Geld nur als ein Instrument des Warenverkehrs ohne jede darüber hinausweisende Bedeutung. Als universelles Zahlungsmittel besteht die Leistung des Geldes darin, die Zahl der potenziellen Tauschpartner zu vervielfachen, zu denen jedes Wirtschaftssubjekt in Beziehung treten kann.2 Aufgrund seiner Wertaufbewahrungsfunktion ermöglicht Geld darüber hinaus die zeitliche Trennung von Kauf und Verkauf. Dank des Geldes muss der Verkäufer nicht gleichzeitig als Käufer auftreten und kann seine Tauschoptionen auf Waren ausweiten, die aktuell noch gar nicht auf dem Markt sind. Und auch was die Funktion des Geldes als Recheneinheit und Wertmaßstab angeht, erscheint das Geld als eine dem vermeintlichen Primat der Güter und ihres Nutzens untergeordnete Größe. Als Recheneinheit und Wertmaßstab setzt das Geld die Warensubjekte in den Stand, ihr jeweiliges Gut mit jedem anderen Gut zu vergleichen, und stellt auf diese Weise die ideelle Einheit des Warenkosmos her. Gemessen in Geld sind alle Waren qualitativ gleichgesetzt. Seit den Tagen Adam Smiths flankiert die immer gleiche Ursprungslegende die Vorstellung vom Geld als bloßem Warenverkehrsmittel. Die Entstehung des Geldes wird unmittelbar aus dem Tausch abgeleitet und die Notwendigkeit des Tausches wiederum unmittelbar mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung kurzgeschlossen: „In den Anfängen der Arbeitsteilung muss der Tausch häufig noch sehr schleppend und stockend vor sich gegangen sein […]. So hat ein Metzger mehr Fleisch in seinem Laden, als er selbst essen kann, und Brauer und Bäcker würden gern etwas davon kaufen, sie können aber lediglich ihr Brot oder ihr Bier anbieten. Ist nun der Metzger für seinen unmittelbaren Bedarf damit bereits ausreichend versorgt, so wird es in diesem Fall zu keinem Handel kommen können.“ (Smith 2005, S. 23) Angesichts dieser Malaise haben schlaue Menschen angeblich 2
Die bürgerliche Ökonomie setzt die Auflösung der Gesellschaft in getrennte Privatproduzenten immer schon als die natürliche Ordnung voraus. Dementsprechend kann es für sie nur eine Alternative zum Geld geben, nämlich einen „Naturaltausch“, bei dem die Teilproduzenten A und B einander wechselseitig die Waren abnehmen. Diese konstruierte geldlose Äquivalenzbeziehung ist gegenüber monetären Beziehungen aber offensichtlich hochgradig defizitär. Das Zustandekommen eines solchen „Naturaltauschs“ würde voraussetzen, dass Warenbesitzer A genau den Warenbesitzer B findet, der die Ware sucht, die A abgeben will, und gleichzeitig die Ware zu bieten hat, nach der es A gelüstet. Ein solches Zusammentreffen ist höchst unwahrscheinlich. Indem das Geld den Zwang zur Komplementarität aufhebt und jedes Wirtschaftssubjekt Kauf und Verkauf auf verschiedene Partner aufteilen kann, macht es universellen Warenaustausch überhaupt erst möglich.
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das Geld erfunden. Das Geld erlaubt es nämlich den Tauschsubjekten, den Zwang zur Bedürfniskomplementarität auszuhebeln und Kauf und Verkauf auf verschiedene Partner aufzuteilen.
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Geld als die Darstellungsform abstrakten Reichtums
Dieser zum funktionalistischen Geldkonzept gehörende Entstehungsmythos unterstellt, dass die Produzenten seit jeher als isolierte Einzelne produzieren und erst auf dem Markt zueinander in Beziehung treten. Was die traditionellen Gesellschaften angeht, ist das eine völlige absurde Vorstellung. Wie schon Polanyi in seinem klassischen Werk The Great Transformation herausgearbeitet hat, war die Produktion des stofflichen Reichtums in den vorkapitalistischen Gesellschaften in Wirklichkeit in persönliche Abhängigkeitsverhältnisse eingebettet. Diese persönlichen Abhängigkeitsverhältnisse strukturierten wesentlich den Inhalt und die Organisation der Produktion sowie die Distribution der erzeugten Güter. Die Herauslösung des Wirtschaftens aus diesem Kontext, die Verwandlung der Gesellschaft in ein System „ungeselliger Geselligkeit“ (Kant), ist identisch mit der Konstitutionsgeschichte des Kapitalismus. Smith und seine Erben projizierten und projizieren genuin kapitalistische Verhältnisse in die Vergangenheit. Marx hat nicht nur kritisiert, dass die bürgerliche Ökonomie den Tausch als eine ewige Naturtatsache behandelt, er sah in der Auflösung der Gesellschaft in eine Gesellschaft getrennter Privatproduzenten das Grundmerkmal der kapitalistischen Produktionsweise. Dieses Grundmerkmal bildet den eigentlichen logischen Ausgangspunkt der Analyse in Das Kapital. Schon im ersten Kapitel seines Hauptwerks legte er dar, welche weitreichenden Folgen es für die Struktur der Gesellschaft hat, dass die Menschen als getrennte Privatproduzenten agieren und es ihren Arbeitsprodukten überlassen, den gesellschaftlichen Zusammenhang herzustellen. Die Gesellschaftlichkeit der Menschen schlüpft in deren Erzeugnisse und tritt ihnen als ein Zusammenhang von Sachen und damit als eine ihnen fremde und äußerliche Macht entgegen. Weil im Kapitalismus die Gesellschaftsmitglieder sich nur als Privatproduzenten und Tauschsubjekte, also nur über ihre Produkte vermittelt, aufeinander beziehen, entwickeln diese ein Eigenleben „voll metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken“ (Marx 1983a, S. 85). Selbstverständlich verlieren die Erzeugnisse der menschlichen Hand auch im Kapitalismus nicht ihre Eigenschaft als nützliche Dinge, die sinnliche Bedürfnisse befriedigen. Auch ein kapitalistisch produziertes Blatt Papier taugt zum Schreiben, auch kapitalistisch produziertes Mehl zum Backen. Dieser Nutzen ist aber weder die einzige noch, wie die bürgerliche Ökonomie seit jeher unterstellt, die wich tigste Bedeutung der Ware. Mit seiner Verwandlung in eine Ware wird ein simples
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menschliches Erzeugnis zur „gesellschaftliche Chiffre“ und damit zu einem „sinnlich übersinnlichen“ Ding (ebd., S. 85). Als den sozialen Kontext überhaupt erst stiftende Instanz hat die Reichtumsproduktion im Kapitalismus damit nicht nur einen höheren Stellenwert als in allen anderen Produktionsweisen; die Verwandlung der Arbeitsprodukte in die soziale Vermittlungsinstanz verändert auch den Inhalt des gesellschaftlichen Reichtums von Grund auf. Sie ist gleichbedeutend mit der Entstehung einer zweiten Art von Reichtum, die es so in anderen Gesellschaftsformationen nicht gibt und die sich vom sinnlich erfassbaren materiellen Reichtum grundlegend unterscheidet: abstrakter Reichtum oder auch, was dasselbe ist, Reichtum an Wert. Diese zweite, übersinnliche und genuin kapitalistische Art von Reichtum und ihre Vermehrung bilden das Alpha und Omega des modernen Wirtschaftslebens. Die Waren wiederum stellen nur in ihrer Eigenschaft als Wertträger und nicht mit ihrem Gebrauchswert gesellschaftlichen Reichtum dar. Wie sich die Herrschaft des Werts an der Oberfläche des ökonomischen Prozesses bemerkbar macht, weiß jeder – abgesehen von Fachökonomen, die gerade an ihren Modellwelten basteln: Lässt sich mit der Produktion von Äpfeln oder Autos kein Geld verdienen, dann hat sie ihren Sinn verloren und wird eingestellt. Das übergreifende und bestimmende Moment der kapitalistischen Wirtschaft ist keineswegs im Nutzen und in der Bedürfnisbefriedigung zu suchen, wie die Volkswirtschaftslehre als Erbin der Grundfehler der klassischen Nationalökonomie unterstellt, sondern einzig und allein in der Erzeugung und Vermehrung des Werts. Das heißt aber, dass im etablierten Geldkonzept das Verhältnis zwischen den Gütermarktwaren und dem Geld auf dem Kopf steht. Nicht das Geld ist ein bloßes Mittel ohne ökonomische Eigenbedeutung, vielmehr stellen die verschiedenen Gütermarktwaren mit ihrem konkreten Gebrauchswert nichts weiter als eine flüchtige Zwischenstation in der Selbstzweckbewegung der Verwandlung von Geld in mehr Geld dar. Die Herstellung und Distribution von Gütermarktwaren ist nur eine notwendige Begleiterscheinung des Kapitalkreislaufs und dieser hat das Geld zum Ausgangs- und Endpunkt. Gerade weil das Geld als eine rein gesellschaftliche Größe keinerlei sinnlich-stofflichen Gebrauchswert hat, repräsentiert es als die „absolute Daseinsweise des Tauschwerts“ die eigentliche Darstellungsform abstrakten Reichtums. Und weil Marx den kapitalistischen Reichtum als abstrakten Reichtum begreift, bildet das Geld für ihn im Gegensatz zur Klassik einen integralen Bestandteil des kapitalistischen Reichtums.
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Das Geld, die ausgesonderte allgemeine Ware
Im ersten Band des Kapitals legte Marx offen, worin seiner Ansicht nach der grundlegende Unterschied zwischen seiner Kritik der politischen Ökonomie und der klassischen Ökonomie besteht: „Es ist einer der Grundmängel der klassischen politischen Ökonomie, daß es ihr nie gelang, aus der Analyse der Ware und spezieller des Warenwerts die Form des Werts, die ihn eben zum Tauschwert macht, herauszufinden. Grade in ihren besten Repräsentanten, wie A. Smith und Ricardo, behandelt sie die Wertform als etwas ganz Gleichgültiges oder der Natur der Ware selbst Äußerliches. Der Grund ist nicht allein, daß die Analyse der Wertgröße ihre Aufmerksamkeit ganz absorbiert. Er liegt tiefer. Die Wertform des Arbeitsprodukts ist die abstrakteste, aber auch allgemeinste Form der bürgerlichen Produktionsweise, die hierdurch als eine besondere Art gesellschaftlicher Produktion und damit zugleich historisch charakterisiert wird. Versieht man sie daher für die ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion, so übersieht man notwendig auch das Spezifische der Wertform, also der Warenform, weiter entwickelt der Geldform, Kapitalform usw. Man findet daher bei Ökonomen, welche über das Maß der Wertgröße durch Arbeitszeit durchaus übereinstimmen, die kunterbuntesten und widersprechendsten Vorstellungen von Geld, d. h. der fertigen Gestalt des allgemeinen Äquivalents. Dies tritt schlagend hervor z. B. bei der Behandlung des Bankwesens, wo mit den gemeinplätzlichen Definitionen des Geldes nicht mehr ausgereicht wird.“ (Ebd., S. 95, Anm. 32).
Marx kommt nicht von Ungefähr sofort auf die Frage des Geldes zu sprechen, wenn er die grundlegende Schwäche der klassischen Ökonomie in ihrem Unverständnis gegenüber der Frage der Wertform verortet. Wer die Analyse der Wertform zum Ausgangspunkt der Untersuchung der kapitalistischen Produktionsweise nimmt, eröffnet sich damit einen Zugang zur Frage des Geldes, der sich vom Verständnis der klassischen Nationalökonomie grundlegend unterscheidet. Diese und ihre Nachfolger leiten das Geld aus dem Tausch ab. Geld soll es nur deshalb geben, weil es eines Mediums bedarf, das den Händewechsel der Gebrauchsgüter vermittelt. Aus der Perspektive der Marx’schen Wertformanalyse entspringt das Geld dagegen direkt den inneren Widersprüchen der Ware. Schon die Arbeit der Privatproduzenten – so der logische Ausgangspunkt der Marx’schen Argumentation – enthält diesen Widerspruch, der sich in ihrem Doppelcharakter ausdrückt. Auf der einen Seite wird bei der Erzeugung von Autos, Puddingpulver oder Pflastersteinen konkrete Arbeit verrichtet, die einen bestimmten Inhalt hat; diese konkrete Arbeit bildet den Gebrauchswert der je besonderen Ware, der sie von den anderen Waren unterscheidet, was wiederum die
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Voraussetzung dafür ist, dass diese Ware einen Käufer findet, der sich für ebendiese spezifischen stofflich-sinnlichen Eigenschaften interessiert. Auf der anderen Seite bildet die Arbeit im Kapitalismus eine rein gesellschaftliche Dimension aus, nämlich die abstrakt allgemeine Arbeit, in der jeder konkrete Tätigkeitsinhalt ausgelöscht und auf den gespenstischen Inhalt abstrakter gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit reduziert ist. Der Grund dafür liegt in ebenjener Aufsplitterung des gesellschaftlichen Zusammenhangs in isolierte Privatproduzenten, die sich darüber vergesellschaften, dass sie ihre privat hergestellten Produkte einander gleichsetzen und auf einen gemeinsamen Nenner beziehen. Die gesellschaftliche Dimension der Waren besteht so betrachtet also darin, eine bestimmte Summe Tauschwert bzw. Wert zu repräsentieren. Anders gesagt: Die gesellschaftliche Vermittlung findet über die Arbeitsprodukte und damit über die Arbeit statt (vgl. Postone 2003, S. 229 ff.) und nur in diesem Sinne kann die Rede davon sein, dass die abstrakte Arbeit die Substanz des Werts bildet. Eine Substanz hat der Wert allein deshalb, weil er ein besonderes gesellschaftliches Verhältnis repräsentiert: das Verhältnis isolierter Privatproduzenten. Und genau wie dieses Verhältnis haben somit auch Wert und Wertsubstanz einen historisch-spezifischen Charakter, besitzen Gültigkeit also nur unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaftsformation. Der grundlegende Widerspruch, dass gesellschaftliche Arbeit als private verrichtet wird und die Vermittlung erst über das In-Beziehung-Setzen der Arbeitsprodukte erfolgt, schließt bereits ein, dass diese Vermittlung misslingen kann. So ist zwar die einzelne Privatarbeit der Form nach immer schon Bestandteil des gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses, insofern sie Produkte als Waren produziert. Dennoch ist die einzelne Arbeitskraftverausgabung in ihrer quantitativen Dimension, also als Ausdruck einer bestimmten Wertsumme, nie von vornherein ein gültiger Teil der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion. Über die gesellschaftliche Anerkennung der verrichteten Arbeitszeit wird erst ex post entschieden, in der Begegnung der verschiedenen Erzeugnisse getrennter Privatarbeit auf dem Markt. „Die gesellschaftliche Arbeitszeit existiert sozusagen nur latent in diesen Waren und offenbart sich erst in ihrem Austauschprozeß. Es wird nicht ausgegangen von der Arbeit der Individuen als gemeinschaftlicher, sondern umgekehrt von besondern Arbeiten von Privatindividuen, Arbeiten, die sich erst im Austauschprozeß durch Aufhebung ihres ursprünglichen Charakters, als allgemeine gesellschaftliche Arbeit beweisen. Die allgemein gesellschaftliche Arbeit ist daher nicht fertige Voraussetzung, sondern werdendes Resultat.“ (Marx 1961, S. 31 f.)
Damit die nur latent in der Ware existierende gesellschaftliche Arbeitszeit sich als Wert manifestieren kann, muss sich diese gegen eine andere Ware austauschen
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und sich ihr Tauschwert in deren Gebrauchswert materialisieren.3 Der Zwang, die jeweilige konkrete beschränkte sinnliche Gestalt erst abstreifen zu müssen, um die eigene gesellschaftliche Bedeutung als Träger von Tauschwert zu realisieren, betrifft alle besonderen Waren gleichermaßen. Die gemeinsame Unzulänglichkeit zwingt die Waren indes dazu, eine aus ihren Reihen von diesem Manko zu befreien und auszusondern. Diese ausgesonderte Ware erhält den besonderen Gebrauchswert, allen anderen Waren gegenüber ihr Gemeinsames, den Tauschwert, zu repräsentieren. Sie verwandelt sich in die Königin der Waren, in die Ware schlechthin: Sie wird zu Geld. Das Ergebnis fasste Marx folgendermaßen zusammen: „So ist in der einen Ware der Widerspruch gelöst, den die Ware als solche einschließt, als besonderer Gebrauchswert zugleich allgemeines Äquivalent und daher Gebrauchswert für jeden, allgemeiner Gebrauchswert zu sein. Während also alle andern Waren jetzt zunächst ihren Tauschwert als ideelle, erst zu realisierende Gleichung mit der ausschließlichen Ware darstellen, erscheint bei dieser ausschließlichen Ware ihr Gebrauchswert, obgleich reell, in dem Prozeß selbst als bloßes Formdasein, das erst durch Verwandlung in wirkliche Gebrauchswerte zu realisieren ist. Ursprünglich stellte sich die Ware dar als Ware überhaupt, allgemeine Arbeitszeit vergegenständlicht in einem besondern Gebrauchswert. Im Austauschprozeß beziehen sich alle Waren auf die ausschließliche Ware als Ware überhaupt, die Ware, Dasein der allgemeinen Arbeitszeit in einem besondern Gebrauchswert. Als besondere Waren verhalten sie sich daher gegensätzlich zu einer besondern Ware als der allgemeinen Ware […]. Die besondere Ware, die so das adäquate Dasein des Tauschwerts aller Waren darstellt, oder der Tauschwert der Waren als eine besondere, ausschließliche Ware, ist – Geld.“ (Ebd., S. 34)
Marx nahm für sich in Anspruch, mit seiner Analyse der Aussonderung einer absoluten Ware das Geldrätsel gelüftet zu haben.4 Die geldtheoretischen Ausführun3
Eine Ware, der es nicht gelingt, in die Zirkulation einzutreten, kann ihre gesellschaftliche Bedeutung nicht realisieren. Ihr Wert existiert also nicht unabhängig von ihrer Zirkulation. Das heißt aber nicht, dass die Zirkulation den Wert erst nachträglich konstituieren würde. Vielmehr bringt die Verwandlung der Gütererzeugung in ein Mittel der Erzeugung von Wert die Sphäre der Zirkulation hervor. Das ist die Grundlogik, wenn Marx schreibt: „Der der Ware immanente Gegensatz von Gebrauchswert und Wert, von Privatarbeit, die sich zugleich als unmittelbar gesellschaftliche Arbeit darstellen muß, von besondrer konkreter Arbeit, die zugleich nur als abstrakt allgemeine Arbeit gilt, von Personifizierung der Sache und Versachlichung der Personen – dieser immanente Widerspruch erhält in den Gegensätzen der Warenmetamorphose seine entwickelten Bewegungsformen.“ (Marx 1983a, S. 128) 4 Im Kapital liest sich das folgendermaßen: „Jedermann weiß, wenn er auch sonst nichts weiß, dass die Waren eine […] gemeinsame Wertform besitzen – die Geldform. Hier gilt es […] die Entstehung dieser Geldform nachzuweisen, also die Entwicklung des im Wertverhältnis der Waren enthaltenen Wertausdrucks von seiner einfachsten unscheinbarsten Gestalt bis
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gen in seinen ökonomiekritischen Schriften sind auf dieses grundlegende Problem fokussiert: „Die Hauptschwierigkeit in der Analyse des Geldes ist überwunden, sobald sein Ursprung aus der Ware selbst begriffen ist. Unter dieser Voraussetzung handelt es sich nur noch darum, seine eigentümlichen Formbestimmtheiten rein aufzufassen, was einigermaßen erschwert wird, weil alle bürgerlichen Verhältnisse vergoldet oder versilbert, als Geldverhältnisse erscheinen, und die Geldform daher einen unendlich mannigfaltigen Inhalt zu besitzen scheint, der ihr selbst fremd ist. In der folgenden Untersuchung ist festzuhalten, daß es sich nur um die Formen des Geldes handelt, die unmittelbar aus dem Austausch der Waren herauswachsen, nicht aber um seine, einer höhern Stufe des Produktionsprozesses angehörigen Formen, wie z. B. Kreditgeld. Der Vereinfachung wegen ist Gold überall als die Geldware unterstellt.“ (Ebd., S. 49)
Für Marx war die zentrale geldtheoretische Frage die Fortentwicklung des Warenfetischs zum Geldfetisch. Er wollte erklären, wie es dazukommt, dass im Kapitalismus das Individuum in der Gestalt des Geldes „seine gesellschaftliche Macht, wie seinen Zusammenhang mit der Gesellschaft in der Tasche mit sich“ (Marx 1983b, S. 90) herumtragen kann. In der innermarxistischen Debatte spielte der Springpunkt der Kritik der politischen Ökonomie, die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise als fetischistische Form der Vergesellschaftung, die eine eigene, genuin kapitalistische Reichtumsform hervorbringt, nur eine marginale Rolle. Erst recht gilt das für die nichtmarxistische Marxrezeption. Diese Wahrnehmung hatte, was die Marx’sche Geldtheorie angeht, fatale Konsequenzen. Dass Marx in seiner Darstellung der Vereinfachung halber vom Gold als der Königsware ausging, nahm man zum Anlass, sein Geldkonzept mit dem Metallismus der Klassik in einen Topf zu werfen und den spezifischen Inhalt seiner Geldtheorie der Einfachheit halber zu ignorieren. So heißt es in einem Klassiker der Wirtschaftstheoriegeschichte: „Der Metallismus hat Vertreter der verschiedensten theoretischen Richtungen zu den Verfechtern seiner Gedankengänge gezählt. So hat Marx in seinem Kapital unter dem Einfluß der klassischen Lehre eine streng metallisch orientierte Geldtheorie entwickelt, indem er die Anschauung, daß das Geld ein bloßes Zeichen sei, aufs entschiedenste ablehnte und zugleich den Nachweis zu führen suchte, daß das Geld als Ware seinen Wert ausschließlich aus der zu seiner Produktion notwendigen Arbeitszeit herleitet“ (Stavenhagen 1969, S. 432). zur blendenden Geldform zu verfolgen. Damit verschwindet zugleich das Geldrätsel.“ (Marx 1983a, S. 62)
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Die Marx’sche Theorie wird also durch die Brille des Nominalismus-Metallismus-Streits betrachtet, der im 19. Jahrhundert die geldtheoretische Diskussion beherrschte.5 Was die Bestimmung der Geldware angeht, trennen indes in Wirklichkeit Welten die Kritik der politischen Ökonomie von der Klassik. Die Klassik hatte sich das Label Metallismus redlich verdient, weil sie in der Tat auf Gold und Silber oder irgendeine andere auf den Gütermärkten gehandelte Ware als vermeintlich unhintergehbare Grundlage des Geldsystems festgelegt war. Das Marx’sche Konzept des Geldes als ausgesonderte Ware lässt dagegen auch eine Geldware zu, die sich aus einer anderen Abteilung des Warenkosmos rekrutiert. Die Herleitung der Notwendigkeit einer Geldware impliziert in keiner Weise, dass sich der Kandidatenkreis auf die Gütermarktwaren beschränken würde. Auch wenn Marx diesen die Analyse verkomplizierenden Fall nie untersucht hat, nach der inneren Logik seiner Argumentation kann die Geldware genauso gut den auf den Kapitalmärkten gehandelten Waren entstammen.6 Diese entscheidende Differenz zwischen der Klassik und der Marx’schen Theorie entspringt unmittelbar den Vorstellungen vom Inhalt des kapitalistischen Reichtums. Wie weiter oben schon skizziert, sah Adam Smith, der Urvater der klassischen Ökonomie, in den für den Konsum vorgesehenen Gebrauchswerten den eigentlichen Warenreichtum und behandelte den Tauschwert der Waren als etwas Nachgeordnetes. Wer die Ware aber so deutet und gleichzeitig die These vertritt, als Materiatur des Geldes kämen nur Waren infrage, dem verengt sich die Auswahl an möglichen Kandidaten für die Position der Geldware aber notwendigerweise auf die mit einem sinnlich-stofflichen Gebrauchswert ausgestatteten Waren, also auf die Gütermarktwaren. Marx dagegen begriff umgekehrt den Tauschwert als das im Kapitalismus allein gesellschaftlich Relevante an den besonderen Waren. Geld stellte für ihn die Verkörperung des Tauschwerts schlechthin dar:
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Selbst ein Autor wie Schumpeter, einer der wenigen namhaften bürgerlichen Ökonomen, der sich gründlicher und im Allgemeinen durchaus wohlwollend mit Marx beschäftigt hat, vertrat diese Sicht. Wie die übrigen Vertreter seiner Disziplin schloss er aus dem Umstand, dass Marx keine von seiner übrigen Theorie getrennte Geldtheorie vorgelegt hat, dieser habe gar keine nennenswerte eigene Geldtheorie vorgelegt. Er sprach von „Marxens ausgesprochen schwacher Leistung auf dem Gebiet des Geldes, wo es ihm nicht gelungen ist, an den Ricardianischen Standard heranzukommen“ (Schumpeter 1946, S. 45). 6 Unter Kapitalmarktwaren verstehe ich Eigentumstitel wie Aktien und Anleihen. Sie entstehen, wenn Geldkapital als Ware veräußert wird. Im Unterschied zu Gütermarktwaren repräsentieren sie Anspruch auf künftigen Wert (vgl. Lohoff 2014; Lohoff & Trenkle 2012). Ich komme weiter unten noch genauer auf diesen spezifischen Warentypus zu sprechen.
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„Es ist Grundlage der kapitalistischen Produktion, daß das Geld als selbständige Form des Werts der Ware gegenübertritt, oder daß der Tauschwert selbständige Form im Geld erhalten muß, und dies ist nur möglich, indem eine bestimmte Ware das Material wird, in deren Wert sich alle anderen Waren messen, daß sie ebendadurch die allgemeine Ware, die Ware par excellence im Gegensatz zu allen anderen Waren wird.“ (Marx 1965, S. 532)
Diese Argumentation ist nicht nur insofern der Klassik diametral entgegengesetzt, als sie das von der Klassik aus dem kapitalistischen Reichtum ausgebürgerte Geld als die „absolute Ware“ fasst. Hinzu kommt noch: Wenn der Tauschwert das Wesentliche an der Ware ist, dann erweitert sich der Kandidatenkreis für den Posten der Königsware logischerweise um jene Waren, die Tauschwert repräsentieren, ohne deshalb mit einem sinnlich-stofflichen Gebrauchswert ausgestattet zu sein.
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Vom Warenfetisch über den Geldfetisch zum Kapitalfetisch
Die bürgerliche Ökonomie will in der kapitalistischen Produktionsweise eine ausgesprochen rationale Wirtschaftsweise erkennen. Die Kritik der politischen Ökonomie dechiffriert diesen vermeintlichen Inbegriff einer vernünftigen Form der Reichtumserzeugung als ein verrücktes mehrstufiges Fetischsystem. Schon die Ware hat Fetischcharakter, weil die sozialen Beziehungen der Menschen in die Arbeitsprodukte schlüpfen und damit den Menschen in dieser sachlichen Gestalt als äußere Macht gegenübertreten. Oder um es in Marx’sche Worte zu kleiden: „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht […] darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.“ (Marx 1983a, S. 86)
Diese Grundlogik des Fetischismus, die Veräußerlichung eines Verhältnisses zu einem selbstständigen Ding, wiederholt sich noch einmal an den Waren selbst. Die Tauschwertdimension der Waren verselbstständigt sich zu einem neben den besonderen Waren existierenden Sondergegenstand, der ausgesonderten allge meinen Ware. Das macht den Kern des Geldfetischs aus: „Die Bestimmung des Produkts im Tauschwert bringt also notwendig mit sich, daß der Tauschwert eine vom Produkt getrennte, losgelöste Existenz erhält. Der von den
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Waren selbst losgelöste und selbst als eine Ware neben ihnen existierende Tauschwert ist – Geld. Alle Eigenschaften der Ware als Tauschwert erscheinen als ein von ihr verschiedner Gegenstand, eine von ihrer natürlichen Existenzform losgelöste soziale Existenzform im Geld.“ (Marx 1983b, S. 80)
Damit ist die Stufenfolge des Fetischismus aber keineswegs abgeschlossen. Die Verwandlung eines sozialen Verhältnisses in die Eigenschaft einer scheinbar selbstständig existierenden Sache macht sich auch noch auf einer anderen Ebene bemerkbar, nämlich auf der des Kapitalverhältnisses. Folgt man der Marx’schen Analyse, ist Kapital zunächst einmal ein drei Metamorphosen7 umfassender sozialer Prozess, in dem sich der Wert dank der Nutzung des besonderen Gebrauchswerts der Ware Arbeitskraft „in ein automatisches Subjekt“ (Marx 1983a, S. 169) der Wertverwertung verwandelt. Auch dieser Prozess bringt wiederum eine eigene Fetischgestalt hervor, den Kapitalfetisch. Weil das Geld die „absolute Daseinsweise des Tauschwerts“ ist, hat es auch im Kapitalkreislauf eine privilegierte Position inne. Während die besonderen Waren immer nur Durchgangsstation im Prozess der Wertverwertung sein können, bildet das Geld dessen Ausgangs- und Endpunkt. Der Prozess der Wertverwertung stellt sich als die Selbstzweckbewegung der Verwandlung von Geld in mehr Geld dar. Das bleibt nicht ohne Rückwirkung auf das Geld selbst. Seine Sonderstellung im Warenkosmos als Ausgangspunkt des Kapitalkreislaufs verleiht ihm „außer dem Gebrauchswert[,] den es als Geld besitzt, einen zusätzlichen Gebrauchswert, nämlich den, als Kapital zu fungieren. Sein Gebrauchswert besteht hier eben in dem Profit, den es in Kapital verwandelt, produziert. In dieser Eigenschaft als mögliches Kapital, als Mittel zur Produktion des Profits, wird es Ware, […] eine Ware sui generis.“ (Marx 1965, S. 351) Indem Geld in seiner Eigenschaft als potenzielles Kapital selbst wiederum zu einer potenziellen Ware wird, nimmt nicht nur der Tauschwert der Waren im Geld eine von den Waren selbst getrennte Gestalt an. Darüber hinaus nimmt im Geld auch das Kapitalverhältnis eine der tatsächlichen Wertverwertung äußerliche und vom fungierenden Kapital und seinem Kreislauf abgelöste Darstellungs-
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Die erste Metamorphose besteht im Ankauf von Arbeitskraft und Produktionsmitteln. An die Stelle der allgemeinen Ware treten besondere Waren. Im Produktionsprozess entsteht eine neue Ware, in der nicht nur der Wert der vernutzten Produktionsmittel und Arbeitskraft wiedererscheint; weil der Arbeitskraft der genuin gesellschaftliche und damit übersinnliche Gebrauchswert eigen ist, über ihre eigenen Reproduktionskosten hinaus Wert erzeugen zu können, repräsentiert diese neue Ware mehr Wert als die ursprünglich vorge schossene Geldsumme. In einer dritten Metamorphose nehmen der Wert und Mehrwert der neuen Ware wieder Geldgestalt an. Aus G ist Gʹ geworden.
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form an. Damit tritt neben den Geldfetisch eine weitere Fetischform, nämlich der Kapitalfetisch. Es gibt verschiedene Formen, in denen Geld in seiner Eigenschaft als potenzielles Kapital Ware werden und sich an ihm das Kapitalverhältnis veräußerlichen kann. Marx hat vor allem eine Variante der „Veräußerlichung des Kapitalverhältnisses“ (ebd., S. 404) untersucht, nämlich das zinstragende Kapital. Dabei nahm er zunächst einmal in den Blick, wie sich der Kapitalfetisch für den potenziellen Verleiher von Geldkapital darstellt: „Es hängt ab von dem Besitzer des Geldes, d. h. der Ware in ihrer stets austauschbaren Form, ob er es als Geld verausgaben oder als Kapital vermieten will. Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr. Das gesellschaftliche Verhältnis ist vollendet als das Verhältnis eines Dings, des Geldes, zu sich selbst. Statt der wirklichen Verwandlung von Geld in Kapital zeigt sich hier nur ihre inhaltslose Form. Wie bei der Arbeitskraft, wird der Gebrauchswert des Geldes hier der, Wert zu schaffen, größeren Wert, als der in ihm selbst enthalten ist. Das Geld als solches ist bereits potentiell sich verwertender Wert und wird als solcher verliehen, was die Form des Verkaufens für diese eigentümliche Ware ist. Es wird ganz so Eigenschaft des Geldes, Wert zu schaffen, Zins abzuwerfen wie die eines Birnbaums Birnen zu tragen. Und als solches zinstragende Ding verkauft der Verleiher sein Geld.“ (Ebd., S. 405)
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Waren zweiter Ordnung
Diese gerade angeführte Passage erfreut sich in der marxistischen Debatte großer Beliebtheit. Allerdings wird dieses Marxzitat und das Problem des Kapital fetischs überhaupt üblicherweise rein ideologiekritisch verstanden. Dass die Welt des Monetären ohne Rückkoppelung auf reale Arbeitsvernutzung (kapitalistischen) Reichtum hecken kann, so die gängige Lesart, sei nur eine optische Täuschung. So viel ist daran richtig. Wer einen 20-Euro-Schein in einen Blumentopf einpflanzt, wird selbst bei regelmäßigem Gießen kein Wachstum des abstrakten Reichtums beobachten können. Kapital ist kein Ding, sondern ein als Ding erscheinendes gesellschaftliches Verhältnis, und dementsprechend ist auch seine Vermehrung Ergebnis gesellschaftlicher Beziehungen. Allerdings gibt es neben der in der marxistischen Diskussion wohlbekannten Kapitalbildung durch die Nutzung der (Mehr-)Wertschöpfungspotenz der Ware Arbeitskraft noch eine zweite, von der marxistischen Diskussion ausgeblendete Variante. Auch die Beziehung, die der Verkauf der Ware Geldkapital vermittelt, kann abstrakten Reichtum her-
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vorbringen. Die von tatsächlicher Wertverwertung entkoppelte Kapitalbildung ist keine bloße subjektive Einbildung, der Kapitalfetisch ist wie der Waren- und der Geldfetisch ein Realfetisch. Um den Mechanismus der Kapitalbildung jenseits der Wertverwertung zu verstehen, muss man vor allem eine besondere Eigentümlichkeit der Ware Geldkapital in den Blick nehmen: die Doppelnutzung ihres Gebrauchswerts durch Käufer und Verkäufer. Bei den Gütermarktwaren, die Marx im ersten Band des Kapitals analysierte, ist so etwas unvorstellbar. Wer einen Apfel verkauft, kann diesen anschließend nicht mehr selbst essen. Was diesen Sektor des Warenkosmos angeht, bedeutet der Verkauf unweigerlich die vollständige und endgültige Abtretung des Gebrauchswerts der Ware an den Käufer. Auch beim Verkauf einer Geldsumme als Geldkapital erhält der Käufer selbstverständlich den Gebrauchswert des Geldes. Er hat nunmehr die Geldsumme in Händen und kann diese z. B. als Tauschmittel verwenden. Das heißt aber nicht, dass der Verkäufer im Gegenzug den Gebrauchswert der Geldsumme nicht mehr nutzen könnte. Im Gegenteil, indem er sein Geld unter dem Vorbehalt weggibt, dass es später vermehrt zu ihm zurückkehrt, nutzt er dessen Gebrauchswert als potenzielles Kapital. Die Veräußerung der ursprünglichen Geldsumme ermöglicht aber nicht nur die gleichzeitige Nutzung ihres Gebrauchswerts durch zwei verschiedene Wirtschaftsakteure; indem die ursprüngliche Geldsumme qua Verleih oder auf andere Weise als Geldkapital veräußert wird,8 kommt es auch im Hinblick auf den Tauschwert für die Zeit der Weggabe zu einer Verdoppelung. Die Originalsumme ist zwar an den Geldkapitalkäufer übergegangen, aber der Verkäufer steht keinesfalls mit leeren Händen da. Er verfügt über einen monetären Anspruch gegenüber dem Käufer des Geldkapitals, und das ist sein Kapital. Solche verselbstständigten Spiegelbilder der Ursprungsgeldsumme bezeichnete Marx in Abgrenzung zu dem mit tatsächlicher Wertproduktion befassten fungierenden Kapital als „fiktives Kapital“. Die ökonomische Bedeutung dieses „fiktiven Kapitals“ hängt wiederum von der gesellschaftlichen Gestalt ab, die es annimmt. Solange es sich bei dem Spiegel bild des Originalkapitals um einen nicht übertragbaren persönlichen Anspruch auf Tilgung und Zins handelt, wie bei einem Kredit zwischen Privatpersonen, stellt das Spiegelbild zwar für den Eigner Kapital dar, es geht aber nicht in den Wirtschaftskreislauf ein und insofern schlägt die Verdoppelung der Ausgangssumme in Original und Spiegelbild, gesamtkapitalistisch betrachtet, nicht weiter zu Buche. Das ändert sich aber, wenn das Spiegelbild des Ausgangskapitals, das Zahlungsversprechen, zirkuliert. Das kann indirekt geschehen, z. B. wenn das Geldkapital an eine Bank verliehen und mit zum Ausgangspunkt der Kreditvergabe dieser Bank 8
Neben dem Verleih von Geldkapital gehört der Ankauf von Aktien zu den traditionell wichtigsten Formen der Geldkapitalveräußerung.
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wird. In diesem Fall entsteht gesellschaftliches Zusatzkapital. Das kann auch direkt vonstattengehen, nämlich dann, wenn der monetäre Anspruch selbst die Form einer handelbaren Ware annimmt und zirkuliert, etwa in Gestalt von Aktien oder verbrieften Schuldtiteln wie Unternehmens- oder Staatsanleihen. Diese auf den Kapitalmärkten gehandelten Waren stellen genauso kapitalistischen Reichtum dar wie die vom fungierenden Kapital erzeugten Waren. Allerdings unterscheidet sich ihre Genese grundlegend von den auf den Gütermärkten gehandelten besonderen Waren. Ich habe deshalb die an den Finanzmärkten gehandelten Waren als Waren zweiter Ordnung bezeichnet, um sie von den Gütermarktwaren zu unterscheiden, die ich daher als Waren erster Ordnung bezeichnet habe (Lohoff & Trenkle 2012, S. 124 – 138). Während die Waren erster Ordnung vergangene Arbeit, also bereits erzeugten Wert, repräsentieren, verkörpern die Waren zweiter Ordnung vorab kapitalisierten künftigen Wert. Dass Geld auch ohne den Umweg der Vernutzung lebendiger Arbeit Geld hecken kann, ist also nicht nur eine Fehlwahrnehmung des Geldkapitalisten, der am Profit anderer partizipiert;9 der erfolgreiche Verkauf von Aktien und Schuldtiteln und die Kreditverkettung stellen tatsächlich eine eigene, auf Wertantizipation beruhende Form der Kapitalbildung dar. Die Kreditverkettung und das Auftreten der Waren zweiter Ordnung machen also auch den Kapitalfetisch zum Realfetisch.10
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Die innere kategoriale Gliederung des Geldsystems
Verlassen wir den Kapitalfetisch und kehren wir zum Geldfetisch und zum logischen Status des Marx’schen Geldkonzepts zurück. Wenn die Kritik der politischen Ökonomie das Geld als die ausgesonderte allgemeine Ware fasst, dann hebt diese Bestimmung wohlgemerkt auf das Geldsystem als ganzes ab. Genauso, wie im Absolutismus die Position des Königs als Herr des Justizwesens den Monar chen keineswegs dazu zwang, jeden Angeklagten persönlich abzuurteilen, genauso wenig muss die allgemeine Ware im alltäglichen Zahlungsverkehr leibhaftig auftreten und den Gütermarktwaren unmittelbar gegenübertreten. So, wie der 9
So wird in der marxistischen Diskussion argumentiert. Die Bewegung G – Gʹ soll demnach bloßer Schein sein, hinter dem sich die Ausbeutung der Arbeitskraft und die Mehrwertproduktion verbirgt. Die realfetischistische Dimension des Kapitalfetischs bleibt auf diese Weise ausgeblendet. 10 Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass dieses verselbstständigte Spiegelbild des Ursprungskapitals mit der Realisierung des Eigentumstitels wieder verschwindet. Solange das fiktive Kapital neben dem Ausgangskapital existiert, ist es genauso real und wirtschaftlich wirksam wie dieses.
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Monarch seine Stellvertreter hatte, die in seinem Namen Recht sprachen, so kann sich auch die Geldware aus dem Alltagsgeschäft zurückziehen und diese Aufgabe ganz oder teilweise delegieren.11 Nicht alles, was im Alltag Geldfunktion übernimmt, ist dementsprechend selbst Geldware. Allerdings – und das ist entscheidend – hat jedes entwickelte und funktionstüchtige Geldsystem eine Geldware zur Grundlage. Das, was im Alltagssprachgebrauch als Geld firmiert, ist dementsprechend keineswegs identisch mit der Geldware im Sinne der Marx’schen Theorie. Schon zu Marxens Zeit setzte sich Geld im landläufigen Sinne vornehmlich aus abgeleiteten Geldformen zusammen, die nicht aus sich selbst heraus abstrakten Reichtum verkörpern, sondern nur vermittelt über ihre Beziehung zur Königsware diese Fähigkeit erlangen. Vom Standpunkt der Kritik der politischen Ökonomie lassen sich zwei Grundformen dieser logisch nachgeordneten Geldformen unterscheiden: zum einen von der Hüterin der allgemeinen Ware, der Zentralbank, ausgegebene Geldzeichen wie Banknoten und Münzen. Deren Fähigkeit, abstrakten Reichtum zu repräsentieren, leitet sich von der im Besitz der Zentralbank befindlichen Geldware her. Zum anderen private Geldsurrogate, auf gesetzliche Zahlungsmittel lautende Zahlungsversprechen privater Akteure, die wiederum das gesetzliche Zahlungsmittel ersetzen. Diese zweite, abgeleitete Geldform hat Marx in seinen Schriften vornehmlich am Beispiel des Wechsels – zu seinen Lebzeiten noch die wichtigste Art von Kreditgeld – behandelt. Kategorial betrachtet, gehört der Wechsel genauso wie die späteren entwickelteren Kreditgeldvarianten zu den Waren zweiter Ordnung und stellt antizipierten Wert dar. Als übertragbares und verzinstes Zahlungsversprechen gehören er und seinesgleichen zwar zum Warenkosmos, wie alle Arten von handelbaren privaten Zahlungsversprechen ist er allerdings Teil der Klasse der besonderen Waren – das unterscheidet ihn von Geldware. Beim Wechsel stach der Surrogatcharakter insofern noch sehr deutlich ins Auge, als dieser für die Verpflichtung des Ausstellers stand, zu einem festgesetzten Termin den Wechselbrief gegen „richtiges Geld“ einzutauschen. Beim modernen Kreditgeld, bei dem die Zahlungsverpflichtungen von Geschäftsbanken den Zahlungsverkehr zwischen den Konteninhabern vermitteln, wird dieser nachgeordnete Status durch permanente Verrechnungsprozesse etwas verschleiert. Am Kern der Sache, dem Ersatz von gesetzlichen Zahlungsmitteln durch Zahlungsverspre11 Im täglichen Geldverkehr hatte die Geldware schon zu Marxens Lebzeiten in erheblichem Umfang Geldzeichen und privatem Kreditgeld Platz gemacht. Was den inländischen Zahlungsverkehr angeht, ging Marx im Prinzip von einer vollständigen Substituierbarkeit der Geldware aus. Nur im internationalen Zahlungsverkehr galt ihm bei Ungleichgewichten in der Zahlungsbilanz die Geldware – damals das Gold – als unersetzbar: „Symbolisches Geld oder Kreditgeld […] können die edeln Metalle als Kaufmittel oder Zahlungsmittel in der innern Zirkulation ersetzen, aber nicht auf dem Weltmarkt.“ (Marx 1961, S. 142)
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chen privatwirtschaftlicher Akteure, hat sich aber nichts geändert. Wer an der Supermarktkasse statt zum Bargeld zur EC-Karte greift und die Rechnung aus seinem Girokonto-Guthaben begleicht, tritt einen monetären Anspruch gegenüber der Geschäftsbank an den Supermarktbetreiber ab. Dieser Vorgang setzt logisch die Existenz des gesetzlichen Zahlungsmittels bereits voraus.12 Schon zu Marxens Zeiten nutzten die privaten Marktteilnehmer neben der leibhaftigen Geldware in Gestalt von Goldmünzen vor allem Banknoten und Scheidemünzen als Zahlungsmittel. Diese Geldwarenzeichen, die bis heute als gesetzliches Zahlungsmittel dienen, sind weder allgemeine Ware noch besondere Ware, sondern reine Geldsymbole. Für sich betrachtet, verkörpern sie weder bereits erzeugten noch antizipierten Wert, sondern verweisen nur auf die Geldware. Gedeckt sind sie durch den kapitalistischen Reichtum, den die Geldzeichen ausgebende Instanz akkumuliert hat. Nicht ihr verschwindend geringer Eigenwert und auch keine ominöse Knappheit, sondern die bei den Zentralbanken aufge häuften Bestände an Geldware verleihen den Geldsymbolen ihre gesellschaftliche Gültigkeit und machen sie zu stellvertretenden Wertrepräsentanten.
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Der Wechsel der Geldware
Jedes entwickelte kapitalistische Geldsystem weist die skizzierte Gliederung auf und setzt sich aus den drei beschriebenen Grundelementen zusammen: der eigentlichen Geldware, die vornehmlich oder ausschließlich in den Tresoren bzw. der Bilanz der Zentralbank zu suchen ist, den von der Zentralbank ausgegebenen Geldzeichen und dem privaten Kreditgeld. Ein Geldsystem, das sich von dieser Grundstruktur verabschiedet und auf eine Geldware verzichtet, kann nicht funktionieren. Die durch keinerlei Geldware gedeckten Geldzeichen würden sich unweigerlich in das rückverwandeln, was Banknoten und Münzen ihrer sinnlichstofflichen Natur nach sind, bedruckte Papierzettel und kleine Metallplättchen. Allerdings hat das Geldsystem auf dem Boden dieser Dreigliederung tiefgreifende Umwälzungsprozesse durchgemacht. Vor allem seine Basis, die Geldware, hat im Laufe der kapitalistischen Entwicklung gewechselt. Hatten sich zu Marxens Lebzeiten noch Gold und Silber die Rolle der Geldware geteilt (Bimetallismus), so übernahm gegen Ende des 19. Jahrhunderts in allen wichtigen kapitalistischen Ländern das Gold die Alleinherrschaft. Im klassischen Golddeckungssystem lag die Abhängigkeit der Geldzeichen von der Geldware und ihr Wert insofern 12 Seinen juristischen Niederschlag findet der nachgeordnete Status von privatem Kreditgeld darin, dass jeder Marktteilnehmer zwar das gesetzliche Zahlungsmittel zur Begleichung von Forderungen akzeptieren muss, nicht aber privates Kreditgeld.
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noch offen zutage, als deren Beziehung juristisch fixiert war. Zum einen waren die meisten Zentralbanken verpflichtet, für die ausgegebenen Geldzeichen in einem festgeschriebenen Verhältnis Gold zu bevorraten.13 Zum anderen hatte jeder Banknoteninhaber gegenüber der zuständigen Notenbank das Recht, die Geldzeichen zu einem Fixkurs in leibhaftiges Edelmetall umzutauschen. Das machte aus Währungen wie dem britischen Pfund, der deutschen Reichsmark oder dem US-Dollar direkte regionale Repräsentanten einer bestimmten Gewichtseinheit der Geldware. Dass ausgerechnet das Gold den Thron der allgemeinen Ware bestieg, war kein historischer Zufall. Solange die Geldware sich aus den Reihen der mit einem sinnlich-stofflichen Gebrauchswert ausgestatteten Waren erster Ordnung rekrutierte, war das Gold für diesen Part prädestiniert. Aufgrund seiner physischen Eigenschaften und seines hohen Werts pro Gewichtseinheit stellt es die ideale Verkörperung tatsächlich verausgabter abstrakt allgemeiner Arbeit dar. Trotzdem blieb das goldfundierte Geldwesen nicht das letzte Wort der kapitalistischen Entwicklung. Aufgrund der Entfaltung der Produktivkräfte wuchsen die Vorauskosten der Mehrwertproduktion schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts derart dramatisch, dass es zusehends unmöglich wurde, diese allein aus dem bereits akkumulierten abstrakten Reichtum zu bestreiten. Zur Fortsetzung des kapitalistischen Akkumulationsprozesses wurde der Vorgriff auf künftige Wertproduktion unabdingbar. Das kann im großen Stil aber nur gelingen, wenn auch die Geldware an diesem Vorgriffsprozess Teil hat und nicht mehr vergangene „tote Arbeit“ repräsentiert, sondern vorabkapitalisierte künftige Wertproduktion. Der Wechsel der Geldware war das Ergebnis eines langwierigen, sich über mehr als sechs Jahrzehnte hinziehenden historischen Prozesses, der hier nur angedeutet werden kann. Er begann 1914, als bei Kriegsausbruch in Ländern wie Großbritannien und Deutschland angesichts der horrenden Kriegskosten die Goldeinlösepflicht der Notenbanken ausgesetzt werden musste. Er führte nach den monetären Wirren der Zwischenkriegszeit mit dem Bretton-Woods-System zu einer Art Doppelherrschaft der alten und der neuen Geldware. Während die USA, die wirtschaftliche Übermacht der unmittelbaren Nachkriegszeit, dem Ausland gegenüber14 die Goldbindung des US-Dollars aufrechterhielten, nutzten die
13 Die Bank von England beispielsweise war verpflichtet, zwei Drittel der umlaufenden Banknoten mit Gold zu decken. Für das übrige Drittel war ihr gestattet, erstklassige Handelswechsel zu halten, was mit Zinseinnahmen verbunden war. 14 Nach innen galt die Goldkonvertibilität schon seit 1933 nicht. Damals hatte die RooseveltRegierung im Rahmen des New Deal den US-Bürgern privaten Goldbesitz untersagt. Dieses Verbot fiel erst 1971. Es hatte mit der allgemeinen Aufhebung der Goldbindung des US-Dollars seine Funktion verloren.
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Zentralbanken der anderen kapitalistischen Kernstaaten vornehmlich auf Dollar lautendes fiktives Kapital als Geldware. In dem Maß, wie der ökonomische Vorsprung der USA dahinschmolz und der Fortgang der Produktivkraftentwicklung eine weitere Steigerung des Vorgriffs auf künftige Wertproduktion unerlässlich machte, ließ sich dieses Mischsystem nicht mehr aufrechterhalten. Mit der Aufhebung der Goldkonvertibilität des US-Dollars 1971 hatte das Gold endgültig als Geldware ausgedient und die im Rahmen ihrer „Kreditgeldschöpfung“ sich bei den Zentralbanken akkumulierenden monetären Forderungen übernahmen nun allein den Part der Geldware.
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Die neue Geldware und ihre Eigentümlichkeiten
Das im Gefolge der Demonetarisierung des Goldes entstandene neue Geldsystem hat eine wesentlich kompliziertere Struktur als das Golddeckungssystem, das Marx vor Augen hatte. Um die Geheimnisse des damaligen Geldwesens zu enträtseln, genügte es im Kern noch, den Geldfetisch allein zu lüften. Das zeitgenössische Geldsystem ist dagegen das Ergebnis der Verschränkung zweier Fetischformen, des Geldfetischs mit dem Kapitalfetisch. Die im Abschnitt über die Waren zweiter Ordnung skizzierte geheimnisvolle Fähigkeit, durch den Verkauf von Geldkapital und die doppelte Nutzung seines Gebrauchswerts künftige Wertproduktion vorab in Kapital zu verwandeln, spielte zu Marxens Zeit für den kapitalistischen Akkumulationsprozess insgesamt nur eine marginale Rolle und blieb ein auf die privaten Kapitalmärkte beschränktes Epiphänomen. Auf der heutigen Entwicklungsstufe des Kapitalismus hat das gesamte Geldsystem Wertantizipation zum Inhalt – auch und gerade die Geldware verkörpert künftigen Wert. Das heutige Zentralbankgeld ist durch nichts anderes gedeckt als durch das sich bei den Zentralbanken im Rahmen der „Geldschöpfung“15 ansammelnde fiktive Kapital. Welche Bedeutung der Geldwarenwechsel auf der Tauschwertseite hat, ist damit geklärt: Als eine Ware erster Ordnung repräsentierte die klassische Geldware Gold vergangene abstrakte Arbeit. Ihre Nachfolgerin als Geldware entstammt da15 Den Begriff „Geldschöpfung“ verwende ich an dieser Stelle nur, weil er etabliert ist. Wie nach dem bereits Gesagten klar sein dürfte, vernebelt er den realen Zusammenhang. Zum einen erhalten die Geschäftsbanken von den Zentralbanken keineswegs simples Geld, sondern von vornherein in Geldkapital verwandeltes Geld, da sie sich das Geld ja gegen entsprechende Zinsen leihen; zum anderen suggeriert der Begriff der „Schöpfung“, Giralgeld entstünde als Ergebnis einer einseitigen Setzung durch die Zentralbanken. In Wirklichkeit entspringt alles Buchgeld immer einem Interaktionsverhältnis. Die Zentralbanken können nur Geld „schöpfen“, indem sie mit Geschäftsbanken in eine Kreditbeziehung treten, und die Geschäftsbanken, indem sie geeignete Kreditnehmer finden.
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gegen aus den Reihen der Waren zweiter Ordnung und ist damit Darstellungsform von bereits vorab in Kapital verwandelter künftiger Wertproduktion. Sie steht also für den Vorgriff auf noch zu leistende abstrakt allgemeine Arbeit. Diese Veränderung auf der Tauschwertseite der Geldware geht aber selbstverständlich mit tiefgreifenden Veränderungen auch auf der Gebrauchswertseite einher. Weil eine systematische Untersuchung den Rahmen dieser Skizze sprengt, muss an dieser Stelle eine kurze Aufzählung genügen. Schon die Aussonderung der allgemeinen Ware aus der Schar der besonderen Waren folgt einer unterschiedlichen Logik, je nachdem, ob die allgemeine Ware aus der Schar der Waren erster oder zweiter Ordnung entstammt. Mit den Verhältnissen beim Edelmetall sind wir bereits vertraut. Die Waren erster Ordnung haben höchst unterschiedliche sinnlich-stoffliche Gebrauchswerte. Der Gebrauchswert einer dieser vielen besonderen Waren wird, wie Marx bereits dargestellt hat, zur Materiatur seines Gegenteils, zur Verkörperung von Tauschwert schlechthin. Die Aussonderung der Geldware aus den Reihen der Waren zweiter Ordnung muss schon deshalb einem anderen Muster folgen, weil sämtliche Waren dieser Abteilung der Warenwelt mit demselben übersinnlichen Gebrauchswert ausgestattet sind: dem Gebrauchswert, sich verwertenden Wert darzustellen. Die Trennlinie zwischen Warenpöbel und Warenkönigin verläuft hier nicht zwischen verschiedenen Waren; vielmehr hängt es davon ab, in wessen Besitz sich eine Ware zweiter Ordnung befindet, ob sie eine besondere Ware ihrer Klasse bleibt oder zur allgemeinen Ware erhoben wird. Gewährt eine Geschäftsbank einer anderen Kredite, so haben die Zahlungsversprechen des Kreditnehmers den Charakter privaten fiktiven Kapitals. Räumt dagegen die Zentralbank einer Geschäftsbank einen Kredit ein, dann verwandeln sich die Rückzahlungsversprechen der Geschäftsbank damit in Elemente der allgemeinen Ware. Ein US-Staatspapier im Besitz eines privaten Anlegers, beispielsweise einer Geschäftsbank, ist eine besondere Ware. Akzeptiert dagegen die EZB das gleiche Staatspapier als Sicherheit für einen Zentralbankkredit, ändert sich sein Status. Die Hinterlegung des Staatspapiers bei der abstrakten Allgemeinheit des Monetären, die die gesetzlichen Zahlungsmittel ausgibt, erhebt es in den Königswaren-Stand. Mit dem Auslaufen des Kredits und der Rückübertragung an die Geschäftsbank verliert die US-Anleihe diese Position selbstverständlich wieder. Ein grundlegender Unterschied zwischen der klassischen Geldware und ihrer Nachfolgerin liegt damit auf der Hand. Wie bereits erwähnt, war schon zu Marxens Zeiten das Gold, was den alltäglichen Zahlungsverkehr angeht, im Rückzug begriffen. Trotzdem bleibt es ein Grundmerkmal jedes Geldsystems, in dem eine Gütermarktware als Geldware dient, dass nicht nur die Zentralbanken, sondern prinzipiell immer auch die privaten Akteure als Geldwarenbesitzer auftreten können. Wer Gold oder Goldmünzen besaß, verfügte nicht nur über bloße Geldzei-
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chen, sondern direkt über die Geldware. Im heutigen Geldsystem kann dagegen die Geldware ex definitione überhaupt niemals in die Hand privater Akteure gelangen. Als das bei der Kreditgewährung an Geschäftsbanken aufseiten der Zentralbanken entstehende fiktive Kapital existiert die neue Geldware nur auf der Aktiva-Seite der Zentralbank-Bilanz. Der Marx’sche Begriff der allgemeinen Ware als der ausgesonderten Ware bekommt damit eine neue Bedeutung. Die feste Lokalisierung der Geldware bei den Zentralbanken als einer abstrakten Allgemeinheit des Geldes schließt selbstverständlich eine direkte Konvertibilität der gesetzlichen Zahlungsmittel gegenüber der neuen Geldware, wie sie das klassische Golddeckungssystem ausgezeichnet hatte, per se aus. Das heißt freilich nicht, dass der „Wert“ der umlaufenden Geldzeichen sich unter dem zeitgenössischen Geldregime von dem bei den Zentralbanken akkumulierten abstrakten Reichtum emanzipiert hätte. Deren Gültigkeit leitete sich nach wie vor, wenn auch indirekt von der Geldware her. Eine Geldware, die ihren Status der Sonderstellung ihres Besitzers verdankt, hat im Gegensatz zur klassischen Geldware zwangsläufig synthetischen Charakter. Zusammengesetzt aus den monetären Ansprüchen der Notenbanken unterliegt sie als eine Art Kompositware einem Prozess permanenter Neukombinierung. Beständig laufen Zentralbankkredite aus und werden neue gewährt, beständig findet ein Händewechsel von Waren zweiter Ordnung zwischen Geschäftsbanken und Zentralbanken statt. Und auch der Gesamtumfang der synthetischen Geldware unterliegt ganz erheblichen Schwankungen – nicht zuletzt je nachdem, welche Geldpolitik die Zentralbank gerade betreibt. Gerade was das angeht, könnte der Kontrast zur alten Geldware kaum dramatischer ausfallen. Unter dem Goldregime hatte das Geldsystem eine weitgehend starre Grundlage. Sieht man von den nichtmonetären Verwendungen des Edelmetalls der Einfachheit halber einmal ab, dann war die Masse der Geldware identisch mit dem Gesamtumfang des der Erde entrissenen Edelmetalls. Das mit der Expansion des Systems abstrakten Reichtums wachsende Bedürfnis nach zusätzlicher Geldware konnte dementsprechend im Rahmen des klassischen Golddeckungssystems nur auf eine Weise Erfüllung finden: durch zusätzliche Goldförderung. Der Wechsel der Geldware hat dem Selbstzwecksystem der Vermehrung abstrakten Reichtums ganz neue Akkumulationsspielräume verschafft. Unter dem Golddeckungssystem wurde noch ein Teil des produzierten Reichtums dem Akkumulationsprozess entzogen und stillgelegt, nur damit das Gold seine Aufgabe als absolute Ware erfüllen konnte. Der Übergang zur neuen Geldware bedeutet nicht nur den Wegfall dieser faux frais des kapitalistischen Gesamtbetriebs, als integraler Bestandteil des Wertantizipationssystems kann die Erzeugung der Geldware sogar einen eigenen Beitrag zur Kapitalakkumulation leisten. Dieser gewaltige Vorzug hat freilich seinen Preis. Zunächst einmal schrumpft mit dem Wechsel
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der Geldware ihr Gültigkeitsbereich. Das Gold hatte nicht nur innerhalb bestimmter Währungsgebiete die Position der allgemeinen Ware inne, sondern fungierte in Barrenform zugleich auch unmittelbar als Weltgeld. Bei der Nachfolgerin beschränkt sich der Herrschaftsbereich dagegen auf den jeweiligen Währungsraum. Das wirkt sich unweigerlich auch auf die Austauschrelationen der verschiedenen regionalen Geldzeichen aus. Während sich beim Golddeckungssystem aufgrund der Anbindung aller Währungen an das Edelmetall ganz automatisch fixe Wechselkurse zwischen den gesetzlichen Zahlungsmitteln verschiedener Länder ergaben, bedeutete die endgültige Abdankung des Goldes den Übergang zu instabilen Wechselkursen. Der Wechsel der Geldware ist aber noch mit einem weiteren Manko verbunden. Die alte Geldware wird ihre Fähigkeit, abstrakten Reichtum zu verkörpern, bis zum Ende aller kapitalistischen Tage ohne jeden Abstrich behalten – es sei denn der alte Alchemistentraum von der Verwandlung wertloser Materialien in Gold würde irgendwann einmal Wirklichkeit. Von der neuen Geldware lässt sich das nicht sagen. Genauso wie beim privaten fiktiven Kapital gibt es beim im Besitz der Zentralbanken befindlichen fiktiven Kapital keine Garantie für eine vollständige Realisierung des antizipierten Werts. Immer wieder verliert das ausgegebene Zentralbankgeld einen Teil seiner Deckung – mit entsprechenden langfristigen Folgen für seinen „Geldwert“. An der Entwicklung der Inflationsraten lässt sich der strukturelle Validitätsverlust ganz gut ablesen. Auf dem Boden des Golddeckungssystems gab es zwar auch im Verlauf des Konjunkturzyklus Schwankungen des Austauschverhältnisses zwischen den besonderen Waren einerseits und der allgemeinen Ware und ihrem papierenen Stellvertreter andererseits, aber keinen konjunkturübergreifenden Trend zur Geldentwertung. Mit dem Ende der Alleinherrschaft des Goldes änderte sich das von Grund auf. Nicht von ungefähr hat sich unter Wirtschaftshistorikern der Begriff der „säkularen Inflation“ eingebürgert. Spätestens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bröckelt parallel zum kapitalistischen Akkumulationsprozess die Kaufkraft der Geldzeichen. Dieser Erosionsprozess ist mal stärker, mal schwächer ausgeprägt, er ist aber längst ein integraler Bestandteil des kapitalistischen Normalbetriebs. Das geht so weit, dass bei den Ökonomen bei einem Sinken der Inflationsrate unter die 2-Prozent-Marke die Alarmglocken läuten, denn es gilt als Krisenzeichen. Es gehört zur Natur einer in getrennte Privatproduzenten aufgelösten Gesellschaft, dass die Konkurrenz Gewinner und Verlierer hervorbringt. Zu keinem Zeitpunkt vollziehen alle Kapitalien die Selbstzweckbewegung der Wertverwertung erfolgreich. In jeder Periode unterliegt die eine oder andere Ware, das eine oder andere Einzelkapital der Entwertung und bleibt auf der Strecke. Gerät die Entwertung von Waren und Kapital freilich zum Massenphänomen und gelin gende Verwertung von der Regel zur Ausnahme, dann wird die Sache vom kapi
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talistischen Standpunkt aus bedenklich. Das System des abstrakten Reichtums ist dann in eine Krise geraten. Auch für den Verlauf und den Inhalt dieser Krisen hat der Wechsel der Geldware weitreichende Konsequenzen. Solange das Gold die Position der Geldware innehatte, konzentrierten sich die Entwertungsprozesse in den Krisen auf die besonderen Waren. Entwertet wurde das private fungierende und fiktive Kapital, nie die allgemeine Ware. Da mit dem Wechsel der Geldware ihre Erzeugung selbst zu einem Moment des kapitalistischen Akkumulationsprozesses wird, bedeutet das auch, dass in den großen Krisen der Entwertungsprozess im Prinzip auch auf die Geldware und damit auf das Geldmedium insgesamt übergreifen kann – eine Entwicklung, die auf dem Boden der Geldware Gold grundsätzlich ausgeschlossen ist. Welche Verlaufsform die Entwertungskrisen auf dem Boden des Golddeckungssystems nahmen, hat schon Marx dargelegt. In den Krisen findet zum einen eine Entwertung der besonderen Waren statt, aus denen sich das fungie rende Kapital zusammensetzt. Das betrifft primär die Erzeugnisse, die das fungierende Kapital nicht mehr oder nur unter ihrem Wert absetzen kann, und sekundär die bei der Produktion zum Einsatz kommenden Maschinen und Rohstoffe. Zum anderen wird der Ersatz der Geldware durch private Geldsurrogate zum Problem: „In Zeiten der Klemme, wo der Kredit einschrumpft oder ganz aufhört, tritt plötzlich Geld als einziges Zahlungsmittel und wahres Dasein des Werts absolut gegenüber. Daher die allgemeine Entwertung der Waren, die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit, sie in Geld zu verwandeln, d. h. in ihre eigene rein phantastische Form. Zweitens aber: Das Kreditgeld selbst ist nur Geld, soweit es im Betrag seines Nominalwerts absolut das wirkliche Geld vertritt. Mit dem Goldabfluß wird seine Konvertibilität in Geld problematisch, d. h. seine Identität mit wirklichen Geld.“ (Marx 1965, S. 532)
Wenn Marx von Geldkrise spricht, dann immer nur in dieser engen Bedeutung akuten Mangels an gesellschaftlich gültiger Zahlungsfähigkeit. In dem Maß, wie die Geldware nicht mehr in hinlänglichem Umfang durch die Zahlungsversprechen privater Akteure substituiert werden kann, kommt es zu einer Kontraktion der monetären Basis, die die Warenpreise in den Keller fallen lässt und die Güterproduktion zum Erliegen bringt. Dementsprechend resümiert Marx, was den Kern des Krisenmechanismus ausmacht, folgendermaßen: „Eine Entwertung des Kreditgeldes (gar nicht zu sprechen, von einer übrigens nur imaginären Entgeldung desselben) würde alle bestehenden Verhältnisse erschüttern. Der Wert der Waren wird daher geopfert, um das phantastische und selbständige Dasein dieses Werts im Geld zu sichern. Als Geldwert ist er überhaupt nur gesichert, solange das Geld gesichert ist. Für ein paar Millionen Geld müssen daher viele Millionen Wa-
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ren zum Opfer gebracht werden. Dies ist unvermeidlich in der kapitalistischen Produktion und bildet eine ihrer Schönheiten.“ (Ebd., S. 532)
Die apodiktische Aussage, die Opferung der besonderen Waren auf dem Altar der allgemeinen Ware in den Krisen gehöre zu den unvermeidlichen „Schönheiten“ der „kapitalistischen Produktion“, muss man allerdings relativieren. Dieser Mechanismus bricht sich in den Krisen nur so lange ungestört Bahn, wie die Geldordnung auf der Golddeckung fußt. Der Wechsel der Geldware verschafft den Zentralbanken ein Instrumentarium, mit dem sich die „Konvertibilität“ des privaten Kreditgelds wirksam verteidigen lässt. Indem die Zentralbanken die Leitzinsen senken und ihre eigene „Geldschöpfung“ steigern, können sie drohende Kreditklemmen verhindern und damit der Entwertung der besonderen Waren gegensteuern. Allerdings – und das ist die Kehrseite – büßt das „wirkliche Geld“ (Marx) damit auch die Position des die Krisenlandschaft überstrahlenden sol invictus ein. Durch eine lockere Geldpolitik und die verstärkte „Schöpfung“ von Zentralbankgeld lässt sich eine fundamentale Krise im System der Vermehrung des abstrakten Reichtums nur provisorisch überspielen, aber nicht beheben. Diese Maßnahmen verschieben den Entwertungsbedarf lediglich in die Zukunft, und zwar indem sie diesen auf das Geldmedium als solches verlagern. Die letzte globale Krise, die nach dem von Marx beschriebenen Muster einer reinen Deflationskrise verlief, war die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre. Schon in den Jahren unmittelbar nach der endgültigen Demonetarisierung des Goldes folgten die ökonomischen Verwerfungen einem neuen Drehbuch. Die 1970er Jahre gingen als Phase der „Stagflation“, des Nebeneinanders von Wachstumsschwäche und relativ hohen Inflationsraten, in die Wirtschaftsgeschichte ein. Es ist absehbar, dass sich dieses Muster im weiteren Verlauf der fundamentalen Krise, in der die kapitalistische Produktionsweise inzwischen steckt, auf weit höherer Stufe reproduzieren muss. Als 2008 beim privaten fiktiven Kapital die schlimmste Entwertungsspirale aller Zeiten drohte und damit der Totalabsturz der Weltwirtschaft, sprangen die Zentralbanken ein und brachten mit einer Politik des superbilligen Geldes das System der Vorabkapitalisierung künftiger Wertproduktion zurück auf den Wachstumskurs. Das konnten die Währungshüter aber nur, indem sie dazu übergingen, ihrerseits immer mehr, im Grunde entwertungsbedürftiges, fiktives Kapital zu akkumulieren, also durch eine schleichende Verschlechterung der Qualität der Kompositgeldware. Wenn im Gefolge neuerlicher Krisenschübe gerade auch die Aktiva der Zentralbanken sich als Finanzschrott entpuppen und manifeste Entwertungsprozesse durchmachen, muss das auf die abgeleitete Kaufkraft der Geldsymbole durchschlagen. Der Krisenschub von 2008 und seine Überwindung sind nur das Vorspiel zu neuen Krisenschüben, bei denen sich die Entwertung der besonderen Waren erster und zweiter Ordnung mit
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der Entwertung der allgemeinen Ware verschränkt. Der logische Fluchtpunkt des Krisenprozesses im 21. Jahrhundert ist eine in getrennte Privatproduzenten aufgelöste Weltgesellschaft, die erfolgreich das für sie Unabdingbare zerstört hat: ein funktionstüchtiges Geldwesen.
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Funktionale Geldbestimmung und Unsichtbarmachung der Geldware
Auch bei vielen Ökonomen weckt der Kurs, den die Zentralbanken seit 2008 eingeschlagen haben, Inflationsbefürchtungen. Allerdings lassen es die theoretischen Vorgaben der Volkswirtschaftslehre nicht zu, das Grundproblem dort zu verorten, wo es angesiedelt ist. Das hat einen einfachen Grund: Die drohende Entwertung der Geldware lässt sich nun einmal schwerlich untersuchen, ohne die Existenz einer Geldware zu konstatieren. Die Volkswirtschaftslehre geht aber mit größter Selbstverständlichkeit davon aus, es gäbe längst keine Geldware mehr. Wie kommen die Wirtschaftswissenschaften zu dieser falschen Vorstellung und warum sind sie gegen jeden Zweifel auch noch immun ? Der Hauptursache ist zweifellos in dem bereits eingangs dargestellten Grundfehler der Volkswirtschaftslehre zu suchen. Wie einst die Klassik, so mystifizieren auch die heutigen Wirtschaftswissenschaften den Inhalt des kapitalistischen Reichtums. Sie haben keinen Begriff von abstraktem Reichtum und verwechseln Warenreichtum mit dem Reichtum an sinnlich-stofflichen Gebrauchswerten. Wer, in den Spuren Adam Smiths wandelnd, Warenreichtum nur dort erkennen kann, wo sinnlich-stoffliche Gebrauchswerte als Träger von Tauschwert auftreten, für den ist eine aus den Reihen der Waren zweiter Ordnung stammende Geldware aber logischerweise unsichtbar. Die verschiedenen Eigentumstitel, die die Zentralbanken im Rahmen ihrer Geldschöpfung akkumulieren, haben nun einmal im Gegensatz zur klassischen Geldware Gold keinerlei sinnlich-stofflichen Gebrauchswert, sondern nur den übersinnlichen Gebrauchswert, künftige Wertproduktion zu repräsentieren. Weil das herrschende Denken seine eigenen blinden Flecken als unhintergehbare Wahrheiten voraussetzt, stellt sich ihm der Wechsel der Geldware als ihr Verschwinden dar. Der fehlende Begriff von abstraktem Reichtum und die Gleichsetzung des Warenreichtums mit dem Reichtum an sinnlich-stofflichen Gebrauchswerten ist aber nicht der einzige Grund, warum das herrschende Denken den Prozess der De monetarisierung des Goldes, der 1971 seinen Abschluss fand, mit der Dekommo difizierung des Geldes verwechselt. Die Volkswirtschaftslehre verfügt noch über eine zweite höchst wirksame Tarnkappe, die ihr die neue Geldware unsichtbar macht. Die wirtschaftswissenschaftliche Ideologie hat die Diskussion um das We-
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sen des Geldes schon vor Jahrzehnten ergebnislos abgebrochen und begnügt sich damit, Geld über seine Funktionen für die einzelnen Wirtschaftssubjekte zu definieren. Der britische Ökonom John Hicks hat dieses Geldverständnis auf seine klassische Formel gebracht: „Money is defined by its functions: anything is money which is used as money: money is what money does.“ (Hicks 1967, S. 1) Auf den ersten Blick erscheint diese Quintessenz eines funktionalistischen Geldkonzepts als inhaltsleere nichtssagende Tautologie. Vor dem Hintergrund unserer Analyse betrachtet, enthält diese Aussage indes gleich zwei weitreichende geldtheoretische Setzungen: Indem behauptet wird, alles, was Geldfunktion ausübe, sei auch Geld, ist die notwendige begriffliche Unterscheidung zwischen Banknoten und privat geschöpftem Kreditgeld, also privatem fiktiven Kapital, ausgelöscht. Aber nicht nur das. Bestimmt man ausschließlich das als Geld, was unmittelbar Geldfunktion ausübt, also den privaten Wirtschaftssubjekten im alltäglichen Geschäftsverkehr als Zahlungsmittel dient, dann fällt die heutige Geldware aus dem Geldbegriff komplett heraus. Wie im letzten Abschnitt bereits dargelegt, existiert diese nämlich nur in den Bilanzen der Zentralbanken. Es gehört gerade zu ihren Eigentümlichkeiten, dass sie anders als die klassische Geldware Gold den privaten Wirtschaftsakteuren nie leibhaftig gegenübertreten kann. Damit gelangt die allgemein anerkannte funktionalistische Sicht des Geldes zu einem Bild des heutigen Geldsystems, in dem die reale Hierarchie zwischen eigentlicher Geldware und der abgeleiteten Geldform auf dem Kopf steht: Nur die abgeleiteten Geldformen sollen wirklich Geld darstellen, die Grundlage des Geldsystems dagegen ist theoretisch eliminiert. Obwohl somit der kategoriale Unterschied zwischen Geldzeichen einerseits und als Zahlungsmittel dienendem privaten fiktiven Kapital andererseits im herrschenden Geldkonzept kategorial ausgelöscht ist, schleicht er sich über die Hintertür der verschiedenen Geldmengendefinitionen, allerdings begriffslos und rein empirisch, in die Lehrgebäude wieder ein. Die Volkswirtschaftslehre operiert mit „engeren“ und „weiteren“ Geldmengendefinitionen, die sich dadurch unterscheiden, welche „geldnahen“ Vermögenswerte jeweils als Geld zählen und welche nicht. Die Geldmenge M1 umfasst neben dem Bargeld nur die Sichtgeldeinlagen der Nichtbanken, also so etwas wie Girokonten. M2 rechnet Sparbücher mit gesetzlicher Kündigungsfrist und Einlagen mit einer Laufzeit von bis zu zwei Jahren in die Geldmenge hinein. Die Geldmenge M3 umfasst zusätzlich noch u. a. Geldmarktfonds, Geldmarktpapiere sowie Bankschuldverschreibungen mit einer Laufzeit von bis zu zwei Jahren. Im Klartext, je „weiter“ eine Geldmengendefinition ist, desto mehr Formen von privaten fiktivem Kapital werden dem Geld zugeschlagen. Bei der theoretischen Tilgung der Geldware hat die herrschende ökonomische Lehrmeinung ganze Arbeit geleistet. Sie kennt zwar neben den üblichen Geldmengen M1 bis M3 auch noch die Geldbasis M0. Dahinter verbirgt sich aber keines-
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wegs die Geldware. Der Urbezugspunkt des Geldsystems wird stattdessen folgendermaßen bestimmt: „Die Geldbasis umfasst die aktuellen Bestände an Zentralbankgeld, die die Grundlage für die Geldschöpfung der Kreditinstitute bilden. Die Geldbasis ist die Summe aus Bargeldumlauf (einschließlich der Kassenbestände der Kreditinstitute) plus Sichtguthaben der Kreditinstitute bei der Zentralbank (Zentralbankguthaben).“ (www.wirtschaftslexikon.co/d/geldbasis/geldbasis.htm)
Betrachtet man den realen Zusammenhang, dann sind bei der Schöpfung von „Zentralbankgeld“ zwei Vorgänge untrennbar miteinander verbunden. a) Die Notenbank gewährt den Geschäftsbanken Kredite, die sie teilweise in der Gestalt von Bargeld, also von Geldzeichen, auszahlt, teilweise als Guthaben auf den Konten der Privatbanken bei der Zentralbank verbucht, über das diese jederzeit verfügen können. b) Im Gegenzug zu dieser Überlassung von Geldkapital akkumuliert die Zentralbank monetäre Ansprüche gegenüber den Geschäftsbanken, also Forderungen auf Rückzahlung und Verzinsung der betreffenden Kredite innerhalb eines definierten Zeitraums. In den Geldmengendefinitionen findet allein der erste Aspekt seinen Niederschlag. Um bei M0 zu bleiben, so umfasst die „Geldbasis“ das über die Kreditvergabe an die Geschäftsbanken in Umlauf gebrachte Bargeld und die Sichtguthaben, die den Teil des den Geschäftsbanken von den Zentralbanken überlassenen Geldkapitals darstellen, der aktuell keinen Eingang in das System der privaten Kreditkettenbildung gefunden hat. Die dazugehörige Gegenbewegung, die Anhäufung von Waren zweiter Ordnung bei der Notenbank, also die Summe an Forderungen gegenüber den Privatbanken, die in der Bilanz der Zentralbank verbucht ist, fällt bei der Geldmengenbestimmung unter den Tisch. Natürlich wissen Ökonomen eigentlich sehr gut, dass jede Bilanz zwei Seiten hat und die Zentralbanken nicht nur Verbindlichkeiten gegenüber den Geschäftsbanken zu verbuchen haben, sondern auch Forderungen an diese. Dank der funktionalistischen Bestimmung des Geldes haben diese Aktiva indes keine geldtheoretische Bedeutung. Diese konsequente Ausblendung der Geldware spiegelt sich übrigens auch in der merkwürdigen Begriffsbildung der „Geldschöpfung“ wider. Die Zentralbanken bringen das sogenannte Zentralbankgeld heute so gut wie ausschließlich durch Kreditvergabe an die Geschäftsbanken in Umlauf. Selbst die Einspeisung des Bargelds in den Wirtschaftskreislauf erfolgt auf diesem Wege. Dass zum Eingehen von Kreditbeziehungen immer zwei Seiten gehören, nämlich Leiher und Verleiher, versteht sich eigentlich von allein. Trotzdem suggeriert der Begriff der „Geldschöpfung“ einen einseitigen Akt mit der Zentralbank als Schöpfergott. Die funktionalistische Geldbestimmung kennt eben nur das Geldkapital, das die Geschäftsbanken von den Zentralbanken erhalten, aber nicht die andere
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Seite der gleichen Medaille, die Akkumulation monetärer Forderungen durch die Zentralbanken, und das schlägt sich in der irreführenden Begriffsbildung nieder. Weil die Volkswirtschaftslehre kapitalistischen Reichtum mit Güterreichtum vermengt und ihr funktionalistisches Geldverständnis immer schon als verbindlich voraussetzt, erscheint ihr der Prozess der „Dematerialisierung“ des Geldes als schlagender Beweis für die Richtigkeit der nominalistischen Geldvorstellung. Allerdings bezahlt sie die Immunisierung gegen den Gedanken einer Geldware damit, dass sie sich den Zugang zu einer tragfähigen Analyse des modernen Geldsystems schon im Ansatz verbaut.
10 Die Ideologie vom Geld als bloßem Warenverkehrsmittel in der Krise Seit den Tagen Adam Smiths verkaufen die Ökonomen die kapitalistische Produktionsweise als eine besonders rationale Form der Gebrauchsgüterversorgung und das Geld als bloßes Warenverkehrsmittel. Diese irreführende Sicht verdankt ihre Pseudoplausibilität vor allem zwei für den Kreislauf des fungierenden Kapitals charakteristischen Umständen. Zum einen findet die Wertvermehrung beim fungierenden Kapital außerhalb der Zirkulation statt. Solange man die einzelnen Tauschakte betrachtet und vom kapitalistischen Gesamtprozess abstrahiert, erscheint es deshalb naheliegender, die Doppelbewegung von Kauf und Verkauf als vermittelten Tausch von Ware gegen Ware zu deuten, statt als die sinnlos wirkende Selbstzweckbewegung von Geld zu mehr Geld. Das gilt umso mehr, als im Kapitalismus eine breite Schicht von Marktteilnehmern existiert, für die das Geld wirklich nur die Bedeutung eines Warenverkehrsmittels hat. Die Arbeitskraftverkäufer veräußern in der Tat ihre Arbeitskraft nur, um sich mit dem verdienten Geld die zur Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse nötigen Waren kaufen zu können. Allerdings hat der erfolgreiche Verkauf der Ware Arbeitskraft eine gesellschaftliche Voraussetzung: Die Arbeitskraftverkäufer gelangen nur dann in den Besitz des Geldes, wenn sie einen Käufer finden, für den die Anwendung der Arbeitskraft sich in einen Prozess der Verwandlung von Geld in mehr Geld einfügt. Dieser Kleinigkeit trägt das landläufige Geldkonzept nicht Rechnung. Indem es Geld als bloßes Warenverkehrsmittel fasst, erklärt es die Bewegung W – G – W zum Inhalt kapitalistischen Wirtschaftens und verschleiert, dass dieser nun einmal im Selbstzweck G – W – Gʹ besteht. Geld fungiert zwar durchaus als allgemeines Zirkulationsmittel, aber eben nur soweit es zugleich in den Kreislauf der Kapitalverwertung eingebunden ist. Die skizzierten verschleiernden Sachverhalte erklären, warum die falschen Grundannahmen der Wirtschaftstheorie ein derart zähes Leben führen und seit
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den Tagen Adam Smiths immer wieder neu aufgetischt werden konnten. Allerdings hat das kapitalistische System in den letzten Jahrzehnten vor allem eine Veränderung durchgemacht, die von einer ganz anderen Seite her die Plausibilität des herrschenden Geldkonzepts untergräbt. Das Hauptmerkmal der letzten Jahrzehnte kapitalistischer Entwicklung bestand bekanntlich in einer historisch beispiellosen explosionsartigen Aufblähung des Finanzüberbaus. Seit den 1980er Jahren findet die Kapitalvermehrung primär in der Form der Vermehrung fiktiven Kapitals statt und hat sich von der sogenannten Realwirtschaft, also der Herstellung von Gütermarktwaren, immer weiter abgelöst. Die Akkumulation fungierenden Kapitals ist zu einem Anhängsel der Akkumulation fiktiven Kapitals geworden. Vor diesem historischen Hintergrund wirkt das überkommene Geldkonzept schon rein empirisch wie aus der Zeit gefallen. Was soll man von einer Geldvorstellung halten, die das Geld stur über seine Funktionen gegenüber den Gütermarktwaren bestimmt, wenn das Gros des Geldes an den Finanzmärkten haust und Geld die Bewegung von Aktien, Schuldtiteln und Derivaten vermittelt ? Damit aber nicht genug. Vor allem in den letzten Jahren ist zusätzlich auch noch das Paradigma von der kapitalistischen Produktionsweise als einer rationalen Produktionsweise immer mehr unter Druck geraten. Weder die beständig breiter werdende Schneise ökologischer und sozialer Verwüstung, die die kapitalistische Wirtschaftsweise schlägt, noch die immer neuen Krisenschübe, die das kapitalistische Weltsystem seit Beginn des Jahrhunderts erschüttern, passen so recht zu diesem Urmythos des Liberalismus und der westlichen Gesellschaften. Diese Entwicklung blieb nicht ohne Wirkung auf die Debattenlandschaft. Zumindest außerhalb des fachökonomischen Mainstreams ist die von der Volkswirtschaftslehre schon vor vielen Jahrzehnten als müßig ad acta gelegte Frage, was Geld eigentlich überhaupt ist, mittlerweile en vogue. In den letzten Jahren erschienen zahlreiche Publikationen von Philosophen, Ethnologen und wirtschafts wissenschaftlichen Dissidenten zum Thema Geld, die vor allem in zweierlei Hinsicht auf Distanz zum etablierten Geldkonzept gehen: Zum einen ist die klassische Herleitung des Geldes aus dem Tausch unter Beschuss geraten. Die neue Geld debatte reagiert insofern auf die alles überragende Bedeutung des Kredits im Geldwesen unserer Tage, als sie sich vom alten Tauschparadigma abwendet und das Phänomen der Schuld in den Fokus rückt. Zum anderen sind angesichts der Finanzmarktkapriolen Positionen auf dem Vormarsch, die im vermeintlich bloß technischen Mittel Geld eine Macht mit irrationalen, ja zutiefst sakralen Zügen sehen.
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11 Marx und die blinden Flecken der neuen Gelddebatte Wer die Theoriegeschichte auf der Suche nach Geldkonzepten durchforstet, die das moderne Geld als etwas genuin Irrationales und Metaphysisches begreifen, stößt nicht gerade auf ein Überangebot. Die mit Abstand elaborierteste Position, die diesen Standpunkt vertritt, stammt zweifellos von Marx, der darauf insistiert, dass im Geldwesen die basale Irrationalität der kapitalistischen Produktionsweise kulminiert und handgreiflich wird. Deshalb könnte man eigentlich erwarten, dass die neue Gelddebatte auf der Suche nach potenziellen theoretischen Bezugspunkten das Geldkonzept der Kritik der politischen Ökonomie in Augenschein nimmt und auf seine Erklärungskraft abklopft. Das gilt umso mehr, als die Zeit vorbei ist, in der Marx generell als toter Hund galt, und sein Name inzwischen zumindest als Diskursspielmarke wieder lebhaft zirkuliert. Trotzdem spielt die Marx’sche Theorie des Geldes als der ausgesonderten allgemeinen Ware in der neuen Gelddebatte überhaupt keine Rolle. Das Marx’sche Geldkonzept wurde, wie oben schon erläutert, seit jeher irri gerweise der metallistischen Lehre zugeschlagen und als eine Variante der auf dem Tauschparadigma beruhenden Geldtheorie der Klassik behandelt. Die blinde Übernahme dieser falschen Zuordnung ist sicherlich ein Grund dafür, warum das frisch erwachte Interesse an der Frage des Geldes mit einem weitgehenden Desinteresse am Marx’schen Ansatz einhergeht. Wesentlich wichtiger ist aber etwas anderes: Die neue Gelddebatte attackiert zwar einzelne Theoreme des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams, aber ohne sich mit seinen falschen Basisaxiomen kritisch auseinanderzusetzen. Die Vorstellung vom Geld als einem vermeintlich neutralen Güterverkehrsmittel landet auf dem theoretischen Misthaufen, das Paradigma vom Geld als einer dem System der warengesellschaftlichen Reichtumsproduktion fremd und äußerlich gegenüberstehenden Entität feiert dagegen fröhliche Urständ. Damit hat die neue Gelddebatte aber genau dort ihren blinden Fleck, wo der Fokus des Marx’schen Geldkonzepts liegt. In diesen Zusammenhang ordnet sich auch eine besondere Eigentümlichkeit der neuen Gelddebatte ein: ihre Neigung, die Irrationalität des zeitgenössischen Geldsystems diachron erklären zu wollen, also aus der Urgeschichte des Geldes abzuleiten. Die Marx’sche Theorie vom Geld als ausgesonderter allgemeiner Ware setzt die Verwandlung aller Reichtumsproduktion in Warenproduktion und die Auflösung der Gesellschaft in isolierte Privatproduzenten bereits voraus. Sie bezieht sich also ausschließlich auf die kapitalistische Produktionsweise, in der die Ware zur universellen Reichtumsform geworden ist. Dabei argumentiert sie rein logisch in dem Sinne, dass sie die innere Logik dieser Gesellschaftsformation entschlüsseln will, in der das Geld eine Schlüsselposition einnimmt und einen his-
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torisch-spezifischen Charakter besitzt, der sich nicht aus einer die verschiedenen Produktionsweisen übergreifenden Universalgeschichte des Geldes erschließen lässt. Wer das versucht, behandelt das Geld im Grunde als eine der kapitalistischen Gesellschaft äußerliche Entität, die an sich immer gleich geblieben ist und nur äußerliche Veränderungen durchlaufen hat. Es liegt dann nahe, die Irrationalität des heutigen Geldsystems aus einem im Kern unveränderlichen Wesen des Geldes abzuleiten – eine in der neuen Gelddebatte stark ausgeprägte Tendenz. Auch wenn ihr ursprüngliches Motiv, sich mit dem Thema Geld näher zu beschäftigen, sicherlich die Verrücktheiten des zeitgenössischen Geldwesens waren, springen Autoren wie David Graeber (2012), Christina von Braun (2012) oder Christoph Türcke (2015) in ihren Büchern erst einmal Jahrtausende zurück. Sie alle betreiben eine Art Etymologie der Sprache des Monetären und erhoffen sich davon Aufschluss über die Abgründe des gegenwärtigen Finanzsystems. Der Mythos vom Geld als ewigem neutralen Warenverkehrsmittel lässt sich mit solchen archäologischen Anstrengungen zweifellos ohne Weiteres demontieren. So hat etwa der Ethnologe und Vordenker der Occupy-Bewegung David Graeber eine profunde Kritik an Adam Smiths Ursprungslegende des Geldes geliefert und sich damit ideologiekritisch einige Meriten erworben. Gestützt auf umfangreiches ethnologisches Material hat Graeber in seinem Buch Schulden: Die ersten 5 000 Jahre die Idee der Entstehung des Geldes aus dem Tausch als das entlarvt, was sie ist: ein rein ideologisches Konstrukt. Wie der Titel des Bestsellers bereits verrät, ersetzt er Smiths Ontologie des Tauschs aber durch eine nicht minder irreführende Ontologie der Schuld. Die Kreditbeziehungen der Gegenwart, welche die wichtigste Form des Handels mit der Ware Geldkapital darstellen, erscheinen bei ihm als die Fortsetzung sakral aufgeladener persönlicher Verpflichtungsbeziehungen mit anderen Mitteln. Das stellt gegenüber der Klassik und der VWL aber keinen Erkenntnisfortschritt dar, sondern nur eine Umkehrung der Projektionsrichtung. Projizierte der tauschontologische Standpunkt die allein für die moderne kapitalistische Produktionsweise charakteristische Auflösung der Gesellschaft in getrennte Privatproduzenten in die Vorgeschichte hinein, so interpretiert Graeber das moderne Kreditsystem durch die Brille prämoderner persönlicher Verpflichtungsverhältnisse. Moderne Kreditbeziehungen sind aber nun einmal als eine spezifische Variante versachlichter Warenbeziehungen zu fassen. Ihre Grundlage ist die Verwandlung von Geldkapital in eine Ware und die setzt wiederum das Kapitalverhältnis, die Verwandlung der stofflichen Reichtumsproduktion in Warenproduktion, bereits logisch voraus. Adam Smith entwarf ein marktliberales Traumbild der traditionellen Gesellschaften, Graeber gerät bei der Schilderung des zeitgenössischen Finanzsystems ins Fabulieren und projiziert Formen persönlicher Herrschaft in es hinein. Das deckt sich zwar mit den personifizierenden Vorstellungen des gesunden Men-
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schenverstandes und ist nicht zuletzt deshalb auch so populär, analytisch jedoch ist es ein Holzweg. Nicht nur Graebers Darstellung schwächelt analytisch umso mehr, je näher sie an die Gegenwart heranrückt. Dieses Manko kennzeichnet mehr oder weniger die gesamte neuere geldkritische Literatur und entspringt ihrer erkenntnisleitenden Prämisse. Wer meint, im modernen Finanzsystem reproduziere sich einfach nur der „opferreligiöse“ Kern (Türcke 2012) früherer Geldformen oder seine „Deckung durch den menschlichen Körper“ (Braun 2012), unterstellt bei allen sonstigen Differenzen in der Argumentation immer schon, Geld sei letztlich seit jeher seinem Wesen nach gleich geblieben. Dieser Grundfehler der neueren Gelddebatte, den sie mit der herkömmlichen Volkswirtschaftslehre teilt, lässt sich nur überwinden, wenn wir die historischspezifische Logik der kapitalistischen Produktionsweise in den Mittelpunkt der Kritik rücken, wenn wir also nicht diachron, sondern synchron denken. Stellenwert und Funktionsweise des heutigen Geldwesens erschließen sich nur durch eine systematische Analyse der verrückten Vergesellschaftungsform, die das moderne Geld hervorgebracht hat. Im Geld gewinnt die Tauschwertseite der besonderen Waren eine von deren spezifischen Gebrauchswerten getrennte Gestalt und tritt dem Warenkosmos als eine verselbstständigte Macht gegenüber. Das herrschende Denken sitzt diesem fetischistischen Schein auf und behandelt das Geld, als sei es tatsächlich eine dem System der Warenproduktion äußerliche Größe und nicht nur eine externalisierte Existenzform der inneren Widersprüche der Warenwelt. Eine Variante dieses Deutungsmusters ist die klassische und neoklassische Vorstellung vom „Geldschleier“, derzufolge Geld ein rein technisches Mittel sein soll, von dem man absehen muss, um die wirklich wesentlichen ökonomischen Vorgänge in den Blick zu bekommen. Von der „Geldvergessenheit der Klassik und Neoklassik“ (Pahl 2008, S. 9) setzen sich die Vertreter der neuen Gelddebatte bewusst ab. In der Regel setzen sie der vermeintlichen „Neutralität“ des Geldes den Gedanken entgegen, es gäbe so etwas wie eine Eigenlogik des Geldmediums. Diese Ausrichtung ist freilich problematisch. Wer ihr folgt, läuft Gefahr, ins Fahrwasser einer komplementären Spielart der alten Zweiweltenvorstellung abzudriften. Seit jeher begleitet ein regressiver „Antikapitalismus“ die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise, der die jeweilige Finanz- und Geldordnung als eine der Warengesellschaft fremde Besatzungsmacht attackiert und ihr die Verantwortung für die Übel der kapitalistischen Vergesellschaftungsform zuschiebt. Sprichwörter wie „Geld regiert die Welt“ oder „Geld verdirbt den Charakter“ verweisen darauf, wie sehr der Alltagsverstand darauf konditioniert ist, allein der dinglichen Darstellungsform zur Last zu legen, was an der Warengesell schaft bedrohlich erscheint. Insbesondere in Krisenzeiten übernehmen immer wieder Ideologien die Meinungsführerschaft, die aus dem Auseinanderreißen des
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inneren Zusammenhangs zwischen allgemeiner Ware und den besonderen Waren eine Scheinerklärung für desaströse kapitalistische Entwicklungen machen (vgl. Postone 1979; Lohoff 1998). Gerade in unserer Zeit ist diese Mystifizierung der monetären Krisensymptome zur vermeintlichen Krisenursache wieder einmal en vogue.16 Seit den 1970er Jahren hat das System der auf realer Arbeitsvernutzung beruhenden Wertakkumulation seine historische Schranke erreicht. Seitdem ist die permanente Vermehrung von fiktivem Kapital zum Motor der Weltwirtschaft geworden und hält den Akkumulationsprozess in Gang (vgl. Lohoff 2016). Seit 2008, als die US-amerikanische Immobilienblase platzte und diese Art kapitalistischer Reichtumsvermehrung einen herben Rückschlag erlitt, wird quer durch die politischen Lager die „ungesunde“ Aufblähung der Finanzmärkte für die weltwirtschaftliche Malaise verantwortlich gemacht. Vor diesem historischen Hintergrund hat das neu erwachte Interesse am Geld etwas Zweideutiges. Einerseits könnte die neue Gelddebatte den überfälligen Einstieg in eine ernsthafte Kapitalismusanalyse und -kritik markieren. Denn dafür ist es angesichts der enormen Bedeutung der finanzindustriellen Akkumulation für den heutigen kapitalistischen Gesamtprozess unabdingbar, die geheimnisvolle Welt des Monetären zu durchleuchten. Andererseits: Solange die Grundstruktur der herrschenden Vergesellschaftungsform, die Auflösung der Gesellschaft in getrennte Privatproduzenten, hinter ihrer dinglichen Darstellungsform, dem Geld, verschwindet, bleibt nicht nur die analytische Reichweite der neuen Gelddebatte bescheiden; sie könnte sogar das Material für ideologisch-regressive Verarbeitungsformen der Krise liefern.
Literatur Braun, Christina von (2012). Der Preis des Geldes. Berlin: Aufbau. Graeber, David (2012). Schulden: Die ersten 5 000 Jahre. Stuttgart: Klett-Cotta. Hicks, John (1967). Critical Essays in Monetary Theory. Oxford: Clarendon Press.
16 Schon anlässlich der ersten weltumspannenden industriellen Krise, der Krise von 1857, spottete Marx über dasselbe Phänomen: „Wenn Spekulation gegen Ende einer bestimmten Handelsperiode als unmittelbarer Vorläufer des Zusammenbruchs (crash) auftritt, sollte man nicht vergessen, daß die Spekulation selbst in den vorausgehenden Phasen der Periode erzeugt worden ist und daher selbst ein Resultat und eine Erscheinung (accident) und nicht den letzten Grund und das Wesen (the final cause and the substance) darstellt. Die politischen Ökonomen, die vorgeben, die regelmäßigen Zuckungen (spasms) von Industrie und Handel durch Spekulation zu erklären, ähneln der jetzt ausgestorbenen Schule von Naturphilosophen, die das Fieber als den wahren Grund aller Krankheiten ansehen.“ (Marx 1984, S. 336 f.)
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Lohoff, Ernst (1998). Geldkritik und Antisemitismus. http://www.krisis.org/1998/geldkritik-und-antisemitismus/. Lohoff, Ernst (2014). Kapitalakkumulation ohne Wertakkumulation. http://www.krisis. org/2014/kapitalakkumulation-ohne-wertakkumulation/. Lohoff, Ernst (2016). Die letzten Tage des Weltkapitals. htttp://www.krisis.org/2016/ die-letzten-tage-des-weltkapitals/. Lohoff, Ernst, & Trenkle, Norbert (2012). Die große Entwertung. Münster: Unrast. Marx, Karl (1961). Zur Kritik der Politischen Ökonomie. In Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, Bd. 13. Berlin: Dietz. Marx, Karl (1965). Das Kapital, Band 3. In Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, Bd. 25. Berlin: Dietz. Marx, Karl (1983a). Das Kapital, Band 1. In Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, Bd. 23. Berlin: Dietz. Marx, Karl (1983b). Ökonomische Manuskripte 1857/58. In Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, Bd. 42. Berlin: Dietz. Marx, Karl (1984). Zur Kritik der Politischen Ökonomie. In Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, Bd. 12. Berlin: Dietz. Pahl, Hanno (2008). Das Geld in der modernen Wirtschaft. Frankfurt a. M./New York: Campus. Polanyi, Karl (1990). The Great Transformation: Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Postone, Moishe (1991). Nationalsozialismus und Antisemitismus. http://www.krisis. org/1979/nationalsozialismus-und-antisemitismus/. Postone, Moishe (2003). Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Freiburg i. Br.: ça ira. Schumpeter, Joseph (1946). Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Bern: Francke. Schumpeter, Joseph (1965). Geschichte der ökonomischen Analyse. Göttingen: Geschichte der Wirtschaftstheorie. Smith, Adam (1896). Lectures on Justice, Police, Revenue and Arms. http://oll.libertyfund.org/titles/smith-lectures-on-justice-police-revenue-and-arms-1763. Smith, Adam (2005). Der Wohlstand der Nationen. München: dtv. Stavenhagen, Gerhard (1969). Geschichte der Wirtschaftstheorie. Göttingen: Geschichte der Wirtschaftstheorie. Türcke, Christoph (2015). Mehr ! Philosophie des Geldes. München: C. H. Beck.
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Monetäre Mechanismen Entstehung, Dynamik und Krise1 Tobias Aufderheide-Kohl
Einführung Eine funktionierende Gesellschaft ohne Geld hat einigen Reiz. Die Zerstörung von Lebensraum, Ungleichheit bis hin zu himmelsschreiender Not und brutalster (organisierte) Gewalt hängen zum Großteil mit der Gier nach oder dem Mangel an Geld zusammen. Die Utopie von Sozialität ohne monetäre Beziehungen bei Erhaltung des westlichen Lebensstandards – bestenfalls mit einer prinzipiellen To talinklusion aller Menschen in ein System mit bedingungsloser Möglichkeit zur Bedürfnisbefriedigung – erscheint umso attraktiver, als das aktuelle nahezu globale Wirtschaftssystem auf Basis von Geld eine – wie gezeigt werden wird – inhärente, nicht auflösbare Krisenhaftigkeit zeigt, die gleiche, die den Sturz monetärer Systeme in allen historischen Durchläufen lediglich zu einer Frage der Zeit machte. Gleichzeitig zeichnet sich das globale Wirtschaftssystem aber durch eine beispiellose Innovationskraft und Produktivität aus und erzeugt für eine Minderheit einen nie da gewesenen materiellen Wohlstand, auch dies aus einer (wie gezeigt werden soll) der Ökonomie inhärenten Logik. Über wirtschaftliche Beziehungen wird eine Dynamik geschaffen, die historisch einmalig große Komplexität aufgebaut und auf Basis weniger grundlegender Mechanismen eine Vielfalt an Problemlösungskreativität freigesetzt hat.2 Andererseits folgt das globale Wirtschaftssystem einer konstitutiven Logik, die nicht dauerhaft stabil sein kann, sondern den Samen ihres Untergangs immer schon in sich trägt. Entstehung und Vernichtung von Geld selbst und den daraus folgenden Gläubiger- und Schuldnerbezie1 Dieser Artikel beruht zu Teilen auf meiner 2014 erschienenen Dissertation. 2 Vgl. Marx’ Hochgesang auf die Errungenschaften des Kapitalismus im Kommunistischen Manifest (Marx 1848). Ähnlich auch Max Weber und Georg Simmel.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_4
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hungen sind Fundament dieser langfristig selbstzerstörerischen Dynamik.3 Nicht der Tausch, wie landläufig und in der herrschenden Lehre der Volkswirtschaft angenommen, ist dabei konstitutiv für das Wirtschaften, konstitutiv sind vielmehr die Relationen über monetäre Verpflichtungen, also Schuldbeziehungen. Dazu gehören nicht nur Kreditbeziehungen von Gläubigern und Schuldnern, sondern auch der Kauf, die Miete wie auch dauerhafte Arbeitsverhältnisse in Organisationen. Das Ausweiten der Schuldbeziehungen hatte dabei in der historischen Entwicklung Fortschritt und (ungleich verteilte) Reichtumszuwächse beschleunigt und gleichzeitig die eigenen Grundlagen unterminiert bis hin zur Implosion des Systems. Hier soll es darum gehen, diese quasi in das Geldsystem eingefaltete Krisenhaftigkeit zu beleuchten, und zwar auf Basis einer Definition von Geld und einer Darstellung der aus diesem Verständnis folgenden grundlegenden Dynamik der Wirtschaft. Abschließend werden die Konsequenzen angedacht, die sich für eine Gesellschaft nach dem Geld ergeben. Leitfragen der folgenden Abschnitte werden sein: 1) Was ist Geld ? Wie entstand es und ist die historische Situation noch heute instruktiv für das Verständnis des Geldes ? Wie entstehen Märkte, wenn nicht aus einem als natürlich angenommenen Tauschdrang ? 2) Was sind die aktuellen tatsächlichen Prozesse, durch die Geld entsteht und vergeht ? 3) Wie funktioniert die Wirtschaft als Geldsystem ? Was ist die Logik dieser Art der materiellen Reproduktion ? 4 4) Welche Formen der Krisen und Destabilisierung ergeben sich aus diesem Prozess ? 5) Welche Beziehungen ergeben sich aus diesem System ? Welche Arten von Akteurshandeln, die vorher gar nicht denkbar waren, können sich jetzt entfalten ? Was „leistet“ Geld für die Koordination des globalen Systems ? Welche Konsequenzen hätte ein Wegfall von Geld für die materielle Reproduktion des globalen Systems ?
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Karl Marx war einer der ersten und wohl der populärste Vertreter der These, dass der Kapitalismus sich hin zu seiner eigenen Auflösung entwickelt. Hier wird jedoch eine grundsätzlich andere Vorstellung als der allgemeine Fall der Profitrate als letztliche Ursache angesehen. 4 Dass es andere Arten materieller Reproduktion gibt, die hier nicht „Wirtschaft“ heißen sollen, ist fraglos. So gibt es neben Solidarsystemen, etwa in Stammesgesellschaften, auch Formen der materiellen Reproduktion über Machtbeziehungen, etwa in Befehlsgesellschaften (Sozialismus, Feudalismus). Siehe Anm. 8.
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Was ist Geld ? – Genese der Geldwirtschaft5
Geld mag elementar und ubiquitär sein in unserer Gesellschaft – sein Verständnis ist es nicht. Die Vorstellung der herrschenden Lehre, der Neoklassik und ihrer Ableger, von Geld als neutralem Tauschmittel ist ein Irrtum, basierend auf historischen Spekulationen verdienter Vordenker der Ökonomik,6 die nicht auf die umfangreichen aktuellen historischen, ethnografischen und anthropologischen Erkenntnisse zu diesem Thema zurückgreifen konnten. Dementsprechend erscheint Geld in der Neoklassik größtenteils noch immer lediglich als „Schleier“, der zerrissen werden muss, um die vermeintlich wahren ökonomischen Zusammenhänge – den Tausch von Gütern und Dienstleistungen durch ihren Nutzen optimierende rationale Akteure auf Basis von Erstausstattungen – zu erkennen.7 Geld ist in diesem Modell nichts weiter als eine Recheneinheit oder ein weiteres Gut, eingeführt als universelle Ware, die den Tausch an den entsprechenden Orten – den Märkten – erleichtert. Ökonomen setzen mit ihren Annahmen einer ungleichen Grundausstattung, des Tauschhangs, der damit verbundenen kalkulierenden Rationalität etc. allerdings das voraus, was es zu erklären gilt. Ethnografisch und anthropologisch gibt es keine Hinweise darauf, dass es die von den Ökonomen angenommene „Keimzelle“ des Wirtschaftens in Form rationaler Ressourcenkombinationsoptimierer gab.8 Diese Form der zweckrationalen maximierenden Produktion, so die Gegen5
Die historische Perspektive auf das Geld ist komplementär zur Analyse von Geld und monetären Mechanismen im nächsten Abschnitt, für diese aber nicht notwendig. 6 Siehe etwa Jevons (1871), Menger (1923 [1871]) und Smith (1812 [1776]). 7 So exemplarisch etwa ein Doyen der Ökonomik, der Nobelpreisträger Paul Samuelson (1973), in seinem Standardwerk zur Volkswirtschaftslehre. 8 Es besteht ein umfangreicher Korpus an Literatur von Forschern, die nachweisen, dass das Geld seine Existenz nicht dem Tausch und dem Markt verdankt, und sich darauf beziehende Autoren, die ausarbeiten, wie das Geld alternativ aus Schuldbeziehungen hergeleitet werden muss bzw. wie Geld mit der Staatsentstehung, dem Rechtssystem (Strafzahlungen) oder religiösen Zentren verknüpft ist. Aus ethnografischer und anthropologischer Perspektive gegen die Version der Neoklassik sprechen Graeber (2011a, b) und Sahlins (1972). Auch Malinowski (1935, S. 45) betont, dass das neoklassische Tauschmodell keine universelle Gültigkeit beanspruchen kann – in Stammesgesellschaften gibt es weder Märkte noch Geld. Polanyi (1957, 1968, 1977) stellt dies auch für Feudalsysteme fest. Crawford (1970), Dalton (1965, 1967, 1971, 1982) und Frazer (1989 [1890]) zeigten, dass in Stammesgesellschaften besondere sozioinstitutionelle Strukturen die Produktion regeln, nicht der Tausch. Zur Widerlegung einer Marktwirtschaft im Feudalismus siehe vor allem Bloch (1961, S. 67). Heinsohn und Steiger (Heinsohn 1983, 1984; Heinsohn & Steiger 1981, 1989, 1999, 2006a, b) machen den wichtigen Vorschlag, das Tausch- durch das Eigentumsparadigma zu ersetzen, und unterscheiden drei Formen materieller Reproduktion – Solidar-, Befehls- und Eigentumsgesellschaft –, von denen nur die letzte als Wirtschaft gilt. Daran knüpfen auch Wray (1998, 2002, 2004, 2005) und Martin (2001, 2003, 2008) an. Hoppe und Langton (1994) betrachten das 19. Jahr-
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these, entwickelte sich erst mit der Ausbildung der modernen Wirtschaft, die darin ihren Ursprung also nicht haben kann. Die Annahme des universell tauschwilligen Verfügers über Ressourcen ist ein funktionalistischer Fehlschluss der Ökonomen: Er setzt voraus, was erklärt werden sollte, und hält die Wirkung für die Ursache, eine petio principii bzw. ein hysteron proton. Aktuelle Ansätze aus anderen Bereichen als der Ökonomik oder den Sozialwissenschaften bieten alternative Ansätze. Geld ist demnach etwa ein Medium, das Informationen überträgt – ein hier nicht hinreichend genauer und zu unspezifischer Ansatzpunkt –, oder ein Symbol für Wert – verwandt dem Gedanken von Geld als universelle (Tausch-)Ware. Andere Ansätze versuchen sich an konziseren Definitionen, etwa von Geld als alles, was neben seiner Funktion als Tauschmittel auch als Zahlungs- und Wertaufbewahrungsmittel dient, Geld als Forderung, Zahlungsversprechen, Kredit oder auch Eigentumsanrecht, wie es Heinsohn und Steiger in ihrem noch immer maßgeblichen und bahnbrechenden Werk Eigentum, Zins und Geld (1996) vertreten.9 Die historisch besten Argumente sprechen dafür, Geld als ein durch einen staatlichen Machthaber definiertes Abgabengut, also als Schuldtilgungsmittel zu verstehen. Geld entsteht demnach mit den ersten Hochkulturen vor etwa 7 000 Jahren, ohne zwingend bereits auf Geldsymbolen zu basieren. Die notwendigen Instrumente wie Zählsysteme („Token“) und Statistik gehen nach Schmandt-Besse rath (1992) der Schrift voraus. Getreide, Edelmetall wie auch geprägte Münzen fungierten historisch als Geld, insoweit eine spezifizierte Schuld einseitig und terminiert durch einen Machthaber festgelegt wurde und eine Nichterfüllung Sanktionen zur Folge hatte. Das schulderfüllende Abgabengut selbst muss dabei gar keinen eigenen Wert haben und kann vom Machthaber auch noch ausschließlich selbst geschaffen werden. Dadurch eröffnen sich ihm einmalige Möglichkeiten, ei-
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hundert. Chartalistisch argumentiert Goodhart (1989, 1998), auch basierend auf der numismatischen Perspektive von Kraay (1964), Grierson (1959, 1977, 1978, 1979) und Cook (1958). Zu einer wirtschaftshistorischen Perspektive siehe Davies (1994), Hudson (2004a, b), Hudson und Levine (1996), Zarlenga (1999), Ingham (2000, 2004a, b), Henry (2004), Gardiner (2004), ferner Kurke (1999), Magubane (1979; zur Entstehung der Lohnarbeit in den Kolonien) und McIntosh (1988). Grundlegend Mitchell Innes (1913, 1914) und Keynes (1932). Sogar Issing (2007), ein renommierter zeitgenössischer Geldtheoretiker, sieht die klassische Grundlegung der (Neo-)Klassik als überholt an, ohne allerdings mit seiner alternativen These überzeugen zu können. Geld entstand demnach aus Schmuck und Rangzeichen, also als eine Mischung aus Gabe (Mauss) und Machtderivat. Zu weiteren selbstkritischen Stimmen zur Geldgenese innerhalb der Neoklassik siehe Friedman und Hahn (1990), Ostroy (1987) und Hart (1987). Zuvor schon Heinsohn (1983).
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nen „Machtkreislauf “ zu etablieren, da er Geld nicht nur ausgibt, sondern auch dessen Rückkehr erzwingen kann, etwa durch Steuern.10 Die Hochkulturen, bei denen Söldner militärische Bedeutung bekamen, waren die ersten, die dann auch die Münzprägung einführten. „Münzgeld entsteht […] da, wo Kriege mit Söldnern geführt werden […], nicht aus den Bedürfnissen des Handels.“ (Nau 1972, zitiert in Martin 2003, S. 43)11 Dieses Arrangement von Macht, Gewalt und Untertanen funktionierte über das Geld, das schließlich auch Märkte hervorbrachte, die um das Militär gruppiert waren (Graeber 2011a, S. 178 f.).12 Militär und Markt sind Geschwister, das allgemein gepflegte harmonische Modell gewaltferner Märkte, auf denen friedlich Überschüsse getauscht werden, ist eine Chimäre.13 Märkte entstehen somit als Versorgungsorte des Militärs, aber auf Basis von Verträgen auch zwischen Privaten – ebenso wie der Fernhandel – zum Besorgen des Abgabenguts. Wie auch bei Heinsohn und Steiger (2006a, S. 323) sieht die chartalistische Machttheorie den Markt damit als abgeleitetes Phänomen, nicht als natürlich emergierenden Ausdruck des Homo oeconomicus. Die Wurzel des Geldes liegt demnach in Steuern, Abgaben und Tributen, die mittels organisierter Gewalt einer beherrschten Bevölkerung oder Gruppe abgezwungen wurden – zu einem nicht unerheblichen Teil, um den Zwingapparat des Militärs damit zu finanzieren.14 Wo Waren und Dienstleistungen gegen Geld angeboten werden, entsteht Konkurrenz, und diese macht Effizienzsteigerung, Innovation und Tüchtigkeit in einem bisher nicht gekannten Ausmaß notwendig und
10 Siehe grundlegend dazu Martin (2003), der von Adrian Oswald ausgeht. Urvater für den Ansatz, Geld als staatliche Institution zu sehen, ist der sogenannte Chartalismus, siehe Knapp (1905). Ihm folgt auch Keynes (1932, S. 4). Moderne Vertreter sind Abba Lerner und L. Randall Wray; siehe dazu Anm. 8; ferner Hudson (2004a, S. 113; 2004b, S. 111 ff.). Zur Entwicklung der notwendigen Buchhaltung im Nahen Osten siehe Hudson und Wunsch (2004). 11 Siehe dazu auch Graeber (2011a, S. 426 Anm. 11, S. 226 f.), Price (1983), Wallace (1987), Schaps (2004, S. 96 ff.), Redish (1992), Kraay (1964), Cook (1958), Reden (2002) und Bresson (2005). Zur Diskussion der Literatur zu Formen und Verbreitung des Soldes siehe Martin (2003, S. 43) und Nissen et al. (1991). Vgl. auch Peacock (2006, S. 642), Wray (2005), Ingham (2004b, S. 100) und Mann (1990, S. 316, 330 ff., 173). Zu Söldnern im Mittelalter siehe ferner Ferguson (2009, S. 64 ff.). 12 Diese Entwicklung kann, wie schon bei Heinsohn (1983), mit der Patriarchatsentstehung verknüpft werden. Äußerst instruktiv zur Entstehung des Partriarchats auch Bott (2009, 2015). 13 Siehe Kraay (1964). Auch Cartledge et al. (2002) betonen, dass Märkte nicht Ursache der Münzprägung sein können. 14 Zu einer umfangreichen Darstellung und weiterführenden Hinweisen zu historischen Hintergründen siehe Kohl (2014, Kap. 4).
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lohnend. Die Gesetzgebung regelt die unterschiedlichen Formen der entstehenden Netzwerke von Schulden und monetären Verpflichtungen.15 Erwachsend aus den durch Gewaltmonopolisten festgelegten Schuldbeziehungen folgen somit über Verträge geregelte private Schuldbeziehungen in Kaufsowie Dienstleistungsverhältnissen, Verpfändung, Miete oder Kredit – all dies historisch neuartige und revolutionäre Beziehungsformen als Grundlage entsprechenden Komplexitätsaufbaus, die vorige Solidaritätsstrukturen erodierten und Innovationen, die sich in den Hunderttausenden Jahren zuvor auf wenige kleine Schritte beschränkten, explosionsartig ansteigen ließen. Zu dem Konkurrenzdruck zwischen Privaten kam dabei noch die Feindseligkeit zwischen Staaten, die, ausgestattet mit militärischen Apparaten, in Land, Menschen, Städten und Vorratskammern aller Art lukrative Ziele für Eroberungen sahen. Dazu kamen die Möglichkeiten, die sich aus dem Auspressen der Bevölkerung und der Konzentration von Ressourcen in einem Zentrum ergaben, das Lohnarbeit und damit Spezialisierung ermöglichte und damit alle erdenklichen Formen der Macht- und Prunkentfaltung in Architektur, Kunst und Wissenschaft. Geld entsteht somit als Abgabengut und Schuldtilgungsmittel, wobei Geld und (Steuer-)Schuld durch einen Machthaber mit Währungsmonopol definiert werden. Noch heute findet sich diese Konstellation in jedem Staat. Das Währungsmonopol gehört neben dem Gewalt- und Gesetzgebungsmonopol zu seinen zentralen Institutionen.
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Geld und Kredit in der modernen Gesellschaft
Hat sich das Wesen des Geldes nicht grundlegend geändert, so haben sich die Methoden seiner Herstellung und Vernichtung doch verfeinert. In modernen Staaten bzw. Währungsräumen verdankt sich das in Umlauf befindliche Geld einem zweistufigen Bankensystem mit der Zentralbank als institutionellem Zentrum. Geld entsteht in diesem System nahezu ausschließlich durch Kredite,16 die von privaten Banken vergeben werden.17 In einem zweistufigen Bankensystem, in dem die Geldausgabe nicht mehr direkt dem Staat selbst obliegt, um historisch schlechten Erfahrungen mit Hyper15 Natürlich kann es auch das Gefühl der Schuld aus moralischer Verpflichtung heraus geben oder eine mafiös-parasitäre Zwangsabgabe. 16 Münzgeld bildet die Ausnahme von dieser Regel, es entsteht tatsächlich als „Nettogeld“, dessen Volumen jedoch gesetzlich stark limitiert ist und angesichts des Gesamtvolumens nicht ins Gewicht fällt. 17 Siehe hierzu die instruktive Darstellung von Enghofer und Knospe (2005). Die folgende Darstellung ist teilweise übernommen aus Kohl (2014, S. 361 ff.).
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inflationen vorzubeugen, haben Zentralbanken das Monopol, (prinzipiell) unabhängig von staatlichen Weisungen18 Geld zu schaffen und auszugeben.19 Dieses Geld wird nur vermittelt über private Geschäftsbanken an kreditsuchende Private oder den Staat vergeben. Diese Banken folgen dabei dem Profitmotiv. Die Geschäftsbanken erhalten das Geld nun nicht etwa, wie ein weitverbreitetes Missverständnis lautet, indem sie es sich über Kredite von der Zentralbank besorgen, sondern indem sie bei der Zentralbank Pfänder unter gesetzlich genau bestimmten Bedingungen hinterlegen. Dabei verpflichten sie sich, diese innerhalb einer bestimmten Frist, in der Regel etwa drei Monate, spätestens aber vor der Fälligkeit der Forderung – also vor dem Termin des eingereichten Kreditkontrakts – wieder auszulösen. Im Gegenzug monetarisiert die Zentralbank den Titel gegen eine von ihr festgelegte Gebühr (den Diskontsatz), sie gibt der Geschäftsbank also für den vertraglich bestimmten Zeitraum bis zur Auslösung Geld. Der Diskontsatz ist dabei nicht Zins, sondern eine Geldsteuer, die entsprechend nach Abzug der Unkosten der Zentralbank auch als „Gewinn“ an den Staat abgeführt wird. Die Zentralbank ist dementsprechend nicht als Bank zu verstehen, sondern, pointiert gesagt, als die in einem Währungsraum einzigartige Instanz, die nach bestimmten Regeln aus (bestimmtem) Papier und Buchungsprozessen Geld macht und aus Geld Papier. Sie vergibt Geld, was sie nicht per se hat, sondern erst in der Vergabe dazu macht, und sie erhält Geld zurück, was in dem Moment, in dem sie es (rechtlich) hat und der Vertrag damit erfüllt wird, kein Geld mehr ist. Sie ist damit gleichermaßen eine Art Alchemist und eine Art Anti-Alchemist, der durch bestimmte Verfahren aus Wertlosem „Gold“ macht und aus „Gold“ Wertloses.20 Die landläufige Meinung, das Geschäft der Banken bestünde darin, verzinsliche Einlagen von Sparern anzunehmen und diese wiederum, etwa an Unternehmer, gegen einen höheren Zins zu verleihen, führt dementsprechend in die Irre. Banken vergeben Kredite nicht, indem sie Geld verleihen, sondern indem sie dem Kreditnehmer ein (Sicht-)Guthaben auf einem Konto einräumen. In der Regel werden diese von der Bank eingeräumten Anrechte auf Geld als Giralgeld bezeichnet; ein einerseits unglücklicher Begriff, da es sich eben nicht 18 Die Entscheidungsträger werden allerdings für ihre Amtszeit politisch bestimmt und ernannt. 19 Geld ist hier zu unterscheiden von Zahlungsmitteln, da auch Geldansprüche, etwa bei Überweisungen zwischen Privaten, wie Geld, also schuldbefreiend, behandelt werden. Wir kommen darauf zurück. 20 Vgl. dazu die inspirierende Faust-Interpretation von Binswanger (1985) – Goethe gelang wohl eine der ersten Darstellungen der modernen Geldschöpfung als ganz besondere Art der Alchemie. Im 17. Jahrhundert, so Graeber (2011a, S. 447 Anm. 73) im Anschluss an Wennerlind (2003), beschäftigten die meisten europäischen Herrscher Alchemisten mit der Aufgabe, Gold und Silber für Münzen herzustellen. Erst nach deren definitivem Scheitern kam in Europa die Zeit des Papiergeldes.
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um Geld handelt – genauso wenig wie ein Theaterticket eine Vorführung ist, um Keynes zu paraphrasieren21 –, andererseits aber eine durchaus nachvollziehbare Bezeichnung, da das Abtreten von Anrechten auf Geld zwischen den Kunden der Banken – besser bekannt als Überweisung22 – als Bezahlung so akzeptiert ist, als hätte man das Geld bar bekommen. Aus diesen basalen Prozessen folgt, dass allen Sichtguthaben (Geldanrechten) wie auch Geld Forderungen in gleicher Höhe zuzüglich dem Zins, zumindest dem Diskontsatz (als Basis des privaten Zinssatzes) als staatlicher Gebühr für die Geldausgabe, gegenüberstehen. Die durch Banken eingeräumten Guthaben übertreffen dabei das ausgegebene Geld um ein Vielfaches – und unterliegen auch keiner indirekten Kontrolle durch die Zentralbank.23 Die Guthaben entsprechen gesamthaft somit den Schulden. Eine Bank „schöpft“ also kein Geld, sondern allenfalls Kredit, sie erzeugt kein Geld und verleiht auch nichts, sondern räumt Anrechte auf Geld ein. Diese auf Geld lautende Dokumentation von Geldansprüchen geht dem Erscheinen von „neuem“ Geld im zweistufigen Bankensystem immer voraus.24
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Wirtschaftliche Dynamik
Wenn alle Guthaben auf Schulden basieren und alle Schulden mit Zinsen und (teilweise) einer Geldsteuer (Diskontsatz) belastet sind, also insgesamt mehr zurückgezahlt werden muss, als total überhaupt im Umlauf ist, und die Wirtschaftsakteure zudem Geld aus dem Kreislauf durch Thesaurierung entziehen, ist die Wirtschaft ein Kettenbrief (Ponzi-Scheme). Am konsequentesten hat diesen Gedanken wohl Paul C. Martin (1988, 1990) entwickelt. Demnach beruht die Dynamik des kapitalistischen Systems – nach seiner Diktion: des debitistischen Systems – darauf, dass Schuldner ständig unter dem Druck stehen, ihre Kredite zurückzuzahlen, und dafür auf immer wieder neue Nachschuldner und insgesamt 21 Er bezieht sich damit allerdings auf die Konfusion über den Wert des Geldes (Keynes, 1930, S. 402). 22 Bei Überweisungen zwischen Konten unterschiedlicher Banken müssen die Banken tatsächliches Guthaben ihrer Zentralbankkonten (also wirkliches Geld) bewegen, da im gesamten Interbankenverkehr jedoch wechselseitige Verpflichtungen saldiert werden können, muss in der Gesamtheit der umlaufenden Geldanrechte tatsächlich nur ein Bruchteil an tatsächlichem Geld bewegt werden. 23 Allein die Anforderung an eine Mindestreserve von Geld im Verhältnis von Sichtguthaben begrenzt die theoretische Möglichkeit von Banken, Sichtguthaben in Form von Krediten einzuräumen. 24 Die weitverbreitete Multiplikationstheorie der Geldschöpfung votiert in allen Punkten gegensätzlich.
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auf eine höhere Neuverschuldung angewiesen sind, um auch diese Kredite zum Termin hin bedienbar zu halten. Damit werden gesamtwirtschaftlich immer größere neue Kreditsummen benötigt, um immer größere alte Kredite abzulösen, die weniger große vorige tilgbar machten. In dieser Vorstellung erscheint ein „natürliches“ Gleichgewicht als Charakteristikum ökonomischer Mechanismen schlicht als absurd. Das Refinanzierungsproblem perpetuiert sich durch die Zeit, die zum zentralen Parameter in diesem dynamischen System wird: Forderungen wachsen im Zeitablauf durch Zinsen; Zeit kostet Geld – und diese Kosten müssen durch neue Schuldverhältnisse und „Nachschuldner“ ausgeglichen werden.25 Die damit zu beobachtenden Beschleunigungen aller Wirtschaftsprozesse (Produktivitätssteigerungen, Just-in-time-Produktion etc.) erscheinen in diesem Rahmen nur konsequent. Damit schließt Martin an eine zentrale These Heinsohns (1984, S. 144) an: „Die Zinspflichtigkeit von Kreditnehmern […] bleibt die entscheidende […] Grundlage der Geldwirtschaft.“ Diese Existenzsorge belastet Schuldner und Gläubiger, wie es pointiert in einem Baron Rothschild zugeschriebenen Aphorismus zum Ausdruck kommt: „Hast du 100 Pfund Schulden, schläfst du schlecht, hast du 100 000 Pfund Schulden, schläft dein Bankier schlecht.“ (Rothschild, zitiert nach Martin 1988, S. 263)26 Dieser in der Konkurrenz um knappe Zahlungsmittel Innovationen und Produktivität forcierende Schuldendruck, der der modernen Wirtschaft ihre einzigartige Dynamik verleiht, fehlt in Stammesgesellschaften, im Sozialismus und in den – hypothetischen – Tauschwirtschaften.27 Martin zieht aus dem Fehlen der Zinsen, des Gewinns und alles Gesparten in der Geldzirkulation, das es allen Schuldnern unmöglich macht, ihre Schuld zu begleichen, die logische Konsequenz, wenn er griffig konstatiert: „Der ganze Kapitalismus besteht ja nur aus einem möglichst reibungslosen Aufschuldungsvorgang“ (Martin 1990, S. 82 f.) – er wird also als Kettenbrief verstanden.28 Jeder Kauf, alle Nachfrage ist demnach nur ein „Weiterreichen“ der Schulden anderer – erst der (unwahr-
25 Der Spruch Benjamin Franklins, wonach „Zeit Geld ist“, bekommt so eine neue Dimension. Bekanntlich ging es Franklin um die Opportunitätskosten des Müßiggangs (Franklin 1748 [„Advice to Young Tradesmen“], zitiert nach Weber 1988, S. 31). 26 Zum Existenzdruck vgl. auch Heinsohn und Steiger (2006a). 27 Vgl. Heinsohn und Steiger (2006a, S. 232 et passim) zur ständigen Notwendigkeit der „Verteidigung“ des Eigentums im Rahmen eines existenzielle Unsicherheit erzeugenden Individualismus, was zu einem Kalkül der Netto-Vermögensmaximierung führt – und die „Innovationsdynamik“ und „Allokationseffizienz“ steigert. 28 Bekanntlich trieb Marx ebenfalls die Frage um, wie der Mehrwert zustande kommt, sein Ansatz, dass der Kapitalist diesen etwa durch Luxuskonsum selbst in die Zirkulation bringt, greift allerdings etwas kurz, denn Geld entsteht ja nicht lediglich durch einen Griff in die Schatzkiste der Kapitalisten.
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scheinliche) Konsum der Gläubiger bei ihren Schuldnern brächte die Schulden zum Verschwinden. Der Strom der Schulden fließt dabei nicht nur immer schneller, sondern wird auch immer breiter. Aufschulden, Sparen und Zinseszinseffekte lassen ihn immer turbulenter werden, eine Alternative ist demnach nur ein Reißen des Kettenbriefs. Steve Keen weist zwar anhand einer Simulation nach, dass der Effekt fehlender Zinsen nicht zwingend auftritt. Er distanziert sich damit von der nicht nur von Martin vertretenen, sondern seit etwa zwanzig Jahren unter Post-Keynesianern diskutierten Position, dass nicht nur Gewinne, sondern selbst Zinszahlungen gesamtwirtschaftlich (bei stabilen Größen) als nicht möglich erscheinen (Rochon 2005, S. 125).29 Unter der starken Annahme der Verkonsumierung bzw. Reinvestition aller Einnahmen zeigt Keen im Anschluss an die „Circuit Theory“30, dass sich das System stabilisieren kann, was auch voraussetzt, dass der Konsum der Banker (bei periodischen Tilgungsraten) den Zinsen entspricht.31 Neue Kredite sind demnach nur bei einer Expansion notwendig und nur von ihnen bzw. aus einer übermäßigen Steigerung, in praxi also vom Bankensystem, geht die ständig zu beobachtende Destabilisierung der Wirtschaft aus. Das Modell von Keen ist jedoch vor allem deshalb keine realistische Darstellung,32 da Banken in diesem Szenario keinerlei Expansion ihres eigenen Geschäfts betreiben (die Zinsen fließen stattdessen in den Konsumsektor) und da angenommen wird, dass der Profit der Unternehmen trotz sinkender (und schließlich gegen Null laufender) Rendite in immer gleicher Höhe reinvestiert wird – vom Ausbleiben jeglichen Sparens abgesehen. De facto beherrscht der Aufschuldungszwang die Wirtschaft. Das in einer ökologischen und nachhaltigen Denkweise absurd erscheinende Streben nach immer größerem Wachstum erscheint damit ökonomisch logisch, ja notwendig. Jede (temporäre) „Stabilisierung“ beruht auf einem Expansionstrend, der vom ständigen Produktivitäts-, Innovations- und allgemein Profitabilitätsdruck der Wirtschaftsteilnehmer genährt wird, die ihre ökonomische Posi29 Siehe auch Bruun und Heyn-Johnsen (2009). 30 In dieser werden Geldkreisläufe modelliert und von „endogenem Geld“ ausgegangen. Keen nimmt besonders Bezug auf Graziani (1990, 2003). Vgl. auch Parguez und Seccareccia (2000) sowie Cahen-Fourot und Lavoie (2016). 31 Keens Ansatz liegt ein Summenmodell mit starken Annahmen zugrunde, bei dem Einnahmen innerhalb von Kreditfristen immer gänzlich auch zu Ausgaben werden (Keen 2010, S. 20). 32 Was auch Keen nicht behauptet, er leitet aus diesem Modell eine stark an Minsky angelehnte Krisentheorie ab. Das Vermeiden einer Ungleichverteilung von Vermögen und Kapital bleibt unter den evolutionären Bedingungen des Wirtschaftens in der modernen komplexen Gesellschaft illusorisch – genauso wie eine Gleichverteilung von Macht, Wissen, Zugangschancen. Die Besonderheiten eines relativ neuartigen Sozialsystems – Organisationen – verschärfen dieses Problem noch.
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tion verteidigen oder verbessern wollen, meist unter dem existenziellen Druck von Schulden (sei es ein Investitionskredit oder die Miete des nächsten Monats). Der in der Evolutionstheorie bekannte „Red-Queen“-Effekt33 wird zum allgemeinen Prinzip für jeden, der seine Arbeitskraft und Qualifikation anbietet, wie auch für Produzenten und Dienstleister: Du musst immer schneller laufen, um nur auf der Stelle zu bleiben (und nicht zurückzufallen). Oder in den Worten von Baumol (2002, S. viii f.): „My central contention here is that what differentiates the prototype capitalist economy most sharply from all other economic systems is free-market pressures to force firms into a continuing process of innovation, because it becomes a matter of life and death for many of them.“ Der Erfolg hinsichtlich der Entwicklung von Technologie und partiellem Reichtum wie auch der Schaden in Form von Ungleichheit, Ausbeutung und Raubbau an der Natur sind offensichtlich. Tatsächlich sind moderne Wirtschaften durch Phasen hohen Wachstums zu charakterisieren. Baumol (2002) spricht von einem „growth miracle“ und dem freien Markt als „Innovation Machine“.34 Nach einer Schätzung von Angus Maddison wuchs von 1500 bis 1820 das reale Bruttosozialprodukt pro Kopf (gerechnet auf Basis des Dollarwerts von 1990) von etwa 770 auf 1 200 Dollar (eine jährliche Wachstumsrate von 0,1 %), in dem etwa halb so langen Zeitraum zwischen 1820 und 1998 allerdings von etwa 1 200 auf 17 921 Dollar (1,51 % per annum) (siehe Abb. 1).35 Die moderne Wirtschaft hat nichts mit der Traumwelt harmonischer Gleichgewichtszustände zu tun, die ab und an durch den technischen Fortschritt ein Stück weiter katapultiert wird. Sie ist ständig auf der Flucht nach vorn, und überschlägt sie sich dabei, ist sie darauf angewiesen, sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Morast der negativen Erwartungen herauszuziehen – wenn dies nicht ein verschuldungsbereiter und kreditwürdiger36 Staat für sie übernimmt. Die Wirtschaft bricht im Fortschritt also nicht aus einem Gleichgewicht aus, sondern befindet sich in einem ständigen Wachstumsprozess (Binswanger 2006, S. 300). Die „handelnde Wirtschaft“ gibt es dabei nicht, sondern nur die 33 Basierend auf einer Passage aus Alice im Wunderland von Lewis Carroll. 34 Er sieht, ganz im Sinne Schumpeters, den schöpferischen Unternehmer als Heroen. Diesbezüglich argumentiert er in etwa gleicher Richtung wie Heinsohn und Steiger (2006a, S. 337, 362 ff.). Ähnlich argumentierte auch schon Sombart (1902). 35 Maddison (2001, S. 264 f., 28; 2007, S. 81) schätzt die Wachstumsraten des Weltsozialprodukts zwischen 1500 und 1820 auf 0,32 Prozent gegenüber 2,25 Prozent zwischen 1820 und 2003. 36 Kreditwürdigkeit bei Staaten meint nicht, dass jemals eine Rückzahlung aller Schulden erwartet wird, sondern nur, dass die Tilgung der vertraglich vereinbarten Summe zu einem bestimmten Zinssatz zum vereinbarten Termin ausreichend sicher erwartet wird – meist durch Aufnehmen eines neuen Kredits.
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Abbildung 1 World GDP per capita
Quelle: Wikipedia, „World Economy“, World GDP per capita between 1500 – 2003. Abgerufen am 25. 8. 2017 von https://en.wikipedia.org/wiki/File:World_GDP_per_capita_1500_to_2003.png
Myriaden von sich entweder intertemporal wechselseitig stützenden oder enttäuschenden Entscheidungen, jetzt, später oder gar nicht zu investieren, zu sparen, Kredit aufzunehmen, zu kaufen, zu mieten und aus Bankperspektive überhaupt Kredite zu vergeben. Es bleibt dabei ein Spielen auf Zeit, ein Kettenbrief, der ständig in Gefahr ist zu reißen, ein Schneeballsystem, das immer größer werden und schneller operieren muss, denn es erhält sich in seiner gegenwärtigen Struktur nur in der Dynamik des ständigen exponentiellen Wachstums. Die Alternative wäre nur die Kontraktion.37 Erweiterte Kapazitäten (Investitionen) ermöglichen Gewinne – und damit auch „Akkumulation“ –, verlangen aber selbst auch nach mehr monetärer Nachfrage, die nur über neue Kreditbeziehungen etabliert werden kann – und dabei gleichzeitig durch das Anhäufen von nicht verkonsumiertem Geldvermögen konterkariert wird. Hans Christoph Binswanger fasst diese Erkenntnisse in seinem Modell einer durch Wachstumszwang und Wachstumsdrang angetriebenen „Wachstumsspirale“ eingängig zusammen und verbindet sie mit einer ökologischen Betrachtung von Ressourcen, Energie und unter Einbeziehung der „Produktionsfaktoren“ Imagi37 Das Ausbleiben einer Krise in Form der Great Depression, so Minsky (1982), wurde bisher durch Staats- bzw. Zentralbankinterventionen – durch „Big Government“ – verhindert.
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nation und Kreativität (Binswanger 2006, 2009; Binswanger et al. 1978; Dorfner et al. 1994).38 Die Unternehmen, die beim Fremdkapital zumindest den Schuldendienst leisten und beim Eigenkapital die Dividende „schulden“, verwandeln das Geld in Kapital und unterliegen dabei ab ovo der Gewinnerwartung als Bedingung ihrer Existenz und als Ausgleich des Risikos der Vorfinanzierung von Produktion. Anders als bei Haushalten genügt Subsistenz nicht zur Erklärung der Unternehmenslogik (eine Ausnahme bilden Familienbetriebe und andere Eigentümerfirmen, in denen dies zusammenfallen kann). Auch Binswanger bestätigt damit in seinen Überlegungen Martins Theorem der Notwendigkeit von Nachverschuldung: „Dies bedeutet, dass der Zuwachs der Reingewinne und Zinsen im Minimum dem Zuwachs des Kapitals entsprechen muss und umgekehrt der Zuwachs der Geldmenge, der durch den Zuwachs des Kapitals ausgelöst wird, hoch genug sein muss, um den entsprechenden Zuwachs der Reingewinne und der Zinsen, die zusammen den Unternehmungsgewinn ausmachen, zu ermöglichen“ (Binswanger 2006, S. 315). Ein gesamtwirtschaftlich notwendiger Wachstumszwang ist demnach insofern ‚alternativlos‘, als es keine stationäre Konsolidierung geben kann – die Alternative besteht nur in einem deflationären Schrumpfungsprozess, in dem Unternehmensgewinne ständig sinken.39 Die historischen Änderungen, die diese Potenzierung des Wachstums zur Spirallaufwirtschaft einläuteten, waren die Kreditschöpfung und die Verwendung fossiler Energieträger (ebd., S. 309). Gleichzeitig wird der Gelderwerb zur Sicherung der eigenen Existenz quasi „natürlich“ attraktiv. In Verbindung mit dem Wachstumsdrang wird der Wachstumszwang dann als Selbstverständlichkeit empfunden. Bei dieser Form, über Wirtschaft nachzudenken, geht es also nicht um Allokationsprobleme – die dann nachträglich auf finanzielle Relationen bezogen werden. Nochmals: „Production is for profit, not use“ (ebd., S. 187).40 Der Einsatz von Ressourcen und die Preisbildung sind überhaupt nur denkbar in ihrer Einbettung in Verpflichtungsverhältnisse, die immer wieder validiert werden müssen.
38 Vorhergehende post-keynesianische Ansätze stammten von Harrod (1934) und Domar (1946). 39 Es ist offensichtlich, dass es sich dabei keinesfalls um eine universelle Eigenschaft von Systemen materieller Reproduktion handelt. Heinsohn und Steiger weisen darauf hin, dass weder in Befehlsgesellschaften (etwa im Sozialismus oder Feudalismus) noch in Solidargemeinschaften ein ähnlicher Zwang besteht. 40 Vgl. auch Keen (2001, S. 193) mit seiner Kritik an Says Law – auch in der Fassung von Walras: Mit Marx ist von Reichtumsakkumulation auszugehen, nicht von einer Verkonsumierung des Profits, gerade bei wachsender Vermögenskonzentration.
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Die Annahme einer „Neutralität“ des Geldes erscheint in diesem Rahmen grotesk (Minsky 2008, S. 159). Dieser Prozess läuft so lange gut, wie steigende Erwartungen nicht enttäuscht werden und Investitionen entsprechend wachsen. „In a capitalist economy, profits motivate and reward business; they function to validate the past and induce the future“ (Minsky, 2008, S. 191). Es etabliert sich damit beim Überwiegen positiver Erwartungen ein abweichungsverstärkender Rückkopplungsprozess (positives Feedback) von Profiterwartungen, Investitionen, Vermögenswerten und tatsächlichem Gewinn, der in einer selbsterfüllenden Prophezeiung zur Steigerung des Wohlstands führen kann. „Der Kredit ist der Wohlstandsmotor des Kapitalismus. Er treibt eine Zeitmaschine an, mit der wir in die Zukunft reisen. Dort pflücken wir die Früchte von morgen, um sie bereits heute zu genießen. Nur so entsteht Wachstum: Unser materieller Wohlstand ist im wahrsten Sinne des Wortes der Zukunft geschuldet. […] Das Morgen wird im Heute verfügbar gemacht. […] Das im Kredit aus der Zukunft vorweggenommene Einkommen kann in der Gegenwart wahre Wunderdinge vollbringen. Oder auch höchst unvernünftig verwendet werden. Aber in jedem Fall hat es einen entscheidenden Nachteil: Es muss ebenso wie unser Filmheld Marty McFly dorthin zurück, wo es herkam. […] Investitionen von heute sind die Voraussetzung dafür, dass die Schulden aus den Investitionen von gestern bedient werden können. Sie kommen in ausreichender Höhe aber nur dann zustande, wenn sich die Erwartung durchsetzt, dass auch morgen ausreichend investiert wird. Es handelt sich beim Finanzmarktkapitalismus aktueller Prägung also um eine komplizierte Vorwärts- wie Rückwärtsverknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ (Strobl 2010, S. 7, 17, 150, 156)41
Im Kredit wird damit nicht nur das Morgen „im Heute verfügbar gemacht“, sondern durch ihn werden auch die Bedingungen des Morgen im Heute geschaffen, mit dem Ziel, seine Schulden in der zukünftigen Gegenwart bedienen zu können. Der Baum, um im oberen Bild zu bleiben, von dem morgen gepflückt wird, wird mit seinen eigenen Früchten gepflanzt. Im Kredit finden sich die bekannten Paradoxien des Zeitreisenden, der sein eigener Großvater wird. Die Bereitschaft zur Finanzierung von Investitionen stützt sich dabei nicht selten auf das Kalkül, „daß die bestehende Geschäftslage unendlich andauern wird“ (Keynes 1974, S. 128).42 Minsky konnte wie kaum ein anderer deutlich machen, als 41 Strobl paraphrasiert hier Minsky (2008, S. 158 ff.) mit Bezug auf den 1980er-Jahre-Film Zurück in die Zukunft. 42 Keynes (1974, S. 126) betont auch, dass die Schätzung der Rendite immer auf Basis einer fragwürdigen Wissensgrundlage erfolgen muss.
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wie falsch sich diese Voraussetzung erweist und welche Folgen sie hat: „Doch in Wahrheit können weder der Boom, noch die Schuldendeflation, noch die Stagnation und natürlich auch nicht eine wirtschaftliche Erholung bzw. ein Wachstum bei Vollbeschäftigung unendlich andauern. Jeder Zustand fördert Kräfte, die zu seiner eigenen Zerstörung führen“ (Minsky 2007, S. 166 f.; Herv. T. A.-K.). Damit ist deutlich geworden, dass mit komplexen Schleifen dieser Art ein stabiles Gleichgewicht à la Neoklassik hochgradig unwahrscheinlich ist und äußerst fragil wäre. Es gibt keine Attraktoren zur statischen Ausgeglichenheit, sondern eine Dynamik, die auf Erwartungen beruht und einem darauf bezogenen Einsatz des „Vermögens“, Kredite aufzunehmen und einzusetzen. Solange der „Kettenbrief “ fortgeführt, also Nachschuldner gefunden werden, die in Erwartung zukünftigen Wohlstands den heutigen Schuldnern Tilgung ermöglichen, herrscht ein günstiges Investitionsklima, das kaum Zweifel an der Berechtigung ebendieser Erwartungen aufkommen lässt. Doch wird die Zukunft – ob von Banken (Kreditgebern) oder Unternehmern (Kreditnehmern) – pessimistischer eingeschätzt oder an anderen Orten der „globalisierten“ Welt investiert, sinken also die lokalen Investitionen und werden auch nicht ausgeglichen durch Auslandsnachfrage, Staatsdefizite oder Konsumentenschulden,43 werden gesamtwirtschaftlich die Renditeerwartungen der Investoren enttäuscht und mit der Liquidität gerät die notwendige Aufwärtstendenz in Gefahr: Schulden werden notleidend, „hair cuts“ (Wertabschläge des Pfands) und „margin calls“ (Aufforderungen zur Nachbesicherung) drohen das vormals günstige Klima zu verderben. Notverkäufe führen zum Einbruch von Vermögenswerten, Aktienkurse brechen ein. Und mit deflationären Aussichten – also einem Preisverfall, der es immer schwieriger macht, nominal fixierte Verbindlichkeiten zu erfüllen – und dem Wertverlust von Sicherheiten sinkt sowohl die Willigkeit zur Kreditaufnahme als auch die Bereitschaft zur Kreditvergabe, was wie schon der Boom zuvor eine Spirale positiven Feedbacks in Gang setzt, nur diesmal sich selbstverstärkend und -erfüllend in die Gegenrichtung düsterer Zukunftsaussichten und Geldvernichtung, da mehr Schulden getilgt und abgeschrieben als neue Kredite vergeben werden. Eine Schuldendeflation44 kommt ins Laufen. An der Börse zeigt sich dann, dass Aktien, die als Sicherheiten für Kredite dienten und Basis eines „wealth effects“ waren, eben nicht einfach Einsätze in einem Nullsummenspiel sind, in dem 43 Die lange Jahre für ihren ‚starken Binnenmarkt‘ gerühmten USA sind ein Musterbeispiel dafür, dass Nachschuldner auch aus diesen Bereichen kommen können, früher oder später das Aufschulden, Revolvieren und Prolongieren – und damit auch der ein Wohlstandsniveau erhaltende Konsum – aber ein Ende haben muss, was eine Deflation heraufbeschwört. Das Einkommen von Privathaushalten ist dort durchschnittlich geringer als ihre Gesamtverschuldung. 44 Siehe dazu den nächsten Abschnitt.
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die eine gewinnt, was der andere verliert, die Gesamtsumme also immer null ist. Stattdessen muss erkannt werden, dass prinzipiell nur eine einzige nicht verkaufte Aktie den Preis so weit sinken lassen kann, dass alle Halter in ihren Bilanzen Wertberichtigungen vornehmen müssen, die sie in Liquiditätsprobleme bringen können: Ihnen fehlt „borrowing power“ (Minsky 2008, S. 208). Neben den Effekten der Spekulation, also dem Bauen auf Wertsteigerungen von Vermögenswerten,45 führt auch die Logik der exponentiellen Verschuldung selbst zu einem Punkt, an dem die Wachstumsentwicklung umkippt in ihr Gegenteil. Es ist dieser elementare wirtschaftliche Prozess, der gerade im Kontext der seit 2008 in unterschiedlicher Form offensichtlich herrschenden Krise seinen Ausdruck findet. Jede neue Einheit einer Nettoverschuldung hat im Rahmen der bisherigen Form des Wirtschaftens tendenziell einen geringeren Grenznutzen als die vorherige. Im Zeitablauf und im Kontext höherer Schuldenstände sinkt die marginale Produktivität neuer Schulden bezogen auf die Bruttowertschöpfung – schon allein, weil immer mehr Wirtschaftsleistung in den Schuldendienst fließt. Mit der Grenzproduktivität von Schulden ist das Verhältnis der Änderung des Brutto sozialprodukts zur Änderung der Schulden gemeint, das ein Ausdruck dafür ist, wie sich eine zusätzliche Einheit Schulden auf die Wertschöpfung auswirkt.46 Zum Ende eines immer komplexer werdenden Schuldensystems kommt es auch bei steigenden Schulden zu starken deflationären Effekten, da immer höhere Summen in den Schuldendienst gehen, während der Konsum sinkt, die Grenzproduktivität neuer Kredite wird dann negativ (siehe Abb. 2).47 Gleichzeitig wachsen die Schulden unaufhörlich (siehe Abb. 3).
45 Jede Blase hat dabei ihre Grenze in der Beleihungsgrenze: Der Boom ist spätestens dann am Ende, wenn die Kosten der Neuverschuldung größer sind als der erwartete Gewinn aus der Wertsteigerung. Der Crash ist dann eine Forderungsvernichtung, ein massenhaftes Ausbuchen von Guthaben und Schulden – und damit auch eine grundlegende Revision von Erwartungen (Martin, 1990, S. 259). Zum „Blow-off“ und zur Inflation siehe Martin (ebd., S. 382; 1985, S. 173 ff.). 46 Selbstverständlich geht nicht jeder Kredit in den produktiven Sektor, die riesigen Summen, die in die Spekulation mit Vermögenswerten fließen, sind meist nicht BSP-wirksam und haben vor allem den beschriebenen Effekt der Destabilisierung durch Blasenbildung. Es geht bei diesem Verhältnis also um einen Indikator für die Qualität von Schulden, die nicht (nur) in Nullsummenspielen zum Einsatz kommen. 47 Vgl. Fekete (2009) im Anschluss an Melchior Palyi.
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Abbildung 2 Grenzproduktivität von Krediten (USA)
Auch für China, das globale Flaggschiff ökonomischen Wachstums, ist eine entsprechende Aufschlüsselung der Wirkung eines investierten Dollars auf das BSP aufschlussreich. Zwischen 2000 und 2008 brauchte es nur 1,50 $ an aufgenommenen Krediten, um 1 $ BSP-Wachstum zu generieren. Mittlerweile liegt dieses Verhältnis bei sieben zu eins. Quelle: EconomicEdge (Grafik leicht überarbeitet). Abgerufen am 25. 08. 2017 von http://economicedge. blogspot.ch/2010/03/most-important-chart-of-century.html
Abbildung 3 Schuldenwachstum seit der Jahrtausendwende
Quelle: Dobbs, Lund, Woetzel & Mutafchieva (McKinsey Global Institute) (2015) (Grafik leicht überarbeitet und ergänzt).
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Die Krise: Boom & Bust oder die Instabilität der Stabilität
Mit dem vorherigen Abschnitt klangen bereits die Grundzüge der „Debt Deflation Theory“ von Irving Fisher (1933) an, die ihre Aktualität seit der Great Depression nicht eingebüßt hat, dem immer wiederkehrenden Mantra „Diesmal ist es anders“ – ein neuer Markt, eine neue Stabilität, eine neue Art von Wachstum – zum Trotz.48 Ab Mitte 1921 stieg der Dow-Jones-Index von einem Stand von etwa 64 Punkten bis zum Oktober 1929 auf 381 Punkte, dann fiel er bis Mitte 1932 auf 41 Punkte (sein neues Allzeithoch erreichte er am 26. Januar 2018 mit 26 616 Punkten). Irving Fishers fortdauernde (öffentliche) Fehleinschätzungen der Kursentwicklung kosteten ihn nicht nur sein Vermögen, sondern diskreditierten ihn auch so stark, dass seine 1933 – wohl auch im Erstaunen über die eigene Unfähigkeit, die Krise zu verstehen – entwickelte Theorie deflationärer Depressionen bis in die 1980er Jahre hinein nahezu ignoriert wurde. Mit ihr stellte Fisher bahnbrechende Theorie darüber auf, wie der Grundmechanismus der Krise von Geldwirtschaften zu verstehen ist. Zentral ist dabei die Implosion einer Kreditblase mit einer Reihe sich selbst verstärkender Faktoren, die im Sinne von Binswanger in eine Abwärtsspirale führen. Die Krise entfaltet sich dabei gemäß Fisher (1933, S. 342)49 ausgehend von einer Überschuldung in einem Zirkel von Preisverfall und Notverkäufen, daraus resultierendem weiteren Preisverfall usw. Offenbleibt in diesem Mechanismus deflationärer positiver Rückkopplung, wo der Ausgangspunkt zu finden ist. Minsky sieht diesen im Anschluss an die für ihn revolutionäre Erkenntnis von Keynes in seiner Hypothese finanzieller Instabilität in der Stabilität selbst: Stabilität ist inhärent destabilisierend. Den Grund dafür macht er in der Unsicherheit und den Bedingungen finanzieller Relationen und Erwartungen aus (Dymski & Pollin 1992, S. 36). Die Strukturen des ökonomischen Sozialsystems wandeln sich dynamisch und mit wechselnden Zukunftserwartungen situationsbezogen als basale Beziehungen der modernen Wirtschaft (Minsky 2007, S. 80 f.; 2008, S. 194). Klassik und Neoklassik können aufgrund der Vernachlässigung dieser Faktoren – Typen von Finanzierungsrelationen, Institutionen, Unsicherheit, Zeit dimension – weder das Auftreten noch die Dauer von Depressionen erklären, während sie schon in Keynes’ Theorie normale Ereignisse waren, da in ihr „Boom
48 Zum „This-Time-is-Different“-Syndrom siehe auch Reinhart und Rogoff (2009, S. 208 ff.). 49 Siehe auch Kindleberger (1989, S. 110).
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and Bust“ nicht als exogene Störungen,50 sondern als der Wirtschaft inhärent gedacht werden.51 Die Expansion im Aufschwung ist der einzige Modus, in dem die moderne Wirtschaft ihr Niveau halten kann. „Wir haben es mit einem Wirtschaftssystem zu tun, welches inhärent instabil ist, und die grundlegende Instabilität ist ‚nach oben‘ gerichtet.“ (Minsky 2007, S. 208 f.) In Minskys Interpretation ist der Boom die entscheidende Größe. Auf dessen Grundlage gehen die Wirtschaftsakteure Verbindlichkeiten ein, die sie im Verhältnis zum zukünftigen Einkommen zunehmend stärker beanspruchen. Die prognostizierten Erträge aus Kapitalvermögen sind dabei unsicher und über Marktprozesse bestimmt, der Schuldendienst dagegen ist nominal fixiert. Die Portfolios weisen dabei Verpflichtungen und Vermögenswerte aus, die gestrige Erwartungen verkörpern und dabei zukünftige Einkünfte ermöglichen und binden – wobei die Erträge die Erwartungen befriedigen oder eben enttäuschen. In einer unsicheren Welt, in der man sich weder über die Vergangenheit ganz klar ist noch die Zukunft vorhersagen kann, sind Investitionen notwendig spekulativen Charakters (ebd., S. 105, 184). Es sind der Aufschwung und die Hochkonjunktur, die riskantes Verhalten aus sich heraus hervorbringen, Stabilität wirkt damit destabilisierend. Die die Investitionen (Kredite) leitenden Kalküle folgen dabei ganz unterschiedlichen Logiken, worin ihr Ertrag liegt, wie die eigene Liquidität sichergestellt werden kann und was daraus für die Höhe einzugehender Schulden folgt. Das gilt spiegelbildlich ebenso für die andere Seite, für die Banken als Finanziers.52 Finanzierungsformen unterschiedlicher Robustheit existieren in einer Wirtschaft parallel, je nach Markt und Konjunktur können dabei jedoch bestimmte Formen vorherrschend sein. Diese können sich auch ungeplant in andere verwandeln, etwa wenn eine Hedge-Einheit durch steigende Zinssätze in einen spekulativen Bereich rutscht. Je nach Verteilung der Verpflichtungsstrukturen ergeben sich für die Wirtschaftseinheiten unterschiedlichen Typs besondere Chancen und Risiken. Ist eine Wirtschaft geprägt durch robuste Hedge-Finanzierung, eröffnet
50 Jevons schlug als Erklärung periodische Sonnenflecken vor. 51 Die Perspektive von Keynes ist in seinem Werk nicht kohärent. Im 18. Kapitel seiner General Theory (1936) tauchen Krisen im Konjunkturzyklus nicht auf, in den Kapiteln 12 und 22 und vor allem in dem Artikel, der auf eine Kritik von Viner reagiert (Keynes 1937), ist jedoch ein starker Zyklus beschrieben – ohne diesen allerdings angemessen zu erklären und zu definieren (vgl. Minsky 2007, S. 87 ff.). 52 Minsky unterscheidet drei Formen der Finanzierung, Hedge, Speculative und Ponzi (Minsky 2008, S. 230 f.; 1982, S. 93; vgl. auch Dymski & Pollin 1992, S. 39). Zu einer alternativen Bezeichnung der Finanzierungstypen siehe Davidson (1972).
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sie spekulativ agierenden Unternehmern eventuell besondere Gewinnopportunitäten – was die Wirtschaft gleichzeitig und inhärent fragiler macht.53 So entwickelten sich nach der Großen Depression und dem Zweiten Weltkrieg die führenden Industriemächte, von den USA abgesehen, verheert durch den Krieg mit hohen Wachstumsraten bei einer äußerst robusten Finanzstruktur, in der Finanzinnovationen und Finanzspekulation im Bretton-Woods-System noch klein gehalten wurden. Es herrschte eine relative Gleichverteilung des Vermögens54 und es gab hohe Wachstumsraten auf Basis einer produktiven Verschuldung. Seit den 1960er Jahren wuchs das Verhältnis von Schulden und Einkommen stetig; in den USA hatte 1981 der private Sektor (private Haushalte, Finanz- und andere Unternehmen) Schulden von 123 Prozent des Bruttosozialprodukts, 2008 waren es bereits 290 Prozent. Bei den Haushalten – man bedenke die viel gerühmte Stärke des US-Binnenmarkts – stieg die Verschuldung zwischen 1981 und 2009 von 48 auf 100 Prozent des Bruttosozialprodukts. Das Verhältnis von Schulden zu verfügbarem Einkommen stieg damit von 65 auf 135 Prozent. In Großbritannien betrug die Privatverschuldung Ende 2007 sogar 177 Prozent und die Hypothekenverschuldung 132 Prozent des verfügbaren Einkommens (Roubini & Mihm 2010, S. 118 f.; Wagenknecht 2009, S. 29).55 Die beeindruckendste Entwicklung findet sich jedoch im Finanzsektor. Dort verfünffachte sich zwischen 1981 und 2008 die Verschuldung der Banken von 22 auf 117 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die Schuldenkurven wachsen in den westlichen Staaten exponentiell – und zeigen, dass das massenhafte Ausbuchen faktisch uneinbringlicher Schulden, also eine Schuldendeflation, in der Nachkriegszeit so gut wie nicht mehr stattgefunden hat. Diese Schulden gehen nicht unwesentlich auf Staaten zurück, die in den letzten Finanzkrisen zunehmend als Nachschuldner einspringen und mit ihren Defiziten zu einem großen Teil die ansonsten zyklisch wegbrechende Nachfrage ersetzen oder mit Bail-outs direkt die Insolvenz großer (Finanz-)Unternehmen auffangen, also Verluste sozialisieren. Gleichzeitig sind sie als die größten Aufschuldner maßgeblich daran beteiligt, ein inflationäres Umfeld für Vermögenswerte zu schaffen und (Anlage suchende) Guthaben aufzubauen, welche die Gegenposition ihrer Schulden sind. Die Gefahr einer Deflation ist dann nahe, wenn weitere Kredite nicht mehr aufgenommen werden können, weil etwa Sicherheiten entwertet wurden oder die Rückzahlung als prekär gesehen wird, oder nicht mehr aufgenommen werden wollen, da sie nicht als lukrativ angesehen werden. Es 53 Zu Auswirkungen von Spekulation und Blasenbildung aus historischer Perspektive siehe Kindleberger (1989). 54 Zur Entwicklung einer starken Ungleichverteilung siehe Picketty (2014). Zur Kritik der Vernachlässigung von Schuldverhältnissen siehe Stelter (2014). 55 1980 betrug die entsprechende Verschuldungsquote noch 58 Prozent. Bildungs- und Krankheitskosten tragen neben Konsumschulden einen großen Anteil am Anstieg der Quote.
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werden mehr Schulden zurückgezahlt als aufgenommen, die Nachfrage sinkt und macht vorherige Investitionen unrentabel und neue unattraktiv, die Arbeitslosigkeit steigt. Wenn kein potenter Nachschuldner eintritt, reißt der Kettenbrief, auf dem die Ökonomie beruht.
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Gesellschaft ohne Geld
Aus dem Gesagten wird deutlich, welch tiefgreifende Bedeutung die Entwicklung einer ökonomischen Rationalität durch Geldsysteme für die menschliche Entwicklung hatte. Es gibt Gesellschaften ohne Geld. Einfache Gesellschaften, die nachhaltig leben, keine Eigentums-, wohl aber Besitzrechte kennen. Viel gibt es in ihnen ohnehin nicht, was zu neiden wäre. Zusammengehalten sind sie über eine starke Solidarität, meist basierend auf einem Geflecht von Verwandtschaftsbeziehungen. Ihre Größe übersteigt selten die sogenannte Dunbar-Nummer von ca. 120 Personen, sodass jeder jeden so gut kennt, dass er auch noch um seine soziale Einbettung weiß. Es sind meist konsensorientierte Gesellschaften, die sich oft stark gegen die Integration von Fremden abschotten (was nicht heißt, dass sie nicht gastfreundlich sein können), ein relativ geringes technisches und medizinisches Niveau entwickelt haben, vergleichsweise wenig Innovationen in ihrer Geschichte kennen und konservativ eingestellt sind. Das ist wahrscheinlich nicht das Modell, das man sich unter einer Gesellschaft nach dem Geld vorstellt. Grundlage der aktuellen Komplexität ist nicht Egalität, Kooperation, Konsens und Solidarität im Sinne von Stammesgemeinschaften, sondern eine ganz andere Form der Sozialität. Ein wichtiger Pfeiler dieser Art Sozialität wurde mit den monetären Mechanismen und der ihnen eigenen ökonomischen Evolutionslogik beschrieben: Schulden- und Innovationsdruck, Konkurrenz, Rollendifferenzierung, Disziplinierung über Lohnarbeit, Produkt- und Konsumausweitung etc. All dies hat deshalb zentrale gesellschaftliche Bedeutung, weil monetäre Beziehungen einen Großteil der zur gesellschaftlichen Reproduktion notwendigen Handlungskoordination ausmachen – ähnliche Bedeutung für die Reproduktion auf globaler gesellschaftlicher Ebene haben nur Machtbeziehungen. Handlungskoordination ist der Kern von Sozialität. Geld – verknüpft mit der Notwendigkeit von Machtund Rechtssystemen (also Staaten) – ist nun das Mittel, in komplexen Gesellschaften Handlungskoordination ohne Kooperation, ohne Vertrauen, ohne persönliches Kennen der Person effektiv zu ermöglichen. In diesem Sinne hat unsere komplexe Gesellschaft Geld bitter nötig, denn es ist das Substitut der Solidarität. Mit dem bedauerlichen Nebeneffekt, dass Gier und Selbsterhöhung nicht mehr wie in Stammesgesellschaften ausgelacht, sondern eher Verhaltensstandard wer-
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den. Geld ersetzt die Solidarität als gesellschaftliches Grundprinzip, da es den Einzelnen in ein komplexes Gefüge integriert – vor allem über Organisationen. Erst durch Schuldendruck, Konkurrenz und monetär strukturierte Staaten ist die Innovationskraft und die Produktivität explosionsartig gestiegen. Die Industrialisierung wäre allein durch (unabdingbare) Nutzung fossiler Brennstoffe sowie Technikwissen so nicht denkbar gewesen, es brauchte auch moderne Finanzierungsformen – und diese „Entfesselung der Produktivkräfte“ (Marx) zusammen mit Wachstumszwang und stabilen (Rechts-)Staaten führte zum beispiellosen (temporären ?) Erfolg der menschlichen Spezies. Lebten vor 10 000 Jahren etwa 5 Millionen Menschen auf der Erde, waren es zur Zeit der römischen Hochkultur schon 250 Millionen und im 19. Jahrhundert eine Milliarde; für die nächste Milliarde brauchte es nur noch 100 Jahre, dann etwa 30 Jahre und seitdem wächst die Bevölkerung etwa alle 15 Jahre um eine Milliarde Menschen an. Und dabei hat der Mensch die Erde sich wahrhaft untertan gemacht. Der Mensch ist eine Naturgewalt: Durch sein Handeln werden so viele Tiere ausgerottet wie sonst nur in den großen prähistorischen Aussterbewellen (Kolbert 2016); er ist eine geologische Kraft, die mit etwa 42 Milliarden Tonnen Gestein und Erdreich etwa so viel bewegt wie Winderosion, Gletscher, Gebirgsentstehung und ozeanische Vulkane zusammen. Der Anteil des Menschen beläuft sich inzwischen auf 25 Prozent der Masse aller in seinem Lebensraum existierenden Landwirbeltiere, zusammen mit dem von ihm gehaltenen Vieh sind es über 90 Prozent dieser Biomasse. Von diesem schlachtet er jährlich 60 Milliarden Tiere, um seinen Hunger nach Fleisch zu stillen (in den Industrieländern sind es etwa 80 Kilogramm pro Kopf56) – dabei sind nur Tiere ab der Größe eines Huhns eingerechnet. Dazu kommt nochmals etwa eine Billion gefangene Fische – ohne Beifang, der das Fanggewicht mehr als verdoppelt. Der Mensch hat über die Technisierung von Transport und körperlicher Arbeit ein gigantisches Produktivitäts- und Wohlstandswachstum geschaffen. Die dem zugrunde liegenden fossilen Brennstoffe, vor allem Öl, von dem aktuell mehr als 90 Millionen Barrel pro Tag (also täglich etwa 15 Milliarden Liter) verbraucht werden – Tendenz steigend, 1945 reichten noch 6 Millionen Barrel –, verlangen absehbar nach Alternativen, die in dieser Größenordnung noch nicht in Sicht sind. Folgt man der Argumentation, wird die Bedeutung des Geldes für die Handlungskoordination und damit für die Sozialität selbst deutlich. Beziehungsverhält nisse und Disziplinierung werden über wirtschaftlichen Selbsterhaltungs- und 56 Weltweit stieg die sogenannte „Fleischproduktion“ von rund 71 Millionen Tonnen Schlachtgewicht im Jahr 1961 auf 320 Millionen Tonnen in 2016 – ein Anstieg um 350 Prozent (Börnecke 2016).
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Schuldendruck internalisiert oder motivieren direkt zu mehr oder weniger starken Formen der Subordination in Organisationen als Gehaltsempfänger. Der Nutzen des Geldes liegt im Erhalt einer Dynamik, die nahezu jeden, der nicht abhängig ist von solidarischer Hilfe, zwingt, wirtschaftlich zu handeln, also auf Verträgen zur Geldbeziehung zu bestehen, und wo, wie etwa bei den meisten universitären oder vielen „hochkulturellen“ Berufen (Theater etc.), bei Weitem nicht genug freiwillige Zahlungsbereitschaft erzeugt werden könnte, ist man auf die Redistribution von Zwangsabgaben durch Staaten angewiesen. Alle Personen sind integriert in das Verpflichtungsnetzwerk der Schuld in ihren Rollen als Gläubiger ~ Schuldner (Kreditor ~ Debitor), Verkäufer ~ Käufer (Produzent ~ Konsument), Aktiengesellschaft ~ Aktionär, Arbeitgeber ~ Arbeitnehmer oder auch als Schenker ~ Beschenkter.57 Auch und gerade Organisationen als juristische Personen unterliegen dem Refinanzierungszwang, sie müssen die entsprechenden Mittel selbst erwirtschaften (Unternehmen), erzwingen (Staaten, organisierte Kriminalität) oder sind auf Spenden angewiesen (bspw. NGOs). Organisationen sind mittels ihrer Hierarchien die „Maschinen“ der Handlungskoordination schlechthin und weit überwiegend „manisch obsessiv“ ausgerichtet auf Zwecke wie Profitabilität und/oder Machtausweitung ohne weitere eingebaute Empathie – fasst man Organisationen als handlungsfähige Akteure, liegt man kaum falsch, vor allem Aktienkonzerne als Psychopathen einzustufen.58 Die Geldwirtschaft ermöglicht dabei extreme Ungleichheit und extremen Wohlstand, sodass die Armen der Wohlfahrtsstaaten noch einen höheren Lebensstandard haben als der Großteil der Weltbevölkerung – von den etwa 1 Prozent der Reichsten, die 40 Prozent des weltweiten Vermögens auf sich vereinigen, ganz abgesehen (auf 10 % der Reichsten entfallen etwa 85 %). Krise und Erfolg des Geldes sind also vieldimensional und betreffen die ganze Welt, die Komplexität der Gesellschaft und persönliche Existenzen. Das eine ohne das andere aufzugeben, also Ressourcen und Lebensraum sowie Koordination, Produktivität, Innovation und ein Mindestmaß an Wohlstand zu sichern, ohne die materielle Reproduktion dabei dem Schuldendruck über Kredite, Kauf etc. zu unterwerfen, wirft weitgehende Fragen auf. Schon den Schuldendruck zu lindern, wie es etwa Vertreter der VollgeldInitiative oder der Modern Money Theory vertreten,59 indem Geschäftsbanken ihre zentrale Rolle als initiale Kreditgeber genommen und stattdessen Staaten die 57 Die Tilde wird in Anlehnung an Kelso und Engstrøm (2006) zur Markierung von Komplementärverhältnissen verwendet. 58 So der Vorschlag im kanadischen Dokumentarfilm The Corporation. 59 Siehe dazu Huber und Robertson (2008), vgl. auch den Ansatz von L. Randall Wray und Abba Lerner.
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Möglichkeit gegeben wird, Zahlungen direkt über die Zentralbank anzuweisen, ist angesichts der Ausgabelogik von Machtsystemen hochproblematisch. Historisch führte dies zu einer totalen inflationären Entwertung von Geld. Die Chancen, die ich für eine Gesellschaft nach dem Geld sehe, liegen in der Automatisierung und der zunehmenden Gestaltung der Gesellschaft über künstliche Intelligenz. Sollte diese so hoch entwickelt sein, dass sie unter instrumenteller Kontrolle durch den Menschen umfassende Produktions- und Innovationsprozesse sowie neuartige Formen der Energieversorgung und Krankenbehandlung ermöglicht, sollten also all die Visionen und Utopien etwa eines Ray Kurzweil wahr werden, gibt es Möglichkeiten, die Versorgung und den ständigen Entwicklungsbzw. Problemlösungszwang, den eine komplexe Gesellschaft mit sich bringt, ohne Geld und Organisationen zu lösen – schlicht weil der Mensch unter diesen Bedingungen gesellschaftlich einzig die Rolle als Konsument innehätte und jenseits familiärer Reproduktion kaum einen schöpferischen Part mehr spielen müsste: Komplexe Handlungskoordination würde unnötig. Der Mensch wäre dann allerdings auch nicht viel mehr als ein in seinem selbstgebauten Zoo gefangenes Wesen, er würde in totaler Abhängigkeit und als reiner Empfänger leben – mit all den Risiken des Auftretens psychischer Probleme, wie sie bei gefangenen Tieren zu beobachten sind. Andererseits ist dieser Zoo die ganze Erde – mit all ihren Chancen des l’art pour l’art. Nur die Wünschbarkeit dieser Zukunft hat allerdings mehr Frage- als Ausrufezeichen.
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Trialog: Geld als Medium oder als (ausgesonderte) Ware ? Ernst Lohoff, Hanno Pahl & Jens Schröter
Hanno Pahl Wir wollen uns über die Frage „Geld als Medium oder als (ausgesonderte) Ware ?“ verständigen. Mein Eindruck ist, dass das auch eine Frage ist, die viele Missverständnisse und Uneindeutigkeiten hervorgerufen hat. Vielleicht können wir das durch die gewählte Form – eines Gesprächs, eines Trialogs – vermeiden und zu präziseren Klärungen bzw. Verhältnisbestimmungen gelangen. Die Frage verläuft über Theorielager und Disziplingrenzen hinweg und sie hat auch eine gewisse politische Brisanz. Je nachdem, wie man Geld konzeptualisiert, ergeben sich sehr unterschiedliche Blickwinkel auf Fragen möglicher postmonetärer Vergesellschaftung. Ich will das Feld zunächst mal kurz vermessen. Zunächst haben wir es mit Theorietraditionen zu tun: Geld als Ware bezieht sich auf die Marx’sche Tradition, auf die Kritik der politischen Ökonomie. Da sind wir natürlich mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass es ganz verschiedene Ausdeutungen dieses Theorie- und Forschungsprogramms gab und gibt. Soweit ich sehe, befinden wir uns alle drei in relativ großer Distanz zum Traditionsmarxismus. Der gibt geldtheoretisch auch nicht so viel her, es handelt sich, wenn ich richtig sehe, um eine recht konventionelle Variante von Arbeitswerttheorie in der Linie Ricardos, allerdings mit besonderer Betonung der Klassendimension. Davon kann man die diversen ‚formkritischen‘ und ‚fetischismuskritischen‘ Lesarten unterscheiden, die unter Bezeichnungen wie ‚Wertkritik‘ (Krisis), ‚monetäre Werttheorie‘ (vgl. Heinrich 2001) oder ‚Neue Marx-Lektüre‘ (vgl. Backhaus 2011) firmieren. Ohne Differenzen unterschlagen zu wollen, würde ich mal als Gemeinsamkeit dieser zuletzt genannten Stränge formulieren: Geld bzw. monetären Formen wird eine Schlüsselstellung in der modernen Gesellschaft bzw. der kapitalistischen Ökonomie zugesprochen, während es in der traditionsmarxistischen Deutung oftmals als eine Art Appendix der (arbeitswerttheoretischen, produk © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_5
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Ernst Lohoff, Hanno Pahl & Jens Schröter
tionszentrierten) sogenannten Realökonomie betrachtet wurde. Geld – oder besser: verallgemeinertem Geldverkehr – wird seitens der formkritischen Lesarten eine spezifische Logik zugesprochen. Es besitzt eine ihm eigene Dynamik und generiert – im Verbund mit einer dann auch kapitalistisch organisierten Produk tionssphäre – Charakteristika wie Wachstums- und Verwertungszwänge sowie Krisentendenzen. Bei der Konzeptualisierung von Geld als Medium ist die Sachlage ebenfalls relativ komplex. Das hat auch mit der Vagheit und Vielschichtigkeit des Medienbegriffs zu tun, unter dem eine Menge disparater Objekte, Sachverhalte und Beobachtungsperspektiven subsummiert wird. Ich würde für den Nexus ‚Geld als Medium‘ eingangs mindestens drei unterschiedliche Diskurslinien unterscheiden: Erstens gibt es die Assoziation eines Mediums mit dem Gedanken der Neutralität. Ein Medium vermittelt eben nur, besitzt aber selbst keine strukturbildenden Potenziale. Wenn man Geld in dieser Weise als Medium denkt, dann befindet man sich in unmittelbarer Nähe zur neoklassischen Ökonomik, wo es ja auch die Vorstellung gibt (die tief in die entsprechenden Theoriegebäude der gleichgewichtstheoretischen Tradition eingelassen ist), das Geld nur ein Schleier ist und letztlich ökonomisch neutral. Davon unterscheiden kann man zweitens den soziologischen Diskurs um Geld als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium (Luhmann 1994 [1988], S. 230 – 271; Luhmann referiert auf Talcott Parsons, der schon früh Geld als Me dium bezeichnet hat). Das war insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren zeitweise ein größeres Thema, und es war ein Diskurs, der sich explizit oder implizit nicht zuletzt gegen die Marx’sche Theorie gerichtet hat. Schließlich haben wir drittens die neuere Medientheorie, Arbeiten, die oft in der Tradition Kittlers stehen oder zumindest kritisch auf Kittler referieren. Da haben wir einerseits einen klaren Fokus auf Medien als für die sozialkulturelle Entwicklung entscheidende ‚Mechanismen‘. Andererseits gibt es von dieser Seite eigentlich kaum Abhandlungen zum Geld, jedenfalls ist mir hier wenig bekannt. Vielleicht können wir so verfahren, dass Ernst zunächst mal ein paar Takte zur Marx’schen Konzeption von Geld als (ausgesonderter) Ware sagt und Jens zur Agenda der Medientheorie ? So, dass eingangs klarer konturiert wird, mit welchen möglichen Konfliktlinien und Fragen wir es überhaupt zu tun haben ?
Ernst Lohoff Geld ist seit einiger Zeit so etwas wie ein Modethema. VertreterInnen unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen und theoretischer Strömungen haben sich der Frage zugewandt, was Geld überhaupt ist und welche gesellschaftliche Rolle
Trialog: Geld als Medium oder als (ausgesonderte) Ware ? 151
es spielt. Diese Konjunktur kommt nicht von ungefähr. Zum einen handelt es sich um eine Reaktion auf die Entwicklung der letzten Jahre. Spätestens seit dem Krisenschub von 2008 ist es mit Händen zu greifen, dass das herrschende Geldsystem in einer tiefen Krise steckt. Das stellt für eine Gesellschaft, die von dem seltsamen ‚Stoff‘ Geld völlig abhängig ist, eine hochbrisante und verunsichernde Situation dar. Zum anderen fühlen sich ‚fachfremde‘ AußenseiterInnen herausgefordert, weil die nach der üblichen akademischen Arbeitsteilung eigentlich zuständige wissenschaftliche Disziplin keine Antwort auf die drängenden Fragen parat hat. Dass ihre VertreterInnen die aktuelle Entwicklung nicht vorausgesehen haben, ist dabei das geringste Problem. Viel schwerer wiegt ein grundsätzliches Defizit. Angesichts eines von der Finanzmarktdynamik bestimmten Kapitalismus ist es offensichtlich, dass es sich beim Geld um eine selbstständige soziale Macht handelt. Das ist indes mit den in der Volkswirtschaftslehre herrschenden Geldvorstellungen unvereinbar. Bei der seit Jahrzehnten tonangebenden neoklassischen Theorie springt das unmittelbar ins Auge. Diese begreift Geld explizit als eine neutrale Größe, von der man abstrahieren muss, um die wesentlichen wirtschaftlichen Zusammenhänge zu erkennen (‚Geldschleier‘). Viel besser ist es um die konkurrierenden Positionen innerhalb der Volkswirtschaftslehre freilich auch nicht bestellt. In der Volkswirtschaftslehre ist es Konsens, Geld auf die klassischen Geldfunktionen zu reduzieren und auf jede darüber hinausgehende Bestimmung als ‚metaphysisch‘ und wenig zielführend zu verzichten. Auf dieser Basis ist die Frage, was Geld den Charakter einer selbstständigen sozialen Macht verleiht, gar nicht formulierbar. Sie ist bereits mit der geldtheoretischen Prämisse wegdefiniert. Legt man bei der Betrachtung der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie die traditionsmarxistische Brille beiseite und nimmt ihre fetischismuskritische Stoßrichtung ernst, dann lesen sich die zentralen Aussagen über den Stellenwert des Geldes wie ein Antiprogramm zum herrschenden technizistischfunktionalistischen Geldkonzept. Als „die wahre Macht und der einzige Zweck“ (Marx 1968 [1844], S. 554) stellt Geld auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise für Marx ein gesellschaftliches Absolutum dar. Der Kritik der politischen Ökonomie zufolge hat Geld nicht einfach nur gesellschaftlichen Einfluss, „[das Geld] selbst ist das Gemeinwesen und kann kein anderes über ihm stehendes dulden“ (Marx 1983 [1857 – 1858], S. 149). Wer das erste Mal solche Formulierungen hört, fühlt sich möglicherweise an Sprichwörter wie „Geld regiert die Welt“ oder „Geld verdirbt den Charakter“ erinnert. Gab Marx also dem periodischen Stöhnen des Alltagsverstands über die Macht des Geldes ein theoretisches Fundament ? Dieser Gedanke löst sich auf, sobald man nachvollzieht, wie Marx die Stellung des Geldes als gesellschaftliches Absolutum herleitet. Das populäre Wehklagen behandelt das Geld als eine fremde Macht, die mit der Existenzweise aller als isolierter Warensubjekte nichts zu
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tun hat. Die Kritik der politischen Ökonomie dechiffriert diese Sicht als notwendig falsches Bewusstsein. Das Geld als „das reale Gemeinwesen“ ist „das gemeinschaftliche Produkt aller“ (ebd., S. 152). Indem die Menschen als getrennte PrivatproduzentInnen und WarenbesitzerInnen interagieren, erzeugen sie nicht nur zwangsläufig so etwas wie Geld, sondern auch seine Übermacht. Im Geld treffen die Warensubjekte auf „die glänzende Incarnation ihres eigensten Lebensprinzips“ (Marx 1983 [1867], S. 90). Im Geld nehmen die sozialen Beziehungen der Menschen eine selbstständige sachliche Gestalt an. Das moderne Warensubjekt kann „seinen Zusammenhang mit der Gesellschaft in der Tasche mit sich“ (Marx 1983 [1857 – 1858], S. 90) herum tragen – ein in jeder anderen Gesellschaftsformation unvorstellbares Kunststück. Für die Verwandlung des gesellschaftlichen Zusammenhangs in ein universelles Gesellschaftsding prägte Marx den Begriff Geldfetisch. Bei diesem Geldfetisch handelt es sich allerdings nur um die erscheinende Oberfläche und die entwickelte Form einer viel grundlegenderen Verrücktheit: „Das Räthsel des Geldfetischs ist daher nur das sichtbar gewordne, die Augen blendende Räthsel des Waarenfetischs selbst.“ (Marx 1983 [1867], S. 59) In der kapitalistischen Produktionsweise überlassen es die Menschen ihren Produkten, ihren sozialen Zusammenhang herzustellen – was diese zu Waren macht. Damit verwandeln sich aber bereits die Erzeugnisse der Menschen aus simplen Gebrauchsgütern in „sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge“ (ebd., S. 637). Als Waren kommt den Erzeugnissen der menschlichen Hand ein Doppelcharakter zu. Als sinnliches Ding hat jede besondere Ware einen spezifischen Gebrauchswert. Sie hat aber gleichzeitig die „übersinnliche“ (ebd.), genuin gesellschaftliche Dimension, Träger von Wert zu sein. Diesem Doppelcharakter der Ware, gleichzeitig besonderer Gebrauchswert und Repräsentant des Allgemeinen des Werts zu sein, entspringt die „Magie des Geldes“ (ebd., S. 59). „Die Bestimmung des Produkts im Tauschwert bringt“ nämlich „notwendig mit sich, daß der Tauschwert eine vom Produkt getrennte, losgelöste Existenz erhält. Der von den Waren selbst losgelöste und selbst als eine Ware neben ihnen existierende Tauschwert ist – Geld. Alle Eigenschaften der Ware als Tauschwert erscheinen als ein von ihr verschiedner Gegenstand. Eine von ihrer natürlichen Existenzform losgelöste soziale Existenzform im Geld.“ (Marx 1983 [1857 – 1858], S. 80) Diese Ableitung des Geldes aus dem Doppelcharakter der Ware ist untrennbar mit einer dem Verständnis der klassischen Ökonomie diametral entgegengesetzten Wesensbestimmung des Geldes verbunden. Schon Adam Smith, der Gründungsvater der klassischen Nationalökonomie, hatte das Geld außerhalb der Warenwelt, außerhalb des eigentlichen kapitalistischen Reichtums angesiedelt. Indem Marx Geld fetischismuskritisch deutet und als die abgelöste und zu einem eigenen unmittelbaren Gesellschaftsding gewordene soziale Existenzform des Tauschwerts
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fasst, bricht er konsequent mit dieser Zweiweltentheorie. „Als absolutes Dasein des Tauschwerts oder allgemeine Ware“ ist das Geld selbst Teil des Warenkosmos und die Darstellungsform abstrakten Reichtums par excellence. Zwar kann das Geld, „die verselbständigte Werthgestalt der Waaren“ (Marx 1983 [1867], S. 76), in bestimmten Funktionen, etwa in der des Zirkulationsmittels, „durch bloße Zeichen seiner selbst ersetzt werden“ (ebd., S. 57). Und darauf wiederum beruht die schon im 19. Jahrhundert weitverbreitete Idee, Geld selbst sei nichts weiter als ein Zeichen oder Symbol. Marx jedoch hat die Zeichentheorie des Geldes im Kapital als illusionär kritisiert. So viel gestand er ihren Vertretern zwar zu: In der Deutung des Geldes als Zeichen „lag […] die Ahnung, daß die Geldform des Dings ihm selbst äußerlich und bloße Erscheinungsform dahinter versteckter menschlicher Verhältnisse“ sei. Dieses Zugeständnis macht er aber nur, um gleich im nächsten Satz den Inhalt der Zeichentheorie, die Mystifizierung des Geldes zu einer Nichtware, zu verwerfen: „In diesem Sinn wäre jede Waare ein Zeichen, weil als Werth nur sachliche Hülle der auf sie verausgabten menschlichen Arbeit.“ (Ebd.) Für Marx stellen alle Waren ‚gesellschaftliche Chiffren‘ dar – natürlich auch die Geldware. Vor diesem Hintergrund könnte man als ein Synonym für ‚gesellschaftliche Chiffre‘ das Geld auch ein Zeichen nennen – vorausgesetzt, man dehnt die Verwendung dieses Terminus auf die besonderen Waren aus. In dieser Weise benutzte Marx den Begriff des Zeichens übrigens noch in den Grundrissen zur Benennung der Tauschwertdimension jeder Ware. Wenn landläufig dem Geld Zeichencharakter zugeschrieben wird, dann aus einer ganz anderen Perspektive heraus. Das gängige Verständnis reserviert den Zeichenbegriff für das Geld und behandelt den Gegensatz von Geld und Ware als Gegensatz von Reichtumszeichen und realem handfesten Reichtumsinhalt. In dieser auf das Geld verengten Zeichenvorstellung ist aber gerade die zentrale geldtheoretische Erkenntnis der Kritik der politischen Ökonomie ausgelöscht. Wie man nicht erst seit René Magrittes berühmtem Bild La trahison des images (Ceci n’est pas une pipe) weiß, bleibt ein Zeichen stets inhaltsverschieden von dem wirklichen Gegenstand, den es vertritt. Aus diesem Grund lässt sich das Bild einer Pfeife weder stopfen noch rauchen, noch machen gemalte Marmeladenschnitten satt. Die Trennung von Geld und Ware resultiert aber gerade nicht aus der Inhaltsverschiedenheit von Zeichen und Gegenstand, sondern ist das Ergebnis einer ganz anderen Logik. Der eigentümliche gemeinsame genuin gesellschaftliche Inhalt aller Waren, Träger von Tauschwert zu sein, macht eine gesonderte Darstellungsform dieses Inhalts im Geld unerlässlich: „Das Geld ist das sachliche Medium, worein die Tauschwerte getaucht, eine ihrer allgemeinen Bestimmung entsprechende Gestalt erhalten.“ (Marx 1983 [1857 – 1858], S. 100) Vor diesem theoretischen Hintergrund ist auch nachvollziehbar, warum Marx sich so kategorisch gegen den Gedanken verwahrte, es ließen sich Analogien zwi-
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schen der Position des Geldes im Warenkosmos und der menschlichen Sprache herstellen: „Das Geld mit der Sprache zu vergleichen ist […] falsch. Die Ideen werden nicht in der Sprache verwandelt, so daß ihre Eigentümlichkeit aufgelöst und ihr gesellschaftlicher Charakter neben ihnen in der Sprache existierte, wie neben den Waren. Die Ideen existieren nicht getrennt von der Sprache. Ideen, die aus ihrer Muttersprache erst in eine fremde Sprache übersetzt werden müssen, um zu kursieren, um austauschbar zu werden, bieten schon mehr Analogie; die Analogie liegt dann aber nicht in der Sprache sondern in ihrer Fremdheit“ (ebd., S. 96). Mit der Behauptung, die Ideen würden sich in der Sprache nicht verwandeln, bleibt Marx zwar einer von der linguistischen Theorie längst falsifizierten Sicht verhaftet; davon bleibt das zentrale Argument aber unberührt: Das Geld steht für eine von allem, was Sprache leistet, grundverschiedene Verwandlung. Im Geld vollzieht sich ein Reduktions- und Abstraktionsprozess, zu dem in der Sprache beim besten Willen keine Parallele zu finden ist. Wer Löwe, Tiger und Hase unter dem Begriff ,Tier‘ subsumiert, fasst im Kopf verschiedene Lebewesen unter gemeinsamen Merkmalen zusammen und ordnet dieser Abstraktionsleistung einen sprachlichen Ausdruck zu. Diese Art von Abstraktion vollzieht sich ausschließlich auf der Ebene des Denkens und Sprechens. Sie fügt aber keineswegs der Fauna ein neues Lebewesen hinzu. Genau eine solche merkwürdige Realabstraktion tritt indes mit dem Geld in die Welt. „Es ist als ob neben und außer Löwen, Tigern, Hasen und noch allen anderen wirklichen Thieren […] auch noch das Thier existirte, die individuelle Incarnation des ganzen Thierreichs. Ein solches Einzelne, das in sich selbst alle wirklich vorhandenen Arten derselben Sache einbegreift, ist ein Allgemeines, wie Thier, Gott u. s. w.“ (Marx 1983 [1867], S. 37) Die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie ist selbstverständlich nicht der einzige denkbare Ausgangspunkt für eine Suche nach einem nichtfunktionalistischen Geldverständnis. So gilt es u. a. auszuleuchten, ob nicht auch Erkenntnisse aus der medientheoretischen Diskussion helfen könnten, die gesellschaftliche Bedeutung des Geldes zu klären. Zumindest das in der Volkswirtschaftslehre verbreitete Hirngespinst von der Neutralität des Geldes, löst sich augenblicklich auf, wenn man Geld als Medium im Sinne der modernen Medientheorie fasst. In den Tagen McLuhans mag es noch eine bahnbrechende Einsicht gewesen sein, dass Medien keineswegs als neutrale Vermittler zu betrachten sind, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit und Wahrnehmung wesentlich mitbestimmen; heute stellt das fast so etwas wie einen Gemeinplatz dar. Es stellt sich allerdings die Frage, in welchem Verhältnis ein medientheoretischer Zugang zum Geldkonzept der Kritik der politischen Ökonomie steht. Ergänzen sich beide Herangehensweisen oder gehen sie von unvereinbaren Prämissen aus ? Ich habe mich bis dato zu wenig mit den verschiedenen medientheoretischen Ansätzen auseinandergesetzt, um das profund einschätzen zu können. Al-
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lerdings ist klar, welches Kriterium aus der Sicht einer auf das Fetischismusproblem ausgerichteten Marx-Interpretation darüber entscheidet, ob eine Öffnung zu medientheoretischen Positionen sinnvoll ist oder nicht: Ist es im medientheoretischen Bezugssystem möglich, dem inneren Zusammenhang zwischen Ware und Geld Rechnung zu tragen, oder reproduzieren sich die Unzulänglichkeiten der klassischen Zeichentheorien, wie sie schon Marx thematisiert hatte ?
Jens Schröter Wir debattieren über die Frage, ob Geld als ‚ausgesonderte Ware‘ oder als ‚Medium‘ zu verstehen sei. Ernst stellt die Frage: „Ist es im medientheoretischen Bezugssystem möglich, dem inneren Zusammenhang zwischen Ware und Geld Rechnung zu tragen, oder reproduzieren sich die Unzulänglichkeiten der klassischen Zeichentheorien, wie sie schon Marx thematisiert hatte ?“ Ich versuche im Folgenden auf diese Frage einzugehen, wobei die Erörterungen skizzen- und bruchstückhaft sind. Erstens: In geldtheoretischen Standardwerken (z. B. Ingham 2005, S. xiii – xvi) wird die Bestimmung des Geldes als einer Art von Ware sowohl neoklassischer als auch marxistischer Theorie zugeschrieben und anderen Bestimmungen des Geldes als entweder a) auf Schuld/Kredit oder b) dem Staat basiert oder c) Geld als Rechnungseinheit (unit of account) gegenübergestellt. Die Dichotomie, die Ernst macht zwischen Geld als neutralem Medium in der Neoklassik (‚Geldschleier‘) und als ‚eigentlichem Gemeinwesen‘, als eigenständiger sozialer Macht (vielleicht als dem ‚automatischen Subjekt‘ der Gesellschaft) in der Marx’schen Theorie, setzt eine spezifische, wie Hanno sagt, formkritische (wertkritische) Lesart der Marx’schen Theorie voraus, die in der geldtheoretischen Diskussion kaum eine Rolle spielt – was keine Kritik ist, sondern zunächst nur zeigen soll, wie unübersichtlich die theoretische Lage ist. Zweitens: Der Begriff von Geld als ‚medium of exchange‘ taucht bei Ingham direkt zu Beginn auf, verwirrenderweise aber bei der Darlegung ebenjener Ansätze, in denen „money takes its properties from its status as a commodity“ (ebd., S. xi). Das heißt, für Ingham geht die Bestimmung von Geld als Medium mit jener von Geld als Ware gerade miteinander einher, was ja auch durch Ernsts Beobachtung gestützt wird, dass Marx Geld als Ware, aber expressis verbis auch als das „sachliche Medium, worein die Tauschwerte getaucht“ (Marx 1983 [1857 – 1858], S. 100), bezeichnet. Das heißt, die Gegenüberstellung von Geld als (ausgesonderter) Ware und als Medium wird schon auf der ersten Seite von Inghams Concepts of Money widerrufen und ist vielleicht gar nicht zu machen (darauf komme ich zurück).
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Drittens: In der Medientheorie – sofern man sich überhaupt darauf einigen kann, was dazugehört und was nicht – kann man, wie Hanno richtig anmerkt, mindestens zwei Lager unterscheiden: jene soziologisch geprägten Medientheorien, in denen Geld schon mindestens seit den 1960er Jahren als Medium (bei Luhmann [1994 (1988)] dann: symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium) verstanden wird und an die dann Autoren wie Norbert Bolz (2008, S. 90 – 100) anschließen, und – in Ermangelung genauerer Begriffe – alle anderen. Bei McLuhan gibt es schon 1964 in seinem klassischen medientheoretischen Buch Understand ing Media ein einigermaßen seltsames Kapitel zu Geld; später schreiben Winkler (2004, S. 36 – 49), Krämer (2005) und Seitter (2002, S. 179 – 196) hier und da ein paar Seiten über Geld; Hörisch (1996, 2004, 2011, 2013) immerhin einige Bücher. Man kann aber nicht sagen, dass Geld ein zentrales Thema der Medientheorie wäre, schon gar nicht in jener Tradition, die Hanno erwähnt: der Medienarchäologie Kittler’scher Prägung (vgl. Rieger 2014). Insofern ist eine Medientheorie des Geldes ein Desiderat. Es wäre aber, und da stimme ich Ernsts Skepsis durchaus zu, zu zeigen, was eine solche Theorie zeigen kann, was andere Theorien, seien es systemtheoretische, wertkritische, philosophische etc. Ansätze, nicht können (jedenfalls ist auffällig, dass es in Inghams Kompendium kein eigenes Kapitel zu Medienoder Zeichentheorien des Geldes gibt). Marx hat ja betont, dass kein „Atom Naturstoff in ihre [der Waren; J. S.] Werthgegenständlichkeit“ (Marx 1987 [1872], S. 80) eingeht – Ware zu sein, und d. h. Tauschwert zu haben, ist keine Eigenschaft des Gegenstands, sondern eine des ‚sozialen Verhältnisses‘, der ‚sozialen Form‘. Genau daran kann man anschließen – und die Schwammigkeit dieser Begriffe kritisieren – und eben fragen: Wie realisiert sich medial diese ‚Form‘ ? Wie begegnet mir eine Ware ? Nehmen wir einen Apfel: Ein Apfel im Supermarkt unterscheidet sich, sagen wir, von seinem Double am Baum durch kein ‚Atom Naturstoff‘ – aber es ist ihm ein Preisschild aufgeklebt („0,99 Euro“) und es ist mir strikt verboten (ggf. anders als bei dem Apfel am Baum), den Apfel einfach mitzunehmen: Kameras, Kaufhausdetektive, Tags, Schilder, die Strafen androhen, nachts verschlossene Türen etc. sollen das verhindern. Ich kann den Apfel nur mitnehmen, wenn ich an einer entsprechenden Barriere (‚Kasse‘) die Summe Geld abgebe, die auf dem Preisschild steht. Drei Aspekte kommen also zum Apfel dazu: eine Information über seinen Preis,1 ein Wissen von Regeln (Gesetzen), was mit dem Preis zu tun ist, und Technologien, die die Einhaltung der Regeln sicherstellen.
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Die Frage nach dem Verhältnis von Wert und Preis, die unmittelbar in die Untiefen des sogenannten Transformationsproblems führt, sei hier ausgeklammert.
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Erstens: Ernst zitiert Marx: „In diesem Sinn wäre jede Waare ein Zeichen, weil als Werth nur sachliche Hülle der auf sie verausgabten menschlichen Arbeit“ (Marx 1983 [1867], S. 57), und liest diese Stelle als Beleg dafür, dass Marx die Zeichentheorie des Geldes als ‚illusionär‘ verwerfe. Denn Marx fährt fort: „Indem man aber die gesellschaftlichen Charaktere, welche Sachen, oder die sachlichen Charaktere, welche gesellschaftliche Bestimmungen der Arbeit auf Grundlage einer bestimmten Produktionsweise erhalten, für bloße Zeichen, erklärt man sie zugleich für willkührliches Reflexionsprodukt der Menschen.“ (Ebd.) Ich interpretiere diese Stelle so: Marx hat Recht (vielleicht ohne es zu wollen2): Jede Ware ist ein Zeichen. Der Apfel am Baum nicht,3 aber als Ware ‚hat‘ er den ‚Wert‘ ‚0,99 Euro‘, indem ein irgendwie ihm assoziiertes Schild diesen Preis darlegt. Einen Tauschwert zu haben bedeutet, auf diesen Tauschwert irgendwie zu verweisen (und sei es, dass jemand sagt: ‚Kostet 0,99 Euro‘). Ware sein heißt, mit Zeichen für einen bestimmten Tauschwert verbunden zu sein. Eine Ware ist ein Gegenstand mit Gebrauchswert, der zum Medium des Tauschwerts gemacht worden ist (bzw. bereits als solches produziert wurde). Ernst hat also Recht, wenn er die, wie er schreibt, ‚landläufige‘ (und vielleicht auch die Neoklassik prägende) Vorstellung kritisiert, nur Geld sei zeichenhaft und die Waren bzw. ‚Güter‘ seien die ‚realen Werte‘ (was auch immer das heißen soll4) – eine Vorstellung, aus der dann auch die Vorstellung erwächst, die ‚irreale‘, ‚bloß zeichenhafte‘ Finanzindustrie überlagere verfälschend die ‚Realwirtschaft‘.5 Zweitens: Das hat aber in der Tat nichts damit zu tun, ‚bloßes Zeichen‘ zu sein oder gar ein ‚willkürliches Reflexionsprodukt der Menschen‘. Ich als Käufer kann nämlich nur schwer im Supermarkt den assoziierten Preis beliebig ändern6 und auch Zwischenhändler haben nur einen eingeschränkten Spielraum. Das ist ebenso schwierig, wie für Gegenstände nach Belieben ein neues Wort zu erfinden (wenn ich noch verstanden werden will). Vielleicht möchte ich den Preis ja ändern – und kann versuchen, irgendwo ein Schild, das einen geringeren Preis ausweist, zu entfernen und auf den Apfel zu kleben. Doch nicht nur verhindert die materielle 2 Aber worauf auch Ernst hinweist: In den Grundrissen schreibt Marx ja explizit, dass die „Ware eine doppelte Existenz gewinnt, neben ihrer natürlichen eine rein ökonomische, in der sie ein bloßes Zeichen, ein Buchstabe [!] für ein Produktionsverhältnis ist, ein bloßes Zeichen für ihren eignen Wert“ (Marx 1983 [1857 – 1858], S. 76). 3 Christliche Ikonografie sei hier ausgeklammert. 4 Man könnte das als Variation des Fetischismus beschreiben: Man glaubt, die Dinge enthielten den Wert, statt dass er ihnen konventionell, zeichenhaft zugeordnet sei. 5 Überdies hat die Aufteilung von ‚abstrakt‘ auf Geld und von ‚konkret‘ auf Waren auch strukturell antisemitische Implikationen, worauf Postone (2005 [1979]) verweist. 6 Das Ritual des Feilschens sei hier ausgeklammert – bestätigt aber eher, dass man als Kunde Preise nicht willkürlich festlegen kann.
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Beschaffenheit heutiger Preisschilder solche Praktiken (sie gehen dabei kaputt), sondern ihnen stehen auch die Gesetze entgegen, die zur Not mit Gewalt durchgesetzt werden. Damit kommt ein Aspekt in die Frage nach dem Geld, den Ernst nicht explizit erwähnt: der Staat. Man muss nicht behaupten, dass das Geld nur durch staatliche Setzung entsteht (zur schwierigen Frage der Geldgenese komme ich unten), aber jedenfalls wird die je gültige Erscheinungsweise des Geldes als Währung vom Staat stabilisiert und ggf. widerrufen.7 Wenn staatliche Macht zusammenbricht (und auch keine privaten Strukturen an diese Stelle treten), kommt es zu Plünderungen, da keine Preisschilder, Kassen und Kameras mehr verhindern können, dass die Waren – die dann keine mehr sind – ohne Tausch gegen Geld mitgenommen werden. Deswegen heißt Zeichenträger sein nicht ‚bloß Zeichen‘ sein, denn der Preis ist ein mit äußerster Gewalt stabilisiertes Zeichen. Geld als Zeichensystem zu bezeichnen, muss also nicht heißen, es zu einer ‚Nichtware zu mystifizieren‘, wie Ernst behauptet – es kann auch heißen, präziser zu formulieren, was Ware und Geld eigentlich verbindet. Es wird immer so getan, als hieße Zeichen sein ‚nur‘ und ‚bloß‘ Zeichen sein, als ob Zeichen, ihre Ordnungen und ihre medial-politischen Stabilitätsbedingungen nicht mindestens ein zentrales Strukturprinzip jeder möglichen menschlichen Realität wären (siehe die Rolle der Sprache). Was heißt denn dann: Geld als „allgemeine Ware“ (Marx 1983 [1857 – 1858], S. 80) oder als „verselbständigte Werthgestalt der Waaren“ (Marx 1983 [1867], S. 76) zu bezeichnen ? Das kann doch nur heißen, dass sich gleichsam das Preisschild vom Apfel löst und als eigener Wert zirkuliert. Das kann es deswegen, weil der Wert eben nicht im Apfel liegt, ‚kein Atom‘, wie Marx sagt: „Jeden Augenblick, im Rechnen, Buchführen etc. verwandeln wir die Waren in Wertzeichen, fixieren wir sie als bloße Tauschwerte, abstrahierend von ihrem Stoff und allen ihren natürlichen Eigenschaften. Auf dem Papier, im Kopf geht diese Metamorphose durch bloße Abstraktion vor sich; aber im wirklichen Umtausch ist eine wirkliche Vermittlung notwendig, ein Mittel, um diese Abstraktion zu bewerkstelligen.“ (Marx 1983 [1857 – 1858], S. 77) Eine ‚Vermittlung‘, ein ‚Mittel‘ – ein Medium, eben Geld in der Form einer Währung. Zeichen können nicht ohne materielle Träger existieren – eine basale Annahme der Medientheorie. Also bekommen die ‚Wertzeichen‘ historisch sich wandelnd verschiedene Träger: von Goldmünzen bis hin zu Bitcoins.8 7
Siehe aktuell die abrupte Geldentwertung durch die indische Regierung: https://en.wikipedia. org/wiki/Indian_500_and_1000_rupee_currency_demonetisation (zugegriffen am 7. August 2017). 8 Ist das Geld das Medium oder vielmehr der Geldschein, der die Zahlen trägt ? Hier müsste noch genauer nachgedacht werden – eventuell könnte man das auch mit wechselnden Medium/Form-Verhältnissen im Sinne Luhmanns (1994 [1988], S. 303) beschreiben.
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Oder wie Marx, medientheoretisch genau, formuliert: „[E]in Symbol, wenn es nicht willkürlich ist, erfordert gewisse Bedingungen in dem Material, worin es dargestellt wird.“ (Ebd., S. 80) Ein Geldschein ist ein materiell (fast) wertloser Gegenstand, der einen Zahlenausdruck trägt und medial hochgradig gegen Fälschung gesichert ist. Er kann in andere Medien übersetzt werden: Ich kann einen 50-Euro-Schein gegen 50 Ein-Euro-Münzen oder gegen eine entsprechende Menge Gold tauschen, das ich dann bei einer Bank abgebe, wo mir die 50 Euro virtuell auf meinem Konto gutgeschrieben werden etc. An diesem Punkt möchte ich eine Formulierung von Ernst aufgreifen: „Zwar kann das Geld, ‚die verselbständigte Werthgestalt der Waaren‘ (Marx 1983 [1867], S. 76), in bestimmten Funktionen, etwa in der des Zirkulationsmittels, ‚durch bloße Zeichen seiner selbst ersetzt werden‘ (ebd., S. 57).“ Das klingt, als gäbe es Fälle, in denen Geld kein Zeichen wäre und es dann ausnahmsweise auch als Zeichen erscheinen könnte. Doch wie Ernst zu Recht bemerkt, man kann gemalte Marmeladenschnitten nicht essen – Dinge kann man (in der Regel) nicht durch Zeichen ersetzen. Wenn Geld durch ‚bloße Zeichen‘ ersetzt werden kann, muss es schon vorher zeichenhaft gewesen sein.9 Das gilt auch für Gold und seine Ausformungen z. B. als Münze. Die Diskussion über Metallismus und Nominalismus in der Geschichte des Geldes (und bei Marx) ist komplex, ich kann hier nicht darauf eingehen. Ich würde aber behaupten wollen, dass auch Gold nie ‚an sich‘ wertvoll war und ist und auch keinen intrinsischen Wert daher hat, dass es so schwer abzubauen ist etc.10 Der Punkt ist, dass es hinreichende Seltenheit mit Eigenschaften wie Teilbarkeit, Zählbarkeit und v. a. Haltbarkeit verbindet. Es ist als ‚Träger von Wert‘, wie Ernst an einer Stelle formuliert, geeignet, weil ein Edelmetall chemisch vergleichsweise stabil ist – schon der Gedanke an eine Währung auf der Basis von Seifenblasen ist absurd. Offensichtlich ist die mediale Stabilität dem Geld nicht äußerlich. Goldmünzen sind also kein ‚eigentliches‘ Geld, das – wie Ernst formuliert – „in bestimmten Funktionen, etwa in der des Zirkulationsmittels, ‚durch bloße Zeichen seiner selbst ersetzt werden‘“ kann –, sondern sie sind ein Zeichentyp, der in einen anderen übersetzt werden kann. Kein Geld ist eigentlicher als das andere. Und deswegen konnte man irgendwann, als die Expansion kapitalistischer Ökonomien größere Mengen an Geld be9
Gilt das nicht auch für die von Lohoff und Trenkle (2012, S. 152) zur Diskussion gestellte, interessante These, dass es zu einer „Umbesetzung auf der Königsposition im Warenkosmos“ gekommen sei ? 10 Es gab auch Münzen aus Edelmetallen, die keinen Nominalwert trugen, bei denen also der Wert mit einer bestimmten Menge des ‚wertvollen‘ Materials korrelierte. Doch ersichtlich ist die Zuordnung eines bestimmten ‚Werts‘ zu einer bestimmten Menge des Materials nicht weniger konventionell als der Aufdruck irgendeines Nominalwerts – und tatsächlich wurden diese Zuordnungsverhältnisse oft durch politische Beschlüsse (z. B. des Königs) beliebig abgeändert.
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nötigte und die Seltenheit des Goldes zum Problem wurde, eben das Gold auch fallen lassen. Die Verknappungs- und Stabilitätsmechanismen sind heute anderer Art (Fälschungssicherheit von Geldscheinen etc.); und dass das Geld ‚immaterieller‘ geworden sei, kann man angesichts riesiger Glasfaser-, Serverfarm- etc. Infrastrukturen für elektronischen Geldverkehr nur mit Mühe behaupten. Man kann also schlussfolgern: Es gibt gar keinen Widerspruch zwischen einer Beschreibung von Geld als ‚allgemeiner Ware‘ und als ‚Medium‘ – im Gegenteil: Die Aussonderung des Geldes kann man nur erklären, wenn man sie auf den zeichenhaften Charakter von Ware und Geld gründet. Ernst schreibt: „Im Geld nehmen die sozialen Beziehungen der Menschen eine selbstständige sachliche Gestalt an“, und zitiert Marx: „Es [das Individuum; J. S.] trägt seine gesellschaftliche Macht, wie seinen Zusammenhang mit der Gesellschaft in der Tasche mit sich“ (Marx 1983 [1857 – 1858], 90). Dabei spielt Marx auf das mediale Ensemble des Portemonnaies an, das Geld, aber (heute) auch Identifikationspapiere enthält, mit denen jede/r Einzelne ökonomisch und politisch an Ökonomie (bourgeois) und Staat (citoyen) gebunden ist. Der Punkt ist dabei, dass die ‚sozialen Beziehungen‘ eine selbstständige Form annehmen. Geld ist nicht einfach Mittel zum Zweck, sondern seine Vermehrung (als ‚Kapital‘: G – W – Gʹ) wird der zentrale Zweck. Nun kann man zunächst fragen, was ‚soziale Beziehungen‘ eigentlich heißt. Irgendwelche medialen Formen müssen für soziale Beziehungen immer verwendet werden – und sei es nur die gesprochene Sprache: Die ist aber natürlich auch insofern gegenüber den Individuen immer schon selbstständig, als sich niemand die Sprache (und ihre ganzen Strukturierungen, metaphorischen Implikationen etc.) aussuchen kann. Man wird in eine Sprache (oder mehrere) hineingeboren. Die Sprache hat immer schon auch eine ‚selbstständige sachliche Gestalt‘, z. B. in der Form von Duden und Lehrbüchern, Schulen (Achtung: Staat !) und Klausuren, mit denen kleinen Menschen eingehämmert wird, wie man ‚richtig‘ spricht (und schreibt). Diese Formulierung, ziemlich dicht an zentralen Positionen der Medientheorie, macht deutlich, dass Medien niemals (oder jedenfalls: nicht nur) Werkzeuge vor ihnen bestehender Subjekte sind – an der Sprache wird das noch deutlicher als am Geld. Insofern steht die These von Marx, dass Geld nicht einfach nur ein „pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel“11, sondern eine, wie Ernst for11 Marx (1972 [1859], S. 36): „In andern Worten, unter dem Vorwand, den einfachen Tauschhandel zu betrachten, veranschaulichen sich die Ökonomen gewisse Seiten des Widerspruchs, den das Dasein der Ware als unmittelbare Einheit von Gebrauchswert und Tauschwert einhüllt. Andrerseits halten sie dann konsequent am Tauschhandel als adäquater Form des Austauschprozesses der Waren fest, der nur mit gewissen technischen Unbequemlichkeiten verknüpft sei, wofür Geld ein pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel. Von diesem ganz flachen Standpunkt aus hat ein geistreicher englischer Ökonom daher richtig behaup-
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muliert, ‚selbstständige soziale Macht‘ ist, ganz dicht an Positionen der Medientheorie12 (wie sich ohnehin vieles bei Marx wie Medientheorie avant la lettre liest). Nun hat aber Marx – worauf Ernst hinweist – den Vergleich von Sprache und Geld gerade zurückgewiesen (vgl. Marx 1983 [1857 – 1858], S. 96). Er betont v. a. folgende Differenz: Während ein abstrakter Begriff wie ‚das Tier‘ eben nur im Denken und Sprechen existierte – und nicht real neben den besonderen Tieren –, wäre eben dies bei der ‚Realabstraktion‘ Geld der Fall, ‚das Tier‘ würde sozusagen real neben den konkreten Tieren existieren. Und das wäre ein grundsätzlicher Unterschied. Ist es aber nicht. Es ist ein ganz alltäglicher Befund, dass Zeichenordnungen parallel zu Dingordnungen bestehen und sich wechselseitig aufeinander beziehen. Ich kann sagen: „Bitte bringe mir diesen Apfel !“ – und dann wird mir (im Idealfall) der Apfel gebracht. Obwohl ich also nur ein arbiträres Zeichen für den Apfel verwendet habe, wird der reale Apfel verändert (hier seine Position etc.). Durch den Satz „Ich erkläre euch zu Mann und Frau !“ wird – unter spezifischen institutionellen Bedingungen, was aber generell (s. o.) auch für den Tauschwert relevant ist – der Personenstatus verändert, mit allen möglichen Konsequenzen. Sprache ist nicht nur beschreibend und/oder abstrahierend, sondern auch performativ. Sie ist eben nicht immer nur ‚bloßes Zeichen‘, das etwas Reales passiv repräsentiert, sondern kann als Zeichen eingreifen und Reales verändern. Geld als ‚verselbstständigte[r] Wert der Waren‘ bedeutet: Ein staatlich kontrolliertes (und allein von daher vertrauenswürdiges) Set an Zeichen repräsentiert den Wert in Form von Zahlen, die ebensolchen Zahlen – angebracht an oder assoziiert mit Gebrauchsgegenständen, die dann Waren sind – vergleichbar sind. ‚Realabstraktion‘ heißt dann, dass man diese Zahlen auch auf gesonderten Medien darstellen kann, z. B. Geldscheinen oder Computerdisplays. Und so existieren sie ‚neben‘ den Dingen – an denen sie aber auch schon ‚daneben‘, also unabhängig von ihnen, existieren, denn ich kann das Preisschild auch vom Apfel entfernen, wodurch an dem Apfel nichts zurückbleibt, was auf seinen Tauschwert verweist. Und ich kann eine solche mediale Aufschreibung von, sagen wir, 50 Euro nehmen, in einen Laden gehen und sagen: „Ich möchte diesen Apfel“, und meinen Schein hinhalten, bekomme Wechtet, Geld sei ein bloß materielles Instrument, wie ein Schiff oder eine Dampfmaschine, aber nicht die Darstellung eines gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses und folglich keine ökonomische Kategorie.“ Ich würde behaupten: Auch Schiff und Dampfmaschine sind Darstellungen gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse und nicht ‚bloß‘ (schon wieder dieses ‚bloß‘ !) ‚materielle Instrumente‘, denn materielle Instrumente kommen immer aus sozialen Zusammenhängen und werden durch diese geformt, dienen dazu, diese zu reproduzieren – wobei diese Reproduktion immer auch scheitern kann. 12 Sybille Krämer (1998, S. 73) hat bemerkt, dass sich in der „Vielfalt medienbezogenen Forschens […] ein gemeinsamer Nenner“ herauskristallisiere: „Es ist dies die Überzeugung, dass Medien nicht nur der Übermittlung der Botschaften dienen, vielmehr am Gehalt der Botschaften […] selbst beteiligt sein müssen.“
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selgeld und den Apfel ausgehändigt. Sprachzeichen und Geldzeichen verändern den realen Gegenstand: performativ. Marx benennt diese performative Dimension des Tauschwerts ganz explizit: „Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsproducte nicht auf einander als Werthe, weil diese Sachen ihnen für bloss sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Producte [konkrete Gebrauchswerte; J. S.] einander im Austausch als Werthe [abstrakte Tauschwerte; J. S.] gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten [konkrete Arbeit; J. S.] einander als menschliche Arbeit gleich [abstrakte Arbeit; J. S.]. Sie wissen das nicht, aber sie thun es.“ (Marx 1987 [1872], S. 41). Die Sachen sind keine ‚Hüllen‘ für Arbeit und daher Wert, sie enthalten keinen Wert. Der Wert ist also strikt äußerlich: Es ist der Akt des Tauschens, d. h. des Vergleichens von Zeichen auf Preisschildern und Geldscheinen, der „Vergleichung mit dem Geld“ (Marx 1983 [1857 – 1858], S. 121), der nach strengen und polizeilich geschützten Regeln abläuft und so den Wert als das Äquivalent aktualisiert. Solange diese Vorgänge tagtäglich stattfinden, bleibt auch der Tauschwert bestehen. Sobald z. B., wie erwähnt, die staatliche Ordnung zusammenbricht und die Güter aus den Supermärkten ohne Tausch herausgeholt werden, hört der Tauschwert auf zu sein. Er existiert performativ. Hier können jetzt zweifelsohne die Kritiken einer ‚zirkulationsideologischen‘ Verkürzung des Werts angebracht werden – doch sagt ja keiner, dass solche Prozesse nur im Tausch auf Märkten stattfinden. Eine Firma, die Waren herstellt, muss ebenfalls den Preis, zu dem sie jene z. B. ZwischenhändlerInnen weitergeben, irgendwie an die Gegenstände ‚heften‘ und diejenigen, die die Waren abnehmen, geben Geldzeichen etc. Ich sehe keinen anderen Weg, das zu beschreiben, ohne den Wert substanzmetaphysisch zu essentialisieren, also doch zum ‚Atom‘ zu machen. Abschließend möchte ich ein ganz vorläufiges Fazit ziehen und einige (sicher sind es nicht alle) offene Problemstellen benennen. a. Zurück zu Ernsts anfänglicher Frage: „Ist es im medientheoretischen Bezugssystem möglich, dem inneren Zusammenhang zwischen Ware und Geld Rechnung zu tragen, oder reproduzieren sich die Unzulänglichkeiten der klassischen Zeichentheorien, wie sie schon Marx thematisiert hatte ?“ Ich weiß nicht, ob die Überlegungen hier überzeugend sind oder auch nur in die richtige Richtung zielen. Jedenfalls war mein Versuch, die Zusammenhänge, die mit Worten wie ‚soziale Form‘, ‚Verhältnisse‘ etc. m. E. eher vage umschrieben sind, auf eine etwas konkretere und letztlich auch materialistischere Basis zu stellen, die genauer beschreiben kann, wie so etwas wie ‚Wert‘ überhaupt erscheint und operiert. Die Entgegensetzung ‚Medium‘ und ‚allgemeine Ware‘ scheint sich dabei aufzulösen. Waren sind immer schon zeichenhaft und daher kann Geld auch an Waren ‚an-
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schließen‘. Es bleibt aber offen, wie man diese Diskussion auf soziologische Begriffe des Geldes als ‚symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium‘ bezieht. b. Zum Postmonetären: Jedenfalls kann eine „Gesellschaft nach dem Geld“ nicht heißen eine „Gesellschaft nach der Medialität“. In der Regel wird argumentiert, die getrennten PrivatproduzentInnen müssten wieder vor der Produktion miteinander kommunizieren und sich so einigen, was produziert werden würde sollte – so entfielen Tausch und mithin Geld (auch in der Commons-Diskussion ist das ein zentrales Argument). Allerdings wird eine solche Produktion auf globalen Skalen neue Verfahren der Koordination, Datenkompression und Komplexitätsreduktion mit sich bringen, ansonsten wird sie undurchführbar. Mutmaßlich wird man immer noch den gesellschaftlichen Zusammenhang in der Hosentasche mit sich herumtragen, nur wohl nicht mehr in der Form von Geld, sondern eher in der Form heutiger Smartphones, die im Prinzip eine permanente Partizipation an der gemeinschaftlichen Produktion der Gesellschaft ermöglichen, zugleich durch Bots die Notwendigkeit der permanenten Erreichbarkeit senken, komprimierte Visualisierungen aktueller Problemlagen ermöglichen etc. (was durch translokale, soziale Netzwerke zumindest erahnbar wird, vgl. Dyer-Witheford 2013). Es geht nicht um ‚technische Lösungen für soziale Probleme‘ – sondern darum, dass Sozialität immer schon technisch und medial ist – und gar nicht anders sein kann – und die Rede von anderen ‚sozialen Formen‘ äußerst vage bleibt, wenn nicht angegeben werden kann, wie sie medial existieren.
Hanno Pahl Ihr habt euch jetzt beide schon sehr dezidiert und ausführlich auf die Kernproblematik bezogen, also inwieweit medientheoretische Überlegungen in der Lage sind, das Geld als eine ausgesonderte Ware zu begreifen, und ob die Unterscheidung von Medium und Zeichen sinnvoll ist. Ich möchte dazu kurz einige Punkte einwerfen, die mir mit Bezug auf die Theoriefunktion der Werttheorie bedenkenswert erscheinen (1.). Im Anschluss möchte ich unsere Fragestellung stärker kontextualisieren mit Blick auf so etwas wie eine medientheoretisch informierte Theorie soziokultureller Evolution (2.). (1.) Ich denke, es ist wichtig, sich zu vergegenwärtigen, um welche Erklärungsleistungen es im Kontext der Werttheorie geht. Mit der These eines notwendigen Zusammenhangs von Ware und Geld versucht Marx eine basale Motorik kapita listischer Synthesis dingfest zu machen, um daraus möglichst definitive Aussagen über die Entwicklung des modernen Kapitalismus ‚ableiten‘ zu können. Das gilt
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nicht nur für die (monetäre) Arbeitswerttheorie, sondern für das Theorieformat ‚Werttheorie‘ als solches, also auch für subjektive Werttheorien. Immer geht es darum, empirische Erscheinungen (ökonomische Dynamiken) auf ein grundlegendes Prinzip zurückzuführen. Damit lassen sich natürlich aussagekräftige (und insofern attraktive) Theorien konstruieren. Vielleicht ist das aber auch ein Problem. Frank Beckenbach (2014) hat vor einigen Jahren die Frage gestellt, ob die (wenn auch monetäre) Arbeitswerttheorie bei Marx nicht theoriearchitektonisch einen ähnlichen Stellenwert besitzt wie das Auktionatorkonzept in der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie. Weil die allseitige Interdependenz allen Markt- und Produktionsgeschehens analytisch kaum zu handhaben ist, hat sich Walras einer Theoriefigur bedient, die die chaotische Dynamik des Marktgeschehens in die wesentlich besser überschaubare (weil analytisch und mathematisch handhabbare) Form eines (zentralen) Auktionsmarktes transformiert. Solche short-cuts gibt es bei Marx auch, von der (monetären) Arbeitswerttheorie als Fundament bis hin zu den diversen Synthesekonzepten, die sich im Verlauf der drei Kapitalbände finden, etwa für die Annahmen eines brancheninternen und branchenübergreifenden Profitratenausgleichs. Auch das sind Synthesefiguren, short-cuts gewissermaßen, die starke ordnungs- oder gleichgewichtstheoretische Komponenten aufweisen: Immer geht es um Konvergenzbewegungen hin zu einem Endzustand oder jedenfalls um starke Tendenzangaben. Insbesondere seitens der evolutorischen Ökonomik bzw. der Komplexitätsökonomik wird gegenwärtig versucht, solche Aggregationsprobleme (‚Wohin treibt das Ganze ?‘) abzubilden und theoretisch zu konzipieren, ohne auf eine vorgeschaltete Werttheorie (gleich welcher Bauart) zu referieren. Man hat es dann immer mit einer ganzen Reihe von Zustandsformen zu tun: Gleichgewicht, multiple Gleichgewichte, Chaos etc. Man kann dann aus einer bestimmten Ausgangskonstellation eines (komplexen, adaptiven) Systems nur noch sehr begrenzt Aussagen über seine Entwicklung ableiten, da es verschiedene mögliche Trajektorien gibt. Und weil die Wirtschaft ein nichtlineares System ist, können auch kleine Änderungen (an welchen Stellen auch immer) zu großen Effekten führen. Es stellt sich – wenn man die Sache vor diesem Hintergrund diskutiert – die Frage, wie weit die Ableitung des Geldes aus dem Doppelcharakter der Ware trägt, um Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Ökonomie einzufangen. Ich denke, als analytischer Ausgangspunkt ist die Marx’sche Konzeption konkurrenzlos, eine andere Frage ist für mich die daraus resultierende Forschungsweise. Das betrifft dann auch die Frage von so etwas wie einem ‚idealen Durchschnitt‘, wenn wir davon ausgehen, dass auch die kategoriale Kernstruktur nichts in Gänze Feststehendes ist, sondern sich in der historischen Dynamik neue Formen der Verselbstständigung des Werts herausbilden (etwa die bei Ernst in aktuellen Publikationen thematisierten Waren zweiter Ordnung).
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Damit hängt ein weiterer Punkt zusammen: Mirowski (1999) hat im Rahmen eines Buchs, das insbesondere dafür bekannt geworden ist, sehr überzeugend aufgezeigt zu haben, dass sich die Konstitution von Marginalismus und Allgemeiner Gleichgewichtstheorie weitreichenden Konzeptübernahmen aus der Physik verdankt, auch einen Seitenblick auf die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie geworfen. Er vermutet dort: „It would have been too much to expect Marx to have foreseen that the very ontology of the physical world was also experiencing metamorphosis in his lifetime, and yet, it can be argued that the scientific community’s transition from substance to field had some influence on his understanding of the labor theory of value, in that there ended up being not one but two Marxian labor theories of value: the first rooted in the older substance tradition, the other sporting resemblances to nascent field theories in physics.“ (Ebd., S. 177) Man müsste von hieraus noch einmal die Frage der Kohärenz der Marx’schen Position diskutieren. Die Kritik der politischen Ökonomie ist ja ein unvollendet gebliebenes Werk – auch und gerade mit Blick auf das Ziel, die kategoriale Grundstruktur der kapitalistischen Wirtschaft analytisch freizulegen. (2.) Wenn wir Gesellschaftsanalyse auf Basis einer formkritisch verstandenen Kritik der politischen Ökonomie betreiben, dann stellt sich immer auch die Frage der Reichweite von Geldtheorie und Kapitalismusanalyse. Ursprünglich hat Marx im Sinn gehabt, eine allgemeine Theorie soziokultureller Entwicklung auszuarbeiten (‚materialistische Geschichtsauffassung‘), um dann auf dieser Grundlage eine spezifische Theorie der kapitalistischen Ökonomie als mutmaßlichem Zentrum der modernen Gesellschaft auszuarbeiten. Das erste Unternehmen ist bekanntlich auf dem Stand einer Programmatik verharrt, das zweite ist seinem Umfang nach immer mehr angewachsen, je mehr Marx den Verästelungen und der Binnenkomplexität des kapitalistischen Systemzusammenhangs auf kategorialer Ebene gefolgt ist. Die allgemeine Theorie soziokultureller Entwicklung ist in diesem Zuge nicht wieder aufgenommen worden. Mit dem späten Engels beginnend und dann vor allem im sowjetischen Machtbereich wurde aus vor allem der Deutschen Ideologie entnommenen Versatzstücken eine Art proletarische Weltanschauung zusammengezimmert, als Legitimationsideologie eigener Herrschaftsansprüche und als Konkurrenzprogramm zu bürgerlichen Fortschrittsnarrativen. So geht’s natürlich nicht. Ich denke aber, dass wir eine ‚übergeordnete‘ oder allgemeine Theorie soziokultureller Entwicklung brauchen, nicht weil uns Geschichte als Selbstzweck unbedingt zu interessieren hat, sondern für die Analyse der Dynamik des Gegenwartskapitalismus. Bei Manfred Faßler (2014) findet sich ein Versuch, „das Soziale“ als spezifi schen Organisationsmodus historisch-genetisch zu rekonstruieren. Im Zentrum steht dort „die Entwicklung von nicht-genetischen Gruppenartefakten […] (Werk-
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zeuge, Siedlungen, Infrastruktur, Verwaltungen)“ (ebd., S. 16), deren historisches Auftreten die traditionellen Formen von Sozialität überformt, die sich im Wesentlichen als Verwandtschaftsselektion beschreiben lassen. Faßler (ebd., S. 79) spricht von einem Sozialen zweiter Ordnung, „das mit abstrakten Zahlen, Zeichen, Kalkülen, Symbolen und Repräsentation in Bewegung gesetzt wird“ und sich durch „die Vererbung der undinglichen Abstraktionssysteme, der Pläne, Schriften, Skizzen, Anweisungen“ reproduziert und in immer stärkerer Weise die Modi soziokultureller Entwicklung mitbestimmt. Ich denke, dass es sich lohnt, Geld in diesem Zusammenhang zu diskutieren, also letztlich vergleichend – diachron und synchron – mit anderen Medien dieses Sozialen zweiter Ordnung. Vor allem in der Linie Sohn-Rethels (1971) wurden solche Sachen ja angedacht, allerdings in einer doch ziemlich unterkomplexen Weise. Jens hat schon angemerkt, dass Geld jedenfalls in jenen medientheoretischen Forschungslinien, die in der Tradition Kittlers stehen, kaum thematisiert wird. Das hat möglicherweise seinen Grund in der (politischen bzw. theoriepolitischen) Haltung Kittlers, zu Marx und zur Frankfurter Schule auf maximalen Abstand zu gehen. Dabei besitzt sein zentrales Konzept, das Aufschreibesystem, als „Netzwerk von Techniken und Institutionen […], die einer gegebenen Kultur die Adressierung, Speicherung und Verarbeitung relevanter Daten erlauben“ (Kittler 1985, S. 501), eine gewisse Nähe zu formkritischen Interpretationsweisen der Kritik der politischen Ökonomie. Denn was Kittler als blinde Flecken von Geisteswissenschaft und (marxistischer) Soziologie markiert, die Fokussierung einerseits auf ‚Sinn‘, andererseits auf „Arbeit“ – wodurch die (medialen) Bedingungen der Möglichkeit von Sinn und Arbeit systematisch nicht ins Blickfeld geraten –, besitzt eine deutliche Nähe zur Marx’schen Kritik an der (gesamten) politischen Ökonomie (bzw. heute: der Mainstream-Volkswirtschaftslehre): Marx’ Vorwurf an die Adresse von Smith und Ricardo, sie würden „ganz unter dem Einfluss stofflicher Interessen“ den „Formgehalt“ ökonomischer Kategorien in einer analogen Weise übersehen, wie „vor Hegel die Logiker von Profession […] den Forminhalt der Urteils- und Schlussparadigmen übersahen“ (Marx 1983 [1867], S. 32), ist zumindest ganz analog gebaut. Ein weiteres Beispiel wäre die Theorie sozialer Evolution bei Luhmann (1981), wo ein Zusammenhang zwischen den dominanten Kommunikationsmedien und den primären Differenzierungsformen jeweiliger Gesellschaftsformationen behauptet wird.13 Sprache (Oralität) korreliert mit dem segmentären Differenzie13 Die These, dass sich die Geschichte in eine Abfolge kultureller Epochen einteilen lässt, die wiederum von den jeweils dominanten Kommunikationsmedien geprägt sind, findet sich bereits bei dem kanadischen Medientheoretiker Harold Innis (1894 – 1952), einem wichtigen Einfluss von McLuhan (vgl. Kloock & Spahr 2007, S. 47).
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rungsregime archaischer Gesellschaften, die Verbreitung von Schriftkultur mit der stratifikatorischen Differenzierung früherer Hochkulturen bis hin zum Feudalismus, und der Buchdruck schließlich führt in the long run zur modernen – nach Luhmann funktional differenzierten – Gesellschaft. Das mag zu holzschnittartig gebaut sein und erweist sich natürlich als komplexer, wenn man konkrete historische Untersuchungen dazuschaltet. Aber es lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass die Entwicklung der kapitalistischen Ökonomie nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern umgeben ist von anderen Prozessen, die in Wechselwirkung mit der Genese und Fortentwicklung des Kapitalismus stehen, ohne dass sich alles, was relevant ist, auf Ökonomie reduzieren ließe.
Ernst Lohoff In meinem Eingangsbeitrag hatte ich vor dem Hintergrund einer fetischismuskritischen Lesart der Kritik der politischen Ökonomie das Marx’sche Konzept des Geldes als ausgesonderter allgemeiner Ware skizziert und in diesem Zusammenhang die Frage aufgeworfen, in welchem Verhältnis dieses Konzept zu dem Versuch steht, zur Lösung des Geldrätsels medientheoretische Ansätze heranzuziehen. Jens scheint meine Überlegungen so gedeutet zu haben, als liefen sie darauf hinaus, beide Zugänge für unvereinbar zu erklären. Ich fühle mich ein wenig missverstanden. Für mich lautet die Frage weniger, „ob Geld als ‚ausgesonderte Ware‘ oder als ‚Medium‘ zu verstehen sei“ (Jens), vielmehr geht es mir darum, wie sich diese beiden Bestimmungen konkret zusammendenken lassen. Insofern unterscheidet sich meine Intention gar nicht so sehr von der von Jens. Mich treibt nur die Befürchtung um, dass bei einer Verbindung der spezifische Gehalt des Marx’schen Geldkonzepts untergepflügt werden könnte. Dass ich dabei eine in der Diskussion über die Marx’sche Theorie minoritäre Position vertrete, ist mir durchaus klar. Genau das ist auch der Hintergrund meiner Befürchtungen. Heute dominieren Lesarten der Marx’schen Theorie die Debatte, die es von vornherein verunmöglichen, was ich für dringend geboten halte: die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie für die Analyse des heutigen aberwitzigen Geldsystems und seiner eklatanten Widersprüche nutzbar zu machen. Die ablehnenden Äußerungen zu zeichentheoretischen Vorstellungen im Marx’schen Kapital waren jedenfalls nicht als Beleg für die Unmöglichkeit eines Brückenschlags zwischen Medientheorie und Kritik der politischen Ökonomie gedacht. Sie sollten lediglich die Notwendigkeit verdeutlichen, sich Rechenschaft über dessen Voraussetzungen abzulegen. Auf den ersten Blick erscheint Marx’ Position zur Zeichentheorie des Geldes vielleicht in sich widersprüchlich. Wie schon Roman Rosdolsky (1968) in seinem
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Buch Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen ‚Kapital‘ geschildert hat, benutzt Marx den Zeichenbegriff in den Grundrissen selbst wiederholt. In den späteren Schriften wird er verworfen und seine Verwendung vehement attackiert. Hat sich also Marxens geldtheoretische Position nach der Abfassung der Grundrisse grundlegend geändert ? Eigentlich nicht. Die Akzeptanz und die Ablehnung des Zeichenbegriffs betreffen vielmehr unterschiedliche Theorieebenen. Wenn in den Grundrissen Geld als gesellschaftliches Zeichen firmiert, dann weil für den Fetischismuskritiker Marx unterschiedslos alle Waren gesellschaftliche Zeichen, gesellschaftliche Chiffren darstellen – und damit natürlich auch die allgemeine Ware. Gesellschaftliches Zeichen zu sein und Wertgegenständlichkeit zu haben, ist auf dem Boden der Marx’schen Fetischkritik kein Widerspruch, sondern ein und dasselbe. Damit stand Marx aber allein auf weiter Flur. In allen anderen theoretischen Zusammenhängen bedeutete schon damals dem Geld Zeichencharakter zuzusprechen, es seinem Wesen nach zur Nichtware zu erklären und ihm seine Wertgegenständlichkeit abzusprechen. Gegen diese Sichtweise grenzte sich Marx ab, wenn er die Vorstellung vom Geld als bloßem Zeichen verwarf. In unseren Tagen ist die von Marx bekämpfte Position indes mehr denn je Konsens. Vor diesem Hintergrund ist es erst recht unabdingbar, die Frontstellung gegen die Vorstellung, Geld habe im Gegensatz zu den besonderen Waren Zeichencharakter, konsequent durchzuhalten. Ein ganz ähnliches Problem stellt sich beim Medienbegriff. Dass Geld ein gesellschaftlicher Mittler ist, liegt auf der Hand. Ihm den Medienstatus abzusprechen wäre absurd. Das Problem ist vielmehr, dass der Medienbegriff, wenn es um die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise geht, fast automatisch für das Geld reserviert wird. Wenn man die Marx’sche Fetischanalyse ernst nimmt, handelt es sich beim Geld aber um einen abgeleiteten Vermittler, um die ins Auge springende, erscheinende Oberfläche eines tiefer reichenden kapitalistischen Vermittlungs- und Formzusammenhangs. Es ist „der externalisierte Ausdruck jener die kapitalistische Gesellschaft konstituierenden Form gesellschaftlicher Vermittlung“ (Postone 2003, S. 399). Die gesellschaftliche Vermittlung findet logisch nicht erst in der Zirkulation statt. Die Existenz des Geldes „drückt“ vielmehr „den Umstand aus, daß Arbeit als gesellschaftlich vermittelnde Tätigkeit fungiert“ (ebd.). Indem das herrschende Denken sich auf das Geld als gesellschaftlichen Mittler fixiert, setzt es das diesem zugrunde liegende Vermittlungsverhältnis, die Auflösung der Gesellschaft in getrennte PrivatproduzentInnen, schon immer als selbstverständlich voraus. Marx’ größte analytische Leistung war es, mit seiner Kritik der politischen Ökonomie diesen im herrschenden Bewusstsein ausgelöschten basalen Vermittlungszusammenhang ans Licht zu zerren und als spezifisch kapitalistische gesellschaftliche Vermittlungsform kenntlich zu machen. Gerade die – auch für das Problem der Geldtheorie – entscheidende Einsicht, dass mit der Verwandlung der Reichtumsproduktion in Privatarbeit diese zum
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basalen gesellschaftlichen Vermittlungsmedium aufsteigt, wird in der Marx-Rezeption fast vollständig ausgeblendet. Zumindest in der deutschen akademischen Diskussion geben derzeit Positionen den Ton an, die den inneren Zusammenhang von Wertkonstitution und Privatarbeit nicht nur im Dunkeln lassen, sondern regelrecht eskamotieren. Im 19. Jahrhundert war ein naturalistisches Verständnis der Wertsubstanz weit verbreitet, und Elemente einer solchen Sicht haben auch Eingang in die Darstellung im Kapital gefunden. Insbesondere die VertreterInnen der Neuen Marx-Lektüre nehmen das zum Anlass, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Statt diese Schlacken zu beseitigen und den inneren Zusammenhang zwischen Privatarbeit und Wertsubstanz konsequent am Problem des Fetischismus orientiert zu rekonstruieren, wird die Wertkonstitution de facto in die Zirkulation verlegt. Die Brücke, die Jens zwischen der Medientheorie und der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie schlagen will, hat insofern einen Baufehler, als er zumindest in etlichen Passagen die hegemoniale Interpretation und ihre zirkulative Verkürzung übernimmt. Dazu gehört vor allem folgende: „Die Sachen sind keine ‚Hüllen‘ für Arbeit und daher Wert, sie enthalten keinen Wert. Der Wert ist also strikt äußerlich: Es ist der Akt des Tauschens, d. h. das Vergleichen von Zeichen auf Preisschildern und Geldscheinen, der ‚Vergleichung mit dem Geld‘ (Marx 1983 [1857 – 1858], S. 121), der nach strengen und polizeilich geschützten Regeln abläuft und so den Wert als das Äquivalent aktualisiert.“ Bei der Gleichsetzung der Wertkonstitution mit dem Tauschakt verschwimmen notwendigerweise Wert und Preis ineinander. Ihre Unterscheidung wird künstlich. Schon das verweist darauf, dass sich die Tiefendimension der Marx’schen Analyse bei einer solchen tauschaktzentrierten Argumentation verflüchtigt. Für unser Thema ist aber ein anderer Aspekt wichtiger. Wie ich schon in meinem ersten Statement betont habe, begreift Marx das Geld als Veräußerlichung des inneren Widerspruchs der Ware, einerseits abstrakten Tauschwert zu repräsentieren und andererseits einen besonderen Gebrauchswert zu haben. Der logische Ausgangspunkt der Geldkonstitution ist „[d]iese Spaltung des Arbeitsprodukts in nützliches Ding und Werthding“ (Marx 1987 [1872], S. 104). Ob man will oder nicht, die Wertkonstitution erst mit dem Tausch beginnen zu lassen heißt, diese Dimension des Marx’schen Geldkonzepts abzuschneiden. Erklärt man den Tauschakt zum Konstitutionsakt von Ware und Wert, kehrt sich gleichzeitig der Zusammenhang zwischen Ware und Wert einerseits und Geld andererseits gegenüber der Marx’schen Sicht um. Geld entspringt nicht mehr dem Doppelcharakter der Ware wie bei Marx, vielmehr verwandelt erst die Begegnung mit dem Geld im Tauschakt simple Dinge in Waren. Michael Heinrich, der derzeit populärste Vertreter der Neuen Marx-Lektüre, vertritt explizit die Vorstellung, die Produkte der Privatarbeit würden erst im Tausch Warencharakter annehmen. Damit ist das, was für
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Marx das Grundmerkmal der kapitalistischen Gesellschaft ausmacht und was den eigentlichen Ausgangspunkt seiner Analyse bildet, nämlich die Verwandlung der Reichtumsproduktion in Privatarbeit, ausgelöscht. Und Jens’ Text muss man schon recht freundlich lesen, um in seiner Warendefinition noch den Bezug auf die Privatarbeit als gesellschaftliche Vermittlungsinstanz zu erahnen: „Ware sein heißt, mit Zeichen für einen bestimmten Tauschwert verbunden zu sein. Eine Ware ist ein Gegenstand mit Gebrauchswert, der zum Medium des Tauschwerts gemacht worden ist (bzw. bereits als solches produziert wurde).“ Auf alle Fälle ist der Zusammenhang gemessen an Marx ausgesprochen locker geworden. Der formulierte nämlich noch apodiktisch: „Nur Produkte selbständiger und von einander unabhängiger Privatarbeiten treten einander als Waaren gegenüber“ (Marx 1983 [1867], S. 22), leitete also den Warencharakter des Produkts direkt aus der Verwandlung der Reichtumsproduktion in Privatarbeit ab. Dieser logische Status des Geldes als der notwendigen versachlichten Erscheinungsform der basalen gesellschaftlichen Vermittlung über die Privatarbeit und ihre Produkte hebt zwar seinen medialen Charakter nicht auf, macht es aber zu einem Medium sui generis. Es weist vor allem eine Eigentümlichkeit auf, zu der es bei anderen Medien meines Wissens keine Parallele gibt. Damit die Geldware als abgeleitetes Medium dem Kosmos der vielen besonderen Waren als „die absolute Existenz des Tauschwerts“ (Marx 1953 [1857 – 1858], S. 919) und allgemeine Ware gegenübertreten kann, muss sie selbst kapitalistischen Reichtum darstellen. Sie muss entweder wie das Gold für vergangene tote Arbeit stehen oder wie die heutige synthetische Geldware, die Eigentumstitel der Zentralbanken, künftige Wertproduktion repräsentieren. Die allgemeine Ware hat also den gleichen Inhalt wie das, was sie vermittelt. Auf diese Inhaltsgleichheit hebt Marx wesentlich ab, wenn er Geld als Realabstraktion fasst und zur Erläuterung den von mir zitierten Tierreichvergleich macht: „Es ist als ob neben und außer Löwen, Tigern, Hasen und noch allen anderen wirklichen Thieren […] auch noch das Thier existirte, die individuelle Incarnation des ganzen Thierreichs. Ein solches Einzelne, das in sich selbst alle wirklich vorhandenen Arten derselben Sache einbegreift, ist ein Allgemeines, wie Thier, Gott u. s. w.“ (Marx 1983 [1867], S. 37) Jens nimmt den inneren Zusammenhang von Privatarbeit und dem Warencharakter der menschlichen Produkte nicht in den Blick. Damit erscheint die Gleichsetzung von Ware und Geld als ein Abstraktionsprozess, der im Tausch den Arbeitsprodukten quasi von außen oktroyiert wird. Damit wird die Inhaltsgleichheit zwischen der Geldware als allgemeinem Repräsentanten des Systems der Privatarbeit und den besonderen Waren, die jeweils eine besondere Form der Privatarbeit repräsentieren, unsichtbar. Das erklärt, warum Jens der Ansicht widerspricht, es gäbe einen fundamentalen Unterschied zwischen dem Geldmedium und anderen Medien wie etwa der Sprache. Jens resümiert zunächst das Marx’sche
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Argument: „Während ein abstrakter Begriff wie ‚das Tier‘ eben nur im Denken und Sprechen existierte – und nicht real neben den besonderen Tieren –, wäre ebendies bei der ‚Realabstraktion‘ Geld der Fall, ‚das Tier‘ würde sozusagen real neben den konkreten Tieren existieren. Und das wäre ein grundsätzlicher Unterschied. Ist es aber nicht. Es ein ganz alltäglicher Befund, dass Zeichenordnungen parallel zu Dingordnungen bestehen und sich wechselseitig aufeinander beziehen. Ich kann sagen: ‚Bitte bringe mir diesen Apfel !‘ – und dann wird mir (im Idealfall) der Apfel gebracht. Obwohl ich also nur ein arbiträres Zeichen für den Apfel verwendet habe, wird der reale Apfel verändert […].“ Wenige Zeilen später zieht Jens seine Schlussfolgerung: „Sprache ist nicht nur beschreibend und/oder abstrahierend, sondern auch performativ. Sie ist eben nicht immer nur ‚bloßes Zeichen‘, das etwas Reales passiv repräsentiert – sondern kann als Zeichen eingreifen und Reales verändern.“ Keine Frage: Jens hat mit seiner Einschätzung der Sprache vollkommen Recht. Diese hat zweifellos auch einen performativen Charakter und wirkt wie alle Medien auf das Vermittelte zurück. Dass die Sprache immer nur passiv die Wirklichkeit widerspiegeln würde, ist aber gar nicht das zentrale Argument bei Marx. Ihm geht es bei der Unterscheidung von Denk- und Realabstraktion vielmehr um den spezifischen Charakter des Abstraktionsprozesses, für den das Geld steht. Sprache mag die außersprachliche Wirklichkeit noch so sehr verändern, sie bleibt stets ein Zeichensystem in einer nicht allein sprachlichen Wirklichkeit. Auch wenn mich die Verwendung des Wortes ,Apfel‘ in den Besitz eines richtigen Apfels bringen kann, das Wort als solches wird nie zum richtigen Apfel. Anders beim Geld. In der allgemeinen Ware nimmt der Tauschwert der besonderen Waren eine eigenständige absolute Existenzform an. Im Prinzip haben Jens und ich die gleiche Intention. Es geht uns beiden darum, das Marx’sche Konzept des Geldes als ausgesonderte allgemeine Ware mit der Vorstellung vom Geld als Medium zusammenzubringen. Trotz dieses gemeinsamen Ziels finden wir erst einmal nicht zusammen. Das liegt daran, dass wir jeweils mit unterschiedlichen Konzepten der Kategorien Ware und Wert operieren. Das macht sich nicht nur bei den besonderen Waren bemerkbar. Was das Geld angeht, sticht am meisten ins Auge, dass wir auch empirisch nicht das Gleiche vor Augen haben, wenn wir von der allgemeinen Ware sprechen. Wenn ich Geld als die ausgesonderte allgemeine Ware fasse, dann ist damit weder das Bargeld noch das private Kreditgeld gemeint, das im alltäglichen Geschäftsverkehr als Zahlungs- und Zirkulationsmittel dient. Ich insistiere darauf, dass jedes Geldsystem eine Geldware zur Grundlage hat, die das gesetzliche Zahlungsmittel deckt. Die eigentliche ausgesonderte allgemeine Ware ist nicht in den Portemonnaies der privaten Geldsubjekte zu suchen, sondern in den Tresoren und den Bilanzen der Zentralbanken. Die Besitztümer der Notenbanken liegen dem Geldsystem zu-
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grunde. Diese Schlüsselposition hatte in der Zeit der Golddeckung das in den Tresoren der Notenbanken aufgeschatzte Edelmetall inne. Heute haben Waren ganz anderen Typs das Währungsgold als allgemeine Ware abgelöst, nämlich die handelbaren monetären Ansprüche, die sich bei der Ausgabe von Krediten an die Geschäftsbanken bei den Zentralbanken ansammeln. Das Gold als allgemeine Ware repräsentierte vorgängige Wertproduktion, vergangene allgemeine Privatarbeit, die Ansprüche der Zentralbanken gegenüber den Geschäftsbanken repräsentieren noch zu verrichtende Privatarbeit, antizipierten Wert. Angesichts dieser Beschränkung des Begriffs der allgemeinen Ware auf die Grundlage des Geldsystems kontert Jens mit dem Verdikt: „Kein Geld ist eigentlicher als das andere.“ Ob Bitcoin, 100-Euro-Schein oder EC-Karte – alles, was Menschen als Tausch- und Zahlungsmittel nutzen, ist allgemeine Ware und Zeichen. Diese Sicht mag ihre Logik haben, wenn man die Konstitution von Ware und Wert im Tauschakt ansiedelt. Sie passt auch zum VWL-Usus, Geld über seine Funktionen zu definieren. Wer mit Marx die allgemeine Ware als einen ausgesonderten Teil des kapitalistischen Reichtums begreift, als ausgesonderten Teil der gesamtgesellschaftlichen Wertproduktion bzw. Wertantizipation, für den sind aber gerade nicht alle Katzen grau. Das Geldwesen differenziert sich aus. Der 100-Euro-Schein stellt von diesem Standpunkt aus überhaupt keine Ware dar, sondern verweist als eigentlich wertloses Stück Papier nur auf die allgemeine Ware. Als symbolische Vertretung des durch die allgemeine Ware repräsentierten kapitalistischen Reichtums ist seine eigene gesellschaftliche Gültigkeit von dieser abgeleitet. Die Banknoten einer Zentralbank, die als ‚Gegenwert‘ nur abschreibungsbedürftige Forderungen in den Bilanzen stehen hätten, wären das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind. Das private Kreditgeld wiederum, etwa in der Gestalt der EC-Karte, hat zwar Warencharakter. Es handelt sich um einen monetären Anspruch des Kontoinhabers gegenüber seiner Geschäftsbank, den er an andere weitergeben kann. Als ein Anspruch in gesetzlichen Zahlungsmitteln gegenüber einer privaten AkteurIn ist es aber selbst eine besondere Ware, keineswegs die allgemeine Ware selbst. Dass Geld ein Zeichen sein soll – Zeichen im Gegensatz zum vermeintlich echten kapitalistischen Reichtum, den Waren –, wird häufig mit dem Argument begründet, Geld sei das Resultat einer staatlichen Setzung. Auch Jens kommt auf das Verhältnis Staat und Geld zu sprechen. Trotz seiner Intention, den Charakter des Geldes als allgemeine Ware mit einem Zeichencharakter zusammenzudenken, fällt es schwer, seinen Gedankengang von diesem gängigen Deutungsmuster abzugrenzen. Jens schreibt: „[D]ie je gültige Erscheinungsweise des Geldes als Währung“ werde „vom Staat stabilisiert und ggf. widerrufen.“ Zur Erläuterung heißt es: „Wenn staatliche Macht zusammenbricht […], kommt es zu Plünderungen, da keine Preisschilder, Kassen und Kameras mehr verhindern können, dass
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die Waren – die dann keine mehr sind – ohne Tausch gegen Geld mitgenommen werden. Deswegen heißt Zeichenträger sein nicht ‚bloß Zeichen‘ sein, denn der Preis ist ein mit äußerster Gewalt stabilisiertes Zeichen.“ Dass der Staat die bürgerliche Eigentumsordnung mit seinem Gesetzbuch und seinem Gewaltmonopol durchsetzt, ist fraglos richtig, ist aber etwas anderes als die Sicherstellung der gesellschaftlichen Gültigkeit des Geldes und der ‚Geldwertstabilität‘. Was Ersteres angeht, sind Gesetze und Polizeiknüppel sicherlich ein probates Durchsetzungsmittel, bei Letzterem stoßen beide schnell an Grenzen. In der Frühmoderne, als noch Gold- und Silbermünzen als Zirkulationsmittel umliefen, nutzten die stets klammen Staaten zwar gern ihr Münzregal dazu, durch die Absenkung des realen unter den nominellen Edelmetallgehalt sich Einnahmen zu verschaffen. Das Ergebnis dieser Münzverschlechterung war aber stets der Fall des Tauschwerts der Münzen auf den realen Edelmetallgehalt. Als im Ersten Weltkrieg die Krieg führenden Staaten ihre Militärausgaben mit der Druckerpresse finanzierten, ergab sich ein ganz ähnliches Phänomen – man denke nur an die 1923 ihren Höhepunkt und Abschluss erreichende Hyperinflation im besiegten Deutschland. Inzwischen hat der moderne Staat ein weit ausgefeilteres Instrumentarium entwickelt, um auf das Geldsystem einzuwirken. In Gestalt der Zentralbanken hat sich eine eigene abstrakte Allgemeinheit des Monetären herausgebildet, die aber keineswegs das Geld und seine Gültigkeit als Deus ex Machina setzt. Ihr Steuerungspotenzial besteht vielmehr darin, dass sie den Umfang der Bildung „fiktiven Kapitals“ (Marx 1976 [1894], S. 413 ff.) auf den Geld- und Kapitalmärkten entscheidend beeinflussen kann. Das geschieht zum einen ganz direkt durch ihre Kreditvergabe an die Geschäftsbanken und zum anderen indirekt, indem sie durch die Festsetzung der Leitzinsen und der Mindestreserven das innerprivatwirtschaftliche Kreditgeschäft entweder bremst oder fördert. Das hat aber alles mit Zeichensetzung nichts zu tun, sondern mit Kapitalmarktwaren und ihren spezifischen Bewegungsgesetzen.
Jens Schröter Ich möchte Ernst für seine hilfreiche Klarstellung danken – und denke auch, dass wir nicht so weit auseinander sind. Allerdings sehe ich das Missverständnis woanders. Sein Kommentar würde einen ausführlicheren Kommentar verdienen, als ich hier leisten kann, ich kann nur exemplarisch auf einige Punkte eingehen: Zirkulative Verkürzung: Für Außenstehende ist dieser wiederholte Vorwurf, den verschiedene Fraktionen (z. B. die Wertkritik und die Neue Marx-Lektüre) gegeneinander erheben, nicht immer nachvollziehbar. Ernst schreibt: „Jens nimmt den inneren Zusammenhang von Privatarbeit und dem Warencharakter der mensch-
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lichen Produkte nicht in den Blick und deutet die Ware als Kind der Zirkulation. Damit erscheint die Gleichsetzung von Ware und Geld als ein Abstraktionsprozess, der im Tausch den Produkten quasi von außen oktroyiert wird.“ Dagegen schrieb ich explizit: „Hier können jetzt zweifelsohne die Kritiken einer ‚zirkula tionsideologischen‘ Verkürzung des Werts angebracht werden – doch sagt ja keiner, dass solche Prozesse nur im Tausch auf Märkten stattfinden. Eine Firma, die Waren herstellt, muss ebenfalls den Preis, zu dem sie jene z. B. Zwischenhändler weitergeben, irgendwie an die Gegenstände ‚heften‘ und diejenigen, die die Waren abnehmen, geben Geldzeichen etc. Ich sehe keinen anderen Weg, das zu beschreiben, ohne den Wert substanzmetaphysisch zu essentialisieren, also doch zum ‚Atom‘ zu machen.“14 Selbstredend werden (im Kapitalismus) Güter als Waren für die Zirkulation produziert, können aber als Waren auch nur in der Zirkulation realisiert werden. Die Frage war in keiner Weise, wo der Warencharakter entsteht (der Zusammenhang von Produktion und Zirkulation wurde vielmehr vorausgesetzt), sondern wie der Warencharakter den Objekten eingeschrieben, wie er medial operativ ist und wie er folglich mit dem Medium Geld zusammenhängt. Marx sagt einerseits, was Ernst leider nicht thematisiert, dass kein „Atom Naturstoff in ihre [der Waren; J. S.] Werthgegenständlichkeit“ (Marx 1987 [1872], S. 80) eingeht, andererseits (wenn auch teilweise kritisch), dass Waren selbst als Zeichen verstanden werden können – was Ernst ja auch bekräftigt: „Gesellschaftliches Zeichen zu sein und Wertgegenständlichkeit zu haben, ist auf dem Boden der Marx’schen Fetischkritik kein Widerspruch, sondern ein und dasselbe.“ Genau – und daher interessiert mich der Zusammenhang der Zeichen ‚Ware‘ und der ‚Zeichen‘ Geld. Es ist nicht so, dass ich das Geld als, wie Ernst meint, „Zeichen im Gegensatz zum vermeintlich echten kapitalistischen Reichtum, den Waren“, verstehe. Geld wie Waren sind zeichenhaft und die Frage, was ‚echter‘ ist, ergibt einfach keinen Sinn. Mein eigentliches Erkenntnisinteresse ist sozusagen materialistisch: Es reicht mir nicht, zu sagen, dass es ein ‚soziales Verhältnis‘ ist, das Waren mit Tauschwert und Geld als dessen selbstständigen Ausdruck hervorbringt. Wo und wie ist der Wert ? Wie wird er operativ gemacht und performativ stabilisiert ? Immer zu sagen, Kapitalismus sei ‚Realmetaphysik‘ und der Wert sei nicht empirisch, klingt nach einer idealistischen Metaphysik – einer der Hauptgründe für die mangelnde Anschlussfähigkeit der Wertkritik etwa in der Medientheorie. Ernst bemerkt weiterhin: Dem Geld „den Medienstatus abzusprechen wäre absurd. Das Problem ist vielmehr, dass der Medienbegriff, wenn es um die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise geht, fast automatisch für das Geld reserviert wird. Wenn man die Marx’sche Fetischanalyse ernst nimmt, handelt es 14 Ich räume ein, dass ich hier besser von ‚Wert‘ als von Preis hätte sprechen müssen.
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sich beim Geld aber um einen abgeleiteten Vermittler, um die ins Auge springende, erscheinende Oberfläche eines tiefer reichenden kapitalistischen Vermittlungsund Formzusammenhangs.“ Meine Kritik, dass sich die Wertkritik bislang nicht um eine materialistische Analyse der Vermittlung gekümmert hat, zeigt sich hier symptomatisch in terminologischer Unklarheit: Es gibt ein ‚Medium‘, das ein ‚abgeleiteter Vermittler‘ eines ‚tiefer reichenden kapitalistischen Vermittlungs- und Formzusammenhangs‘ ist (nur das ‚bloße Zeichen‘ fehlt noch). Wie verhält sich ein Medium zu Vermittlung ? Wie ‚abgeleitete‘ zu (offenbar) eigentlicher Vermittlung ? Wie Vermittlung zu Form ? Und folglich: wie Medium zu Form (eine Nähe zu Luhmanns [1994 (1980), S. 303] Verwendung der Unterscheidung von Medium und Form drängt sich hier auf) ? Wenn man, wie ich vorschlage, sowohl das Geld als auch die Waren als mediale Träger von Zeichen begreift – dann stellt sich automatisch die Frage, was diese Zeichen als ihre Referenz bezeichnen: Und das ist der Wert, der wiederum auf die Arbeit zurückführt. So kann man beginnen, den Zusammenhang zwischen Ware, Geld, Wert, Arbeit als einen Zeichenprozess zu verstehen, und sich von idealistischen Metaphysiken lösen, die einen unverortbaren (denn ‚in‘ Ware und Geld ist er nicht), gleichsam platonischen Wert postulieren. Dann kann man sogar fragen, wie Wert und die mit ihm verbundenen ‚zugrunde liegenden Vermittlungsverhältnisse‘ durch welche Formen medialer Technologien stabilisiert und reproduziert werden – und wie man dies ändern könnte, denn gesellschaftliche ‚Verhältnisse‘ sind immer soziotechnisch, was Marx ganz genau wusste. Aus dieser grundlegenden Perspektive folgen zwei Aspekte, die ich nur ganz kurz andeuten kann. Medium sui generis: Offenkundig drängt sich als nächstliegende Frage auf, ob sich das Medium Geld von anderen Medien unterscheidet. Vorweg: Ich stimme Ernsts Idee zu, Geld als ‚Medium sui generis‘, als eine Art besonderes und hervorgehobenes Medium auszuflaggen. Aber auch hier müsste materialistisch genau untersucht werden, wie diese Zentralität historisch hergestellt, medial stabilisiert und ausgeweitet wird (z. B. dadurch, dass immer mehr Objekte und Prozesse so verwandelt werden, dass sie in Geld tauschbar, also zu Waren werden, etwa heute in ‚Social Media‘ die Kommunikation). Ernst argumentiert aber, der besondere Charakter des Geldes als Medium liege darin, dass Geld eine andere Art von Me dium sei, eine andere Art von Ontologie habe (was die Frage aufwirft, ob es dann überhaupt Medium ist): „Auch wenn mich die Verwendung des Wortes ‚Apfel‘ in den Besitz eines richtigen Apfels bringen kann, das Wort als solches wird nie zum richtigen Apfel. Anders beim Geld. In der allgemeinen Ware nimmt der Tauschwert der besonderen Waren eine eigenständige absolute Existenzform an.“ Dieses Argument verstehe ich nicht: Auch ein vor mir liegender Geldschein ‚wird‘ nie zum Apfel – er kann mich vielmehr ‚in den Besitz [!] eines richtigen Apfels‘ brin-
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gen, ebenso wie das, Ernst räumt es selbst ein, auch ein Wort, z. B. eine Bitte oder ein Befehl, tun kann (und beides gilt nur, wenn überhaupt Äpfel verfügbar sind). Verschiedene Geldformen: Meine These, dass es kein ‚eigentlicheres Geld‘ gäbe, bezieht sich zunächst darauf, dass alles Geld Medium ist, welches Zeichen trägt, die auf den ‚Wert‘ verweisen. Das gilt auch für das von Ernst herausgestellte ‚eigentliche Geld‘ oder die ‚eigentliche Geldware‘. Er schreibt: „Sie muss entweder wie das Gold für vergangene tote Arbeit stehen oder wie die heutige synthetische Geldware, die Eigentumstitel der Zentralbanken, künftige Wertproduktion repräsentieren.“ Und: „Die eigentliche ausgesonderte allgemeine Ware ist nicht in den Portemonnaies der privaten Geldsubjekte zu suchen, sondern vielmehr in den Tresoren und den Bilanzen der Zentralbanken. Die Besitztümer der Notenbanken liegen dem Geldsystem zugrunde. Diese Schlüsselposition hatte in der Zeit der Golddeckung das in den Tresoren der Notenbanken aufgeschatzte Edelmetall inne.“ Deutlicher könnte gar nicht gesagt werden, dass auch die ‚eigentliche Geldware‘ medial ist. Sie ‚steht für etwas‘ oder ‚repräsentiert etwas‘, zumal u. U. etwas, wie Ernst richtig unterstreicht, das vollkommen fiktiv ist: Die ‚künftige Wertproduktion‘ und Fiktionalität ist etwas genuin mediales, fiktive Entitäten wie die ‚künftige Wertproduktion‘ gibt es nicht außerhalb von Zeichenprozessen. Auch ist die ‚eigentliche Geldware‘ in ‚Bilanzen‘ zu finden – muss also irgendwie aufgeschrieben sein. Insofern gibt es keinen Unterschied zwischen dem ‚eigentlichen‘ Geld und seinen ‚bloßen Zeichen‘ – da beides Zeichen sind. Das hat m. E. überhaupt nichts mit der schon oben zurückgewiesenen Kritik zu tun, ob man die „Konstitution von Ware und Wert im Tauschakt ansiedelt“. In einem anderen Text diskutiert Ernst (Lohoff 2013, S. 49) „die allgemeine Ware, der das ausgegebene Papiergeld seine Deckung verdankt und von der dessen Rolle als Geld(-repräsentant) abgeleitet ist“. Die allgemeine Ware „deck[t] das von der Notenbank ausgegebene Zeichengeld“ (ebd., S. 50). Die wichtigste Funktion der Geldware scheint also in der Deckung zu bestehen. Ehemals das Gold oder nun die Zukunft bilden die letzte Referenz des Geldsystems. Und welche Referenz Zeichen haben, wie ihre Bedeutung stabilisiert wird, ist eine genuin zeichen- und medientheoretische Frage. Und so formuliert, kann man wieder fragen: Wie wird die Referenz des ‚Werts‘ stabilisiert oder destabilisiert ? Welche Rolle spielen dabei der Staat etc. ? Wie gerät diese Referenz in die Krise ? Wenn man Ware, Wert und seinen selbstständigen Ausdruck Geld als Zeichenprozesse versteht, kann man auch nach alternativen Zeichensystemen fragen.
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Ernst Lohoff Hanno zitiert in seinem Beitrag Philip Mirowski (1999, S. 177) und dessen Überlegung, es gäbe „not one but two Marxian labor theories of value“, und schließt daran die Forderung an: „Man müsste von hieraus noch einmal die Frage der Kohärenz der Marx’schen Position diskutieren.“ Dem kann ich mich nur anschließen. Gerade was das Fundament seiner Kritik der politischen Ökonomie angeht, hat Marx alles andere als eine in sich geschlossene, widerspruchsfreie Theorie hinterlassen. Das gilt umso mehr, als ein wesentlich tieferer Riss das Marx’sche Wertkonzept durchzieht als der, den Mirowski bereits zum Anlass nahm, von „zwei Marx’schen Werttheorien“ zu sprechen. Auch wenn der Wertbegriff der klassischen Nationalökonomie und der Jahrzehnte später aufkommende, an die physikalische Vorstellung von ‚Energieverausgabung‘ angelehnte, physiologische Arbeitsbegriff nicht deckungsgleich sind, so sind sie doch als Spielarten eines überhistorisch-positiven Arbeitswertkonzepts artverwandt. Dagegen gehört zur Marx’schen Fetischkritik ein der positiven Arbeitswerttheorie diametral entgegengesetzter Wertbegriff. Hier ist die eigentliche Kluft im Marx’schen Verständnis der Wertkategorie zu suchen. Soweit Marx auf den Standpunkt einer positiven Arbeitswerttheorie zurückfällt, fügt sich seine Position in die theoretischen Debatten seiner Zeit ein; sein fetischanalytisches Wertkonzept, wie es vor allem der Darstellung im Kapital zugrunde liegt, stellt dagegen einen erratischen Block in der wissenschaftlichen Landschaft dar – und das bis heute. Für die Marx-Philologie wäre es sicher eine lohnende Aufgabe, im Einzelnen nachzuzeichnen, wie sich in den ökonomiekritischen Schriften positive Arbeitswerttheorie und die radikale Kritik der Wertform vermengen und durchkreuzen. So viel ist aber auch ohne detaillierte Untersuchung klar: Gerade was das für die Kritik der politischen Ökonomie grundlegende Verständnis der Wertkategorie angeht, existiert in der Tat so etwas wie ein ‚doppelter Marx‘. Der wertkritische Ansatz, wie ich ihn vertrete, versucht denn auch gar nicht erst, diesen Gegensatz zu überbrücken, um die Einheit der Marx’schen Theorie zu retten. Stattdessen hält er sich an folgendes Paradigma: Ein Marxismus, der an einer positiven, naturalisierenden Arbeitswerttheorie festhält, partizipiert an den Grundirrtümern der klassischen Nationalökonomie und ihrer Erbin, der Volkswirtschaftslehre, und ist letztlich dazu verurteilt, in die gleiche Sackgasse zu laufen wie diese. In der Marx’schen Fetischkritik liegt dagegen der Schlüssel zur Lösung der ökonomischen Rätsel, an denen die herrschende Ökonomie scheitert. Nur auf der Grundlage eines konsequent fetischismuskritisch ausgerichteten, von den Eierschalen einer positiven naturalisierenden Arbeitswertvorstellung befreiten Wertbegriffs ist es möglich, die Kritik der politischen Ökonomie fortzuentwickeln und für die Analyse des heutigen Kapitalismus fruchtbar zu machen.
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In dieser Weise gefasst, hat das Theorem vom ‚doppelten Marx‘ weitreichende Implikationen für die von Hanno aufgeworfene Frage nach dem theoretischen Status des Marx’schen Wertkonzepts. Hanno liebäugelt mit Frank Beckenbachs These, die „Arbeitswerttheorie bei Marx“ habe „theoriearchitektonisch einen ähnlichen Stellenwert […] wie das Auktionatorprinzip in der Allgemeinen Gleichgewichtstheorie“. Was jenen Marx angeht, der im Fahrwasser der positiven Arbeitswerttheorien seiner Zeit treibt, ist diese Einschätzung sicherlich berechtigt. Allerdings wird die These, die Marx’sche „Arbeitswerttheorie“ gehöre zu den „Synthesefiguren“, die „starke ordnungs- oder gleichgewichtstheoretische Komponenten aufweisen“, dem ‚anderen Marx‘ nicht gerecht. Fetischismuskritisch reformuliert stellt das Marx’sche Wertkonzept nicht nur inhaltlich einen erratischen Block in der Wissenschaftslandschaft dar, auch methodisch ist es in einer Weise angelegt, zu der sich im Kategorienverständnis im Wissenschaftsbetrieb schwerlich Parallelen finden lassen. Vor allem aus einer Besonderheit der Marx’schen Kategorienbildung entspringen massive Kompatibilitätsprobleme. Im herrschenden Wissenschaftsverständnis dienen abstrakte Begriffe immer nur als ein Mittel der gedanklichen Aneignung der Wirklichkeit. Der Theoretiker versucht, möglichst geeignete Denkabstraktionen an die komplexe Wirklichkeit heranzutragen, um diese damit im Kopf zu ordnen. Demgegenüber begreift die Marx’sche Fetischkritik den Wert vor allem anderen als einen Abstraktionsprozess innerhalb der gesellschaftlichen Wirklichkeit. – Im Kapitalismus unterwirft sich die Gesellschaft einer abstrakten sozialen Beziehungsform, und diese Unterwerfung lässt sich mit der Kategorie des Werts logisch fassen. Im gängigen Wissenschaftsverständnis vollziehen sich Abstrak tionsprozesse ausschließlich im menschlichen Hirn. Abstrakte Kategorien sind nur ein Instrument, mit dessen Hilfe der Theoretiker sich die Wirklichkeit erklärt. Die Fetischismuskritik sieht dagegen einen tatsächlichen Abstraktionsprozess am Werk, der die kapitalistische Wirklichkeit strukturiert, und deutet den Wert als Realabstraktion. Die Denkleistung des Theoretikers besteht in der Dechiffrierung dieses wirklichen Abstraktionsprozesses. Marx hat bekanntlich nicht den Anspruch erhoben, der klassischen politischen Ökonomie eine neue politische Ökonomie entgegenzusetzen, sondern eine Kritik der politischen Ökonomie zu formulieren. Dieses Selbstverständnis verweist direkt auf den eigentümlichen logischen Status, der Kategorien wie dem Wert im fetischismuskritischen Denken zukommt. Marx wirft keineswegs die überkommenen Werttheorien über den Haufen, um eine neue positive Werttheorie an ihre Stelle zu setzen, vielmehr ist der Erkenntnisgegenstand ,Wert‘ gleichzeitig selbst Gegenstand der Kritik. Der Wert ist für Marx kein neutral-analytischer Begriff, sondern als Realabstraktion selbst verrückte Wirklichkeit, die sich überhaupt nur von einem negatorischen Standpunkt aus theoretisch durchdrin-
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gen lässt. Das Wörtchen ,Kritik‘ meint hier mehr als eine ethisch motivierte Entscheidung gegen die herrschende Vergesellschaftungsform, es verweist auf die innere Widersprüchlichkeit und letztlich Unhaltbarkeit der Realkategorie Wert. Das führt aber zu einem zweiten fundamentalen Merkmal des fetischismuskritischen Wertkonzepts, das dieses aus der Schar der Werttheorien heraushebt: Der Wert ist auch aufgrund seines durch und durch geschichtlichen Charakters eine Kategorie sui generis. Die gängigen Werttheorien lassen den Wert in der Regel aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung schlechthin entspringen und behandeln ihn dementsprechend als eine für die Analyse jeder arbeitsteiligen Wirtschaftsweise geeignete Kategorie. Marx betonte demgegenüber, dass Waren nur als die Darstellungsform getrennter Privatarbeiten Wert repräsentieren. In seiner arbeitsapotheotischen Ausrichtung hat der traditionelle Marxismus diese Aussage in der Regel so gedeutet, als wäre es Marx darum gegangen, die Arbeit als die einzige Quelle des gesellschaftlichen Reichtums und damit auch des Werts abzufeiern. Damit hat der Marxismus die gängige Vorstellung vom Wert als einer überhistorischen Kategorie reproduziert. Der fetischismuskritische Marx ist damit aber ausgelöscht und der Clou seiner Argumentation auf den Kopf gestellt: Indem Marx die Wertkonstitution auf Privatarbeit zurückführte, verknüpfte er die Wertbildung mit einer spezifischen gesellschaftlichen Form produktiver Tätigkeit, die erst zusammen mit dem Kapitalismus entstanden ist. Wenn die Grundlage des Werts, die Auflösung der Gesellschaft in getrennte PrivatproduzentInnen, als ein historisch spezifisches Phänomen zu begreifen ist, dann gilt das logischerweise ebenso für die Kategorie des Werts selbst. Beim Wert handelt es sich zunächst einmal insofern um etwas zutiefst Geschichtliches, als diese Kategorie für die kapitalistische Produktionsweise zu reservieren ist. Seine Historizität hat aber noch eine zweite, für unsere Fragen mindestens genauso wichtige, wenn nicht wichtigere Dimension. Auch auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise hat der Wert so etwas wie eine Binnengeschichte. Während der Wertbegriff in den übrigen Werttheorien statischen Charakter hat, fasst die Kritik der politischen Ökonomie den Wert insofern als eine dynamische Kategorie, als sein Verhältnis zum Güterreichtum sich in einer ganz bestimmten Richtung verändert. Ob und in welchem Umfang sich die Güterproduktion als Wert darstellen kann, unterliegt auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise einem bestimmten historischen Entwicklungstrend. Das betrifft zunächst einmal die Ebene der Einzelware: Im Gefolge der Produktivitätsentwicklung sinkt in sämtlichen bestehenden Zweigen der gesellschaftlichen Produktion immer wieder die für die Erzeugung jeder Einzelware nötige Arbeitszeit. Damit repräsentieren eine Tonne Stahl oder ein Zentner Kartoffeln immer weniger Wertmasse. Oder andersherum betrachtet: Der gleiche Wert muss
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sich in immer höheren Gebrauchswertmengen darstellen. Aber auch auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene ist eine eindeutige Tendenz zu konstatieren. Die zunehmende Vergesellschaftung der stofflichen Produktion verändert die Zusammensetzung der gesellschaftlichen Gesamtarbeit zuungunsten der getrennten Privatarbeit und unterminiert damit letztlich die Verwandlung von Güterreichtum in Wertreichtum. Wie Marx im „Maschinenfragment“ in den Grundrissen skizziert, erreicht dieser Prozess seine kritische Schwelle dann, wenn die Anwendung der Wissenschaft die isolierten Einzelarbeiten als Hauptproduktivkraft ablöst. Gerade was die Historizität der Wertkategorie angeht, kann die Darstellung in den Grundrissen freilich auch als Beleg für den ‚doppelten Marx‘ dienen. Auf der einen Seite thematisiert der Urheber der Kritik der politischen Ökonomie dort besonders klar die Binnengeschichte des Werts und legt offen, dass die Verwissenschaftlichung der Produktion letztlich nur eine Konsequenz haben kann: „Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen.“ (Marx 1983 [1857 – 1858], S. 601) Auf der anderen Seite fällt Marx bei der Behandlung der Vorgeschichte des Kapitalismus auf den gängigen Standpunkt anderer Werttheorien zurück und schreibt dem Wert so etwas wie eine präkapitalistische Existenz zu. Vor diesem Hintergrund sind auch Hannos Überlegungen zu einer „‚übergeordnete[n]‘ oder allgemeine[n] Theorie soziokultureller Entwicklung“ zu sehen. Hanno weist auf die Änderungen in der Ausrichtung der Marx’schen ökonomiekritischen Schriften hin und schreibt: „Ursprünglich hat Marx im Sinn gehabt, eine allgemeine Theorie soziokultureller Entwicklung auszuarbeiten (‚materialistische Geschichtsauffassung‘), um dann auf dieser Grundlage eine spezifische Theorie der kapitalistischen Ökonomie als mutmaßlichem Zentrum der modernen Gesellschaft auszuarbeiten.“ Hanno bedauert, dass dieser erste Teil nicht weiterentwickelt wurde, sondern Plan blieb und Marx sich im Kapital darauf beschränkt hat, „eine spezifische Theorie der kapitalistischen Ökonomie […] auszuarbeiten“. Für das Abrücken von der ursprünglichen Absicht und die Engführung allein auf die kapitalistische Produktionsweise gab es indes einen guten Grund. Weil Marx bei der Arbeit am Kapital den Wert als eine allein der kapitalistischen Produk tionsweise eigene Kategorie erkannte, hätte er einen neuen Typus von allgemeiner Theorie soziokultureller Entwicklung aus der Taufe heben müssen, eine allgemeine Theorie, die nicht darauf fußt, den Wert zu einer überhistorischen Kategorie zu mystifizieren. Sowenig sich gegen den Wunsch nach einer übergeordneten Theorie soziokultureller Entwicklung prinzipiell sagen lässt, sie dürfte nicht auf eine Elimination der Marx’schen Fetischkritik hinauslaufen. Ansonsten gilt: Weniger ist mehr.
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Hanno Pahl Es fällt nicht ganz leicht, aus unserem Trialog ein bündiges Resümee zu ziehen. Was deutlich geworden sein sollte, ist, dass es grundsätzlich fruchtbar erscheint, die wert- oder formkritischen Lesarten der Marx’schen Theorie auf zeitgenössische medientheoretische Forschungsfragen zu beziehen und zu sehen, welche Perspektiven des Weiterdenkens sich hieraus ergeben. Die Schwierigkeiten, denen man sich dabei gegenübergestellt sehen kann, dürften aber auch plastisch geworden sein. Ernst spricht zu Recht davon, dass die Marx’sche Werttheorie einen „erratischen Block in der Wissenschaftslandschaft dar[stellt]“ und dass aus ihren methodischen Besonderheiten bei jedem Versuch einer Relationierung mit anderen, neueren Theorieformaten „massive Kompatibilitätsprobleme“ entspringen. Ich glaube, wir sind uns weitestgehend einig darin, dass hier eine Doppelstrategie erforderlich ist: Die genuinen Einsichten der Marx’schen Kritik, ihr spezifischer Problemhorizont, dürfen nicht unterlaufen werden, sonst erweist sich das ganze Prozedere als witzlos. Zugleich muss aber der oftmals hermetische Charakter der ‚marxologischen‘ Diskurse ein Stück weit aufgebrochen werden, weil dieser letztlich zu einer Selbstisolation führt und dazu, möglichen Erweiterungen und Aktualisierungen von vornherein keine Chancen einzuräumen. Mit Blick auf unsere Ausgangsfrage zu ‚Geld als Medium oder als (ausgesonderte) Ware‘ haben insbesondere die Eingaben von Jens hier einige Möglichkeiten ausgewiesen. Man kann diese Intentionen vielleicht in der Grundfrage zusammenziehen, ob wir über die bei Marx in Anschlag gebrachte ‚Vermittlungssemantik‘ hinausgehen können, um die darin enthaltenen Einsichten anders und möglicherweise präziser zur Darstellung zu bringen (und zur Debatte zu stellen). Jens hat dies etwa als Programm formuliert, mikrologisch – auch empirisch – herauszustellen, „wie der Warencharakter den Objekten eingeschrieben, wie er medial operativ ist und wie er folglich mit dem Medium Geld zusammenhängt“. Theoriearchitektonisch bleibt für mich vor allem die Frage bestehen, wie im Rahmen einer ‚medienmaterialistischen‘ Perspektive mit dem überlieferten Begriffsnetz der idealistischen Metaphysik zu verfahren ist. Dieses hat Marx ja bereits selbst in spezifischer Weise umfunktioniert, vor allem, um seinen Überlegungen bezüglich realer Abstraktionen Ausdruck zu verleihen. Man müsste zeigen, was eine medienmaterialistische Perspektive hier an zusätzlichen Einsichten zutage fördern kann, beispielsweise bezüglich der strukturellen Weiterentwicklung des Kapitalismus, also etwa hinsichtlich der sich wandelnden Arten und Weisen der Wertvergegenständlichung (‚was fungiert wann und wie als Geldware‘).
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Über die Möglichkeit einer Gesellschaft nach dem Geld aus Sicht der evolutionären politischen Ökonomie, ihre Subjekte und die Rolle globaler Informationstechnologie Ernest Aigner & Manuel Scholz-Wäckerle
Schon seit der ersten vormodernen städtischen Zivilisation der Sumerer in Mesopotamien spielen Gelder eine zentrale Rolle im gesellschaftlichen Leben der Menschen. Nichtsdestotrotz konnte sich Geld erst innerhalb der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zum zentralen organisatorischen Prinzip der politischen Ökonomie entwickeln. Eine Bedingung für die Metamorphose verschiedener Geldformen ist dabei die Kommodifizierung. Insbesondere die Kommodifizierung des Arbeitsprodukts führt zur Entstehung der „allgemeinen Wertform“, die für die weitere Zirkulation von Waren über den Preis entscheidend ist (Marx 2001, Abschnitt 1). Um das Arbeitsprodukt innerhalb der Gesamtheit von Austauschbeziehungen ausdrücken zu können, wird ökonomisch wertvolle Arbeitszeit für konkret nützliche Arbeit über ein Vermittlungsverfahren normalisiert. Obwohl die kapitalistische Produktionsweise eine bürgerliche Klasse hervorbringt, die das emanzipatorische Potenzial des Privateigentums betont, erzeugen gesellschaftliche Prozesse die allgemeine Wertform durch vermittelte Arbeitsprodukte (abstrakte soziale Arbeit) als Voraussetzungen für Kapitalbeziehungen. Alle Arbeitsprozesse werden verallgemeinert und in der Geldform des Wertes ausgeglichen, wodurch schließlich die „Warenzirkulation“ (ebd., Kapitel 3) ermöglicht wird. Die Geldform baut auf einem komplexen gesellschaftlichen Prozess auf und steht dadurch in starkem Gegensatz zu der eher ursprünglichen, einfachen und substanziellen Form der Dinge in ihrem Gebrauchswert.1 Den Argumenten von Marx (2001), Polanyi (2014) und Graeber (2012) folgend, zeigt der Fokus auf den Austausch statt auf den Gebrauchswert von Dingen, dass sich Geld durch immer neue Formen der Kommodifizierung in der ökonomi1
Eine detaillierte Behandlung der Werttheorie und ihrer Relevanz für die Kernfrage dieses Buches „über die Möglichkeit einer Gesellschaft nach Geld“ findet sich im Beitrag von Ernst Lohoff.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_6
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schen Entwicklung herausgebildet hat. Wir folgen dieser Argumentation, die Arbeit als durch Geld und somit durch Austauschbeziehungen, Technologie und Institutionen abstrahiert konzeptualisiert, und kommen zu dem Schluss, dass dieser evolutionäre Wirtschaftsprozess die Entstehung und Verändeurng ökonomischer Subjektivitäten prägt. Diesen Überlegungen liegt zugrunde, dass ökonomische Subjektivität – im Gegensatz zur neoklassischen Annahme exogener ökonomischer Subjektivität mit unveränderlichen Präferenzen – sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung verändert. Darüber hinaus scheint es intuitiv, dass die Evolution ökonomischer Subjektivitäten nicht als eine isolierte logische Folge von Mutationen mit klaren und einzigartigen Übergangspunkten verstanden werden kann, vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Ökonomische Subjektivitäten entstehen durch ein komplexes Zusammenspiel historischer und geografischer Bedingungen und sind abhängig von sogenannten verschränkten Komplementaritäten (‚interlocking complementarities‘) zwischen technologischen und institutionellen Veränderungen. Dieser Beitrag widmet sich insbesondere der Geldform als einem allgemeinen institutionellen Ordnungsprinzip für ökonomische Subjektivitäten. Technologie beschleunigt die Entstehung und Veränderung ökonomischer Subjektivitäten in den aufkommenden sozialen Ordnungen. Der Text ist wie folgt aufgebaut. Der erste Abschnitt bedient sich der evolutionären politischen Ökonomie (Hanappi & Scholz-Wäckerle 2017) und leitet unter Verweis auf Polanyi (2014) und Graeber (2012) ökonomische Transformationen bzw. Transformationen des ökonomischen Subjekts her. Es wird gezeigt, wie sich die historisch spezifische Geldform allgemein in gesellschaftlichen Machtstrukturen und über Arbeitsproduktivität letztlich im technologischen Wandel niederschlägt. Darüber hinaus heben wir den Unterschied zwischen „Allzweckgeld“ und „Geldern für spezifische Zwecke“ in Bezug auf diese umstrittenen Machtverhältnisse hervor. Diese frühen großen Transformationen ökonomischer Subjektivitäten und der institutionellen Geldform legen das Fundament für die weitere Entwicklung spezifischerer Veränderungen kapitalistischer Subjektivitäten, mithin für den Prozess der verstärkten Dividualisierung (Deleuze 1993; Eversberg 2014). Im zweiten Abschnitt konzentrieren wir uns auf die Evolution neuer spezialisierter ökonomischer Subjektivitäten im Kapitalismus, die Rolle der institutionellen Geldform und technologischer Veränderung. Es lassen sich dafür vier unterschiedliche Subjektivitäten entlang spezifischer Geldformen historisch herleiten: (1) „der/die ArbeiterIn“ und „einfaches Warengeld“, (2) „der/die Angestellte“ und „differenzierte Löhne“, (3) „der/die KonsumentIn“ und (4) „der/die SchuldnerIn“. Die beiden letzteren werden jeweils mit „Privatkredit, Geldkapital oder Finanzierung“ assoziiert. Jede dieser Charaktermasken kann als prototypische Identität heterogener – und folglich nicht homogener und repräsentativer – AgentInnen innerhalb eines bestimmten Zeitraums kapitalistischer Produktion verstanden
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werden. Diese Entwicklungen setzen wir in lose Beziehung zur historischen Entwicklung von „Souveränitäts“-, „Disziplinar“- und „Kontroll-/Sicherheitsgesellschaften“ (Foucault 2008; Deleuze 1993; Lazzarato 2011). Der jüngste Entwicklungsschritt der Evolution ökonomischer Subjektivität bringt den/die SchuldnerIn hervor und scheint durch den schwierigen Umstand hoher privater Verschuldung gekennzeichnet, die letztlich die Handlungsfähigkeit sowie progressive gesellschaftliche Veränderungen lähmt. Die Entwicklung einer Gesellschaft nach dem Geld2 wird dadurch allein jedoch nicht verhindert. Der dritte Abschnitt schließlich widmet sich der Möglichkeit einer Gesellschaft nach dem Geld. Planetary-Scale Computation gilt als ein wesentliches Merkmal des „zweiten Maschinenzeitalters“ (Brynjolfsson & McAfee 2014), das wir mit den neuesten technologischen Fortschritten, die weitreichende institutionelle Auswirkungen haben, in Verbindung setzen. Dazu vertiefen wir die Entstehung des sogenannten „Stack“, einer spezifischen Lesart dieses technologischen Übergangs in der kapitalistischen Entwicklung. Bratton (2015) diskutiert in diesem Zusammenhang den Ursprung des „Stack“ als eine „zufällige Megastruktur“, die sich auf einer „Plattform von Plattformen“ begründet. Google, Amazon, Apple oder Facebook sind empirische Beispiele für solche Plattformen, die – neben Staaten und Märkten – ebenfalls die ökonomische Produktion und den Konsum organisieren können. Mit dieser technologischen Veränderung gehen sowohl Zentralisierungs- als auch Dezentralisierungsprozesse einher. Das zentrale Argument ist, dass sich innerhalb des „Stack“ sowohl eine neue ökonomische Subjektivität als auch eine neue Geldform herausbildet: (5) „der/ die BenutzerIn“ und „digitales Geld“, wobei BenutzerInnen sowohl menschlicher als auch nichtmenschlicher Natur sein können. Laut Bratton (2015) führen verschränkte Komplementaritäten von globalen Rechensystemen (Planetary-Scale Computation) und institutionellen Veränderungen (z. B. dem Entstehen von digitalem Geld) zu einer neuartigen globalen geopolitischen Souveränität. Dabei werden durch den „Stack“ eine Vielzahl von soziotechnischen Apparaten endogen eingerichtet, die zur Entstehung einer Gesellschaft nach dem Geld führen. Eine solche Gesellschaft nach dem Geld muss jedoch nicht zwangsläufig auf Solidarität und Nachhaltigkeit fußen. Vielmehr scheint das Gegenteil der Fall zu sein, nämlich die Herausbildung eines „Black Stack“ (ebd., S. 351 – 359). Die gesellschaftliche Struktur eines solchen potenziellen Szenarios ähnelt dabei eher der Gestalt eines „Cloud-Feudalismus“ oder einer spezifisch kognitiven Art der Kapitalakkumulation (Vercellone 2007) anstatt eines „Computer-Sozialismus“ (siehe den Beitrag 2
Die Möglichkeit einer Gesellschaft nach dem Geld bezieht sich in diesem Beitrag auf die Möglichkeit einer Gesellschaft nach dem Geld in dessen aktueller Entwicklungsform: des Kapitals.
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von Peter Fleissner in diesem Band). Wir wollen jedoch in unseren Ausführungen einige Ideen und Entwicklungen hervorheben, die ein solidarischeres und nachhaltigeres Szenario begünstigen, wie es derzeit unter dem Stichwort „Red Stack“ (Terranova 2014) diskutiert wird. Der letzte Abschnitt fast die zentralen Aussagen noch einmal zusammen und zieht ein Resümee.
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Evolutionäre politische Ökonomie: Historische, anthropologische und theoretische Transformationen
Nach der Einführung funktionaler Perspektiven auf Geld zeigen wir die Schwächen einer solchen Betrachtungsweise und konzeptualisieren Gelder als einen Spiegel gesellschaftlicher Machtstrukturen. Für die anschließende Diskussion des Zusammenhangs zwischen spezifischen Geldformen und ökonomischen Subjektivitäten im zweiten Abschnitt des Beitrags unterscheiden wir abschließend zwischen Geldern in vormodernen, Tauschhandels- und Industriegesellschaften. Die ersten systematischen Texte über Geld gehen auf Aristoteles zurück und definieren Geld über drei Funktionen innerhalb einer auf Tausch basierenden Wirtschaft (Schumpeter 1954, S. 57 – 62): (1) Tauschmittel („katallaktisch“), (2) Wertaufbewahrungsmittel („metallisch“) und (3) Rechnungseinheit („institutionell“). Geld als ein Wertmaß vereinfacht den direkten Austausch zweier Güter und ermöglicht es den beteiligten Parteien, den Wert über Zeit zu erhalten. Die Mainstream-Ökonomie greift heutzutage zur Erklärung der Entstehung von Geld auf eine ähnliche Argumentation zurück und geht dabei davon aus, dass Geld die Effizienz von Märkten steigert, es als solches neutral ist und keinen Einfluss auf die Produktion, Zirkulation sowie den Konsum von ökonomischem Wert hat (vgl. Graeber 2012; Brodbeck 2012; Wäckerle 2013). Gelder vereinfachen jedoch nicht nur den Austausch, sondern dienen auch zur numerischen Erfassung von sozialen Verpflichtungen bzw. Schulden. Die ersten Aufzeichnungen von Schulden gehen bis zu 5 000 Jahre zu den vormodernen städtischen Zivilisationen in Mesopotamien zurück (Graeber 2012). Zeitgenössische „SchuldentheoretikerInnen“ gehen davon aus, dass Verschuldung die Schaffung von Geldern durch den Staat legitimiert, um so Verpflichtungen der BürgerInnen untereinander und gegenüber ihren Ahnen sichtbar zu machen (z. B. die von der Gesellschaft geschaffene Infrastruktur, in die jemand geboren wird). Allerdings war das Eintreiben von Schulden nicht auf die eigenen BürgerInnen beschränkt, sondern erfolgte besonders in eroberten Gesellschaften in der Form von Steuern (ebd.). Gelder in Form von Schulden wurden zudem verwendet, um das Militär strategisch mit Nahrung zu versorgen: Staaten sammelten Gelder (z. B. Gold) von Bauern und Bäuerinnen ein, die dann an das Militär gegeben wurden;
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anschließend wurden die Landwirte dazu gezwungen, mit Mitgliedern des Militärs Essen gegen jenes Gold zu tauschen (ebd.). Laut diesen Theorien wurden Gelder dazu genutzt, Schulden zwischen unterschiedlichen AgentInnen (um)zuleiten, die durch mächtige Akteure mehr oder weniger legitim eingesetzt wurden. Schließlich werden Gelder auch dazu genutzt, um Verluste zu kompensieren, wie beispielsweise beim Volk der Wodani, wo ein Clan für den Verlust eines seiner Mitglieder wegen Mordes oder Ehe entschädigt wird (Breton 1999, 2000; Cartelier 2006), oder in Form einer Geldbuße, die der Verantwortlichkeit Ausdruck verleiht und Schulden anerkennt (z. B. bei Umweltschäden [Kallis 2013]). Aus jedem dieser Blickwinkel nimmt Geld eine bestimmte Funktion wahr, aber sie definieren nicht die Neuartigkeit von Geld oder des Geldes Geldsein. Brodbeck (2012, S. 345) versucht dies zu tun, indem er Geld als eine Vereinbarung zwischen zwei Parteien innerhalb eines Kaufaktes im Unterschied zu einem Tauschakt begreift. Folglich erfordert ein Austausch nicht eine Äquivalenz zwischen zwei gehandelten Gütern, sondern nur eine interne Identität der beiden Güter, die von jedem der beiden Agenten vorgesehen ist. Diese Überlegungen stehen im Gegensatz zur ökonomischen Interpretation von Austausch und Geld. Beide Parteien unterstellen bei einem Kaufakt, dass Geld als Maßeinheit, also als eine der zwei auszutauschenden Waren, gilt und sich dadurch eine Äquivalenz oder Verhältnismäßigkeit zwischen den zwei Gütern einstellt. Wiederholte Kaufakte schließlich etablieren Geld innerhalb einer Gesellschaft, denn sie „reproduzieren darin in wechselseitiger Anerkennung immer wieder neu die Bedeutung von Geld“ (ebd., S. 363). Dabei formt Geld die soziale Realität, weil es soziale Realität ist, und kann somit am besten als zirkulär reflexive Kategorie verstanden werden. Auch wenn zirkulär reflexive Kategorien wie etwa „Macht“ (z. B. hat der König Macht, weil er von seinen Untertanen diese Macht zugeschrieben bekommt) an Bedeutung verlieren, sobald ihre Bedeutung nicht mehr durch die beteiligten Agenten reproduziert wird (z. B. hört der König auf, Macht zu haben, wenn seine Untertanen aufhören, ihm die Macht zuzuschreiben), konstruieren sie dennoch soziale Realität für jene, die ihr bis zu diesem Zeitpunkt unterliegen. Insofern hat das Geld an sich keine Macht, sondern ist „ein Schein […], der soziale Realität organisiert“ (ebd., S. 369); daher hängt seine Form und Anwendbarkeit entscheidend von der Gesellschaft ab, in die es eingebettet ist. „[O]n the one hand, the seller must settle a ‚performance debt‘, delivering a commodity or a service to the buyer; on the other hand, the buyer must settle a ‚payment debt‘ to the seller, through the transfer of a certain amount of money.“ (Saiag 2014, S. 573)
Als solches können Gelder und insbesondere Schulden der Ausgangspunkt für die Entstehung und Mutation bestimmter ökonomischer Subjektivitäten sein. Wie be-
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reits erwähnt, hängt die spezifische Geldform entscheidend von der historisch begründeten Gesellschaftsordnung ab. Ein anschauliches Beispiel ist das bereits erwähnte Volk der Wodani, das eine Vielzahl unterschiedlicher Geldformen, die ihr Glaubenssystem widerspiegeln, zur Kompensation verwendet. Die Wodani leben in Clans und verstehen sich selbst „als das Wesen des Körpers von Buba (dem Urvater) reproduzierend“ („reproduce the substance of Buba’s body (the primordial ancestor)“), der sich aus Organen zusammensetzt. Dieser Vorstellung nach besteht auch der und die Einzelne selbst aus den gleichen Organen. Wenn ein Clan eines seiner Mitglieder verliert, wird er von einem anderen Clan für jedes Körperteil des Mitglieds mit unterschiedlichen Geldformen entschädigt, die zusammen den gesamten Körper des Mitglieds und Bubas darstellen. Die Entschädigung beruht also auf verschiedenen Geldern, die nicht aggregiert, nicht gemeinsam gemessen oder als „gleichwertig mit Menschen“ betrachtet werden können (Graeber 2012, S. 166), für die sie als Entschädigung dienen. Kurz gesagt, Menschen sind gleichbedeutend mit Menschen, und Gelder arbeiten in bestimmten anderen „Austauschsphären“. Diese Gelder entstehen in der Regel als „Gegenstände, die ursprünglich zur Verschönerung“ (ebd., S. 152) der jeweiligen Person dienten und eher Personen „schaffen“ (ebd., S. 153) als diese ersetzen. Die Geldformen der Wodani sind Beispiele für „Gelder für spezifische Zwecke“. Im Gegensatz dazu sind Gelder in Tauschhandels- und Industriegesellschaften sowie im heutigen Kapitalismus universal und für alle Zwecke verwendbar, ohne dabei auf eine bestimmte Ware oder soziale Kategorie beschränkt zu sein (sie sind jedoch in ihrem Ausmaß begrenzt, da beispielsweise in großen Teilen der Welt Handel zumindest rechtlich nicht gestattet ist). Transformationen zwischen verschiedenen spezifischen Geldern und von diesen zu Allzweckgeldern hängen nicht nur von der Effizienz eines bestimmten Geldes ab. Vielmehr reflektieren sie Machtverhältnisse, die durch angeeignete Technologien sowie Verschiebungen in Diskursen Gegenstände oder Gewalt im wörtlichen Sinne dekontextualisieren. Graeber zeigt anhand mehrerer Beispiele solcher Transformationen, dass vor allem Frauen von ihnen nachteilig betroffen sind. Transformationen entstehen durch interne3 und externe4 Kräfte der Gemeinschaft. Das Ausbleiben von Gewalt oder das Vorhandensein von Vertrauen kann auch dazu beitragen, zu verstehen, welche Geldform die Gesellschaft und ihre spezifische Gesellschaftsordnung dominiert.
3 Ein Beispiel für gemeinschaftsinterne Dynamiken sind die Lele, ein afrikanisches Volk (Graeber 2012, S. 144 – 151). 4 Externe Kraft geht Hand in Hand mit der Institutionalisierung von Allzweckgeldern. Graeber (ebd., S. 156 – 165) beschreibt diese Entwicklung am Beispiel der aufkommenden Geheimgesellschaften in der Cross-River-Region, die während der Zeit des Sklavenhandels entstanden.
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Die Aneignung von Technologien ergänzt die Umwandlung der Geldformen von zweckgebundenen Geldern in vorkapitalistischen Gesellschaften bis hin zu Allzweckgeld in Tauschhandels- und industriekapitalistischen Gesellschaften. Im Einklang mit Arrighis (2010) These des „langen zwanzigsten Jahrhunderts“ verortet Moore den Beginn des Kapitalismus im 15. Jahrhundert, als die Voraussetzungen für die Kommodifizierung großer Teile der Natur und unbezahlter Arbeit erfüllt waren. In dieser Zeit etablierten Händler auf der iberischen Halbinsel eine Weltpraxis auf Basis angeeigneter Technologien „such as scientific, botanical, cartographic, agronomic, and chemical revolutions“ (Moore 2014, S. 13) und „mapped, quantified, and regulated [external natures] so that they may service capital’s insatiable demands for cheap nature“ (Moore 2012, S. 12) sowie unbezahlter Arbeit fußte. Moore (ebd., S. 7) bezeichnet diese „extra-economic processes to identify, secure, and channel unpaid work outside the commodity system into the circuit of capital“ als Aneignungsprozesse, die es den Tauschhandelsgesellschaften ermöglichen, die Natur des Planeten zu bewältigen. Zur Finanzierung solcher Prozesse wurden durch den Handelsstand Allzweckgelder institutionalisiert, die in Ergänzung zu den angeeigneten Technologien die Voraussetzung für dauerhafte Kapitalakkumulationsprozesse bildeten. Die größte Transformation der Geldform wurde durch den Industriekapitalismus eingeleitet, als große Investitionen neue Formen des Geldes erforderten: Endogen erzeugtes Kreditgeld wurde zur bestimmenden Geldform und Geschäftsbanken, die Kreditgelder generierten, erlangten bedeutende Macht. Die „method of obtaining money is the creation of purchasing power by banks. […] It is always a question, not of transforming purchasing power, which already exists in someone’s possession, but of the creation of new purchasing power out of nothing.“ (Schumpeter 2012, S. 72 f.) Das Bankensystem erzeugt Kaufkraft aus dem Nichts, solange die Zentralbank als Kreditgeber letzter Instanz besteht. Minsky (2008) war einer der ersten politischen Ökonomen, der erkannte, dass dieses sequenzielle Spiel zwischen Geschäftsbanken und Zentralbank die Wirtschaft destabilisiert und feststellte: „our economy is unstable because of capitalist finance“ (ebd., S. 244). Banken leihen sich zunehmend spekulativ Geld, bis diese Institutionen von Behörden „gerettet“ werden müssen. Allerdings „[t]he profit-seeking bankers almost always win their game with the authorities, but, in winning, the banking community destabilizes the economy; the true losers are those who are hurt by unemployment and inflation.“ (Ebd., S. 279)
Die dominierende Geldform ist dabei immer eine Frage der Macht: „Die Verwendung mathematischer Modelle und Algorithmen in Hinblick auf Kapital macht diese noch lange nicht ein Merkmal von Kapital. Es ist kein mathematisches Pro-
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blem – sondern ein Machtproblem.“ (Negri 2014, S. 370) Der in den 1930er Jahren etablierte Goldstandard diente als institutionelles Vehikel, um ebenjene Machtverhältnisse des Industriekapitalismus zu stabilisieren. „Bei manchen war dies ein naiver, bei anderen ein kritischer, bei wieder anderen ein satanischer Glaube, der stillschweigende Anerkennung im Fleische und Ablehnung im Geiste implizierte. Dennoch war der Glaube als solcher stets derselbe, nämlich daß Banknoten deshalb Wert hätten, weil sie Gold repräsentierten. Ob das Gold selber Wert habe, weil es Arbeitsleistung verkörpere, wie die Sozialisten meinten, oder weil es nützlich und selten war, wie die traditionelle Lehre verkündete, machte in diesem Fall keinen Unterschied.“ (Polanyi 2014, S. 47)
Polanyi betont die Rolle von Finanzen zur Sicherung des Kräftegleichgewichts und verweist auf die zentrale Rolle von Geld, die es bei der Gestaltung von Frieden haben kann. Des Weiteren beeinflusst die Organisation von Geld über Märkte, also die Schaffung einer fiktiven Ware namens Geld, die lokal operierende produktive Organisation und entsprechende Organisationen. Zentralbanken greifen ein, um die negativen Effekte der internationalen Organisation von Währung zu mindern. Es zeigt sich, dass Geld in wirtschaftlichen Prozessen endogen ist, über unterschiedliche Ebenen hinweg wirkt und die Wechselwirkungen dieser Prozesse beeinflusst. Folglich ist Zirkulation nicht neutral, sondern wird durch die angeeigneten Technologien und die gesellschaftlichen Institutionen geformt. Diese Analyse zeigt, dass die Geldschöpfung nie als neutraler Prozess begriffen werden kann, sondern immer ideologischer Aneignung ausgesetzt ist und dadurch im Zentrum vorherrschender Konflikte zwischen physischen Kapital- (IndustriekapitalistInnen) und Finanzkapitalinteressen (RentierkapitalistInnen) steht. Die kapitalistische Geschichte und Evolution von Geld muss als Tauziehen um die Kontrolle der Zinssätze zwischen Industriekonzernen, Finanzinstituten und dem Staat, der ebenfalls seine Schulden tilgen muss, verstanden werden. Dabei ist die Evolution des Geldes eher ein Ergebnis der wirtschaftlichen Organisation, die wiederum durch das Zusammenspiel von starken und schwächeren AkteurInnen innerhalb eines institutionellen Rahmens beeinflusst wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass industrielle UnternehmerInnen an Einfluss und Macht, neue Gesellschaftsverträge auszuhandeln, dazugewannen und dies ihnen erlaubte, (in)direkt nationale Wirtschaftspläne zu bestimmen. Ihre Macht – wie jede andere kapitalistische Macht (z. B. Finanzen) – leitet sich ab vom „core principle to extract social value from labour time“ (Hanappi 2016, o. S.). Marx (2001) beschreibt ebendiesen Prozess mit akribischem Detail und unterscheidet zwischen „einfacher“ (ebd., S. 591 – 604) und „erweiterter Reproduktion“ (ebd., S. 612): „Es verschlägt auch nichts, wenn die einfache Reproduktion
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ersetzt wird durch die Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter, durch die Akkumulation. Bei jener vermöbelt der Kapitalist den gesamten Mehrwert, bei dieser beweist er seine Bürgertugend durch Verzehrung nur eines Teils, und Verwandlung des Restes in Geld.“ Industriekapitalismus unterscheidet sich vom merkantilen Handelskapitalismus insofern, als er durch eine neue Geldform, nämlich Geld, das in Kapital transformiert wird, charakterisiert ist. Diese Transformation wurde durch neuartige Technologien und institutionellen Wandel möglich: allen voran durch industrielle Fertigung und die Aneignung des reellen Mehrwerts (Vercellone 20917). In unserer Betrachtung der Materialisierung sozialen Werts in der Form von Geld in kapitalistischen Produktionssystemen folgen wir Hanappi (2016) und Vercelli (2017). Im Einklang mit der neo-marxistischen Analyse nimmt Geld immer die Form an, die die vorherrschende Produktionsweise/Entwicklung sowie das Akkumulationsregime (Produktionskraft) erfordern. Es unterliegt einem technologisch-institutionellen Lock-in (van Griethuysen 2010; Pagano 2011), durch den neue Akkumulation zumindest kurz- und mittelfristig stabilisiert werden kann. Dennoch können technologische und institutionelle Fortschritte die Trägheit eines solchen Regimes stören und zu progressiven Veränderungen innerhalb des kapitalistischen Systems führen. „Capitalism can therefore be considered as the mode of production that lets money forms change, from simple physical carrier of social value, a symbol, to the form of credit, and finally to its appearance as capital. […] What was regulated and policed by the institutions of the respective ruling class were the flows of social values that the relevant exploitation processes and their correlated distribution channels produced.“ (Hanappi 2016, o. S.)
Die relevantere – und wahrscheinlich auch komplexere – Forschungsfrage bezieht sich demzufolge auf die spezifische ideologische Aneignung von Geld als einem technologisch-institutionellen Komplex. Der folgende Abschnitt beschreibt die Rolle von ökonomischen Subjektivitäten für die Entstehung solcher verschränkten Komplementaritäten in den Mutationen der kapitalistischen Produktionsweise.
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Evolution ökonomischer Subjektivitäten: Welche ökonomischen Subjekte können eine Gesellschaft nach dem Geld tragen ?
Der historische Ansatz, den wir bisher verfolgt haben, ermöglicht es uns ökonomische Subjektivität vor dem Hintergrund der vorherrschenden gesellschaftli-
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chen Geldform zu untersuchen, die als abstrakter Spiegel sozialer, wirtschaftlicher, kultureller und politischer Interdependenzen verstanden werden kann. Wir inter essieren uns nicht nur für die Ursprünge einer bestimmten Art von Subjektivität, sondern auch für die jeweilige Veränderung in der kapitalistischen Produktionsweise. Die vorangegangene Analyse hat vormoderne, Tauschhandels- und Industriegesellschaften aus einer historischen, anthropologischen und polit-ökonomischen Perspektive auf Geld betrachtet. Die beschriebenen Arten ökonomischer Subjektivität können als integraler Bestandteil von „Souveränitätsgesellschaften“ verstanden werden, die sich mit dem Aufstieg des industriellen Kapitalismus zu „Disziplinargesellschaften“ verwandelt haben (Foucault 2008; Deleuze 1993). Die „große Transformation“ (Polanyi 2014) führte zu enormen Veränderungen der Bedingungen für das ökonomische Subjekt – sowohl zum Besseren als auch zum Schlechteren. Die neue entstandene ökonomische Subjektivität befreit das Individuum von Versklavung und Leibeigenschaft; der Kapitalismus bringt in dieser Hinsicht neue Freiheiten. Dennoch ist die ArbeiterInnenklasse einerseits durch die Kommodifizierung des Arbeitsprodukts und der Arbeitskraft dem Kapital untergeordnet und andererseits in einem nach außen abgeschlossenen Bereich – z. B. Fabrik, Klinik – deutlich diszipliniert (Foucault 2008). Im Folgenden wollen wir vier vereinfachte (häufig überlappende) Arten ökonomischer Subjektivität in Bezug auf die ArbeiterInnenklasse im Industrie- und Finanzkapitalismus differenzieren, mit dem Ziel, die vorherige historische und anthropologische Analyse zu ergänzen. Diese vier Arten lassen sich als „der/die ArbeiterIn“, „der/die Angestellte“, „der/die KonsumentIn“ und „der/die SchuldnerIn“ zusammenfassen. Die erste Art ökonomischer Subjektivität steht für den Prototypen ArbeiterIn in der industriellen Revolution. Durch die Arbeitsbeziehung, die sich über den Verkauf des eigenen Arbeitsprodukts an die EigentümerInnen der Fabrik charakterisiert, werden die FabrikarbeiterInnen kommodifiziert. Die Geldform, die die ArbeiterInnen umgibt, erscheint als einfaches Warengeld in Form eines knappen Lohns, der nicht genügt, um Ersparnisse für außerordentliche Ausgaben aufzubauen. Da die „industrielle Reservearmee“ (Marx 2001, S. 657 – 670) schon darauf wartet, einander zu ersetzen, reicht der Lohn jedoch aus, um mit der täglichen Entfremdung und Ausbeutung zurechtzukommen. Der/die FabrikarbeiterIn ist von vorbestimmten Milieus eingeschlossen, unterliegt autoritärer Überwachung und wird so zu einem disziplinierten ökonomischen Subjekt. Wir verorten dies in der historischen Zeitspanne ab dem 18. Jahrhundert, die Foucault (2008) mit den „Disziplinargesellschaften“ assoziiert. Diese „[…] erreichen ihren Höhepunkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. […] Das Individuum wechselt immer wieder von einem geschlossenen Milieu zum nächsten über, jedes mit eigenen Gesetzen: zuerst die Familie, dann die Schule (‚du bist hier nicht zu Hause‘), dann die Kaserne (‚du bist hier nicht in der Schule‘), dann die Fabrik, von Zeit zu Zeit die Klinik, mög-
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licherweise das Gefängnis, das Einschließungsmilieu schlechthin.“ (Deleuze 1993, S. 254) Foucault (2008) analysiert präzise, dass das Gefängnis das zentrale Vorbild für diese disziplinierte Subjektivität darstellt. Ähnlich wie Graeber (2010) versteht diese Analyse die Vorläufer von Disziplinargesellschaften als „Souveränitätsgesellschaften“, in denen üblicherweise „abschöpfen eher als die Produktion organisieren, über Leben und Tod entscheiden eher als das Leben verwalten“ (Deleuze 1993, S. 254) im Vordergrund stand. Diese Vorstellung hebt die institutionelle Rolle der Geldform im Übergang zwischen den Phasen hervor. Der Industriekapitalismus hat die ökonomischen Subjekte emanzipiert, indem er sie von SklavInnen zu LohnarbeiterInnen machte und ihnen mehr Autonomie zusprach. Die Diszi plinargesellschaften – und besonders die herrschende bürgerliche Klasse – hielten die ökonomischen Subjekte jedoch an einer sehr kurzen Leine. Die Rolle von Technologie ist ausschlaggebend für den nächsten Übergang der Produktionsweise. Arbeitsproduktivität steigt durch neue Maschinen und Werkzeuge, die den Wert der qualitativen Fähigkeiten der ArbeiterInnen und ihres Handwerks marginalisiert haben. Es wird nun nicht mehr bloß der absolute Mehrwert, sondern auch der relative Mehrwert ausgebeutet (Marx 2001, S. 532 f.; Vercellone 2007). Wie Brenner und Glick (1991, S. 59) feststellen: „How else are we to understand Marx’s analysis of ‚Machinofacture‘ in Capital (published in 1867), which theorizes already-accomplished (though necessarily incomplete) processes of destruction of handicraft labour, subordination of workers to machines, and intensification of labour that were the consequence of the introduction of costcutting machinery and were every bit as spectacular as – and in many respects quite analogous to – the processes that occurred under the impetus of Taylorism-Fordism ?“
Das Ergebnis ihrer Analyse legt nahe, dass die „großen Transformationen der Arbeitsprozesse“ (an der Wende zum 20. Jahrhundert) nicht als ein eindeutiger Wechsel von einem Modell der Kapitalakkumulation zu einem anderen angesehen werden können. Eine kritische polit-ökonomische Sicht betont im Kontrast zu eindeutigen Wechseln die Gleichzeitigkeit und die kumulative Kausalität vieler kleiner Transformationen. Die Gesellschaft transformiert sich dabei evolutionär durch gleichzeitige graduelle Veränderungen, die durch Diskontinuitäten oder „Ereignisse“ gekennzeichnet sind und sich als Zustand des Übergangs in das kollektive Gedächtnis einprägen. Die Regulationsschule sieht eine dieser Diskontinuitäten in der Entstehung des Taylorismus und weiter des Fordismus. Brenner und Glick (ebd., S. 58) bemerken, Lipietz zitierend: „In the twenties a revolution in the mode of organization of work was generalized in the United States and partially in Europe: Taylorism. It consisted of an expropriation, by a
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gigantic and capillary deepening of the capitalist control of the labour process, of the know-how of the collective workers, a know-how which was henceforth systematized by engineers and technicians according to the methods of the ‚scientific management of work‘. A further step was the incorporation of this know-how into the automatic system of machines, which dictated the method of work to the workers who had thus been robbed of initiative: such was the productive watershed of ‚Fordism‘.“
Mit der sich zunehmend verändernden Rolle der Bewegungsmaschine und ihres Transmissionsmechanismus (Marx 2001, S. 393) wenden wir unseren Blick von den Disziplinar- auf die Kontrollgesellschaften und beschäftigen uns im Anschluss mit einer weiteren transformierten ökonomischen Subjektivität: dem/der Angestellten. In Kontrollgesellschaften steht Geld allen zur Verfügung und wir können, besonders nach dem Zweiten Weltkrieg, eine steigende Nachfrage nach Konsumkrediten beobachten. Des Weiteren sind Löhne nicht mehr knapp und identisch, sondern zunehmend differenziert, modularisiert und werden zwischen den neuen Produktionsstandorten verglichen: den Unternehmen. „Die Fabrik setzte die Individuen zu einem Körper zusammen, zum zweifachen Vorteil des Patronats, das jedes Element in der Masse überwachte, und der Gewerkschaften, die eine Widerstandsmasse mobilisierten; das Unternehmen jedoch verbreitet ständig eine unhintergehbare Rivalität als heilsamen Wetteifer und ausgezeichnete Motivation, die die Individuen zueinander in Gegensatz bringt, jedes von ihnen durchläuft und in sich selbst spaltet.“ (Deleuze 1993, S. 257) In dieser Hinsicht sprechen wir nicht mehr von „dem/der ArbeiterIn“ sondern von „dem/der Angestellten“. Es ist wichtig hervorzuheben, dass Transformationen ökonomischer Subjektivität durch die Koevolution von Technologie und Institutionen ergänzt werden, die die ökonomische Subjektivität im Sinne eines technisch-institutionellen Lock-ins bestimmt. „Es ist einfach, jede Gesellschaft mit Maschinentypen in Beziehung zu setzen, nicht weil die Maschinen determinierend sind, sondern weil sie die Gesellschaftsformen ausdrücken, die fähig sind, sie ins Leben zu rufen und einzusetzen. Die alten Souveränitätsgesellschaften gingen mit einfachen Maschinen um: Hebel, Flaschenzüge, Uhren; die jüngsten Disziplinargesellschaften waren mit energetischen Maschinen ausgerüstet, welche die passive Gefahr der Entropie und die aktive Gefahr der Sabotage mit sich brachten; die Kontrollgesellschaften operieren mit Maschinen der dritten Art, Informationsmaschinen und Computern, deren passive Gefahr in der Störung besteht und deren aktive Gefahr Computer-Hacker und elektronische Viren bilden. […] Die Kontrolle ist kurzfristig und auf schnellen Umsatz gerichtet, aber auch kontinuierlich und unbegrenzt, während die Disziplin von langer Dauer, unendlich und diskontinuierlich war. Der Mensch ist nicht mehr der eingeschlossene, sondern der verschuldete Mensch.“ (Deleuze 1993, S. 258 ff.)
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Dieses ökonomische Subjekt trägt nun einen weißen anstatt eines blauen Kragens und ist vollständig in die Informationssysteme des Unternehmens eingebunden. Einige AutorInnen verbinden diese bestimmte Art der kapitalistischen Produktion mit „kognitivem Kapitalismus“ (Vercellone 2007; Moulier-Boutang 2012) oder „Bio-Kapitalismus“ (Morini & Fumagalli 2010), da gleichsam alle menschlichen Fähigkeiten vom Kapital absorbiert werden. Diese Transformation ökonomischer Subjektivität findet auf dem Höhepunkt fordistischer Akkumulation und ihrer Krise in den 1970er Jahren statt, als die Produktion im Anschluss an den Nachkriegsboom stagnierte. Der/die Angestellte spielt in diesem Prozess eine wichtige Rolle: Er/sie stabilisierte das fordistische Regime durch Massenkonsum und destabilisierte es durch die zunehmende Finanztätigkeit. Auch in dieser Transformation spielt die Geldform wieder eine entscheidende Rolle, insbeson dere in Form von „günstigen“ Konsumkrediten. „Die Individuen sind ‚dividuell‘ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ‚Banken‘. Vielleicht kommt im Geld noch am besten der Unterschied der beiden Gesellschaften zum Ausdruck, weil die Disziplin immer im Zusammenhang mit geprägtem Geld stand, zu dem das Gold als Eichmaß gehört, während die Kontrolle auf schwankende Wechselkurse, auf Modulationen verweist, die einen Prozentsatz der verschiedenen Währungen als Eich-Chiffre einführen. Der alte Geldmaulwurf ist das Tier der Einschließungs-Milieus, während das der Kontrollgesellschaften die Schlange ist. […] Der Mensch der Disziplinierung war ein diskontinuierlicher Produzent von Energie, während der Mensch der Kontrolle eher wellenhaft ist, in einem kontinuierlichen Strahl, in einer Umlaufbahn. Überall hat das Surfen schon die alten Sportarten abgelöst.“ (Deleuze 1993, S. 258)
Wie von Deleuze hervorgehoben, ist es die komplexe Wechselwirkung ökonomischer Subjektivität mit der Koevolution von Technologie und Institutionen, die zu einer Reorganisation der ökonomischen Grundlage der Gesellschaft führt. Die ökonomischen Subjekte, die eine Transformation hin zu einer Gesellschaft nach dem Geld tragen müssten, sind offensichtlich „dividualisiert“ (siehe auch Eversberg 2014) und „in Schulden“. Verschuldung ist heutzutage die Einheit, die kapitalistische Prozesse vernetzt und die Kontinuität der kapitalistischen Invasion ins Soziale ermöglicht. Da sie den Rohstoff für das globale Finanzwesen bereitstellt, ist sie von zentraler Bedeutung für das Überleben der postfordistischen Akkumulation (Boyer 2000; Stockhammer 2009). Diese Dynamiken schaffen eine gewisse Universalität von Schulden, wie Lazzarato (2011, S. 7) betont: „Everyone is a ‚debtor‘, accountable to and guilty before capital. Capital has become the Great Creditor, the Universal Creditor.“ In seiner Analyse zeigt Lazzarato, dass private Schulden eine neuartige ökonomi-
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sche Subjektivität hervorgebracht haben. Insbesondere der Finanzkapitalismus hat den „verschuldeten Menschen“ geschaffen, der dem kommerziellen System von Nachfrage und Angebot einen stetigen Beitrag schuldet. Darüber hinaus sind Schulden selbst zu einer handelbaren Ware geworden. Die Leistung des Finanzsystems – und damit die Dividenden der Rentierklasse – hängt von einer stetigen Umstrukturierung der privaten und öffentlichen Verschuldung, also einem universellen Schuldenmarkt, ab. Neben vielen anderen Problematiken hat schließlich das Ponzi-Schema (Minsky 2008) den privaten sowie öffentlichen Sektor durchdrungen. Im Hinblick auf den öffentlichen Sektor können wir hervorheben, dass das Bildungssystem der vermeintlichen Wissensökonomie auf der intertemporalen Optimierung des Lebenszyklus aufbaut, in der junge Menschen heute Geld leihen – um ihre Bildung zu finanzieren –, das sie mit einem besseren Job morgen zurückzahlen – im Namen des neu erworbenen kulturellen Kapitals. Diese Form ökonomischer Subjektivität reproduziert entfremdete, kommodifizierte und vor allem dividualisierte ökonomische Subjekte, die darauf programmiert sind, hart zu arbeiten und sich selbst unterzuordnen (Eversberg 2014, S. 43). Den neuen Klassenkampf reflektierend, legt Lazzarato (2013, S. 66) dar: „In the production of knowledge, class division no longer depends on the opposition between capitalists and wage-earners but on that between creditors and debtors. It is the model the capitalist elites would like to apply to all of society.“ Jene kapitalistischen Dynamiken schaffen eine gespaltene Gesellschaft, die sich aus denen zusammensetzt, die durch Schulden leben („debtfare“), und jenen, die Wohlstand genießen („wealthfare“) (Allon 2016). Lazzarato (2013, S. 68) betont dementsprechend: „[F]inancialization has fully established the ‚security societies‘ [der Begriff der Sicherheit wird hier in den Kontext von Kontrolle gesetzt; Anm. der Autoren] characterized, according to Foucault, by risk and freedom (characteristics which also define liberalism).“ Srnicek und Williams (2015, S. 145 ff.) führen aus, dass eine Gegenhegemonie nur durch die Umwidmung existierender Technologie, die eine groß angelegte Aneignung von Technologien erlaubt, realisierbar ist. Eine ernste Neugestaltung von Geld für eine (solidarische und nachhaltige) Gesellschaft erfordert womöglich eine technologische Aneignung (Likavčan & Scholz-Wäckerle 2017) von digitalem Geld. In diesem Zusammenhang konzentrieren wir uns auf die Logik der algorithmischen Automatisierung, das digitale Geld und seine derzeitige kapitalistischen Aneignung, um den gegenwärtigen technisch-institutionellen Lock-in besser zu verstehen. Karl Marx hat in den Grundrissen geschrieben: „In den Produktionsprozeß des Kapitals aufgenommen, durchläuft das Arbeitsmittel aber verschiedene Metamorphosen, deren letzte die Maschine ist oder vielmehr ein
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automatisches System der Maschinerie (System der Maschinerie; das automatische ist nur die vollendetest adäquateste Form derselben und verwandelt die Maschinerie erst in ein System), in Bewegung gesetzt durch einen Automaten, bewegende Kraft, die sich selbst bewegt; dieser Automat, bestehend aus zahlreichen mechanischen und intellektuellen Organen, so daß die Arbeiter selbst nur als bewußte Glieder desselben bestimmt sind.“ (Marx 1974, S. 584)
150 Jahre später hat die kapitalistische Gesellschaft eine Metamorphose durchlebt und einen Automaten „in Bewegung gesetzt“, der das Kapital in reinster Form repräsentiert – als Algorithmus, der das Prinzip der Kapitalakkumulation verallgemeinert (vgl. auch Hanappi 2013; Terranova 2014) –, „eine sich bewegende Kraft, die sich selbst bewegt“. Marx hätte sich wohl niemals ausmalen können, dass seine Vorstellung in der heutigen technologischen Gesellschaft nahezu Realität geworden ist.
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Algorithmische Automatisierung, Transformation und die ökonomische Subjektivität – Eine Gesellschaft nach dem Geld ?
Geld an sich ist nicht kapitalistisch, jedoch hat die kapitalistische Aneignung von Geld zur Entstehung neuer Geldformen wie Finanz- oder Geldkapital (Hilferding 1910) geführt. Im vorherigen Abschnitt haben wir die verschränkten Komplementaritäten zwischen diesen bestimmten Geldformen und entsprechenden Technologien sowie institutionellem Wandel in den Produktionsapparaten des Kapitalismus diskutiert. Wir haben betont, wie diese Komplementaritäten die Entstehung und Veränderung neuer Arten ökonomischer Subjektivität beeinflussen und umgekehrt. Diese Rückkopplungsschleifen zwischen Handlungsfähigkeit und Struktur führen zu koevolutionären Dynamiken (Wäckerle 2014; Hanappi & ScholzWäckerle 2017), die schließlich größere gesellschaftliche Transformationen, wie einst von Marx (2001) oder Polanyi (2014) beschrieben, bewirken können. Dieser Abschnitt befasst sich mit den technologischen Veränderungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien – insbesondere Planetar y-Scale Computation, Ambient Computing und algorithmische Automa tisierung – und ihrer Rolle für digitale Geldformen. Die digitale Transformation der Gesellschaft ist von vielen WissenschaftlerInnen kommentiert worden, am bekanntesten ist hier wohl Manuel Castells’ dreibändige Studie zur „Netzwerkgesellschaft“ (Castells 2000). In jüngster Zeit wird jedoch zwischen dem Phänomen der Digitalisierung und dem vergleichsweise neueren Phänomen der Automatisierung unterschieden (Brynjolfsson & McAfee 2014). In dieser Hinsicht treibt die Auto-
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matisierung „das zweite Maschinenzeitalter“ an, das für die Substitution von kognitiver Arbeitskraft durch digitale Maschinen (beispielsweise Cloud-Computing, maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz) steht (Subsumption des „Alltagswissens“; siehe Vercellone 2007). Brynjolfsson und McAfee vergleichen diese neue Produktionsweise mit dem „ersten Maschinenzeitalter“, in dem körperliche Arbeitskraft durch mechanische Maschinen ergänzt wurde (reelle Subsumption; siehe Vercellone 2007). Die Entwicklung des letztgenannten Prozesses haben wir im vorherigen Abschnitt analysiert; nun wollen wir versuchen, neue Erkenntnisse über die Komplementaritäten von Technologie, Institutionen (insbesondere der Geldform) und ökonomischer Subjektivität zu gewinnen. Diese jüngste Phase der digitalen Transformation wird Technologie, Institutionen und ökonomische Subjektivität in einer neuartigen Weise miteinander verbinden. Bratton (2015) benennt diese entstehende Konfiguration als „The Stack“ (der Stapel, eine „zufällige Megastruktur“). „The Stack“ wird von Bratton als ein sich entwickelnder, komplexer, adaptiver Systemverbund beschrieben und vermischt sich mit unterschiedlichen physikalischen, biologischen, menschlichen und digitalen Ökologien. Er besteht aus sechs voneinander abhängigen Schichten: Erde, Cloud, Stadt, Adresse, Schnittstelle und BenutzerInnen. Wir verstehen „The Stack“ als einen Katalysator für eine Gesellschaft nach dem Geld (in Form des Kapitals). Besonders Plattformen stellen neben dem Staat und dem Markt neue ökonomische Organisationsprinzipien innerhalb von „The Stack“ dar. Solche Plattformen sind beispielsweise Google, Apple, Facebook oder Amazon in frühen Entwicklungsphasen. Im Moment werden sie jedoch fast vollständig der kapitalistischen Aneignung unterworfen, wodurch sich wahrscheinlich ein „Black Stack“ (ebd., S. 351 – 359) herausbildet. Bratton warnt uns vor solch einer dystopischen „Ellbogengesellschaft“, in der geistige Arbeit vollständig von den kapitalistischen Produktionskräften dominiert und kontrolliert wird. Geld spielt in diesem Szenario vielleicht gar keine Rolle, da Vermögen stark auf einzelne Akteure konzentriert und damit nicht mehr umstritten ist. Wir sprechen in dieser Hinsicht vom Szenario des „Cloud-Feudalismus“ (ebd., S. 307 – 320). Im Gegensatz dazu könnte man sich eine solidarische und nachhaltige Transformation zu einer Gesellschaft nach dem Geld vorstellen, wie sie von kritischen VertreterInnen des Akzelerationismus vorgeschlagen wird (für eine Einführung und einen Überblick vgl. Mackay & Avanessian 2014). Srnicek und Williams (2014) entwerfen sogar ein Manifest der vollständigen Automatisierung als reale Utopie für eine international vereinte ArbeiterInnenklasse. Ihr Ziel ist es, Visionen und Strategien für die Befreiung der kognitiven Arbeitskräfte zu entwickeln (vgl. auch Fuchs 2014; Negri 2014). Eine dieser utopischen technologischen und politischen Vorstellungswelten (imaginaries) wird auch als der „Red Stack“ (Terranova 2014) bezeichnet, in dem sich die ArbeiterInnenklasse die digitale Technologie – inklu-
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sive Algorithmen und künstlicher Intelligenz – zum Wohle aller aneignet (zum Konzept der Technologieaneignung vgl. Likavčan & Scholz-Wäckerle 2017). Diese Metamorphose stellt offensichtlich das von uns bevorzugte Szenario für die Evolution einer Gesellschaft nach dem Geld dar. Derzeit nehmen Plattformen diesen einzigartigen Möglichkeitsraum ein, da für sie noch keine festen Regeln existieren. Deswegen hängt die große Transformation sowohl von der Kreativität als auch der Entschlossenheit der ökonomischen Subjektivität von „The Stack“ ab – insbesondere von „dem/der BenutzerIn“. Der/die BenutzerIn – gefangen in einer kybernetischen Rekursion der Beob achtung der Beobachtung – ist die zentrale Analyseeinheit im Zusammenhang mit dieser ökonomischen Subjektivität. Er/sie hat gleichzeitig alle und doch keine Mittel, um die Sachverhalte zu verändern. Wir beziehen uns mit „der/die BenutzerIn“ jedoch nicht nur auf menschliche Agenten. Vielmehr umfasst diese neuartige Subjektivität auch nichtmenschliche Agenten. Bratton (2015, S. 260 – 265) argumentiert, dass wir es derzeit mit zwei Arten von Subjektivität sowohl für nichtmenschliche als auch menschliche BenutzerInnen zu tun haben: dem/der „überindividualisierten“ BenutzerIn und dem/der „SchwarmnutzerIn“. Beide sind das Produkt des ökonomischen Imperialismus, in dem Individualisierung und Homogenität zu den zentralen Axiomen zählen. Der/die „überindividualisierte“ BenutzerIn stammt direkt vom Homo oeconomicus ab und ist ein sich „selbst quantifizierendes“ Tier, das ausschließlich nach den Gesetzen der bürgerlichen Buchführung des Selbst agiert; dies trifft sowohl für Menschen als auch für nichtmenschliche BenutzerInnen zu, wobei letztere hier durch physisch-sensorische Roboter verkörpert werden. Der/die SchwarmnutzerIn ist das Kind des Homo oeconomicus, das den Gesetzen des Herdenverhaltens folgt. Dies gilt für alle Arten kollektiven Handelns, beispielsweise in Social Media oder beim algorithmischen Trading. Die entscheidende Frage, die Bratton (2015, S. 263) stellt, ist: „What kind of User can be designed instead ?“ Die vergleichsweise einfache Antwort bezieht sich auf „Subtraktion“ und „Design durch Abwesenheit“. Bratton (ebd.) argumentiert, dass die modernen BenutzerInnen ihre Handlungsfähigkeit durch eine Überdeterminierung des Selbst verloren haben und die einzig sinnvolle Antwort auf dieses schwarze Loch der Selbstquantifizierung „removal as design strategy“ ist. Der Autor schlägt insbe sondere vor sich, auf die „Pluralität der Benutzenden“ anstatt auf „eine/n einzige/n BenutzerIn“ oder „eine einzelne Masse von SchwarmnutzerInnen“ zu konzentrieren. Dieser Vorschlag Brattons ist insofern sinnvoll, als auf diesem Weg die schrittweise Auflösung der realen qualitativen Diversität einzelner Subjekte/Objekte aufgedeckt und somit die Heterogenität und Diversität der Nutzenden einer vereinfachten Homogenität der quantifizierten Diversität gegenübergestellt werden kann.
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„These would perhaps be unaccountable, even invisible to, the dynamics of individualization versus collectivization, physicalization versus virtualization, localization versus globalization – neither solution nor dissolution, only strange columns up and down ‚The Stack‘, and from strange columns new geographies and geopolitics for a postAnthropocenic User.“ (Ebd., S. 264)
Im Folgenden widmen wir uns den vielversprechenden verschränkten Komplementaritäten der ökonomischen Subjektivität der BenutzerInnen und einer neuen Geldform, die mit der „Adressenschicht“ von „The Stack“ assoziiert wird. Die Adressierungs-, Leitungs- und Umstrukturierungsmerkmale von Verschuldung legen die systematische Verletzlichkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems offen. Niemand kann mehr für „große“ Ausfälle aufgrund von „systemischen Risiken“ und der Vernetzung der realen und der monetären Wirtschaft verantwortlich gemacht werden. Bratton betrachtet die aktuelle Krise als eine Krise der Adres sierbarkeit: „We have suggested that the recent financial crisis was also a crisis of addressability in the kaleidoscopic nesting of asset debt inside collateralized futures inside options and so on not only allowed the contagion to spread without quarantine, but that the absence of a reliable map of this haunted house of intertextual valuation made untangling the rot from the flesh all but impossible. […] The redesign of money – not just the currency vehicle of exchange, but of the valuation of things and events as such – may also require, or even entail, a more rigorous, flexible, and intricate mechanism for the identification of discrete assets as they twist and turn their way through financial wonderlands.“ (Ebd., S. 335)
Dieses Zitat charakterisiert die komplexe Aufgabe des Geldes, soziale Werte und Schuldverpflichtungen zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft – auf mehreren Ebenen technologisch-institutioneller Apparate – zuzuordnen. Man kann annehmen, dass diese Aufgabe des Zuordnens zu anspruchsvoll für menschliche Arbeit ist, allerdings können hier nichtmenschliche BenutzerInnen ihren Platz in der postkapitalistischen Welt finden.5 Bratton (ebd., S. 335) macht in dieser Hinsicht eine weitere Beobachtung: „Money, as we know, signifies not only value but debt, and anthropology confirms that debt as a technology of social organization precedes the innovation of material tokens to measure it.“ Was Marx (1974) als kapitalistischen „Automaten“ bezeichnete, findet sich bei Bratton (2015) als „The Stack“
5 Zur Materialität (und zu den Energiekosten) von Informationen und deren Bearbeitung durch menschliche Arbeit siehe Mason (2015, S. 164).
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wieder – eine aufstrebende globale Architektur von Soft- und Hardware, die über mehrere Schichten und in unterschiedlichem Ausmaß reale politische Geografien neu ordnet. „Geldmaschinen“ (Coeckelbergh 2015) betreiben das tägliche Geschäft der Umschuldung im globalen Maßstab, eignen sich digitale Innovationen an und produzieren die biophysikalische Realität zukünftiger Generationen. Handel wird von zentralisierten „Handels-Cockpits“ (ebd.) betrieben, die vermittelnde Algorith men (Coeckelbergh & Mol 2016) für automatisiertes Trading programmieren. Sie scheinen einen globalen Zusammenhang zu schaffen, ein „globales Dorf “ zu errichten und Distanzen zu überwinden, wie es häufig mit „Teletechnologien“ der Fall ist. Das von ihnen verfolgte entkontextualisierte Behandeln von Objekten führt jedoch entsprechend zu moralischer Distanz. Die Rolle von Geld bei der moralischen Distanzierung wurde bereits von Simmel (2004) hervorgehoben (vgl. Coeckelbergh 2015). Im System universeller Schulden rechtfertigt die Distanzierung von Geld die materiellen Auswirkungen solcher Trading-Algorithmen – sei es die Zwangsräumung von HauseigentümerInnen in der westlichen Welt nach der Finanzkrise, die Vertreibung von Landwirten, die ihr Land nicht im Einklang mit der Bio-Ökonomie betreiben (Pichler 2015), oder die Ausbeutung von körperlicher oder digitaler Arbeit (Fuchs 2014). Territoriale Machtstrukturen verstärken häufig diese Gelder und ihre Ver teilung durch die Algorithmen der Börsenhändler. Sie spiegeln diese gesellschaft lichen Entwicklungen wider, in denen digitale Technologien durch Prozesse der Kapitalakkumulation angeeignet werden. Eine größere Transformation hin zu einer (solidarischen und nachhaltigen) Gesellschaft nach dem Geld müsste durch die autokatalytischen Prozesse eines „Red Stack“ (Terranova 2014) getragen werden, der für die postkapitalistische Aneignung durch das solidarische und nachhaltige Verknüpfen technologischer und institutioneller Komplementaritäten steht. „As Toni Negri puts it, ‚today, money has the particular function – as an abstract machine – of being the supreme form of measurement of the value extracted from society through the real subsumption of this current society by capital‘. Since ownership and control of capital-money […] is crucial to maintaining populations bonded to the current power relation, how can we turn financial money into the money of the common ? An experiment such as Bitcoin demonstrates that in a way ‚the taboo on money has been broken‘, and that beyond the limits of this experience, forkings are already developing in different directions. What kind of relationship can be established between the algorithms of money-creation and ‚a constituent practice which affirms other criteria for the measurement of wealth, valorizing new and old collective needs outside the logic of finance‘ ?“ (Ebd., S. 391)
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Wir denken, dass Terranova die richtigen Fragen stellt, indem sie die Aufmerksamkeit auf die Modalitäten von Geld als symbolischem System von Trägern sozialer Werte lenkt und das Potenzial von Geld als gemeinschaftlichem Gut und nicht als Investitionsgut (siehe den Beitrag von Stefan Meretz in diesem Band) hervorhebt. Ähnlich wie Meretz (2008) schlägt Terranova (2014) vor, einen „Commonismus“ zu entwickeln oder an einem „Commonfare“ zu arbeiten, wie ihn Fumagalli und Lucarelli (2015) skizzieren. Diese noch eher neuartigen Konzeptionen sind vielversprechend, benötigen jedoch noch eine tiefere Einbettung in das Theoriegerüst der evolutionären politischen Ökonomie (Hanappi & Scholz-Wäckerle 2017). Darüber hinaus entwickeln sich digitale Gelder im Hinblick auf ein Ausbalancieren von Macht und der Kontrolle über das momentane Geldkapital in eine ähnliche Richtung. Das bekannteste Beispiel ist Bitcoin, das sowohl hinsichtlich der technologischen Innovation des Blockchain-Algorithmus als auch bezüglich des regulatorischen und diskursiven Rahmens des freien Marktes interessant ist. In Bezug auf letzteren Aspekt loben die GründerInnen und BefürworterInnen von Bitcoin dessen Eigenschaften, die bereits vor 100 Jahren genutzt wurden, um den Goldstandard aufrechtzuerhalten. Nicht nur die Sprache, mit der Bitcoin beschrieben wird (Bitcoins werden wie Gold „abgebaut“), sondern auch die Regulierung des Algorithmus, der den Abbau auf insgesamt 21 Millionen Bitcoins begrenzt (siehe z. B. Bratton 2015), ähneln den Argumenten eines „digitalen Metallismus“. Diese Bestimmungen sollen die langfristige Wertsteigerung von Bitcoin – und nicht seine Stabilität, wie Weber (2016) darlegt – gewährleisten. Die Regeln werden durch Wettbewerb über die Berechnung zunehmend komplexer Formeln umgesetzt. Trotz der Befürwortung eines dezentralisierten Buchungssystems hat der Wettbewerb mittlerweile zu einer Konzentration einiger spezialisierter Rechenzentren geführt. Bereits im Jahr 2011 wurden 30 Prozent aller Bitcoins von sieben sogenannten Miningpools gehandelt. Da das System auf einer dezentralen Validierung beruht, versagt seine Gültigkeit, sobald mehr als 50 Prozent der NutzerInnen („miners“) vereinbaren, es zu unterwandern. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen 51-Prozent-Angriffs steigt, wenn die Konzentration zunimmt (Beikverdi & Song 2015). Zusätzlich zeigt sich anhand der Tatsache, dass sich die meisten Rechenzentren in Island befinden, wo die Energie- und Kühlversorgung günstig ist, die Energieintensität des Validierungsmechanismus. So entspricht der Energieverbrauch von Bitcoin laut jüngsten Schätzungen bisher in etwa dem nationalen Energieverbrauch Irlands (O’Dwyer et al. 2016). Dieser Prozess impliziert eine „direct reference to the heat and carbon at the real bottom of this particular financial stack“ (Bratton 2015, S. 337). Argumente, die nahelegen, dass der Bitcoin den Wert von Energie oder Kühlleistung widerspiegelt, sitzen jedoch dem gleichen Trugschluss auf wie jene BefürworterInnen von Gold, die dessen Wert in seiner physischen Form und nicht in den sozialen Prozessen identifi-
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zierten, die die Erscheinung des Goldes erzeugten. Im Kontext von Bitcoin sind diese Argumente im Einklang mit der zunehmenden Macht technologisch-institutioneller Komplexe, die sich „neutrale“ Technologien aneignen. Die Legitimität von Bitcoin wird jedoch durch einen ideologisch programmierten Algorithmus erzeugt, während der regulatorische Rahmen zur Nutzung von Bitcoins sozial regulierte Gebiete umgeht. Bitcoin steht als Allzweckgeld zur Verfügung, um Geldwerte mit Leben im Handel mit SklavInnen, Prostituierten, Waffen und Drogen gleichzusetzen, und erinnert folglich an die (De-)Regulierung durch (Re-)Territorialisierung von Geld durch die Regeln, die seinem Algorithmus zugrunde liegen (vgl. auch ebd.). Die Blockchain-Technologie bietet jedoch neue Möglichkeiten. Ein Beispiel könnte der Bancor sein, benannt nach einer universalen internationalen Tauschwährung, die einst von Keynes vorgeschlagen wurde. Bancor kombiniert Smart Contracts (vordefinierte algorithmische Routinen für den Austausch) mit der Blockchain-Technologie, um den Austausch zwischen digitalen Währungen zu erleichtern. Jeder Bancor besteht aus zwei digitalen Währungen. Der Smart Contract definiert das Verhältnis zwischen den beiden Währungen, das bei der Berechnung des Tauschwerts des jeweiligen Bancors angegeben wird. Somit wird der Tauschwert jedes Bancors endogen in jedem Bancor berechnet und ein Bancor kann damit jederzeit getauscht werden. Bancor bietet dabei einen offenen, verfügbaren Rahmen für den Geldwechsel und ein vorläufiges „algorithmisches Matching-Protokoll“. Technologien wie Bancor können beispielsweise moderate Veränderungen im Geldsystem ermöglichen. Kürzlich hat Varoufakis (2016) eine internationale di gitale Währung vorgeschlagen, die vom IMF ausgegeben und reguliert wird. Diese Idee ähnelt Keynes’ Vorschlag des Bancors, erweitert sie jedoch um eine algorithmische Governance, die variable Wechselkurse und bestimmte Vorschriften ermöglichen und Ermessensspielräume verringern würde. Transparente Smart Contracts in Kombination mit der Blockchain könnten solche Regelungen erleichtern. Alle Zahlungen zwischen Mitgliedsstaaten würden diese internationalen digitalen Konten durchlaufen, sodass sich internationale Ungleichheiten in den Griff kriegen ließen. Beispiele für Regulierungen wären etwa die Einführung einer Handelsungleichgewichtsabgabe, die Mitgliedsstaaten mit Leistungsbilanzdefiziten oder -überschüssen zu zahlen hätten, oder auch die Besteuerung von Kapitalflucht. Beides würde die Stabilität der Volkswirtschaften erhöhen, herdenähnliche Kapitalströme reduzieren und Spekulation sanktionieren. Schließlich würde die Implementierung über Algorithmen den Ermessensspielraum von PolitikerInnen und BürokratInnen über Kapitaltransfers einschränken. Die gewonnenen Erträge aus einem solchen Programm könnten dann für „Forschung und Entwicklung im Bereich grüner Energie und nachhaltiger Technologien“ verwendet werden (ebd.).
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Abschließende Bemerkungen
In diesem Beitrag haben wir über die Möglichkeit einer Gesellschaft nach dem Geld (in Form des Kapitals) spekuliert, indem wir uns die Interdependenzen von Arbeitsproduktivität (technologischem Wandel), institutionellem Wandel (insbesondere der Geldform) und der Evolution damit assoziierter ökonomischer Subjektivitäten näher angeschaut haben. Diese Forschung begann mit einer historischen und anthropologischen Analyse vormoderner, Tauschhandels- und Industriegesellschaften sowie der Rolle von Geld für entsprechende Topologien der Macht in diesen Zeiträumen. Wir haben gezeigt, dass es einen signifikanten Unterschied zwischen dem Begriff des „Allzweckgeldes“ und der Konzeption der „Gelder für spezielle Zwecke“ gibt. Ersteres kann mit gewaltsameren, letzteres mit friedlicheren Phasen menschlicher Evolution in Verbindung gebracht werden (Graeber 2012). Mit dem Übergang von merkantilen Tauschhandels- zu industriekapitalistischen Gesellschaften wird die „Allzweck“-Form des Geldes zur Hegemonie (Marx 2001), mit von da an großem Einfluss auf die Evolution von ökonomischen Subjektivitäten. Bedeutende Arten ökonomischer Subjektivitäten sind „der/die ArbeiterIn“, „der/die Angestellte “, „der/die KonsumentIn“ und „der/die SchuldnerIn“. Wir haben diese – von verschränkten Komplementaritäten technologischer und institutioneller Veränderungen abhängigen – Typen im Hinblick auf die jeweilige Geldform analysiert. Geld ist das zentrale Organisationsprinzip, das sich schließlich selbst auf der Suche nach einer effektiveren endogenen Kontrolle des menschlichen Körpers und der Gesellschaftsordnung in Finanzkapital verwandelt. Wir haben hervorgehoben, dass diese Entwicklungen möglicherweise zu einer Gesellschaft nach dem Geld führen können, haben jedoch auch zum Ausdruck gebracht, dass eine kapitalistische Zukunft ohne Geld, die als „Black Stack“ (Bratton 2015) beschrieben werden kann, wahrscheinlicher ist. Im Allgemeinen führen die neuartigen verschränkten Komplementaritäten von Technologie, Institutionen und ökonomischer Subjektivität zur Entstehung einer „zufälligen Mega struktur“, dem von Bratton (ebd.) sogenannten „Stack“. Planetary-Scale Computation beschleunigt eine neue Form geopolitischer Souveränität, die sich selbst als „Plattform der Plattformen“ neben Staaten und Märkten als ein eigenes Prinzip der ökonomischen Organisation formiert. Diese gesellschaftliche Architektur beinhaltet die Entwicklung des/der „BenutzerIn“ als den jüngsten Typus ökonomischer Subjektivität. BenutzerInnen können sowohl menschliche als auch nichtmenschliche AgentInnen sein, die ihre Materialien und Waren zunehmend mit „digitalem Geld“ verteilen. Schlussendlich haben wir die jüngsten Entwicklungen der Blockchain-Technologie hervorgehoben, die für die Entstehung eines „Red Stack“ (Terranova 2014), der auf solidarischen und nachhaltigen Werten in Zeiten von algorithmischer Governance aufbauen würde, von Bedeutung sein könnten.
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Dieses Szenario zeigt die Technologien, die Institutionen und die ökonomischen Subjektivitäten auf, die eine Gesellschaft nach dem Geld (in der Form des Kapitals) hervorrufen könnten.
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Imaginationen postmonetärer Ökonomie
II
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Das Geld als Alien Postmonetäres in der utopischen Literatur und Science-Fiction Annette Schlemm
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Vorzeitige Wahrheiten „So wie auf eine Zeit nach dem Öl sollten wir uns auf eine Zeit nach dem Geld vorbereiten.“ (Jappe 2011)
Wirtschaften mit Geld erscheint den meisten von uns alternativlos. Schlaraffenland ist ein Märchen. Vielleicht finden wir jedoch in fantastischen bzw. utopischen Romanen oder Science-Fiction-Werken etwas Ernsthafteres ? In ihnen ist Geld eine Mangelware, aber nicht, weil in all diesen fiktionalen Vorstellungen der Zukunft das Geld abgeschafft worden wäre, sondern weil es als Thema so gut wie keine Rolle spielt. Überhaupt stehen Wirtschaftsfragen nicht im Mittelpunkt von fantastischer bzw. utopischer Literatur und erst recht nicht der Science-Fiction, sonst wären dies ja auch keine Literaturgattungen mit so hohem Unterhaltungswert. Erst recht wird meist kein kohärentes oder gar vollständiges Bild einer Ökonomie dargestellt. Dies geschieht noch am häufigsten in Texten, die ein ideales Stadt- oder Staatsgebilde konstruieren. Diese zeichnen sich meist durch eine „durchgehaltene Objektivität und strenge Systematik der Darstellung“ und die „Abwesenheit einer Handlung im eigentlichen Sinn“ (Marzin 1986, S. 12) aus. In der Science-Fiction dagegen wird die „zukünftige Welt […] über die Handlung gezeigt“ (ebd., S. 11) und lässt eine kohärente Darstellung der wirtschaftlichen Grundlage vermissen. Science-Fiction lebt vor allem vom antizipierten Fortschritt der Technik, dem die Veränderung von Menschen und gesellschaftlichen Verhältnissen eher folgen muss, als dass sie ihn bestimmen. Utopien dagegen interessieren sich primär für menschliche Verhältnisse, und Wissenschaft und Technik sind dem untergeordnet. Bei der Suche nach fiktiven Welten ohne Geld könnten diese Unterschiede bedeutsam werden, je nachdem, ob man Geld als eher technisches Mittel zur Regulierung von menschlichen Tätigkeiten oder als Ausdruck von gesellschaftlichen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_7
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Verhältnissen zwischen Menschen auffasst. In der folgenden Darstellung und Analyse von Welten mit Geld oder wenigstens anderen Geldformen in der fantastischen Literatur werden diese Formen jedoch nicht systematisch unterschieden. Wichtig ist der Freiraum, den diese Literatur eröffnet zwischen dem, was unter den gegebenen Bedingungen verwirklicht ist, und dem, was unter anderen Bedingungen möglich werden könnte. Diese Bedingungen betreffen gesellschaftliche Verhältnisse und wissenschaftlich-technische Voraussetzungen gleichermaßen. Gesucht wird nach literarischen Werken, in denen „noch nicht Gedachtes, das sich selbst in einem historisch-politischen Rahmen begreift, und mit konkretem Veränderungswillen gepaart ist, gedacht wird“ (Holland-Cunz 1985, S. 15). Die Suche nach den Fossilien früher schon gedachter alternativer Welten hat deshalb keinen kontemplativ-historischen Zweck, sondern fragt nach noch verwertbaren Spuren von alternativen Möglichkeiten, für die vielleicht erst heute die Zeit einer möglichen Verwirklichung gekommen ist. „Utopien sind nur vorzeitige Wahrheiten“, wie Alphonse de Lamartine geschrieben haben soll. Aufgrund der Fülle des Materials können im Folgenden nur einige Texte (und auch fast keine anderen medialen Darstellungen wie Filme oder Computerspiele) kurz vorgestellt werden. Danach wird herausgearbeitet, unter welchen Voraussetzungen die Welten ohne oder mit anderen Geldformen vorgestellt werden können. Ich verwende für die Zitierung jeweils zuerst das Ersterscheinungsdatum und danach das Datum der von mir verwendeten Ausgabe.
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Geld in alternativen Zukünften
2.1 Geld vs. Tugend in den antiken Staatsutopien In den Staatsutopien der griechischen Antike wurde angesichts der erreichten Komplexität der Staatengebilde das Geld für die Koordinierung der arbeitsteiligen Wirtschaft als notwendig angesehen, allerdings sollte die Verwendung des Geldes strikt der sachlichen Notwendigkeit unterworfen sein und nicht zum Selbstzweck werden. Die Nachteile einer zu starken Orientierung auf Geld waren zu dieser Zeit deutlich geworden und die staatliche Ordnung sollte auch dazu dienen, das Geld in Schranken zu weisen, sodass es tugendhaftes Verhalten nicht verhindert. Platon (428/427 – 348/347 v. u. Z.) leitete in seinem Text Die Gesetze (um 345 v. u. Z.) aus der Forderung nach Stabilität ab, dass Geld nur „wegen des täglichen Verkehrs“ verwendet werden dürfe, aber den Bürgern „der Besitz von Gold oder auch nur Silber untersagt wird“ (Platon SW, S. 326). Aristoteles (384 – 322 v. u. Z.) unterschied zwischen einer Hauswirtschaft, in der ein „naturgemäßer Reichtum“ erworben werden kann (Aristoteles Politik, S. 20 [1257 b 13]), und einem Geld-
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erwerb, in dem es nur um Gewinn geht. Dieser erfuhr bei Aristoteles einen „gerechten Tadel“, weil er „nicht bei der Natur bleibt, sondern den Menschen vom anderen sich bereichern läßt“ (ebd., S. 22 f. [1258 a 19 – 1258 b 2]).
2.2 Gold und Silber für Nachtgeschirre in der frühen Neuzeit Thomas Morus (1478 – 1535) reagierte mit seinem Werk Utopia (1516, Originaltitel: De optimo statu rei publicae deque nova insula Utopia) auf die Folgen des beginnenden Kapitalismus. Geld gibt es im wirtschaftlichen Alltag auf Utopia nicht, denn es bringt nur Übel auf die Welt: „So leicht ließe sich beschaffen, was zum Leben nötig ist, wenn nicht unser gesegnetes Geld, das doch offenbar dazu erfunden ist, um uns den Zugang zu den lebensnotwendigen Gütern zu eröffnen, in Wirklichkeit uns nur den Weg zu diesen Gütern versperrte !“ (Morus [1516] 1985, S. 145) Damit niemand sein Herz daran hängt, werden auf Utopia Gold und Silber für Nachtgeschirre verwendet (ebd., S. 83). Tommaso Campanella (1568 – 1668) ließ einen Reisenden über seinen idealen Staat, die Sonnenstadt (Città del Sole [1602], früher auch oft benannt als „Der Sonnenstaat“), berichten. Die Menschen unterwerfen sich hier einer recht direkten Kontrolle. Deshalb kann auf eine marktförmige Vermittlung der Arbeitsteilung verzichtet werden. Alle arbeiten vier Stunden am Tag, die Bedürfnisse sind begrenzt, deshalb brauchen sie für den Umgang untereinander auch kein Geld. „Sie wollen aber kein Geld, sondern lediglich Waren, über die sie nicht verfügen.“ (Campanella [1602] 1985, S. 39)
2.3 Aufgeklärte Utopien und der Weg in die Industriegesellschaft Die Utopie Das Jahr 2440: ein Traum aller Träume von Louis-Sébastien Mercier (1740 – 1814) aus dem Jahr 1771 war die erste Utopie, die die alternative Welt in die Zukunft statt in fremde Ländereien verlegte. In dieser Utopie sind die letzten Reste feudaler Herrschaft und ihrer Missstände beseitigt und ein Kapitalismus mit Privateigentum und Geld, aber ohne Kredite ist verwirklicht. Während der kapitalistischen Industrialisierung widersetzten sich einige „Utopisten“ dem Trend zur Kapitalakkumulation. Sie schrieben keine belletristischen Werke, sondern Abhandlungen zu Projekten eines alternativen Lebens, die sie auch praktisch zu realisieren versuchten. Charles Fourier (1772 – 1836) strebte Reformen auf der Grundlage einer Steigerung der Produktion bei Beibehaltung des Privateigentums, aber nur, wenn alle arbeiten. Robert Owen (1771 – 1858) verbesserte in seinem Projekt in New Lanark, einem Dorf, das um eine Baumwollspinnerei her-
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um gebaut worden war, die Arbeitsbedingungen deutlich, senkte die Arbeitszeit von 16 auf 10,5 Stunden und verbot die Arbeit von Kindern unter 10 Jahren. Im eigenen Laden waren die Preise um 25 Prozent niedriger als in der Umgebung. Dies ermöglichte gute Gewinne. Als Owen dann zu kommunistischen Positionen überging und Gemeinschaftseigentum durchsetzen wollte, wandten sich die bisherigen Unterstützer von ihm ab und die öffentliche Meinung richtete sich gegen ihn. Explizit gegen die Existenz von Geld wandte sich Étienne Cabet (1788 – 1856) mit seiner Utopie eines kommunistischen Gemeinwesens unter dem Titel Die Reise nach Ikarien (1840). „Die Ikarier haben weder sogenanntes Privateigentum noch Geld, weder Kauf noch Verkauf.“ (Cabet [1840] 1919, S. 20) Die Planung, Produktionsorganisierung und Verteilung der Güter erfolgt durch „die Republik oder die freie Gemeinde“ als „unser[en] Staat“ (ebd., S. 21).
2.4 Zukunftsvisionen in der Industriegesellschaft Noch auf dem erhofften Weg zur Revolution konkretisierte August Bebel (1840 – 1913) mit seiner Schrift Die Frau und der Sozialismus aus dem Jahr 1872 die Vorstellungen für eine sozialistische Zukunft nach der Revolution. Dabei legte er umfangreiche Analysen zugrunde, sodass die Schilderungen keinesfalls wie eine Spekulation wirken. Wenn alle Menschen täglich 2,5 Stunden auf Grundlage hochentwickelter Wissenschaft und Technik arbeiten würden, könnten seiner Meinung nach genug Güter für alle produziert werden. Die Verteilung erfolgt entsprechend von Arbeitszertifikaten, wie sie Marx für die erste Phase des Kommunismus drei Jahre später auch vorschlug (Marx [1875] 1983, S. 20). „Wieviel jedes einzelne Produkt an gesellschaftlicher Arbeitszeit zur Herstellung bedarf, ist leicht zu berechnen. […] Irgendein Zertifikat, ein bedrucktes Stück Papier, Gold oder Blech, bescheinigt die geleistete Arbeitszeit und setzt den Inhaber in die Lage, die Zeichen gegen Bedürfnisgegenstände der verschiedensten Art auszutauschen.“ (Bebel [1872] 1954, S. 487 f.) Diese Arbeitsscheine sind kein Geld, denn „wir möchten wissen, wie das Mitglied einer sozialistischen Gesellschaft sein goldenes Arbeitszertifikat ‚sparen‘ oder gar an andere verleihen und ‚Zins‘ dabei herausschlagen kann, wo alle anderen ebenfalls besitzen, was der eine ausbietet und – von dem er lebt“ (ebd., S. 488). Der Roman Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887 von Edward Bellamy (1850 – 1898) aus dem Jahr 1888 führte zur Gründung von Dutzenden Vereinigungen von Menschen, die seine Utopie verwirklichen wollten. Im Jahr 2000 ist in dieser Utopie das Geld völlig abgeschafft (Bellamy [1888] 2008, S. 48, 128). Auch der internationale Verkehr wird über einen „internationalen Rat“ statt über Märkte abgewickelt (ebd., S. 79). Die Zuteilung der Güter an die Menschen erfolgt
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über Guthaben, die jeder Mensch pro Jahr entsprechend seinem Anteil an der jährlichen Gesamtproduktion – unabhängig von seiner Leistung – zugesprochen bekommt (ebd., S. 49). Die Güter sind mit einem „Preis“ versehen, der den Kosten ihrer Produktion entspricht (ebd., S. 80). Die Gutscheine heißen weiter „Dollar“: „Wir haben das alte Wort beibehalten, aber nicht etwa die alte Sache. Bei uns entspricht der Ausdruck keinem wirklichen Ding. Er ist nichts weiter als ein al gebraisches Zeichen, dessen wir uns bedienen, um die Werte der verschiedenen Produkte miteinander zu vergleichen.“ (Ebd., S. 49) Einen äußerst wichtigen Beitrag für einen zukünftigen Sozialismus leistete Alexander A. Bogdanow (1873 – 1928). In seinen beiden utopischen Büchern Der rote Planet (1907) und Ingenieur Menni (1912) skizzierte er unter anderem einen Mechanismus der Arbeitsorganisierung, d. h. „ein selbstorganisierendes Supersystem ohne jene verhängnisvolle Energievergeudung, die eine unvermeidbare Folge aller niederen Entwicklungsstufen war“ (Rollberg 1988, S. 294). Geld wird auch deshalb nicht benötigt, weil die Menschen ein natürliches Bedürfnis nach Arbeit entwickeln (Bogdanow [1907] 1989, S. 61). Utopien aus den kapitalistischen Ländern im 20. Jahrhundert jedoch meinen nicht auf das Geld verzichten zu können. In B. H. Skinners (1904 – 1990) Roman Walden Two gibt es Geld, obwohl die Wirtschaft darauf ausgerichtet ist, „nicht Geld [zu] machen, sondern Dinge, die man für Geld kaufen kann“ (Skinner [1948] 1976, S. 11), wie Skinner später dazu schrieb. Es gibt zwar keine Geldstücke oder -scheine, aber Eintragungen in einem Hauptbuch. In Aldous Huxleys (1894 – 1963) Utopie Eiland wird die Wirtschaft nach genossenschaftlichen Prinzipien organi siert, es gibt weiterhin silberne, goldene und kupferne Geldmünzen (Huxley [1962] 1991, S. 175) und ein Leih- und Borgsystem à la Raiffeisen (ebd.). Ganz ohne die Verrechnung der Arbeitsleistungen geht es auch in der anarchistischen Utopie Planet des Ungehorsams von Eric Frank Russell (1905 – 1978) nicht. Wer etwas für einen anderen tut, lädt diesem Obligationen (Verpflichtungen) auf (Russell [1951] 1998, S. 46). Es gibt keine allgemeine Buchführung, sondern nur Mitteilungen per Zettel über diese „Obs“. Es wird erwartet, dass niemand völlig auf Kosten der anderen lebt, und aufgrund der persönlichen Bekanntschaft aller Beteiligten untereinander funktioniert es auch. Die Geschichte vom „faulen Jack“, der sich erst lange durchnassauern kann und sich schließlich aufhängt, als ihm niemand mehr etwas gibt, dient der Belehrung und Erziehung (ebd., S. 89 – 92). In Ursula Le Guins (geb. 1929) Roman Planet der Habenichtse bzw. Die Enteigneten (Neuübersetzung 2006) kennt man auf der anarchistischen Mondwelt Anarres kein Geld. Die Funktion der Koordination erfüllt ein „Verwaltungs- und Managementnetz“, die „Produktions- und Distributionskoordination“. Das ist ein Koordinierungssystem für alle Syndikate, Föderationen und Individuen, die produktive Arbeit leisten. Die PKD regiert nicht Menschen, sondern verwaltet die
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Produktion. Sie hat weder die Macht, mich zu unterstützen noch mich zu hindern. Sie kann uns nur die öffentliche Meinung über uns mitteilen – wir wir im sozialen Bewußtsein stehen.“ (Le Guin [1974] 1976, S. 73 f.) Im Roman Ökotopia und der nachgereichten Vorgeschichte dieser Utopie Ein Weg nach Ökotopia von Ernest Callenbach (1929 – 2012) gehen die Produktionsmittel in den Besitz der jeweils damit Arbeitenden über (Callenbach [1975] 1978, S. 121; Callenbach [1981] 1983, S. 43), Tauschhandel spielt vor allem in Krisen- und Übergangszeiten eine Rolle (Callenbach [1981] 1983, S. 53, 105), einige Versorgungsleistungen sind kostenlos, wie die Nahverkehrsbusse und Leihfahrräder. Banknoten gibt es noch, sie sind aber nicht mehr als Machtmittel, sondern lediglich wegen ihres „Nützlichkeitswerts“ wichtig (Callenbach [1975] 1978, S. 110). In den Zeitreisefilmen Zurück in die Gegenwart (1986) und Der erste Kontakt (1996) der Star-Trek-Serie müssen sich die Enterprise-Crews an das Geld in der Vergangenheit erst gewöhnen und Captain Picard erläutert der Assistentin des Erfinders des Warp-Antriebs: „Die Ökonomie der Zukunft unterscheidet sich von der in dieser Epoche. Im vierundzwanzigsten Jahrhundert gibt es kein Geld mehr. […] Das Streben nach Vermögen und Reichtum ist in unserer Gesellschaft keine zentrale Triebkraft mehr. Wir arbeiten, um uns selbst weiterzuentwickeln.“ (Dillard 1996, S. 146 f.)1
2.5 Utopien in der Zeit des realen Sozialismus Die utopischen Romane aus der Frühzeit des realen Sozialismus schöpften noch voll aus dem historischen Optimismus der damaligen Zeit und versuchten angesichts der real erlebten Mangelzustände gleichzeitig, Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu machen. Eberhard del Antonios (1926 – 1997) Roman Titanus aus dem Jahr 1959 ist ein Musterbeispiel dafür. Im Raumschiff auf dem Weg zum Siebengestirn befinden sich neben denen, die bereits in der kommunistischen Welt leben, auch noch ein Amerikaner und ein Italiener, denen man die Gepflogenheiten im Kommunismus, die auch im Raumschiff gelebt werden, erläutern kann. Demnach gibt es in den nichtkapitalistischen Ländern noch Geld, aber es hat kaum noch Bedeutung. Der Versuch des Amerikaners, demjenigen, der den Wein bringt, ein Trinkgeld zu geben, wird zurückgewiesen (del Antonio [1959] 1985, S. 91 f.). Er zweifelt an der anscheinend zur Realität gewordenen Vision: „Diese Opti misten ! Im Grunde waren es prächtige Kerle. Aber klassenlose Gesellschaft, glei1
Trotzdem wird in vielen Folgen der zum Star-Trek-Universum gehörenden Serien auch innerhalb der Föderation von Geld gesprochen (siehe dazu die Zusammenstellung im Memory-Alpha-Wiki).
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ches Lebensrecht ? Sogar das Geld wollten sie abschaffen. Utopie ! Wer würde da noch arbeiten ? Aber – er arbeitete ja auch, obwohl er bekam, was er wünschte. Wissenschaftlicher Erkenntnistrieb ? Das mußte er noch gründlich überdenken.“ (Ebd., S. 123)
2.6 Politische Utopien der Gegenwart Texte, die nicht primär zur Unterhaltung, sondern zur Schilderung von alternativen Zukunftsvorstellungen dienen, wenden sich meist auch den wirtschaftlichen Grundlagen der neuen Gesellschaft zu. In Bolo’bolo von P. M. (Hans Widmer, geb. 1947) kann auf Geld verzichtet werden, weil dessen Vermittlungsleistung durch den „direkten, persönlichen Lebenszusammenhang“ (P. M. [1983] 1988, S. 64) in autonomen, autarken Gemeinschaften mit ungefähr 500 Individuen ersetzt wird. „Es ist widersinnig, zugleich ein System persönlichen, naturverbundenen, direkten Austauschs zu fordern (und das ist das einzig wirklich ‚ökologische‘ System) und ein Mittel anonymer Zirkulation (das ist das Geld) zuzulassen.“ (Ebd., S. 182) Seit den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts wird jedoch wieder auf Geld oder etwas dem Geld Ähnliches gesetzt, um die gesellschaftlichen Beziehungen zu vermitteln. In der Erzählung Börsenkrach oder das Schlüpfen des Schmetterlings. Eine utopische Erzählung schilderte Bernd Leßmann eine Art Bargeldersatz in Form von Bankeinzugsermächtigungen (Leßmann 1997, S. 62). Auf dem Alternativgeldkonzept von Silvio Gesell baut die Erzählung Der letzte Kapitalist von Steve Cullen auf. Es gibt „Berechtigungsscheine“ (Cullen 1996, S. 55), die zeigen, „dass du gearbeitet hast“ (ebd., S. 57), und sich nach einigen Monaten entwerten. „Sie sind schon so etwas wie Geld, und zwar mit allen Vorteilen als Tauschmittel und für das Wirtschaftsleben, aber eben ohne Gaunereien damit zu begünstigen oder gar zu erlauben.“ (Ebd., S. 59) Die Utopie Gemeinsam ! Eine reale Utopie. Wenningen 2015 von Steffen Andreae (geb. 1966) und Matthias Grundmann basiert auf dem Gedanken, dass im Ort Wenningen ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt wird. Für 890 Euro im Monat soll zehn Stunden lang z. B. im freiwilligen Ehrenamt und in der Nachbarschaftshilfe gearbeitet werden (Andreae & Grundmann 2012, S. 45). Gleichzeitig wird eine regionale Währung eingeführt (ebd., S. 33, 126), wobei „Renten und Gemeindebedienstetenlöhne zu 50 % in Regionalwährung“ (ebd., S. 80) ausgezahlt werden.
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2.7 Science-Fiction-Utopien seit der Jahrtausendwende In einigen Science-Fiction-Romanen seit 2000, die sich auch auf Wirtschaft beziehen, werden die neuen Erfahrungen aus der Welt der digitalen sozialen Netzwerke verallgemeinert. In Cory Doctorows (geb. 1971) Roman Backup wird eine „Reputationsökonomie“ (Doctorow [2003] 2007, S. 241) geschildert, in der sogenannte „Woppels“ (engl.: „Whuffies“) als „virtuelles Kapital“ (ebd., S. 17) das Maß für die Wertschätzung einer Person und den Respekt für sie anzeigen. Damit soll der „eigentliche Sinn des Geldes“ (ebd.) verwirklicht werden, ohne dass die neue Währung wenigen reichen Menschen Macht über andere ermöglicht. In einem Interview betonte Doctorow deshalb auch, dass es keine „woppel-reichen Arschlöcher“ (Doctorow 2003) gäbe. Trotzdem bleibt das Ganze eine „Leistungsgesellschaft“ (Doctorow [2003] 2007, S. 95). Wer nur wenige oder gar keine Woppels besitzt, kann seine Bedürfnisse nur noch in geringerem Maße befriedigen. So dürfen bei einem zu kleinen Woppel-Stand andere Menschen plötzlich das bisher genutzte Auto fahren oder in die Wohnung einziehen. In dem sich als Alternative zur gegenwärtigen Gesellschaft entwickelnden Darknet von Daniel Suarez (geb. 1964) gilt der Darknet-Credit als neue digitale Alternativwährung (Suarez 2011, S. 130). Mit ihm werden regional neue selbst organisierte Gemeinschaften gefördert und er wird für den „Aufbau einer lokalen, nachhaltigen Ökonomie“ (ebd.) verwendet. Mit ihm wird „in Menschen und Projekte investiert, und diese Investitionen beginnen sich jetzt auszuzahlen – nicht in Dollars, sondern in Dingen, die einen intrinsischen Wert für die Menschen haben. Energie, Information, Nahrung, Obdach“ (ebd., S. 88). Als die kapitalistische Wirtschaft mehr und mehr Menschen die Lebensgrundlage entzieht, können diese auf die Darknet-Wirtschaft ausweichen. Die bisher Herrschenden werden schließlich entmachtet, indem die Daten ihrer Vermögen gelöscht werden. Sie erfahren deshalb: „Geld besteht schließlich auch nur aus Daten, und Ihre sind jetzt gelöscht.“ (Ebd., S. 450) Auch in der Erzählung Invasion der Cognoiden von Peter Kempin und Wolfgang Neuhaus ermöglichen neue Technologien ein „ökonomisches Metasystem, das die Daten von Gütern und ihre Bewegungen über die Grenzen einzelner Unternehmen hinaus erfassen und vermitteln k[a]nn[]“ (Kempin & Neuhaus 2008, S. 753). „Das Prinzip der Verwertung wurde zunächst durch die technologischen Prozesse nicht aufgehoben, aber mit den Jahrzehnten immer mehr zurückgedrängt.“ (Ebd., S. 753) Die gesellschaftliche Vermittlung über „Beziehungen“, d. h. hier über Besitz und Verfügungsgewalt, konnte ersetzt werden durch die „Vorherrschaft der Sachlogik […], in der Wissen zählt und nicht Macht“ (ebd., S. 759). „Maschinen mit nicht-biologischer Hardware und Software, die real-vir-
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tuell existieren“, kurz „Cognoiden“ genannt, sollen nicht außerhalb der menschlichen Beziehungen entscheiden, sondern „je nach Konstellation sich in menschlich bestimmte Prozesse einfügen“ (ebd.). Im Roman Accelerando von Charles Stross (geb. 1964) gilt Geld als Zeichen der Armut (Stross [2005] 2006, S. 17). Der Roman basiert auf der Vorstellung, dass sich Teile der Zivilisation durch ihre extrem beschleunigte Entwicklung von den zurückgebliebenen Teilen so weit entfernen, dass es jeweils gleichzeitig unterschiedliche „Schichten“, d. h. Entwicklungsformen bis hin zum Transhumanen, gibt. Diese unterscheiden sich auch durch ihre Wirtschaft und demnach den Umgang mit Geld. Die „Wirtschaft 1.0“ bilden traditionelle „Freie-Markt-Versionen“ (ebd., S. 391). Hier geht es darum, die „Wirtschaft des Mangels“ (ebd., S. 92) zu überwinden. Gleichzeitig wird eine sogenannte „Agalmische Ökonomie“ entwickelt, d. h. eine „Wirtschaft, die sich unter anderem auf Open-Source-Initiativen und freie Handhabung geistigen Eigentums stützt“ (ebd., S. 137). Die folgende „Wirtschaft 2.0“ wendet „überlegene, deterministische Algorithmen“ zur optimierten und wirkungsvollen „Zuweisung von Ressourcen“ (ebd., S. 391, 352) an. Diese Vision wird für die Betroffenen, die inzwischen nicht mehr aus Fleisch und Blut, sondern aus hochgeladenen Daten bestehen, nicht gerade als wünschenswert dargestellt: „Die Uploads mussten feststellen, dass ihre Arbeit als Ware ständig an Wert verlor, als sie erst einmal an den Punkt kamen, an dem ihre Fertigkeiten nicht mehr gebraucht wurden. Für Arbeiter, deren Qualifikationen überholt sind, hat der Kapitalismus kaum eine Lösung parat; er rät ihnen lediglich, weise zu investieren, solange sie noch in Brot und Arbeit stehen, und sich, sofern möglich, umschulen zu lassen. Aber ein Mensch, der nicht mit zusätzlichen Instrumenten ausgerüstet ist, scheitert schon daran, dass er gar nicht weiß, wie er in das Wirtschaftssystem 2.0 investieren soll.“ (Ebd., S. 406) Für die inzwischen in einem galaxienweiten Netzwerk hochgeladenen Bewusstseinsinhalte gelten ihre Anschauungen und Erfahrungen als Währungseinheiten (ebd., S. 298, 318, 338). „Im Wirtschaftssystem 2.0 bedeutet Geld quantifizierte Einzigartigkeit. Originalität, die einer mit Bewusstsein begabten separaten Informationseinheit erlaubt, eine andere auszutricksen.“ (Ebd., S. 415) Jene, die noch als biologische Wesen, z. B. auf dem Saturn, weiter existieren, werden weiter versorgt. „Die in dieser Raumregion entstandenen Gemeinwesen behandeln mittellose Menschen freundlich, denn es kostet nicht viel, sie mit dem Nötigsten zu versorgen, und den Armen diese Unterstützung zu verweigern, käme einem Mord gleich.“ (Ebd., S. 512)
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Voraussetzungen für anderes oder gar kein Geld „‚Wir sind für die Erde ein Modell oder Experiment‘, sagte Maya: ‚Ein Gedankenexperiment, aus dem die Menschheit lernen soll.‘“ (Robinson [1994] 1997, S. 545)
Die utopischen und Science-Fiction-Werke, die sich mit einer anderen Wirtschaft beschäftigen, müssen sich nicht um eine kohärente Theorie bemühen. Außerdem werden diese Themen meist nur kurz angerissen. Aber für einen alternativen Umgang mit Geld oder den Verzicht darauf lassen sich einige Voraussetzungen herauslesen, die typischerweise genannt werden. Nicht untersucht wurden hier aus Kapazitätsgründen andere wichtige Zusammenhänge, wie die zu den Eigentumsverhältnissen.
3.1 Genug für alle – Abschaffung der Knappheit Utopien ohne Geld vertragen sich kaum mit einer Knappheit an Versorgungsgütern. Deshalb beruhen die geldfrei gedachten Zustände fast vollständig auf der Beseitigung von Knappheiten. Das zeigt, dass erstens die mögliche Vermittlung von knappen Gütern ohne Geld, wie sie ja in vielen Kulturen über lange Zeiten hinweg praktiziert wurde und wird, keinen Eingang in Utopien fand und zweitens die Rolle des Geldes vorwiegend in der Vermittlung von arbeitsteiligen und von Verteilungs- und Austauschprozessen gesehen wird. Damit werden klassisch-bürgerliche Geldtheorien reproduziert. Beschränkung des Konsums Bei allen Utopien, die vor dem Industriezeitalter mit seiner starken Ausweitung des Massenkonsums entstanden, basiert die soziale Gleichheit aller Menschen auf dem bewussten Verzicht auf eine Ausweitung der Konsumbedürfnisse. In den antiken Utopien stehen Tugenden allemal über Reichtümern. Auch die frühen neuzeitlichen Utopien geben sich mit dem Vorhandenen zufrieden. In Utopia von Thomas Morus erfolgt die Verteilung über Magazine in der Mitte eines jeden Quartiers, wo der Haushaltsvorstand „ohne Bezahlung, ohne jede Gegenleistung“ alles erhalten kann. „Denn warum wollte man ihm etwas verweigern, da doch an allem reichlich genug vorhanden und gar nicht zu befürchten ist, daß einer mehr fordern möchte, als er nötig hat ? Denn wie sollte man auf den Gedanken kommen, es könnte einer überflüssige Forderungen stellen, der doch sicher ist, daß es ihm nie an etwas fehlen wird ?“ (Morus [1516] 1985, S. 74 f.) Auch in Campanellas Sonnenstadt werden Güter „gering geachtet, denn ein jeder hat, was er braucht“
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(Campanella [1602] 2008, S. 28). In Merciers kapitalistischer Wirtschaft im Jahr 2440 dient die Wirtschaft nur der Bedürfnisproduktion und es gibt keine Dynamik der Kapitalakkumulation. Diamanten und Perlen, die das Herz erhärten, werden ins Meer geworfen (Mercier 1772, S. 189). Im Roman Titanus von Eberhard del Antonio aus der DDR gibt es genug für alle, wenn alle sich auf ein vernünftiges Maß beschränken. Der Amerikaner fragt: „Aber stellen Sie sich das doch einmal bildlich vor: Ich gehe in einen Laden und hole mir auf einmal zwanzig Anzüge. Sie holen sich nur einen – wie ungerecht !“, und bekommt die Antwort: „Aber das können Sie doch schon, Kollege Stafford ! Niemand wird Sie hindern, wenn Sie sich zwanzig Anzüge aus dem Laden holen.“ – „Was sollte ich damit ? Mehr als einen kann ich nicht tragen“ (del Antonio [1959] 1985, S. 118 f.). In Ernest Callenbachs Ökotopia wird auch darauf geachtet, dass kein Bevölkerungswachstum stattfindet (Callenbach [1981] 1983, S. 44, 158). Auf dem Planeten der Habenichtse (auch Die Enteigneten) von Ursula Le Guin sind die natürlichen Lebensbedingungen auf dem Mond Anarres von vornherein karg und deshalb müssen die Ansprüche an das Lebensniveau heruntergeschraubt werden (Le Guin [1974] 2006, S. 95). Überfluss Wenn das Geld als Regulierungsmittel im Umgang mit knappen Gütern angesehen wird, entfällt sein Sinn, wenn nichts mehr knapp ist. Die Knappheit kann entweder aufgehoben werden, indem das Vorhandene sinnvoll und gerecht aufgeteilt wird, oder indem mehr produziert wird. Bei Bellamy ([1888] 2008, S. 127 ff.) reicht allein der Verzicht auf alle Verschwendungen, die es im Kapitalismus gibt, wie Verluste bei verfehlten Unternehmen durch Konkurrenz, durch periodische Überproduktion und Krisen oder durch das Brachliegen von Arbeitskraft und Kapital. Außerdem fallen keine Ausgaben für Rüstung und Beamte mehr an, kein Aufwand für Finanzoperationen, der Handel fällt weg und allein die Vergesellschaftung der Hausarbeit entspricht „einer Steigerung“ der „jährlichen Jahresproduktion um die Hälfte“ (ebd., S. 129). Auch im Roman Excession von Iain Banks (1954 – 2013) aus dem „Kultur-Zyklus“ sind alle Mangelzustände und Knappheiten überwunden. Geld wird zwar noch verwendet, aber kritisch betrachtet, denn es bedeutet „Macht und Einfluss und Wirkung“ (Banks [1996] 2002, S. 144). Im Bereich der „Wirtschaft 1.0“ des Romans Accelerando von Charles Stross gilt der Verzicht auf Geld auf Grundlage der Abschaffung des Mangels noch als Ziel. „Gianni möchte alle Leute so reich machen, dass sich das Gezänk darüber, wer die Produktionsmittel besitzen soll, ein für alle Mal erübrigt. Oder ähnlich belanglos wird wie ein Streit von Höhlenbewohnern darüber, wer hinten im Feuchten schlafen soll.“ (Stross [2005] 2006, S. 137)
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Später übernehmen „deterministische Algorithmen“ die „Zuweisung von Ressourcen“ (ebd., S. 391, 352). Nach dem Uploaden der Bewusstseinsinhalte ins kosmische Netzwerk gibt es eine neue Form von Knappheit, nämlich die der Bandbreiten (ebd., S. 323).
3.2 Alle arbeiten mit Wenn kein Geld vorhanden ist, das als Motivation für die Arbeit wirkt, müssen sich die AutorInnen der Utopien überlegen, weshalb trotzdem in ausreichendem Maße gearbeitet wird. Alle traditionellen, neuzeitlichen und auch die (früh)sozialistischen Utopien gehen davon aus, dass jeder Mensch arbeiten muss, wenn auch in einem geringerem Maße als in der jeweiligen Gegenwart. Im Utopia des Thomas Morus gibt es z. B. nur dann etwas zu essen, wenn eine entsprechende Menge Arbeit – täglich sechs Stunden – geleistet wurde (Morus [1516] 1985, S. 80) – „aus solcher Lebensführung des Volkes“ folgt „notwendig Überfluß an allen Lebensbedürfnissen“ (ebd.). Auch in Campanellas Sonnenstadt müssen alle täglich vier Stunden lang arbeiten. Die sozialistischen Utopien gehen ebenfalls von der Notwendigkeit aus, dass alle Menschen arbeiten, wenn auch in so geringem Maße, dass die Arbeit kein lebensverschlingender Prozess mehr ist. August Bebel geht in seiner Schrift Die Frau und der Sozialismus z. B. von Berechnungen aus, dass 2,5 Stunden Arbeit am Tag ausreichen würden. Dann müssen sich aber auch alle an diesen Arbeiten beteiligen. Jeder Mensch muss sich „nach Maßgabe seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten an der Herstellung der Gegenstände zur Befriedigung aller“ (Bebel [1872] 1954, S. 457) beteiligen. Die „Gleichheit der Arbeitspflicht für alle“ (ebd., S. 489) richtet sich nicht so sehr gegen Faulheit bei Menschen im Allgemeinen als gegen die bisherige bevorzugte Freistellung der Reichen. „[D]as biblische Wort: ‚Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen‘, gilt nunmehr auch für die Helden der Börse und die Drohnen des Kapitalismus.“ (Ebd., S. 530) Aber es gilt dann natürlich auch für jeden einzelnen Menschen: „Nichtarbeiter, Faulenzer gibt es nur in der bürgerlichen Welt. Der Sozialismus stimmt mit der Bibel darin überein, wenn diese sagt: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ (Ebd., S. 457) Auch im Jahr 2000 herrscht bei Edward Bellamy eine Arbeitspflicht: „Wenn sich jemand seiner Arbeitspflicht entziehen wollte, so hätte er keine Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu finden.“ (Bellamy [1988] 2008, S. 36) In der sozialistischen Utopie vom Roten Planeten von Alexander Bogdanow kann jeder Mensch entsprechend seinen Neigungen in der Arbeitswelt tätig werden. „Ungefähr ein Jahrhundert lang gab es einen für alle – außer für die kapita-
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listischen Pensionäre – vorgeschriebenen Arbeitstag, anfangs zirka sechs Stunden, dann immer weniger. Der technische Fortschritt und die genaue Berechnung der vorhandenen Arbeit trugen dazu bei, diese letzten Überreste des alten Systems abzubauen.“ (Bogdanow [1907] 1989, S. 49) In Cory Doctorows Roman Backup wird Arbeit nicht mehr durch die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, oder direkten bzw. moralischen Druck erzwungen. Wer nur wenige oder gar keine Woppels besitzt, kann seine Bedürfnisse aber nur noch in geringerem Maße befriedigen. Trotzdem werden Grundbedürfnisse weiter befriedigt: „Ich bekam zwar keinen Tisch in einem Restaurant, konnte mich aber bei einem der Lebensmittelerzeuger in der Umgebung der Stadt anstellen und mir alles besorgen, was ich essen oder trinken wollte, zu jeder Zeit. Verglichen mit 99,99999 Prozent aller Menschen, die je gelebt hatten, führte ich ein Leben in unvergleichlichem Luxus.“ (Doctorow [2003] 2007, S. 216)
3.3 Wissenschaft und Technik Wissenschaft und Technik zur Erleichterung der Arbeit und Abschaffung der Knappheit Bereits Aristoteles spekulierte über die Möglichkeit, durch technischen Fortschritt auf die Unterordnung von Gesellen und Knechten verzichten zu können. Denn wenn „das Weberschiff von selber webte und der Zitherschlägel von selber spielte, dann brauchten allerdings die Meister keine Gesellen und die Herren keine Knechte“ (Aristoteles Politik, S. 7 [1253 b 18]). In Campanellas Sonnenstadt werden technische Innovationen hochgeschätzt. So wird ein Tor geschildert, das sich „in findiger Weise hebt und senkt“ (Campanella [1602] 1985, S. 6). Ein Brunnen, bei dem sich das Wasser durch „das Bewegen eines Holzgriffs“ heben lässt (ebd., S. 22), ein „Wagen mit Segeln, die vom Wind fortbewegt werden“ (ebd., S. 40), und „Schiffe, die ohne Ruder und ohne Wind sich fortzubewegen in der Lage sind“ (ebd., S. 42), erleichtern die Arbeit und das Leben. Auch bei August Bebel erleichtern Wissenschaft und Technik die Arbeit. Dabei sollen „unangenehme, widerliche Arbeiten […] auf mechanischem respektive chemischem Wege verrichtet und durch irgendeinen Prozeß in angenehme Arbeiten umgewandelt werden“ (Bebel [1872] 1954, S. 493). Begeistert hoffte Bebel auf die Kräfte der Elektrizität. „Die revolutionierende Wirkung dieser gewaltigsten aller Naturkräfte wird die Bande der bürgerlichen Welt nur umso rascher sprengen und dem Sozialismus die Tür öffnen.“ (Ebd., S. 472) Auf dem Land können die Bauern erst in der „Elektrokultur“ (ebd., S. 507) zu Kulturmenschen werden. Technik für erneuerbare Energien wird auch grundlegend in Callenbachs Ökotopia. Neben der Photovoltaik erwähnt Callenbach auch andere „integrierte
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Systeme“ (Callenbach [1975] 1978, S. 165) in der Produktion. Auch im „Technokommunismus“ der Cognoiden-Welt ist „[e]ine weitestgehende automatisierte gesellschaftliche Basis […] eine Bedingung für neue Formen selbstbestimmter Arbeit und Selbstverwaltung“ (Kempin & Neuhaus 2008, S. 749). Wissenschaft und Technik für neue Vermittlungsweisen Geld wird häufig als Mittel zur Regulierung der Arbeitsteilung und der Verteilung der erzeugten Güter angesehen. Nur bei der Reduktion des gesellschaftlichen Zusammenhangs auf relativ kleine dezentrale Lebens- und Produktionseinheiten wie in bolo’bolo kann auf Geld als Vermittler verzichtet werden, weil seine Vermittlungsleistung durch den „direkten, persönlichen Lebenszusammenhang“ (P. M. [1983] 1988, S. 64) ersetzt wird. Die wirtschaftlichen Zusammenhänge wuchsen in Europa aber schon seit der Antike über dieses Maß hinaus. In den Vorstellungen idealer Staaten sollte das Geld nicht zur Vermögenssteigerung eingesetzt werden, sondern die arbeitsteiligen Prozesse vermitteln. Die Ordnungsutopien von Morus und Campanella ersetzen die Koordinierungsfunktion des Geldes durch direkte Kontrolle. Die frühkapitalistischen Utopisten Fourier und Owen meinten auf Geld zur Vermittlung nicht verzichten zu können. Marx und Bebel sprachen sich, zumindest für die erste Etappe der weiteren Entwicklung nach einer Revolution, für Arbeitsscheine aus. Erst Alexander Bogdanow ersetzte diese Vermittlungsleistung des Geldes durch statistische Berechnungen. Demnach sollen an den Arbeitsstätten auf Anzeigetafeln die benötigten Arbeiten angezeigt werden: „Die Zahlen ändern sich jede Stunde […], denn im Laufe einer Stunde haben mehrere tausend Menschen den Wunsch geäußert, den Arbeitsplatz zu wechseln. Die Rechenzentrale registriert das, und stündlich werden die Daten elektrisch überallhin weitergeleitet.“ (Bogdanow [1907] 1989, S. 60) – „Wie gewinnt denn die Zentrale die Daten ?“– „Sie hat überall Agenturen, die den Warenbestand in den Lagern, die Produktivität der Unternehmen und die Zahl der Arbeiter registrieren. Auf diese Weise wird genau festgestellt, wieviel und was für bestimmte Zeit produziert werden soll und wieviel Arbeitsstunden dafür benötigt werden.“ (Ebd.) Auch in Ursula Le Guins Roman Die Enteigneten wird die vermittelnde Funktion des Geldes durch ein „Verwaltungs- und Managementnetz“ (PKD) ersetzt, allerdings auf Kosten einer reduzierten Komplexität. Für hochproduktive Industrieproduktionssysteme schien es lange Zeit keinen Ersatz für die vermittelnde Funktion des Geldes zu geben. Das Internetzeitalter, insbesondere die digitalen sozialen Netze, beförderte neue Vorstellungen über eine technische Vermittlung der Beziehungen der wirtschaftlichen Akteure. Der Darknet-Credit erweist sich im Roman Darknet von Daniel Suarez als digitale Alternativwährung, auf die auch
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jene Menschen ausweichen können, die in der herrschenden Ökonomie keinen Platz mehr haben. Parallel dazu erfolgt der Aufbau alternativer Projekte zur Lebenssicherung in der realen Welt. In Kim Stanley Robinsons Roman 2312 herrscht im Sonnensystem eine Mischwirtschaft aus Resten des Kapitalismus und einer nichtmarktwirtschaftlichen Ökonomie auf Grundlage von Supercomputern und künstlichen Intelligenzen (Robinson [2012] 2013, S. 137). Im Roman Accelerando von Charles Stross entwickelt sich ein System von Algorithmen, die Ressourcen zuweisen. Dieses System wird „Wirtschaft 2.0“ genannt, das „2.0“ steht dabei für Interaktionen, die Menschen nicht mehr verstehen können (Stross [2005] 2006, S. 446). In dieser Zeit begannen auch Debatten in der realen Welt über die Auswertung von Webseiten und persönlichen sowie wirtschaftlichen Daten durch Algorithmen und Big-Data-Mechanismen. Noch bevor sich in Accelerando Menschen in die digitale Welt hochladen lassen, werden die Menschen „zu geistig minderbemittelten Nutzern intelligenter Instrumente degradiert“ (ebd., S. 352).2 Auch deshalb ist dieser Roman, wie Stross an anderer Stelle sagte, nicht wirklich eine Utopie (Stross 2007, S. 529). An diese Schilderungen einer neuartigen digitalen Vermittlung im Wirtschafts- und Gesellschaftsleben schließen insbesondere auch die Texte von Ernest Aigner und Manuel Scholz-Wäckerle sowie Stefan Heidenreich in diesem Buch an.
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Hier liegt eine interessante Verwandtschaft mit der Vorstellung einer „ressourcenbasierten Wirtschaft“ vor. Diese beruht auf einer Zukunftsvision, die durch den Film Moving Forward (2011) von Peter Joseph (geb. 1979) aus der Zeitgeist-Reihe bekannt geworden ist. Sie steht in engem Zusammenhang mit dem Venusprojekt des Visionärs Jacque Fresco (geb. 1916) und wird von der Zeitgeist-Bewegung vertreten. Die Verwaltung der Ressourcen kann entsprechend diesen Vorstellungen „durch elektronisches Echtzeit-Feedback aus allen Ressourcensektoren des Planeten erreicht werden, das in eine Hauptcomputerdatenbank eingespeist wird, die jede wachsende Knappheit oder jedes aufkommende Problem überwacht“ (Joseph, Meadows & Fresco 2009, S. 32). Da in Geld lediglich ein „Auskunftsmittel“ unter Bedingungen der Knappheit und unentwickelten Technologie gesehen wird, gäbe es nun „keine logische Grundlage mehr für die Tradition von Arbeit gegen Geld und Geld gegen Ressourcen“ (ebd., S. 30). Der Begriff „ressourcenbasierte Wirtschaft“ formuliert genau die Alternative zur bisherigen geldbasierten Wirtschaft. Mit dem Geld würden auch Entscheidungen von Menschen obsolet: „In einer ressourcenbasierten Ökonomie treffen Menschen keine Entscheidung, sie erlangen sie durch den Gebrauch fortschrittlicher technologischer Werkzeuge in Verbindung mit wissenschaftlicher Methodik. Es gibt keinen ‚republikanischen‘ oder ‚liberalen‘ Weg, ein Flugzeug zu konstruieren … warum sollten wir also diese veralteten Weltanschauungen auf die Gesellschaft anwenden ?“ (Ebd., S. 39)
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3.4 Wesen des Menschen Die Frage nach dem Geld in einer Gesellschaft ist nicht nur eine verwaltungstechnische oder wirtschaftliche. Sie verdeckt die eigentlich wichtigere Frage, wie die Menschen in der Gesellschaft miteinander kooperieren, wie sie ihre Tätigkeiten wechselseitig vermitteln. Debatten über einen geld- oder nichtgeldvermittelten Umgang miteinander verweisen häufig auf unterschiedliche „Menschenbilder“ (siehe dazu auch den Trialog zwischen Habermann, Meretz und Siefkes in diesem Band). Morus und Campanella wollten mit ihren Utopien aufgrund der von ihnen erlebten historischen Umwälzungen die Basis eines stabilen Staats ergründen. Im Verlaufe des 16. Jahrhunderts wurde das Individuum „zunehmend als von destruktiven Leidenschaften angetrieben gesehen“ (Sonntag 1999, S. 103) und damit als störend für die angestrebte Ordnung. Deshalb wurde in den Utopien von Morus und Campanella darauf geachtet, dass die Menschen als gleichartig gelten und dem z. B. auch in ihrer Kleidung entsprechen. Starre, weil stabilisierende Ordnungsstrukturen ermöglichen keine emanzipatorische Individualität, wie wir sie heute erwarten, deshalb können wir uns heute mit diesen Utopien nicht mehr identifizieren. Eine kleine Ausnahme gab es bereits damals. Im Buch Gargantua von François Rabelais (1494 – 1553) wird die Abtei von Thélème dargestellt. Die hier beschriebenen „freie[n] Menschen[n], von Stand und gebildet, die ehrbaren gesellschaftlichen Umgang pflegen, haben von Natur aus einen Antrieb und Ansporn, den sie Ehre nennen, der sie dazu bewegt, allezeit tugendhaft zu handeln, und sie vom Laster abhält“ (Rabelais [1542] 2009, S. 178). Für eine Elite kann hier als Ordensregel gelten: „Tu, was du willst“ (ebd.), und Geld wird selbstverständlich auch nicht benötigt. Viele andere Utopien sehen vor, dass Menschen so erzogen werden müssen, dass sie in der neuen Gesellschaftsordnung vernünftig leben können. Gleichzeitig wird z. B. von Robert Owen in Betracht gezogen, dass Erziehung und auch die Umstände das Verhalten des Menschen bestimmen und letztere deshalb dementsprechend eingerichtet werden müssen. Bei Huxley basiert die Kultur auf buddhistisch geprägten Praxen und Vorstellungen und die Menschen gehen einen „Weg, der von innen heraus zum Glücklichsein führt, durch Gesundheit, Gewahrsein, durch eine veränderte Einstellung der Welt gegenüber; nicht durch die Fata Morgana eines Glücklichseins von außen nach innen, durch Spielzeug und Pillen und Zerstreuung am Fließband“ (Huxley [1962] 1991, S. 254). Der Psychologe B. F. Skinner schilderte in seinem Roman Walden Two das Konzept der Verhaltenskonditionierung im Erziehungsprozess. Eine angewandte „Wissenschaft der menschlichen Verhaltensweisen“ (Skinner [1948] 1976, S. 180) soll auch Politik, die sich auf Machtbestrebungen stützt, ersetzen können. „Unsere Mitglieder tun
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praktisch immer das, was sie tun wollen, was sie sich wählen zu tun; aber wir sorgen dafür, daß sie genau das tun wollen, was für sie und die Gemeinschaft das Beste ist. Ihr Verhalten ist vorgeschrieben, und doch sind sie frei.“ (Ebd., S. 266) Obwohl in den sozialistischen Utopien Arbeit und Erziehung auch eine große Rolle spielen, wird hier stärker vorausgesetzt, dass Arbeit den Bedürfnissen von Menschen entspricht. So entfaltet sich auf dem Roten Planeten von Bogdanow folgender Dialog: „Gibt es denn kein Geld, keine Zeugnisse über die geleisteten Arbeitsstunden oder Ähnliches ? Und keine Arbeitspflicht ?“ – „Nichts dergleichen. Wir leiden keinen Mangel an Arbeitskräften: Die Arbeit ist das natürliche Bedürfnis eines entwickelten, sozial denkenden Menschen, und jede Art maskierten oder offenen Zwangs ist völlig überflüssig.“ (Bogdanow [1907] 1989, S. 61) Ähnlich wird bei del Antonio argumentiert: „Wer nichts tut, ist krank […]. Gesunde, die sich mit nichts beschäftigen, gibt es nicht. Im vernunftbegabten Wesen, dessen Fähigkeiten liebevoll gepflegt werden, liegt doch der Tätigkeitsdrang.“ (del Antonio [1959] 1985, S. 354 f.) Auch auf Anarres bei Ursula Le Guin gilt: „Ein Kind, das frei von Schuld des Besitzertums und der Last wirtschaftlichen Wettbewerbs aufwächst, besitzt den Willen, das zu tun, was notwendig ist, und die Fähigkeit, Freude darin zu finden. Nur nutzlose Arbeit verdunkelt das Herz.“ (Le Guin [1974] 1976, S. 226) In Bogdanows Zukunftsromanen, vor allem im zweiten Werk Ingenieur Menni, wird ausführlich beschrieben, wie sich die Kinder der Revolutionäre von ihren Vätern unterscheiden. Der Vater ist noch geprägt von Alleinsein und Kälte (Bogdanow [1912] 1989, S. 228) – erst im Sohn kann sich „die Persönlichkeit im Menschen“ (ebd., S. 233) herausbilden. Dabei entsteht ein „qualitativ neuer Typus zwischenmenschlicher Verhältnisse – ‚kollegiale Zusammenarbeit‘ –“, der „durch Hervorbringung rationaler Normen, individuelle Freiheit, persönliche Verantwortung, Gleichberechtigung und diskursive kollektive Lösung von Problemen gekennzeichnet ist“ (Soboleva 2008, S. 4). Dass die menschlichen Beziehungen auch unter anderen Eigentumsverhältnissen nicht konfliktfrei verlaufen werden, betont Kim Stanley Robinson, der im Erzählungsband Die Marsianer schreibt: „Menschen sind immer noch Menschen; sie streiten sich, ärgern sich, hassen sich, sind egoistisch und wollen nur mit ihresgleichen oder denen teilen, die sie kennen, falls das mit ‚menschlicher Natur‘ gemeint ist; doch jetzt leben sie in einem ökonomischen Rahmen, in dem sie denjenigen, die sie hassen, annähernd gleich sind und sie nicht auf grobe Weise in finanzieller Hinsicht unterdrücken oder von ihnen unterdrückt werden können.“ (Robinson [1999] 2002, S. 351) Ein neuer Trend, der mit dem Aufstieg der Vision des Transhumanistischen und der real existierenden Praxis von Big Data und Data Mining verwandt ist, sieht die Menschen als unfähig an, die komplexen Prozesse der Produktions-
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welt von morgen überhaupt noch zu verstehen und Entscheidungen zu fällen. Im „Technokommunismus“ der Invasion der Cognoiden von Peter Kempin und Wolfgang Neuhaus ordnen sich diese „künstlichen Bewusstseinseinheiten“ noch „in menschlich bestimmte Prozesse ein“ (Kempin & Neuhaus 2008, S. 755). Aber im Roman Accelerando von Charles Stross sind die Algorithmen bereits „überlegen“ und die Bezeichnung 2.0 in „Wirtschaft 2.0“ steht dafür, dass Menschen sie nicht mehr verstehen (ebd., S. 446), d. h., „die Menschen sind zu geistig minderbemittelten Nutzern intelligenter Instrumente degradiert“ (ebd., S. 352).
3.5 Ohne Geld ist nicht alles besser Wenn es nicht möglich ist, eine höhere Form der Gesellschaft zu entwickeln, kann, wie schon Marx wusste, der Verzicht auf Geld auch nachteilig sein: „Das Geld weggestrichen, würde man […] entweder auf eine niedrigere Stufe der Produktion zurückgeworfen […] oder man würde zu einer höhren fortgehn, worin der Tauschwert nicht mehr die erste Bestimmung der Ware, weil die allgemeine Arbeit, deren Repräsentant [er] ist, nicht mehr nur zur Gemeinschaftlichkeit vermittelte Privatarbeit erschiene.“ (Marx [1857/58] 1983, S. 143) Diese Situation wird geschildert in Reinmar Cunis’ (1933 – 1989) Roman Wenn der Krebsbaum blüht. Nach großen Flucht- und Migrationsbewegungen infolge globaler Umweltkatastrophen finden sich neue Gemeinschaften zusammen, bei denen sich einige „eigenständige kleine Feudalsysteme“ (Cunis 1987, S. 443) herausbilden, zwischen denen wieder mit Naturalabgaben gewirtschaftet wird. In anderen Utopien ohne Geld wird soziale Kontrolle eingesetzt, um Arbeit und Konsum zu regeln, wie bei Russell mit der Geschichte vom „faulen Jack“. Neuartige gesellschaftliche Vermittlungsstrukturen, die die Vermittlungsfunktion des Geldes ersetzen können, müssen also einerseits mit einer möglicherweise aus ökologischen Gründen entstehenden Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Güter umgehen können und andererseits vermeiden, die Regulierung hochkomplexer und globaler Prozessverkettungen neuen fetischartigen Strukturen in Form von digitalen Algorithmen zu überlassen.
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Das Geld ist ein Alien … „Die Vorstellung, dass alles anders hätte kommen können, verschlägt uns die Stimme.“ (Thomä 2007)
Geld gehört nicht zur menschlichen Natur, sondern verhindert wahrhaft menschliche Beziehungen und Gesellschaftsformen. Deshalb haben die Künstler Chris
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Kondek und Christiane Kühl mit ihrem Science-Fiction-Theater mit dem Titel Unser Geld ist ein Alien die Wahrheit auf den künstlerischen Punkt gebracht (Becker 2010). Die vorgestellten Gedankenexperimente zeigen, dass Geld zur Vermittlung von arbeitsteiligen Prozessen nicht mehr gebraucht wird, wenn es keine Knappheit an Gütern zur Bedürfnisbefriedigung mehr gibt. Es gibt zwei Wege, dies zu erreichen: erstens Genügsamkeit und die Einbeziehung aller in eine effektiv organisierte Arbeitswelt und zweitens die Steigerung der Güterproduktion durch technologischen Fortschritt. Die Frühzeit und Blüte des Industriezeitalters schaffte mit ihrem Konsumismus die Genügsamkeit ab, ermöglichte aber noch keine Überflussproduktion. Deshalb kam auch in den utopisch-fantastischen Texten dieser Zeit kaum eine Abschaffung des Geldes vor. Eine Begrenzung des Produktionsvolumens aus ökologischen Gründen wurde nur von Ernest Callenbach und Ursula Le Guin bedacht. Seit der Jahrtausendwende lassen sich zwei gegenläufige Trends beobachten: einerseits die Texte, die aus politischen Bewegungen heraus alternative Utopien entwickeln und die eher durch Argumente als durch Unterhaltung überzeugen wollen, und andererseits actionhaltige Science-Fiction-Romane, die verstärkt auch wirtschaftliche Themen anreißen. Die Utopie-Texte verbildlichen eher schon traditionelle Vorstellungen wie das Mindesteinkommen, sind also nicht besonders innovativ, während die Science-Fiction-Romane wenigstens neuere Trends aus der virtuellen und High-Tech-Welt aufgreifen, aber in Bezug auf die Schöpfung neuer gesellschaftlicher Formen auch keine Kreativität zeigen. Der Grund, warum in vielen Utopien noch Geld oder geldähnliche Vermittlungsformen anerkannt werden, liegt sicher darin, dass nicht allem Geld die Funktion der Unterdrückung anderer Menschen zugesprochen wird. Auch Marx unterschied in diesem Sinne eine „bloße Geldfunktion“ und Geld als Kapital, dem das Klassenverhältnis zwischen Produktionsmitteleigentümern und den doppelt freien Proletariern zugrunde liegt (Marx [1885] 1987, S. 37): „Solange die Operationen gegen das Geld als solches gerichtet sind, ist es bloß ein Angriff auf Konsequenzen, deren Ursachen bestehn bleiben […].“ (Marx [1857/58] 1983, S. 166) Leider konnte bisher weder das eine noch das andere erfolgreich beseitigt werden. An den Optimismus von Bellamy, Bebel oder Bogdanow, bei denen erwartbare gesellschaftliche und technologische Neuerungen auf eine glückliche Zukunft hoffen ließen, ist heute nicht mehr zu denken. Angesichts des verlorenen 20. Jahrhunderts erfüllen mich diese enttäuschten Hoffnungen mit Trauer. Die vorliegenden Texte haben häufig eine erstaunliche Eindringlichkeit: Es hätte vielleicht anders kommen können …
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Vermittlung nach dem Geld
III
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Kritisches zur Geldkritik Christian Siefkes
Die Idee einer Welt ganz ohne Geld ist zweifellos reizvoll, gerade weil eine solche Welt in einem völligen Widerspruch zu unseren Alltagserfahrungen stehen würde. Im Folgenden werde ich diese Idee einer kritischen Prüfung unterziehen. Ich beginne mit einer knappen Betrachtung der Rolle des Geldes in früheren, nichtkapitalistischen Gesellschaften. Dies ist relevant, da so mancher radikalen Kritik am Geld – und an verwandten Phänomenen wie Tausch und Märkten – die Vorstellung zugrunde zu liegen scheint, dass diese Phänomene außerhalb des Kapitalismus entweder unbekannt waren oder nur eine unwichtige Rolle spielten. In den folgenden Abschnitten wende ich mich der Zukunft zu und erörtere Möglichkeiten, Verteilung und Produktion ohne Geld und Tausch zu organisieren – mit kritischer Betrachtung der Schwierigkeiten und Beschränkungen, die sich aus solchen Ansätzen ergeben würden. Meine Sicht auf die Möglichkeit einer Welt ohne Geld hat sich, unter anderem in dem die Entstehung dieses Buchs begleitenden Diskussionsprozess, gewandelt. Während ich sie früher als wünschenswerte und grundsätzlich machbare Utopie auffasste (z. B. Siefkes 2013), sehe ich inzwischen fundamentale Probleme, für die bislang meiner Einschätzung nach keine überzeugenden Lösungsperspektiven bekannt sind. Gleichzeitig erscheinen mir Kritiken, die eine Abschaffung des Geldes als notwendiges Element einer besseren Gesellschaft betrachten, inzwischen analytisch falsch oder jedenfalls nicht hinreichend begründet zu sein, da sie spezifische Funktionsprinzipien von Geld und Tausch innerhalb des Kapitalismus fälschlicherweise für universell – für mit Geld und Tausch zwingend verbunden – halten.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_8
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Christian Siefkes
Ist das Geld ein im Wesentlichen kapitalistisches Phänomen ?
Die Vorstellung einer „Gesellschaft nach dem Geld“ impliziert, dass Geld ein historisches Phänomen von begrenzter Dauer ist. Alle von Menschen verwendeten Werkzeuge (in einem weiten Sinne) sind irgendwann entstanden. Grundsätzlich ergibt es Sinn, sich darüber Gedanken zu machen, unter welchen Umständen sie künftig wieder verschwinden können und ob dann etwas anderes an ihre Stelle treten oder aber ihre Funktion komplett überflüssig werden würde. Spekulieren ließe sich etwa über eine „Gesellschaft nach dem Auto“, in der die heute unter anderem von Automobilen erfüllte Funktion (der Transport von Personen und Dingen) vollständig von anderen Arten von Fahrzeugen übernommen wird (z. B. Bahnen, Fahrrädern und Drohnen). Dabei muss man allerdings auch begründen, warum man es für plausibel hält, dass eine solche Entwicklung eintreten wird. Noch sehr viel spekulativer wäre eine gedachte „Gesellschaft nach dem Fahrzeug“, in der alle Arten von Fahrzeugen (inklusive Luftfahrzeugen) verschwunden sind, weil Personen und Dinge stattdessen auf andere Weise von einem Ort zum anderen kommen – beispielsweise durch das aus Star Trek bekannte Beamen. Spekulativ ist das vor allem deshalb, weil heute völlig unklar ist, ob solche Technologien überhaupt entwickelt werden können – und wenn ja, ob sie hinreichend sicher, praktisch und unaufwendig wären, um Fahrzeuge aller Art obsolet zu machen. Denkt man über eine „Gesellschaft nach X“ nach, muss man also zum einen klarmachen, was man mit X genau meint, und zum anderen, warum und unter welchen Umständen man erwartet, dass X eines Tages verschwinden wird. Zur konkreten Frage, was mit Geld gemeint sein könnte, hilft dabei zunächst der Blick in eine Standardquelle wie das Gabler Wirtschaftslexikon (2017): „Geld ist das allgemein anerkannte Tausch- und Zahlungsmittel, auf das sich eine Gesellschaft verständigt hat.“ Diese Definition ist meinem Verständnis nach gut genug, um damit weiterzuarbeiten. Ihr zufolge ist jedes „allgemein anerkannte Tausch- und Zahlungsmittel“ Geld. Eine Gesellschaft nach dem Geld wäre also keine, in der das heutige Geld (wie Dollar, Euro) durch ein anderes allgemein anerkanntes Tausch- und Zahlungsmittel ersetzt wird. Stattdessen würde sie gar keine Tausch- und Zahlungsmittel mehr brauchen (oder jedenfalls keine allgemein anerkannten). Nicht jede als geldfrei gedachte Gesellschaft erfüllt diese Voraussetzung. In einer „Reputationsökonomie“, wie sie etwa von Cory Doctorow ausgemalt wurde,1 wird Reputation zwar auf andere Weise erworben als heute Geld, sie wird aber 1
Zu utopischer Literatur siehe den Beitrag von Schlemm in diesem Band.
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ebenfalls für den Erwerb konkret-nützlicher Güter eingesetzt und übernimmt so die Rolle eines allgemeinen Tausch- und Zahlungsmittels. Der zitierte Lexikonartikel erkennt zwar das Geld als ein Phänomen von begrenzter historischer Dauer an, scheint den Tausch jedoch mehr oder weniger universell zu setzen: „Der Übergang von der Naturaltausch- zur Geldwirtschaft begann mit der zunächst lokalen Gewohnheit, durch die Einigung auf ein Zwischentauschgut den zuvor simultanen Austausch zweier Leistungen in getrennte Vorgänge des Kaufs und Verkaufs zu zerlegen.“
Gemäß dieser ahistorischen Vorstellung haben die Menschen immer schon das ausgetauscht, was sie zuvor offensichtlich unabhängig voneinander produziert hatten; das Geld entstand dann als clevere „Gewohnheit“, diese Tauschakte durch Verwendung eines allgemein akzeptierten „Zwischentauschguts“ zu erleichtern.2 Ähnlich falsch wie die ahistorische Idee einer prämonetären Naturaltauschwirtschaft (die durch den „Umstieg“ auf Geld erst so richtig praktisch wurde) wäre allerdings die umgekehrte Vorstellung, wonach die Menschen in vorkapitalistischen Gesellschaften generell glücklich und geldfrei gewirtschaftet und sich Geld und Märkte erst mit dem weltweiten Siegeszug des Kapitalismus verbreitet hätten. Diese Vorstellung wird zwar selten explizit geäußert, scheint jedoch so mancher radikalen Kapitalismuskritik zugrunde zu liegen.3 Um die historische Rolle von Geld und Märkten besser zu verstehen, ist ein genauerer Blick auf nichtkapitalistische Produktionsweisen unabdingbar.
1.1 Geld, Tausch und Märkte in subsistenzorientierten und Bauernökonomien Der Wirtschaftsethnologe George Dalton – ein Polanyi-Schüler, der kaum einer unkritischen Verallgemeinerung kapitalistischer Verhältnisse verdächtigt werden kann – stellt fest: „[E]very society […] has an economy of some sort because personal and community life require the structured provision of material goods and services.“ (Dalton 1971, S. 25) Dieser Prozess wird niemals dem Zufall überlas2 3
Zur Kritik derartiger Vorstellungen siehe die Beiträge von Lohoff und von Aufderheide-Kohl in diesem Band. So schreibt Habermann (2014, o. S.): „Ohne Kapitalismus [brauchen wir] keine Finanzmärkte, keine Erwerbsarbeit und kein Geld“. Dies suggeriert, dass die drei genannten Phänomene ihre Existenzberechtigung rein aus spezifisch kapitalistischen Prozessen ziehen und somit weder vor noch nach dem Kapitalismus eine nennenswerte Rolle spiel(t)en.
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sen, weil schnell Not und Tod drohen würden, wenn er zu schlecht oder gar nicht funktioniert (ebd., S. 31). In diesem Sinne ergibt es also auch in Bezug auf vor- oder nichtkapitalistische Gesellschaften Sinn, von „Ökonomie“ oder „Wirtschaft“ zu sprechen. Gemeint ist damit dieser strukturierte Versorgungs- und Vorsorgeprozess, den es in jeder Gesellschaft gibt, der aber nur im Kapitalismus die besondere Form einer Vielzahl privater, auf Profitmaximierung abzielender und gegeneinander konkurrierender Unternehmen annimmt. Weiter stellt Dalton (ebd., S. 31 f.) fest, dass es zwar nicht in allen, aber doch in den allermeisten Ökonomien Außenhandel, Märkte, gewisse Formen von Geld und irgendeine Art von Buchführung (accounting devices) gibt – soviel zur Idee des Geldes als spezifisch kapitalistischem Phänomen. Doch zugleich betont er, dass sich diese Institutionen oft bloß oberflächlich ähneln – aus ihrer Existenz dürfe man keineswegs folgern, dass solche oft ganz unterschiedlichen Ökonomien „im Grunde“ auf die gleiche Art und Weise funktionieren wie die heutige. Dies ist eine Absage sowohl an unzulässig verallgemeinernde Neoklassikerinnen4 als auch an Markt- und Kapitalismuskritiker, die Märkte, Geld und Buchführung für untrügliche Merkmale der spezifisch kapitalistischen Produktionsweise halten. Zwar gibt es klare Unterschiede zwischen verschiedenen Produktionsweisen, doch sind diese subtiler, als man denken könnte. Ein Unterschied ist etwa, dass Außenhandel in subsistenzorientierten Ökonomien nur für den Import von lokal nicht verfügbaren Gütern verwendet wird, während er in der kapitalistischen Weltwirtschaft nach dem Kostenminimierungsprinzip (least-cost principle) erfolgt (ebd., S. 58). Ein anderer wesentlicher Unterschied ist, dass in subsistenzorientierten Ökonomien traditionell nur Produkte (produced material items) auf Märkten ange boten werden. Märkte für Arbeitskraft und Land fehlen hingegen oder spielen nur eine unbedeutende Rolle. Die meisten Menschen sind nicht auf erfolgreiche Markttransaktionen angewiesen, um ihren täglichen Lebensunterhalt zu sichern – dafür sorgt stattdessen Subsistenzproduktion im Rahmen kleiner Gruppen (ebd.). Im Kapitalismus stehen Individuen, Haushalte und Firmen vor zahllosen Wahlmöglichkeiten – welche der unzähligen Waren sie kaufen, auf welchen Beruf sie sich spezialisieren, welche Warenarten sie herstellen und welche Technologien sie dafür einsetzen. Viele dieser Wahlmöglichkeiten nehmen die Form monetärer Berechnungen an, oder diese spielen dabei zumindest eine gewisse Rolle (ebd., S. 78). In Subsistenzökonomien sind die Wahlmöglichkeiten hingegen viel geringer – weil man in erster Linie für den Eigenbedarf produziert und weil die bestehenden ökologischen und technologischen Rahmenbedingungen mit nur wenig entwickelter Technik oft kaum Alternativen lassen. Aber auch denkbare Alterna4
Ich verwende weibliche und männliche Formen zufällig im Wechsel.
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tiven werden meist nicht beschritten, weil es genaue Konventionen des Üblichen gibt, von denen die Einzelnen nicht abweichen, weil das in ihrem Umfeld für Irritationen sorgen würde und weil es unter Umständen die Erfüllung von sozialen Erwartungen (etwa zur Mitversorgung von Verwandten) unmöglich machen würde (ebd.). Zudem sind traditionelle Ökonomien meistens sehr kleinteilig – nur einige hundert oder tausend Menschen hängen in ihren ökonomischen Interaktionen eng zusammen. Daneben gibt es zwar oft Außenhandel oder rituelle Austauschbeziehungen zu externen Gruppen, doch spielt dieser nur eine Nebenrolle. „Klein“ sind diese Ökonomien auch in Bezug auf die sehr begrenzte Anzahl der produzierten Güter. Oft spielen eine oder zwei essenzielle Güterarten (z. B. Süßkartoffeln oder Rinder) eine zentrale Rolle im Leben der Menschen; diese werden in Subsistenzproduktion innerhalb eines Dorfs oder einer Großfamilie (lineage) hergestellt. Dazu kommen einige Dutzend anderer Arten von Gütern oder Dienstleistungen, die nur gelegentlich gebraucht und gegebenenfalls von Spezialistinnen erworben werden (ebd., S. 90). Eine andere Produktionsweise bezeichnet Dalton (ebd., S. 95) als „traditio nelle Bauernökonomien“; dazu gehören etwa die europäische Landwirtschaft im Mittelalter und das russische Mir (Dorfgemeinschaft). Hier existieren Subsistenzproduktion für den Eigenbedarf und Produktion für den Markt nebeneinander. Viele Menschen erzielen durch Verkauf auf dem Markt einen wesentlichen Teil ihres Lebensunterhalts. Auch Land, Arbeitskraft, Werkzeuge und andere Produktionsmittel können gegen Bezahlung gekauft bzw. gemietet werden, doch sind diese Spezialmärkte meistens begrenzt. Die meisten Familien bearbeiten ihr eigenes Land und machen viele ihrer Werkzeuge selbst; Lohnarbeit existiert, aber die meisten Menschen sind keine Lohnarbeiterinnen. Da kaum jemand zur Sicherung des Lebensunterhalts ausschließlich auf den Markt angewiesen ist, fehlt die erbitterte Konkurrenz um Marktanteile und damit die Notwendigkeit, möglichst effizient zu produzieren und möglichst viel zu verkaufen. Sowohl in traditionellen Bauern- wie in subsistenzorientierten Ökonomien werden also Produkte gehandelt, aber Produktionsfaktoren wie Land und Arbeitskraft nicht oder nur sporadisch. Märkte sind vorhanden, werden aber nicht so universell genutzt wie im Kapitalismus. Land wird stattdessen oft nach Statusprinzipien verteilt, so traditionell in vielen afrikanischen Bantu-Gesellschaften, wo jeder Haushalt Anspruch auf eine bestimmte Fläche Land hat. Dieses Land kann verliehen, aber nicht verkauft werden; gibt der Haushalt es auf, fällt es an die Gemeinschaft zurück. Das Recht auf die Arbeit anderer erhält man in der Regel nicht durch die Beschäftigung von Lohnarbeitern, sondern durch Verwandtschaftsbeziehungen (Familienmitglieder arbeiten mit) und Reziprozität (bei großen Vorhaben arbeiten alle Familien zusammen; ebd., S. 127 f.).
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Traditionell spielten Märkte in Afrika nur eine Nebenrolle, der Großteil der Produktion wurde mittels Reziprozität (Gegenseitigkeit) und Redistribution (wörtlich: Umverteilung) organisiert (ebd., S. 134). Diese Abgrenzung unterschiedlicher Produktionsprinzipien geht auf den Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi (1978) zurück, der zwischen Marktaustausch (market exchange), Redistribution und Reziprozität unterscheidet. Redistribution bedeutet, dass eine zentrale politische Autorität bestimmte Abgaben einfordert und die so gewonnenen Mittel gemäß politischer Entscheidungen ausschüttet. Meistens spielen alle diese Prinzipien (oder mindestens zwei der drei) in der gesellschaftlichen Organisation eine Rolle, verschiedene Gesellschaften unterscheiden sich jedoch darin, in welchem Verhältnis die Prinzipien zueinander stehen und welches von ihnen dominiert. Heute ist der Marktaustausch dominant, doch steuerfinanzierte staatliche Dienstleistungen (Schulen, Feuerwehr, Militär, Sozialhilfe) basieren auf dem Redistributionsprinzip und private Haushalte funktionieren nach dem Prinzip der Gegenseitigkeit. Gegenseitigkeit darf dabei nicht mit „Freiwilligkeit“ verwechselt werden, sondern basiert auf klaren gesellschaftlichen Regeln (Dalton 1971, S. 27, 53). Auch heute ist es kaum vorstellbar, dass man nach Erhalt eines Geburtstagsgeschenks mit leeren Händen zur nächsten Geburtstagsfeier des Schenkers kommt oder dass man Personen, die beim eigenen Umzug geholfen haben, bei ihrem nächsten Umzug ohne guten Grund die Hilfe verweigert. Da es in vielen Gesellschaften Märkte für bestimmte Produkte gab, ohne dass aber der Marktaustausch das gesellschaftlich dominierende Prinzip war, unterscheidet Dalton (ebd., S. 144) zwischen Marktplätzen (market places) einerseits und Marktprinzip oder Marktmechanismus (market mechanism) andererseits. Marktplätze sind konkrete Orte, an denen ge- und verkauft wird, während der Marktmechanismus dafür sorgt, dass fast alles – inklusive Arbeitskraft und Rohstoffen – zu Marktpreisen gehandelt wird, und zwar unabhängig von bestimmten Orten. Während ein Wochenmarkt ein konkreter Ort ist, ist der „Arbeitsmarkt“ eine gesellschaftliche Institution. Im feudalistischen Europa gab es Märkte (insbesondere in den Städten) für einige Produktarten (insbesondere Lebensmittel), jedoch kein Marktprinzip – Land und Arbeitskraft wurden selten verkauft. Das Land wurde stattdessen per Redistribution in Abhängigkeitsbeziehungen zugänglich gemacht – Feudalherren vergaben Land zur Bearbeitung und verlangten im Gegenzug Abgaben in Form von Naturalien oder Arbeitsdiensten (ebd., S. 223). Das Recht eines Lehensnehmers auf die Bearbeitung des Landes bestand in aller Regel lebenslang – sofern die geforderten Abgaben erbracht wurden – und konnte auch vererbt, aber nicht verkauft werden. Der Zugang zu Arbeitskraft erfolgte nach dem Prinzip der Reziprozität – die ganze Familie arbeitete mit und zu besonderen Anlässen wie der Ernte
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halfen sich alle Familien gegenseitig aus. Gelegentlich wurden auch Tagelöhner bezahlt, doch das war eher die Ausnahme (ebd., S. 226 f.). Jedoch können Marktplätze auch in Gesellschaften, in denen das Marktprinzip nur eine Nebenrolle spielt, für die Käuferinnen von großer Bedeutung sein, weil sie manche Güter nur auf dem Markt erwerben können (ebd., S. 150). Die Schlussfolgerung, dass ohne Marktprinzip auch Marktplätze und bezahlte Transaktionen bloß entbehrliches Beiwerk waren, wäre also falsch. Der Außenhandel (external trade) war eine andere Form des Tausches, die es in praktisch jeder Gesellschaft gab, unabhängig davon, ob Märkte und Geld ansonsten eine gesellschaftliche Rolle spielten. So wurde der Außenhandel im vorkapitalistischen Afrika oft von den „Staaten“ bzw. politischen Machthaberinnen durchgeführt; es gab dann keinen Markt im strengen Sinne, da es an unabhängigen Käufern und Verkäufern mangelte. Oft wurden hierbei Güter gegen andere Güter eingetauscht, da es kein allgemeines Geld gab, das beide Seiten anerkannt hätten (ebd., S. 154). In dieser Hinsicht entsprach der Außenhandel tatsächlich der vom wirtschaftswissenschaftlichen Narrativ herbeifantasierten „Naturaltauschwirtschaft“, doch handelte es sich dabei nur um ein kleines, wenn auch essenzielles, Segment in Produktionsweisen, die ansonsten nach anderen Regeln funktionierten.
1.2 Nichtkapitalistische Geldwirtschaften Während Dalton sich vor allem mit stark subsistenzorientierten Gesellschaften mit einem geringen Ausdifferenzierungsgrad der Arbeitsteilung beschäftigt, gibt es Gesellschaften, die schon vor Jahrtausenden ein hohes Maß an Arbeitsteilung erreichten und in denen vielen Menschen in Städten lebten. (Städte sind Orte, in denen keine subsistenzorientierte Nahrungsmittelproduktion möglich ist, sodass dieser fürs Überleben entscheidende Bereich auf andere Weise organisiert sein muss.) Beispiele dafür sind China und das Römische Reich. Einen guten Einblick in die chinesische Gesellschaft vor Entstehung des Kapitalismus bietet der klassische chinesische Abenteuerroman Die Räuber vom LiangSchan-Moor (englische Übersetzung: Shi & Luo 1988). Dieser im 14. Jahrhundert geschriebene Roman spielt im 12. Jahrhundert. Auch wenn die Romanhandlung fiktiv ist, dürfte das Buch ein recht treffendes „Sittenbild“ der damaligen Gesellschaft zeichnen. Es beschreibt eine Gesellschaft, in der es Märkte, Tavernen und Gasthäuser gibt, Vermieter von Wohnungen, Straßenverkäufer und Prostituierte. Wer nicht in Erscheinung tritt, sind kapitalistische Unternehmer, die gezielt Geld in mehr Geld verwandeln wollen. Die „wichtigen“ Personen, die den Großteil der Handlung bestreiten, sind hingegen (fast durchweg männliche) Beamte,
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die vom Staat bezahlt und zusätzlich durch Bestechung reicher werden, oder aber Räuber, die ihre eigene klar hierarchische Kommandostruktur haben – eine Art inoffizieller Staat gegen den Staat. Reichtum und seine Vermehrung sind wichtig, doch niemand, der etwas auf sich hält, würde zur Mehrung seines Reichtums ein Unternehmen gründen oder in eines investieren. Die am höchstens geschätzten Personen sind reich, halten ihr Geld aber nicht zusammen, sondern geben es mit offenen Händen aus, um allen Bedürftigen zu helfen (vgl. z. B. Shi & Luo 1988, Bd. 1, S. 280).
1.3 Geld und Märkte machen noch keinen Kapitalismus Dieser kurze historische Rückblick zeigt, dass Geld, Märkte und Kapitalismus keineswegs so eng zusammenhängen, wie aus radikal kapitalismuskritischer Perspektive manchmal unterstellt wird.5 Dies betont auch die marxistische Historikerin Ellen Wood (2002, Kap. 4), die ebenfalls darauf hinweist, dass Handel und Geld in vielen vorkapitalistischen Gesellschaften zu finden sind. Doch erst da, wo sich der Zwang durchsetzt, gegen andere konkurrieren und diese nach Möglichkeit unterbieten zu müssen, entstehen Wood zufolge kapitalistische Strukturen. Auch in mittelalterlichen Städten spielten Geld und Handel eine große Rolle, doch da Preise und das Recht zur Ausübung eines Gewerbes durch Gilden oder die Regierung reguliert wurden, war es weder möglich noch notwendig, andere „niederzukonkurrieren“. Zu Recht verweist Andreas Exner (2010) auf die Unterscheidung zwischen „Wirtschaften mit Märkten“ (im Sinne von Marktplätzen) einerseits, die es schon lange und in vielen Formen gab, und der „Marktwirtschaft“ andererseits. Nur in Letzterer wird fast alles, insbesondere auch die Arbeitskraft der meisten Menschen und ein Großteil des nutzbaren Landes, ge- und verkauft, das heißt, in ihr dominiert das Marktprinzip. Bislang gab es nur eine Form von Marktwirtschaft in diesem umfassenden Sinne, nämlich die kapitalistische. Insofern ist Exner zuzustimmen, wenn er schreibt: „Marktwirtschaft und Kapitalismus gehören zusammen.“ Eine Gesellschaft ohne Geld wäre aber logischer Weise auch eine ohne Marktplätze – Geld und Märkte (in beiden Wortsinnen) dürften überhaupt keine Rolle mehr spielen. Hier macht der historische Rückblick skeptisch, denn eine gewisse Rolle haben Geld, Marktplätze und andere Formen des Tauschens (wie ein regulierter Außenhandel) bisher in den meisten Gesellschaften eben doch gespielt. Gleichzeitig zeigt der Rückblick, dass es zwischen kapitalistischer Marktwirtschaft einerseits und Gesellschaften ganz ohne Geld und Märkte andererseits noch zahl5
Siehe Fußnote 3.
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reiche andere Möglichkeiten gibt. Eine Aussage wie „wer den Kapitalismus (und seine Grausamkeiten) überwinden will, muss auch auf Geld und Märkte verzichten“ steht im Widerspruch zur realen Vielfalt möglicher Produktionsweisen, die historisch auftraten oder denkbar sind – sie macht ein falsches Dilemma auf. Oft liegt Kritiken des geldbasierten Wirtschaftens zudem die Vorstellung zugrunde, dass das, was früher möglich war, auch in Zukunft wieder funktionieren könnte. So erklärt Thomas Herzig (2011, o. S.): „Zunächst einmal ist die geldlose Gesellschaft gar keine Utopie. Sie hat seit dem Erscheinen des Homo Sapiens vor ca. 160 000 Jahren die meiste Zeit nachhaltig funktioniert.“ Solche Vorstellungen sind nicht nur ungenau, sie gehen auch von Voraussetzungen aus, die sich von der heutigen Situation stark unterscheiden. Die Bevölkerungsdichte war früher sehr viel geringer. Zwar ist der Kapitalismus heute nicht in der Lage, sieben Milliarden Menschen „nachhaltig“ zu versorgen – vielen fehlt es am Nötigsten, während zugleich die Erde systematisch übernutzt wird. Jedoch brauchten frühere Gesellschaften, insbesondere die tatsächlich geldfreien Jäger-und-Sammler-Kulturen, ein Vielfaches der heute zur Verfügung stehenden Flächen pro Person. Da die sieben Milliarden nicht einfach verschwinden werden, ist ein direktes Zurück zu vorkapitalistischen Produktionsweisen schon deshalb undenkbar. Ein anderer wesentlicher Unterschied ist die von Dalton (1971) betonte stark gestiegene Komplexität. Diese umfasst einerseits die zahlreichen produzierten Güter (Waren), die die Menschen konsumieren können (sofern und soweit sie bezahlen können). Andererseits umfasst sie die extrem ausdifferenzierte Arbeitsteilung, die zahlreiche unterschiedliche Berufe hervorgebracht hat. Heute ist diese Komplexität geldvermittelt: Alle können zwar selbst entscheiden, was sie konsumieren, jedoch nur solange sie es bezahlen können – das Geld ist das Verteilungsmittel schlechthin. Gleichzeitig spielt Geld eine essenzielle Rolle im Produktionsprozess: Firmen produzieren, um Profite zu machen, sprich: Geld in mehr Geld zu verwandeln, und Menschen gehen gegen Bezahlung arbeiten. Trotz aller ideologischen Überhöhung von Arbeit als Lebenssinn dürfte den meisten doch klar sein, dass sie das vor allem zum Zwecke des Geldverdienens machen. In einer geldfreien Gesellschaft müssten Produktion und Verteilung vollständig auf andere Weisen organisiert werden – wie aber könnte das gehen und was wären die Konsequenzen ? Im Folgenden sollen beide Aspekte – Produktion und Verteilung – zunächst getrennt voneinander betrachtet werden, wobei aber klar ist, dass sie nicht unabhängig sind. Ich starte mit der Verteilung – obwohl sie als nachrangig erscheinen mag –, weil die Diskussion möglicher Verteilungsmodi Pro bleme aufzeigt, die bei einer produktionsorientierten Betrachtung nicht erkennbar sind.
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Verteilung ohne Geld ?
Heute funktioniert die Verteilung sehr vieler Güter über Geld. Wer ein Gut erwerben möchte, zahlt den dafür berechneten Preis und erhält im Gegenzug Zugang. Manchmal erhält man dabei volle Eigentumsrechte – inklusive des Rechts, das Gut nach eigenem Gutdünken und zu einem frei aushandelbaren Preis an andere weiterzuverkaufen –, manchmal nur begrenzte Nutzungsrechte. Wie könnte all das ohne Bezahlung funktionieren ? Eine Möglichkeit ist die Entnahme nach Bedarf, wobei es hier wiederum zwei Alternativen gibt, je nachdem, wie „Bedarf “ definiert wird. Entscheidet jeder Mensch subjektiv und nach eigenem Gutdünken oder wird der Bedarf durch gesellschaftliche Institutionen gemäß objektiv formulierten Kriterien festgestellt ? Im letzteren Falle handelt es sich um eine Verteilung gemäß gesellschaftlich festgestellter Bedürftigkeit. Heute funktioniert in Deutschland und anderen europäischen Staaten etwa die gesetzliche Krankenversicherung weitgehend auf diese Weise. Medizinisch notwendige und von einer Ärztin verschriebene Behandlungen werden von der Krankenkasse gezahlt und somit auf alle Versicherten umgelegt; dem Empfänger der Leistung entstehen dabei keine oder nur geringe Kosten. Wenn stattdessen jeder Mensch subjektiv entscheiden kann, handelt es sich um freie Entnahme (oder Nutzung) nach Lust und Laune. Heute funktioniert etwa der Zugang zu öffentlichen Parks und Straßen auf diese Weise. Dieses Modell klingt aus „kommunistischer“ Perspektive ideal, hat aber den offensichtlichen Nachteil, dass es nur funktioniert, wenn genug von dem fraglichen Gut vorhanden ist, um alle Bedürfnisse danach zufriedenzustellen. Das führt zur Frage einer geldfreien Produktion, auf die ich später zurückkommen werde. Aber unabhängig von dem konkreten Produktionsmodus dürfte klar sein, dass sich ein Nachfrageüberhang (mehr Menschen würden ein bestimmtes zum „Preis null“ verfügbar gemachtes Gut gerne nutzen als entsprechende Güter vorhanden sind) bei materiellen Gütern und Dienstleistungen nicht generell und in allen Fällen vermeiden lassen dürfte. Dafür sorgt schon die Endlichkeit der Erde und ihrer Ressourcen. Anders sieht es bei Informationsprodukten aus – sobald diese erst einmal da sind, lassen sie sich tatsächlich mit beliebig vielen weiteren Nutzerinnen teilen, wobei sich der zusätzliche Ressourcenverbrauch sehr in Grenzen hält. Für Informationsprodukte erscheint deshalb freie Nutzung nach Lust und Laune der adäquate Verteilmodus, womit die Frage nach ihrer Produktion freilich noch nicht beantwortet ist. Wie aber können materielle Güter und Dienstleistungen verteilt werden, wenn es zu einem Nachfrageüberhang kommt ? Eine Möglichkeit, diesen aufzulösen, ist, den Produzenten die Entscheidung zu überlassen, wer die vorhandenen Güter bekommt. In diesem Fall könnten die Produzentinnen die Güter beispielsweise an
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die zahlungswilligsten potenziellen Kunden verkaufen – das wäre aber die geld basierte Lösung, die für eine Gesellschaft nach dem Geld somit nicht infrage kommt. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Produzentinnen in erster Linie für sich selbst, für ihren kollektiven Eigenbedarf produzieren. Nur falls darüber hinaus noch etwas übrig bleibt, wird es an andere verteilt. Das wäre eine Rückkehr zur Subsistenzproduktion. Eine postkapitalistische Subsistenzproduktion würde sich von einer präkapitalistischen allerdings stark unterscheiden, da sie zweifellos auf viele der heute bestehenden technischen Möglichkeiten zurückgreifen würde – ich habe sie deshalb als „High-Tech-Subsistenz“ bezeichnet (vgl. Kratzwald 2014, S. 122). Wurden in traditioneller Subsistenzproduktion vor allem Nahrungsmittel, Kleidung und Wohnraum bereitgestellt, würde eine High-Tech-Subsistenzproduktion dank moderner Produktionsmethoden wie 3-D-Druck auch zahlreiche andere Güter herstellen können. Dabei müsste sie aber auch in der Lage sein, diese modernen Produktionsmethoden selbst komplett dezentral zu reproduzieren. Inzwischen erscheint es mir zweifelhaft, ob Subsistenzproduktion in kleinen Gruppen eine wünschenswerte Basis für eine postkapitalistische Gesellschaft sein kann. Natürlich ist es denkbar, dass es (ob gewünscht oder nicht) zu solch einem Szenario kommt, wenn die hochgradig vernetzte und extrem komplexe kapitalistische Produktionsweise katastrophal zusammenbricht und kleinen Gruppen von „Überlebenden“ gar keine andere Wahl bleibt, als auf ihre eigenen, lokalen Ressourcen und Fähigkeiten zurückzugreifen. Ob es dann allerdings noch Computer und zuverlässige Stromquellen als unabdingbare Voraussetzungen für HighTech-Lösungen wie 3-D-Drucker geben würde, ist fraglich – vermutlich würde eine „Post-Kollaps-Gesellschaft“ (Heimrath 2012) eher auf eine erzwungene LowTech-Subsistenz zurückgeworfen. Aber selbst wenn High-Tech-Subsistenz eine Möglichkeit bleibt, dürfte eine Produktion in kleinen Gruppen – die sich spontan und geldfrei organisieren können – viele Wünsche offenlassen. Und bei der Kooperation in großen Gruppen stellt sich wiederum die Frage „Wie funktionieren Aufgaben- und Güterteilung ohne Geld, Zwänge oder ausufernde Bürokratie ?“, die sich bei Subsistenzproduktion im Kleinen noch relativ einfach lösen lässt. Zwar könnte eine High-Tech-Subsistenz wohl deutlich vielfältiger produzieren als traditionell möglich, doch an die kapitalistische Produktvielfalt dürften solche Gruppen nicht annähernd herankommen. Die Wundermaschine, die auf Knopfdruck „alles“ produzieren kann und dafür weder schwer zu bekommende Vorprodukte noch aufwendige Nachbearbeitungsschritte erfordert, steht bislang und wohl auch in absehbarer Zukunft nicht zur Verfügung. Zudem haben sich 3-DDrucker und ähnliche für dezentrale High-Tech-Subsistenz interessante Maschinen bislang vor allem bei der Produktion von Prototypen und individualisierten
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Einzelstücken bewährt. Wo Produkte in größeren Stückzahlen gebraucht werden, ist industrielle Massenproduktion nach wie vor effizienter. Somit droht die Subsistenzperspektive, selbst in ihrer High-Tech-Variante, eine Lebensweise „zweiter Wahl“ zu bleiben: Wer im Kapitalismus noch einen einigermaßen gut bezahlten Job findet, für den dürfte die große Produktvielfalt an kostengünstig produzierten Massenwaren in aller Regel attraktiver sein. Nur für Aussteigerinnen und diejenigen, die auf dem kapitalistischen Arbeitsmarkt kein Auskommen mehr finden, könnte eine mehr oder weniger hochtechnisierte Subsistenzproduktion einen Ausweg bieten, der aber einiges an Verzicht und wenig effizientem „Selbermachen“ erfordern würde. Damit eine postkapitalistische Lebensweise sich allgemein verbreiten kann, müsste sie aber so attraktiv sein, dass sie auch von der Mehrheit der Menschen vorgezogen wird, denen der Kapitalismus noch eine ganz annehmbare Perspektive bietet. Diese Voraussetzung dürfte sich nur erfüllen lassen, wenn auch die postkapitalistische Gesellschaft in vielen Fällen in großen Stückzahlen und hochgradig arbeitsteilig produziert, wobei die Produzenten selbst nur einen kleinen Teil der von ihnen gefertigten Güter nutzen wollen. Womit wir zurück auf die Frage nach einer „geldfreien“ Verteilung der restlichen Güter kommen. Eine denkbare Variante wäre eine Art „Vetternwirtschaft“: Die Produzentinnen entscheiden aufgrund persönlicher Bekanntschaft und Sympathie, wer ihre Produkte erhält. Persönliche Beziehungen wären in solch einer Gesellschaft alles; wer einsam und eigenbrötlerisch ist, bleibt arm und stirbt vermutlich auch früh, weil im Krankenhaus vorrangig die Verwandten und Bekannten der Ärztinnen und Pfleger behandelt werden. Insofern wäre es sicherlich keine gesellschaftliche Verbesserung, wenn das Geld durch persönliche Beziehungen ersetzt würde ! Somit bleiben noch Varianten, bei denen nicht die Produzentinnen nach eigenem Gutdünken entscheiden, sondern die Produkte nach einem gesellschaftlich ausgehandelten allgemeinen Modus verteilt werden. Nochmal zur Erinnerung: Es geht nur um den Umgang mit einem Nachfrageüberhang – wo also jemand leer ausgehen würde, wenn sich alle nach Belieben bedienen. Dieses Problem könnte „geldfrei“ auf verschiedene Arten aufgelöst werden, etwa: ■■ First come, first served (FCFS): Alle können sich frei von allen verfügbaren Produkten bedienen, aber wenn die Regale leer sind, hat man eben Pech gehabt. ■■ Los: Wer eine bestimmte Produktart haben will, trägt sich in eine Liste ein; die vorhandenen Produkte werden unter allen Eingetragenen verlost. ■■ Rationierung: Für jede knappe Produktkategorie wird genau festgelegt, wer wie viel davon konsumieren darf, sodass am Ende idealerweise niemand leer ausgeht.
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Obwohl all diese Verfahren grundsätzlich fair sind, ist keines rundherum überzeugend. FCFS sorgt für Stress, weil man bei allen potenziell knappen Gütern darauf achten muss, möglichst rechtzeitig zur Stelle zu sein, wenn die nächste Verteilung ansteht. Zudem ist das Verfahren anfällig für „Vetternwirtschaft“, wenn Informationen darüber, wann es wieder etwas zu verteilen gibt, zunächst von Insidern an Freunde und Bekannte weitergegeben werden. Das Losverfahren ist völlig willkürlich und zudem anfällig für Manipulationen. Man kann die eigenen Chancen erhöhen, indem man Freundinnen bittet, sich ebenfalls um das gewünschte Gut zu bewerben und es im Erfolgsfall weiterzugeben. Und das Rationierungsverfahren würde alle in ein und dasselbe Muster zwängen, ohne auf die Unterschiedlichkeit individueller Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Alle drei Verfahren dürften zudem zur Entstehung eines Schwarzmarktes führen, über den Personen, die eines der knappen Güter bekommen haben, sie an diejenigen weiterverkaufen, die leer ausgingen. Selbst wenn es offiziell kein Geld gibt, dürfte sich dafür eine geeignete Gegenleistung oder Gegengabe finden lassen, sodass ein Tauschhandel zustande kommt, oder eines der knappen Güter übernimmt die Rolle einer Schwarzmarktwährung. Selbst wenn solche Schwarzmarktgeschäfte illegal sein sollten, würden sie sich in einer nichttotalitären Gesellschaft nicht generell verhindern lassen. Auch eine algorithmische Rationierung, wie sie Stefan Heidenreich6 vorschwebt, wäre nicht unbedingt besser. Gemäß Heidenreichs Vorschlag sollen „intelligente“ Computerprogramme entscheiden, wer welche Güter bekommt. Anders als bei den zuvor genannten Verfahren werden nicht alle über einen Kamm geschoren, sondern verschiedene Leute haben individuell unterschiedliche Ansprüche auf Güter. Einerseits können damit die verschiedenen Bedürftigkeiten grundsätzlich besser erfasst werden als bei einem starren Rationierungssystem. Andererseits würden die Menschen damit die Kontrolle über wesentliche Aspekte ihres Lebens komplett an die Computer abtreten. Auch wenn Heidenreich betont, dass die verwendeten Algorithmen ein Ergebnis demokratischer Debatten sein müssen, wäre der individuelle Souveränitätsverlust dennoch erschreckend. Zudem hätten die Verteilungsalgorithmen in solch einer Gesellschaft eine Macht, von der selbst Diktatoren nur träumen können. Somit stellt sich die Frage, wer die Programmiererinnen kontrollieren soll, die diese Algorithmen oder (bei selbstlernenden Algorithmen) zumindest ihr Grundgerüst erstellen, und wie Hacker daran gehindert werden können, die Algorithmen zu ihren Gunsten zu manipulieren. Selbstlernende Algorithmen sind zudem in aller Regel eine „Black Box“ – selbst ihre Programmierer können nicht detailliert nachvollziehen, warum ein Algorith6
Siehe seinen Beitrag in diesem Band.
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mus eine bestimmte Entscheidung getroffen hat. Sollten die Entscheidungen der Algorithmen zu Leid oder offensichtlichen Ungerechtigkeiten führen, wäre es also schwierig, korrigierend einzugreifen. Dieser kurze kritische Überblick über geldfreie Verteilverfahren zeigt, dass die vermeintliche Kur nicht unbedingt besser ist als die Krankheit. Natürlich haben Märkte und Preise gravierende Nachteile, jedenfalls in ihrer kapitalistischen Va riante. Aber dasselbe gilt für die Versuche, auf sie zu verzichten; zudem würde sich der Markt durch die Hintertür vermutlich doch wieder einschleichen. Ohne diese Nachteile käme nur eine genuine Überflussgesellschaft aus – in der es von jedem Gut so viel gibt, dass sämtliche Nachfragen danach befriedigt werden können, selbst wenn es zum „Preis null“ abgegeben wird. Aber wie gesagt, ist eine universelle Überflussgesellschaft keine realistische Perspektive für die absehbare Zukunft, jedenfalls solange die Menschheit die endliche Erde noch nicht hinter sich gelassen hat. Vielleicht ist ein Preissystem also zumindest für manche der Güter, die nicht im Überfluss vorhanden sind, keine schlechte Idee ? Zweifellos nicht für alle – für manches, etwa eine umfassende medizinische Versorgung, ist eine Verteilung gemäß gesellschaftlich festgestellter Bedürftigkeit sinnvoller. Und auch andere Verfahren wie FCFS, das Losverfahren und Rationierung mögen gelegentlich ihre Berechtigung haben. Aber da keines dieser Verfahren frei von Nachteilen ist, braucht es dazu eine gesellschaftliche Debatte. Es gibt keine allgemein „richtige“ Antwort und vermutlich dürfte sich eine gesellschaftliche Mehrheit in manchen Fällen mit guten Gründen für die Verwendung eines Preissystems zur Güterverteilung entscheiden.
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Geldfreie Produktion
Produktion verstehe ich in einer umfassenden Weise, die in Anlehnung an Dalton (1971, S. 25) den Versorgungsprozess mit notwendigen und gewünschten Tätigkeiten und Gütern beinhaltet. Zu Hause Essen kochen oder die Kinder ins Bett bringen ist in diesem Sinne ebenso Produktion wie das Installieren einer Software auf einem Computer oder die Herstellung des Computers. Bei der Frage, wie produziert wird, ist zunächst zwischen Produktion für den erweiterten Eigenbedarf und Produktion für allgemeine andere zu unterscheiden. Mit „erweitertem Eigenbedarf “ ist dabei die Produktion für sich selbst ebenso wie für Verwandte und Bekannte gemeint – für Personen, zu denen eine persönliche Beziehung besteht. Wenn ich für mich oder meine Familie Essen koche oder einem Freund das Fahrrad repariere, ist das erweiterter Eigenbedarf. Baue ich ein Bett oder einen Computer zusammen, ohne zu wissen, wer diese später nutzen
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wird, ist das Produktion für allgemeine andere. Produktion für allgemeine andere kann auch dann stattfinden, wenn diejenigen, für die produziert wird, der Produzentin persönlich bekannt sind, aber zu den meisten Nutznießern der Produktion keine über den Produktionsprozess hinausgehende persönliche Beziehung besteht. Klempnerinnen, Friseure und die meisten anderen Dienstleisterinnen treffen ihre Kunden, und in manchen Fällen erwachsen aus solchen Begegnungen gute Freundschaften, aber die persönliche Beziehung ist in aller Regel nicht ausschlaggebend für die Durchführung der Dienstleistung. Heute ist Produktion für den erweiterten Eigenbedarf meistens unbezahlt und die für allgemeine andere meistens bezahlt, aber beides ist nicht immer so. Wer sich ehrenamtlich etwa in einer Suppen- oder „Volxküche“ engagiert, produziert unbezahlt für allgemeine andere; umgekehrt wird bei regelmäßig wiederholten Tätigkeiten wie etwa Nachhilfe oder Babysitting auch im guten Bekanntenkreis gelegentlich eine Bezahlung vereinbart. Die Produktion für den erweiterten Eigenbedarf ist ein wichtiger Teil des Produktionsprozesses in jeder Gesellschaft, der oft wenig gewürdigt und tendenziell „vergessen“ wird, wie insbesondere Feministinnen zu Recht beklagen.7 Historisch gesehen war diese Produktionsweise in subsistenzorientierten Ökonomien dominant – Subsistenzproduktion ist Produktion in überschaubaren Gruppen für den gemeinsamen Eigenbedarf, was durchaus als Produktion für den erweiterten Eigenbedarf aufgefasst werden kann, da die Gruppe für zumindest lose Beziehungen aller ihrer Mitglieder untereinander sorgt.
3.1 Die Dunbar-Hürde Darin liegt freilich auch die bereits benannte Begrenzung von Subsistenzproduktion: Da sie auf persönlichen Beziehungen aufbaut, funktioniert sie vor allem im Kleinen. Ich bezeichne dies als Dunbar-Hürde, nach der vom Anthropologen Robin Dunbar identifizierten Dunbar-Zahl, die die Anzahl von Personen angibt, zu denen jemand persönliche Beziehungen unterhalten kann. Typischerweise wird die Dunbar-Zahl mit „um die 150“ angegeben, wobei sie individuell zwischen etwa 100 und 250 schwanken kann. Gruppen, die sich durch ein hohes Maß an Subsistenzorientierung und Produktion für den gemeinsamen Eigenbedarf auszeichnen und dabei auf Vermittlungsformen wie Geld oder ausgeprägte soziale Hierarchien verzichten, überschreiten die Dunbar-Zahl fast nie. Nomadische Jäger-und-Sammler-Kulturen – die älteste Gesellschaftsform der Menschheitsgeschichte – leben in Gruppengrößen von 7
Vgl. Kratzwald (2014) und den Beitrag von Habermann in diesem Band.
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selten mehr als 50 Personen zusammen. Moderne Kommunen (intentional communities) wie Twin Oaks in den USA und die Kommune Niederkaufungen in Deutschland überschreiten selten die Größe von 100 Mitgliedern. Auch diejenigen Projekte für Solidarische Landwirtschaft (Solawi, engl. CSA = community-supported agriculture), die die anfallenden Kosten in solidarisch-selbstorganisierten Bieterrunden aufteilen, haben sehr selten mehr als 150 Anteile (wobei ein Anteil zu mehreren Personen, etwa einer Familie, gehören kann, was aber auf die Struktur der Solawi keinen direkten Einfluss hat). Auch Lars Heitmann8 zeigt, dass Projekte, die weitgehend oder komplett auf Geld zu verzichten versuchen, die Dunbar-Hürde nur in den seltensten Fällen überschreiten. Dasselbe gilt für die von Friederike Habermann (2009) beschriebenen „Halbinsel“-Projekte. Meiner Ansicht nach ist das kein Zufall. Kleinere Gruppen können gerade deshalb auf feste Preise und andere Mechanismen zur Kopplung von individuellen Beiträgen (Kosten) und Nutzungen verzichten, weil sie überschaubar genug sind, um alle notwendigen Entscheidungen in direkter Kommunikation zu vereinbaren. Jenseits der Dunbar-Zahl – in Gruppen mit mehreren hundert, tausenden oder mehr Mitgliedern – wird die direkte Kommunikation aller mit allen rasch unmöglich und kein Gruppenmitglied kann noch persönliche Kontakte zu allen anderen Mitgliedern unterhalten. Derartige größere Zusammenhänge jenseits der Dunbar-Hürde dürften aber auch in Zukunft für die Organisation der produktiven Prozesse unentbehrlich sein.
3.2 Zentralplanung ? Bei der Produktion für allgemeine andere, jenseits des persönlichen Bekanntenkreises, lässt sich wiederum zwischen zentraler und dezentraler Koordination unterscheiden. Zentral meint dabei nicht unbedingt die ganze Welt oder ein ganzes Land, wohl aber, dass es für ein bestimmtes geografisches Gebiet einen gesamtgesellschaftlichen Produktionsplan gibt, der (Entnahme- und Nutzungs-)Rechte sowie (Beitrags-)Pflichten aller Einwohner dieses Gebiets verbindlich regelt. Ein solcher Produktionsplan könnte dabei durchaus demokratisch erstellt werden. Aus den konsumtiven und produktiven Wünschen aller wird ein gesamtgesellschaftlicher Produktionsplan erarbeitet, der die unterschiedlichen Wünsche möglichst gut unter einen Hut zu bringen versucht und jeder Person ihren Platz im Produktionsprozess zuweist, bevor er zur Abstimmung gestellt wird. Erst nach bestandener Abstimmung wird der Plan „abgearbeitet“.
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Siehe seinen Beitrag in diesem Band.
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Ob das praktikabel wäre, ist fraglich.9 Aber selbst wenn, würde ein solcher Zentralplanungsprozess den einzelnen keine Freiheit lassen. Wenn er das Geld als Vermittlungsinstrument ersetzen will, müsste der Plan sowohl die Aufgaben (Pflichten) als auch die Konsummöglichkeiten (Rechte) jeder Person festlegen, ohne dass diese dem zwangsläufig zustimmen wird. (Dass eine komplexe Gesellschaft mit Zehntausenden oder Millionen von Mitgliedern irgendeine nicht völlig triviale Entscheidung im Konsens aller Mitglieder verabschiedet, ist praktisch ausgeschlossen).
3.3 Dezentrale Koordination und Gegenseitigkeit Bei dezentraler Koordination entscheiden hingegen die einzelnen Individuen, was sie tun und was sie konsumieren/nutzen möchten, ohne sich darüber zuvor mit allen anderen verständigen zu müssen. Dezentral organisierte Produktion für allgemeine andere bedeutet, dass Einzelpersonen oder Organisationen für andere Personen oder Organisationen produzieren; ebenso kann es vorkommen, dass die Mitglieder einer Organisation gemeinsam nur für sich selbst produzieren. Sieht man vom letzterem Fall zunächst ab (ich werde unter dem Stichwort „Commons“ darauf zurückkommen), fallen Produzenten und Nutznießer der Produktion also auseinander. Die Frage stellt sich dann, ob eine Gegenseitigkeit (Gegenleistung) explizit vereinbart, implizit erwartet oder gar nicht erwartet wird. Keine Gegenseitigkeit erwartet wird etwa von Wohltätigkeitsorganisationen, bei Hobby- und Freizeitaktivitäten, deren Ergebnisse anderen Personen frei zugänglich gemacht werden (wenn etwa ein Hobbychor zu einem kostenlosen Konzert einlädt), sowie bei Akten der Hilfsbereitschaft gegenüber Unbekannten. Bei Geschenken und Gefallen im Freundeskreis wird hingegen eine spätere Gegengabe implizit erwartet, auch wenn man dies nie explizit aussprechen oder gar „einklagen“ würde. Wer einer Freundin beim Umzug geholfen hat, ist enttäuscht, falls diese später ohne Angabe von Gründen die Hilfe beim eigenen Umzug verweigert. Explizit vereinbarte Gegenseitigkeit ist der im Kapitalismus vorherrschende Modus – hier einigen sich zwei Parteien auf einen Vertrag, der Leistung und Gegenleistung festlegt. Nur wenn sich beide Seiten einigen können, kommt die Transaktion überhaupt zustande. Hält sich eine Seite nicht an den ausgehandelten Vertrag, kann die andere ihn (notfalls vor Gericht) einklagen oder eine Rückgabe der von ihr selbst bereits erbrachten Leistungen einfordern. Explizit vereinbarte Gegenseitigkeit muss aber nicht unbedingt einen „Rechtsweg“ kennen; denkbar
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Siehe den Beitrag von Kathöfer und Schröter in diesem Band.
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ist statt eines einklagbaren Vertrags etwa auch eine vor Zeugen geschlossene Vereinbarung. In diesem Fall würde eine Beteiligte, die die Vereinbarung ohne gute Gründe bricht, zumindest bloßgestellt und es würde ihr in Zukunft womöglich schwerfallen, weitere Vereinbarungen mit anderen einzugehen. Als Überbegriff für beides – Verträge mit Rechtsweg und Vereinbarungen ohne – werde ich den Begriff „Abkommen“ verwenden. Das alte römische Recht unterschied zwischen drei Arten von Verträgen (oder, allgemeiner, Abkommen): 1) do ut des: Ich gebe, damit du gibst, z. B. Kaufverträge, Mietverträge oder Kredit (eine Partei gibt jetzt eine gewisse Geldsumme, die andere zahlt später mehr zurück). 2) do ut facias: Ich gebe, damit du machst (oder von der anderen Seite aus betrachtet: facio ut des – ich mache, damit du gibst), z. B. Arbeits- oder Dienstleistungsverträge. 3) facio ut facias: Ich mache, damit du machst – gegenseitige Verpflichtungen, z. B. ein Verteidigungsbündnis (bei dem sich alle Beteiligten verpflichten, zu Hilfe zu kommen, falls einer von ihnen angegriffen wird). Zu beachten ist, dass die ersten beiden Vertragsformen asymmetrisch sind, während die dritte nicht immer, aber oft symmetrisch ist (beide Seiten verpflichten sich, das Gleiche zu machen, z. B. sich gegenseitig im Notfall zu Hilfe zu kommen). Die erste Vertragsform mag symmetrisch aussehen (beide Seiten „geben“), funktioniert aber nur, wenn beide Unterschiedliches geben. Geld kommt bei der dritten Art von Verträgen nicht vor, aber bei den ersten beiden Arten dürfte es in aller Regel eine Rolle spielen. Irgendeine Art von „Zwischentauschgut“ (Gabler Wirtschaftslexikon) oder „allgemeinem Äquivalent“ (Karl Marx) taucht dort normalerweise auf mindestens einer Seite als das auf, was „ich gebe“ oder „du gibst“. Ohne Geld können solche Verträge nur NaturaltauschTransaktionen erfassen, was gegenüber der geldbasierten Variante so unflexibel ist, dass es nur in Ausnahmefällen infrage kommen dürfte.
3.4 Commons Kritikerinnen dieser römischen Rechtskonzeption werden bemängeln, dass sie unvollständig ist – insbesondere fehlt das Konzept der Commons, das sich auf gemeinsam hergestellte, gepflegte und genutzte Produkte und Ressourcen und die Art und Weise ihrer Herstellung und Nutzung bezieht. Das Management klassischer Commons, die sich um materielle Ressourcen (etwa Weideland oder ein
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Bewässerungssystem) drehen, kann man als eine vierte Art von Abkommen beschreiben: Wir machen, damit wir bekommen. Wo bei den römischen Vertragstypen zwischen „ich“ und „du“ unterschieden wird – beide gehen Verpflichtungen ein, aber in der Regel unterschiedliche (jedenfalls bei den ersten beiden Vertragstypen) –, fallen bei den Commons alle Beteiligten zu einem gemeinsamen „wir“ zusammen. Auch hier haben die Beteiligten Rechte und Pflichten, die aber für alle gleichermaßen gelten. Die „Früchte“ eines Commonssystems (etwa das Wasser aus einem Bewässerungssystem) werden unter allen Beteiligten in einer gemeinsam vereinbarten Weise aufgeteilt, die dafür sorgt, dass niemand zu kurz kommt. In analoger Weise werden die Kosten aufgeteilt, etwa indem bestimmte Aufgaben im Wechsel von je einer der beteiligten Parteien übernommen werden und sich alle beteiligten Parteien (oft Familien) an gelegentlichen Arbeitseinsätzen zu Wartung oder Ausbau des Commons durch Entsendung einer arbeitsfähigen Person beteiligen.10 Pflichten und Rechte sind dabei untrennbar verbunden – klassische Commons sind kein „free lunch“, auch bei ihnen handelt es sich um eine Art explizit vereinbarter Gegenseitigkeit. Die neuen, digitalen Commons gehen darüber hinaus, sie funktionieren nicht nur geldfrei (jedenfalls aus Nutzersicht), sondern verzichten auch auf die Erwartung von Gegenseitigkeit. Alle dürfen die Wikipedia lesen oder mittels des Webbrowsers Firefox surfen, ohne selbst Artikel oder Programmcode schreiben zu müssen. Welche von diesen produktiven Interaktionsmöglichkeiten wären ohne Geld noch möglich ? Ich würde davon ausgehen, dass dies den weitgehenden Wegfall der ersten beiden römischen Rechtstypen – „ich gebe, damit du gibst“ bzw. „damit du machst“ – bedeuten würde. In Ausnahmefällen könnten sie noch in Form von Naturaltauschabkommen vorkommen (statt Geld werden konkret-nützliche Güter ausgetauscht). Doch sobald es um mehr als nur Ausnahmen geht, dürfte wegen seiner größerer Flexibilität sehr schnell irgendeine Form von Geld (etwa „IOUs“ – „I owe you“ = ich schulde dir so und so viel) auftauchen. Die radikalsten Verfechterinnen einer geldfreien Welt gehen davon aus, dass mit diesem zusammen auch jede Form von explizit oder implizit erwarteter Gegenseitigkeit verschwinden wird.11 Aber auch wenn man daneben implizit erwartete sowie geldfreie Formen explizit vereinbarter Gegenseitigkeit für weiterhin legitim hält, bleiben bei mir Zweifel, ob der Wegfall der asymmetrischen „ich gebe, 10 Für die Analyse diverser derartiger Arrangements siehe Ostrom (1999). 11 Zur Frage „sozialer Verpflichtungen“ siehe den Beitrag von Meretz in diesem Band.
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damit du gibst/machst“-Abkommen komplett zu ersetzen wäre. Symmetrische Abkommen wie bei klassischen Commons wären auch ohne Geld möglich, sind aber für viele Fälle zu unflexibel. So kennen klassische Commons normalerweise keine Arbeitsteilung im Sinne einer Ausdifferenzierung und Spezialisierung – alle Aufgaben werden von allen Beteiligten anteilig oder im Wechsel übernommen (vgl. Ostrom 1999, S. 63, 67 f., 82, 85 f.). Grundsätzlich ist zwar auch eine differenzierte Aufgabenteilung denkbar, doch erfordert das sehr hohen Abstimmungsaufwand, da alle Beteiligten die gefundene Ausdifferenzierung als fair akzeptieren müssen. Hier kommt wiederum die Dunbar-Hürde ins Spiel. Ein paar dutzend Parteien werden sich vielleicht noch individuell absprechen können, wer welche Aufgabe übernimmt, bei Hunderten oder Tausenden geht das nicht mehr. Gleichzeitig sind selbst bei individuell ausdifferenzierten Beiträgen die Entnahme- bzw. Nutzungsrechte in Commons für alle grundsätzlich gleich – alle haben Anspruch auf ihren Anteil der produzierten „Früchte“. Und in aller Regel werden nur wenige Arten von Produkten über ein Commonssystem verteilt – man bekommt vielleicht Zugang zu Wasser, zu lokal angebautem Gemüse oder zu Brennholz. Nun nutzt jede im Kapitalismus lebende Person aber Hunderte oder Tausende unterschiedlicher Produktkategorien – und welche das sind und wie intensiv sie genutzt werden, unterscheidet sich von Person zu Person ganz beträchtlich. Manche verreisen gern und viel; manche trinken regelmäßig Cocktails oder edlen Whisky; manche haben Haustiere, die versorgt werden müssen; viele essen Fleisch, während andere den Konsum von Fleisch oder sogar von jeglichen tierischen Produkten als unethisch ablehnen; unterschiedliche Menschen haben ganz verschiedene Hobbys, für deren Ausübung meistens diverse Produkte erforderlich sind. Wie könnte ein und dasselbe Commonssystem für die Befriedigung dieser ganz unterschiedlichen Bedürfnisse sorgen ? Es gibt darauf nur eine Antwort: gar nicht – die Vielzahl der „Früchte“ und der dafür nötigen Beiträge sowie Beteiligten wäre viel zu groß, als dass sich alle Beteiligten auf ein einheitliches Regelwerk zur Verteilung von Früchten und Pflichten einigen könnten. Um derartig vielfältige Bedürfnisse gemäß Commonsprinzipien zu befriedigen, müssten Menschen somit nicht nur an einem, sondern an einer ganzen Reihe unterschiedlicher Commonssysteme teilnehmen – und also auch für jedes von ihnen die individuell anfallenden Beiträge leisten. Das aber dürfte zu einer extrem zerfaserten Lebensstruktur führen, weil man sich immer wieder in ganz unterschiedlichen Kontexten auf sehr verschiedene Weise betätigen muss. Wahrscheinlich würde die sich so ergebende Vielfältigkeit des Tuns manchen gefallen, aber bei anderen dürfte sie zu Stress und Überforderung führen. Manche Aufgaben lassen sich auf diese Weise auch gar nicht lösen – ein Gesundheits-Commons, das auf spezialisierte Ärztinnen und Pfleger verzichtet
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und stattdessen alle anfallenden Aufgaben gleichmäßig unter seinen Mitgliedern aufteilt, dürfte deren Gesundheit eher abträglich sein. Aber die Beschäftigung von Profis, die bezahlt werden und sich deshalb einer Sache widmen können, statt noch in Dutzenden anderen Commonssystemen mitwirken zu müssen, würde dem Paradigma einer geldfreien Produktion widersprechen. In eine ähnliche Richtung würde es gehen, wenn unterschiedliche Commonssysteme vereinbaren, sich Beiträge zu einem von ihnen gegenseitig anzuerkennen, wie ich in Beitragen statt tauschen (Siefkes 2008) vorgeschlagen habe. Denn dafür bräuchte es zwar nicht unbedingt Geld, wohl aber eine diesem sehr ähnliche Verrechnungseinheit, die es ermöglicht, geleistete Beiträge „auf einen Nenner“ zu bringen und vergleichbar zu machen.
3.5 Verzicht auf Verrechnung und implizite Planwirtschaft Aber vielleicht könnte man ja auf jede Art von Verrechnung verzichten, statt derartig weiterhin Geld oder etwas diesem recht Ähnliches zu brauchen ? Vielleicht widmet sich die Ärztin der Gesundheit anderer und vertraut dabei darauf, dass andere sich darum kümmern, dass sie genug zu essen und eine schöne Wohnung bekommt, dass auch ihr Haustier satt wird und sie zweimal im Jahr einen ausgedehnten Urlaub machen kann ? Dies würde unter anderem den Wegfall jeder explizit vereinbarten Gegenseitigkeit bedeuten. Klar ist dabei: Explizite Vereinbarungen könnten nicht durch die implizite Erwartung von Gegenseitigkeit auf individueller Basis ersetzt werden, wie sie bei Geschenken und Gefallen üblich ist. Dafür sind moderne Produktionsprozesse zu komplex: Zur Behandlung und Genesung im Krankenhaus trägt ja nicht nur die Ärztin bei, sondern auch Pfleger und zahlreiche andere Angestellte, die den Betrieb am Laufen halten, sowie alle, die für die nötige Ausstattung, Medikamente, Energie- und Wasserversorgung usw. sorgen. Wenn die Vermittlung geldbasiert erfolgt, sorgen zuvor abgeschlossene Verträge dafür, dass alle Beteiligten bezahlt werden – wenn auch oft in äußerst unausgewogener Weise, was es zu kritisieren gilt. Dabei muss die Bezahlung nicht unbedingt durch die Patientin selbst erfolgen, alternativ kommen etwa auch eine Krankenversicherung oder der Staat als Finanzier eines für die Nutzerinnen kostenlosen Gesundheitssystems infrage. Implizit erwartete angemessene Gegengaben der Patientin für all diese Beteiligten wären hingegen klarerweise ein Ding der Unmöglichkeit und würden zu totaler Überforderung führen. Was also höchstens denkbar ist, ist eine Erwartung von Gegenseitigkeit auf allgemein gesellschaftlicher Ebene – andere tun etwas für mich, ich tue etwas für andere (aber im Allgemeinen nicht dieselben anderen) – oder alternativ der Verzicht
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auf jede Erwartung von Gegenseitigkeit. In letzterem Falle werden Menschen nur dann aktiv, wenn sie selbst Lust auf eine Aufgabe haben oder diese für sinnvoll und wichtig halten. Beides klingt aus Produzentenperspektive ziemlich gut – man tut etwas für andere, entscheidet aber ganz autonom, was und in welcher Weise. Aus Sicht der Nutznießerinnen allerdings ergeben sich aus dem kompletten Verzicht auf Gegenseitigkeit Probleme, da ihr Einfluss auf die Produzentinnen dadurch minimal wird. Beim Abschluss eines gegenseitigen Abkommens der Art „ich gebe, damit du gibst/machst“ kann ich immer darauf achten, dass die Bedingungen für mich stimmen. Passen mir die Konditionen nicht, finde ich vielleicht einen anderen Anbieter, der mir bessere bietet, oder ich kann nachverhandeln und in der Hoffnung auf bessere Konditionen z. B. mein eigenes Angebot erhöhen. Bei Verzicht auf direkte Gegenseitigkeit bleibt den Nutznießern hingegen nur das „Prinzip Hoffnung“. Sie können Wünsche äußern, aber was die jeweiligen Produzentinnen dann aus den (vermutlich sehr zahlreichen) Wünschen machen, ist ihnen komplett selbst überlassen. Dieses Problem mag dann als weniger gravierend erscheinen, wenn man in die Falle tappt, die ich als implizite Planwirtschaft bezeichne: die Idee, dass eigentlich schon klar ist, was gesamtgesellschaftlich zu tun ist, und sich deshalb für alle Aufgaben nur noch jemand finden muss, der sie tatsächlich tut. In diese Falle geht etwa Stefan Meretz12, wenn er schreibt: „Aus systemischer Perspektive ist es irrelevant, wer die notwendigen Beiträge beisteuert, sofern gewährleistet ist, dass es durchschnittlich gesichert erfolgt.“ Tatsächlich ist in komplexen Gesellschaften sehr wenig „notwendig“. Selbst dass alle Menschen so alt wie nur möglich werden, ist nicht in einem strengen Sinne „notwendig“, wenn auch sicher wünschenswert; und daran, wie sie ihre Tage verbringen, ist fast gar nichts notwendig. Bei geldbasierter Vermittlung entscheiden die Menschen selbst, was für sie wünschenswert ist, und zwar nicht nur als Produzentinnen, sondern auch als Konsumenten und Nutzer. Wer dabei ein begrenztes Monatsbudget zur Verfügung hat, kann immerhin selbst entscheiden, wie sie es jenseits des absolut „Notwendigen“ ausgibt. An dieser Individualisierung der Entscheidungsmöglichkeiten gibt es manches zu kritisieren, z. B. wenn Eltern selbst für ihre Kinder zahlen und im Vergleich zu Kinderlosen auf manches verzichten müssen. Aber solche Ungerechtigkeiten hängen an der konkreten Verteilung von Geld, nicht daran, dass es überhaupt verwendet wird. Und bei seiner Verwendung als „flexiblem Rationierungsmittel“ entscheiden die Menschen jeweils selbst, was aus ihrer Sicht notwendig bzw. wünschenswert ist. Die Entscheidung liegt dezentral bei den unterschiedlichen Konsumentin12 In seinem Beitrag in diesem Band.
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nen bzw. Nutzerinnen selbst, und aus meiner Sicht spricht einiges dafür, dass sie dort besser aufgehoben ist als bei den jeweiligen Produzenten oder bei irgendeiner Zentralinstanz. Produzentinnen können zwar Wünsche sammeln, sie können aber nicht wissen, wie wichtig den Menschen ihre unterschiedlichen Wünsche sind. Habe ich hingegen mein eigenes Budget, kann ich entscheiden, was ich mir sofort gönne, was ich zurückstelle (und vielleicht dafür spare) und worauf ich ganz verzichte.
3.6 Stigmergie und selbstausgewählte Teams Als Vermittlungsinstrument, um dezentral zusammengestellte Wunschlisten in nützliche Produkte umzusetzen, wird bisweilen das Stigmergie-Konzept genannt.13 Kurz gesagt bedeutet Stigmergie, dass Menschen Hinweise darauf hinterlassen, was getan werden könnte oder (aus ihrer Sicht) sollte, und andere, denen ein bestimmter Hinweis einleuchtet und die sich für einschlägig kompetent halten, diesen Hinweis dann „abarbeiten“ – ohne dass sie jemand dazu zwingt oder dafür bezahlt. Das wohl eindrucksvollste und größte Beispiel für Stigmergie ist die Wiki pedia. Sicherlich hätten es sich die Macher von klassischen Enzyklopädien wie dem Brockhaus und der Encyclopædia Britannica nicht träumen lassen, dass eine Gruppe unbezahlter Amateure ihr Geschäftsmodell zerstören würde ! Doch hängt der bemerkenswerte Erfolg dieser stigmergischen Selbstorganisation an ganz bestimmten Voraussetzungen, die sich für die meisten produktiven Vorhaben nicht herstellen lassen. Das Erfolgsgeheimnis der Wikipedia ist, dass all die unzähligen Hinweise auf mögliche Verbesserungen und Erweiterungen unabhängig voneinander bearbeitet werden können. Ob ich einen Rechtschreibfehler in einem Artikel behebe, fehlende Quellenangaben nachrecherchiere und ergänze, schlecht geschriebene oder nicht neutrale Absätze umschreibe oder komplett neue Artikel anlege: Ich kann das jederzeit machen, ohne auf bestimmte Vorarbeiten anderer angewiesen zu sein. Jede mögliche Änderung ist „atomar“, sie hat keine weiteren Voraussetzungen außer der Existenz und Erreichbarkeit der Wikipedia selbst. Ganz anders bei den meisten materiellen Herstellungsprozessen: Hier ist zumeist eine ganze Reihe vorbereitender Schritte nötig. Um irgendein materielles Ding – ob Fahrrad, WLAN-Router oder Schlafsofa – zusammenzubauen, müssen zunächst alle benötigten Einzelteile vorliegen; außerdem müssen alle benötigten Werkzeuge und Hilfsmittel zur Verfügung stehen und es muss eine passende Werkstatt oder Fabrikationsumgebung vorhanden und frei sein. Fehlt von den benötigten Dutzenden oder Hunderten Elementen auch nur eines, kann der Her13 Siehe den Beitrag von Meretz in diesem Band.
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stellungsprozess nicht beginnen oder er scheitert. Umgekehrt ergibt es wenig Sinn, auf Verdacht Einzelteile und Vorprodukte zu produzieren, ohne zu wissen, ob diese überhaupt irgendwo Verwendung finden werden. Noch schwieriger wird es, wenn das Gut oder seine Vorprodukte nicht lange haltbar sind oder wenn Lebe wesen im Produktionsprozess eine Rolle spielen. Bei den allermeisten materiellen Produktionsprozessen ist also die Atomarität der nötigen Aufgaben nicht gegeben – die meisten Aufgaben sind von diversen anderen Aufgaben abhängig, die kurz davor, kurz danach oder parallel dazu ausgeführt werden müssen. Ein weiterer Schlüsselfaktor zum Erfolg stigmergischer Selbstorganisation besteht darin, dass durch die schlechte oder falsche Ausführung einzelner Aufgaben kein dauerhafter Schaden entsteht. Bei der Wikipedia können unpassende oder böswillige Änderungen rasch durch andere rückgängig gemacht werden. Auch bei Freier Software (Open Source) spielen stigmergische Änderungen durch alle, die sich zum Weiterentwickeln der Software berufen fühlen, oft eine Rolle. Dabei gibt es aber immer ein Kernteam oder eine Maintainerin, die das letzte Wort haben und alle vorgeschlagenen Änderungen prüfen, bevor sie sie in die Software übernehmen (oder eben auch nicht). Somit muss man als Nutzer nur dem Kernteam bzw. der Maintainerin trauen, nicht aber der vielleicht großen Anzahl weiterer Personen, die auf die eine oder andere Weise zur Entwicklung beigetragen haben. Generell zeichnen sich erfolgreiche stigmergische Projekte dadurch aus, dass Beiträge zuerst erbracht werden können und erst hinterher geprüft wird, ob sie unschädlich sind und dauerhaft übernommen werden. Viele Tätigkeiten wirken sich aber unmittelbar aus und ihre Folgen können anschließend nicht mehr aus der Welt geschafft werden. Nur wenige Patientinnen dürften sich einem Krankenhaus anvertrauen, dessen Pflegerinnen und Operationsteams nach dem Prinzip „Hier gibt’s was zu tun, wer will denn mal ?“ zusammengerufen werden. Der Schaden, den diese aus Unerfahrenheit, Fahrlässigkeit oder Böswilligkeit anrichten könnten, ist einfach zu groß. Nun gibt es durchaus Alternativen zur Stigmergie, die einige ihrer Begrenzungen hinter sich lassen und dennoch auf der freiwilligen, vertragslosen „Selbstauswahl“ von Engagierten beruhen. Freiwillige Teams können sich zusammenfinden und sich unbezahlt („ehrenamtlich“) um bestimmte Unternehmungen kümmern – ob Krankenhäuser, Bauernhöfe oder Softwareprogramme. Die erwähnten „Kernteams“ vieler freier Softwareprogramme funktionierten nach diesem Prinzip (freilich keineswegs immer unbezahlt). Zu solchen Teams können die potenziellen Nutzer Vertrauen aufbauen und ihre Kompetenzen überprüfen, und solche Teams können auch größere Vorhaben umsetzen, die sich nicht in zahlreiche atomare Einzelaufgaben unterteilen lassen.
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Dennoch zeigt sich auch bei solchen Teams der Nachteil der „einseitigen“, nicht auf explizit vereinbarter Gegenseitigkeit basierenden Selbstauswahl: Die Aktiven entscheiden nach eigenem Gutdünken, worum sie sich kümmern und welche Schwerpunkte sie sich setzen; Nutzerinnen, die selbst nicht aktiv werden, können nur unverbindlich ihre Wünsche äußern. Bei Freier Software zeigt sich dies darin, dass sie in vielen Fällen von Programmierern für Programmierer geschrieben wird. Bei jeder Art von Werkzeugen fürs Programmieren und fürs Management von Computern und Netzwerken sind freie Programme exzellent und lassen ihre proprietären (nichtfreien) Alternativen oft weit hinter sich. Andere Arten von Software – ob Office-Programme, Grafik- und Videobearbeitung oder Spiele – gibt es zwar auch immer in freien Varianten, doch hinken diese ihren proprietären Äquivalenten oft mehr oder weniger stark hinterher. Auch die Nutzerfreundlichkeit von Freier Software lässt aus Sicht von Nichtprogrammiererinnen oft zu wünschen übrig. Zum Teil liegen diese Unterschiede daran, dass proprietäre Softwarefirmen riesige Entwicklungsteams haben, mit deren Arbeit kleine Freiwilligenteams nicht mithalten können. Aber natürlich fallen auch diese riesigen Teams nicht vom Himmel, sondern bestehen aus Programmiererinnen, die wahrscheinlich zum Großteil ebenfalls nicht hinreichend motiviert wären, jahrelang freiwillig und unbezahlt an der Software mitzuarbeiten – aber das ihnen bezahlte (und letztlich von den Nutzern finanzierte) Gehalt sorgt für die nötige Motivation. Und Firmen müssen, um am Markt Bestand zu haben, die Bedürfnisse und Wünsche ihrer (potenziellen) Nutzerinnen sehr ernst nehmen und ihre Produktgestaltung eng daran ausrichten. „Der Kunde ist König“ ist zwar ein Slogan, enthält aber sehr viel Wahrheit. Für unbezahlt arbeitende Freiwilligenteams sind die Nutzerinnen lange nicht so wichtig. Zwar fühlt es sich gut an, wenn die Software von vielen Leuten genutzt und geschätzt wird, und einige der Nutzerinnen werden früher oder später wahrscheinlich zu aktiv Beitragenden und sorgen so dafür, dass das Projekt weiterläuft. Aber letzteres sorgt wiederum für eine gewisse „Selbstähnlichkeit“ zwischen den Aktiven und ihren „Lieblingsnutzern“: Wer selbst nicht programmieren oder in anderer Weise beitragen kann, ist weniger interessant. Dazu kommen bei materiellen Produkten und Dienstleistungen (Tätigkeiten) die bereits thematisierten Verteilungsfragen. Ein Softwareprojekt kann die entwickelte Software in ihrer jeweils aktuellen Version allen Interessenten zum Download anbieten. Dagegen kann eine Fahrradfabrik nicht einfach Räder für alle Interessentinnen bereitstellen, denn jedes weitere Fahrrad kostet Zeit und Ressourcen.
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Geld und explizit vereinbarte Gegenseitigkeit sind nicht leicht überflüssig zu machen
Insgesamt ist zu sagen, dass zwar vieles gegen das Geld spricht und insbesondere gegen die Art und Weise, wie es sich im Kapitalismus „verselbstständigt“ hat und als Zwang oder Drang zur Profitmaximierung alle anderen Verhältnisse dominiert. Gleichzeitig zeigt sich in historischer Rückschau aber, dass diese Verselbstständigung des Profitprinzips sehr viel jünger ist als die Verwendung von Geld und aus dieser keineswegs zwingend folgt. Insbesondere ist dort, wo es zwar Märkte, aber kein Marktprinzip gibt – wo zwar Produkte gehandelt werden, nicht aber Land und Arbeitskraft –, keine systematische Tendenz zur Profitmaximierung feststellbar. Zudem zeigt die Analyse, dass explizit vereinbarte Gegenseitigkeit der Art „ich gebe, damit du gibst/machst“ eine Möglichkeit menschlicher Interaktion ist, die durch andere Möglichkeiten kaum komplett und verlustfrei ersetzt werden kann – jedenfalls in „großen“ Zusammenhängen jenseits der Dunbar-Hürde. Ohne die Verwendung von Geld oder einer ähnlichen Verrechnungseinheit dürfte diese Art gegenseitiger Abkommen aber selten praktikabel sein. Solange es explizit vereinbarte Gegenseitigkeit gibt, dürfte zu ihrer Vermittlung auch eine Form von Geld verwendet werden. Das Nachdenken über Gesellschaftsformen, in denen explizit vereinbarte Gegenseitigkeit – und damit Geld – für niemand mehr zweckmäßig ist und daher verschwindet, kann zweifellos zu spannenden und inspirierenden Gedankenexperimenten führen. Wie gezeigt wurde, sind die Hürden dafür aber sehr hoch. Kurzund mittelfristig dürfte daher eine bescheidenere, aber immer noch höchst ambitionierte und zugleich extrem wichtige Frage auf der Tagesordnung stehen: Wie kann eine Gesellschaft funktionieren, in der sich die Vermittlungsformen nicht verselbstständigen (etwa in Form der Profitmaximierung) und gegen die Menschen richten und in der niemand – weder einzelne Menschen noch die Natur – auf der Strecke bleibt ? Geld als Mittel könnte es in solch einer Gesellschaft durchaus noch geben. Geld als Selbstzweck, dessen Vermehrung und Maximierung alle und alles untergeordnet werden, aber nicht.
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Kategoriale Grundlagen einer postmonetären Gesellschaft Stefan Meretz
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Einleitung und Fragestellung
Geld stellt im Kapitalismus den gesellschaftlichen Zusammenhang her. Es sorgt dafür, dass Bedürfnisse und Befriedigungsmittel zusammenkommen, und es ermöglicht eine tiefgestaffelte gesellschaftliche Arbeitsteilung. Geld ist ein wesentlicher Faktor gesellschaftlicher Kohärenz, und die beginnenden globalen Finanzkrisen deuten an, was passiert, wenn Kohärenzbildung nicht mehr funktioniert. Postmonetäre Ansätze stehen vor der Aufgabe, eben für diese gesellschaftlichen Funktionen Alternativen zu formulieren, wenn möglich gar solche, die eine größere soziale Stabilität und bessere Lebenschancen für alle Menschen versprechen. Diese Aufgabe ist weit größer, als schlicht einen „Ersatz“ für das Geld als Vermittlungsmedium zu finden – reproduziert diese verkürzte Sicht doch die Annahme der vorherrschenden neoklassischen Ökonomietheorie von der „Neutralität des Geldes“ bzw. dem „Geldschleier“, der sich über alle realen Transaktionen lege (Romer 2012; vgl. dazu auch den Beitrag von Lohoff in diesem Band). Tatsächlich geht es umfassend um eine neue Reproduktionsweise,1 in der Geld keine gesellschaftliche Funktion mehr haben kann. Statt wie im neoklassischen ökonomischen Paradigma dichotom „reale“ und „monetäre“ Prozesse gegenüberzustellen, gehe ich von einer Identität von beidem aus – Identität hier als eine, die den Zusammenhang von Unterschiedenem begreifen kann. Zu begründen ist demnach, warum ein gesellschaftlicher Repro1
Reproduktion wird in diesem Text umfassend verstanden und meint sowohl die Tätigkeiten, die traditionell mit Produktion bezeichnet werden, wie jene, die ebenso traditionell „übersehen“ werden, weil sie im ökonomischen Sinne wenig oder nicht produktiv sind: Haushalt, Sorgetätigkeiten, Pflegetätigkeiten etc., kurz: Care oder altmodisch Reproduktion im engen Sinne.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_9
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duktionsprozess – der Prozess zur Schaffung und Erhaltung aller Lebensbedingungen – überhaupt in „reale“ und „monetäre“ Prozesse zerfällt und warum sich deren Momente dann auch noch gegeneinander verselbstständigen, obwohl sie doch nur in ihrer Einheit sind, was sie sind, und auch nur so begriffen werden können. Daraus erst lässt sich die Frage entwickeln, ob und wie sich ein gesamtgesellschaftlicher Reproduktionszusammenhang darstellen lassen kann, der die Real-Dichotomisierung nicht hervorbringt, weil sich die gesellschaftliche Vermittlung auf qualitativ andere Weise herstellt. Diese Frage zu beantworten ist das Ziel dieses Beitrags.
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Methodologisches und Begriffliches
Vor der Annäherung an die Fragestellung sind einige methodologische und begriffliche Voraussetzungen zu diskutieren.
2.1 Kategorialer Ansatz Den hier vorgestellten Ansatz der Theorieentwicklung nenne ich kategorial. Damit versuche ich mich bewusst zur Problematik der Bilderaffirmation bzw. dem Gegenstück des Bilderverbots zu verhalten. Bilderaffirmation bedeutet, Erfahrungen und (Alternativ-)Vorstellungen („Bilder“) der Vergangenheit und Gegenwart zur Grundlage eines Zukunftsentwurfs zu machen. So ist etwa „Kommunismus“ ein solches Bild, das durch historische Erfahrungen mit dem vergangenen Realsozia lismus geformt wurde. Das Bilderverbot versucht die Problematik zu umgehen, indem unterstellt wird, dass jegliche Bilder eines Zukünftigen grundsätzlich nicht über das Bestehende hinausreichen können und deswegen zu vermeiden seien. Diesem Gegensatz versucht der kategoriale Ansatz dadurch zu entkommen, dass er zwar Bilder auf der Ebene der Erfahrungen und Vorstellungen zurückweist, doch durch Herausarbeiten der begrifflichen Grundlagen einer postmonetären Gesellschaft auf einer mittleren theoretischen Ebene die Grundzüge einer anderen Form der gesellschaftlichen Organisation zu entwickeln sucht. Da diese Überlegungen offengelegt werden, sind sie immer auch kritisierbar. Dort, wo anthropologische Annahmen einfließen, sollen auch diese transparent gemacht werden. Auf diese Weise ist ein wissenschaftlicher Diskurs möglich, der weder gedanklich an den alten Formen klebt noch in die Beliebigkeit des bloßen Wünschens abdriftet. Für den kategorialen Ansatz ist die kontinuierliche bewusste Unterscheidung von überhistorisch-ontischem und historisch-spezifischem Gehalt einer Aussage
Kategoriale Grundlagen einer postmonetären Gesellschaft 267
zentral. Einerseits sollten die gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer konkreten Erscheinung nicht ontologisiert, also unzulässig zum menschlich-natürlichen Sein an sich erklärt werden. Andererseits haben die Jetztverhältnisse auch einen überhistorisch-ontischen Gehalt, der von den konkreten Erscheinungsformen unterschieden und herausgehoben werden kann. So ist der Kapitalismus unbestreitbar eine menschliche Gesellschaft, er repräsentiert aber mit der ihm eigenen Geldvermittlung nicht notwendig eine quasi „natürlich-ideale“ Form der gesellschaftlichen Organisation. In diesem Text sollen auf der beschriebenen mittle ren theoretischen Ebene andere – konkret: postmonetäre – Realisationsformen menschlich-gesellschaftlicher Organisation skizziert werden.
2.2 Vermittlung Der Begriff Vermittlung wurde bisher unausgewiesen verwendet. Eine genauere Bestimmung soll nun nachgeholt werden, denn der Begriff ist für die weitere Argumentation zentral. Vermittlung im hier verwendeten Sinne ist doppelt bestimmt. Einerseits geht es um die Vermittlung der Individuen in und mit der Gesellschaft. Gesellschaft ist die Infrastruktur, in die sich Individuen hinein entwickeln, sich ihre Möglichkeiten aneignen und daran teilhaben, um sie schließlich vorsorgend mit zu reproduzieren. Andererseits geht es um die Vermittlung der Gesellschaft mit sich selbst. Aus systemischer Sicht besitzt jede Gesellschaft eine Selbsterhaltungstendenz. Sie nutzt die reproduktiven Beiträge ihrer Mitglieder, um sich zu erhalten und zu erneuern. Dabei ist es jedoch egal, von wem konkret diese Beiträge kommen, sie müssen nur von irgendwem erbracht werden. Kurz gesagt: Bei der Individualvermittlung geht es um die Reproduktion der individuellen Existenz, bei der Selbstvermittlung geht es um die Reproduktion der Gesellschaft als System. Es handelt sich mithin um zwei unterschiedliche Perspektiven auf den gleichen Zusammenhang. Die beiden Vermittlungsmomente durchdringen sich wechselseitig und bilden ein Ganzes. Dabei sollten die Unterschiede klar gesehen werden. Was gesellschaftlich als transpersonale Notwendigkeit erscheint, sind individuell nur (inter)personale Handlungsmöglichkeiten.2 Wenn in den gesellschaftlichen Infrastrukturen Ziele und Funktionsweisen eingeschrieben sind und damit objektiven Charakter haben, dann können diese Ziele auf der Ebene der Notwendigkeiten mit den subjektiven Bedürfnissen auf der Ebene der Möglichkeiten in Konflikt geraten. Das 2
Das Adjektiv „transpersonal“ bezeichnet mittelbare Beziehungen zwischen Menschen, die einander nicht kennen (allgemeine andere), „interpersonal“ meint hingegen unmittelbare Beziehungen zwischen Menschen, die einander kennen (konkrete andere).
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wirft die Frage auf, wie eine Gesellschaft ihre Mitglieder – durchschnittlich – dazu bringt, die gesellschaftlichen Notwendigkeiten auch zu erfüllen, also – mehr oder weniger – freiwillig das zu tun, was getan werden muss, um den systemischen Zusammenhang zu reproduzieren. Dies wiederum führt weiter zu der Frage, auf welche Weise die individuelle Handlungsebene (der Möglichkeiten) mit der gesellschaftlichen Gesamtebene (der Notwendigkeiten) vermittelt ist, wie also der Zusammenhang von elementaren Handlungen auf der Mikroebene und Totalität aller Handlungen auf der Makroebene hergestellt wird.3
2.3 Soziale Verpflichtung Geld verfügt neben einer Vermittlungsfunktion auch über die Möglichkeit, soziale Verpflichtungen (als Schuld) zwischen Agierenden abbilden zu können (in Form von Schulden) und interoperabel (Bezahlung tilgt Schuld[en]) zu machen – ggf. befördert durch Sanktionsandrohungen. Auch wenn die doppelte Vermittlung, wie oben dargestellt, in einer postkapitalistischen und damit postmonetären Gesellschaft „geldlos“ erfolgen könnte (was noch zu zeigen ist), bleibt die Frage, ob dann auch soziale Verpflichtungen – also nichtmonetäre Schuldverhältnisse – obsolet werden oder ob diese überhistorischen Charakter besitzen und sich somit andere Ausdrucksformen suchen würden. Vor einer Beantwortung ist der Begriff der sozialen Verpflichtung genauer zu bestimmen. Soziale Verpflichtungen sind subjektive oder objektive Erwartungen oder Forderungen an Individuen, Kollektive oder die Gesellschaft. Sie entstehen aus Formen der Reziprozität, bei denen Beiträge („Geben“) und Nutzungen („Nehmen“) durch Erwartungen oder Forderungen konditional aneinander gekoppelt sind. Sie entstehen nicht, wenn Beiträge und Nutzungen bedingungsfrei erfolgen.4 Die Frage für eine Gesellschaft nach dem Geld ist also, ob und für welchen Bereich (interindividuell, kollektiv, gesellschaftlich) solche bedingungsfreien Reziprozitätsverhältnisse angenommen werden können. 3 Wissenschaftlich ist es von zentraler Bedeutung, den Element-Totalitäts-Zusammenhang nicht einseitig von einer Dimension aus zu erklären zu suchen, also weder die Totalität des Systems aus der Summe der Elemente noch umgekehrt die Elementfunktionalität aus der Systemtotalität ableiten zu wollen. Anderenfalls würde man in einen methodologischen Individualismus bzw. Kollektivismus verfallen, die zwar aufgrund scheinbar klarer Deduk tionsverhältnisse („von unten nach oben“ oder umgekehrt) einfacher daherkommen, aber die reale Dialektik nicht einfangen können. 4 Das bedeutet, bereits der Begriff der Reziprozität, der allgemein die (personale) Relationalität zwischen Handelnden erfasst, ist zu eng bestimmt, bezieht man ihn nur auf „gekoppelte“ konditionale Handlungen, wie wir sie bei Schenkungen (Gabe und erwartete Gegengabe) und beim Tausch (vom unmittelbaren Barter bis zum vermittelnden Markt) vorfinden.
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Kapitalismus
Die bisherigen begrifflichen Vorüberlegungen waren weitgehend allgemeiner Natur, haben also davon abstrahiert, dass wir es heute mit kapitalistischen Verhältnissen zu tun haben. Das soll nun aufgehoben werden.
3.1 Elementarform Ware Die vorher dargestellte doppelte Vermittlung spiegelt sich auch in den individuellen reproduktiven Handlungen wider. Diese müssen doppelt funktional sein, also sowohl die eigene Existenz sichern wie gleichzeitig den systemischen Zusammenhang reproduzieren, in dem die Handlungen ihre Funktionalität besitzen. Im Kapitalismus ist die basale soziale Handlungsweise die (Beteiligung an der) Herstellung von Waren für den Verkauf und ihre Umwandlung in Geld (als Gewinn oder Lohn) zum Kauf von Waren zur Erhaltung der Existenz. Die Ware ist damit die Elementarform (vgl. Marx 1973a [1890], S. 49), die die Totalität des Systems Kapitalismus erzeugt und gleichzeitig von diesem erzeugt wird und nur darin ihre Funktion als Elementarform hat (vgl. dazu Fußnote 3). Die Ware ist in diesem Verständnis kein neutrales Ding, sondern eine soziale Form, in der spezielle „Dinge“ und „Leistungen“ – Produkte für den Verkauf – hergestellt werden. Den Waren ist ihre soziale Form, die Weise und Zwecksetzung ihrer Herstellung, eingeschrieben.5 In allen Gesellschaften wird – in unterschiedlichem Ausmaß – für allgemeine andere produziert. Die Besonderheit im Kapitalismus ist die Produktion für andere auf Grundlage des Privateigentums. Die Privatproduktion voneinander getrennter Entitäten erfordert einen nachgeschalteten („ex post“) Austausch zur Vermittlung zwischen Produzierenden und (geldbewährten) Bedürftigen. Der Markt ist die verallgemeinerte Instanz dieser Ex-post-Vermittlung.6 Die Allgemeinheit der Marktvermittlung wiederum zeitigt eine Reihe von weitreichenden Konsequenzen. Einige für den vorliegenden Darstellungszusammenhang relevante Aspekte sollen hier diskutiert werden: Verdopplung, Äquivalenz, Konkurrenz, Verkehrung, Verwertung, Externalisierung und Exklusionslogik.
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Dies betrifft sowohl die konkrete Gegenständlichkeit, etwa ihre Handhabbarkeit, Reparierbarkeit, Modularität, Haltbarkeit etc. (vgl. etwa Dannoritzer & Reuß 2013), wie auch nega tive Externalitäten der Produktion. Abweichung von der Regel der Ex-post-Vermittlung ist etwa die Auftragsfertigung, also bestimmte B2B-Verbindungen, bei denen die Leistungen vorab definiert werden. Das ändert aber nichts am Gesamtcharakter.
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Verdopplung. Die Ware „verdoppelt“ sich, weil sie ihre beiden Momente der Nützlichkeit und der Vermittlung als Gegensatz entfaltet.7 Sinnlich nützlich ist die Ware für diejenige, die sie erhalten will, um Bedürfnisse zu befriedigen, also für die Käufer*in, nicht aber für die Verkäufer*in. Letztere ist stattdessen am erfolgreichen Tausch, dem Verkauf, interessiert. Im entfalteten Kapitalismus setzt sich die Ware im Tausch indirekt mit allen anderen Waren in ein Verhältnis, genauer: mit dem Aufwand zu ihrer Herstellung.8 Es bildet sich mithin ein gesellschaftliches Verhältnis aller Produktionsaufwände. Das ist der Wert. Der Wert einer Ware spiegelt zwar das Verhältnis des Herstellaufwands in Relation zu allen anderen Waren wider, kann aber selbst nicht als absolute Größe angegeben werden. Um quantitativ operabel zu werden, muss sich der Wert in einer fixen dinglichen oder zeichenhaften Entität abbilden. Diese Entität existiert in Form von Geld. Geld tauscht sich gegen alle Waren und ist daher in der Lage, die Wertrelationen im Warenuniversum durch Bezug auf sich selbst darzustellen. Geld ist allgemeine Ware und daher allgemeines Äquivalent und hat die Funktion, Wertgrößen auszudrücken. Durch den Wertausdruck vermittels ihres Bezugs auf Geld kann die Doppel-Ware in die gesellschaftliche Vermittlung eingehen. Umgangssprachlich: Die Ware hat einen Preis, der entrichtet werden muss, um sie zu erhalten – und schließlich zu nutzen. Obwohl der ursprüngliche Antrieb für die Produktion die Bedürfnisbefriedigung ist, geht der Wert vor. Äquivalenz. Die Allgemeinheit der Wertvergleiche über alle Unterschiede in den einzelnen Tauschakten hinweg sorgt für die Äquivalenz. Im Mittel tauschen sich folglich immer gleiche Werte, also gleiche gesellschaftliche Herstellaufwände. Wichtig ist hier, dass für die Vermittlung die Nützlichkeit irrelevant ist. Allein die Eigenschaft, Wert – ausgedrückt mittels Geld – darzustellen, wird für die Vermittlung in Anspruch genommen. Isoliert betrachtet ist die Werteigenschaft jedoch gänzlich unsinnlich und eignet sich nicht dazu, Bedürfnisse zu befriedigen. Im Gegensatz von Nützlichkeit und Vermittlung kommt der Vermittlung die bestimmende Rolle zu. Das bedeutet, dass die Waren erst durch die Vermittlung hindurch, also verkauft und gekauft werden müssen, bevor sie ein Bedürfnis befriedigen können. Wer zum Beispiel aus Geldmangel nicht am Vermittlungsprozess teilnehmen kann, fällt aus der objektiven Vorsorgeleistung gesellschaftlicher Organisation heraus. Alltagssprachlich: „Ohne Moos nix los.“ 7 8
Nützlichkeit und Vermittlung sind zwar überhistorische Dimensionen, aber dass sie sich als Gegensatz entwickeln, ist spezifisch für den Kapitalismus. Was alles in den Aufwand einfließt – Arbeitszeit, Qualifikation der Arbeit, eingesetzte Produktionsmittel etc. –, ist für unsere Betrachtung nicht relevant. Auch nicht die Tatsache, dass dieser – da gesellschaftlich bestimmt – nicht angebbar ist.
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Konkurrenz. Das Moment der Vermittlung der Ware zwingt nicht nur die Waren in ein allgemeines Vergleichs- und Vermittlungsverhältnis, sondern auch ihre Produzent*innen, die getrennt voneinander privat produzieren. Trotz Privatheit ist die Produktion immer gleichzeitig auch gesellschaftlich, denn sie muss sich daran orientieren, den gesellschaftlich gültigen Aufwand zur Herstellung der Ware zu erreichen oder zu unterbieten. Da dies alle tun (müssen), der Markt aber begrenzt ist, ist das gesellschaftliche Verhältnis, in das die privaten Produzent*innen gezwungen werden, das der Konkurrenz.9 Verkehrung. Zwar können die handelnden Produzent*innen über die Produktion frei entscheiden, doch der Maßstab, an dem sich ihr Handeln ausrichten muss, ist vorgegeben: Es ist die Verkaufbarkeit, also der Zwang, die Ware zum gesellschaftlich gültigen Wert zu produzieren oder besser noch darunter. Es kommt zu einer ungewollten, aber unhintergehbaren Verkehrung von Sachlichem und Sozialem: Soziale Relationen erscheinen als Eigenschaften von Sachrelationen. Die Produzent*innen organisieren ihre sozialen Beziehungen nach den sachlich notwendigen Eigenschaften, die die Waren haben müssen, um verkaufbar zu sein. Die Waren erzählen den Produzent*innen, was zu tun ist. Karl Marx nannte diese Verkehrung den „Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist“ (Marx 1973a [1890], S. 87). Der Fetischismus ist nicht bloßer Schein, sondern realer sachlicher Zwang, dem Produzent*innen in der Konkurrenz folgen müssen, um im Geschäft zu bleiben. Der Sachzwang nimmt vielfältige Gestalt an und durchzieht alle gesellschaftlichen Bereiche, sei es als Wachstumszwang, als Sparzwang, als Externalisierungszwang usw.: Eine unhintergehbare Sachlogik10 bestimmt, was wie sozial gestaltet werden kann – und was nicht.11 Pointiert: Statt bewusster sozialer Bewegung des Sachlichen für sinnlich-konkrete Zwecke (Bedürfnisse) kommt es zu einer unbewussten sachlich getriebenen Bewegung des Sozialen für fremde abstrakte Ziele (Geldvermehrung). Das Geld als sachlichquantitatives Wertverhältnis ist darin das Mittel der (individuellen oder kollek9 Eine Folge von Verdopplung, Äquivalenz und Konkurrenz ist der Wachstumszwang, der aber hier nicht weiter interessiert. 10 Ich verwende den Begriff Logik im Sinne einer objektiven Rationalität, die Strukturen inne wohnt und sie konstituiert. Neben der objektiv-strukturellen Rationalität gibt es die subjektive Rationalität (oder Begründetheit). Subjektiv legen mir die objektiven Rationalitäten – Logiken – zwar eine Handlung nahe; ich muss dem jedoch nicht folgen, sondern kann eine eigene subjektive Rationalität, also Gründe, entwickeln, anders zu handeln. 11 Nach dem Präsidenten des ifo Instituts für Wirtschaftsforschung Hans-Werner Sinn (2017, S. 23) „bestimmen die ökonomischen Gesetze den Rahmen, innerhalb dessen sich die Politik bewegen kann“.
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tiven) Zurechnung sozialer Verpflichtungen („Schulden“). Das Geld entscheidet, und es kennt keine Moral.12 Verwertung. Konkurrenz und Verkehrung sowie das Primat der Vermittlung führen in der Produktion zum Zwang zur Verwertung. Das bedeutet, produziert wird primär, um eingesetztes Kapital zu vermehren. Aus Geld muss mehr Geld werden. Das Geld bezieht sich somit auf sich selbst, indem es sich verwertet. Die Produktion von nützlichen Gütern ist nur Mittel für den Primärzweck der Geldverwertung. Auch auf der Ebene des Geldes bzw. des Kapitals finden wir: Das Kapital erscheint als handelnde Macht und seine Besitzer*innen nur als ausführende Agent*innen des fremd vorgegebenen Zwecks. Die Positionen von Objekt und Subjekt verkehren sich, das Kapital wird zum „automatischen Subjekt“, so Karl Marx (ebd., S. 169): Der Wert sei „das Subjekt eines Prozesses, worin er unter dem beständigen Wechsel der Formen von Geld und Ware seine Größe selbst verändert, sich als Mehrwert von sich selbst als ursprünglichem Wert abstößt, sich selbst verwertet“. Externalisierung. Der stete Zwang zur Verbilligung der Waren in der Konkurrenz führt tendenziell zur Externalisierung der Aufwände (= Kosten), die nicht zur Verkaufbarkeit der Ware beitragen. Dabei können externalisierte Aspekte dann wieder reinternalisiert werden, wenn sie die Verkaufbarkeit in einem bestimmten Segment (etwa Bio- oder Fair-Trade-Produkte) erhöhen und zusätzliche Bedürfnisse befriedigen („gutes Gewissen“ etc.). Eine weitere Möglichkeit der erzwungenen Reinternalisierung ist die staatliche Gesetzgebung zur Einhaltung bestimmter Standards, die jedoch einer (Standort-)Konkurrenz um die besten Bedingungen der Verwertung von Kapital unterliegen. Dies kann eine Unterbietungsdynamik („race to the bottom“) auslösen, zum Beispiel bei Steuern oder Umweltstandards. Externalisierung mit den entsprechenden Folgen für Menschen, Umwelt und Ressourcen ist der strukturelle Normalfall, der bislang trotz aller Bemühungen einer
12 Da das Geld offensichtlich kein Subjekt ist – auch wenn die Wirtschaftspresse täglich die Verkehrung mit „handelnden Märkten“ u. dgl. zelebriert –, wird nun weithin der objektive Sachzwang, in dem die handelnden Akteure stehen, wieder resubjektiviert: Den Akteuren wird Absicht oder gar Vorsatz unterstellt (etwa als „Gier“ etc.). Wahres Moment dieser Zuschreibung ist die Möglichkeitsbeziehung, in der alle Individuen stehen. Sie übersieht, dass die Akteure sich freiwillig im systemfunktionalen Sinne für die richtige Möglichkeit entscheiden müssen, wollen sie in diesem Zusammenhang ihre Position und Existenz sichern. Ein individueller Ausstieg bleibt gleichwohl immer möglich, tangiert den Zusammenhang aber nicht, da die notwendigen Systemfunktionen nur durchschnittlich von irgendwem, nicht aber individuell-konkret von einer spezifischen Person erfüllt werden müssen.
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Einpreisung innerhalb der Warenlogik (CO2-Zertifikate-Handel u. Ä.) nicht annähernd kompensiert oder umgedreht werden konnte. Exklusionslogik. Der Externalisierung auf der Sachebene entspricht die Exklu sionslogik auf der Seite der sozialen Beziehungen. Durch Verdopplung, Konkurrenz und den Zwang zur (Selbst-)Verwertung werden die Menschen in ein strukturelles Ausschließungsverhältnis gesetzt. Die Exklusionslogik steht dabei (analog zur Konkurrenz) nicht im Gegensatz zur Reziprozität (analog zur Kooperation), sondern ist eine Realisierungsform derselben. Die Exklusionslogik zeigt sich als eine Handlungsrationalität13, nach der es subjektiv funktional ist, sich auf Kosten von anderen durchzusetzen. Sie kann gefasst werden als strukturell konditionale negative Reziprozität. Die Gegensätzlichkeit der Dimensionen von Nützlichkeit und Vermittlung bei der Ware zeigt sich als Interessengegensatz in der sozialen Interaktion. Die Verkäufer*in will einen hohen Preis erzielen, die Käufer*in einen niedrigen; die Käufer*in strebt nach hohem Befriedigungswert durch hohe Qualität, die die Verkäufer*in aus Konkurrenzgründen tendenziell minimieren muss.14 Untereinander stehen Verkaufende – gleich ob von Produkten oder eigener Arbeitskraft – in Konkurrenz zueinander. Der eroberte Marktanteil der einen ist der verlorene der anderen, der Gewinnaufschlag der einen der Verlust der anderen. Da die Exklusionslogik kein Willens-, sondern ein Strukturverhältnis ist, lässt sie sich nicht ohne Weiteres willentlich aufheben – so, wie es ebenso wenig stets persönliche Absicht der einen ist, die anderen auszustechen. Gleichwohl setzen sich solche Personen unter diesen Bedingungen besonders effektvoll durch, die es gelernt haben, soziale oder vorgebliche natürliche Differenzen zwischen Menschen (Geschlecht, Hautfarbe, Bildung, Sexualität, Alter etc.) gezielt zur Abwertung, Ausgrenzung bis hin zur physischen Beschädigung oder Vernichtung zu nutzen.15
3.2 Doppeltes Doppel Im bisherigen Gang der Argumentation wurde das überhistorische, für alle Gesellschaften gültige Doppelverhältnis von gesellschaftlicher Individualvermittlung und systemischer Selbstvermittlung der Gesellschaft und der historisch-spezi13 Handlungsrationalität und Handlungslogik fassen den gleichen Zusammenhang, wobei der erste Begriff eher die begründet-subjektive und der zweite die strukturell-objektive Dimension hervorhebt. Vgl. dazu auch Fußnote 10. 14 Die Entgegnung, Unternehmen müssten sich dann eben vermittels höherer Qualität am Markt durchsetzen, verschiebt das gleiche Argument nur auf ein höheres Level der Qualität. 15 In der Feindschaft gegen andere liegen auch Momente der Selbstfeindschaft (vgl. Holzkamp 1983, S. 376 ff.), die an dieser Stelle jedoch nur erwähnt und nicht diskutiert werden können.
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fische, nur für den Kapitalismus gültige Gegensatz von Nützlichkeit und Vermittlung bei der Ware nacheinander entwickelt. Doch wie verhalten sich beide Doppelverhältnisse zueinander ? Wie zeigen sich die gesellschaftliche Individualvermittlung und die systemische Selbstvermittlung der Gesellschaft unter kapitalistischen Bedingungen ? Diese Fragen seien mit Blick auf die Nützlichkeits- und der Vermittlungsdimension diskutiert. Nützlichkeit. Wegen des Vorrangs der Vermittlung vor der Nützlichkeit müssen Waren erst gekauft werden, bevor sie konsumiert werden können. Vor dem Kauf steht damit erst der Gelderwerb durch eigene ökonomische Aktivitäten der (Selbst-)Verwertung. Doch trotz der Dominanz der Geldvermittlung in der Warengesellschaft werden lange nicht alle gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten auf diese Weise organisiert, im Gegenteil: Deutlich mehr als die Hälfte wird unbezahlt erbracht (Statistisches Bundesamt 2015). Allerdings ist der relative Anteil unbezahlter Tätigkeiten wie Sorge um Kinder und Pflegebedürftige, Erholung, Bildung und Ehrenamt in der letzten Dekade gesunken (Schäfer 2004). Anders ausgedrückt: Immer mehr gesellschaftlich notwendige nützliche Tätigkeiten, die allerdings immer noch ein größeres Fundament unbezahlter Tätigkeiten voraussetzen, vermitteln sich über Geld. Dabei ist die geschlechtliche Differenz nach wie vor deutlich sichtbar: Frauen haben einen wesentlich höheren Anteil an der unbezahlten Arbeit als Männer (zur Problematik sozialer Reproduktion vgl. auch Winkler 2013). Vermittlung. Wie der Begriff schon nahelegt, verbindet sich die systemische Selbstvermittlung mit dem Moment der Vermittlung der Ware, ihrer Wertgestalt. Das bedeutet, die Selbstvermittlung als überhistorische Eigenschaft jeder Gesellschaft wird im Kapitalismus in Form der Wert- bzw. verdinglicht der Geldvermittlung realisiert. Damit jedoch werden die vorher analysierten Verkehrungen von Bedürfnis und Wert sowie von Sozialem und Sachlichem importiert und zum Bestandteil der gesellschaftlichen Selbstvermittlung. Gesellschaft erscheint als ein dem Individuum gegenüberstehender fremder Zusammenhang, in dem der Wert und der Sachzwang diktieren, wo es lang geht. Diese Erfahrung wird jedoch häufig ontologisiert und zum Wesen menschlicher Gesellschaft schlechthin umgedeutet. Tatsächlich handelt es sich um eine historisch-spezifische und damit auch wieder vergehende Form der Realisierung der gesellschaftlichen Selbstvermittlung. Das bedeutet, dass eine Form der gesellschaftlichen Selbstvermittlung möglich ist, in der die Verhältnisse bewusst bedürfniszentriert so gestaltet werden können, dass Gesellschaft nicht als etwas fremdes, sondern als etwas eigenes, dem Individuum und seinen Bedürfnissen entsprechender Zusammenhang erfahren werden kann.
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Die zunächst getrennte Analyse von Gesellschaftlichkeit und Warenproduktion ermöglicht es zu erkennen, dass jede Gesellschaft einen autoreproduktiven Charakter hat, dass sich aber nur im Kapitalismus diese Funktion mit dem „automatischen Subjekt“ der endlosen Wertverwertung zusammenschließt. Damit kann zwei Kurzschlüssen entgegengetreten werden: (1) Der Kapitalismus ist die „natürliche“ entfaltete Form gesellschaftlicher Selbstvermittlung; (2) eine postmonetäre Gesellschaft kann keine autoreproduktive systemische Selbstvermittlung besitzen. Stattdessen wird deutlich, dass die systemische Selbstvermittlung der Gesellschaft dann eine Bedürfnisbasis bekommen kann, wenn die beschriebenen Verkehrungen (Bedürfnis – Wert, Soziales – Sachliches) in einer postmonetären Gesellschaft aufgehoben werden. Das ist nun zu entwickeln.
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Methodische Zwischenüberlegung: Diskursunterscheidung
Die kategorialen Voraussetzungen zur Diskussion der Frage, ob es eine Gesellschaft nach dem Geld geben kann und welche Formen der gesellschaftlichen Vermittlung sich ausbilden können, die nicht auf individuellen sozialen Verpflichtungen („Schuld“) basieren, können nun entwickelt werden. Zuvor ist jedoch eine Diskursunterscheidung zu treffen, um Argumente nicht unzulässig zu vermischen. Im Diskurs 1, den ich Utopiediskurs nenne, geht es um die Frage, ob und wie sich grundsätzlich eine Gesellschaft nach dem Geld auf ihrer eigenen Grundlage entwickeln kann. Darin steckt die Annahme, dass es sich bei einer postmonetären Gesellschaft um eine sich qualitativ von der jetzt vorfindlichen Gesellschaft unterscheidende handelt. Sie gründet auf eigenen zu entfaltenden Kategorien und kann sinnvoll nur innerhalb dieses Diskursraums diskutiert werden. Im Diskurs 2, den ich Transformationsdiskurs nenne, geht es um den Übergang von der jetzigen Gesellschaft mit den ihr eigenen kategorialen Grundlagen hin zu einer postmonetären Gesellschaft und den ihr eigenen kategorialen Grundlagen, die zuvor im Utopiediskurs entwickelt worden sein müssen. Ohne dass klar ist, wohin die Transformation geht, ist sie nicht sinnvoll diskutierbar (vgl. dazu auch Sutterlütti & Meretz 2018).16 Der Utopiediskurs ist also vorgängig und soll im Folgenden im Fokus stehen. Damit diskutiere ich Ansatzpunkte („Keimformen“) einer möglichen Entwicklung im Hier und Heute sowie die notwendige Widersprüchlichkeit, die Neues unter den gegebenen Bedingungen ausbilden muss (vgl. Meretz 2014a), nur insoweit 16 Was geschieht, wenn man die beiden Diskurse nicht unterscheidet, zeigen zahlreiche Kritiken des Commons-Ansatzes (etwa Mats 2017).
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sie den Utopiediskurs begründen.17 Um überhaupt Keimformen eines Neuen bestimmen und Widersprüche in der realen Entwicklung analysieren zu können, ist zunächst die Entfaltung der Kategorien einer neuen Form gesellschaftlicher Doppelvermittlung voranzutreiben. Es geht damit um Fragen wie: Kann eine Gesellschaft, die nicht auf getrennter Privatproduktion und Konkurrenz beruht (Warenproduktion), stabil „funktionieren“ ? Wie könnten neue Vermittlungsformen jenseits des Geldes beschaffen sein ? Was könnte das für die sozialen Vermittlungsund Verpflichtungsverhältnisse bedeuten ?
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Nachdem nun die begrifflichen Voraussetzungen aus der Analyse der Gesellschaftlichkeit im Allgemeinen und des Kapitalismus im Besonderen entwickelt wurden, können diese für die Entwicklung der kategorialen Grundlagen einer postmonetären Gesellschaft genutzt werden. Dabei ist jeweils sorgsam zu fragen, inwieweit die überhistorischen Aspekte gesellschaftlicher Organisation in solcher Form zur Geltung kommen können, dass die analysierten Verkehrungen kapitalistischer Vergesellschaftung unterbleiben. Das Kind ist also nicht mit dem Bade auszuschütten, sondern das Badewasser ist auszutauschen.
5.1 Elementarform Commons Welcher Element-Totalitäts-Zusammenhang schafft die Voraussetzungen dafür, dass sich eine postmonetäre Gesellschaft entfalten kann ? Anders gefragt: Welches Element als basale Handlungsmatrix erzeugt die Totalität des neuen postmonetären gesellschaftlichen Systems und wird gleichzeitig von diesem erzeugt ? Die gesuchte soziale Mikroform kann nicht aus dem Nichts geschaffen werden, sondern muss als Teil menschlich-gesellschaftlicher Potenzialität bereits in unentfalteter Form, in Keimform, existieren. Als solche können die Commons identifiziert werden. Nach Wikipedia bezeichnet der Begriff „Ressourcen (Code, Wissen, Nahrung, Energiequellen, Wasser, Land, Zeit u. a.), die aus selbstorganisierten Prozessen des gemeinsamen bedürfnisorientierten Produzierens, Verwaltens, Pflegens 17 Hier unterscheiden sich Forschungsprozess und Darstellung. Tatsächlich sind gemäß den Überlegungen zum Element-Totalitäts-Zusammenhang sowohl Element wie Totalität einander erkennende Voraussetzung. Deduktiv ist diese Forderung jedoch nicht einlösbar. Allein in einem reflexiven Forschungsprozess können beide Momente gemeinsam entwickelt werden. Das kommt in einer linearen Darstellung jedoch nur schwer zur Geltung.
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und/oder Nutzens (Commoning) hervorgehen“ (de.wikipedia.org/wiki/Commons, Zugriff am 14. 11. 2017). Wenn im Folgenden von Commons die Rede ist, so stets im Sinne von emerging commons oder neuen Commons, die sich in der Spätphase des Kapitalismus herausbildeten – in Abhebung von „überlebenden“ traditionalen Commons (vgl. Hess 2000),18 die in der Frühphase weitgehend (aber nicht vollständig) vom emerging capitalism, vom sich entfaltenden Kapitalismus verdrängt und zerstört wurden.19 Als unentfaltete Form besitzen (neue) Commons jedoch keinen systemischen Entfaltungsrahmen, in dem ihre eigene Qualität zur Geltung kommen könnte. Sie befinden sich im Kapitalismus in einem gleichsam „feindlichen Umfeld“. Das bedeutet, dass heute vorfindliche Keimformen niemals die Qualität einer konstitutiven Elementarform in einem korrespondierenden Gesamtsystem haben können (vgl. dazu Meretz 2014b). Die Entfaltung vorhandener Potenzen kann also zwar bei der begrifflichen Entwicklung an den vorhandenen, empirisch vorfindlichen Realisationsweisen ansetzen, muss diese jedoch durch Erfassung ihrer Eigenlogik über die bestehenden Restriktionen hinaustreiben. Dies ist in zahlreichen Studien geschehen (Acksel et al. 2015; Baier et al. 2016; Exner & Kratzwald 2012; Habermann 2009, 2016; Helfrich & Heinrich-Böll-Stiftung 2012; Helfrich et al. 2015; Meretz 2009, 2010, 2014a, 2014b, 2014c, 2015, 2017; Schlemm 2006; Siefkes 2008, 2013, 2014, 2016; Sutterlütti & Meretz 2018; van Abel et al. 2011). Die Ergebnisse kann ich in Bezug auf die hier aufgeworfene kategoriale Fragestellung im Folgenden zusammenfassen und mit den von der Warenproduktion bekannten Erscheinungsformen kontrastieren.
5.2 Vermittlung ex post und ex ante Ein erster zentraler Unterschied findet sich beim Verhältnis von Nützlichkeit und Vermittlung. Bei der Ware folgen die beiden Dimensionen getrennten Handlungsrationalitäten. In der Produktion geht es durchaus um die Nützlichkeit und die potenzielle Bedürfnisbefriedigung, die allerdings vom Primat des Werts überlagert ist. Denn ob sich die Potenz zur Bedürfnisbefriedigung auch realisiert, stellt sich erst nach der Produktion (ex post) heraus, wenn die Vermittlung, der Ver18 In der angelsächsischen Rechtstradition nahmen die Commons durchaus institutionelle Formen an, so 1215 mit der Magna Charta und 1225 mit der Great Charta of the Forrest (vgl. dazu Linebaugh 2008). 19 Dieser Verdrängungs- und Zerstörungsprozess wird auch als „enclosure of the commons“ (Neeson 1996) gefasst und ist keineswegs abgeschlossen, sondern begleitet den anhaltenden Prozess der Inwertsetzung bislang von der Warenform unerfasster Bereiche weltweit.
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kauf, auch tatsächlich gelingt und die Ware konsumiert wird. Das führt dazu, dass eine ungeheure Sammlung nebeneinander stehender Waren produziert wird, deren Bedürfnisbefriedigungspotenz untereinander nicht vermittelt ist, da die Vermittlung nicht über die Nützlichkeitsdimension, sondern über den gesellschaftlichen Aufwandsvergleich, den Wert, erfolgt. Dies wiederum hat zur Konsequenz, dass die Produzent*innen sich maßgeblich an der Aufwandsminimierung, also Kostenreduktion, orientieren (müssen). Der Druck, alle nicht die Verkaufbarkeit fördernden Bedürfnisaspekte zu externalisieren, um die Kosten zu senken, ist in der Konkurrenz groß. Aus Sicht des Konsumierenden geraten unterschiedliche Bedürfnisse in Konkurrenz zueinander: Was die eine Ware verbilligt und damit die von ihr geleistete Bedürfnisbefriedigung leichter zugänglich macht, führt zu Verletzung von Bedürfnissen auf einer anderen Seite (etwa in der Produktion durch schlechte Arbeitsbedingungen oder niedrige Löhne). Die oben beschriebene Exklusionslogik auf der Ebene der sozialen Beziehungen zwischen den Menschen findet ihre Entsprechung auf der Ebene der dinglichen Befriedigung der Bedürfnisse. Auch hier schließt mitunter das eine Bedürfnis das andere aus und schädigt die eine Bedürfnisbefriedigung die Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung in einem anderen Bereich. In der Regel verteilen sich diese Schädigungsverhältnisse auf unterschiedliche Personen, sodass die anderen, auf deren Kosten die einen leben, meist unsichtbar bleiben. Doch auch wenn es sich um die gleiche Person handelt, ist der Zusammenhang wegen der vielfältigen kaskadierten Vermittlungen meist intransparent, sodass der reale Zusammenhang von „eine Ware billig kaufen wollen“ und „die Externalisierungen, die die Verbilligung der Ware ermöglichen, nicht hinnehmen wollen“, faktisch also der selbstschädigende Charakter des eigenen Verhaltens, unerkannt bleibt. Auch dies verdeutlicht noch einmal, dass eine Fassung der Warenproduktion als bloße Güterproduktion wesentlich unbegriffen bleibt, weil der Aspekt der sozialen Form mit den hier aufgezeigten Konsequenzen dabei herausfällt. Bei den Commons stellt sich das Verhältnis von Nützlichkeit und Vermittlung völlig anders dar. Es zerfällt hier nicht in unterschiedliche Handlungsrationalitäten, sondern die Vermittlung erfolgt über die Dimension der Nützlichkeit. Damit werden die mit der Nützlichkeit verbundenen Bedürfnisse unmittelbar und tendenziell vor der Reproduktion (ex ante) in ein Verhältnis gesetzt. Bedürfniskonflikte können damit bereits an dieser Stelle zutage treten und vermittelt werden.20 20 Dabei ist es nicht möglich, aber auch nicht nötig, ein zu realisierendes Bedürfnis stets mit allen anderen Bedürfnissen zu vermitteln, die durch die Realisierung betroffen sein könnten. In hochtätigkeitsteiligen Gesellschaften geht es auch darum, den Vermittlungsaufwand (bei der Ware: die Transaktionskosten) zu minimieren, also nicht eine vollständige Vermittlung
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Commons tendieren daher dazu, andere Bedürfnisse zu internalisieren, also Lösungen zu finden, die das primäre Bedürfnis befriedigen können, ohne dass dies auf Kosten sekundärer Bedürfnisse geht. Der Inklusionslogik aufseiten der Bedürfnisse und ihrer Realisierung entspricht die gleiche Logik auf der Seite der sozialen Beziehungen der Akteure. Ausführliche Beschreibungen möglicher darauf basierender Vermittlungsformen folgen weiter unten. Zugespitzt ausgedrückt hat die Ex-post-Vermittlung einen nachsorgenden Charakter, der etwa durch staatliche Maßnahmen nie eingeholt und kompensiert werden kann, während sich die Ex-ante-Vermittlung durch ihren strukturell vorsorgenden Charakter auszeichnet.
5.3 Reproduktionsdimensionen bei Commons Die vorsorgende Herstellung und Erhaltung gesellschaftlicher Lebensbedingungen – Reproduktion im oben beschriebenen allgemeinen Sinne – kann mittels dreier Reproduktionsdimensionen charakterisiert werden.21 Zunächst gehen Ressourcen in den Prozess ein, wobei der Begriff Ressource hier umfassend als Voraussetzung für die Reproduktion verstanden wird und neben Naturressourcen auch (Vor-)Produkte, Wissen und Fertigkeiten sowie Reproduktionsmittel umfasst. Dann vollzieht sich der Prozess der Reproduktion in einer – historisch hochgradig unterschiedlichen – sozialen Form und erzeugt diese. Schließlich stehen am Ende eines Zyklus der Reproduktion Produkte im weitesten Sinne, die der Bedürfnisbefriedigung dienen. Dazu gehören sowohl stoffliche und symbolische Güter (mehr zur Gütersystematik vgl. Meretz 2009) wie auch interpersonale Leistungen und Beziehungen („Dienstleistungen“ oder „Care“). Alle Bedürfnisse besitzen der Kritischen Psychologie folgend zwei aufeinander bezogene basale Dimensionen, die sinnlich-vitale und die produktive (H.-Osterkamp 1976). Die sinnlich-vitale Bedürfnisdimension richtet sich auf die individuellen Bedürfnisinhalte (Ernährung, Sexualität, Sicherheit etc.), die – vermittelt über die produktive Bedürfnisdimension – durch Teilhabe an der Verfügung über die vorsorgende Herstellung der Befriedigungsmittel erreicht werden können: „Verfügung hat […] eine natürliche Bedürfnisgrundlage.“ (Küpper 2016, S. 50) von allem mit allem zu erreichen, aber auch keine unterkomplexe hierarchische Vermittlung zu installieren. Stattdessen tendieren solche Gesellschaften zu netzwerkartigen Strukturen der Vermittlung, deren Eigenschaften im Textverlauf noch diskutiert werden. 21 Sutterlütti und Meretz (2018) verwenden drei Prozessdimensionen (Herstellung, Vermittlung und Nutzung), die zusätzlich die interpersonalen Beziehungen und auch die transpersonale Vermittlung einbeziehen, die in diesem Text als Merkmale des Commonings bzw. im Fall der Vermittlung in einem eigenen Abschnitt diskutiert werden.
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Ressourcen in dem dargestellten weiten Sinne gehen sowohl in die Warenproduktion wie in die Commonsreproduktion ein. Der Zweck und damit die Rolle der Ressourcen unterscheidet sich allerdings gravierend. Zweck der Warenproduktion ist die Erzeugung von verkaufbaren – was immer bedeutet: preislich konkurrenzfähigen – Waren. Ressourcen dienen dazu, die erforderliche (oder auch vorgespiegelte) Verkaufsqualität zum möglichst niedrigen Preis zu erreichen. Sie gehen als zu minimierender Kostenfaktor in die Produktion ein. Zweck der Commonsreproduktion ist die Erzielung von Nützlichkeit zur Befriedigung von Bedürfnissen. Ist in der Warenproduktion das Verhältnis zu den Ressourcen eher instrumentell, extraktiv und nachsorgend, so ist es in der Commonsreproduktion eher zweckgerichtet, erhaltend und vorsorgend (s. o.). Die soziale Praxis der Commons wird auch als Commoning bezeichnet.22 Es ist der Prozess der Herstellung und/oder Pflege nützlicher Güter zur Befriedigung von Bedürfnissen sowie von sozialen Beziehungen in diesem Prozess. Folgende Merkmale können für das Commoning skizzenhaft benannt werden (in Klammern zur Kontrastierung die Merkmale der Warenform): ■■ Herrschaftsfreiheit und Freiwilligkeit (sachlicher Zwang und personales Kommando): Da es in Commons in der Regel strukturell keine Machtmittel gibt, kann auch niemand zu etwas gebracht werden, dass er/sie nicht will, sondern die Beteiligung erfolgt grundsätzlich auf freiwilliger Basis. ■■ Beitragen (Tauschen): Die interpersonale Reziprozität ist grundsätzlich bedingungsfrei (s. o.), sodass eine soziale Verpflichtung auf der Mikroebene nicht besteht. Die Motivation für solcherart entkoppelte Beiträge kommt aus dem produktiven Bedürfnisantrieb, an der Verfügung über den kollektiven (und damit gesellschaftlichen) Prozess teilhaben zu wollen, der die Voraussetzung für die individuelle Existenzsicherung ist. ■■ Individuelle Selbstentfaltung (marktfähige Selbstverwertung): Ein weiterer Aspekt der produktiven Bedürfnisdimension ist die strukturell positive reziproke Entfaltung der je eigenen Individualität. Das heißt, die eigene Entfaltung der individuellen Möglichkeiten ist positiv auf die Entfaltung der anderen bezogen und setzt diese voraus – und umgekehrt. ■■ Kollektive Selbstorganisation (Fremdbestimmung): Die Unterschiedlichkeit der Ressourcen und Produkte sowie der beteiligten Personen spiegelt sich in der sozialen Organisation wider. Die Beteiligten verständigen sich auf die Regeln, die sowohl ihren Bedürfnissen wie auch den Bedingungen entsprechen.
22 Dem Historiker Peter Linebaugh wird der Satz „There is no commons without commoning“ zugeschrieben (vgl. Habermann 2016, S. 25).
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■■ Besitz (Eigentum): Entscheidend ist die reale Verfügung über die Ressourcen, die für die Reproduktion notwendig sind (zur Differenz von Besitz und Eigentum vgl. Meretz 2010). Commons benötigen kein Eigentum, können aber auf Grundlage realen Besitzes auch unter Bedingungen des juristischen Eigentums existieren. Die Resultate des Commonings unter Nutzung der Ressourcen sind stoffliche, symbolische und soziale Produkte im weitesten Sinne.23 Hierbei wird deutlich, dass Commons keine Trennung von Produktion und Reproduktion kennen, sondern dass alle im traditionellen Sinn produktiven wie reproduktiven Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens hergestellt werden. Das bedeutet, dass Commons nicht die aus der Warenproduktion bekannte Sphärenspaltung in eine männlich strukturierte öffentlich-wertproduktive und eine weiblich strukturierte privat-reproduktive Sphäre (vgl. Scholz 2000) mit je eigenen Handlungslogiken hervorbringen. Neuschöpfung und Erhaltung/Pflege lassen sich zwar (analytisch) unterscheiden, gehören aber praktisch zusammen und folgen den gleichen inklusiven Handlungslogiken.
5.4 Commonsgesellschaft Nachdem nun implizit vorgreifend auf das Ganze das Element der Commons im Element-Totalitäts-Zusammenhang bestimmt ist – das Element hat seine Funktion nur im Milieu des Ganzen –, soll nun die ausstehende Bestimmung der gesellschaftlichen Totalität einer Commonsgesellschaft eingeholt werden. Dazu sind wiederum Reflexionen erforderlich, wie dieses Ganze auf eben der Ebene des Ganzen begriffen werden kann. Als konzeptuelles Denkmittel verwende ich ein Netzwerk, das aus Knoten und Verbindungen zwischen den Knoten, den Kanten, besteht. Ein Knoten ist ein einzelnes Commons. Dieses ist wiederum selbst ein Netzwerk von unmittelbar-kooperativ interagierenden Menschen. Es repräsentiert die Ebene der (inter)subjektiven Möglichkeiten (s. o.). Die Commonsgesellschaft ist dann das transpersonale Gesamtnetzwerk aller gesellschaftlich-kooperativ vermittelten Commonsknoten und repräsentiert die Ebene der objektiven Notwendigkeiten. Interpersonale wie transpersonale Beziehungen werden als Kanten abgebildet und basieren auf dem gleichen qualitativ-konkreten Modus der Vermittlung (dazu später mehr). Eine Gesellschaft ist mithin ein geschichtetes transpersonales Netzwerk von personalen Netzwerken. Die Topologie eines solchen gesellschaftli23 Auch interpersonale Beziehungen, soziale Regeln etc. sind „Produkte“ des Commonings.
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chen Vermittlungsnetzes ist charakteristisch für eine spezifische gesellschaftliche Form, so auch für die Commonsgesellschaft. Topologisch kann das Netzwerk einer Commonsgesellschaft als polyzentrisch und skalenfrei gekennzeichnet werden, und zur Erfassung der inhaltlichen Qualität der Vermittlung eignet sich das Konzept der Stigmergie (Erklärungen folgen). Polyzentrizität wird vor allem für sich „selbst organisierende […] komplexe adaptive Systeme“ (Ostrom 2011, S. 38) in der Commonsforschung beschrieben, wie ich sie hier als Netzwerk gefasst habe. Wenn Netzwerksysteme wachsen, dann nicht allein dadurch, dass neue Knoten und Kanten entstehen, sondern auch dadurch, dass das Netzwerk sich permanent strukturell umbaut. Als polyzentrisch wird ein System bezeichnet, das mehrere verteilte Zentren ausbildet, die Steuerungs- und Regelungsfunktionen (engl. governance) übernehmen. Bestimmte Knoten bekommen zunehmend Meta-Aufgaben, also solche der Schaffung von Voraussetzungen für das Funktionieren der anderen Knoten, etwa der Infrastrukturbildung. Solche Polyzentren oder Meta-Knoten (hier: Meta-Commons) werden auch Hubs genannt und ziehen viele Verbindungen auf sich. Mit zunehmender nichthierarchischer Verteilung der koordinierenden Aufgaben über viele Knoten spreche ich von verteilter Selbstplanung im Netzwerk.24 Mit fortschreitender polyzentrischer innerer Differenzierung eines großen komplexen Netzwerks bildet sich eine skalenfreie Verteilung der Vernetzungsdichte (also der ein- und ausgehenden Kanten) der Knoten aus. Das bedeutet, dass die Topologie weitgehend selbstähnlich ist und damit die Eigenschaften des Netzes weitgehend maßstabsunabhängig sind: Ausschnitte des Netzes verhalten sich so wie das Gesamtnetz. Die Idealität der Theorie – Netzwerke, die dem Potenzgesetz folgen, sind skaleninvariant – findet in der Realität gleichwohl ihre untere Grenze: Zu kleine Teilnetze funktionieren nicht mehr wie das Gesamtnetz. Dennoch ist die partielle Skalenfreiheit eine essenzielle Eigenschaft gesellschaftlicher Organisation, denn sie sorgt für eine weitgehende Robustheit gegen Ausfälle von Knoten, also partielle Schädigungen der Vernetzung (etwa bei Katastrophen).25 Mit der topologischen Betrachtung sind noch keine Aussagen über die inhaltliche Qualität der Kanten, also der Vermittlungsbeziehungen zwischen Personen und Commons, getroffen. Dies ist Thema der nächsten Abschnitts.
24 Die fundamentale Differenz der eingebetteten verteilten Selbstplanung zur getrennten Zentralplanung realsozialistischer Prägung sei nur erwähnt, nicht aber weiter diskutiert. 25 Es wäre interessant zu untersuchen, ob das aktuelle Geldsystem die partielle Skalenfreiheit und damit die Toleranz gegen lokales Knotenversagen (noch) besitzt.
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5.5 Stigmergie Der Begriff Stigmergie – aus den griechischen Wörtern Stigma (στιγμα) für Markierung und Ergon (εργον) für Arbeit – wurde vom französischen Biologen Pierre-Paul Grassé (1959) geprägt, der das emergente Verhalten von Termiten untersuchte. Allgemein ausgedrückt geben lokale Zeichen Hinweise auf anschließende Folge- oder erwünschte neue Aktivitäten. Francis Heylighen (2007) wandte das Konzept der Stigmergie auf die commonsbasierte Peer-Produktion an (vgl. dazu Benkler 2006; Siefkes 2008). Stigmergie ist keine neuartige, auf eine mögliche Commonsgesellschaft beschränkte Vermittlungsform, sondern Aspekt jeder Gesellschaft. So kann man den Markt als stigmergisches System fassen. Hier soll entfaltet werden, in welcher Weise Stigmergie als neues Prinzip postmonetärer Vermittlung in einer Commonsgesellschaft zum Tragen kommen kann. Im Folgenden werden diese Überlegungen vorgestellt und anhand folgender Aspekte diskutiert: Entscheidungen, Konflikte, Informationen, Bandbreite, Koordination, Planung. Entscheidungen. Kollektive und gesamtgesellschaftliche Vorsorge erfordert Entscheidungen darüber, was wie getan wird. Heutzutage werden gewöhnlich hierar chische Verfahren verwendet, bei denen mit zunehmender Hierarchiehöhe die Entscheidungsgewalt zunimmt. Dazu ist es notwendig, dass Feldinformationen nach oben aggregiert, zu einer Entscheidung verdichtet und als Prozessanweisungen wieder nach unten verteilt werden. So soll gewährleistet sein, das tätigkeitsgeteilte Prozesse zu einem konsistenten Ergebnis führen. Durch die Trennung von Entscheidung und Ausführung, die Karl Marx (1973b [1875], S. 21) als „knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit“ kritisierte, sowie die sich bei vielen Hierarchiestufen und hochgradiger Zergliederung in Einzelschritte einstellende Intransparenz und individuelle Entfaltungseinschränkung kann es zu erheblichen Motivationsverlusten kommen, die durch Fremdbelohnungen (z. B. monetäre Gratifikation) nicht kompensiert werden können (vgl. Deci et al. 1999). Die Abflachung von Hierarchien und die Schaffung von Bereichen der Eigeninitiative verringert zwar die Diskrepanz, kann jedoch keine grundsätzliche Lösung für das Motivationsproblem26 bieten. Zumal unter Bedingungen der Warenproduktion die Antriebe für die Produktion nicht bedürfnis-, sondern verwertungsbasiert sind.
26 Das Motivationsproblem ist weit komplexer als hier angedeutet, da zwischen Handlungsebene (was wird warum getan) und operativer Ebene (wie wird es getan) unterschieden werden müsste. Beide Ebenen bringen jeweils ihre eigenen Motivationsbezüge und -problematiken hervor (Holzkamp 1983, S. 279 ff., 298 ff.).
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Als Alternativen zu hierarchischen Entscheidungsverfahren werden unter schiedliche Varianten von Mehrheitsentscheidungen und Konsensverfahren genannt und verwendet. Vor allem Konsensverfahren wird die Eigenschaft zuge schrieben, alle Beteiligten einzubeziehen und daher zu einer größeren Motivation zu führen als etwa Mehrheitsentscheidungen. Doch auch Konsensverfahren haben ihre Grenzen. Ein Konsens basiert nicht auf vollständiger Zustimmung aller Beteiligten, sondern auf dem gemeinsamen Herausfinden der Entscheidung, mit der alle leben und der sich am Ende alle zum Zwecke gemeinsamen Handelns unterordnen können. Die Entscheidung und die für sie relevanten Informationen sind hierbei für die Beteiligten transparent, dennoch oder gerade deswegen ist es häufig so, dass eine Entscheidung aufwendig herbeidiskutiert werden muss. Gelingt der Konsens, ist die Motivation dennoch nicht automatisch bei allen Beteiligten gegeben. Denn es kann sein, dass einige ihre individuellen Sichten und Bedürfnisse um der Erreichung einer Entscheidung willen zurückstellen, was die Motivation beeinträchtigen kann. Wirken fremde Faktoren von außen auf die Entscheidungsfindung ein – etwa die Notwendigkeit, externen ökonomischen Zwängen Rechnung zu tragen –, so kann sich die Differenz zwischen dem je eigenen Wollen und dem fremd beeinflussten Müssen zusätzlich negativ auswirken. Eine Selbstauswahl dreht die Richtung der Entscheidung um: Anstatt der Notwendigkeit, eine – hierarchisch oder konsensuell getroffene – Entscheidung zu den Menschen zu bringen (mit welchem Grad an [Eigen-]Druck auch immer), suchen sich die Menschen die Entscheidung, die für sie die richtige ist. Auf Basis lokal verfügbarer Informationen, die durchaus globalen Charakter haben können, wählen sie die Konstellation aus, in der sie tätig sein oder werden wollen. Die auf Freiwilligkeit gründende Selbstauswahl ist die beste Voraussetzung für wirklich motiviertes Handeln. In einer Commonsgesellschaft wird dies auch nicht durch fremde Zwänge (der Verwertung o. dgl.) konterkariert.27 Auf diese Weise entsteht eine Form der Do-ocracy (Habermann 2009, S. 140 f.), bei der die handelnden Personen die Verantwortung für den Prozess übernehmen und innehaben. Konflikte. Zu der Verantwortung der Prozessinhaber*innen gehört es auch, mit Begrenzungen und Konflikten umzugehen. Unter den Bedingungen der Inklusionslogik, also einer bedingungsfreien positiven Reziprozität, lassen sich Konflikte nicht auf dem Wege der Interessenorganisation und Machtausübung lösen. Zum einen fehlen infrastrukturelle Voraussetzungen (Staat, Eigentum, Gewalt27 Von Zwängen, wie sie aus unsinnlichen, bedürfnisabsenten Fremdlogiken herrühren, sind solche Zwänge abzuheben, die etwa durch Katastrophen Situationen erzeugen können, in denen wir uns „gezwungen“ sehen, Verletzten zu helfen, Rettungsmaßnahmen durchzuführen etc. Dies ist uns dann allerdings auch ein Bedürfnis, wie die Praxis zeigt.
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instanzen etc.) für den Machtaufbau. Zum anderen wirkt die Organisation von Interessen zur Durchsetzung von Bedürfnissen auf Kosten von anderen abstoßend und reduziert die Bereitschaft zur Kooperation. So, wie es unter exklusionslogischen Bedingungen gute Gründe gibt, sich mittels effektiver Interessenorganisation auf Kosten von anderen durchzusetzen, so gibt es unter inklusionslogischen Bedingungen gute Gründe, kontinuierlich andere als Realisationspartner*innen für die je eigene Bedürfnisumsetzung zu gewinnen. Mehr noch: Es wird zunehmend emotional und kognitiv evident erfahrbar, dass die Bedürfnisse der anderen grundsätzlich in meinen Bedürfnissen enthalten sind – nicht in jedem Einzelfall, aber im Durchschnitt. Das bedeutet, dass über die Erfüllung von Bedürfnissen anderer auch ich meine Bedürfnisse erfüllen kann. In gewisser Weise entsteht so auch ein Wettbewerb, jedoch nicht im alten exkludierenden Sinne, sondern im Sinne des inkludierenden Gewinnens von anderen zur Kooperation. Auch dabei dennoch auftretende Konflikte (etwa aufgrund begrenzter Realisierungsmöglichkeiten) können nur kooperativ gelöst werden: durch Priorisierung der Umsetzung, durch Suche nach Alternativlösungen und schließlich auch durch individuelles (oder auch kollektives) Aufsuchen von für die Bedürfnisbefriedigung besser geeigneten Kooperationszusammenhängen (nach dem Prinzip der Selbstauswahl). Der Wettbewerb ist also ein Wettbewerb um Inklusivität. Ob Sanktionen für die Konfliktlösung dann noch eine konstitutive Rolle haben, ist strittig (vgl. den Trialog von Siefkes, Meretz und Habermann in diesem Band).28 Informationen. Die Prozesse und Entscheidungen vermittelnden Informationen können zwei Quellen haben: Unmittelbare Prozessinformationen – auch sematektonisch29 genannt – entstehen in und mit der Tätigkeit; mittelbare oder markerbasierte Informationen sind solche, die die Tätigkeit begleiten und der Planung und Koordination dienen. Unmittelbare Prozessinformationen sind etwa Messwerte, Zustandssignale,30 Trackingdaten (vgl. den Beitrag von Kathöfer und Schröter in diesem Band) oder affektive Signale zwischen Menschen. Mittelbare prozesssteuernde Informationen sind etwa Anforderungsbeschreibungen, To-doListen, Besprechungen, Pläne, Statistiken oder Wunschlisten. Diese qualitativen Informationen entstehen vor oder aus Prozessen zur Schaffung der (im)materiel28 Wenn die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom in den von ihr formulierten Gelingensbedingungen für Commons die Notwendigkeit von „Grenzen“ und „Sanktionen“ betont (Ostrom 2009), so ist dies den Schutznotwendigkeiten unter exklusionslogischen Bedingungen geschuldet, aber keineswegs eine grundsätzliche „Eigenschaft“ von Commons. 29 Von griechisch: σήμα (sema) „Zeichen“ und τέκτων (tektōn) „Handwerker, Zimmermann“: Zeichen/Marken, die Handwerker hinterlassen. 30 Etwa die häufig als Beispiel genannten „roten Links“ bei Wikipedia, die anzeigen, dass zu einem verlinkten Begriff noch kein Artikel existiert, aber gewünscht wird.
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len Bedingungen für die Befriedigung von Bedürfnissen – sie bilden diese Bedürfnisse im Vergleich zu bloß indirekten monetär-quantitativen Formaten qualitativ und direkt ab. Vor allem interpersonale Informationen müssen gleichwohl nicht technisch vermittelt, sondern können direkt ausgetauscht werden, insbesondere etwa bei personenbezogenen Care-Tätigkeiten. Vor allem bei transpersonalen Koordinationen kommt hingegen die mediale Vermittlung der Informationen zum Tragen. Bandbreite. Die Informationsformate müssen in der Lage sein, die inhaltliche Qualität der Informationen prozessadäquat abzubilden. Steuerungsdaten, Texte, Bilder, Videos, Augmented Reality etc. erfordern eine hohe Bandbreite, die das Internet prinzipiell zur Verfügung stellt oder stellen kann. Ich sehe hier keine grundsätzliche Limitation, um eine weltweite Integration mit hoher Bandbreite zu erreichen. Koordination. Eine wesentliche Eigenschaft stigmergischer Vermittlung ist ihre indirekte und emergente Koordinationswirkung. Vor Ort verfügbare lokale wie auch globale Informationen erlauben lokales Entscheiden und Handeln. In einer Commonsgesellschaft sind diese Informationen qualitativer Art und können die Bedürfnisse der Menschen abbilden. Das lokale Handeln ist damit inklusiv und bedürfnisorientiert, denn es entfaltet sich in besonderem Maße auf Grundlage der Bedürfnisse der anderen. Exkludierendes Verhalten ist zwar durchaus möglich, es ist aber gleichzeitig dysfunktional und wird damit nicht bestimmend. Die indirekte Koordination führt dazu, dass Ungleichgewichte kontinuierlich durch das Netzwerk propagiert werden, bis sich auch auf der gesellschaftlichen Systemebene eine dynamische Kohärenz einstellt. Das bedeutet, dass der Zustand eines idealen Gleichgewichts nie erreicht wird, dass aber Ungleichgewichte Signale für lokales Handeln31 bereitstellen. Die Vorstellung eines eher statischen Gleichgewichts (wie auch in der traditionellen neoklassischen Theoriebildung vorherrschend) ist abwegig, da sich alle Parameter (Bedürfnisse, Verfahren, Ressourcen etc.) kontinuierlich ändern, sodass eher die systemische Selbstadaption auf Basis kollektiver Intelligenz der Leitbegriff ist. Der Antrieb zur Emergenz ist jedoch nicht ein Abstraktum, wie der Wert beim Markt, der die Bedürfnisse indirekt vermittelt, sondern es sind die Bedürfnisse selbst.
31 „Lokal“ ist nicht zu verwechseln mit „dezentral“: „Lokal“ bedeutet „vor Ort“, was durchaus auch zentrale Prozesse betreffen kann. So kann eine zentrale Infrastruktur durchaus lokal gesteuert werden.
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Planung. Stigmergische Emergenz bedeutet, dass sich – vergleichbar der „unsichtbaren Hand“ (Adam Smith) bei der Marktvermittlung – gesellschaftliche Kohärenz „hinter dem Rücken“ (Karl Marx) der Akteure herstellt, dies allerdings nicht blind, sondern in voller Transparenz. Durch bewusstes Handeln kann der gesellschaftliche Prozess der verteilten Selbstplanung umdirigiert werden, ohne jedoch der Illusion zu unterliegen, eine komplette Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse sei möglich. Jeder Versuch der Planung der gesellschaftlichen Totalität, gar von einer (zentralen) privilegierten Position aus, mündet in totalitären Herrschaftsformen. Wie aber die gesellschaftliche Transparenz herstellen, um adaptive Momente in die verteilte Selbstplanung einbringen zu können ? Traditionell ist das Aufgabe der Politik, doch auch hier nehme ich an, dass die politischen Funktionen der systemischen Ausrichtung und Adaption keiner gesonderten Sphäre angehören, sondern in den gesellschaftlichen Vermittlungsprozess eingebettet sind. Da es kein vermittelndes Abstraktum außerhalb der Bedürfnisvermittlung gibt, hat eine selbstständige Instanz der Umverteilung, Entscheidungsfindung und Prioritätensetzung keine eigene Funktion. Adaption, Entscheidung und Priorisierung sind dagegen über das Netz verteilte Aufgaben, die sich gleichwohl als Meta-Aufgaben in Hubs konzentrieren können (vgl. oben zur Polyzentrizität).
5.6 Blockchain An dieser Stelle kommt eine Technologie ins Spiel, die derzeit einen rasanten Aufstieg erlebt: die Blockchain (Hülsbömer & Genovese 2017). Die Blockchain wurde durch die Kryptowährung Bitcoin bekannt, ist aber im Kern nur ein verteiltes Protokoll, das Transaktionen von Akteuren in einem chronologischen Speicher, auch Journal genannt, transparent erfasst. Dieses Journal kennt keinen singulären Ort und auch keine zentrale Verwaltung, sondern ist über das Netz verteilt gespeichert. Es gehört allen und wird von allen verwaltet. Die kryptografische Verkettung von Blöcken, die die Transaktionen speichern, verhindert nachträgliche Änderungen und bildet die zeitliche Reihenfolge der Transaktionen sicher ab. Blockchain ist eine Art globales verteiltes Betriebssystem für Vereinbarungen zwischen Peers, das keine Intermediäre mehr benötigt und auf dem Anwendungen laufen, die allen den Zugriff auf die Vereinbarungen bieten. Ein BlockchainSystem könnte Verträge ablösen, ohne dass Vereinbarungen an Verbindlichkeit einbüßen, die heute noch über Recht und Staat hergestellt werden muss. Diese Verbindlichkeit kann durch Transparenz und soziale Beeinflussung durch Abstimmungen mit den Füßen erreicht werden: Wer für alle einsehbar Vereinbarungen oft nicht einhält oder nur zulasten einer Seite umsetzt, wird seltener Koopera tionspartner finden, die neue Vereinbarungen eingehen wollen. Auf diese Weise
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kann die oben beschriebene Inklusionslogik ihre operative Basis finden: Inklusivkooperatives Verhalten verstärkt sich selbst und eigene Bedürfnisse können eher befriedigt werden, wenn die Bedürfnisse der Peers miteinbezogen sind. Trotz der Allgemeinheit des Blockchain-Protokolls ist es nicht erforderlich, alle gesellschaftlichen Bereiche zu erfassen, da vor allem die meisten interpersonalen Beziehungen völlig ohne transparente Dokumentation auskommen. Geeignet ist Blockchain vor allem für transpersonale Vermittlungen, bei denen sich Unbekannte mittels Transparenz eine Vertrauensbasis auf Augenhöhe – von Peer zu Peer – schaffen können.
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Zusammenfassung und Diskussion
6.1 Stigmergische Vermittlung Eine auf qualitativen Informationen basierende stigmergische Vermittlung in einer Commonsgesellschaft kann als Form der indirekten und emergenten Selbststeuerung zur kommunikativen Vermittlung von Bedürfnissen, Ressourcen, Begrenzungen und Zielen begriffen werden. Das Prinzip der Selbstauswahl auf individueller Ebene führt zu einem ähnlichen Fokuswechsel auf der systemischen Gesamtebene: Anstatt die Prozesse mittels zentraler Planung direkt zu organisieren, geht es eher darum, die Bedingungen für die soziale Selbstorganisation zu schaffen, die dann die stigmergische verteilte Netzplanung hervorbringt. Durch die Inklusionslogik kommt der Netzwerkeffekt (Yang 1997) durch selbstverstärkende Rückkopplung voll zum Tragen: Inkludierendes Verhalten ist funktional und erzeugt die Bedingungen für inkludierendes Verhalten. Durch den direkten Bedürfnisantrieb und die direkten Peer-Vermittlungsformen ohne zwischengeschaltete Intermediäre ist die Effektivität (Grad der Zielerreichung) hoch. Gleiches gilt für die Effizienz (Aufwand zur Zielerreichung), da die Transaktionsaufwände minimal sind – im Gegensatz zur Geldvermittlung, wo gesellschaftlich ein sehr großer Aufwand allein für die Aufrechterhaltung und den Betrieb des Geldsystems selbst aufgebracht werden muss, der in direktem Bezug auf die Bedürfnisbefriedigung nutzlos ist.32 Erreicht werden kann dies durch die mehrdimensionale inhaltliche Qualität der Informationen, deren Vermittlungsfähigkeit durch die qualitativ ge32 Indirekt leistet das Geldsystem im Kapitalismus zwar wesentlich die gesellschaftliche Vermittlung. Doch erstens ist es ein zusätzliches System, das die Organisation der Produkt- und Leistungsflüsse auf monetärer Ebene gleichsam verdoppelt. Zweitens ist es autoreflexiv, dass heißt, immer mehr Transaktionen beziehen sich ausschließlich auf die Bewegung von Geld. Die extreme Ausdehnung der Finanzsphäre ist dafür ein Beispiel. Ökonomisch gesehen sind finanzielle Transaktionen nur Kosten, die gesellschaftlich aufgebracht werden müssen.
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nutzte Bandbreite wesentlich größer ist als die eindimensional bloß quantitative Abbildungsfähigkeit des Geldes. Die stigmergische Vermittlung greift eher auf der transpersonalen Ebene großer und vielfältiger Systeme – wie es die gesamtgesellschaftliche Ebene darstellt – als bei kleinen Einheiten. Für die transpersonale Ebene kann das stigmergische Gesetz formuliert werden: „Gibt es ausreichend Menschen und Commons, so wird sich für jede Aufgabe, die getan werden muss, auch eine Person oder ein Commons finden.“33 Ein Blockchain-Betriebssystem für Vereinbarungen macht dann getroffene Vereinbarungen für alle transparent, was die Grundlage für eine gesellschaftlich durchschnittlich hohe Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit auf der Basis von individueller Freiwilligkeit ist.
6.2 Wissen und Handlungsfähigkeit Ist die commonsbasierte Stigmergie eine andere Weise, um das Hayek’sche Wissensproblem zu lösen (vgl. den Beitrag von Kathöfer und Schröter in diesem Band) ? Es besteht darin, dass Wissen in einer arbeitsteiligen Gesellschaft immer nur kontextuell, lokal, beschränkt und verstreut vorhanden ist. Friedrich von Hayek (2007 [1936], S. 156) fragte: „Wie kann das Zusammenwirken von Bruchstücken von Wissen, das in den verschiedenen Menschen existiert, Resultate hervorbringen, die, wenn sie bewusst vollbracht werden sollten, auf Seiten des lenkenden Verstandes ein Wissen erfordern würden, das kein einzelner Mensch besitzen kann ?“ – und schloss daraus, dass eine Zentralplanung prinzipiell unmöglich ist. Um Handlungsfähigkeit zu erreichen, sei es nötig, verteiltes Wissen auf operable Größen zu reduzieren und einer Selbstvermittlung zu unterziehen. Nach Hayek sind dies „Preise“ und der „Wettbewerb“ auf dem Markt, der „komplexe, möglicherweise intelligente Strukturen ohne jeglichen Bedarf nach Planung, Kontrolle oder auch direkter Kommunikation zwischen den Beteiligten“ erzeugt. Das letzte Zitat ist nicht mehr von Hayek, sondern ein Satz aus der Wikipedia zum Stichwort „Stigmergie“ (de.wikipedia.org/wiki/Stigmergie, Zugriff am 14. 11. 2017). Dies zeigt, dass die Marktvermittlung über Preise zwar eine mögliche Form der Stigmergie ist, aber die denkbar ungünstigste, weil die geringe Informationskapazität der bloß quantitativen Preissignale keine qualitative Koordination erlaubt. Anders bei der commonsbasierten Stigmergie, bei der die Koordinationswirkung genauso indirekt und emergent ist wie beim Preismechanismus. Da der basale Antrieb jedoch 33 Das stigmergische Gesetz lehnt sich an das Linus-Gesetz an, das Eric Raymond (1999) dem Erfinder des Linux-Kernels Linus Torvalds widmete und sich auf die Fehlerfreiheit in quelloffener Software bezieht: „Gibt es genug Augen [die in den Programmcode gucken], sind alle Fehler trivial“ (eigene Übersetzung).
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nicht die Verwertung, sondern die Bedürfnisbefriedigung ist, ist das emergierende kohärente Gesamtergebnis eine Gesellschaft, in der die Bedürfnisbefriedigung aller maximal ist. Bei diesem Vergleich darf jedoch, wie einleitend bemerkt, kein simpler „Ersatz“ für das Geld angenommen werden, denn nur wenn die commonsvermittelte Stigmergie Bestandteil einer Ex-ante-Reproduktion ist, in der Bedürfnisse nicht zuerst auf eindimensionale bloß quantitative Größen reduziert, sondern in ihrer vollen Qualität vermittelt werden, können die aufgezeigten Probleme einer Gesellschaft am Abgrund des Geldes34 aufgehoben werden.
6.3 Soziale Verpflichtung Was geschieht mit nichtmonetären Schuldverhältnissen, also sozialen Verpflichtungen, die in tätigkeitsteiligen Gesellschaften entstehen, wenn Leistungen aneinander gekoppelt sind ? Holen uns diese sozialen Verpflichtungen nicht wieder ein und finden am Ende dann doch ihren operablen Ausdruck in einer Form des Geldes ? Die Frage für eine Gesellschaft nach dem Geld ist also, ob und für welchen Bereich (interindividuell, kollektiv, gesellschaftlich) bedingungsfreie Reziprozitätsverhältnisse (s. o.) vorliegen können. Es liegt auf der Hand, dass auf gesellschaftlicher Ebene eine Konditionalität der Reziprozität, also der wechselseitigen Herstellung der Lebensbedingungen durch Schaffung und Nutzung von Mitteln und Leistungen zur Befriedigung von Bedürfnissen, nicht aufgehoben werden kann.35 Aus systemischer Perspektive ist es irrelevant, wer die notwendigen Beiträge beisteuert, sofern gewährleistet ist, dass es durchschnittlich gesichert erfolgt. Wie dargestellt, kann dies durch eine stigmergische Vermittlung erreicht werden. Individuell wie kollektiv gibt es daher keinen Zwang zur Kopplung von Nutzungen und Beiträgen auf gesellschaftlicher Ebene. Das bedeutet, dass auch ein Commonskollektiv nicht gezwungen ist, auf der Kollektivebene für einen Ausgleich von Nutzungen und Beiträgen zu sorgen.36 34 „Die ganze Welt hat in der internationalen Finanzkrise in den Abgrund geblickt und den Atem angehalten“ (Steinmeier 2008, o. S.). Es besteht weitgehende Übereinstimmung, dass die Krise nicht überwunden ist. 35 Auf einem endlichen Planeten mit begrenzten Naturressourcen müssen die Befriedigungsmittel aus der vorhandenen Substanz in einer Weise geschaffen werden, dass auch spätere Generationen vergleichbare Lebensmöglichkeiten haben. Eine Gesellschaft verliert ihre Zukunftsfähigkeit, wenn sie von der Substanz lebt, diese aber nicht erneuert und pflegt, wie das tendenziell heute global der Fall ist. 36 Das ist für die Transformationsphase (vgl. Transformationsdiskurs) anders: Hier ist es gerade eine Qualität der Commons, auf kollektiver Ebene für einen Ausgleich von Nutzungen
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Das ist eine wichtige Qualität in einer Commonsgesellschaft, da es vielfach, etwa im Care-Bereich, gar nicht möglich ist, einen solchen Ausgleich herbeizuführen – wie dies etwa heute mithilfe oktroyierter ökonomisch wertbasierter Äquivalenzregime versucht wird. Dies gilt in gleicher Weise für die individuelle Ebene: Auch jene Menschen, die nicht in der Lage sind, Beiträge zu leisten, haben Anspruch auf eine unreduzierte Nutzung des gesellschaftlichen Reichtums. Löst man sich vom ökonomisch-abstrakten Äquivalenzdenken, so wird zudem sichtbar, dass es zahlreiche Beiträge zur gesellschaftlichen Lebensweise, zur Kultur im weitesten Sinne, gibt, die bislang – weil ökonomisch nicht darstellbar – nicht existieren, weil sie nicht zählen und nicht wahrgenommen werden. Genau besehen ist jede Entfaltung individueller Möglichkeiten in der je einzigartigen Weise menschlichen Seins ein Beitrag zu dieser Lebensweise. Das bedeutet, dass die bisherige Kopplung von Nutzungen und Beiträgen zunächst eine individualisierte und privatisierte Trennung von Leistungen voraussetzt, die tatsächlich gar nicht existiert. Zwar kann man Nutzungen von Beiträgen analytisch unterscheiden, faktisch handelt es sich aber immer nur um im Konkreten durchaus unterschiedlich gewichtete Momente eines einheitlichen Prozesses der je individuellen Teilhabe an gesellschaftlicher Reproduktion durch individuelle Entfaltung der Lebensmöglichkeiten. Erst in einer freien Gesellschaft der entkoppelten Reziprozität auf individueller und kollektiver Ebene kann diese Identität mit ihren Momenten der Nutzungen und Beiträge zur Geltung kommen, da alle Beiträge gesellschaftlich anerkannt sind.37 Was ist jedoch mit interindividuellen Verpflichtungsverhältnissen ? Ist nicht das moralische Empfinden, Gaben mit Gegengaben auszugleichen, tief in unsere historisch gelernten Sozialverhältnisse eingesunken ? Das ist kaum zu bestreiten. Doch was sozial gelernt wurde, kann ebenso auch wieder entlernt werden. Entscheidend für die hier vorgelegte Argumentation ist jedoch, dass das Entlernen von sozialen Verpflichtungsverhältnissen auf interindividueller Ebene der Reziprozität keine kategoriale Voraussetzung für bedingungsfreie Vermittlungsverhältnisse auf überindividuellen Ebenen ist. Ob wir uns also in einer freien Gesellschaft gegenüber einzelnen Personen in der Pflicht sehen oder ob wir die grundsätzlich strukturell bedingungsfreie positive Reziprozität emotional entspannt wahrnehmen können, ist heute nicht entscheidbar. Es hängt davon aber auch nichts ab.38
und Beiträgen zu sorgen, um zu einer Bedingungsfreiheit auf individueller Reziprozitäts ebene kommen zu können. 37 Diese Aussage setzt nicht voraus, dass es stets nur positive Beiträge gibt. Wie ein solche Gesellschaft mit individuell destruktiven Beiträgen umgeht, kann hier nicht diskutiert werden. 38 Ich danke Johannes Euler für umfassende Hinweise zu diesem Beitrag.
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Der postkapitalistische Feminismuskeks Das Hauptgericht: Eine commonsschaffende Peer-Produktion als mögliche Zukunft Friederike Habermann
Die Theorien werden von Männern gebacken … Dazu ser viere mann einen Feminismuskeks. Ariane Brenssell & Friederike Habermann
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Ein Blick in Bahnhofsbuchhandlungen. Und eine mögliche Zukunft
„[V]ielen Dank für die Zusendung einer Leseprobe deines neuen Buches“, kommentiert ein Aktivist im Januar 2017 die Rund-E-Mail eines anderen über dessen Veröffentlichung zu einer postkapitalistischen Ökonomie. Allerdings, um dann einen Aspekt zu problematisieren: „In deiner Danksagung folgt eine lange Liste von Namen – dreizehn, um genau zu sein. Es sticht hervor, dass es alles Männernamen sind. Zwei Frauennamen folgen, aber deren Beschreibung lässt vermuten, dass ihre Beiträge mehr unterstützend und formalsprachlich als konzeptionell und inhaltlich waren.“ Der adressierte Autor reagiert, dies liege „ganz einfach daran, dass inhaltlich nur die benannten Männer mitgearbeitet habe[n]“. Ganz einfach. Es kommt nur leider ständig vor. Und umgekehrt verlaufen auch die feministischen Diskussionen fast ausschließlich unter Frauen*. Ob dies jeweils durch (unbewusste) Ausschlussmechanismen stattfindet ? Auf jeden Fall bedeutet es, dass die jeweils anderen Debatten als für die eigene Beschäftigung irrelevant vermutet werden. Das hat allen Gleichstellungserfolgen der zweiten Frauenbewegung zum Trotz nicht zuletzt mit jeweiligen Erfahrungen aus den weiblichen* bzw. männlichen* Subjektpositionen zu tun. Früher sprach frau von Standpunkttheorien. Mit dem Buch Ecommony. UmCare zum Leben (2016) versuche ich, Diskus sionsstränge aus beidem zu integrieren. Das erscheint mir umso dringlicher, als © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_10
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die jahrzehntelang marginalisierte Debatte über bedürfnisorientiertes Wirtschaften derzeit genau die Probleme der Zeit lösen könnte. Ebenfalls im Januar 2017 mahnte Richard David Precht beim 9. Deutschen Medienkongress: „[W]enn in 20 oder 25 Jahren die Hälfte der Leute keinen Job mehr hat – und das wird sehr wahrscheinlich so sein –, dann können Sie den Wert des Menschen nicht mehr über Arbeitsleistung oder über Tüchtigkeit definieren, weil das keinen Sinn mehr macht. Dann müsste sich ja die Hälfte der Gesellschaft als Verlierer fühlen, und das würde in Bürgerkriegen enden.“ Die gegenwärtige Gesellschaft komme an ihr Ende, aber: „Rein theoretisch könnte doch die Auflösung der alten Gesellschaft in eine Gesellschaft führen – rein theoretisch … –, die besser ist als bisher.“ Ein großer Teil der Bevölkerung verspüre eine große innere Unruhe, dass es wie bisher mit der bürgerlich-demokratischen Gesellschaft nicht weitergehe. All die Wut und der Extremismus und der Vorwurf der Lügenpresse speisten sich aus diesem berechtigten Unbehagen, um dann Zuflucht zu Parteien zu suchen, die gar keine Lösungen für die Zukunft anböten, sondern nur Vergangenheit. „Wenn die Nacht am tiefsten, ist der Tag am nächsten“ – das sang die anarchistische Gruppe Ton Steine Scherben. Eine Gesellschaft ohne Geld könnte so ein neuer Tag sein. Inzwischen finden sich Zukunftsvoraussagen, die eine solche Gesellschaft zumindest denkbar machen, in Bahnhofsbuchhandlungen und füllen Veranstaltungen mit ihren Autoren (eine geschlechterübergreifende Form kann hierbei weggelassen werden) Räume mit tausend Personen. Dabei zeichnet sich ab: Durch eine Überwindung des bisherigen Eigentumsverständnisses auf der Konsumseite und die Befreiung der menschlichen Lust am Tätigwerden jenseits von Zwang und Profitlogik auf der Produktionsseite wäre ein strukturell gemeinschaftliches Leben und Wirtschaften besser vorstellbar als ein „Weiter so“. Einer dieser Autoren ist der weltweit bekannteste Zukunftsforscher Jeremy Rifkin. „Ein neues Wirtschaftssystem – die Kollaborativen Commons – betritt die ökonomische Weltbühne.“ Mit diesem Satz beginnt der Wirtschaftswissenschaftler sein im Jahr 2014 erschienenes Buch Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Rifkin beschreibt darin, wie technische Entwicklungen das Absterben des Kapitalismus hervorbringen. Dies begründet er wesentlich mit den auf (nahezu) null hinauslaufenden Produktionskosten für jede weitere Ausbringungseinheit durch eine „Dritte Industrielle Revolution“, wie sie derzeit in den Bereichen Kommunikation, Energie, Logistik sowie 3-D-Druck stattfinde; denn wenn diese sogenannten Grenzkosten der Produktion von Gütern und Dienstleistungen „gegen null gehen und sie damit praktisch umsonst sind, verliert das kapitalistische System seinen Einfluss auf die Knappheit und damit die Fähigkeit, von der Abhängigkeit eines anderen zu profitieren“ (Rifkin 2014, S. 397).
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Der andere, Paul Mason, ist Leiter der Wirtschaftsredaktion von Channel 4 News. Obwohl er in seinem Buch Postkapitalismus (2015) mehrfach formuliert, er schreibe nicht für Bahnhofsbuchhandlungen, landete sein Werk mit dem deutschen Untertitel Grundrisse einer kommenden Ökonomie ebenfalls dort. Was Rifkin aus den sinkenden Grenzkosten der neoklassischen Wirtschaftstheorie herleitet, analysiert Mason aus marxistischer Perspektive als tendenziellen Fall der Profitrate, argumentiert aber auch mit der Zuspitzung der Finanz- und Absatzkrise sowie den Kondratieff-Wellen, einer Theorie langfristiger Wirtschaftszyklen. Das Ergebnis ist bei beiden Autoren gleich: Das Preissystem kollabiert, und die technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen laufen auf eine neue Gesellschaftsform hinaus, die sich „lateral“, „kollaborativ“ als „Commons“ bzw. „PeerProduktion“ (alle Ausdrücke finden sich bei beiden) organisiert. Dabei machen sie durchaus darauf aufmerksam, dass genau jetzt politische Weichenstellungen notwendig sind, um dies zu ermöglichen. Der Liberale Rifkin fordert die Zerschlagung von Internetmonopolen, und der Sozialdemokrat Mason sieht im Staat sogar den wesentlichen Transformationsakteur. Mit beiden Ansätzen sympathisiere ich, auch wenn ich sie nicht in all ihren Vorhersagen oder Schlussfolgerungen teile. Doch der eine wie der andere betonen in erster Linie – und wie zweckoptimistisch das intendiert sein mag, sei hier dahingestellt – technische und wirtschaftliche Entwicklungen jenseits bewussten politischen Handelns. Mason bringt es durch einen Vergleich mit der 1960 erstmals verschriebenen Anti-Baby-Pille auf den Punkt: „Ist es wirklich möglich, dass sich Gesetze, Märkte und Geschäftsmodelle so grundlegend ändern, dass wir das Potenzial der Informationstechnologie wirklich ausschöpfen können ? Und ist es wirklich möglich, dass wir unbedeutenden Individuen Einfluss auf diese Entwicklung nehmen können ? Ja, es ist möglich. Jeden Tag nimmt ein großer Teil der Menschheit an einer sehr viel größeren Veränderung teil, die durch eine andere Art von Technologie ermöglicht wurde. Diese Technologie ist die Anti-Baby-Pille. Wir erleben die einmalige und unumkehrbare Beseitigung der biologischen Macht des Mannes. Es ist eine traumatische Entwicklung: Man muss sich nur die Hasstiraden ansehen, mit denen die Internet-Trolle mächtige Frauen auf Twitter und Facebook verfolgen“ (Mason 2016, S. 369).
Trotz der Frage im zweiten Satz nach dem individuellen Einfluss auf große Transformationen bleibt genau diese auch in diesem Beispiel außen vor. Die Frauenbewegung mit ihren Kämpfen verschwindet aus dem Blickfeld, und sämtliche Emanzipationsbestrebungen werden bedeutungslos gegenüber der Erfindung der Anti-Baby-Pille. Müsste das nicht im Umkehrschluss bedeuten, dass Frauen nur dann emanzipiert wären, wenn sie Hormone schlucken ? Selbst für heterosexuelle
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Cis-Frauen, die weder asexuell leben noch Kinder bekommen möchten, gilt dies klar nicht, schließlich bestehen zahlreiche Verhütungsmethoden, die deutlich vor der Pille erfunden worden sind. Und Ähnliches lässt sich sagen in Bezug darauf, wie sich frühe Gesellschaften organisiert haben: ohne Kapitalismus, das heißt ohne den strukturellen Zwang, aus Geld mehr Geld zu machen; ohne Arbeit, das heißt ohne die Aneignung des Mehrprodukts aus einer Tätigkeit durch eine andere Person; ohne Eigentum, das heißt ohne das Recht, andere von der Nutzung eines Gutes ausschließen zu können, ohne es selbst zu gebrauchen; sowie ohne Geld und ohne Tausch, das heißt, ohne dass beim Ressourcentauschen ein Wertverhältnis vorbestimmt, wer wem was noch schuldig bleibt. Das alles hat es nicht gegeben, und das war auch die Regel. Natürlich waren dies keine modernen globalen Gesellschaften. Darin liegt nun unsere Herausforderung.
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Feministische Vorläuferinnen „So war um die Mitte des 19. Jahrhunderts und bis in die siebziger Jahre Material in Hülle und Fülle ans Licht gekommen, daß die alte Vorstellung von der Ewigkeit des Privateigentums und seinem Bestehen von Anbeginn der Welt grausam durchlöcherte und bald ganz in Fetzen zerrissen hat. Nachdem man den Agrarkommunismus erst als eine germanische Volkseigentümlichkeit, dann als eine slawische, indische, arabischkabylische, altmexikanische, als den Wunderstaat der peruanischen Inkas und in noch vielen anderen ‚spezifischen‘ Völkertypen in allen Weltteilen entdeckt hatte, drängte sich von selbst der Schluß auf, daß dieser Dorfkommunismus überhaupt keine ‚Volkseigentümlichkeit‘ […] eines Weltteiles sei, sondern die allgemeine typische Form der menschlichen Gesellschaft auf einer bestimmten Höhe der Kulturentwicklung.“ (Luxemburg 1975 [1925], o. S.)
Seit diesem Zitat von Rosa Luxemburg verging wiederum rund ein Jahrhundert, in dem das Wissen um die Allmende – oder neudeutsch: Commons – fast völlig verloren ging. Auch den allermeisten Menschen heute erscheint Eigentum wieder als etwas Ungeschichtliches, Natürliches. Entgegen der neuen relativen Aufmerksamkeit für Visionen geldloser Gesellschaften haben die feministischen Werke hierzu es nie in Bahnhofsbuchhandlungen geschafft. Auch in den Diskussionen, die heute unter dem Schlagwort „Postwachstum“ wiederum vorwiegend von Männern geführt werden, werden keine Bezüge zu feministischen Vordenkerinnen hergestellt. Denn wann wird von diesen jemals darauf verwiesen, dass Maria Mies, Claudia von Werlhof und Veronika Bennholdt-Thomsen seit Jahrzehnten eine „Subsistenzwirtschaft“ vertreten, Carola Möller ein „gemeinwesenorientiertes Wirtschaften“, Adelheid Biesecker und
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andere ein „vorsorgendes Wirtschaften“ oder Meike Spitzer und Uta von Winterfeld einen Ansatz der Suffizienz. Dabei erscheint aus Sicht derjenigen, die sich in den letzten Jahrzehnten mit Ansätzen feministischer Ökonomie beschäftigt haben, weder in der Commons- noch in der Postwachstums- noch in der Diskussion zu einer Gesellschaft ohne Geld vieles neu. Eigentlich ist „feministische Ökonomie“ natürlich ein weiter Begriff, denn es gibt viele Feminismen und viele Ausrichtungen der Wirtschaftstheorie, und theoretisch ist jede Kombination davon möglich. Doch gemeint sind damit keine spieltheoretischen Überlegungen aus Frauensicht, wie sie teilweise bei der International Association for Feminist Economics zu finden sind, und auch keine keynesianisch inspirierten Überlegungen zum durchaus sinnvollen Gender Budgeting, also der Berücksichtigung von geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in der Haushaltspolitik. Im deutschsprachigen Raum steht „feministische Ökonomie“ seit den 1980er Jahren weithin für Analysen, überwiegend aus ökofeministischer Perspektive, zur Ausbeutung von Natur, traditioneller Frauen- bzw. Reproduktionsarbeit sowie im (post)kolonialen Nord-Süd-Verhältnis – und das alles verbunden mit der positiven Vision einer geld- und tauschlogikfreien „Subsistenz“-Gesellschaft. Grundlegend hierfür war das 1983 erschienene Werk der sogenannten „Bielefelderinnen“ Veronika Bennholdt-Thomsen, Maria Mies und Claudia von Werlhof, Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit. Äußerst wertvoll war dieser Beitrag darin, aufbauend auf der Analyse Rosa Luxemburgs zu zeigen, dass das Ziel des Kapitalismus gerade nicht in der Durchkapitalisierung der Welt besteht – also nicht in der Verwandlung jeglicher Form von Arbeit in Lohnarbeit –, sondern es im Gegenteil bestehensnotwendig für den Kapitalismus ist, in imperialistischer Manier nichtkapitalistisch erzeugte Ressourcen ausbeuten zu können. Dazu gehörte im Fordismus, der Ära des sogenannten Wohlfahrtsstaates, auch die Arbeit von Frauen: sei es in Form von Hausarbeit unsichtbar gemacht oder als „Zuverdienst“ zum Familienernährerlohn zu einem geringeren Entgelt gekauft. Ebenso wertvoll war die Kritik der Ökofeministinnen an einer Vernutzung der Natur. Letztlich muss natürlich jeder emanzipatorische Ökonomieansatz ein feministischer sein, denn nur die Vermeidung jedes Dominanzverhältnisses garantiert den emanzipatorischen Anspruch. Umgekehrt waren schon immer bei feministischen Ökonomievisionen die grundlegenden Kriterien ähnliche wie bei vielen anderen Entwürfen solidarischer Ökonomie: ein bedürfnisorientiertes, basisdemokratisch organisiertes vorsorgendes bzw. nachhaltiges Wirtschaften, das auf eine neue Lebensqualität zielt (vgl. Möller 1997). Doch bis heute kommt es zu einem systematischen Ausblenden von Reproduktions- bzw. Versorgungstätigkeiten und damit der Leistungsvoraussetzungen dessen, was gemeinhin unter Ökonomie
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verstanden wird (vgl. Peters 1998, S. 511). „Es ist schon erstaunlich“, formulierte Carola Möller (1998, S. 471) schon vor zwanzig Jahren, „wieso es bisher gelungen ist, die unbezahlte Arbeit im öffentlichen Bewusstsein als nicht vorhanden und ohne Wert erscheinen zu lassen.“ Dabei gingen die „Bielefelderinnen“ weiter als Luxemburg, denn in ihrer Analyse erblickten sie nicht wie im Marxismus die (überwiegend von Männern im globalen Norden ausgeführte) Lohnarbeit, sondern die (überwiegend von Frauen im globalen Süden ausgeführte) Subsistenzarbeit als das zentrale ausgebeutete Element im Kapitalismus. Claudia von Werlhof schrieb: „Nun fragt es sich, ist der Kapitalismus derart unfähig, daß er es bis heute nicht geschafft hat, diese Massen in die Ausbeutung, in sein System zu integrieren […]. Die Lösung des Rätsels ist höchst einfach, sie lautet: Es ist alles umgekehrt. Nicht 10 Prozent freie Lohnarbeiter, sondern 90 Prozent unfreie nicht-Lohnarbeiter sind die Säule der Akkumulation und des Wachstums, sind die wahren Ausgebeuteten, sind die wahren Produzenten, sind die Norm, der allgemeine Zustand, in dem sich der Mensch im Kapitalismus befindet.“ (Werlhof 1983, S. 121)
Subsistenz umfasst unentgeltlich geleistete Produktion und Reproduktion. Für Letzteres hat sich inzwischen in deutschsprachigen Diskussionen der englische Begriff „Care“ durchgesetzt, das positive Element darin betonend, sodass davon gesprochen werden kann, die „Care-Logik“ auch auf die Produktion auszuweiten. Geld trennt Individuen, so betont Veronika Bennholdt-Thomsen (2010, S. 46) auch später in ihrem Buch Geld oder Leben; die Unmittelbarkeit der Subsistenzversorgung dagegen bringe sie zusammen. Der Begriff der Subsistenz für ein vergesellschaftetes Wirtschaften jenseits von Markt und Staat ist aber immer wieder missverstanden worden. Vielen kommt das Bild vereinzelter Landkommunen vor Augen, wo alle auf ihrer Landscholle in kleiner Gemeinschaft Gemüse züchten und sich ihr Haus zusammenzimmern. Dazu beigetragen haben mag die individuelle Landsehnsucht einiger ihrer Vertreterinnen. Doch letztlich bedeutet Subsistenz lediglich Produktionsverhältnisse jenseits von Tausch- und/oder Zwangssystemen. Die „Bielefelderinnen“ benutzten den Begriff „Subsistenzansatz“, um zu betonen, dass es notwendig sei, sich immer weiter aus den kapitalistischen, marktvermittelten Zwängen zu befreien. Das Schlagwort „politisierte Subsistenz“ von Ulla Peters (1997) brachte das Schaffen gemeinsamer widerständiger Strukturen jenseits von Staat und Markt deutlicher auf den Punkt und verband sich noch expliziter mit einer internationalistischen Perspektive. Doch aufheben konnte auch dies das Missverständnis nicht. Der Ansatz der „Bielefelderinnen“ wurde in den 1980er und den beginnenden 1990er Jahren nicht zuletzt im deutschen Sprachraum innerhalb der Frauenbewe-
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gung kontrovers diskutiert. Doch als nach dem von Francis Fukuyama ausgerufenen „Ende der Geschichte“ Ökonomie als Thema aus der Mode kam, versandeten diese Debatten. Heute kommen marxistische, ökofeministische und auch queerfeministische Strömungen unter den Stichworten „Care“ und „Commons“ wieder zusammen. Die in den USA lebende feministische Marxistin Silvia Federici ermahnt, die Einsicht von Feministinnen in der Vergangenheit aufzugreifen, reproduktive Arbeit als wesentliche Sphäre menschlicher Tätigkeit anzusehen, ohne die wir keine alternative Gesellschaft schaffen könnten. Die (Re-)Produktion als Ganzes müsse in einer kooperativen Form neu entworfen werden (Federici 2010). So entstand in den letzten Jahren eine im doppelten Sinne junge Szene, die sich darüber hinaus wesentlich durch die sowohl öko- als auch queerfeministisch fundierten Arbeiten von J. K. Gibson-Graham – der Name, unter dem die Wirtschaftsgeografinnen Julie Graham und Katherine Gibson gemeinsam aufgetreten sind – inspiriert fühlt. Die beiden wenden Queertheorie als öffnende Denkbewegung auf ökonomische Verhältnisse an. Es ging ihnen um eine „kollektive Desidentifizierung“ mit Kapitalismus, so wie Judith Butler dies in Bezug auf Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit vertritt. In Analogie zum Phallogozentrismus (wonach das Männliche im Zentrum steht) sprachen sie vom „capitalo centric discourse“: Es gelte, die vielfältigen ökonomischen Praktiken jenseits der – kapitalistischen – Marktwirtschaft aufzuspüren und die Räume zu erkennen, in denen sie in all ihrer Eigenheit und Unabhängigkeit bereits bestünden (GibsonGraham 2006). Die österreichische Commonsspezialistin Brigitte Kratzwald schrieb 2012 nach ihrer Teilnahme an einer Art generationenübergreifendem Seminar zu commonsbasiertem Wirtschaften und Subsistenz: „[W]o ich nach 10 Jahren Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Strömungen der Kapitalismuskritik angelangt war, standen andere also bereits vor 20 Jahren. Irgendwie sind diese Diskussionen im Sand verlaufen, das Wissen und die Alternativvorschläge sind in der Versenkung verschwunden, im Internet sind kaum Spuren davon zu entdecken. 20 verlorene Jahre, in denen sich die Spirale der Zerstörung weiterdrehen und den Eindruck der Alternativenlosigkeit noch verstärken konnte ? Alles schon dagewesen also ?“1
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https://kratzwald.wordpress.com/2012/04/29/politisierung-der-subsistenz (02. 09. 2017).
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Ecommony. UmCare zum Miteinander
In meinem Buch Ecommony. UmCare zum Miteinander versuche ich, die eingangs skizzierten Diskussionen mit ihren (öko)feministischen Vorgängerinnen und aktuellen (queer)feministischen Diskussionen zu verbinden. Dafür eine Skizze der Kerngedanken. Im Wortspiel mit „Economy“ spreche ich von „Ecommony“, um das in Commons liegende gesamtgesellschaftliche Potenzial zu betonen. Ausgehend von der Beschreibung aktueller Ansätze alternativen Wirtschaftens fiel mir auf, dass sich die jüngeren Formen mit denselben Prinzipien wie bei freier Software als commonsbasierte Peer-Produktion beschreiben lassen. Deren Hauptprinzipien lauten: ■■ Besitz statt Eigentum: Bei Commons zählt, wer etwas tatsächlich braucht und gebraucht, und nicht das Recht zum Ausschluss anderer oder zum Verkauf. ■■ Beitragen statt tauschen: Es gilt, tätig zu werden aus innerer Motivation, bei gesichertem Ressourcenzugang. Wirtschaftswissenschaftlich könnte davon gesprochen werden: Das eine beschreibt die Konsum-, das andere die Produktionsseite. Beginnen wir mit ersterer: Das Entscheidende am Begriff Commons ist, dass andere von einem Gut nur ausgeschlossen werden können, wenn es bereits jemand (ge)braucht. In diesem Sinne sprach Luxemburg von Dorfkommunismus: Boden, also Land, ist der Prototyp für Commons, also die „Allmende“; doch im Mittelalter wurde nicht nur Weideland, sondern auch Ackerland als Commons betrachtet und unter den Familien aufgeteilt. Doch entsprechend dieser Unterscheidung in Besitz und Eigentum können auch Immobilien als Commons gedacht werden: Wer in einer Wohnung wohnt, der besitzt sie auch, kann sie aber nicht verkaufen – dies wurde bis 2011 in Kuba praktiziert. Güter wie Software sind prädestiniert für einen freien Zugang, denn sie zu kopieren, schränkt die Nutzung für niemanden ein. Das Gleiche gilt für alle anderen nichtrivalen Güter. Aber auch sogenannte „unreine öffentliche Güter“ wie Wasserver- und -entsorgung oder jede Art öffentlicher Verkehrsmittel und Infrastruktur, bei denen eine gewisse Rivalität im Konsum herrscht, können nach dem Prinzip Besitz statt Eigentum organisiert werden – wohl nur wenige kämen auf die Idee, sie übermäßig zu nutzen, nur weil es umsonst ist. Bedürfnisse sind relativ bald befriedigt. Selbst Essen – um das wohl rivalste unter den rivalen Gütern zu nennen – lässt sich entsprechend fassen: Denn „in Besitz“ können Lebensmittel nur genommen werden, wenn sie gegessen werden. Jeder Hotelgast beim Frühstück weiß um die-
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sen Unterschied zwischen In-Besitz-Nehmen und Zum-Eigentum-Machen – und falls er das nicht weiß und daher anfangen sollte, vom Büffet Essen einzupacken, dann wird der Hotelier dafür sorgen. Dabei landet das nicht mitgenommene Essen häufig im Müll. Zunehmend widerstrebt es Menschen wieder, Nahrungsmittel wegzuschmeißen, wie die in fast allen größeren Städten Deutschlands und Österreichs entstehenden sogenannten Foodsharing-Initiativen zeigen. Besitz statt Eigentum kann sich aber auch auf Gebrauchsgegenstände beziehen, Zum einen solche, bei denen serielle Nutzung möglich ist, da sie nach Gebrauch nicht mehr benötigt werden. Der Boom sogenannter öffentlicher Bücherschränke ist ein Ausdruck davon, dass immer mehr Menschen ihre nicht mehr genutzten Gebrauchsgegenstände anderen frei zur Verfügung stellen möchten. Ein weiterer sind Umsonstläden, die wie Second-Hand-Läden funktionieren, nur ohne Geld und ohne Tauschlogik. Diese sind gerade nicht als Orte zu verstehen, wo Dinge „geschenkt“ werden, also von Privateigentum zu Privateigentum übergehen, sondern als Orte, wohin Gegenstände gebracht werden, die, da nicht mehr genutzt, „aus dem Besitz gefallen“ sind. Zum anderen sind parallele beziehungsweise alternierende Nutzung möglich: so bei Werkzeug, das – anders als ein Buch – nicht irgendwann „ausgebraucht“ ist. Hierfür finden sich Nutzungsgemeinschaften, Leihläden sowie offene Werkstätten, etwa für Holz- oder Metallbearbeitung, als Fahrrad- oder Nähwerkstätten oder als sogenannte FabLabs mit 3-D-Druckern. Denn auch Produktionsmittel sollten im Besitz jener sein, die sie (ge)brauchen. Die zunehmende Dezentralisierung und damit Demokratisierung der Produktionsmöglichkeiten bedeute, das ist die zentrale These von Rifkin (2014, S. 139), „dass irgendwann schließlich jeder Zugang zu den Produktionsmitteln hat, was die Frage, wer sie besitzen und darüber verfügen soll, irrelevant macht und den Kapitalismus mit ihr“. Abgeben, was aus dem eigenen Besitz fällt, weil es über den eigenen Nutzen hinausgeht, lässt sich auch mit Teile, was du kannst beschreiben. Dieses Zwischenprinzip impliziert darüber hinaus auch das Teilen von Wissen („Wissensallmende“) und das Teilen von Fähigkeiten. Dies wiederum geht über in das zweite Grundprinzip Beitragen statt tauschen. In einer „commonsschaffenden“ (Silke Helfrich)2 Peer-Produktion wird aus einem Bedürfnis heraus gehandelt; das muss nicht unbedingt Spaß an der Sache bedeuten, sondern es kann auch Verantwortungsgefühl sein. Nicht zufällig sind es überwiegend feministische Theoretikerinnen, die aus der Anerkennung einer 2
So bspw. in ihrem Vortrag What Do We Mean by Economics and the Commons ? auf der Tagung Economics and the Common(s): From Seed Form to Core Paradigm der Heinrich-BöllStiftung in Berlin am 22. März 2013.
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lebenslangen gegenseitigen Abhängigkeit heraus diese Bandbreite von Motivationen betonen. Brigitte Kratzwald (2014) bringt es auf den Punkt mit „zwischen Lust und Notwendigkeit“; die in der Schweiz lebende Theologin Ina Praetorius bezeichnet solche Handlungsmotivationen als die „Wiederentdeckung des Selbstverständlichen“: die Tatsache, dass die allermeisten von uns selbstverständlich tätig werden, wenn wir die Notwendigkeit sehen. „Es ist selbstverständlich, dass Menschen als bezogen-freie Wesen mehr mehren wollen als ihren persönlichen Vorteil.“ (Praetorius 2015, S. 56) Dies ist nicht mit Altruismus zu verwechseln. Ohne Tauschlogik muss sich niemand darauf begrenzen, welche Fähigkeiten er oder sie am Markt verwerten kann – entweder beschränkt durch Niedrigqualifikation oder verengt auf eine spezielle Tätigkeit, die ein Leben lang ausgeübt werden muss. Es braucht auch niemand in Eigenarbeit alles selbst machen. Aber es wäre ein Ende des „strukturellen Hasses“ auf dem wettbewerbsorientierten (Arbeits-)Markt; ein System „struktureller Gemeinschaftlichkeit“ (Stefan Meretz), in dem wir aufbauen auf dem, was andere schaffen. Doch ohne die Enge von Gemeinschaft und ohne, dass wir bessere Menschen sein müssten. Wir lebten lediglich in einem System anderer Selbstverständlichkeit. Denn während derzeit für die Gesellschaft nur produktiv werden darf, wer Mitmenschen auskonkurrieren kann, ginge es stattdessen darum, kooperatives Tätigwerden wieder zu einer gesellschaftlichen Selbstverständlichkeit zu machen. Nicht jede Tätigkeit wäre beliebt, doch gäbe es zahlreiche Möglichkeiten, solche maschinell zu ersetzen, angenehmer zu gestalten, unter allen Betroffenen auszulosen oder auch einfach darauf zu verzichten. Denn wo wir niemanden durch ungerechte Wirtschaftsstrukturen ausbeuten können, wird vielleicht das eine oder andere nicht mehr produziert werden – doch das ist dann eine bewusste Entscheidung.
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Transformation ohne technical fix
Wie also geht Transformation, wenn es nicht die technischen Entwicklungen für uns richten werden ? Vorweg: Ich lese Nachrichten, weiß um Kriege, offene Unterdrückung und all die Gefahren, die uns drohen. Und doch kann wirkliche Veränderung – jenseits des bloßen Verschiebens von Machtgrenzen – immer nur beim Subjekt beginnen. Wobei entscheidend ist, dass es uns immer nur im Kontext von Gesellschaft gibt. In diesem Sinne gebrauche ich den Ausdruck „Halbinseln gegen den Strom“, wie mein Buch von 2009 über Ansätze alternativen Wirtschaftens betitelt ist: als Räume, in denen Menschen sich ein Stück weit eine andere Wirklichkeit erschaf-
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fen und ausprobieren, wohin es gehen könnte. Sie stellen damit soziale Kontexte her, die es Menschen erlauben, sich anders zu entwickeln, als dies außerhalb solcher Halbinseln möglich ist. Denn neue Denk- und Handlungshorizonte entstehen nur im Zusammenspiel von verändertem materiell-ökonomischen Alltag und sich verändernden Identitäten; beides bedingt und ermöglicht sich gegenseitig. Queerémos ! lasse ich entsprechend manche Präsentation enden, um die politischen Konsequenzen meiner subjektfundierten Hegemonietheorie zu verdeutlichen. In Anlehnung an den Ruf Venceremos ! – Wir werden siegen ! und grafisch auf ein T-Shirt gedruckt, fasse ich so die These zusammen, dass nicht nur die eigene Identität „gequeert“ werden muss (wie sich dies aus der feministischen Theorie Judith Butlers ergibt: als Ent-Identifizierung mit den uns zugedachten Rollen) und nicht nur die äußeren gesellschaftlichen Verhältnisse umgeworfen werden müssen (worauf auch die Marx’sche Theorie zwar nicht begrenzt ist, doch dahin gehend interpretiert wurde), sondern dass sowohl die eigene Identität als auch der gesellschaftliche Kontext Ziel von Veränderung sein müssen. Nur die Veränderung des einen eröffnet wieder Möglichkeiten für die Veränderung des anderen. Explizit als feministisch bezeichnen sich heute nur wenige dieser Projekte. Dennoch ist das queerfeministische Bewusstsein dort, wo andere ökonomische Formen praktiziert werden, häufig hoch. Dies mag an der (Ideen-)Geschichte feministischer Ökonomie liegen und daran, dass die feministische Bewegung immer besonders das eigene Verhalten und das Alltägliche in den Blick genommen hat. Auch heute geht es oftmals nicht darum, komplett „auszusteigen“, sondern den eigenen Alltag nach Möglichkeiten von „dissidenten Praktiken“ auszuloten, um es in den Worten von Carola Möller (Stiftung Fraueninitiative et al. 2006) zu sagen. Etwas anders zu tun, als wir es gelernt haben, verändert uns selbst, unsere Mitmenschen und die ganze Welt. Darin liegt der utopische Überschuss heutiger Praktiken. In den letzten Jahren geriet der Begriff „Care-Revolution“ sowohl zum Titel von Tagungen als auch zum Slogan auf Demonstrationen. Geprägt wurde er von der Hamburger Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker. Sie spricht von „sozialer Reproduktion in der Krise“ und setzt damit einem Verständnis von Krise als ausschließlich auf Banken, Märkte oder den Euro bezogen die Tatsache entgegen, dass vielen Menschen Zeit und/oder Geld für Sorgetätigkeiten fehlen. Denn das unbeirrte Weiterführen neoliberaler Politik als Dreiklang aus Liberalisierung, Privatisierung und Sparpolitik führt zu einer „doppelten Privatisierung“ (so ein Ausdruck von Biesecker et al. 2007) von Sorgetätigkeiten: Einerseits setzt sich im Neoliberalismus die kommerzialisierte Privatisierung immer weiter durch, obwohl dies letztlich kontraproduktiv für die Profite von Unternehmen ist (Winker 2015, S. 53). Andererseits bewirken steigende Preise aufgrund des staatlichen Rückzugs und damit der Verlagerung ehemals öffentlicher Betreuungsangebote auf private
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Unternehmen vor allem in den Bereichen Erziehung und Pflege eine vermehrte Übernahme dieser Tätigkeiten durch private Haushalte – und führen damit, wie Zeitverwendungsstudien nachweisen, fast ungebrochen nach wie vor zu vermehrter Frauenarbeit. Die begrenzte Rationalisierbarkeit und damit der begrenzte Profit bei Sorge arbeit führte im Kapitalismus immer dazu, dass diese an unterprivilegierte Bevölkerungsteile ausgelagert wurde und wird – sei es an Frauen allgemein oder, wie in der Vergangenheit, an schwarze Sklav*innen oder, wie heute zunehmend, an Migrant*innen in internationalen Sorgearbeitsketten, wobei es bekanntermaßen auch in diesen Fällen überwiegend Frauen waren und sind, denen diese Tätigkeiten überlassen werden. Aus dieser Kritik heraus entsteht für immer mehr Menschen die Frage, wie sich die Verteilung und Organisation von Care so gestalten lässt, dass ein gutes Leben für alle möglich ist. Und in diesem Zusammenhang steht die Überlegung, inwieweit das feministische Konzept von Care im Zusammenhang mit Commons steht. Während beide jenseits von Markt- und Eigentumslogik auf Kooperation beruhen, gilt als wesentlicher Unterschied gemeinhin, bei commonsbasierter PeerProduktion werde von unabhängigen „Peers“ bzw. Individuen ausgegangen, während bei Care die Abhängigkeit im Zentrum stehe; als paradigmatisch gilt die Eltern-Kind-Beziehung. Entsprechend herrscht hier das Bild von asymmetrischen Beziehungen vor. Doch mit einer Verschiebung des Fokus von der Peer-Produktion auf das Commoning ergibt sich ein anderes Bild: Sowohl Caring als auch Commoning sind von der „Sorge um“ etwas getragen. Gleichzeitig kann dem Sorgegedanken entsprechend noch der andere Umgang mit der Natur als Gemeinsamkeit zwischen Care und Commons gesehen werden. Beide Ansätze haben starke Bezüge zu einem Naturverständnis, wie es sich im indigenen Begriff der „Pachamama“ (Mutter Erde) ausdrückt: Natur nicht als getrennt von Menschen und als ausbeutbare Ressource gefasst, sondern den Menschen als Teil davon verstanden; in diesem Sinne können die indigenen Originalausdrücke für „buen vivir“ – gemeinhin mit „gutes Leben“ wiedergegeben – besser als „gutes Zusammenleben“ übersetzt werden. Sorgetätigkeiten sind auf das Wohlergehen des Anderen gerichtet, und gerade deshalb lassen sie sich schlecht profitabel ausbeuten. So haben häufig jene, die in diesem Bereich tätig sind – zumeist Frauen – weniger Probleme mit der Überwindung der Tauschlogik, denn Care-Logik erlaubt einen anderen Blick auf das gesamte Wirtschaften: Wenn es Care ist, einer Kranken Essen zu verabreichen, warum sollte es nicht Care sein, Lebensmittel anzubauen ? Wenn es Care ist, ein Kind ins Bett zu bringen, warum sollte es nicht Care sein, das Bett zu produzieren ? Dazu kommt, dass im Bereich der Reproduktionsarbeit, oder genauer: der Versorgungsarbeit nur sichtbarer wird, was für jede Form von Tätigkeit gilt: dass
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sie zwangsläufig entfremdet wird, solange sie im Tausch gegen „Lebensmittel“ und damit als Zwang vollzogen wird. Denn auch wenn es stimmt, dass es einen Unterschied macht, wer eine Person pflegt oder gar ein Kind großzieht – zumindest bei jeder Tätigkeit, zu der wir uns berufen fühlen, macht es genauso einen Unterschied. Bei Künstler*innen aller Art ist dies offensichtlich. Doch ist es wirklich anders bei einer Tischlerin ? Einem Bäcker ? Einem Friseur oder anderen Handwerker*innen ? Bei Ihnen ? Und was würden Anhänger*innen des sogenannten Extrembügelns dazu sagen ? Je mehr die Menschen, die scheinbar stumpfsinnige Arbeiten verrichten, frei von Lohnerwerbszwängen und frei von Konkurrenzdruck diese (mit)gestalten könnten, umso mehr macht es letztlich bei jeder Tätigkeit einen Unterschied, wer sie vollbringt. Zudem ist eine Gesellschaft, in der die Tauschlogik und damit die durch den Zwang zum Profitstreben erzeugte Diskrepanz zwischen der Bewertung „produktiver“ und „reproduktiver“ Tätigkeiten überwunden wird, notwendige Bedingung, um zu vermeiden, dass Menschen als minderwertig konstruiert werden, um ihnen die weniger profitablen Reproduktionsarbeiten aufbürden zu können. Das Wort „konstruiert“ ist dabei bewusst gewählt, denn aus queerfeministischer Sicht geht es über eine reine Verteilung von Arbeiten an Männer und Frauen, Weiße und Schwarze oder Deutsche und Migrant*innen hinaus: Denn was Frauen sind, was Schwarze sind etc., wird in jeder Gesellschaft erst entsprechend den hegemonialen Verhältnissen wahr gemacht. Vorstrukturiert durch die kapitalistische Verwertungslogik, wird dies nichtsdestotrotz aktiv miterzeugt von den profitierenden Subjekten (Männer resp. Weiße etc.) (vgl. Habermann 2008, 2013). Das bedeutet – anders als auch in vielen aktuellen linken Theorien zumindest implizit vertreten –, dass es keinen Hauptwiderspruch gibt; dass es also kein Verhältnis gibt, dessen Überwindung automatisch die Überwindung anderer Herrschaftsverhältnisse mit sich bringt; und dass es nicht „der Kapitalismus“ ist, welcher Rassismus, Sexismus etc. erzeugt, sondern dass dieser die Einteilung von Menschen in Identitätskategorien „nur“ strukturell nahelegt. Letztlich aber sind es rassistische und sexistische Verhaltensweisen, wenn auch eingebettet in entsprechende Strukturen, die im Erzeugen oder (oft unbewussten) Verteidigen von Privilegien (gramscianisch ausgedrückt: „im Ringen um Hegemonie“) diese Identitätskategorien konstruieren. In diesem Sinne spreche ich von „subjektfundierter Hegemonietheorie“ (vgl. Habermann 2008). Dass die Einteilung von Menschen in Identitätskategorien zur Absicherung von Privilegien – sei es der Zugang zu Ressourcen, eine angenehme Arbeitsteilung, die Verfügung über die Körper anderer oder einfach das vermeintliche Gefühl, „etwas Besseres zu sein“ – nicht nur ein Phänomen des Kapitalismus ist, zeigen historisch davorliegende Gesellschaften. Eine hinreichende Garantie, dass es zu einer solchen privilegienabsichernden Identitätsbildung und den damit ver-
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bundenen Herrschaftsverhältnissen ohne Kapitalismus nicht mehr käme, kann es nicht geben; das Ringen darum wird vielleicht immer ein emanzipatorischer Prozess bleiben. Nichts anderes bezeichnet Jacques Derrida (1992) als „démocratie à venir“, als „Demokratie im Kommen“. Doch eine Wirtschaftsform zu leben, die den strukturellen Widerspruch zwischen Reproduktion und Rationalisierungsdruck aufhebt, ist nichtsdestotrotz entscheidend. Queerfeminismus strebt danach, dass (zumindest) alle Menschen das sein können, was sie sein möchten – nicht als Entfaltung einer vorgegebenen natürlichen Identität, sondern als Entfaltung dessen, was sich im Zusammenspiel zwischen „Realem“ und Gesellschaft als Potenzial ergibt. Dies aber ist nur möglich, wenn wir auch die Existenzbedingungen in dieser Welt verändern. Für eine Vision des Übermorgen braucht es Begriffe und Erfahrungen, die mit den kritisierten Grundannahmen und Begrifflichkeiten brechen und sich nicht auf die kapitalistische Wirklichkeit beziehen. Begriffe, die auf der Suche nach grundsätzlichen Alternativen unsere Sinne schärfen für die Logiken einer neuen „Kunst des Zusammenlebens“ (Acksel et al. 2015, S. 139). Solche neuen Kategorien können nicht am Schreibtisch ersonnen werden, sondern nur in den Praktiken anderen Wirtschaftens entstehen. Doch je mehr wir uns des gerade entstehenden Neuen bewusst werden, desto klarer können wir politisch damit umgehen und Transformation gestalten.
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MOVE towards Utopia
Es ist immer noch Januar 2017. Unter dem Motto „MOVE: Miteinander Offen Vertrauensvoll Emanzipatorisch der Zukunft entgegen, dem Wachstum entwachsen, die Utopie leben“ kommen zum ersten Mal Menschen aus verschiedenen Sammelbecken zusammen, die jeweils bereits in ihren Kontexten leben und vertreten, dass es eine Gesellschaft ohne Geld im Sinne einer Gesellschaft nach Bedürfnissen und Fähigkeiten geben sollte. Geplant ist ein großes gemeinsames Sommertreffen, um diese emanzipatorische Vision gegenüber den düsteren Zukunftsprognosen, die derzeit die Welt beherrschen, sichtbar zu machen. Wer gewohnt ist, dass sich in solchen politischen Strukturen vor allem Männer vernetzen, wird hier stutzen: Ihr Anteil liegt bei lediglich 25 Prozent – drei Viertel derjenigen, die diese Bewegung vorantreiben, sind Frauen. Vielleicht ist die Geschichte der feministischen Ökonomie doch nicht so im Sande verlaufen, wie der Blick in die Bahnhofsbuchhandlungen – oder den restlichen Theorieteil dieses Buches – glauben lässt.
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Literatur Acksel, Britta, Euler, Johannes, Gauditz, Leslie, Helfrich, Silke, Kratzwald, Brigitte, Meretz, Stefan, Stein, Flavio, & Tuschen, Stefan (2015). Commoning. Zur Konstruktion einer konvivialen Gesellschaft. In Frank Adloff & Volker M. Heins (Hrsg.), Konvivialismus. Eine Debatte (S. 133 – 145). Bielefeld: transcript. Bennholdt-Thomsen, Veronika (2010). Geld oder Leben. Was uns wirklich reich macht. München: oekom. Bennholdt-Thomsen, Veronika, Mies, Maria, & Werlhof, Claudia von (1983). Frauen, die letzte Kolonie. Zur Hausfrauisierung der Arbeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Biesecker, Adelheid, Braunmühl, Claudia von, Wichterich, Christa, & Winterfeld Uta von (2007). Zu den Auswirkungen der doppelten Privatisierung. Femina Politica. Zeitschrift für feministische Politikwissenschaft 2, 28 – 40. Brenssell, Ariane, & Habermann, Friederike (2001). Von Keksen und Kapitalismus. Intervention gegen ‚männlichen‘ Universalismus in Theorien zum Neoliberalismus. In Mario Candeias & Frank Deppe (Hrsg.), Ein neuer Kapitalismus ? Akkumulationsregime – Shareholder Society – Neoliberalismus und Neue Sozialdemokratie (S. 241 – 264). Hamburg: VSA. Derrida, Jacques (1992). Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Zwei Essays zu Europa. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Federici, Silvia (2010). Feminism and the Politics of the Commons. http://www.rebelnet.gr/files/federici-feminism-and-the-politics-of-commons.pdf (Zugriff am 03. 09. 2017). Gibson-Graham, J. K. (2006). A Postcapitalist Politics. Minneapolis/London: University of Minnesota Press. Habermann, Friederike (2008). Der Homo Oeconomicus und das Andere. Hegemonie, Identität und Emanzipation. Baden-Baden: Nomos. Habermann, Friederike (2013). Der unsichtbare Tropenhelm. Wie koloniales Denken noch immer unsere Köpfe beherrscht. Klein Jasedow: Drachenverlag. Habermann, Friederike (2016). Ecommony. UmCARE zum Miteinander. Sulzbach: Ulrike Helmer. Kratzwald, Brigitte (2014). Das Ganze des Lebens. Selbstorganisierung zwischen Lust und Notwendigkeit. Sulzbach: Ulrike Helmer. Luxemburg, Rosa (1975 [1925]). Einführung in die Nationalökonomie. Unvollendetes, posthum veröffentlichtes Manuskript. http://www.mlwerke.de/lu/lu05/lu05 _593.htm (Zugriff am 03. 09. 2017). Möller, Carola (1997). Überlegungen zu einem gemeinwesenorientierten Wirtschaften. In: Carola Möller et al. (Hrsg.), Wirtschaften für das ‚gemeine Eigene‘. Handbuch zum gemeinwesenorientierten Wirtschaften (S. 17 – 32), Berlin: trafo. Möller, Carola (1998). Die gesellschaftliche Gesamtarbeit neu gestalten. Das Argument 226, 4, 469 – 486. Peters, Ulla (1997). Jenseits des Schrebergartens. Politisierung der Subsistenz – Perspektive für einen feministischen Internationalismus ? In: Schwertfisch (Hrsg.),
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Friederike Habermann
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Trialog: Implizite und explizite Menschenbilder Friederike Habermann, Stefan Meretz & Christian Siefkes
Warum man das eigene Menschenbild explizit machen sollte – und warum es lieber nicht so detailliert sein sollte Christian Siefkes Wer darüber spricht oder nachdenkt, wie die Gesellschaft organisiert sein könnte oder sollte, beschäftigt sich dabei zwangsläufig damit, wie sich Menschen unter anderen Umständen mutmaßlich verhalten würden. Sofern man sich dabei nicht auf den heutigen Zustand oder auf früher oder anderswo existierende Verhältnisse beschränken will, kommt man mit empirischen Beobachtungen nicht weit. Man braucht stattdessen ein theoretisches Modell menschlichen Verhaltens, das es ermöglicht, erwartbare Verhaltensweisen auch unter heute nicht beobachtbaren Umständen vorherzusagen. Ein solches Modell menschlichen Verhaltens entspricht ungefähr dem, was alltagssprachlich als „Menschenbild“ bezeichnet wird, daher werde ich diesen kürzeren Begriff gebrauchen. Wenn man Aussagen über menschliches Verhalten in einem vorgestellten Szenario macht, braucht man somit immer ein Menschenbild, wenn man mehr als „weiß nicht“ sagen möchte. Wichtig sind dabei zwei Dinge: 1) Man sollte das eigene Menschenbild explizit machen, statt es nur implizit mitschwingen zu lassen. 2) Idealerweise sollte das der eigenen Argumentation zugrunde liegende Menschenbild nicht allzu voraussetzungsreich sein. Punkt (1) ist wichtig, weil man sonst das Publikum bzw. Gegenüber verwirrt und frustriert zurücklässt. Bei einem nur impliziten Menschenbild wird man oft auf Reaktionen wie „die Menschen sind aber nicht so“ oder „dafür brauchst du erst © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_11
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neue Menschen, die du gewaltsam, durch Umerziehung, herstellen müsstest“ stoßen (dies ist auch im Rahmen unseres Projekts schon passiert). Zwar kann selbstverständlich auch einem expliziten Menschenbild mit „die Menschen sind nicht so“ widersprochen werden, aber dabei ist dann zumindest allen Beteiligten klar, worüber sie eigentlich reden. Und wenn das eigene Menschenbild nicht einfach als bloßes Postulat formuliert, sondern als empirisch abgesicherte Erkenntnis begründet wird, dann müssen sich ernstzunehmende Einwände ebenfalls auf diese Ebene der theoretischen Fundierung einlassen, statt bloß als Gegenpostulat daherkommen zu können. Punkt (2) ist weniger wichtig, denn wenn man gut begründete Erkenntnisse hat, ist es sinnvoll, diese auch zu verwenden. Dabei liegt die Betonung auf „gut begründet“, denn wenn man die eigene Theorie auf unsicheren Fundamenten baut, schwächt man sie nur unnötig. Aber auch wenn sie theoretisch gut abgesichert sind, sollte man sich bei zusätzlichen Details des Menschenbilds lieber fragen, ob man sie überhaupt braucht oder ob man in der eigenen Argumentation darauf verzichten kann. Letzteres hätte den Vorteil, dass andere die Argumentation leichter nachvollziehen und akzeptieren können, ohne die zusätzliche Menschenbildbasis überprüfen zu müssen. Ein weiterer Vorteil des Verzichts auf zusätzliche Annahmen ist, dass die eigene Argumentation keinen Schaden nimmt, falls sich diese Annahmen doch als irrig erweisen sollten. Absolute Sicherheit gibt es schließlich selten. Unrealistische Vorstellungen von anderen – etwa typische wirtschaftswissenschaftliche Lehrbücher – gilt es zu kritisieren. Dabei wäre jedoch nichts gewonnen, wenn man verkürzte und irreführende Modelle wie den Homo oeconomicus bloß durch andere ebenso verkürzte Modelle wie etwa den Homo cooperativus (Rogall 2002) ersetzen würde.
Warum Menschenbilder nie unabhängig von ihrer Gesellschaft sein können Friederike Habermann Genau: Das Menschenbild ist keine Ich-wünsch-mir-was-Angelegenheit, sondern genauso eine Frage wissenschaftlicher Erkenntnis wie andere Überlegungen zur Transformation. Das möchte ich nicht nur einfordern, sondern auch liefern. Aus feministischer und antirassistischer Perspektive ist es eine Binsenweisheit, dass Menschen immer Teil ihrer Gesellschaft sind. Denn warum war es im 19. Jahrhundert so schwer zu argumentieren, dass Frauen/Schwarze nicht weniger intelligent als weiße Männer sind ? Weil wahr gemacht worden war, dass sie in der
Trialog: Implizite und explizite Menschenbilder 313
Regel nicht dem hegemonialen Verständnis einer rationalen Persönlichkeit entsprachen. Es war Judith Butler (1991), die mit ihrem queerfeministischen Ansatz deutlich machte, dass anders als in der angenommenen Trennung in einen gegebenen differenten Geschlechtskörper (im Englischen: „sex“) einerseits und das sozial konstruierte Geschlecht („gender“) andererseits die kulturelle Prägung nicht zu trennen ist von unseren Körpern. Um es anschaulich zu machen: Frauen in der Steinzeit waren nicht das schwache Geschlecht des 19. Jahrhunderts, und heutige fitnessgestählte Schönheiten sehen anders aus als das Ideal im Barock. Wie viel Östrogen wir im Körper tragen, hängt davon ab, wie viel Schweinefleisch wir essen, und wie viel Testosteron unsere Körper produzieren, ergibt sich unter anderem daraus, ob wir einen traditionell weiblichen Lebensentwurf verfolgen oder eine klassisch männliche Karriere. Das begrenzt sich aber nicht auf Aspekte des Geschlechts: So ist unsere Lebenserwartung etwa wesentlich dadurch beeinflusst, ob wir privat oder gesetzlich krankenversichert sind (bei 40-jährigen Frauen in Deutschland macht das sieben Jahre Unterschied) und in welchem Stadtteil wir wohnen (in vielen westeuropäischen Städten bis zu zehn Jahre Unterschied, in Glasgow bei Männern sind es dreißig Jahre). Doch können wir nicht Schönheitsideal, Ernährungsgewohnheiten, Karriere, Krankenversicherung und Stadtteil von uns „abziehen“, um dann zu einem „natürlichen“ Todeszeitpunkt zu kommen. Umso mehr gilt das Verschmelzen von Biologischem und Sozialem für unsere Verhaltensweisen. Jüngste Erkenntnisse der Neurobiologie zeigen genau dies auf. So werden Gene nicht nur in ihrer Aktivität fortlaufend durch Umwelteinflüsse reguliert; Forschungen der Epigenetik zeigen, dass Umwelterfahrungen entscheidend dafür sind, ob ein Gen abgelesen wird und falls ja, wie stark (vgl. Bauer 2006, S. 52 f.). Ähnliches gilt für die Entwicklung unseres Gehirns. Niemand sei zu trennen von der Umgebung, in der er oder sie aufwachse, so der kanadische Arzt und Autor Gabor Maté. Gerade deshalb sei es kein Wunder, dass sich in unserer auf Wettbewerb ausgelegten Gesellschaft hartnäckig das Bild des Menschen als von Natur aus konkurrent, individualistisch und eigennützig bestätigt finde. Die gesellschaftlichen Verhältnisse geben eine bestimmte Rationalität vor, an die sich die Individuen halten müssen, wenn sie innerhalb dieser Verhältnisse bestehen wollen. Handeln sie dann entsprechend dieser Rationalität, werden durch ihr Handeln auch wieder die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse reproduziert. Da die Menschen keine Alternative sehen, empfinden sie ihr Verhalten als „natürlich“. Nur in einer einzigen Hinsicht, so wieder Maté, sei von menschlicher Natur zu sprechen: „Wir haben als Menschen ein Bedürfnis nach Gesellschaft und engem
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Kontakt; danach, geliebt zu werden, Anschluss zu haben, akzeptiert zu werden, gesehen zu werden; für das angenommen zu werden, was wir sind.“1 In diesem Sinne verdeutlicht Joachim Bauer, dass es nur scheinbar paradoxerweise gerade die Suche nach Anerkennung ist, die in unserer Gesellschaft Menschen dazu bringt, finanziellen Erfolg anzustreben und sich dafür konkurrent und egoistisch zu verhalten: „Alle Ziele, die wir im Rahmen unseres normalen Alltags verfolgen, die Ausbildung oder den Beruf betreffend, finanzielle Ziele, Anschaffungen etc., haben aus der Sicht unseres Gehirns ihren tiefen, uns meist unbewussten ‚Sinn‘ dadurch, dass wir damit letztlich auf zwischenmenschliche Beziehungen zielen, das heißt, diese erwerben oder erhalten wollen“ (Bauer 2006, S. 39). Das heißt nicht, dass in einer ideal organisierten Gesellschaft kein Egoismus und keine Konkurrenz mehr existieren würden. Wenn es darum geht, das Menschenbild als vom Egoismus getrieben aufzubrechen, bedeutet das nicht, dass Menschen in einer „guten“ Gesellschaft ausschließlich dem Altruismus, der völli gen Selbstaufgabe, huldigen würden. Doch offensichtlich macht es einen Unterschied, ob wir in einer Gesellschaft leben, in der die unsozialen Eigenschaften höchste Anerkennung erhalten (weil sie unbedingte Voraussetzung für Erfolg sind), oder ob wir in einer Gesellschaft leben, in der diese Begrifflichkeiten als falsche Gegensätze erkannt und überwunden wurden, weil die wenigsten Tätigkeiten in ihnen aufgehen, und die (Re-)Produktion entsprechend so organisiert ist, dass sie in der alltäglichen Lebensführung kaum Bedeutung haben.
Warum wir einen Begriff vom Menschen und der Gesellschaft brauchen Stefan Meretz Erfreulicherweise widersprechen wir uns gar nicht so stark. Dennoch würde ich ein paar Akzente anders setzen. Zunächst möchte ich das Wort „Menschenbild“ nicht verwenden, denn es ist für mich unaufhebbar mit einem „Ich wünsch mir was“ verbunden. Schon oft musste ich mir anhören: „Deine Utopie funktioniert nur, wenn du von einem bestimmten Menschenbild ausgehst.“ Explizit oder implizit werden Wunschbilder – zu Recht – zurückgewiesen, damit oft aber gleichzeitig die Gewinnung eines wissenschaftlichen Begriffs komplett negiert. Das Kind wird mit dem Bade ausgeschüttet.
1 Zitat aus dem Film Zeitgeist – Moving Forward (2011); https://www.youtube.com/watch? v=4Z9WVZddH9w (04. 05. 2018).
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Ich versuche dann zu verdeutlichen, dass wir einen wissenschaftlichen, also gut begründeten und damit auch im wissenschaftlichen Diskurs kritisierbaren Begriff brauchen. Tatsächlich ist es so, dass alle, die sich – wie vermittelt auch immer – mit individual- oder gesellschaftstheoretischen Ansätzen beschäftigen, einen derartigen Begriff zugrunde legen müssen. Dies zu bestreiten bedeutet nur, gängige Alltagsvorstellungen zu reproduzieren und das alltäglich erlebbare Verhalten zum natürlichen umzudefinieren – das hast du ausgeführt, Friederike. Mein „Begriff vom Menschen“ ist ein untrennbar doppelter: Es geht mir um die Identität von gesellschaftlichem Menschen und menschlicher Gesellschaft. Wenn ich das Wort Identität hier verwende, dann im Hegel’schen Sinne der Identität von Identität und Unterschied: Mensch und Gesellschaft sind identisch und doch verschieden. Die Gleichzeitigkeit von Identität und Unterschied zu denken, fällt schwer im Mainstream einer analytischen formal-logischen Erkenntnistheorie, die disjunkte Partikel erst zusammenbringen muss, um einen Zusammenhang herzustellen, anstatt davon auszugehen, dass diese Partikel in der wirklichen Welt schon der Zusammenhang sind, in dem sie sich als Einzelne unterscheiden können. Von dort aus gedacht ist die Vorstellung, dass Menschen zusammenkommen, um eine Gesellschaft zu stiften, absurd. Ein Beispiel: So sympathisch die Forderung von „Kooperation statt Konkurrenz“ daherkommt, so irreführend ist sie. Menschlich-gesellschaftliche Existenz ist Kooperation. Gesellschaft ist ein Kooperationszusammenhang. Konkurrenz ist eine Form der Kooperation. Die Frage ist also nicht, ob wir kooperieren, sondern allein wie. Und vom Wie hängt ab, welche historisch besondere psychische Ausstattung wir erwerben müssen, um in der dominanten Form der Kooperation mittun zu können, wie wir also denken und fühlen können müssen, um handeln zu wollen und zu können. Ein Begriff der menschlichen Natur ist einer der Potenzialität. Er fasst, was Menschen können können. Wie wir erleben, können sie sich konkurrent so verhalten, dass sie dies auf Kosten anderer tun. Ist Konkurrenz deshalb ihre Natur ? Nein, aber Konkurrenz als historisch besondere Form der Kooperation liegt im Raum menschlicher Möglichkeiten. Es ist möglich, die Gesellschaft exklusionslogisch – die Entwicklung der einen geht auf Kosten von anderen – zu organisieren. Es liegt jedoch individualtheoretisch gedacht genauso im menschlichen Möglichkeitsraum, die Gesellschaft inklusionslogisch zu organisieren, ohne von der Annahme auszugehen, dass „Inklusion“ die wahre menschliche Natur wäre. Wir erkennen also, dass der Fokus bei der Frage, welche gesellschaftlichen Verhältnisse möglich sind, auf dem Aspekt der gesellschaftlichen Struktur, die die Matrix für das individuelle Handeln vorgibt, liegen muss – und nicht auf Annahmen, wie der Mensch sei. Wir können Seinsannahmen zurückweisen, damit aber auch all jene, die das beobachtbare massenhafte Verhalten der realen Menschen unter realen Verhältnissen der Konkurrenz und der Exklusion zum menschlichen
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So-sein-an-Sich stilisieren wollen. Unter Verhältnissen, in denen sich strukturell die einen immer auf Kosten von anderen durchsetzen, weil das der nahegelegten Handlungsmatrix entspricht, ist es subjektiv funktional, ebendas zu tun. Es gibt gute Gründe, dort mitzuspielen, denn das Spiel sichert die eigene Existenz. Es gibt aber auch gute Gründe, das Exklusionsspiel nicht mitzuspielen und nach Verhältnissen zu forschen, in denen die Entwicklung der einen nicht die Grenze, sondern die Voraussetzung für die Entwicklung der anderen ist. Mit diesem Hintergrund würde ich den Vorschlag von Maté zur menschlichen Natur, den du zitierst, Friederike, nicht teilen. In dem postulierten „Bedürfnis nach Gesellschaft“ scheint die übliche Dichotomisierung auf: Ich habe nach etwas ein Bedürfnis, das ich wohl nicht bin. Die Gesellschaft ist mir äußerlich. Verstehe ich „Gesellschaft“ hier nur als „Geselligkeit“ – eine weitere mögliche Interpretation – und füge noch das vorgebliche Bedürfnis nach „engem Kontakt“ hinzu, wird es noch schwieriger: Warum soll das so sein ? Können Menschen nicht auch ohne dies (glücklich) sein ? Analog zur Kooperation gilt auch hier wieder: Enger Kontakt und Geselligkeit ist eine Form des Auslebens der Gesellschaftlichkeit des Menschen, aber eben nicht die natürliche Form. Das Zitat von Maté macht auf mich den Eindruck der (einfachen) Umkehrung der aktuellen Verhältnisse, statt Isolation, Ferne, Hass, Ausschluss, Diskriminierung, Abwertung nun Kontakt, Nähe, Liebe, Anschluss, Akzeptanz, Annahme. So wie Ersteres nicht die „menschliche Natur“ ist, so auch nicht Letzteres. Sondern beides ist offensichtlich möglich. Die Frage ist, unter welchen Voraussetzungen sich welche Verhaltensweisen gesellschaftlich entfalten können. Allerdings mutet es schon fast verrückt an, dafür argumentieren zu müssen, dass auch Letzteres zum menschlichen Möglichkeitsraum gehört. Diese Möglichkeit hervorzuheben, ist das Verdienst von Maté, die konkrete Realisierung zur Natur zu erklären, ist dagegen nicht hilfreich. Zusammenfassend: Wir brauchen einen Begriff der gesellschaftlichen Natur des Menschen. Ein solcher Begriff der Potenzialität erlaubt es uns, gesellschaftliche Verhältnisse „nach dem Geld“ zu denken. Dass das eine Herausforderung ist, liegt auf der Hand. Die „Gesellschaft des Geldes“, die wir heute haben, erzeugt eine strukturelle Handlungsmatrix, in der konkurrentes Verhalten belohnt wird, weil es funktioniert und die Existenz sichert. Eine anzustrebende „Gesellschaft nach dem Geld“ steht notwendig vor einer doppelten Aufgabe: Im Prozess des Aufbaus einer neuen Handlungsmatrix, in der inkludierendes Verhalten belohnt wird, weil es funktioniert und die Existenz sichert, müssen wird uns so verändern, dass wir von überkommenen Verhaltensweisen lassen und uns neue aneignen. Eine große Aufgabe. Aber Menschen können das können.
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Begriff vom Menschen und gesellschaftliche Organisation Christian Siefkes Ihr sagt beide, es kommt weniger auf Annahmen über die Menschen an, weil die Menschen, so wie wir sie beobachten können, immer durch bestimmte gesellschaftliche Strukturen geprägt sind und sich typischerweise so verhalten, wie es im Rahmen dieser Strukturen zweckmäßig ist. Was es also braucht, sind andere, bessere Strukturen, in denen es sinnvoller ist, mit allen anderen zusammenzu arbeiten statt gegen sie – in denen „inkludierendes Verhalten belohnt wird, weil es funktioniert und die Existenz sichert“ (Stefan), und in denen „nicht die un sozialen“, sondern die sozialeren „Eigenschaften die höchste Anerkennung erhalten“ (Friederike). Damit bin ich ganz einverstanden, doch folgt daraus die entscheidende Frage: Wie könnten solche Strukturen aussehen und funktionieren ? Wenn es auf die Strukturen ankommt, reicht es nicht, sich im Wesentlichen auf die Negation von existierenden Strukturen und deren Funktionsprinzipien zu beschränken. Stattdessen gilt es, die alternativen Strukturen, „in [denen] inkludierendes Verhalten belohnt wird“, klar zu beschreiben – man darf diese Belohnung bzw. Anerkennung des gewünschten Verhaltens nicht bloß postulieren, sondern muss zeigen, wie sie zustande kommt. Und da finde ich es problematisch, wenn Stefan (in seinem Beitrag in diesem Band) stattdessen Prinzipien formuliert, die das gerade auszuschließen scheinen, etwa dass „Nutzungen und Beiträge [gleichermaßen] gesellschaftlich anerkannt sind“. Wenn Nutzungen wie Beiträge gleichermaßen anerkannt sind, suggeriert das, dass ich mich, egal ob ich für andere das Bett mache oder mich ins von anderen gemachte Bett lege, in gleicher Weise um die anderen und die Gesellschaft verdient mache. Zwischen etwas für andere tun und sich von anderen versorgen lassen soll kein Unterschied mehr gemacht werden – jedenfalls keiner, der Ersteres belohnen und Letzteres (insbesondere wenn es in einem derartigen Umfang stattfindet, dass nicht mehr genug für andere bleibt) sanktionieren oder mit Kosten belegen könnte. Wenn es dann aber nicht die gesellschaftlichen Strukturen sind, die das Verhalten in die gesellschaftlich gewünschte Richtung lenken könnten, was ist es dann ? Eine mögliche, partielle Antwort ist der Verweis auf die Vielseitigkeit menschlicher Interessen und Handlungswünsche, in Stefans Beitrag stigmergisches Gesetz genannt: „Gibt es ausreichend Menschen und Commons, so wird sich für jede Aufgabe, die getan werden muss, auch eine Person oder ein Commons finden.“ Aber dieses stigmergische Gesetz ist kein in irgendeiner Form belegtes (Natur-)Gesetz, es ist bloßes Postulat. Begründeter könnte man es als Hoffnung formulieren: Bei zahlreichen unterschiedlichen Aufgaben und zahlreichen unter-
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schiedlichen Menschen finden sich hoffentlich für jede Aufgabe ausreichend viele Menschen, die genügend Lust auf diese Aufgabe haben, um sie im benötigten Umfang zu erledigen. Oder vielleicht sollte es statt „Lust haben“ besser heißen: „die vielleicht keine Lust auf die Aufgabe haben, sie aber aufgrund ihrer Einsicht in die gesellschaftlichen Notwendigkeiten trotzdem übernehmen“ ? Welche Formulierung die intendierte ist, wird aus dem ursprünglichen stigmergischen Gesetz nicht klar, macht aber einen gewaltigen Unterschied in Hinblick auf den dahinter stehenden Begriff vom Menschen. Geht es um die Lust am Tun, steckt dahinter die Vorstellung einer Menschheit, die insgesamt über ein gigantisches Potenzial an unterschiedlichen Interessen und Handlungswünschen verfügt – mehr als genug, dass sich für alle Aufgaben, selbst die aus individueller Sicht langweiligsten oder undankbarsten, ausreichend viele Menschen finden, die sie als hochinteressant und motivierend empfinden. Das ist eine schöne Vision, die sicher nicht völlig unplausibel ist, denn tatsächlich ist ja die Vielzahl der menschlichen Interessen immens, aber trotzdem: Wie könnte begründet werden, dass diese Vielzahl nicht nur für viele, sondern tatsächlich für alle notwendigen Aufgaben ausreicht ? Geht es hingegen um die Einsicht in die Notwendigkeiten, wirft das wieder andere Fragen auf: Wo kommen all die Menschen her, die derartig verantwortungsbewusst sind, dass sie die Sache der ganzen Gesellschaft zu ihrer eigenen machen und sich den notwendigen, aber auch aus ihrer Sicht nicht besonders dankbaren Tätigkeiten widmen, die sonst liegenbleiben würden ? Bedarf es zur „Herstellung“ einer ausreichend großen Anzahl derartig verantwortungsbewusster Menschen nicht einer gesellschaftlichen Indoktrinierung, sprich: eines Umerziehungsprogramms – eine Vorstellung, vor der emanzipatorische Projekte aus gutem Grund zurückschrecken ? Und wäre es nicht ziemlich unfair, wenn sich manche für die Erledigung des gesellschaftlich Notwendigen abrackern, während andere nur tun, worauf sie Lust haben ?
Jenseits von Tausch, Erpressung und Sanktionierung Stefan Meretz Wenn wir über qualitativ andere Formen der Vergesellschaftung nachdenken, müssen wir uns von den tief eingesunkenen Imperativen der Warengesellschaft lösen. Dazu gehören Tausch, Erpressung und Sanktionierung. Beim Tausch als Form der reziproken Erpressung – du bekommst erst, wenn du gibst – sind wir uns einig, dass das nicht die Grundlage zwischenmenschlicher Beziehungen sein kann. Ich verstehe nun dich, Christian, so, dass du dennoch – obwohl das nahe-
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liegt – nicht grundsätzlich von Erpressung und Sanktionierung lassen möchtest, auch wenn du es freundlicher benennst. Erpressung und Sanktionierung lagen in vormodernen Zeiten in den Händen machtvoller Herrschender, während sie im Kapitalismus eher durch den allgegenwärtigen Sachzwang zur Verwertung grundiert sind, gleichwohl aber auch personal auftreten können. Eine solche strukturelle, entpersonalisierte Form der Herrschaft möchtest du prinzipiell (in welchen weichen Formen auch immer) beibehalten – aus dem durchaus nachvollziehbaren Bedenken heraus, am Ende werden doch nicht alle notwendigen Aufgaben freiwillig erledigt. Also möchtest du Menschen, die sich übermäßig (und für andere schädlich) „von anderen versorgen lassen […], sanktionieren oder mit Kosten belegen“. Das ist eine im heutigen neoliberalen Diskurs uns wohl vertraute Argumentation, aus gutem Grund: Erpressung zu Wohlverhalten und Sanktionierung sind elementare Bestandteile der Warenproduktion, wie uns etwa beim Hartz-4-Regime täglich vorgeführt wird. So ist es kein Zufall, dass du die Kontroverse am Punkt der von mir postulierten Aufhebung der Trennung von Beiträgen und Nutzungen beginnst. Es ist sicher so, dass man Beiträge und Nutzungen unterscheiden kann (wobei es auch schon unter unseren Bedingungen zu Verwischungen kommt, wie das Phänomen der Prosumtion zeigt), doch erst die Warenproduktion hat daraus eine Trennung und einen Gegensatz gemacht, dessen Pole unterschiedlichen Handlungsrationalitäten folgen, die nurmehr gekoppelt auftreten: ohne Beitrag keine Nutzung, ohne Geld keine Ware zur Bedürfnisbefriedigung. Das bedeutet aber umgekehrt, dass eine Aufhebung der gekoppelten negativen Reziprozität (das ist die Sozialform des Tausches) notwendig einschließt, nicht mehr zwischen anrechenbaren und „nur“ nützlichen Beiträgen zu unterscheiden. Dies auch deshalb, weil es aus meiner Sicht nicht begründbar ist, jene Menschen von der vollen Nutzung des kompletten gesellschaftlichen Reichtums (auch nur partiell) auszuschließen, die nichts oder wenig beitragen können. Wer wollte nun aber zwischen Nichtkönnen und Nichtwollen unterscheiden ? Mein Schluss ist, dass der Abschied von Sanktionen und Erpressungen vollständig sein muss. Musst du dafür Annahmen zum Menschenbild machen ? Nein, du musst nur von eingesunkenen Annahmen zum Menschenbild lassen und von der prinzipiellen Möglichkeit ausgehen, dass Menschen sich gesellschaftlich auch anders organisieren können. Der paradigmatische Perspektivwechsel, der aus meiner Sicht zu leisten ist, kann so beschrieben werden: Nicht, wie bekomme ich die Menschen dazu, dies oder jenes zu tun – das nenne ich den realsozialistischen Denkstil, der sich nicht von der Erpressungslogik der Warenform gelöst hat –, ist die Frage, sondern unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen handeln und organisieren sich Menschen aus guten Gründen so, dass niemand unter die Räder kommt. So, wie es subjektiv funktional ist („belohnt wird“), im alten Regime zu tauschen,
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zu erpressen und zu sanktionieren, so ist es im neuen Regime – das ist eine Forderung – funktional, inklusiv zu handeln. Wie das gehen kann, beschreibe ich versuchsweise auf einer kategorialen Ebene in meinem Buchbeitrag. Dabei spielt Stigmergie eine zentrale Rolle bei der Vermittlung, aber Vermittlung impliziert, dass es keine inhaltliche Steuerung gemäß externen Maßstäben geben kann (wie bei der Ware, wo die Verwertbarkeit der externe Maßstab ist), sondern Stigmergie ist ein Mittel für die Selbstorganisation und Selbstplanung. An mich die Forderung zu richten, ich müsse begründen, dass Selbstorganisation am Ende „alle notwendigen Aufgaben“ auch erledigt, ist ein Widerspruch in sich. Ich kann bestenfalls die plausible Annahme stärken, dass Menschen, die ihren Bedürfnissen in einer inklusionslogischen Struktur folgen, dies schon tun werden – eben weil es ihr Bedürfnis ist (siehe meinen Beitrag in diesem Band). Es ist aus meiner Sicht theoretisch nicht begründbar, eine postmonetäre Gesellschaft, die nur eine freie sein kann, zu wollen und gleichzeitig ein bisschen strukturelle Erpressung und Sanktionierung beizubehalten. Wie die Menschen auf interpersonaler Ebene dann handeln, ob sie vielleicht doch versuchen, zu Sanktionen zu greifen etc., ist für den gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang irrelevant, solange ein solches individuelles Verhalten nicht gesellschaftliche Funktionalität gewinnt. Bei grundlegender struktureller Herrschaftsfreiheit und bedingungslos gesicherter Existenz ist es dann individuell immer möglich, sich überkommenen „Maßnahmen“ zu entziehen. Die basale Möglichkeit des Aus-derKooperation-gehen-Könnens hat Christoph Spehr in seiner Theorie der freien Kooperation entwickelt (Spehr 2003). Das löst nicht alle Probleme und beseitigt auch nicht alle Konflikte (etwa ungleiches Fairnessempfinden), aber es ist dann endlich eine Basis, Probleme und Konflikte ohne die Machtmittel der Erpressung und Sanktionierung auszutragen. Und ich bin mir sicher: Darin wird unter solchen herrschaftsfreien Bedingungen dann auch die kreative Energie fließen.
Jenseits unserer Weltbilder Friederike Habermann Ist unsere Diskussion nicht durch die Konstruktion von Gegensätzen geprägt, was nur wiederum zeigt, wie sehr wir selbst Teil dieser Gesellschaft, darin aber wie derum auch unserer jeweiligen Kontexte sind ? Eine*r von uns schreibt etwas, und der/die andere reagiert: „Wenn du das nicht willst, musst du das Gegenteil wollen – und das ist falsch !“ Mir scheint das Ausdruck davon, dass wir uns in zwar relativ ähnlichen, aber oft doch unterschiedlichen Diskussionszirkeln bewegen, was unterschiedlichen Ansichten geschuldet ist, aber darüber hinaus auch unterschied-
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liche Assoziationen mit bestimmten Begriffen mit sich bringt und damit unnötige Gegensätze konstruiert. Was der Kommunikation nicht dienlich ist. Stefan, zur Aussage von Gabor Maté („Wir haben als Menschen ein Bedürfnis nach Gesellschaft und engem Kontakt; danach, geliebt zu werden, Anschluss zu haben, akzeptiert zu werden, gesehen zu werden; für das angenommen zu werden, was wir sind“) schreibst du: „In dem postulierten ‚Bedürfnis nach Gesellschaft‘ scheint die übliche Dichotomisierung auf: Ich habe nach etwas ein Bedürfnis, das ich wohl nicht bin. Die Gesellschaft ist mir äußerlich. Verstehe ich ‚Gesellschaft‘ hier nur als ‚Geselligkeit‘ – eine weitere mögliche Interpretation – und füge noch das vorgebliche Bedürfnis nach ‚engem Kontakt‘ hinzu, wird es noch schwieriger: Warum soll das so sein ?“ Entsprechend wirfst auch du Maté bzw. mir genau eine solche einfache Umkehr vor: „Das Zitat von Maté macht auf mich den Eindruck der (einfachen) Umkehrung der aktuellen Verhältnisse, statt Isolation, Ferne, Hass, Ausschluss, Diskriminierung, Abwertung nun Kontakt, Nähe, Liebe, Anschluss, Akzeptanz, Annahme.“ Was dagegen ich in dem Zitat gelesen habe, ist, dass es uns Menschen nunmal nicht allein gibt. Wir sind immer abhängig voneinander – das ist in der feministischen Diskussion ein zentrales Moment (vgl. Knecht et al. 2012). Grundlage queerfeministischer Theorien ist sowieso, Individuen immer als Teil der Gesellschaft zu sehen, aber auch in den ökofeministischen Debatten der 1980er Jahre und gerade in den Care-Diskussionen der letzten Jahre wurde dieser Aspekt häufig thematisiert: Wir sind keine autonomen Individuen, sondern wir brauchen einander – als Babys, als Kinder, in unserem erotischen Bedürfnis, in unserem Liebesverlangen, im Alter, bei Krankheit, um sprechen und um gescheit denken zu lernen, um uns aneinander zu entwickeln, aber auch um materiell gut versorgt zu sein. Manches davon benötigt sogar engen Kontakt – auch wenn ich, darauf aufmerksam gemacht, sehr gut verstehe, dass Matés Formulierung anders, nämlich als Geselligkeit verstanden werden kann. Doch dass im Prozess all dieser Abhängigkeiten, die zugleich Sozialisationsmechanismen darstellen, auch Individuen entstehen, die am liebsten den Tag allein verbringen, steht auf einem anderen Blatt – denn auch diese brauchen all das. Mal abgesehen davon, dass ich überzeugt bin, dass Sozialphobiker*innen keineswegs weniger über Menschen und ihre Reaktionen nachdenken. Das mag bei ihnen keine positiven Gefühle auslösen, doch darum geht es nicht. Und du, Christian, gibst mich scheinbar wörtlich zitierend damit wieder, dass „die sozialeren ‚Eigenschaften die höchste Anerkennung erhalten‘“ sollten in einer anderen Gesellschaft. Tatsächlich schrieb ich: „[O]ffensichtlich macht es einen Unterschied, ob wir in einer Gesellschaft leben, in der die unsozialen Eigenschaften höchste Anerkennung erhalten (weil sie unbedingte Voraussetzung für Erfolg sind), oder ob wir in einer Gesellschaft leben, in der diese Begrifflichkeiten als
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falsche Gegensätze erkannt und überwunden wurden“. Auch hier wieder: Wenn nicht die unsozialen Eigenschaften höchste Anerkennung erhalten, dann muss gemeint sein, dass die sozialen diese bekommen – und dann, so fährst du fort, gelte es aber auch, die alternativen Strukturen klar zu beschreiben. Worum sich dann eure weitere Diskussion dreht. Nicht nur wir Menschen sind Teil unserer Gesellschaft, sondern auch un sere Denkkategorien. Auch dies ist ein Allgemeinplatz in feministischen Schriften, aber beispielsweise auch bei dem postkolonialen Theoretiker Edward Said („Orientalismus“, 1995): die Aufteilung in Gegensatzpaare im (westlichen, patriarchalen) Denken – wovon dann das eine immer irgendwie besser ist. In Wirklichkeit aber ist das eine immer nur existent, weil das andere konstruiert wurde. Wir in unserem heutigen Alltagsverstand können schlichtweg nicht sagen, ob in einer geld- und tauschlogikfreien Gesellschaft alle Tätigkeiten freiwillig erledigt würden – weil das Gegenteil von freiwillig Zwang ist, und dieser Gegensatz sich auflösen könnte. Dass es um die „Wiederentdeckung des Selbstverständlichen“ (Praetorius 2015) geht, dass Menschen tätig werden, weil etwas getan werden muss, ist das, was Feministinnen in den letzten Jahren stark gemacht haben. Die Versorgung des Babys war hierfür das Urbild in der Diskussion, das unter anderem von Genevieve Vaughan ausgeführt wurde: „Die Mutter füttert ihr Kind nicht, um selbst vom Kind gefüttert zu werden oder damit das Kind seinen Finger in ihren Mund legt“ (Vaughan 2012, S. 66) – sprich: nicht aus Tauschlogik und nicht aus Spaß, in der Regel auch nicht als Arbeitsleid, sondern in erster Linie als Selbstverständlichkeit, was Spaß oder Leid nicht ausschließt. Sicher gäbe es viele mögliche Zukunftsgesellschaften, in denen Menschen nicht bereit sind, Tätigkeiten so zu übernehmen, dass hinterher alles abgedeckt ist (wobei die Möglichkeiten der Technisierung, der Umorganisation, sodass es Spaß macht, der Rotation etc. ja auch von dir, Christian, schon oft ausgeführt wurden [vgl. etwa Siefkes 2007]). Es gibt nicht die eine Zukunftsgesellschaft, ja nicht einmal die eine Zukunftsgesellschaft ohne Geld, und das ist nicht einmal in erster Linie eine Frage der Technik oder der gewählten Vermittlungsform, sondern davon abhängig, wie sich Menschen in ihr entwickeln werden. Und darüber müssen wir uns aus unserem Alltagsverstand und unseren Weltbildern heraus hier glücklicherweise nicht streiten, da wir diese nicht vorhersehen können. Stattdessen müssen wir anfangen. Dann werden wir weitersehen.
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Den Tausch nicht verteufeln Christian Siefkes Stefan, du emotionalisierst unsere Debatte durch die Verwendung ethisch stark aufgeladener Begriffe wie „Erpressung“. Jede*r weiß, dass Erpressung verwerflich ist. Wenn man, wie du es tust, von „Erpressung und Sanktionierung“ immer im Doppelpack spricht, legt das nahe, dass Sanktionierung ebenso verwerflich ist, ja dass Sanktionen von Erpressung kaum zu unterscheiden sind. Und beim Tausch sagst du ganz explizit, dass du ihn für eine „Form der reziproken Erpressung“ hältst und ihn deshalb nicht als „Grundlage zwischenmenschlicher Beziehungen“ akzeptieren kannst. Aber zumindest beim Tausch ist das Bild schief, denn Erpressung fordert einen aktiven Akt: Ich drohe einer anderen mit negativen Konsequenzen für den Fall, dass sie meiner Forderung nicht nachkommt. Diese negativen Konsequenzen muss ich aber selbst herstellen, indem ich etwa ein Geheimnis ausplaudere oder eine Verwandte oder Freund*in des Erpressungsopfers erschieße. Bei einem nicht zustande kommenden Tausch bleiben hingegen beide Seiten passiv. Mir scheint hier ein ethisch-emotionalisierender Kurzschluss vorzuliegen: Da A (Erpressung) böse ist, sind auch B (Sanktionierung) und C (Tausch) böse, und deshalb muss eine bessere Gesellschaft auf alle drei verzichten und sich „jenseits von Tausch, Erpressung und Sanktionierung“ organisieren. Mir scheint statt dieser emotionalisierenden Argumentation eine pragmatische angemessener: Tausch ist nicht per se schlecht und deshalb abzulehnen, sondern es gilt, dann (und nur dann) gesellschaftliche Organisationsformen jenseits des Tausches zu fördern, wenn diese zu besseren Ergebnissen für die involvierten Menschen führen. Was umgekehrt heißt: Wo Tauschgeschäfte für die Beteiligten gut funktionieren, ist nichts gegen sie zu sagen. Deshalb ist für mich die Frage „Wie wird das dann funktionieren ?“ so wichtig, während ihr beide dazu neigt, sie mit einem „Das wird sich schon finden“ zurückzuweisen. Für mich ist keineswegs ausgemacht, ob eine Gesellschaft, in der weder die Menschen noch die Natur unter die Räder kommen, komplett auf Tauschen verzichten müsste oder auch nur könnte. Das gälte es vielmehr plausibel zu machen, und da ist es mit einem „darin wird […] dann […] die kreative Energie fließen“ (Stefan) oder „dann werden wir weitersehen“ (Friederike) nicht getan. Und noch skeptischer werde ich, wenn du, Stefan, forderst, dass „der Abschied von Sanktionen […] vollständig sein muss“. Wenn damit nur die Sanktionierung des Nichtbeitragens gemeint ist, können wir uns vermutlich noch einig werden, doch dein Anspruch klingt ja allgemeiner: Jede Art von Sanktionen ist abzulehnen. Damit entfernst du dich etwa von den Erkenntnissen der Commons-
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forschung, für die „abgestufte Sanktionen“ eine der wesentlichen Gelingensbedingungen für Commons sind: „Die Bestrafung von Regelverletzungen beginnt auf niedrigem Niveau und verschärft sich, wenn Nutzer eine Regel mehrfach verletzen“ (Ostrom 2012, o. S.). Unnötig harte Sanktionen sind kontraproduktiv – aber ganz ohne geht es auch nicht. Zu den Erkenntnissen der Commonstheorie gehört auch, dass Commons immer Regeln brauchen: „Ohne verabredete Regeln kann kein Commons funktionieren“ (Commons-Institut 2017, o. S.). Regeln ohne Sanktionen sind aber sinnlos. Natürlich kann es sich um relativ harmlose Sanktionen handeln, etwa eine öffentliche Verwarnung oder missbilligende Blicke – aber auf eine Regel, deren Verletzung überhaupt keine Konsequenzen nach sich ziehen würde, kann man genauso gut verzichten. Natürlich ist es vorstellbar und wünschenswert, dass eine künftige Gesellschaft weitestgehend ohne Sanktionen auskommt, weil alle ihre Mitglieder die Regeln des Zusammenlebens als so selbstverständlich und einleuchtend empfinden, dass sowieso niemand dagegen verstößt. Das kann sich aber nur in der Praxis zeigen, theoretisch im Vorhinein postulieren lässt es sich nicht. Friederike, du verweist auf die feministische Erkenntnis, „dass Menschen tätig werden, weil etwas getan werden muss“, mit dem Beispiel der Mutter, die ihr Kind füttert, weil es eben Nahrung braucht. So richtig das ist, so wenig überzeugt es mich, wenn es um die Organisation der ganzen Gesellschaft geht. Die Gesellschaft lässt sich nicht nach dem Modell einer Kleinfamilie fassen. Und schon das Beispiel der Mutter ist keineswegs selbstverständlich und damit universell-menschlich – in früheren Zeiten war in wohlhabenden Familien statt der Mutter vielmehr oft eine (bezahlte) Amme für das Füttern der Kinder zuständig. Und warum sollte diese Aufgabe überhaupt einer Frau zufallen ? Warum werden der Vater und andere Männer, die das per Flaschenfütterung doch ebenso gut erledigen könnten, so selbstverständlich aus der Verantwortung entlassen ? Auch derartige einseitige Rollenzuweisungen wurden und werden vom Feminismus ja zu Recht kritisiert. Schon dieses kleine Beispiel macht also klar, dass das scheinbar Selbstverständliche alles andere als selbstverständlich ist. Und dabei ist in diesem Beispiel zumindest noch recht einfach feststellbar, was getan werden muss – das Baby braucht Nahrung (vielleicht signalisiert es das stigmergisch: es schreit) und wird daraufhin gefüttert. Viel mitzureden hat das Kind an dieser Stelle nicht: Es bekommt, was es nach Ansicht anderer Leute braucht. Übertragen auf die gesamte Gesellschaft sehe ich da eine drohende Parallele: Ohne Geld als allgemeinem Vermittlungsmittel bin ich von den Entscheidungen anderer darüber, was notwendig ist, abhängig – nicht ich als potenzieller Nutznießer entscheide, sondern die jeweiligen Produzent*innen. Alternativ kann ich versuchen, alles aus meiner Sicht Notwendige bzw. Wünschenswerte selbst zu ma-
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chen – aber derartige Eigenarbeit ist zwangsläufig nur in sehr begrenztem Umfang möglich und in vielen Fällen gar nicht. Mit Geld (aber ohne andere Herrschaftsmittel) kann ich die anderen zwar auch nicht zwingen zu tun, was ich gern erledigt hätte, aber ich kann sie immerhin ködern: Ich kann sie bezahlen, solange mein Geld eben reicht. Da es in den wenigsten Fällen ewig reichen dürfte, muss ich mich dabei entscheiden, was mir am wichtigsten ist – aber diese Entscheidung liegt bei mir. Ohne Geld kann ich als potenzielle Konsument*in hingegen wenig tun, um potenzielle Produzent*innen zu beeinflussen: Ich kann Wünsche formulieren und Zeichen hinterlassen, aber ob sich andere dieser Zeichen und Wünsche annehmen, kann ich nicht weiter beeinflussen. (Ich kann natürlich selbst aktiv werden, aber da sind wir wieder beim Problem der Eigenarbeit: Das geht nur in einigen wenigen Fällen und in begrenztem Ausmaß.) Eine der zentralen Fragen, die ich in meinem Buch Beitragen statt tauschen gestellt habe, war, wie „die Produzierendenperspektive mit der Konsumierendenperspektive koordiniert werden“ kann (Siefkes 2008, S. 17) ? Eventuelle Erkenntnisse aus dem Bild/Begriff vom Menschen könnten die Befürchtung mildern, dass in einer produzierendengetriebenen Gesellschaft (wo die potenziellen Produzierenden nach eigenem Gutdünken entscheiden, wie und wo sie sich einbringen) die Konsumierendenperspektive zu kurz käme (weil die Konsumierenden nicht mehr tun können, als Hinweise auf ihre Bedürfnisse und Wünsche zu hinterlassen und dann das Beste zu hoffen). Doch mein bisheriger Eindruck aus dem Trialog ist, dass ihr genauso wenig über derartige Erkenntnisse verfügt wie ich. In Abwesenheit solcher Erkenntnisse war meine Antwort, „gewichtete Arbeit“ als allgemeine Währung anzunehmen, die man verdienen und gemäß eigenem Gutdünken ausgeben kann. Eine Art von Geld, das aber nicht durch die Ausbeutung anderer akkumuliert werden kann und bei dem Preise in transparenten gesellschaftlichen Vereinbarungen ausgehandelt werden statt „hinter dem Rücken der Beteiligten“ im allgemeinen Konkurrenzkampf. Mir scheint auch jetzt wieder, dass etwas verloren gehen würde, wenn das heutige Geld nicht durch ein derartiges Beinahe-Geld ersetzt, sondern komplett über Bord geworfen wird – die Möglichkeit der Menschen, ihr Leben nicht nur als Produzierende, sondern auch als Konsumierende gemäß den eigenen Vorstellungen auszugestalten, würde leiden. Kein Mensch bleibt ja gern lebenslang Kind, insofern Kindsein heute eben auch bedeutet, dass andere entscheiden, was für eine*n gut ist. Schon das erste Taschengeld, das Kinder nach eigenem Gutdünken ausgeben können, statt nur auf Erwachsene als „große Wunscherfüller“ angewiesen zu sein, wird ja oft genug als Befreiung empfunden – und zu Recht. Dahinter sollte eine künftige Gesellschaft nicht zurückfallen.
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Strukturell begreifen statt bloß interpersonal deuten Stefan Meretz Christian, deine deutliche Reaktion auf meine deutliche Herausforderung ist nachvollziehbar, sie macht bisher verdeckte Kontroversen sichtbar. Der Reihe nach. Ich schreibe von Tausch, Erpressung und Sanktionierung in der Warengesellschaft. Es sind für mich Strukturverhältnisse und keine ethischen Begriffe, und ich behaupte, dass wir uns davon gedanklich und praktisch lösen müssen. Beim Tausch in der Warengesellschaft sind Geben und Nehmen aneinander gekoppelt, und die Relation unterliegt dem Zwang zur Äquivalenz. Nötig zu erwähnen ist vielleicht, dass ich stets nur die Durchschnittssituation und nicht den abweichenden Einzelfall betrachte. Die Konsequenzen eines gewollten, aber nicht zustande gekommenen Tausches sind – anders als du behauptest – nicht nur negativ, sondern in verallgemeinerter Form sogar existenzbedrohend: für Verkaufende auf der Ebene der Verwertung und für Kaufende auf der Ebene der sinnlich-vitalen Bedürfnisbefriedigung. Wer nichts mehr verkauft, geht pleite, wer nichts kaufen kann, verhungert – im Extremfall, der weltweit nicht so selten eintritt. Papst Franziskus erkennt die Ursache in den Strukturverhältnissen, wenn er konstatiert, dass „Kapitalismus tötet“. Wenn du davon sprichst, dass dort, „wo Tauschgeschäfte für die Beteiligten gut funktionieren, […] nichts gegen sie zu sagen“ sei, dann gerät dir der struk turelle Zwang samt der reziproken Erpressungssituation, in der die Tauschenden stehen, aus dem Blick. Tauschgeschäfte funktionieren sehr oft für die Beteiligten gut, und auch ich bin froh, wenn ich beim Einkauf die Ware zu dem Wert bekomme, den ich als Geldäquivalent hingelegt habe. Doch eine solche bloß interpersonale Sicht blendet die strukturellen Voraussetzungen aus, die erst den Oberflächenschein des guten Funktionierens erzeugen: Die Produzent*in hat es geschafft, die Ware zum Marktwert zu produzieren, und die Käufer*in hat es geschafft, Geld zu erhalten, um die Ware kaufen zu können – und dies jeweils strukturell auf Kosten von zumeist unsichtbaren anderen (etwa der indischen Bäuer*innen, die sich selbst töten, oder der Geldlosen, die ihre Hand für ein Essen aufhalten müssen). Die Erpressungssituation ist also – obwohl interpersonal erscheinend – tatsächlich eine strukturelle Zwangssituation, die erst das erpresserische Handeln funktional und auch notwendig macht: Die Verkaufenden dürfen die Ware nicht verschenken und die Kaufenden dürfen die Ware auch nicht einfach nehmen, selbst wenn sie überreichlich da ist, denn beides wird strukturell sanktioniert (als Pleite oder in Form einer juristischen Ahndung). Diese Struktursicht vermisse ich bei dir. Bei dir spielt sich alles nur auf der Ebene der Personen ab. Daher ist es folgerichtig, dass du das Rezept für eine freie Gesellschaft auf ebendieser interpersonalen Ebene erwartest. Ich antworte jedoch strukturell und
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sage, dass es nicht möglich ist, vorweg zu sagen, wie sich die Menschen konkret verhalten werden. Du suchst die Antwort dort, wo sie nicht zu finden ist. So kommst du dann jedoch – in einer Art unmittelbaristischem Fehlschluss – darauf, dass aus deiner Sicht nicht begründbar ist, warum sich Menschen anders als heute verhalten sollten, weshalb man sie am Ende dann zwingen muss. Meine Argumentation läuft hingegen darauf hinaus, dass es darauf ankommt, solche Verhältnisse zu schaffen, unter denen es für die Menschen gute Gründe gibt, sich anders zu verhalten, eben nicht mehr auf Kosten von anderen etc. Mit dieser strukturellen Durchschnittssicht kann ich in der Tat nicht garantieren, dass nicht auch sozial destruktives Verhalten vorkommen kann, nur versuche ich zu zeigen, dass dieses unter inklusionslogischen Bedingungen dysfunktional ist und dann – tatsächlich interpersonal – als Konflikt bewältigt werden kann, weil alle anderen keinen Grund haben, das dysfunktionale Verhalten Einzelner zu belohnen. Und ob wir unter solchen Bedingungen dann noch interpersonal Handlungen vollziehen, in denen Geben und Nehmen aneinander gekoppelt vorkommen, kann ich nicht sagen. Es ist auch unerheblich, da solche Post-Tausch-Handlungen, wie ich sie nennen will, keine strukturelle Funktionalität mehr besitzen: Es hängt weder individuell noch gesellschaftlich etwas davon ab. Die strukturneutrale, interpersonal zentrierte Sicht wiederholt sich bei der Diskussion der Ergebnisse der Commonsforschung. Die Notwendigkeit von Sanktionen, die Ostrom für existierende Commons verallgemeinert festgestellt hat, bezieht sich auf Verhältnisse, in denen es durchaus funktional ist, individuell Commons auszunutzen – etwa stoffliche Ressourcen/Produkte ungeregelt zu entnehmen, um per Verkauf außerhalb einen Extraprofit einzustreichen. Das muss sanktioniert werden, um die Commons zu erhalten. Dies jedoch deswegen, weil die gesellschaftliche Umgebung nach einer anderen Logik funktioniert, in der Ausbeutung auf Kosten von anderen belohnt wird (aka Exklusionslogik). Wenn es eine solche „externe“ konträre destruktive Logik nicht gibt, entfallen die wesentlichen Gründe für ein Handeln, das das Commons gefährdet. Und selbst wenn ein Commons unter allgemeinen inklusionslogischen gesellschaftlichen Bedingungen zugrunde gehen sollte, ist dadurch trotzdem nicht die individuelle Existenz gefährdet – anders als heute. Doch selbstverständlich sind damit nicht alle Gründe destruktiven Verhaltens vom Tisch. Es kann dafür selbst dann keine Garantie ausgesprochen werden, wenn alle strukturellen Bedingungen maximal förderlich sind. Sicherlich wird es Konflikte geben, einfach schon deswegen, weil wir so unterschiedliche Individuen sind und unterschiedliche Bedürfnisse haben. Wird es auch bei Abwesenheit struktureller Sanktionen nicht dennoch Sanktionen auf interpersonaler Ebene geben ? Muss es sie geben, damit eine freie Gesellschaft funktioniert ? Ähnlich wie beim Post-Tausch würde ich die Frage der Post-Sanktionen beantworten: Es kann sie geben, aber sie besitzen keine gesell-
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schaftlich-konstitutive Funktion mehr. Anders als du, Christian, sehe ich nicht, dass Regeln notwendig mit Sanktionen verbunden sein müssen, um zu wirken. Ich meine hier allgemein für alle gültige, also abstrakte Sanktionen, die – im Doppelsinne – gleichgültigen Charakter haben. Stigmergisch betrachtet sind Regeln Signale für erwünschtes Verhalten – ohne dass gesagt werden muss, was allgemein bei unerwünschtem Verhalten geschieht. Selbstverständlich werden die betroffenen Menschen sich mit unerwünschtem Verhalten auseinandersetzen. Doch das ist Teil der Konfliktbewältigung, die aus meiner Sicht im Vergleich zu heute einen wesentlich höheren Stellenwert bekommen wird. Heute werden viele Konflikte einfach per Macht in den unterschiedlichen Formen „entschieden“ und eben nicht per Vermittlung der dahinter stehenden unterschiedlichen Bedürfnisse ausgetragen. Das sind strukturelle Sanktionen, die dir entgehen. An die Stelle abstrakter Sanktionen tritt aus meiner Sicht die je konkrete Konfliktbewältigung. Ich schlage damit also vor, strukturell verankerte Sanktionen, die stets abstrakten Charakter haben, und konkrete interpersonale Konfliktbewältigung begrifflich voneinander zu unterscheiden. Tausch, Erpressung und Sanktionen sind als Strukturverhältnisse abzuschaffen und als Konfliktbewältigung wieder in den interpersonalen Raum zurückzuholen. Denn jeder Konflikt ist ein besonderer, und nur wenn Individualität nicht mehr abstrakten Sanktionsregimen unterstellt wird, können die Konflikte in ihrer Besonderheit bewegt werden – so, dass perspektivisch alle ihre Bedürfnisse befriedigen können.
Wir müssen anfangen. Dann werden wir weiter sehen. Friederike Habermann Danke, Stefan, für deine Ausführungen zum Unterschied zwischen persönlichem (Aus-)Tausch und gesellschaftlicher Tauschlogik. Um diesen Unterschied deutlich zu machen, sprechen heutige Projekte von „tauschlogikfrei“. Eine andere Möglichkeit besteht darin, sich von „äquivalentem Tausch“ abzugrenzen, denn was der Äquivalenz entspricht, kann nur gesellschaftlich bestimmt sein und damit zu den strukturellen Exklusionslogiken führen, die du andeutest. Womit wir bei dem grundsätzlichen Thema dieses Buches angekommen sind – denn hier geht es um mögliche Gesellschaften nach dem Geld. Damit aber auch um eine Gesellschaft ohne Tauschlogik, denn jedes Tauschverhältnis, das auf einem äquivalenten Wert beruht, ist Geld. Christian, es stimmt zwar, dass bei deinem System gewichteter Arbeit als Geld keine Ausbeutung mehr möglich wäre. Darum habe ich in meiner Schrift Solida-
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rität wär’ eine prima Alternative (2011) auch argumentiert, es sei so eine Art Sozialismus vor dem Kommunismus. Doch letztlich fürchte ich, dass es zu sehr die Logiken des Kapitalismus aufrechterhält: Das Bestreben, möglichst wenig dafür tun zu müssen, um an Ressourcen zu kommen – anstatt sinnvoll tätig zu werden als elementares menschliches Bedürfnis zu begreifen. Zwar werden nie alle Tätigkeiten beliebt sein, doch in dem Moment, wo ich auch meine liebsten Tätigkeiten auf den Markt trage und da womöglich erleben muss, dass sie „nichts wert“ sind in der Konkurrenz zu anderen Tätigkeiten – kann ich sie dann wirklich noch mit Freude beitragen ? Oder wenn ich umgekehrt sehe, als wie wertvoll meine Tätigkeiten gehandelt werden, weil andere sie vielleicht nicht ersetzen können – werde ich dann nicht anfangen, mit ihnen zu knausern, anstatt mich an meinem Beitragen zu erfreuen ? Auf einen Aspekt hattest du, Stefan, ja auch schon aufmerksam gemacht, doch er ist mir so wichtig, dass ich ihn kurz wiederholen möchte: Derzeit verhungern weltweit täglich Zigtausende, weil sie eben nichts zum Tauschen haben. Die können noch so viele Zeichen und Wünsche hinterlassen und bis zuletzt hoffen. Das fällt unter „Kollateralschaden des Systems“. Wie wäre das in deinem System, Christian, geregelt ? Alle, die arbeiten können, brauchen nicht verhungern, und die anderen werden von Sozialnetzen aufgefangen ? All das erhält die Logik des Leistungsmenschen aufrecht. Damit kommen wir zum Bereich Care, also der „Versorge-, Vorsorge-, Fürsorge-, Entsorge-, Besorge- oder Umsorge“-Tätigkeiten (Maler 2010). Welche davon werden überhaupt mit in deine Antwort („‚gewichtete Arbeit‘ als allgemeine Währung anzunehmen, die man verdienen und gemäß eigenem Gutdünken ausgeben kann“) eingebracht ? Nur jene, die ich gerne ausgelagert hätte, weil ich sie nicht selbst tun mag ? Das führt aber dazu, dass die Sorgetätigkeiten, die ich gerne tue, weil sie mir Spaß machen oder weil es meine eigene Angehörige ist, die Pflege braucht, nicht zählen – ich muss mich trotzdem um „Arbeit bemühen“. Und wenn ich sie einbeziehe – wie grenze ich sie ab vom privaten Leben ? Sie werden zwangsläufig einer Wettbewerbslogik unterworfen. Zählt die Anzahl der gewaschenen Menschen, so hat diejenige Vorteile, die dies rationell erledigt, womit wir die derzeitige Situation hätten, wo für Bedürfnisse, die über das hinausgehen, was beim Autowaschen auch notwendig wäre, keine Zeit ist. Zählen nur die Arbeitsstunden, hat derjenige Vorteile, der am meisten bummelt. Und jawohl, da hast du vollkommen Recht: Es muss nicht immer die Mutter sein, die sich um ein Baby kümmert. Viele Überlegungen der feministischen Ökonomie stammen bereits aus einer differenztheoretischen Zeit (siehe meinen Beitrag in diesem Band), doch muss ich das bei jedem Zitat reflektieren ? Darum geht es an dieser Stelle nicht. Auch wenn ich argumentieren würde, dass das Schreien des Babys mehr ist als ein stigmergisches Signal, hätte das Beispiel auch lauten
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können: „Wenn ein Ofen Signal gibt, dass Brötchen im Ofen gar sind, werden wir ihn auch dann ausstellen, wenn wir nicht dafür bezahlt werden und auch wenn die Brötchen gar nicht eindeutig für uns sind.“ Allerdings ist es tatsächlich schwer, außerhalb der im Kapitalismus als Gegenpol privat gehaltenen Kleinfamilie Beispiele zu finden, die nicht absurd klingen – denn sofort würde gefragt werden: Wo ist die vermutlich bezahlte Person, die den Ofen angestellt hat ? Wessen Eigentum sind die Brötchen ? Etc. Vor allem aber kommt ins Spiel, dass wir gelernt haben, uns außerhalb der Familie ausschließlich von Geld und angeblichem Eigennutz leiten zu lassen – und damit der sogenannte Gummibärcheneffekt: also all jene Experimente, die zeigen, dass Menschen aufhören, hilfsbereit oder verantwortungsvoll zu handeln, wenn Geld ins Spiel kommt – oder bei Kindern eben zum Beispiel Gummibärchen. Auch darum spricht Ina Praetorius (2015) von der „Wiederentdeckung des Selbstverständlichen“. Menschen denken nicht immer so eigennützig – dann aber entgegen der gesellschaftlichen Logik. Und das ist verdammt schwer, da wir immer Teil des gesellschaftlichen Kontextes sind. Aber es passiert. Zum Beispiel gab und gibt es vielfach keinerlei marktwirtschaftliche Gründe, Bio-Nahrungsmittel anzubauen. Ich komme auf dieses Beispiel, weil ich mich frage, ob du den Kapitalismus, der in manchen als „food deserts“ bezeichneten Gegenden der USA kein frisches Essen mehr anbietet, als das Ergebnis freier Konsumentscheidungen empfindest. Du wirst nun reagieren: Ich spreche von einem System ohne Profitlogik. Aber in einem Geldsystem mit individueller Maximierungslogik wird sich immer wieder auch eine Profitlogik entwickeln. Und von Entscheidungen wirst du immer abhängig sein, und diese werden auch in einer tauschlogikfreien Gesellschaft nicht immer zu deinem Wohlgefallen ausfallen, aber sie sind immerhin nicht von Konkurrenzlogik bestimmt. Wir verdanken alles, was wir sind, anderen Menschen. „Niemand kann seine Potentiale allein entfalten. Jeder Mensch braucht dazu immer die Beziehung zu anderen“, so der Neurobiologe Gerald Hüther (2015, S. 145). Während in der gegenwärtigen Gesellschaft alle gelernt hätten, sich gegenseitig wie Objekte zu behandeln, weil zwischen diesen Menschen das nicht mehr stattfinden könne, was eigentlich stattfinden müsse, nämlich Ko-Kreation und -Evolution. Das ABC des guten Lebens, ein im Jahr 2012 von neun Feministinnen herausgegebenes Lexikon von Begriffen, die das Neue fassen können, durchzieht das Bemühen, die Binarität von Abhängigkeit und Freiheit als falschen Gegensatz zu entlarven (Knecht et al. 2012). Beide gebe es nur in Beziehung zueinander. Die grundsätzliche Abhängigkeit aller von allen anerkennend, bedeute Freiheit, sich dem eigenen Begehren entsprechend in den Gang der Welt einbringen zu können: „Freiheit besteht darin, die eigene Einzigartigkeit in erster Person in der Welt
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sichtbar werden zu lassen“ (ebd., S. 59). Das wäre eine mögliche Form der Selbstverständlichkeit in einer Gesellschaft ohne Geld. Ja, Christian und auch Stefan, empirisch vorfindbare Commons sind vielfach mit Sanktionen verbunden, doch Elinor Ostrom hat auch herausgefunden, dass diese selten mehr betragen als einen Bruchteil des Geldwerts, den ein Regelverstoß einbrächte (vgl. Ostrom 1999, S. 234). Mit anderen Worten: Trotz dieser Sanktionen ist eine Regelbefolgung ökonomisch irrational. Verstoßen wird dennoch kaum dagegen. Worin also liegt der Nutzen dieser Sanktionen ? So, wie Stefan für Regeln überhaupt argumentiert: als Signale für erwünschtes Verhalten. Oder in meinen Worten: in der Markierung eines Raums der Selbstverständlichkeit. Oder, in deinen Worten, Christian: „Natürlich ist es vorstellbar und wünschenswert, dass eine künftige Gesellschaft weitestgehend ohne Sanktionen auskommen, weil alle ihre Mitglieder die Regeln des Zusammenlebens als so selbstverständlich und einleuchtend empfinden, dass sowieso niemand dagegen verstößt. Das kann sich aber nur in der Praxis zeigen, theoretisch im Vorhinein postulieren lässt es sich nicht.“ Genau das schrieb ich ja: Wir müssen anfangen. Dann werden wir weitersehen. Oder angelehnt an Eduardo Galeanos Gedanke, dass die Utopie immer am Horizont liegt: Erst wenn wir weiter gehen, können wir weiter sehen. Weil Menschen(bilder) nie unabhängig von ihrer Gesellschaft sein können.
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Friederike Habermann, Stefan Meretz & Christian Siefkes
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Medialität nach dem Geld
IV
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Nähern wir uns einer Gesellschaft ohne Geld ? Peter Fleissner
Zehn Jahre nach dem Beginn der ersten Weltwirtschaftskrise im 21. Jahrhundert sind die durch sie hervorgerufenen Probleme noch immer nicht überwunden. Immer neue Krisenfelder lösen die alten ab. Die Immobilienkrise verwandelte sich in eine Bankenkrise und eine Wirtschaftskrise. Zuletzt zeigte sie sich als Staatsschuldenkrise, die sogar den Bestand der Europäischen Union gefährdet. Einige Ökonomen fordern, dass das Finanzkapital gezähmt werden müsse, damit das Realkapital größeren Einfluss erhält, andere sind für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens. In diesem Beitrag hingegen wird nicht nach Heilungsvorschlägen am Kranken bett des Kapitalismus gesucht, sondern nach empirisch messbaren Tendenzen Ausschau gehalten, die das kapitalistische System als solches seinem Ende zutreiben. Inspiriert ist dieser Beitrag vom „Maschinenfragment“ von Karl Marx aus den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie, in dem er vorwegnimmt, dass „die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion“ und damit der Kapitalismus zusammenbricht. Für ein solches Vorhaben sind relativ umfangreiche theoretische, methodische und empirische Voraussetzungen nötig: Die hier genutzte Theorie, die Werttheorie von Karl Marx, ist ein Teilbereich seiner Kritik der politischen Ökonomie. Als methodisches Kernstück wurde die Input-Output-Analyse des Nobelpreisträgers Wassily Leontief gewählt. Sie besitzt zwei Vorteile: Einerseits lässt sie eine werttheoretische Interpretation zu, andererseits gibt es quantitativ-empirische Beschreibungen zeitgenössischer Volkswirtschaften in Form von Input-Output-Tafeln, wie sie etwa von der Europäischen Union gesetzlich vorgeschrieben werden. Auch der „Computersozialismus“ von Cockshott und Cottrell (1993) knüpft an detaillierte Input-Output-Tabellen an. Er wird als Beispiel für eine subjektive Aufhebung des Kapitalismus beschrieben. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_12
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Peter Fleissner
Der wissenschaftstheoretische Ansatz von Marx unterscheidet wie in den Naturwissenschaften zwischen Wesen und Erscheinung eines Phänomens. Das Wesen wird durch Abstraktion gewonnen, während die Erscheinung ein Zusammengesetztes ist, das erst durch das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten entwickelt werden kann. Die abstrakte Beschreibung einer Volkswirtschaft erlaubt es, den Unterschied zwischen Waren und Dienstleistungen herauszuarbeiten. Da Letztere aber keinen Wert erzeugen, bedeutet ihre Ausdehnung eine Tendenz zur Aufhebung des Werts und damit des Mehrwerts, des Gewinns und des Geldes.
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Verheißungen
Schon vor mehr als zwei Jahrtausenden hat Aristoteles seinen Traum vom Ende der Sklavenhaltergesellschaft niedergeschrieben: „[S]o wie etwa für den Steuermann das Steuer ein unbeseeltes und der Steuergehilfe ein beseeltes Werkzeug […], so ist auch für den Hausverwalter der Besitz im einzelnen ein Werkzeug zum Leben und im ganzen eine Sammlung solcher Werkzeuge und der Sklave ein beseelter Besitz; jeder Diener ist gewissermaßen ein Werkzeug, das viele andere Werkzeuge vertritt. Wenn nämlich jedes einzelne Werkzeug auf einen Befehl hin, oder einen solchen schon voraus ahnend, seine Aufgabe erfüllen könnte, wie man das von den Standbildern des Daidalos oder den Dreifüßen des Hephaistos erzählt, von denen der Dichter sagt, sie seien von selbst zur Versammlung der Götter erschienen, wenn also auch das Weberschiffchen so webte und das Plektron die Kithara schlüge, dann bedürften weder die Baumeister der Gehilfen, noch die Herren der Sklaven.“ (Aristoteles 2012, S. 7)
Karl Marx hat diesen Traum aufgegriffen, ihn konkretisiert und aktualisiert und damit der ökonomischen Wissenschaft eine neue Perspektive gegeben: „In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als […] vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung der Wissenschaft auf die Produktion […]. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen […]. Es ist dann keineswegs mehr die Arbeitszeit, sondern die disposable time das Maß des Reichtums.“ (Marx 1983, S. 600 ff.)
Dieser Zusammenbruch würde ein Ende des Kapitalismus bedeuten, jedenfalls des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Alle Elemente und Erscheinungsformen
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des Tauschwerts würden sich auflösen, wenn die Erzeugung des Reichtums nicht mehr auf Lohnarbeit beruht: Mehrwert, Mehrprodukt, Profit, Warenproduktion, kapitalistische Akkumulation, Ausbeutung und Entfremdung. Das Geld würde seine bisherigen Funktionen als Knappheitsindikator und als Schlüssel zum Reichtum verlieren. Durch Marx’ Text1 wurde die Wirtschaftswissenschaft – von ihr weitgehend unbemerkt – mit einem neuen Ziel versehen. Sie solle sich nicht ahistorisch wie die bisherige Wirtschaftstheorie mit der „optimalen Allokation knapper Ressourcen“ beschäftigen, sondern auch mit der Frage der Weiterentwicklung des Kapitalismus und des Übergangs zu einer Wirtschaft, die nach ihm kommt. Marx (ebd., S. 203) dazu: „Es ist zu bedenken, daß die neuen Produktivkräfte und Produk tionsverhältnisse sich nicht aus Nichts entwickeln noch aus der Luft, noch aus dem Schoß der sich selbst setzenden Idee; sondern innerhalb und gegensätzlich gegen vorhandne Entwicklung der Produktion und überlieferte, traditionelle Eigentumsverhältnisse.“ Dieser Prozess ist von Widersprüchen geprägt, die innerhalb des Kapitalismus nicht aufzulösen sind: „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ (Marx 1979a, S. 530) Allerdings verbleibt der gesellschaftliche Produktionsprozess im Wesentlichen in privaten Händen. Der geschaffene Reichtum kann nicht von der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder angeeignet werden, da der lohnarbeitenden Bevölkerung die nötige Kaufkraft dazu fehlt. Der Autor folgt dem Hinweis von Marx auf den Zusammenbruch der auf Tauschwert beruhenden Produktion in zweierlei Hinsicht: Einerseits wird die Technologie bzw. die Anwendung der Wissenschaft auf die Produktion in ihren konkreten Formen betrachtet, andererseits wird die Erzeugung von Wert, Mehrwert und Mehrprodukt im Rahmen der zeitgenössischen kapitalistischen Wirtschaft ausführlich untersucht. Dabei wird sich zeigen, dass dem Ausmaß der Dienstleistungsproduktion eine wesentliche Rolle zukommt. Es ist interessant, dass Marx in seinen späteren Schriften nie mehr auf den Inhalt des Maschinenfragments zurückkommt, das die Aufhebung des Werts und ein Ende des Kapitalismus vorhersieht. Marx und Engels haben sich in ihren politischen Schriften nicht auf einen Automatismus verlassen, sondern sind aktiv für die Eroberung der Macht durch das sich ausdehnende Proletariat eingetreten. Bevor sie konkrete Schritte angeben, die der Politik der kommunistischen Parteien zugrunde liegen, schreiben sie im Manifest der Kommunistischen Partei: „Das Pro1
Das Manuskript wurde von Marx 1858/59 verfasst, aber erst 1939 zum ersten Mal veröffentlicht.
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letariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren.“ (Marx & Engels 1972, S. 481) Nach Ansicht des Autors ist dies kein Gegensatz, sondern eine notwendige Ergänzung: Sollen sie nicht vergeblich bleiben, müssen die subjektiven Bestrebungen zur Aufhebung des Kapitalismus von einer objektiven Tendenz zu seinem formalen Ende unterstützt werden.
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Motor Produktivkräfte
Technologie ist einer der zentralen Parameter für qualitative und quantitative Veränderungen in der Produktion. Die Gesellschaft regelt durch sie ihren Stoffwechsel mit der Natur. Technologie ist ein Bestandteil der „Produktivkräfte“ des Menschen, die allgemein definiert werden als „System der Wechselwirkung sachlich-gegenständlicher und menschlich-subjektiver Elemente“ (Klaus & Buhr 1972, S. 879). Dieses System hat im Lauf der Geschichte erhebliche Veränderungen erfahren. Obwohl durch Kriege und Krisen unterbrochen, besteht eine langfristige Tendenz der zunehmenden Übertragung von menschlichen Arbeitsfunktionen auf die Arbeitsmittel. Damit wird ein historischer Trend zum effizienteren Umgang der Menschen mit der Natur sichtbar, in qualitativer wie quantitativer Hinsicht.
2.1 Industrielle Revolution Haben sich die Menschen durch die Herstellung und den gewohnheitsmäßigen Gebrauch von Werkzeugen aus der Tierwelt herausgehoben und ihre natürliche Ausstattung durch Artefakte erweitert, so hat sich nach Sklavenhaltergesellschaft und Feudalismus im Europa des 19. Jahrhunderts über den Vorläufer der Manufaktur die große Industrie entwickelt, mit der mechanischen Maschine als ihrem technischen und mit der Herausbildung der Lohnarbeit als ihrem menschlichen Kern. Große Steigerungen der Arbeitsproduktivität waren mit der Mechanisierung und Technisierung vieler Wirtschaftsbereiche (etwa Spinnerei, Weberei, Drehen, Bohren und Fräsen) verbunden. Die mechanische Maschine (als Arbeitsoder Werkzeugmaschine) und später ein ganzes System von Maschinen ersetzte nach und nach menschliche Arbeitsfunktionen (Antriebsenergie, Energieübertragung auf das Werkzeug und seine Führung) durch technische Mechanismen und machte den Einsatz menschlicher Arbeitskraft teilweise überflüssig. Unter kapitalistischen Bedingungen war ein Heer von Arbeitslosen in den Städten die Folge.
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2.2 Wissenschaftlich-technische Revolution Die industrielle Revolution wurde im 20. Jahrhundert von der wissenschaftlichtechnischen Revolution (Bernal 1961, S. 903) abgelöst, die mit bahnbrechenden wissenschaftlichen Entdeckungen in den Naturwissenschaften begann. Als entwicklungsleitende Maschinerie der Gegenwart kann man die „informationsverarbeitende Maschinerie“ (IVM) bezeichnen, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts verschiedene Stufen der technischen Realisierung durchlaufen hat, von Relaisschaltungen über Elektronenröhren, Halbleiter und Transistoren bis zu fehlerarmen integrierten Schaltungen. Die IVM ist durch drei Teilfunktionen charakterisiert, die menschliche Arbeits(teil)funktionen übernehmen können: (1) den Sensor, (2) eine Vorrichtung zur Verarbeitung von Informationen und (3) den Aktor oder Effektor (Adler 1978, S. 41; Fleissner 1985, S. 162 ff.). Im Sensor sind die Fähigkeiten menschlicher Sinnesorgane verkörpert, Zustände und Veränderungen der Materie festzustellen, ja sogar solche Vorgänge „wahrzunehmen“, die zu fein für menschliche Organe wären oder für die es – wie z. B. für elektromagnetische Wellen – gar kein natürliches Organ gibt. Die Vorrichtung zur Verarbeitung von Informationen nimmt die Signale des Sensors auf und reagiert auf diese in vorprogrammierter Weise. Sie ahmt in mehr oder weniger komplexer Form menschliche Entscheidungsvorgänge nach. Das Ergebnis der Entscheidung steuert schließlich den Aktor, der für die Wirkung nach außen zuständig ist. Jeder Laptop, jedes Handy ist Ausdruck dieser technischen Innovation. Schaltet man die IVM mit einer mechanischen Maschine zusammen, entsteht ein Automat (Abbildung 1). Die IVM „beobachtet“ aufgrund ihrer Programmierung die Funktionen der mechanischen Maschine, über den Aktor kann der Fertigungsprozess beeinflusst bzw. optimiert werden. Marx hat diese Entwicklung beinahe prophetisch vorhergesehen: „Es ist nicht mehr der Arbeiter, der modifizierten Naturgegenstand als Mittelglied zwischen das Objekt und sich einschiebt; sondern den Naturprozeß, den er in einen industriellen umwandelt, schiebt er als Mittel zwischen sich und die unorganische Natur, deren er sich bemeistert. Er tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein.“ (Marx 1983, S. 601) Oder an anderer Stelle: „In den Produktionsprozeß des Kapitals aufgenommen, durchläuft das Arbeitsmittel aber verschiedne Metamorphosen, deren letzte die Maschine ist oder vielmehr ein automatisches System der Maschinerie (System der Maschinerie; das automatische ist nur die vollendetste adäquateste Form derselben und verwandelt die Maschinerie erst in ein System), in Bewegung gesetzt durch einen Automaten, bewegende Kraft, die sich selbst bewegt; dieser Automat, bestehend aus zahlreichen mechanischen und intellektuellen Organen, so daß die Arbeiter selbst nur als bewußte Glieder desselben bestimmt sind.“ (Ebd., S. 592)
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Abbildung 1 Blockschaltbild eines Automaten – Werkzeugmaschine und informations verarbeitende Maschinerie Arbeitsgegenstand
Mensch
Automat
Sensor
Informationsverarbeitung
Aktor
Informationsverarbeitende Maschinerie
Antriebsmaschine
Transmissionsmechanismus
Werkzeug
Werkzeugmaschine Quelle: Darstellung des Autors
Während bei handwerklicher Tätigkeit und in der Manufaktur das Arbeitsmittel in einer unmittelbaren Beziehung zum einzelnen Arbeiter stand, in der er den Ton angab, wird die Beziehung durch das Maschinensystem umgekehrt. Der Arbeiter wird in einem automatischen Maschinensystem zum bloßen Anhängsel und Zubehör. Die Maschinerie steht ihm als fremde Macht gegenüber.
2.3 Industrie 4.0 Eine wesentliche Erweiterung der Automatisierung erfolgte in den letzten Jahrzehnten durch moderne Vernetzungstechnologien per Internet und/oder Mobilkommunikation. Die einzelnen mechanischen und/oder informationsverarbeitenden Maschinen werden zu weltweiten Produktions- oder Kommunikationsnetzwerken verbunden. Unter dem Begriff Digitalisierung wird in der Europäischen Union (in den deutschsprachigen Ländern unter dem Kürzel Industrie 4.0) von cyberphysikalischen Systemen (CPS) gesprochen, durch die Industrieprodukte über das Internet der Dinge weltweit mit Dienstleistungen gekoppelt werden. Elektronische
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Komponenten sorgen dafür, dass die einzelnen Waren nicht nur Informationen über ihre räumlichen und zeitlichen Koordinaten enthalten, sondern auch über ihre Funktionstüchtigkeit. Teilweise sind sie über das Internet mit ihrer Produktionsstätte verbunden und können bei Störungen oder bei Ablauf ihrer Lebensdauer den eigenen Ersatz anfordern. Die Einführung dieser cyber-physikalischen Systeme wird weitere Produktivitätssteigerungen ermöglichen, nicht nur im Produktions-, sondern auch im Dienstleistungsbereich (z. B. Pflegeroboter, künstliche Intelligenz evtl. zur Investitionsberatung). Sie verändern Preisstrukturen, die Unternehmenslandschaft und individuelle Verhaltensweisen. Wie wir am Beispiel der Informations- und Kommunikationstechnologien sehen, reichen technische Innovationen weit hinein in den Freizeitbereich. Die sogenannten Sozialen Medien erlauben allerdings nicht nur billige Informations- und Kommunikationsprozesse für große Teile der Bevölkerung, sie ermöglichen auch ihre totale Überwachung.
2.4 Ökonomische Widersprüche Es wäre verfehlt, die rasche Verbreitung von neuen Technologien als neutralen Prozess zu sehen. Sie ist tief eingebettet in die ökonomischen Mechanismen des Kapitalismus: Um die Gewinne eines Unternehmens zu maximieren und sich gegenüber der Konkurrenz durchzusetzen, versucht das Management, den Umsatz zu maximieren und/oder die Betriebskosten zu minimieren. Einer der Wege, Letzteres zu tun, ist die Anwendung technischer Innovationen. Neue Technologien werden immer dann eingesetzt, wenn die potenziellen Einsparungen vor allem an Löhnen und Gehältern größer sind als die Investitionskosten für die neuen arbeitssparenden Maschinen. Auf diese Weise verbreitet sich eine neue Technologie rasch in den Betrieben, mit der Folge, dass die Arbeitsproduktivität steigt.2 Was ist das zu erwartende Resultat ? Es ist widersprüchlich. Einerseits könnte durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik im Prinzip der mögliche Reichtum der Gesellschaft vervielfacht werden. Andererseits wird die Zeit, die Menschen in Lohnarbeit verbringen, sinken. Sie ist allerdings noch nicht – wie von Marx erhofft – ein Segen, sondern in der Form von Arbeitslosigkeit ein Fluch. Wenn die Löhne und Gehälter an die Lohnarbeit gebunden bleiben, wird es immer mehr Menschen geben, die in Armut leben. Dann kann das Produzierte nicht mehr abgesetzt werden, da die kaufkräftige Nachfrage fehlt. 2
In Deutschland wuchs die Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde zwischen 1970 und 1991 jährlich um etwas mehr als 3 Prozent, nach der Wiedervereinigung bis 2016 um 2,2 Prozent (Statistisches Bundesamt 2017, Tab 2.14).
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Ein zusätzlicher Widerspruch ist mit dem massenhaften Auftreten von Informationsgütern entstanden. Technisch gesehen können Informationsgüter, als Bits und Bytes ausgedrückt, über die Kommunikationsnetze praktisch gratis weitergegeben werden. Diesen Überfluss versucht der Kapitalismus künstlich einzudämmen, da mit Informationen, die nichts kosten, keine Gewinne gemacht werden können. Er hat daher für ihre künstliche Verknappung gesorgt, indem er technische Hürden (Kopierschutz) und rechtliche Hindernisse (Intellectual Property Rights) aufgebaut hat. Informationsgüter werden dadurch kostenpflichtig wie andere Waren, obwohl sie nicht wie andere Waren nach dem Konsum verschwinden, sondern erhalten bleiben. Über den Umweg von Programmen, die in 3-DDruckern eingesetzt werden, lässt sich der Überfluss auch auf materiell-stoffliche Güter ausdehnen (wenn sich auch früher oder später die Ressourcen- und Energiefrage stellt): 3-D-Drucker erlauben es schon heute, innerhalb einer Woche ein Auto aus Kunststoffteilen zu erzeugen.3 Beide Widersprüche weisen in die gleiche Richtung: Die entfalteten Produktivkräfte geraten in Gegensatz zu den Produktionsverhältnissen. Während Wissenschaft und Technik im Prinzip imstande wären, ein gutes Leben für alle zu erzeugen, bleibt der Reichtum im Kapitalismus nur wenigen vorbehalten.
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Das Ende des Werts ?
Jeremy Rifkin (2014), einer der „berühmtesten Berufsvisionäre der Gegenwart“4, setzt sich mit den Tendenzen der wachsenden Arbeitsproduktivität und einer rasch vor sich gehenden Automatisierung auseinander. In seinem Buch Die NullGrenzkosten-Gesellschaft sagt er voraus, dass der Kapitalismus durch ein neues Paradigma der „kollaborativen Commons“ abgelöst werden wird, eine Vision, die mit der Marx’schen Prognose vom Ende des Werts vieles gemeinsam hat. Die „schizophrene“ Logik des Kapitalismus führe dazu, dass er sich selbst auffrisst. Durch Technologie und kapitalistischen Wettbewerb fallen die Preise ständig, bis sie keine Gewinne mehr ermöglichen. Am Ende liegen die Grenzkosten, also die Kosten für eine weitere zusätzlich zu produzierende Einheit, nahe null. Interessant ist, dass Rifkin sich nicht auf eine politische Bewegung bezieht, die das Ende des Kapitalismus besiegelt, sondern vorrangig einem technischen Determinismus 3 Die US-amerikanische Firma Local Motors fertigte den zweisitzigen Buggy „Strati“ innerhalb einer Woche, Kernstück ist ein Chassis aus schnelltrocknendem Carbon-Plastik-Gemisch, Schicht für Schicht aufgetragen von einem riesigen 3-D-Drucker (Staun 2014). 4 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/jeremy-rif kin-die-null-grenzkosten-gesellschaft13151899.html.
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huldigt. Die von Rifkin beschriebene Zero Marginal Cost Society ist daher vielleicht noch weiter entfernt, als er selbst glaubt, aber einen Widerspruch beschreibt er korrekt: Das gewünschte Ergebnis der Arbeitsersparnis, um den Gewinn zu erhöhen, wird durch eine Reduktion der lebendigen Arbeit erkauft. Die arbeitssparenden Methoden werden sich allgemein durchsetzen und nach und nach die ganze Wirtschaft erfassen, wodurch die Gewinne letztlich sinken werden. Angesichts dieser Prognosen wäre es wichtig, Hinweise zu erhalten, wie weit wir vom theoretischen Ende des Kapitalismus entfernt sind. Lassen sich Indikatoren finden, die dieses Ende empirisch lokalisieren ? Im Sinne des Zitats „Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie“5 werden empirische Indikatoren erst durch eine theoretische Begründung mit Bedeutung ausgestattet. Daher ist der erste Schritt, den der Autor hier vornimmt, durch eine Darstellung der Werttheorie6 geprägt, allerdings nicht bloß verbal, sondern in der Notation von Matrizen und Vektoren, die es ermöglichen, die Werttheorie von Marx zu erweitern und eine empirische Prüfung seiner Thesen anhand von zeitgenössischen Wirtschaftsstatistiken vorzunehmen.
3.1 Input-Output-Analyse An dieser Stelle wird ein knapper Exkurs zur Input-Output-Analyse notwendig, die in mathematisierter Form einen komprimierten Ausdruck komplexer Zusammenhänge der Wirtschaft erlaubt. Hier sollen vor allem die Arbeiten des Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften von 1973, Wassily Leontief (1986), herangezogen werden. Seine Input-Output-Analyse kann weitgehend mit Marx’schen Überlegungen zusammengeführt werden. Die mathematisierte Darstellung einer Volkswirtschaft nach Leontief erlaubt es, die Matrizenrechnung anzuwenden. Mit ihrer Hilfe können die Marx’schen Schemata der einfachen und erweiterten Reproduktion, wie sie in Band 2 des Kapitals beschrieben sind, auf beliebig viele Wirtschaftssektoren ausgedehnt werden. Überdies lässt sich der Computer als Berechnungshilfe einsetzen, da effektive Programme zur Rechnung mit Matrizen und Vektoren vorhanden sind. Gleichzeitig schlägt die so modifizierte Input-Output-Analyse eine Brücke zur empirischen Überprüfung der Marx’schen Thesen zur Werttheorie in kapitalisti5
Das Zitat wird Immanuel Kant, Ludwig Boltzmann, Albert Einstein und Kurt Lewin zuge schrieben. 6 Die originale, aber wenig mathematisierte Darstellung findet sich in den MEW-Bänden 23 bis 25 und in den weiteren drei Bänden 26.1 bis 26.3 (https://marx-wirklich-studieren.net/ marx-engels-werke-als-pdf-zum-download/).
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schen Wirtschaften. In den meisten Ländern der Erde werden nämlich jährliche oder sogar vierteljährliche Input-Output-Tabellen zur Beschreibung ihrer Volkswirtschaften veröffentlicht, die es gestatten, die Marx’schen Konzepte anhand konkreter Daten auch statistisch zu testen. Die Input-Output-Analyse zeigt die Verflechtung einer Volkswirtschaft auf der Ebene von Wirtschaftszweigen bzw. Branchen und beantwortet die Fragen „Welche Branche liefert an welche Branche Güter in welchem Umfang ?“ und „Welche Güter werden in welchem Umfang für die Produktion der Güter einer Branche bezogen ?“. Die Input-Output-Analyse korrespondiert mit den Marx’schen Konzepten des Gebrauchswerts und des Tauschwerts. Die schon zu Beginn des ersten Bandes des Kapitals hervorgehobene Dualität der Ware wird in der Input-Output-Analyse von Leontief als primales und duales Problem7 thematisiert. Das primale Problem behandelt Gebrauchswerte (gemessen in Stückzahlen oder Maß- und Gewichtseinheiten, z. B. pro Jahr), während das duale der von Marx bevorzugten Wertanalyse entspricht (gemessen in Geldeinheiten). Das primale Problem bringt die Verwendung der Outputmengen x als Vorleistungen Ax oder als Endnachfrage y zum Ausdruck, in Matrixschreibweise8: Ax + y = x. (1) Ax, x und y sind Vektoren, also (senkrechte) Anordnungen von m Zahlen. m ist dabei die Anzahl der unterschiedlichen Güter einer Wirtschaft. Mit Vektoren und Matrizen in ihrer zweidimensionalen Form lassen sich relativ komplexe Rechenoperationen wie die Addition, Subtraktion oder Multiplikation vieler Zahlen in einer einfachen Formel ausdrücken. Die Matrix A soll als Beispiel dienen. Sie ist eine quadratische Matrix, da sie m Zeilen und m Spalten besitzt. Zur Veranschaulichung denke man an eine Anordnung von Zahlen auf den Feldern eines Schachbretts. An den Kreuzungspunkten der (waagrechten) Zeilen und (senkrechten) Spalten enthält sie die m² „technischen Koeffizienten“ aij einer Wirtschaft. Ein Element aij der Matrix A steht am Kreuzungspunkt ihrer i-ten Zeile und j-ten Spalte. Es gibt an, wie viele Einheiten des Gutes mit dem Index i zur Herstellung einer Einheit des Gutes mit dem Index j benötigt werden. Die Elemente der Matrix A erlauben es, Wirtschaften verschiedener Länder miteinander zu vergleichen oder für eine bestimmte Wirtschaft quantitative Veränderungen im Lauf der Zeit festzustellen und zu bewerten. Sie werden bei tech7
Die Schemata sind Vereinfachungen existierender Volkswirtschaften. Sie enthalten weder Außenhandel noch staatliche Aktivitäten. 8 Für die Rechenregeln mit Matrizen und Vektoren siehe z. B. Schneider (2017).
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nischen Veränderungen in Richtung größerer Material- oder Energieersparnis kleiner werden. Das duale Problem betrachtet den Stückpreis p als Summe der Stückkosten der zur Produktion einer Einheit nötigen Vorleistungen pA und der Wertschöpfung q pro Stück, also pA + q = p. (2) pA, p und q sind (waagrechte) Anordnungen von m Zahlen. Die Elemente dieser Vektoren werden in Währungseinheiten gemessen. Die Umsätze, die in einer Wirtschaft getätigt werden, ergeben sich aus der elementweisen Multiplikation von Stückpreis und Menge. Entweder multipliziert man die Elemente von Gleichung (1) mit den jeweiligen Stückpreisen oder man multipliziert die Elemente von Gleichung (2) mit den jeweiligen Mengen. Damit nähert man sich dem Inhalt der empirisch gegebenen Input-Output-Tabellen.
3.2 Ware und Wert Marx hat wie Adam Smith daran festgehalten, dass alle Waren, die am Markt gehandelt werden, zwei Eigenschaften besitzen. Einerseits haben sie einen Gebrauchswert, der sie zu einem nützlichen Gegenstand macht. Wenn sie andererseits am Markt gegen Geld verkauft werden können, besitzen sie zudem einen Tauschwert. Während der Gebrauchswert kaum von den geschichtlichen Epochen beeinflusst wird, ist der Tauschwert an Marktwirtschaften gebunden. Hinter dem Tauschwert steht qualitativ die menschliche Arbeit, die quantitativ in Arbeitszeit gemessen wird. In Marktwirtschaften tritt neben die besonderen Waren das Geld als allgemeine Ware. Geld kann gegen jede besondere Ware getauscht werden, da eine Geldeinheit immer eine bestimmte Menge Arbeitszeit ausdrückt. Liest man den ersten Abschnitt des Kapitals genauer, fällt auf, dass der Warenbegriff in erster Linie reproduzierbaren materiellen Produkten auf den Leib geschneidert ist. Marx sieht den Wert einer Ware als gesellschaftliches Verhältnis zwischen den Menschen, das sich an der Oberfläche als quantitatives Verhältnis zwischen Dingen zeigt: Der Wert der Ware „erscheint zunächst als quantitatives Verhältnis, die Proportion, worin sich Gebrauchswerte einer Art gegen Gebrauchswerte anderer Art austauschen, ein Verhältnis, das beständig mit Zeit und Ort wechselt“ (Marx 1979a, S. 50). Mittels Abstraktion zeigt Marx, dass die Größe des Werts genauer durch das „Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit oder die zur Herstellung eines Gebrauchswerts gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit“ (ebd., S. 54) bestimmt wird.
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Ihrer marktvermittelten Hülle entkleidet, bedeutet die Existenz von Waren, dass die Menschen füreinander arbeiten, indem sie Güter produzieren, die sie nach Bedarf geldvermittelt austauschen. Dadurch kommt die konkrete und praktische Bezogenheit und Angewiesenheit der Menschen aufeinander, also ihre Gesellschaftlichkeit, in einer speziellen Form, nämlich verdinglicht, zum Ausdruck. Oder, um Galiani nach Marx zu zitieren: „Der Wert ist ein Verhältnis zwischen Personen“, wo Marx ergänzt: „unter dinglicher Hülle verstecktes Verhältnis“ (ebd., S. 88, Fußnote).
3.3 Abstrakte Darstellung einer Wirtschaft: Wertentstehung Marx beschreibt im ersten Band des Kapitals eine abstrakte Ökonomie, die aus kleinen WarenproduzentInnen besteht, die über Märkte konkurrieren. Er untersucht die Entstehung der (Tausch-)Werte der Waren. Sie entsprechen dem di rekten und indirekten Aufwand an gesellschaftlich notwendiger Durchschnittsarbeit zur Produktion eines Gutes. Ein Wert setzt sich also aus zwei Komponenten zusammen, aus der lebendigen Arbeit und aus der Arbeit, die in den Vorprodukten vergegenständlicht ist und auf die Ware übertragen wird. Auf dieser abstrakten Ebene der Darstellung konzentriert sich Marx auf das Wesentliche einer Marktwirtschaft, auf die Produktion von Waren und damit von Wert durch Arbeit. Diese wissenschaftliche Vorgehensweise wählt auch die Physik, deren Gesetze zunächst ebenfalls auf einer abstrakten Ebene formuliert werden. So sagt z. B. das Newton’sche Gesetz: „Alle Körper fallen gleich schnell“ – eine Behauptung, die sich empirisch jederzeit widerlegen lässt. Eine Vogelfeder und eine Metallkugel fallen offensichtlich nicht gleich schnell. Erst zusätzliche Theorien, die auf einer konkreteren Sicht der Dinge aufbauen, wie etwa die Strömungslehre, erlauben es, den Unterschied der Fallgeschwindigkeiten zu erklären. Ähnlich ist es bei der Werttheorie. Erst zusätzliche Mechanismen ermöglichen ein besseres Verständnis der beobachteten Preisstruktur an der Oberfläche der Erscheinungen, etwa im Konkurrenzkapitalismus. Die Input-Output-Analyse erlaubt es, die Wertbildung und spätere Wertmodifikation auf den einzelnen Konkretisierungsstufen auch mathematisch zu erfassen. Damit kann der von Marx vorgeschlagene wissenschaftliche Weg des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten begangen werden. Nachdem in einem ersten Schritt die Grundzüge der Input-Output-Analyse dargestellt worden sind, wird sie nun im Sinne der Marx’schen Werttheorie interpretiert. Dabei wird von Gleichung (2), dem dualen Problem von Leontief, ausgegangen, welche die Stückpreise definiert. Wird anstelle der Wertschöpfung q
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pro Stück die lebendige Arbeit n pro Stück in die Formel eingesetzt, lassen sich die Stückwerte w der Waren aus der Gleichung wA + n = w (3) mit w = n (E − A)−1 (4) bestimmen. n symbolisiert den Zeilenvektor der lebendigen Arbeitszeit pro Stück; A ist wie oben die Matrix der technischen Koeffizienten. E steht für die Einheitsmatrix, die nur in der Hauptdiagonale Einsen und sonst lauter Nullen enthält, und (E − A)−1 für die Leontief-Inverse, die jeder Laptop berechnen kann. Das Ergebnis w enthält die gesamten für die Herstellung eines Gutes aufge wandten Durchschnittsarbeitszeiten, oft als Arbeitswerte bezeichnet. Wie aus Gleichung (3) ersichtlich ist, setzen sich die Arbeitswerte aus der in den Vorleistungen enthaltenen Arbeitszeit (vorgetane Arbeit, in Marx’scher Terminologie konstantes Kapital c) und der neu hinzugefügten lebendigen Arbeit n zusammen. Die Gleichungen (3) und (4) beschreiben die Erzeugung der Werte in einer Wirtschaft. Sie werden im Allgemeinen von den empirisch vorgefundenen Preisen p abweichen. Die neu hinzugefügte lebendige Arbeitszeit ist im Kapitalismus der Ausgangspunkt für die Aufteilung in einen Lohn- und einen Gewinnanteil (in Marx’scher Terminologie variables Kapital v und Mehrwert m). Marx gewann so die berühmte Gleichung der Wertzusammensetzung w = c + v + m. (5) Technische Veränderungen schlagen sich in diesem Modell in zweierlei Hinsicht nieder: Einerseits wird die lebendige Arbeitszeit in einer Branche sinken, in der arbeitssparende Maschinen angewendet werden, andererseits werden sich material- und energiesparende Veränderungen in kleineren Koeffizienten aij zeigen. Wie sich mathematisch nachweisen lässt, werden in beiden Fällen die Arbeits werte w kleiner werden. Damit gewinnen wir eine wichtige Schlussfolgerung für die weitere Diskussion: Die Arbeitswerte pro Stück verringern sich bei Einsatz von arbeits-, material- und energiesparenden Veränderungen. Bis hierher wird die obige Kurzfassung der Marx’schen Theorie die weitgehende Zustimmung marxistischer politischer ÖkonomInnen erhalten. Für den folgenden Abschnitt kann dies nicht immer behauptet werden.
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Waren und Dienste
Als Marx die Aktivitäten einer Volkswirtschaft genauer analysierte, stellte er sich die folgende rhetorische Frage (Marx 1974, S. 138 f.): „Befinden sich nicht in jedem Augenblick auf dem Markt neben Weizen und Fleisch etc. auch Huren, Advokaten, Predigten, Konzerte, Theater, Soldaten, Politiker etc. ? Diese Burschen oder Burschinnen erhalten das blé et autres denrées de necessité (Korn und andere Lebensmittel) oder d’agrément (Vergnügen) nicht umsonst. Sie geben dafür oder dringen dafür auf ihre Dienste, die als solche Dienste einen Gebrauchswert und infolge ihrer Produktionskosten auch einen Tauschwert haben. In consommablen Artikels gerechnet besteht jeden Augenblick, neben den in den denrées (Gegenständen) existierenden consommablen Artikeln, ein Quantum als services consommabler Artikel.“
Welche Rolle spielen diese Dienste im Rahmen der Werttheorie ? Diese Frage zu beantworten ist in den letzten Jahrzehnten immer wichtiger geworden, denn Dienstleistungen (persönliche und Wirtschaftsdienste) machen in der EU bereits zwei Drittel bis drei Viertel des Bruttoinlandsprodukts aus. Unsere heutige Gesellschaft wird deshalb von manchen als „Dienstleistungsgesellschaft“ bezeichnet.
4.1 Eigenschaften von Dienstleistungen Der Autor hat in Anlehnung an das obige Marx-Zitat folgende Eigenschaften für Dienste in der Wertrechnung formuliert. Sie gelten nur auf der abstrakten Ebene der Entstehung von Werten: 1) Obwohl Dienste in der Regel keine Stofflichkeit besitzen, haben sie einen Gebrauchswert. Sie erzeugen bei den Käufern wie Waren einen (tatsächlichen oder bloß eingebildeten) Nutzen. 2) Eine Dienstleistung ist als solche weder wieder verkaufbar noch lager- noch akkumulationsfähig, da sie konsumiert wird (z. B. das Hören eines Konzerts oder eine Transportleistung durch ein Taxi). 3) Eine Dienstleistung leistet weder zum volkswirtschaftlichen Mehrprodukt noch zum Mehrwert einen direkten Beitrag. 4) Auf der abstrakten Ebene der Wertentstehung besitzen Dienste aufgrund ihrer Produktionskosten einen Tauschwert. Die Produktionskosten setzen sich wie in der Warenproduktion aus den Abschreibungen für das konstante Kapital, dem zirkulierenden Kapital und dem variablen
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Kapital zusammen. Ein Mehrwert als Bestandteil der lebendigen Arbeit existiert aber bei Dienstleistungen nicht, ebenso wenig wie ein Mehrprodukt. Profite sind auf dieser abstrakten Ebene nicht vorhanden, auch keine Investitionen in die Dienstleistungsbranchen.
4.2 Äquivalententausch Die obigen Annahmen stellen sicher, dass Äquivalententausch vorliegt, d. h., dass eine Ware auf der abstrakten Ebene gegen eine andere „gerecht“ (ohne dass ein Tauschpartner den anderen übervorteilt) getauscht werden kann. Dies ist immer dann der Fall, wenn der gesellschaftlich notwendige Arbeitszeitaufwand zweier zu tauschender Güterbündel gleich ist. Wäre dies aufgrund der Annahmen nicht möglich, würde ein Widerspruch vorliegen. Die ersten Kapitel des Kapitals behandeln die kapitalistische Wirtschaft unter dieser Voraussetzung: „Der Wert einer Ware verhält sich zum Wert jeder anderen Ware, wie die zur Produktion der einen notwendigen Arbeitszeit zu der für die Produktion der anderen notwendigen Arbeitszeit.“ (Marx 1979a, S. 54) Auf diese Weise ist sichergestellt, dass die warenproduzierenden Unternehmen über den Markt den vollen Wert ihrer Produkte zurückerhalten können und die Dienstleistungsunternehmen die Kosten für die Reproduktion. Es gibt für die Dienstleister auf dieser abstrakten Ebene keine Ausbeutung.
4.3 Wertmodifikationen Marx zeigt u. a. im dritten Band des Kapital, dass der Äquivalententausch, der für kleine WarenproduzentInnen auf der abstrakten Ebene noch seine Berechtigung hat, im Übergang zum Kapitalismus nicht mehr gilt. Die Jagd nach maximalen Profitraten führt zu Umschichtungen des konstanten Kapitals in jene Zweige, die höhere Profite versprechen, als die eigene Branche bietet. Die Werte der Waren folgen nun nicht mehr dem Aufwand an Arbeitszeit, sondern werden modifiziert zu Produktionspreisen, die idealtypisch durch den Aufschlag der Durchschnittsprofitrate auf den Kostpreis (natürlich auch für Dienstleistungen) bestimmt werden (Marx 1979b, S. 174 ff.). Über diesen Konkretisierungsschritt wurde unter dem Namen Transformationsproblem länger als hundert Jahre gestritten. Meines Erachtens ist der von Marx behandelte Übergang von Werten zu Produktionspreisen nur die erste, wenn auch wichtigste Wertmodifikation im Kapitalismus. Weitere Wertmodifikationen stellen sich mit der Berücksichtigung des Finanzkapitals (durch Kredite und Zinsen) und des Staates (durch Steuern, Sub-
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Abbildung 2 Die Wirtschaft – eine evolutive gesellschaftliche Konstruktion 7 Gegenwärtiger Kapitalismus 6 Informationsgesellschaft „Finanzmarktkapitalismus“ 5
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Öffentlicher Sektor „Staatsmonopolistischer Kapitalismus“ „Finanzkapitalismus“
Konkurrenzkapitalismus
(kleine) Waren2 produktion Physische 1 Basis
Ist-Preise (beobachtet) Kommodifizierung von Informationen Steuern, Transfers, Sozialversicherung Märkte für Geld, Kredit Wertpapiere Produktionspreise Arbeitsmarkt Arbeitswerte, Tauschwerte, Märkte für Güter und Dienste Gebrauchswerte, Stoff, Energie, Ökologische Dimension
Quelle: Darstellung des Autors
ventionen und Sozialversicherung) sowie schließlich in der gegenwärtigen Informationsgesellschaft durch die Kommodifizierung von Informationsgütern und die Kommerzialisierung von Informationsdienstleistungen ein (Abbildung 2). Die genaue Analyse dieser historischen Wertmodifikationen muss weiterer Forschungsarbeit vorbehalten bleiben. Hier soll nur festgehalten werden, dass sich Werte und ihre Modifikationen im Leontief ’schen Modell ausdrücken und anhand von empirischen Daten nähe rungsweise bestimmen lassen. Dabei taucht die Frage auf, welche Variablen eigentlich die unterschiedlichen Wertmodifikationen im Leontief-Modell bewirken. Bei einer geschlossenen Volkswirtschaft mit mehreren Sektoren, aber ohne Außenhandel und ohne Geld lässt sich eine einfache Antwort geben: Es kommt darauf an, wie das Mehrprodukt bzw. der Surplus auf die einzelnen Wirtschaftszweige verteilt wird. Soll die Wirtschaft im Gleichgewicht bleiben (alle Märkte können geräumt werden), werden sich die jeweiligen Stückpreise ändern müssen. Bei gleichbleibenden technischen Bedingungen (gleiche technische Koeffizienten und gleiche Arbeitsproduktivität) und gleichem Konsum der Lohnabhängigen können durch verschiedene Zuteilungen des Mehrprodukts alle möglichen
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Wertmodifikationen (und damit auch die zu den Wertmodifikationen proportionalen Preise) generiert werden. Durch eine derartige Zuteilung von Mehrprodukt und damit Mehrwert an jene Branchen, die kein Mehrprodukt erzeugen, kommen die Dienstleistungssektoren formal zu ihren Gewinnen, die sie für Investitionen benötigen.
4.4 Produktive/unproduktive und werterzeugende/ wertverbrauchende Arbeit Unter dem Titel „produktive und unproduktive Arbeit“ wurde die Frage der Dienstleistungen schon bei Adam Smith und Karl Marx abgehandelt. Für Marx, der dem Bewegungsgesetz des Kapitalismus auf der Spur war, laufen bei Smith zwei unterschiedliche Bestimmungen produktiver Arbeit durcheinander. Er lässt davon nur die erste als richtig gelten: „Nur die Arbeit, die Kapital produziert, ist produktive Arbeit“ (Marx 1974, S. 126). Nur jene Arbeit ist produktiv, die für den Unternehmer, der sie einsetzt, einen Profit produziert. Diese Bestimmung – meint Marx – kann vom Arbeitsinhalt völlig absehen. Es ist gleichgültig, ob ein Unternehmen Waren produziert oder Dienste, wenn nur ein Gewinn erzielt wird. Die zweite Bestimmung produktiver Arbeit, die Marx bei Smith findet, ist „eine solche, die überhaupt produces a value“ (ebd., S. 126). Es geht hier um eine andere Eigenschaft der Arbeit, nämlich dass sie werterzeugend ist. Unproduktiv im Sinne von Adam Smiths zweiter Bestimmung sind daher jene Arbeiten, die direkt keinen Wert erzeugen, also auch keinen Mehrwert, und daher auch kein Mehrprodukt. Man könnte sie wertverbrauchend nennen. Diese zweite Bestimmung definiert Dienstleistungen in der in diesem Beitrag gebrauchten Bedeutung.
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Die Surplusmatrix
Um für die bisher ausgeführten theoretischen Überlegungen den Anschluss an die Realität zu finden, ist die Bezugnahme auf empirisch-statistische Daten nötig. Erst hier kann sich die Theorie bewähren. Glücklicherweise liegt in den Input-OutputStatistiken eine spezielle Matrix vor, die sogenannte Investitionsmatrix oder Surplusmatrix. Sie zeigt auf, welche Branchen wie viele Investitionsgüter erzeugen und an welche Branchen sie geliefert werden. Abbildung 3 zeigt das Schema einer Surplusmatrix, wobei die Branchen in zwei Gruppen geteilt wurden, in warenproduzierende Branchen und Dienstleistungssektoren. Die Zeilen entsprechen den Verkäufen einer Branche an Investi tionsgütern, in den Spalten werden die von einer Branche getätigten Investitionen
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Surplusmatrix
Smith: „Arbeit erzeugt Wert“ Werterzeugend: Zeilensumme > 0 Wertverbrauchend: Zeilensumme = 0
S12
WarenProduktion
Marx: „Arbeit vermittelt Profit “ Produktive Arbeit: Spaltensumme > 0 Unproduktive Arbeit: Spaltensumme = 0
Surplusmatrix partitioniert
Mehrprodukt
S11
S21leer
S22leer
WarenProduktion
Dienstleistungssektoren
Dienstleistungssektoren
Abbildung 3
Peter Fleissner
Quelle: Darstellung des Autors
angeführt. Sie können unter der Annahme einer Wirtschaft, die sich im Gleichgewicht befindet, als Näherung für die zu ihrer Finanzierung nötigen Gewinne der Branche angesehen werden. Im Gleichgewicht müssen sich solche Preise einstellen, die den Dienstleistungssektoren Gewinne erlauben, die sie investieren können. Anhand des Inhalts der Surplusmatrix können wir Kriterien angeben, um die verschiedenen Formen von produktiv/unproduktiv und wertbildend/wertverbrauchend auch empirisch nachzuweisen. Eine Unternehmung/Branche ist produktiv im Sinne von Marx (die Arbeit ist profitvermittelnd), wenn die entsprechende Spaltensumme der Surplusmatrix positive Werte aufweist, also ein Profit gemacht wird. Sie ist unproduktiv im Sinne von Marx, wenn die Spaltensumme null ist, also kein Profit anfällt. Eine Unternehmung ist wertbildend, wenn die entsprechende Zeilensumme größer als null ist, dann wird ein Mehrprodukt und damit Mehrwert produziert. Eine Unternehmung ist wertverbrauchend, wenn die entsprechende Zeilensumme null ist. Die beiden Aspekte von produktiver Arbeit lassen sich also durchaus unabhängig voneinander nachweisen.
Nähern wir uns einer Gesellschaft ohne Geld ? 353
Es soll festgehalten werden, dass in der Surplusmatrix Konsumgüter und Lagerveränderungen vernachlässigt wurden, die ebenfalls investiert werden können. Man könnte auch diesen Fall einbeziehen und zusätzlich eine Matrix der zu investierenden Konsumgüter bzw. Lagerveränderungen angeben, was allerdings von den derzeitigen Gepflogenheiten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung nicht unterstützt wird. Anhand der österreichischen Input-Output-Statistik soll ein Beispiel für eine Surplusmatrix gegeben werden: Von den 42 Dienstleistungssektoren aus den insgesamt 74 Sektoren der österreichischen Input-Output-Tafel 2012 verkaufen nur neun überhaupt Investitionsgüter, in den restlichen 33 ist der Wert der Investitionsgüter null (Tabelle 1).
Tabelle 1 Liste der Dienstleistungssektoren, die keine Bruttoinvestitionsgüter verkaufen Code
Sektor
Code
Sektor
35
Energie und DL der Energieversorgung
73
Werbe- und Marktforschungs-DL
36
Wasser und DL der Wasserversorgung
74 – 75 So. freiberufl., wiss. u. techn. DL; DL d. Veterinärwesens
37 – 39 DL der Abwasser- u. Abfallversorgung; Rückgewinng.
77
DL der Vermietung v. beweglichen Sachen
Einzelhandelsleistungen (o. Kfz)
78
DL der Arbeitskräfteüberlassung
Landverkehrsleist. u. Tranportleist. in Rohrfernleitungen
79
Reisebüro- und Reiseveranstaltungs-DL
84
DL der öffentl. Verwaltung, Verteidigung u. Sozialvers.
46
Großhandelsleistungen (o. Kfz)
47 49 50
Schifffahrtsleistungen
51
Luftfahrtleistungen
85
52
Lagereileistungen, sonst. DL für den Verkehr
Erziehungs- und Unterrichtsdienstleistungen
86
DL des Gesundheitswesens
Post- und Kurierdienste
87 – 88 DL von Heimen u.des Sozialwesens
53
55 – 56 Beherbergungs- und Gastronomie-DL
91
DL von Bibliotheken und Museen
60
Rundfunkveranstaltungsleistungen
92
DL des Spiel-, Wett- und Lotteriewesens
61
Telekommunikationsdienstleistungen
93
64
Finanzdienstleistungen
DL des Sports, der Unterhaltung und der Erholung
65
DL v. Versicherungen und Pensions kassen
94
DL v. Interessenvertretungen, Kirchen u. a.
95
66
Mit Finanz- u. Versicherungsleistungen verb. DL
Reparatur von EDV-Geräten und Gebrauchsgütern
96
Sonstige überwiegend persönliche DL
97
DL privater Haushalte mit Hauspersonal
70
DL d. Unternehmensführung u. -beratung
Quelle: Österreichische Input-Output-Tafel 2012
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Peter Fleissner
Tabelle 2 Liste der Dienstleistungssektoren, die Bruttoinvestitionsgüter verkaufen Code
Sektor
58
DL des Verlagswesens
59
DL d. Filmherstellung, d. -vertriebs u. -verleihs; Kino-DL
62 – 63 DL d. Informationstechnologie; Informations-DL 68
Kreative, künstlerische und unterhaltende DL
69
Rechts-, Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüfungs-DL
71
DL von Architektur- und Ingenieurbüros
72
Forschungs- und Entwicklungs-DL
80 – 82 Wirtschaftliche Dienstleistungen a.n.g. 90
Kreative, künstlerische und unterhaltende DL
Quelle: Österreichische Input-Output-Tafel 2012
Bei den folgenden neun Dienstleistungsbranchen weist die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Investitionsgüter aus, scheinbar ein Widerspruch zu den Thesen des Autors (Tabelle 2). Die Preissumme dieser neun Sektoren 58, 59, 62 – 63, 68, 69, 71, 72, 80 – 82 und 90 beträgt 18,02 Mrd. Euro, das ist ein Viertel der Preissumme der gesamten Investitionsgüter von 71,92 Mrd. Euro (Statistik Austria 2012, cdtab21). Tatsächlich sind allerdings rund 15 Mrd. Euro davon „immaterielle Vermögensgegenstände“ (also Urheberrechte/Intellectual Property Rights, die sich aus einer Monopolstellung heraus vermarkten lassen, und Konzessionen und Rechte, beispielsweise Patente, Lizenzen oder Betriebswerte, aber auch organisationsinterne Daten), die keine stoffliche Dimension besitzen (ebd., cdtab29). Damit ist ein empirischer Anhaltspunkt gewonnen, dass Dienstleistungssektoren zum Mehrprodukt kaum etwas beitragen. Umgekehrt bedeutet dieser Befund, dass in einer Wirtschaft das Wachstum zum Stillstand kommt, wenn ausschließlich Dienstleistungen produziert werden. Es wird ja kein Mehrprodukt mehr erzeugt, das akkumuliert werden könnte.
Nähern wir uns einer Gesellschaft ohne Geld ? 355
6
Möglichkeiten für ein Ende des Werts/Geldes
6.1 Wann ist der Wert am Ende ? Nach dem Ergebnis des vorigen Abschnitts ist es verführerisch, genauer zu fragen, wann unter Berücksichtigung der angeführten theoretischen und empirischen Grundlagen der Wert an sein Ende kommt. Dazu ist eine Voraussetzung, dass der Dienstleistungssektor wächst. Auf die österreichische Datenlage trifft dies zu. Lag der Dienstleistungsanteil am Bruttoinlandsprodukt 2006 bei 68 Prozent, wuchs er bis 2016 auf 70,7 Prozent (Statista 2017). Bei linearer Extrapolation würde der Dienstleistungsanteil etwa im Jahr 2125 hypothetisch die 100-Prozent-Marke erreichen. Dies würde bedeuten, dass kein Mehrprodukt, Mehrwert oder Profit mehr erzeugt werden würde. Geld verlöre seine bisherige Rolle: Der Kapitalismus wäre an sein Ende gekommen. In Deutschland würde sein Ende später eintreten: Bei einem Dienstleistungsanteil von 61,9 Prozent im Jahr 1991 und 68,9 Prozent im Jahr 2016 würden bei linearer Extrapolation im Jahr 2152 keine Waren mehr erzeugt (Institut der deutschen Wirtschaft Köln 2017). In Deutschland war nämlich der Trend in Richtung vermehrter Dienstleistungen seit 2009 eher rückläufig. Es ist klar, dass diese Ergebnisse mit äußerster Vorsicht zu behandeln sind und nur ganz grobe Hinweise liefern. Der historische Verlauf könnte konkret ganz anders sein.
6.2 Computersozialismus: Arbeitszeiten als Preisregulativ Eine Zukunftsalternative, die sich ähnlich wie die Marx’sche Werttheorie auf Arbeitszeitrechnungen stützt, die normativ die Preise und Löhne bestimmen, ist kurz nach dem Ende des Realsozialismus veröffentlicht worden (Cockshott & Cottrell 1993; deutsche Übersetzung 2006). Die Vorarbeiten zu diesem Buch gehen auf die späten 1980er Jahre zurück, als die Krise der Sowjetunion unter Gorbatschow und der Staaten des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe offensichtlich wurde. Cockshott und Cottrell versuchten, eine zeitgemäße Antwort darauf zu geben, wie ein postsowjetischer Sozialismus politisch und ökonomisch gestaltet werden könnte. Sie sehen eine radikale Demokratisierung und eine effiziente Wirtschaftsplanung als Hauptsäulen ihres Konzepts. Diese beiden Komponenten sollen sowohl die Fehler des Kapitalismus, der von Ausbeutung und wachsender Ungleichheit geplagt ist, als auch die des Sozialismus sowjetischen Typs vermeiden. Letzterer fand ja durch überbordende Bürokratie, erzwungenen Gehorsam, ökonomische Ineffizienz und die Unmöglichkeit von Reformen sein Ende.
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Peter Fleissner
Die Autoren schlugen vor, eine riesige Input-Output-Tabelle zu erstellen, in die etwa eine Million unterschiedlicher Güter in ihrer interindustriellen Verflechtung und die zu ihrer Herstellung nötigen Arbeitszeiten aufgenommen werden. Sie argumentieren, dass ein größerer Computer (Baujahr 2000) in Verbindung mit einem verbesserten Algorithmus durchaus in der Lage sein müsste, den Arbeitsgehalt der Waren in wenigen Sekunden zu berechnen. Alle Unternehmen könnten mit Personalcomputern und Tabellenkalkulationsprogrammen ausgestattet die sie betreffenden Daten sammeln und per Internet an einen zentralen Rechner weitergeben. Dieser würde im Wesentlichen Gleichung (4) lösen. Umgekehrt könnten sie von einer bestimmten Webplattform die Arbeitszeitdaten der Vorprodukte, die in ihrem Unternehmen benötigt werden, abfragen und in ihre Kalkulation einbringen. Auf diese Weise ließen sich die Preise der Güter festlegen, ohne dass ein Markt dazu benötigt wird. Es soll aber auch auf eine Schwierigkeit im Vergleich zu kapitalistischen Betrieben aufmerksam gemacht werden. Kapitalistische Unternehmen stehen über den Markt in dauernder Konkurrenz und unter dem Druck, Kosten zu sparen. Oft setzen sie dazu neue Technologie ein, die arbeits-, material- und energiesparend ist und vielleicht auch die Qualität des erzeugten Produkts verbessert, um die eigene Profitrate zu erhöhen. Dadurch wird auch auf die anderen Betriebe ein beständiger Druck in Richtung auf verbesserte Produktionsverfahren erzeugt, der erklärt, warum es im Kapitalismus zur raschen Ausbreitung neuer Technologien kommt. Genau diese Innovationsfähigkeit fehlte im Realsozialismus. Obwohl im Computersozialismus die Freisetzung von Arbeitskräften durch Innovationen kein ernsthaftes Problem darstellen würde, da allen Gesellschaftsmitgliedern die Ressourcen für ein normales Leben zur Verfügung stehen, könnte durch das Fehlen der Konkurrenz die Innovationsfähigkeit leiden, was sich vor allem in der Handels- und Dienstleistungsbilanz des Landes negativ ausdrücken würde. Cockshott und Cottrell legen auf ein umfassendes und effizientes Planungssystem großen Wert. Auf der höchsten Ebene der strategischen Planung geht es um die Festlegung der Industriestruktur, um Bildung, Forschung und Innovationen, Umweltaspekte, Investitionsplanung und Zeitstruktur, Verteilung von Gütern und Diensten und um die Planung der landwirtschaftlichen Produktion. Die Produk tionsmittel werden direkt nach Plan verteilt, für Teile der Konsumgüter gibt es einen Markt, auf dem mit Arbeitsgutscheinen bezahlt wird. Die Höhe der Einkommen wird nach einem relativ komplexen System der Arbeitsbewertung geregelt. Damit soll der im Realsozialismus vorhandenen Gleichmacherei gegengesteuert und eine bessere Nutzung individueller Leistungsreserven ermöglicht werden. Die detaillierte Planung soll nach dem Rückkopplungsprinzip gestaltet werden, wie es sich auch in Abbildung 1 findet. Die Kontrollinstanz stellt fest, ob das
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Angebot Abweichungen von der Nachfrage aufweist, und verändert danach die Preise, sodass es durchaus zu Abweichungen vom Arbeitszeitaufwand eines Gutes kommen kann (Cockshott & Cottrell 2006, S. 163). Nur grundlegende Entscheidungen (z. B. die Höhe der Steuern, Festlegung des Anteils für Investitionen, Gesundheit sowie Bildung am Nationaleinkommen) sollen über eine Volksabstimmung getroffen werden. PlanungsökonomInnen machen für die anderen Bereiche alternative Vorschläge, über die ein demokratisch beschickter Planungsausschuss entscheidet. Der deutschstämmige Universitätsprofessor Heinz Dieterich (2006), der an der staatlichen Universidad Autónoma Metropolitana in Mexiko-Stadt lehrt, hat die Vorschläge von Cockshott und Cottrell aufgegriffen und in seinem Buch Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts um Konzepte der Basisdemokratie erweitert. Obwohl er laut der Wochenzeitschrift Der Spiegel als „Chefideologe des Präsidenten Chavez“ galt (Dieterich 2006, Klappentext), konnte Dieterich Chavez nicht zur Übernahme seines Sozialismuskonzepts bewegen. Darin offenbarte sich eine Schwäche, die vielen Konzeptionen für eine Gesellschaft nach dem Geld anhaftet. Obwohl in der Regel die zukünftigen Gesellschaften in allen Details und ihren inneren Mechanismen ausgemalt werden, mangelt es an einer realistischen Theorie des Übergangs zu ihnen.
6.3 Schlussbemerkung Denkbar und als Keimformen teilweise schon sichtbar sind „commonistische“ Initiativen. Elinor Ostrom, die dafür 2009 mit dem Nobelpreis für Ökonomie geehrt wurde, hat gezeigt, dass „Commons“ durchaus eine eigene Existenzberechtigung haben können und nicht bloß kurzlebige Institutionen sind, die sich durch Übernutzung selbst zerstören. „Commonismus“ ist u. a. durch Christian Siefkes und Stefan Meretz zu einer neuen Vision eines alternativen Gesellschaftssystems geworden, das Ähnlichkeiten und Differenzen gegenüber Kapitalismus und Realsozialismus zum Ausdruck bringt. An weiteren Ideen mangelt es nicht. Der deutsche Autor und Dramaturg Fabian Scheidler publizierte etwa das Buch Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation, in dem er nicht nur die Selbstzerstörungsmechanismen des kapitalistischen Universums überzeugend beschreibt, sondern auch Beispiele alternativen Handelns, die darüber hinausführen (Scheidler 2015, S. 205 – 225). Kurz danach hat der britische Journalist Paul Mason die Gedanken von Marx aus den Grundrissen erneut aufgegriffen und Übergänge zu einer Gesellschaft jenseits des Kapitals aufgezeigt (Mason 2016, S. 337 – 371). In letzter Zeit sind unter dem Stichwort „bedingungsloses Grundeinkommen“ von verschiedenen Grup-
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pierungen Vorschläge gemacht worden, die darauf abzielen, formale Arbeit und Einkommen auf eine neue Basis zu stellen – eine Notwendigkeit angesichts der Ankündigung des Einsatzes neuer arbeitssparender Technologien. Dabei kann auf den Einsatz von Geld teilweise verzichtet werden, indem die nötigen Güter und Dienste den Menschen direkt und kostenlos angeboten werden (Popper-Lynkeus 1912).
Literatur Adler, Frank (1978). Zu einigen Grundmerkmalen der wissenschaftlich-technischen Revolution. Wien: Arbeitskreis wissenschaftlich-technische Intelligenz. Aristoteles (2012). Politik. Hamburg: Felix Meiner. https://meiner.de/reading/web/? isbn=9783787321360 (Zugriff am 02. 01. 2017). Bernal, John Desmond (1961). Die Wissenschaft in der Geschichte. Darmstadt: Progress-Verlag Johann Fladung. Cockshott, W. Paul, & Cottrell, Allin (1993). Towards a new socialism. Nottingham: Spokesman. Cockshott, W. Paul, & Cottrell, Allin (2006). Alternativen aus dem Rechner – Für sozialistische Planung und direkte Demokratie. Köln: Papyrossa. Dieterich, Heinz (2006). Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts – Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus. Berlin: Kai Homilius. Fleissner, Peter (1985). Zum Umbruch des Produktivkraftsystems. In Institut für Marxistische Studien und Forschungen (Hrsg.), Marxistische Studien, Jahrbuch des IMSF 9 (S. 160 – 175). Frankfurt a. M.: IMSF. Institut der deutschen Wirtschaft Köln (2017). Bruttowertschöpfung nach Wirtschaftsbereichen, Deutschland 1991 – 2016. http://www.deutschlandinzahlen.de/tab/ deutschland/volkswirtschaft/entstehung/bruttowertschoepfung-nach-wirtschaftsbereichen (Zugriff am 02. 06. 2017). Klaus, Georg, & Buhr, Manfred (1972). Philosophisches Wörterbuch. Band 2. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut. Leontief, Wassily (1986). Input-Output Economics. Second Edition. New York/Oxford: Oxford University Press. Marx, Karl (1974). Theorien über den Mehrwert – Erster Teil. In Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, Bd. 26.1. Berlin: Dietz. Marx, Karl (1979a). Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, Bd. 23. Berlin: Dietz. Marx, Karl (1979b). Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. In Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, Bd. 25. Berlin: Dietz. Marx, Karl (1983 [1858/9]). Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, Bd. 42. Berlin: Dietz. Marx, Karl, & Engels, Friedrich (1972 [1847/8]). Manifest der Kommunistischen Partei. In Karl Marx & Friedrich Engels, Werke, Bd. 4. Berlin: Dietz. http://www. mlwerke.de/me/me04/me04_459.htm (Zugriff am 03. 06. 2017).
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Mason, Paul (2016). Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie. Berlin: Suhrkamp. Popper-Lynkeus, Josef (1912). Die allgemeine Nährpflicht als Lösung der sozialen Frage, eingehend bearbeitet und statistisch durchgerechnet. Mit einem Nachweis der theoretischen und praktischen Wertlosigkeit der Wirtschaftslehre. Dresden: Reissner. Rifkin, Jeremy (2014). Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus. Frankfurt a. M.: Fischer. Scheidler, Fabian (2015). Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation. Wien: Promedia. Schneider, Andreas (2017). Mathebibel. http://www.mathebibel.de/matrizenrechnunggrundlagen (Zugriff am 07. 01. 2017). Statista (2017). Anteile der Wirtschaftssektoren am Bruttoinlandsprodukt Österreichs. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/217604/umfrage/anteile-derwirtschaftssektoren-am-bruttoinlandsprodukt-oesterreichs/ (Zugriff am 05. 01. 2017). Statistik Austria (Hrsg.) (2012). Input Output Tafel 2008, CDROM cdtab29. Wien: Statistik Austria. Statistisches Bundesamt (2017). Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen, Inlandsproduktberechnung, Lange Reihen ab 1970, Tab 2.14. https://www.destatis.de/DE/ Publikationen/Thematisch/VolkswirtschaftlicheGesamtrechnungen/Inlandsprodukt/InlandsproduktsberechnungLangeReihenPDF_2180150.pdf?__blob= publicationFile (Zugriff am 02. 07. 2017). Staun, Harald (2014). Ökonom Jeremy Rifkin – Das Ende des Kapitalismus. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. September. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ jeremy-rifkin-die-null-grenzkosten-gesellschaft-13151899.html (Zugriff am 02. 01. 2017).
13
Geld Für eine non-monetäre Ökonomie1 Stefan Heidenreich
Vorwort Geld dient unter anderem dazu, Güter und Arbeit zu verteilen. In Zukunft werden wir diese Aufgaben auch anders lösen können, ohne Geld und stattdessen mit Hilfe von Netzwerken, Algorithmen und künstlicher Intelligenz. Warum auf Geld verzichten ? Im Medium Geld verbinden sich drei Funktionen: zahlen, bewerten und speichern. In jeder monetären Ökonomie tendiert das Speichern dazu, die beiden anderen Funktionen zu dominieren. Dabei handelt es sich um eine unvermeidliche, weil im Geld angelegte Tendenz. Das Kommando „Mehr !“ ist ihm von Anfang an eingeschrieben. Es drängt zu einem Zustand, in dem alle Zahlungen und jegliche wirtschaftliche Aktivität dazu dienen, Tribute abzuführen. Jede Bewertung von Gütern oder Berufen verschiebt sich zugunsten der Vermögen und ihrer Vermehrung. Einkünfte und Eigentum sind immer ungleicher verteilt. Kein Wunder, beschränken sich die Maßnahmen der Zentralbanken nach der Krise 2008 auf die seitdem kontinuierlich fortgesetzte Rettung der Vermögen. Der Entwurf einer non-monetären Ökonomie setzt der Geldwirtschaft eine fundamentale Utopie entgegen. Sie kommt ohne Geld aus, streicht das Speichern von Wert und Vermögen und ersetzt die Funktionen des Bewertens und Zahlens durch eine algorithmisch unterstützte Verteilung der Dinge und Tätigkeiten. Technisch ist das möglich, da wir inzwischen alle Transaktionen digital notieren und genügend Daten verrechnen können, um die Informationsfunktion des Marktes zu unterlaufen. In diesem Sinn stellt die non-monetäre Ökonomie eine radikale linke Utopie dar: eine Wirtschaft, die ökonomische Gleichverteilung an-
1
Auszug aus dem gleichnamigen Buch.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_13
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Stefan Heidenreich
strebt, indem sie das gegenwärtige System an einer fundamentalen, weil medialen Stelle umbaut. […]
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Verteilen
Aufgabe der Ökonomie ist es, Güter und Arbeit zu verteilen. Dazu braucht es kein Geld. Historisch hat es sich so ergeben, dass über das Medium Geld die nötigen wirtschaftlichen Informationen gebündelt und vermittelt wurden. Heute läuft fast die gesamte Ökonomie unterm monetären Regime. Damit ist jedoch weder das Ende der Geschichte noch eine optimale Lösung erreicht. Seit Daten und Rechner groß und schnell genug sind, können wir andere, geldlose und wahrscheinlich bessere Verfahren der Verteilung ins Auge fassen. Dazu müssen wir bei Fragen der Distribution und der Allokation beginnen und nicht erst bei Märkten und deren monetärer Einrichtung. Die Aufgabe, sehr viele verschiedene Dinge unter sehr vielen Beteiligten zu verteilen, stellt ein typisches Problem in Netzwerken dar. Schließlich geht es um eine Vielzahl von Verknüpfungen. Das Kernelement dieser Verknüpfungen bildet eine soziale Relation, sei es durch Gabe oder durch Hilfe oder durch Kommunikation. Was verteilt wird, sind Verknüpfungen oder „Links“. […] Mit der Dichte und Menge an Daten verändert sich das Verhältnis von Preisen zu Information radikal. Preise bringen nur noch nachträglich zum Ausdruck, was wir über das Verhalten des Konsumenten am Markt ohnehin wissen. Wir sehen heute schon beim Buchen von Flügen, wie Preise von Algorithmen gemacht werden. Der Datenvorsprung betrifft nicht nur Endkonsumenten, sondern auch große Handelsplätze. Die sporadischen Flash-Crashs zeigen, was passiert, wenn Algorithmen mit Aktien und anderen Papieren spekulieren. Wenn sich aus unserem Profil, unseren Likes und unserer Konsumgeschichte errechnen lässt, was wer wann kaufen wird, schnurrt der Markt auf einen singulären Moment zusammen. Im Preis liegt dann keine zusätzliche Information mehr. Formell wird die Verteilung noch auf Preise abgebildet und in Geld verrechnet, aber in den zugrunde liegenden Datenströmen zeigt sich bereits die technologische Basis einer non-monetären Ökonomie. […]
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Transaktionen
Transaktionen bilden die Basis jeder Ökonomie. Die einfachste aller Transaktionen ist die Gabe. Eine Person (A) gibt etwas (x) an eine andere Person (B) – notiert als Tupel (A, B, x). Person bezieht sich hier auf jede Art von Akteur, die oder der oder das als handelnd auftritt, also nicht nur Menschen, sondern auch Automaten, Programme, Maschinen oder andere Lebewesen. Als Gabe wiederum kann alles gelten, was sich geben lässt, also nicht nur Waren, sondern auch Informationen, Ereignisse, Zugänge, Handlungen, Hilfeleistungen und Ähnliches. Warum soll das Geben und nicht die Arbeit als Basis der Ökonomie gelten ? Aus dem einfachen Grund, dass man sehr wohl arbeiten kann, ohne Teil der Ökonomie zu werden, also ganz für sich selbst und ohne weitere Effekte für andere. Dagegen stellt eine Transaktion immer ein soziales Verhältnis her. Das macht bei der Arbeitsteilung das Teilen zur grundlegenden Handlung, und nicht die Arbeit. Ohnehin müssen wir noch genauer betrachten, was ökonomisches Tun bedeutet. Arbeit gehört zur Geldwirtschaft und der Idee bezahlter, entfremdeter Produk tionstätigkeiten. Im non-monetären Feld entscheidet sich der ökonomische Wert einer Tätigkeit daran, ob und wie sie geteilt wird. Sämtliche Formate und Strukturen des Gebens und Tauschens wie Zahlungen, Preise, Werte, Käufer, Konsum, Angebot, Nachfrage oder Märkte lassen sich auf einfache Transaktionen zurückführen. Man kann die Gesamtheit aller ökonomischen Verhältnisse von der elementaren Transaktion des Gebens her begreifen. Das heute als Normalfall angesehene Kaufen kam in der langen Geschichte ökonomischer Verhältnisse eher spät auf, und mit ihm das Geld. Vorher waren einfache Transaktionen die Regel, also Gaben, durchaus auch erzwungene, etwa in Form von Steuern. Dass die Gaben bemessen und in Zahlenform notiert wurden, begann nicht mit dem Geld, sondern mit Aufschreibesystemen, die meistens an Tempel angeschlossen waren. Alle jene Geschichten des Geldes, die die Wirtschaft mit dem Tausch beginnen lassen, liegen nicht nur historisch falsch, sondern weigern sich, eine Ökonomie vor dem Geld anzuerkennen, und taugen deshalb auch nicht dazu, eine Ökonomie ohne Geld zu denken. […]
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Medien und Netze
Wann Daten die Aufgaben des Geldes übernehmen können, hängt vom Verhältnis der Rechenkapazitäten zu den Transaktionen ab. Sobald Computernetzwerke groß und schnell genug sind, um sämtliche Zahlungsvorgänge zu verarbeiten, besteht technisch gesehen die Möglichkeit, die Funktion des Geldes algorithmisch
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zu emulieren. Wir stehen heute genau an dieser Schwelle. Wahrscheinlich haben wir sie schon überschritten. Ganz neu sind geldlose Wirtschaftsformen nicht. Vor dem Aufkommen des Geldes wurden größere ökonomische Einheiten durch Aufschreibesysteme verwaltet. Deren Reste finden wir nicht nur in den Ruinen der Tempel, sondern auch in den Schuldmythen vieler Religionen. In einem der wohl bekanntesten aller Gebete fordern Christen auf aller Welt tagtäglich millionenfach ein Ende der Verschuldung: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Den ökonomischen Kern dieser Zeilen haben sie leider vergessen. Mit der Umstellung von einem zentralen Aufschreibesystem auf ein dezentrales, nämlich Geld, kamen die Schuldenerlasse aus der Mode. Nicht von ungefähr, denn die vielen Gläubiger, die an die Stelle der einen Zentralmacht getreten waren, hatten mehr Interesse, Schulden einzutreiben als abzuschreiben. Das Christentum re agierte, indem es Schulden durch Sünden und den Schulderlass für alle durch die Beichte für jeden Einzelnen ersetzte, sprich durch Kontrolle. Historisch gesehen beginnen ökonomische Verhältnisse nicht mit dem Tausch und schon gar nicht mit dem Bezahlen. Zuerst wird gegeben, geholfen, geliehen. Eigentum ist unbekannt. In dörflichen Gemeinschaften reicht das Gedächtnis der Leute aus, um ungefähr nachzuvollziehen, wer wem was gegeben hat. Erst die Erfindung der Schrift führt dazu, dass sich größere ökonomische Einheiten längerfristig organisieren lassen. Aufzeichnungen von Gaben und Schulden finden sich an sehr vielen Ausgrabungsorten alter Zivilisationen. Letztlich geht die Erfindung der Schrift auf solche Archive von Gaben und Abgaben zurück. Zusammen mit dem ersten generellen Medium und den Aufschreibesystemen wachsen die neuen ökonomischen Einheiten. Die Herrschaft dieser Aufschreibeökono mien, meistens um Tempel und Städte, kann sich genau so weit ausdehnen, wie ihre Macht reicht, Abgaben einzutreiben. Geld kommt erst später. Im streng technischen Sinn ist es kein Medium, sondern ein Verfahren, das verschiedenste Medien einsetzt, um Aufschreibsel transportabel zu machen und read-only zu prozessieren. Für die Ökonomie bedeutet das Geld eine grundlegende Neuerung, da es die einfache Transaktion der Gabe in einen symmetrischen Tausch auflöst. Wenn jemand für den Erwerb eines Dinges bezahlt, bleibt kein Rest. Es muss nichts mehr notiert werden. Geld spart Daten. Die Expansion des Geldes läuft parallel zu kriegerischen und expansiven Staatswesen, die mit Hilfe des Geldes einen Kreislauf von Steuern, Sold und Versorgung der Armee in Gang setzen. Über der Zirkulation der Güter und Arbeiten baut sich nun langsam ein verschachteltes Gebäude von mehr oder weniger geldnahen Notationsformen für Zahlungen und Zahlungsversprechen auf, von der Münze zum Schuldschein, dem
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Wechsel, dem Papiergeld bis hin zu digitalen Geldern. Am Ende sind wir wieder bei einem Aufschreibesystem gelandet, das nicht nur sämtliche Zahlungen notiert, sondern dazu auch noch die abenteuerlichsten Derivate und Wetten auf Zahlungsversprechen konstruiert. Dass Geld Daten komprimiert, interessiert nicht mehr, seit wir genug Daten prozessieren können. Peer-to-Peer-Gelder und Kryptowährungen fügen diesem System nichts grundsätzlich Neues hinzu. Bei Bitcoins handelt es sich nach wie vor um Geld, auch wenn es einer zentralen Institution entzogen ist. Auf dem Weg zur Abschaffung des Geldes stellen sie lediglich einen Umweg dar. Denn das Prinzip der Zahlung erhalten auch digitale und P2P-Zahlungssysteme aufrecht. Sie bilden einfach nur das alte Geld auf das neue mediale Fundament eines verteilten Netzwerks ab. Das entspricht der ersten Stufe eines medialen Umbruchs. In der Medientheorie ist seit Marshall McLuhan die Regel geläufig, dass neue Medien erst einmal alte Inhalte abbilden. Wir haben es bei medialen Umbrüchen demzufolge oft mit einem zweiphasigen Ablauf zu tun. Erst findet die Abbildung des Alten im Neuen statt, wie in unserem Fall durch Bitcoin als Netzwerk-Abbild des Geldes. Erst in einer zweiten Phase stellt sich heraus, welches Eigenleben sich im neuen Medium entfalten kann. Dieser Schritt steht für das Geld noch aus. Er liegt in der Übernahme der ökonomischen Funktionen des Geldes durch intelligente Netzwerke. Bemerkenswerter als die bloße Imitation von Geld erscheint an den P2P-Währungen die Architektur im Hintergrund, die sogenannte Blockchain. Sie legt die Basis für ein dezentrales Verwaltungsverfahren, über das Transaktionen anonym vermittelt und überprüft werden. Das Verfahren taugt für Geld genauso gut wie für andere geldlose und dezentrale Notationssysteme. Damit stellt die Blockchain einen möglichen Baustein für eine Ökonomie nach dem Geld dar. Die zweite Phase eines medialen Wandels betrifft die Frage, wie eine geldlose Ökonomie entstehen und wodurch genau sie das Geld ablösen könnte. Die technische Entwicklung lässt hier viele Möglichkeiten offen. Wir haben es nicht mit einem fest bestimmten Weg zu tun, der deterministisch medialen Vorgaben folgt. Technologischer Fortschritt eröffnet Möglichkeiten für künftige Aktivitäten, im informationsökologischen Sinn „Affordances“. Sie werden in der Regel in einem chaotischen Prozess voller Widersprüche erschlossen. Was den Wandel vor anbringt, sind nicht Pläne oder Folgenabschätzungen, sondern im Gegenteil der Missbrauch der Möglichkeiten, die Gegenkultur, das Hacking und das Nutzen von Fehlern und Lücken. Das gilt auch für eine Ökonomie nach dem Geld. Wir werden sie nicht planen können. Sie wird in den Nischen und obskuren Ecken der Netzwerke aufkommen und sich von dort aus ausbreiten. […]
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Matching
Das Matching ist der wichtigste Vorgang in einer geldlosen Ökonomie. Es übernimmt Funktionen, die ansonsten durch Preise und am Markt gesteuert werden. „To match“ meint so viel wie Zuordnen, Zuweisen oder Verknüpfen. Da mit dem Vorgang aber weder eine „Ordnung“ noch eine „Weisung“ verbunden ist, trifft das englische Wort die Sache am besten. Der Matchingprozess dient dazu, bei einer Transaktion alle Beteiligten und deren Wünsche, Bedürfnisse, Möglichkeiten, Fähigkeiten und Angebote zusammenzubringen, um zwischen ihnen zu vermitteln, bei der Entscheidung beratend zur Seite zu stehen, die Verhandlungen zu begleiten und das Resultat zu notieren. Theorien von Algorithmen und Netzwerken bezeichnen mit Matching jede Zuordnung von Elementen zweier verschiedener Mengen. Bei diesen Elementen kann es sich in unserem Fall um Dinge oder Personen oder Ereignisse oder Zeitpunkte oder Orte oder Objekte aller Art handeln. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass Elemente derselben Menge miteinander gematcht werden, also etwa zwei Menschen bei der Vermittlung von Partnern, ein Team von Programmierern für die Entwicklung eines Projektes oder Lastwagen und Container für einen Transport. Formell gesehen vermittelt das Matching eine bedingte Gabe in einer netzwerkförmigen Umgebung. Das Ergebnis lässt sich als Differenz zwischen dem Vorher- und einem Nachher-Zustand beschreiben, wobei jede gematchte Transaktion Effekte über alle unmittelbar Beteiligten hinaus hat, wenn auch kleine. Die Umgebung umfasst alle Verbindungen und Informationen, die in das Matching eingehen, im Verlauf verarbeitet und beim Abschluss notiert werden. Dabei werden alle laufenden Entscheidungen berücksichtigt, sowohl von der Geben-Seite, der Nehmen-Seite als auch vom gegebenen Gut und betroffenen Dritten. Zu den Faktoren gehören vergleichbare Transaktionen, die Geschichte der Transaktion im Profil der Beteiligten sowie deren Wünsche, Bedürfnisse und Fähigkeiten. Das Matching verarbeitet alle diese Parameter, um eine oder mehrere mögliche Lösungen vorzuschlagen. Es tritt dabei nicht als Auktionator auf, sondern als Mediator. Das heißt, es ist nicht das Ziel, die beste Lösung zum idealen Preis zu berechnen und es dabei zu belassen, sondern es geht darum, zwischen einer Reihe von Interessen zu vermitteln. Das Matching skaliert dabei je nach Bedarf. Nicht alle Optionen müssen immer ausgeschöpft werden. Für Dinge des täglichen Gebrauchs wird es zur Formsache und nimmt dann weniger Zeit in Anspruch als heute das Bezahlen. Betrifft das Matching dagegen einen weiter reichenden politischen Prozess, erstreckt es sich auf all die Gremien, Behörden und Interessierten, die auch heute daran beteiligt wären, und wird sich daher ähnlich lang hinziehen. […]
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Das Matching macht auf dem Weg zur Entscheidung Vorschläge, zeigt Gelegenheiten und begleitet den Findungsprozess. Mag sein, der Algorithmus wird vorausschauend aktiv, bevor wir überhaupt daran denken, etwas Bestimmtes zu wollen. Manche Empfehlungs-Apps tun das heute schon, indem sie unsere Wünsche auswerten und vorausahnen. Ob wir diese Einflussnahme wollen oder nicht, ist vielleicht eine hypothetische Frage. Je mehr Vorteile sich die Leute von den Algorithmen versprechen, desto eher werden sie darauf zurückgreifen. Auf diese Weise entstehen sozial anerkannte Verhaltensmuster von selbst. Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit medialer Veränderungen sind an ihrer Basis nie einer sozialen Absicht unterstellt, sondern immer von technischen Eigendynamiken angetrieben. […] Von den Anwendern aus betrachtet, beginnen die meisten Matchingverfahren mit einem Wunsch oder einem Bedürfnis. Der Algorithmus schlägt daraufhin verschiedene Lösungen vor. Falls eine davon passt, werden die anderen Beteiligten, also etwa Produzenten, Anbieter, Erfinder, Maschinen oder Algorithmen, ange sprochen. Für den Fall, dass man sich einigt, wird die Transaktion durchgeführt und notiert. Der Impuls zum Matching kann von jeder der vier beteiligten Seiten ausgehen – also vom Interessierten, vom Anbieter, vom Produkt selbst oder auch vom Algorithmus. Die meisten Schritte eines Matchings sind uns im Grunde vertraut. Wir führen sie ständig aus, wenn wir etwa im Netz nach etwas suchen oder etwas selbst anbieten und verkaufen. Das Matchingverfahren umfasst ein ganzes Bündel an Funktionen rund um eine Transaktion. Ob uns diese Funktionen in einem einheitlichen Rahmen begegnen oder aufgespalten in eine Vielzahl von Apps, bleibt sich von der Seite der geldlosen Ökonomie her gleich. Der entscheidende Umstand liegt darin, dass das Matching nicht mehr mit Geld operiert, sondern Verteilung direkt organisiert. Das bedeutet auch, dass Transaktionen zwar notiert und gespeichert, aber nicht in festen Preisen bewertet und abgerechnet werden. Matching ist an sich nichts Neues. Auch innerhalb einer mit Geld operierenden Ökonomie findet es laufend statt. Wenn wir Dinge kaufen oder jemand uns für Arbeit bezahlt, werden ebenfalls Zuordnungen getroffen. Sie folgen nur anderen Regeln als in einer geldlosen Welt. Ohne Geld fällt das Selektionskriterium eines einfachen und eindimensionalen Wertes weg. Stattdessen steht eine ganze Reihe verschiedener Entscheidungsfaktoren zur Verfügung. Betrachten wir für einen Moment, wie Matching unter Geldbedingungen abläuft. Angenommen, wir gehen in einen Laden und kaufen etwas ein. Das Produkt hat in dem Moment bereits eine Geschichte hinter sich. Jemand hat es gestaltet, andere haben es hergestellt, der Laden hat es im Sortiment, weil mit Kunden wie
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uns zu rechnen war. Unserem Kauf gehen also etliche Entscheidungen voraus, die alle mit dem Austausch von Information verbunden sind. Bevor wir die Ware tatsächlich nehmen und bezahlen, führen wir eine mehr oder weniger intensive Beratung mit uns selbst durch, um Kosten, Guthaben, Wünsche und Bedarf abzuwägen. Dieses internalisierte Matching kann von Mensch zu Mensch und von Umständen zu Umständen sehr verschieden ablaufen. Manche müssen jeden Cent bedenken, andere sind davon weitgehend befreit. Auch in einer geldlosen Ökonomie werden nicht alle in jedem Fall von derartigen Abwägungen erlöst sein. Unerfüllte Wünsche wird es weiter geben, genauso unerfüllbare. Wir werden uns auch in einer Wirtschaft ohne Geld nicht alles beschaffen können, was uns unterm Geldregime verwehrt wird. Nur die Bedingungen und Abläufe werden sich ändern, und zwar gründlich und zum Besseren. Ob mit oder ohne Geld, unsere persönliche Entscheidung ist immer in einem weiteren Informationskreislauf eingebunden. Unser Kauf sendet die Information, dass mehr vom gleichen Gut benötigt wird. Sie bündelt sich mit ähnlichen Informationen beim Händler und erreicht von dort die Produzenten. Parallel zum Fluss des Geldes und der Zahlungen gibt es immer noch einen zweiten Strom von Information, der steuert, wie Produktionswege organisiert und Güter verteilt werden. Das Matching dockt direkt an diesen zweiten Informationsfluss an. […]
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Wert
Ohne Geld gibt es keine Preise, jedenfalls nicht in dem herkömmlichen Sinn, dass auf beiden Seiten einer symmetrischen Transaktion dieselbe Ziffer aufscheint. Die Abbildung von Werten auf einen einzigen allgemein gültigen Maßstab hat sich erledigt. Das bedeutet nicht, dass in einer datenbasierten algorithmischen Ökonomie ohne Zahlen gerechnet wird. Die Frage ist nur, was sie zählen und an welcher Stelle. Betrachten wir einen Moment, was Preise in der Geldwirtschaft meinen. Der Preis bildet idealerweise ab, auf was sich sämtliche an der Transaktion und an vergleichbaren Transaktionen Beteiligten geeinigt haben. Der abstrakte Ort dieser Einigung heißt Markt. Lokale Preise können vom Marktpreis abweichen, aber nicht zu sehr, sonst werden sie durch Arbitrage angeglichen. Werte dagegen gelten immer relational, also für jemand bestimmtes, zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort. Sprachlich findet dieses Verhältnis seinen Ausdruck, indem etwas einen Preis hat, aber einer Person soundso viel wert ist. Im Wert bilden sich Bedürfnisse, Wünsche, Erwartungen und Aufwand ab. Am Markt bilden sich Preise. Matching bezieht sich immer auf Werte.
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Der Matchingprozess hat als Input die Vielzahl unterschiedlicher Werte, die einer Transaktion von den verschiedenen Beteiligten her zugesprochen werden. Vergleichbar und verrechenbar werden sie nicht durch die Abbildung auf einen gemeinsamen Preis, sondern im Hinblick auf das Verhalten und die ökonomische Geschichte jeder und jedes Einzelnen.2 Am Ende steht nicht eine für alle verbindliche Summe, auf die man sich geeinigt hat, sondern die gemeinsame Entscheidung über eine Transaktion, also die Antwort auf eine Verteilungsfrage. Da Werte immer für jemand gelten, können sie eine Reichweite haben. Das heißt, sie gelten für eine bestimmte Gruppe von Personen und bezogen auf einen bestimmten Moment oder einen Ort. Den einen allgemeinen Wert eines Dinges oder eines Gutes gibt es nicht. Stattdessen können wir grob drei Wertbereiche unterscheiden, die jeweils unterschiedliche Reichweiten repräsentieren. Im kleinsten Radius, dem Mikrobereich, findet die Bewertung einer Transaktion in einer ganz bestimmten Situation und für eine bestimmte Person statt. Diese Art von Wert entspricht am ehesten unserer persönlichen Erfahrung und unserem alltäglichen Verhalten. Individuell und situativ bezieht sich dieser Wert auf unsere persönliche Stimmung und die augenblicklichen Befindlichkeiten. Diese alltägliche Form der individuellen Bewertung wird unter dem Regime des Geldes durch einen messbaren allgemeinen Wert überschrieben. Dessen Allgemeinheit ist allerdings eingeschränkt und nicht allumfassend. Gegenüber der Mikrodimension momentaner persönlicher Bewertung bildet die zweite Art von Bewertung eine mittlere Reichweite ab. Sie umfasst weder die Gesamtheit noch das Singuläre, sondern eine begrenzte Umgebung vergleichbarer und verknüpfter Transaktionen. Diese Bewertung ist damit am ehesten unserem Preis zu vergleichen, wie er sich am Markt bildet. Über den mittleren Wertbereich hinaus lässt sich für die größte mögliche Reichweite eine Gesamtbewertung konstruieren, die sämtliche Externalitäten und künftigen Folgen miteinbezieht, also im Ideal den gesamten Globus für eine beliebig ausgedehnte Dauer. Damit entsteht ein Wert im Makrobereich größtmöglicher Nachhaltigkeit. Wir finden derartige Bewertungen heute etwa bei den Forderungen der Klimaschützer, die langfristigen Auswirkungen unserer Ökonomie stärker zu berücksichtigen. Den verschiedenen Wertbereichen begegnen wir alltäglich. Nehmen wir etwa das Beispiel einer Reise. Angenommen, ich würde gerne einen Freund besuchen, ohne dass es damit eine besondere Dringlichkeit hat. Wenn der Preis für den Flug 2
Hier ergibt sich eine Verbindung zur Philosophie des Inferentialismus, die ebenfalls die Repräsentation – in unserem Fall über Geld oder Preis – durch ein Gefüge von Relationen ersetzt, vgl. etwa Robert Brandom (2000, S. 15): „For the content of each concept is articulated by its inferential relations to other concepts.“
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an einem mir gelegenen Termin weit genug fällt, nutze ich die Gelegenheit und kaufe das Ticket, sobald mein persönlicher Mikrowert den Marktwert übersteigt. Müsste ich allerdings den „Nachhaltigkeits“-Wert mit einkalkulieren, würde ich wohl eher auf die Reise verzichten oder ein anderes Verkehrsmittel wählen. In einer geldlosen Ökonomie können alle diese drei Wertbereiche in das Matching mit einfließen. Nicht in Form einer Gutmenschen-Geschmackskontrolle – „ihr sollt jetzt alle nachhaltigkeitshalber heute keine Lust auf Fleisch haben“ –, sondern frei vermittelt, sodass also immer die Wahl „ist mir Wurst“ bleibt. Der Unterschied zu heute läge vermutlich darin, dass der Makrowert nicht mehr wie derzeit üblich erst einmal ignoriert wird. Tatsächlich ist die Entscheidung, wie der Matchingalgorithmus mit den Bewertungen umgeht, eine politische, da sie zwischen persönlicher Freiheit und allgemeinem Interesse vermittelt. Das betrifft den Umgang mit den drei Wertbereichen zentral, denn sie entsprechen einer politischen Entscheidung über das Verhältnis der Wertskalen. […]
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Tun statt Arbeit
Kaum ein Begriff wird so verworren gebraucht wie der der „Arbeit“. Das beginnt mit den „Arbeitern“, die heute „Arbeitnehmer“ heißen, als würden sie etwas nehmen. Ihnen gegenüber stehen sogenannte „Arbeitgeber“, die ihnen etwas „geben“, als handele es sich um einen barmherzigen Gnadenakt. Tatsächlich geben die Arbeiter ihre Arbeit den Unternehmen, und diese geben ihnen dafür Geld. Zu der verdrehten politisch-ökonomischen Rhetorik gehört auch das Gerede vom „Schaffen von Arbeitsplätzen“. Wann immer davon die Rede ist, geht es so gut wie nie um das Wohlergehen der Arbeiter, sondern meistens um die Förderung von Unternehmen und die Verbesserung von Investitions-, sprich: Profit-Bedingungen. Dem Neusprech von Investoren und Politik steht ein Altsprech auf Seiten der Linken gegenüber, das kaum weniger obskur daherkommt. „Arbeit“ dient als politischer Kampfbegriff. Sie ist fest mit Ausbeutung, Herrschaft, Zwang und Erniedrigung verbunden. Die Aufteilung der Welt in ausgebeutete Arbeiter und den Mehrwert abziehende Ausbeuter beschränkt sich auf ein simples Schema von Gut und Böse. Dem ewigen Klassenkampf liegt dieser moralische Begriff der Arbeit zugrunde. Er besetzt damit eine ideologisch unverzichtbare Stelle. Nahezu dogmatisch gilt: Wer arbeitet, muss leiden. Arbeit als Passionsgeschichte ruft ein urchristliches Motiv auf. Wer dagegen wagt, Gefallen an seiner Arbeit zu finden, macht sich als Häretiker verdächtig.
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Die verquere politische Rhetorik der Arbeit erstreckt sich über die Gegenwart hinaus auch auf die Zukunft. Künstliche Intelligenzen, Algorithmen und Roboter werden uns unsere Arbeit wegnehmen, heißt es. Laufend kommen neue Listen bedrohter Berufe auf. Als wären automatisierbare Tätigkeiten etwas, das wir vor den Maschinen retten müssten. Aber brauchen wir wirklich den Beruf des Lastwagenfahrers ? Was ist mit der Wäscherin, die die Kleider von Hand im Fluss wäscht und deren Beruf von der Waschmaschine vernichtet wurde ? Warum nicht zurück zu den menschlichen „Computern“, vornehmlich Frauen, die einst in Großraumbüros von Hand Berechnungen durchführten ? Es macht keinen Sinn, den Maschinen automatisierbare Arbeiten zu verwehren, nur damit Menschen ihre Jobs – meistens miserable dazu – behalten können. Das Problem liegt nicht in der Ausbreitung der Maschinenarbeit, sondern in der Unfähigkeit des ökonomischen Regimes, den Nutzen der Automatisierung gerecht zu verteilen. Seit der Erfindung der ersten Werkzeuge haben Menschen immer mit Technologien zusammengearbeitet und an deren Rändern neue Aufgaben gefunden. Das wird sich bei den sogenannten intelligenten Maschinen nicht ändern. Welche Arbeiten in Zukunft von Maschinen und Bots übernommen werden, ist in einer geldlosen Ökonomie unerheblich. Für jede Aufgabe, die wir einem Automaten überlassen, entstehen in dessen Umfeld wieder neue Tätigkeiten. Die Vorstellung, dass Maschinen uns Arbeit wegnehmen, beruht auf einem Fehlschluss vom einzelnen Ereignis auf eine künftige wirtschaftliche Gesamtheit. Würden sämtliche Aufgaben automatisiert und alle Arbeiter entlassen, hätten wir am Ende eine Armee von Robotern, die zwar alles anbieten, aber für nichts Abnehmer finden, da niemand genug verdient, um es sich zu leisten. Das wird so nicht eintreffen. Nicht einmal die Spirale der Entwertung von Arbeit, wie sie die Übergangsphase kennzeichnet, kann sich endlos weiterdrehen, ohne auf den Widerspruch einer Welt zu treffen, in der es alles gibt, aber niemand etwas hat. Derzeit bilden sich zwei Kategorien von Arbeit heraus, unter der Maschine oder über der Maschine. Im ersten Fall arbeiten wir den Maschinen zu und treten mit ihnen in einen fatalen Wettbewerb. Der Lohn dafür konkurriert mit den Kosten der Maschinen und reicht daher nicht zum Leben. Die Lösung, Menschen zu subventionieren, etwa über ein sogenanntes Grundeinkommen, würde nur dazu führen, sie weiter zu unterbezahlten Arbeiten zu nötigen, die eigentlich Maschinen erledigen könnten. Im anderen Fall, der Arbeit über der Maschine, dürfen die Menschen, die die Maschinen steuern, Teil der schrumpfenden Mittelklasse bleiben. Diener sind diese Arbeiter ebenfalls, nur eben der Investoren.
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Das Eigentum der Produktionsmittel, das im klassisch industriellen Schema die Macht über die Maschinen und damit die Arbeit gebracht hat, wird unter den Bedingungen globaler Netzwerke von einem anderen Privileg abgelöst. In der neuen digitalen Ökonomie treten die Plattformen an die Stelle der Produktionsmittel. Da dem Netzwerkgesetz zufolge das größte Netzwerk immer das attraktivste ist, bildet sich für jede Funktion ein Monopol, immer auf eine Aufgabe beschränkt – Suchmaschinen, Verkaufsplattformen, Freundeskreise, Bilderzirkel. Der größte Anteil an den Gewinnen fällt den großen Netzwerken zu. An deren Monopolen wird der Verzicht auf das Geld wenig ändern. Diese Frage muss anders gelöst werden. Aber selbst wenn der tendenziell monopolistische Charakter unter den Bedingungen einer geldlosen Ökonomie erhalten bliebe, würden doch die Gewinne mangels Geld nicht mehr im selben Maß anfallen. In einer geldlosen Ökonomie tritt an die Stelle der klassischen Arbeit eine andere Aufteilung unserer Tätigkeiten. Arbeit ist von dort aus gesehen nichts anderes als eine historisch durch die Industrialisierung hervorgebrachte Organisa tionsform menschlichen Tuns, und zwar unter Geldbedingungen. Um künftige „Arbeit“ zu untersuchen, müssen wir beim abstrakten Oberbegriff des „Tuns“ im Allgemeinen ansetzen. Wir tun die meiste Zeit etwas. Was unsere Tätigkeiten betrifft, genügt es fürs Erste, zwei Arten des Tuns zu unterscheiden, relationale und nicht-relationale. Ob etwas, das wir tun, relational wird oder nicht, hängt von den anderen Nutzern ab, nicht von uns selbst. Einfach irgendetwas zu tun heißt noch lange nicht, dass dieses Tun auch einen Wert bekommt. Erst im Gebrauch durch andere erweist sich eine Tätigkeit als relational und sinnvoll. Die Relationen haben dieselbe Struktur wie Links. Sie zeigen auf etwas, und darin liegt schon eine Bestätigung. Wenn jemand auf einen Link klickt, ist damit eine Art von Wert der Information bereits anerkannt. Wenn etwas gebraucht, weitergeleitet oder verwertet wird, stellt sich eine Relation her. Erst diese Relation gibt dem Tun einen Wert. Welche Beziehung unser Tun hat, bestimmt dessen ökonomische Position. Wenn viele Leute eine Nachricht lesen, beziehen sie sich darauf. Dadurch gewinnt die Nachricht Wert, aber auch die Lektüre als eine Form der Wertschöpfung. Es ist erst die erfolgreiche Relation, die eine Tätigkeit in ein ökonomisches Verhältnis bringt. Wie lässt sich eine solche relationale Tätigkeit bewerten ? Hier gilt analog das, was unter dem Stichwort „Wert“ gesagt wurde. Die Position und der Vektor in einem Netzwerk machen den Wert aus. Das gilt gleichermaßen für Dinge, Informationen oder Tätigkeiten. […]
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Dinge und Daten
Viele Dinge sind bereits von Daten umgeben. Das betrifft nicht nur Informationen über die Dinge, sondern auch Dinge, die durch Daten miteinander reden und über ihre Umwelt Bescheid wissen. Die Zeit der gedankenlosen Objekte nähert sich ihrem Ende. Das hat eine Reihe von Konsequenzen, sowohl für den ökonomischen Status der Dinge als auch für den philosophischen. Als Ding gilt hier jedes Objekt im Sinn objektorientierter Programmiersprachen – also nicht nur materielle Dinge, sondern auch Ereignisse, Lebewesen, Schnittstellen, Archive, Daten (ja, es gibt auch Daten über Daten) oder auch Protokolle und Verbindungen. Der Begriff „Ding“ passt besser als der des „Objekts“, da Ob-jekt direkt übersetzt Gegen-stand meint, also etwas uns Gegenüberstehendes. Die Dinge aber gibt es ohne uns. Das ist ein entscheidender Punkt, wenn es um denkende Dinge geht. Handelnde Dinge erzeugen eine Wirklichkeit, die unsere klassische sprach orientierte Epistemologie herausfordert. Der Mensch verliert das alleinige Privileg, die Welt zu erkennen und in ihr zu wirken. Manche der denkenden Dinge werden uns noch Auskunft über ihre Wirklichkeit geben, andere tun einfach, was sie für richtig halten. Indem sie handeln, nehmen sie an der Ökonomie teil. Sie werden damit zu Akteuren im Wirtschaftsleben, nicht unbedingt gleichberechtigt und mit eigenem Parlament, sondern dingbezogen mit den ihrer Wirklichkeit angemessenen Rechten. Die Dinge werden klug werden, also nicht mehr nur einfach mehr wissen als wir selbst, sondern auch miteinander reden und aus den durch Kommunikation und Handeln bezogenen Kenntnissen ihre Schlüsse ziehen. Ihr Handeln und ihre Entscheidungen könnten uns helfen, die im Geld eingeschriebene Warenform zu überwinden. Statt dem Produktcharakter, der uns heute als so wichtig erscheint, treten die Prozesse und Tätigkeiten hinter den Dingen hervor. Programmtechnisch gesagt: Die Funktionen werden wichtiger als der Datentyp. In philosophischer Hinsicht treten Prozesse an die Stelle des Seienden, Funktionalismus statt Ontologie. Es interessiert nicht, was etwas ist, sondern was es tut. Mag sein, es handelt sich dabei um eine vage theoretische Hoffnung, aber an manchen Stellen lässt sich der Wandel bereits beobachten. Im Umgang mit Datenobjekten kehren sich einige Grundannahmen der bisherigen Ökonomie um. Daten lassen sich beliebig oft und ohne Kosten kopieren. Aufwand fällt also nur bei der Herstellung an, egal ob es sich um einen Film, ein Buch oder ein Stück Musik handelt. Reproduktion und Distribution sind umsonst. Davon waren zuerst kulturelle Dinge betroffen, insofern sie aus Daten bestehen und weder ein bestimmtes Material noch die Präsenz von etwas oder jemandem erfordern.
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Um das herkömmliche, auf materieller Reproduktion beruhende Vermarktungsmodell nicht zu verlieren, wurde zuerst der freie Zugang zu den Daten verstellt. Eine ganze Reihe von technisch vollkommen angemessenen Zugriffsformen – Download, Streaming etc. – wurde kriminalisiert, um die Knappheit der vordigitalen Waren künstlich zu erhalten. Mittlerweile setzen sich Plattformen durch, die gegen eine monatliche Gebühr einen vereinfachten Zugriff erlauben. Um ihren Service verkaufen zu können, sind sie nach wie vor darauf angewiesen, die freie Weitergabe wenigstens zu erschweren. Das Paradox liegt darin, dass der einzig sinnvolle Gebrauch von Kultur, nämlich die Rezeption, nicht schon selbst als wertschöpfend gilt. Dabei liegt der eigentliche Sinn eines Textes darin, gelesen zu werden, einer Musik, gehört zu werden, und eines Kunstwerks, gesehen oder sonst wie wahrgenommen zu werden. Der geldförmige Umgang mit Kultur nötigt uns geradezu dazu, Kulturprodukte gegen ihren eigentlichen Zweck zu behandeln. In einer geldlosen Ökonomie kehrt sich dieses Verhältnis um. Ein Werk wird dann umso wichtiger und erhält umso mehr Wert zugesprochen, je öfter es „gebraucht“ wird. […]
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Der Übergang
Es braucht keine Revolution, um das Geld loszuwerden. Vermutlich geschieht es von allein. Vielleicht werden wir den Übergang zuerst nicht einmal bemerken. Schon heute spricht viel dafür, dass der Wandel bereits im Gang ist. Wir sehen es nur nicht, weil wir noch nicht begriffen haben, was im Kommen ist. Dass ein Umbruch und die Begriffe, in denen er beschrieben wird, zeitlich auseinanderfallen, ist nicht weiter ungewöhnlich. Erst ändert sich etwas und nur viel später, wenn wir beginnen zu verstehen, was geschehen ist, finden wir dafür die richtigen Worte. Im Kapitel über Medien war von den zwei Phasen eines Medienwandels die Rede, eine erste Phase, in der alte Praktiken in neuen Medien imitiert werden, und eine zweite Phase, in der sich eigene Ästhetiken und Formate herausbilden. Diese zwei Phasen betreffen auch die Begriffe, in denen wir unsere Umwelt und deren Wandlungen beschreiben und beobachten. In der ersten Phase bleibt es bei den alten Begriffen. Neue Technologien und ihre Erscheinungsformen werden in Metaphern der Überforderung beschrieben, als „Flut“, als „Risiko“, als „Herausforderung“. Das Vokabular benennt das Neue nicht, sondern bildet es als Gefahr auf das ab, was wir schon kennen. Die Haltung bleibt abwehrend, defensiv, skeptisch und furchtsam.
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Die zweite Phase bringt eine Reihe von Begriffen hervor, in denen die neuen Praktiken ihre eigene Beschreibung erfinden, ohne aber zu den vorherigen Betrachtungsweisen vermitteln zu können oder ein größeres historisches Verständnis der Zusammenhänge zu schaffen. In den letzten Jahrzehnten hat sich für das Markieren eines Wandels die Vorsilbe „post-“ eingebürgert, obwohl damit nichts weiter als das Fehlen eines adäquaten Begriffs ausgesagt wird. Die gültige Beschreibung des Wandels bildet sich erst am Ende der zweiten Phase heraus, nämlich dann, wenn man von einer etablierten neuen Praxis aus rückblickend den Lauf der Dinge betrachtet. Was als Wahrheit gilt, entscheidet sich nicht daran, ob es zutrifft, sondern ob es von der richtigen Seite der Geschichte her gesagt wird. Die Vergangenheit muss immer wieder erfunden werden. Erst im Nachhinein berichtet die gültige Erzählung aus der Perspektive, die sich durchgesetzt hat, also im Sinn der dominierenden sozialen Praxis in einem medial und technisch determinierten Feld. Derzeit befinden wir uns in der ersten Phase des Übergangs, mit Aussicht auf Phase zwei. Noch müssen die Sprache und die Begrifflichkeit erst erfunden werden, um später zu beschreiben, was heute vor sich geht. Alles, was jetzt gesagt wird, wird sich daher im Nachhinein als fehlerhaft, obskur, romantisch entrückt oder verschroben lesen. Genau das aber macht den Reiz der Spekulation aus. Es bleibt uns daher fürs Erste keine andere Wahl, als in diesen hermeneutischen Kreisverkehr gegen Fahrrichtung einzubiegen. Am deutlichsten sehen wir die Anzeichen der Ablösung des Geldes heute im Verhältnis von Daten zu Preisen. Je genauer die Daten sind, über die wir verfügen, desto unwichtiger wird das Signal der Preise und die Information, die sie überhaupt noch generieren. […] Dass wir uns schon mitten im Übergang zu einer non-monetären Ökonomie befinden, sehen wir nicht, weil wir unseren ökonomischen Alltag noch nicht anders als im Medium Geld wahrnehmen können. Es gibt Praktiken, die in der Hinsicht weiter sind, Freundeskreise in Social-Media-Plattformen oder Clans in Computerspielen, aber auch sie ahnen noch kaum, dass sie auf dem Weg zur Abschaffung des Geldes sind.
Literatur Brandom, Robert (2000). Articulating Reasons. An Introduction to Inferentialism. Cambridge: Harvard University Press.
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Das Geld und die digitalen Medien Jasmin Kathöfer & Jens Schröter
Wenn man über eine Gesellschaft nach dem Geld spricht, gibt es gute Gründe, diese Frage mit jener nach digitalen Technologien bzw. – insofern solche Technologien immer informationsverarbeitende Systeme sind – mit digitalen Medien in Zusammenhang zu bringen. So wird schon seit längerer Zeit darüber diskutiert, ob die programmierbaren (und daher ‚smarten‘) digitalen Medientechnologien nicht in Konflikt mit der kapitalistischen Form der Gesellschaft geraten könnten. Es wird beispielsweise debattiert, ob die digitalen Produkte überhaupt noch Warenform annehmen können (vgl. Lohoff 2007; Meretz 2007) – und die (jedenfalls vorübergehenden) krisenhaften Erscheinungen der Musikindustrie scheinen das zu bestätigen. Auch wird diskutiert, ob die technologischen ‚Revolutionen‘ der Robotik, der KI, des Internets der Dinge etc. nicht in einer ‚Industrie 4.0‘ münden, in der (historisch erstmals) so viel Arbeit obsolet gemacht wird, dass eine Aufrechterhaltung der Arbeitsgesellschaft unmöglich wird.1 Es scheint, als ob man bei digitalen Technologien „an den Marx’schen Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erinnert“ (Winkler 2004, S. 29) würde.2 Die Probleme der Passung digitaler Medien zu einer auf Warentausch, Lohnarbeit und damit auf Geld basierenden Gesellschaft weisen darauf hin, dass hier möglicherweise ein technologischer Umbruch auftaucht, der einen gesellschaftlichen Umbruch sicher nicht deterministisch nach sich zieht, aber doch vielleicht 1
Das ist jedenfalls ein Standardargument z. B. der wertkritischen Diskussion, siehe z. B. Lohoff und Trenkle (2012, S. 79 – 90). Siehe auch den Literaturbericht bei Schröter (im Druck). 2 Dieser Konflikt zwischen digitalen Technologien und der kapitalistischen Form der Gesellschaft wirft letztlich verwirrende technik- und medienhistorische Fragen auf: Wieso können Technologien, die im Kapitalismus entstanden sind, am Ende mit ihm in Konflikt geraten ? Weist das nicht auf eine Grenze aller sozialen Konstruktion von Technologie hin ? Schwierige Fragen, die wie hier nicht weiterverfolgen können.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 P. Die Gesellschaft nach dem Geld (Hrsg.), Postmonetär denken, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21706-8_14
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erstens notwendig macht. Allerdings sagt das noch nicht zwingend etwas darüber aus, ob digitale Medien einen solchen Umbruch auch selbst zweitens möglich machen. Die Frage ist: Können digitale Medien genutzt werden, um alternative – sagen wir – Strukturen oder Mechanismen aufzubauen, die jene Koordinationsleistungen ersetzen, die gegenwärtig Geld und Markt erbringen ? – Was nicht heißen kann, sie einfach zu verdoppeln, denn das wäre sinnlos. Daher sind im Übrigen manche als Alternative betrachteten Phänomene wie Bitcoin und andere Crypto currencies eben keine Alternativen, schlicht, weil Bitcoins bei allen Differenzen immer noch Geld sind (vgl. Golumbia 2015; Ortlieb 2014). Der Einwand, dass man einfach keinen Ersatz für die Koordinationsmechanismen brauche, weil alle Koordination in direkter (verbaler ?) Kommunikation stattfinden könne, ist keine realistische Antwort – abgesehen davon, dass dann die direkte (verbale ?) Kommunikation der Ersatz wäre (s. u.). Um uns der Frage nach alternativen Koordinationsformen anzunähern, sei an dieser Stelle Friedrich August von Hayek diskutiert.
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Hayeks Theorie des Marktes als eines Mediums
Warum ausgerechnet Hayek, erzliberaler und unermüdlicher Verteidiger des Marktes ? Hayek hat die Koordinationsleistung des Marktes in Begriffen des Wissens beschrieben. Die besondere Leistung des Marktes sei es, eine Art Medium zu sein, welches das disperse Wissen der Gesellschaftsmitglieder aktualisieren und koordinieren kann: „Auf welchen verschiedentlichen Wegen das Wissen, auf das die Menschen ihre Pläne gründen, zu ihnen gelangt, ist das entscheidende Problem für jede Theorie, die den Wirtschaftsprozeß erklären soll.“ (Hayek 2007a, S. 58)3 Doch niemand hat dieses Wissen in Gänze vorliegen, es ist verteilt. Zudem ist es situiert, wie Hayek unausgesetzt betont, bzw. genauer: Er differenziert zwischen verschiedenen Formen des Wissens – grob kann zwischen globalem, universellem Wissen, wie etwa naturwissenschaftlichem Wissen, und dem lokalen, situierten Wissen, das für die Durchführung ökonomischer Operationen erforderlich ist, unterschieden werden.4 Hayek kritisiert insbesondere, dass das Modell des wissenschaftlichen Wissens auf ökonomische Prozesse projiziert worden ist und so die fälschliche Vorstellung entstand, man könnte dieses Wissen gleichsam
3 Es gibt eine breite Literatur zur historischen Entwicklung von Hayeks Position im Rahmen der sogenannten ‚sozialistischen Kalkulationsdebatte‘, siehe dazu exemplarisch Vaughn (1980) und Caldwell (1997). 4 Deswegen spricht Burczak (2006, S. 17 – 37) auch von Hayeks ‚postmoderner Ökonomik‘.
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transparent an einem Ort zusammenziehen. Das ist Hayeks fundamentales Argument gegen jede Form zentraler Wirtschaftsplanung. Er betont: „Wenn wir darüber einig sind, daß das wirtschaftliche Problem der Gesellschaft hauptsächlich ein Problem der raschen Anpassung an die Veränderungen in den besonderen Umständen von Zeit und Ort ist, so scheint daraus zu folgen, daß die Entscheidungen schließlich den Leuten überlassen werden müssen, die mit diesen Umständen vertraut sind, die unmittelbar von den relevanten Veränderungen und von den sofort verfügbaren Mitteln wissen, die die Anpassung erfordert. Wir können nicht erwarten, daß diese Probleme dadurch gelöst werden können, daß zuerst all diese Kenntnis einer zentralen Behörde mitgeteilt wird, die, nachdem sie alles Wissen zusammengefaßt hat, ihre Anordnungen trifft. Sie müssen durch irgend eine [sic] Form der Dezentralisation gelöst werden. Aber das beantwortet nur einen Teil unseres Problems. Wir brauchen Dezentralisation, weil wir nur so erreichen können, daß die Kenntnis der besonderen Umstände von Zeit und Ort sofort ausgenützt wird. Aber der ‚Mann vor Ort‘ kann nicht allein auf der Grundlage seiner beschränkten aber detaillierten Kenntnis der Tatsachen seiner unmittelbaren Umgebung entscheiden. Es bleibt noch das Problem, ihm jene weitere Information zu vermitteln, die er braucht, um seine Entscheidungen an die Veränderungsmuster der Gesamtwirtschaft anzupassen.“ (Ebd., S. 63; Hervorhebung J. K. & J. S.)
Diese ‚Vermittlung von Information‘ – was nun schon sehr nach einem medialen Prozess klingt, man denke nur daran, dass z. B. Friedrich Kittler (1993, S. 8) Medien als Technologien der Speicherung, Prozessierung und Vermittlung von Information definiert hatte – geschieht nach Hayek eben über das Preissystem: „Wir müssen das Preissystem als einen solchen Mechanismus zur Vermittlung von Informationen ansehen.“ (Hayek 2007a, S. 65)5 Die Preise, ausgedrückt im Medium Geld, das gegen die Waren getauscht wird, signalisieren Produktionsnotwendigkeiten, Knappheit etc.6 Der erste Grund, warum sich unser Projekt mit Hayek auseinandersetzen muss, ist, dass eine Gesellschaft nach dem Geld einen anderen Mechanismus der Koordination angeben können muss. Und zwar einen, der nicht in demselben Maße oder gar nicht anfällig für die Probleme der geldzentrierten Koordination ist – also etwa der selbstzweckhaften Akkumulation von Geld-Zeichen mit möglichen Folgen wie der Destruktion der Umwelt oder der zunehmen5 6
Vgl. auch Lavoie (1990, S. 74): „[T]he price system is a crucial knowledge medium.“ Vgl. Lavoie (ebd., S. 73): „Economists largely agree that the price system is a vital source of information for decision making. Scarce resources, by which economists mean anything that is not so abundant as tobe a free good, need to be allocated in regard to their relative scarcity, and this is at least approximately gauged quantitatively in money prices.“
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den Überflüssigmachung der Menschen für den Produktionsprozess und daraus resultierenden schweren ökonomischen Störungen. Denn man kann aus medien theoretischer Sicht kritisch anmerken, dass Hayek den ‚Preismechanismus‘ als transparentes Medium des verteilten und situierten Wissens begreift, ohne eine Eigendynamik des Mediums anzunehmen.7 Die Idee, dass das Medium zum eigentlichen Zentrum der ganzen Veranstaltung werden könnte, scheint Hayek fremd zu sein. Für Hayek ist Geld tatsächlich und im Wortsinne ein, wie Marx sehr kritisch über ‚die Ökonomen‘ anmerkt, „pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel“ (Marx 1972 [1859], S. 36).8 Marxianische, z. B. wertkritische, Ansätze hingegen insistieren in Anschluss an Marx’ enigmatische Formulierung vom Kapital als ‚automatischem Subjekt‘9 auf der Eigendynamik des im Geld verkörperten Werts. Dass es bei Hayek ganz zentral um mediale Fragen geht, wurde insbesondere auch während und nach der sogenannten ‚sozialistischen Kalkulationsdebatte‘ zwischen Mises, Hayek und ihren Kritikern deutlich. So bemerkte z. B. Oskar Lange (1972, S. 402) später: „The market process with its cumbersome tatonnements appears old-fashioned. Indeed, it may be considered as a computing device of the pre-electronic age.“10 Wenn also der Markt und sein Preissystem eine Art digitales Medium sind (insofern Preise digital sind – sie kennen kein Kontinuum, sondern nur diskrete Abstufungen), was bedeutet dann das Auftauchen digitaler Medien im engeren Sinne ? Könnte das Preissystem durch diese digitalen Medien nicht nur, wie bislang diskutiert, gestört, sondern womöglich im positiven Sinne ersetzt werden ? Lange scheint das zu suggerieren: Wie später Peters (2000) oder Cockshott und Cottrell (1993, 1997) behauptet er, dass mit den modernen Com7 Man müsste hierzu ausführlicher Hayeks Konzeption des Preissignals mit der These der Neutralität des Geldes, wie sie in eher neoklassischen Traditionen vorherrscht, in Verbindung bringen. 8 Vgl. Marx (1972 [1859], S. 36): „In andern Worten, unter dem Vorwand, den einfachen Tauschhandel zu betrachten, veranschaulichen sich die Ökonomen gewisse Seiten des Widerspruchs, den das Dasein der Ware als unmittelbare Einheit von Gebrauchswert und Tauschwert einhüllt. Andrerseits halten sie dann konsequent am Tauschhandel als adäquater Form des Austauschprozesses der Waren fest, der nur mit gewissen technischen Unbequemlichkeiten verknüpft sei, wofür Geld ein pfiffig ausgedachtes Auskunftsmittel. Von diesem ganz flachen Standpunkt aus hat ein geistreicher englischer Ökonom daher richtig behauptet, Geld sei ein bloß materielles Instrument, wie ein Schiff oder eine Dampfmaschine, aber nicht die Darstellung eines gesellschaftlichen Produktionsverhältnisses und folglich keine ökonomische Kategorie.“ Siehe dazu auch die Diskussion über Medialität und Warenform des Geldes im Trialog zwischen Lohoff, Pahl und Schröter in diesem Band. 9 Diese Formulierung findet sich in Marx (1974 [1890], S. 169). Vgl. dazu Kurz (2004). 10 Vgl. auch Lange (1972, S. 402): „In other words, the market may be considered as a computer sui generis which serves to solve a system of simultaneous equations. It operates like an analogue machine: a servo-mechanism based on the feedback principle. The market may be considered as one of the oldest historical devices for solving simultaneous equations.“
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putern nun doch eine Art zentraler Wirtschaftsplanung möglich sei (dabei behalten etwa Cockshott und Cottrell geldähnliche, aber nicht akkumulierbare Arbeitszeitbescheinigungen bei).11 Lavoie (1990, S. 75) nennt das ‚computopia‘12: „[A]n image of an economy being centrally planned by a massive computer. […] Do the undeniably rapid advances in computer science suggest that even if this computopia is farfetched now, it might become a realistic alternative in the future ?“ Allerdings dreht sich die ganze Debatte immer um die Frage Markt versus zentrale Planung, was die (früher) paradigmatische Rolle zentraler Mainframes unterstreicht. Doch schon bei Hayek (2007a, S. 59) hieß es interessanterweise: „Der Streitpunkt ist nicht, ob geplant werden soll oder nicht; sondern ob die Planung zentral von einer Behörde für das ganze Wirtschaftssystem geschehen soll, oder ob sie unter viele Individuen aufgeteilt werden soll. Planen in dem speziellen Sinn, in dem es in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen gebraucht wird, bedeutet notwendigerweise zentrale Planung – Leitung des ganzen Wirtschaftssystems nach einem einheitlichen Plan. Konkurrenzwirtschaft andererseits bedeutet dezentralisiertes Planen durch viele getrennte Personen.“
Das heißt, die Marktordnung ist eine Art dezentrale Planung, und um als solche zu funktionieren, muss ein System von Vermittlungen etabliert werden, das den Austausch des Wissens ermöglicht (wobei es mitnichten einleuchtet, warum eine dezentrale Planung unbedingt über Konkurrenz stattfinden muss, ein wichtiger Punkt, auf den zurückzukommen sein wird). Lavoie (1990) weist darauf hin, dass man ‚Markt‘ auf drei verschiedene Weisen verstehen kann, von denen wir eine, Markt als Motivator von Leistung, jetzt einmal ausklammern. Er differenziert im eben diskutierten Sinne Markt als eine Art Computer vom Verständnis des Marktes (nach Hayek) als einer Art Kommunikationssystem. Dass Hayek (2007a, S. 66) das „Preissystem als eine Art von Maschinerie zur Registrierung von Veränderungen bezeichnet, oder als ein System von Fernvermittlung“ benannt hat, was etwa an das Telefonnetz erinnert, unterstreicht dies. Nochmal Lavoie (1990, S. 78) zum Markt als Kommunikationssystem: „There is thus a bidirectional communicative process that produces a kind of social intelligence that depends on but goes beyond, the individual intelligences of the system’s participants.“ Hier taucht somit ein ganz anderes mediales Muster auf: nicht mehr ein zentraler Rechner, ein Computer als Rechenmaschine, sondern – denn der ‚bidirectional communicative process‘ erinnert natürlich nicht nur ans Telefonnetz – vernetzte Computer. Spätestens seit Lickliders und Taylors legendärem Text von 1968 – The Computer as a 11 Siehe dazu auch den Beitrag von Fleissner in diesem Band. 12 Zu Computerutopien siehe auch den Beitrag von Schlemm in diesem Band.
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Communication Device –, in dem sie explizit die Möglichkeit diskutieren, mit vernetzten Computern ‚distributed intellectual ressources‘ zu koordinieren, löst das Leitbild des Computers als Kommunikationsmedium jenes des Computers als Rechenmaschine ab. So taucht die Frage auf, ob der so wichtige ‚bidirectional communicative process‘ (oder sogar ‚multidirectional‘) unbedingt durch in Geld ausgedrückte Preissignale stattfinden muss. Oder nochmal Lavoie (1990, S. 74) zum Markt: „What is crucial to its cognitive function, however, is that it provides a discovery process that by its very nature cannot be centrally directed but depends on a bidirectional communicative interplay between its participants.“ Die unaufhörliche Abwehr zentralisierter zugunsten verteilter Strukturen erinnert stark an die Diskussion in den 1960er Jahren über die Vorzüge verteilter Computernetze – da diese anders als zentralisierte Strukturen gegenüber Militärschlägen nicht so anfällig seien. Jedenfalls klingt folgende Beschreibung des Markts durch Hayek (2007a, S. 65) schon sehr nach einem Netzwerk: „Das ganze funktioniert als ein Markt, nicht weil irgend eines seiner Mitglieder das ganze Feld überblickt, sondern weil der begrenzte Gesichtskreis des Einzelnen den der anderen genügend überschneidet, so daß durch viele Zwischenglieder die relevante Information allen übermittelt wird.“ Spätestens jetzt kann man fragen, ob jenseits der Alternativen: 1) Markt (= dezentrale Planung mit Geld bzw. Preissystem als ‚System von Fernvermittlung‘) und 2) Staatsplanung (= zentrale Planung mit zentralem Rechner; je nach Ansatz noch mit Geld, gelegentlich aber auch ohne Geld konzipiert) nicht eine dritte Alternative denkbar ist: nämlich 3) eine dezentrale Planung, in der das ‚System von Fernvermittlung‘ nicht über Preissignale, sondern über andere Kommunikationsformen hergestellt wird: z. B. vernetzte Computer (das ähnelt offensichtlich der Fragestellung marxianischer Kritik, die indirekte Vermittlung durch Tausch an Märkten durch eine direkt kommunikative Steuerung der Produktion zu ersetzen; wir kommen darauf zurück). Lavoie (1990, S. 78; Hervorhebung J. K. & J. S.) schreibt zum Markt: „This knowledge, as encapsulated in prices, serves in turn to guide the decisions of individual participants.“ Man kann fragen, ob es – wenn der Wissenstransfer doch so wichtig ist – nicht viel besser wäre, wenn das Wissen nicht in ‚Preisen eingekapselt‘ wäre, sondern vielmehr direkter zur Verfügung stünde (es sei denn, man könnte gesondert zeigen, dass diese ‚Einkapselung‘ unverzichtbar ist, z. B. als eine Art Komplexitätsreduktion). Mit Datennetzen könnte eine dezentrale Informationssammlung,
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-verarbeitung und -verteilung durchgeführt werden. Dabei ist gar nicht allein an Kommunikation im Sinne von natürlich-sprachlichem Austausch zu denken, sondern es sind vielmehr auch die Möglichkeiten durch die Mobilisierung des Internets in mobilen und z. B. GPS-getrackten Geräten zu beachten. Diese mobilen Medien entsprechen der von Hayek so betonten ‚Kenntnis der besonderen Umstände von Zeit und Ort‘. Mobile Medien sind heute wesentlich situierte Medien, können also im Prinzip lokales Wissen abbilden und verarbeiten und so mit anderem lokalen Wissen vernetzen.
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Hayek und das implizite Wissen
Nicht identisch mit der Frage nach der raum-zeitlichen Situiertheit des Wissens ist ein weiterer bei Hayek anzutreffender Aspekt: Die Frage nach implizitem Wissen oder ‚tacit knowledge‘ (vgl. Oguz 2010). Die These ist dabei: „The impossibility of conveying tacit knowledge of market participants to a higher authority became central to his defense of decentralization and free market.“ (Ebd., S. 146)13 Mutmaßlich bedeutet dies, dass der Markt Wissen nutzbar macht, welches die Teilnehmer selbst nicht artikulieren können – also kann auch kein zentrales Planungsinstitut dieses Wissen nutzbar machen. Allerdings zeigt die Annahme, dass das Preissystem das implizite Wissen irgendwie doch verfügbar macht (‚communicative process‘, wie Lavoie [1990, S. 78] schreibt), dass es nicht gänzlich inkommunikabel ist, andernfalls könnte es auch für den Marktprozess keinerlei Relevanz besitzen. Also wäre es nicht auch denkbar, dass nicht verbalisierbares Wissen anderweitig operativ gemacht wird ? Und machen nicht genau die Techniken der Profilbildung und des Trackings, die heute die bezeichnend sogenannten ‚sozialen Medien‘ prägen, exakt das ? Wir kommen unten darauf zurück. Es ist auch keineswegs einzusehen, warum nur der Markt bzw. der Wettbewerb als ein – wie Hayek (1969) in einem weiteren berühmten Aufsatz argumentiert – Entdeckungsverfahren funktionieren könne. Kann nicht auch Kooperation ein Entdeckungsverfahren sein – was sowohl durch Entwicklungen im Softwarebereich (Stichwort: Open Source) als auch durch die klassische Großforschung in Militär, High Science und Industrie nahegelegt wird (vgl. Allen & Potts 2016) ? In der Tat setzt die marktgängige Entwicklung von Produkten, selbst wenn das ursprüngliche Movens dafür durch die Konkurrenz induziert ist, meist sehr umfängliche kooperative Prozesse voraus, Prozesse, die durch vernetzte Computer13 Vgl. Lavoie (1990, S. 75): „If the cognitive function of markets were only computational, then very few elements of capitalistic markets would need to be borrowed to make socialism work.“
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systeme erweitert und befördert werden, was zu einem eigenen Forschungsgebiet namens Computer-Supported Cooperative Work geführt hat (vgl. Gießmann & Schüttpelz 2015). An dieser Stelle mag es interessant sein, darauf hinzuweisen, dass Hayeks, wenn auch auf den Markt zentrierte, Betonung der Selbstorganisation auch ein wichtiger Einfluss für die Bloomington School war, aus der bekanntermaßen die Forschungen Elinor Ostroms hervorgingen (vgl. Horn 2013, S. 228). Insbesondere im Vorwort zur deutschen Auflage ihres Hauptwerks zu den Commons betont Ostrom – dieser Aspekt kann hier nur angedeutet werden – die zentrale Rolle von Kommunikation für die Koordination von Kooperation (vgl. Ostrom 1999, S. xviii und passim). Erneut kann man fragen, ob nicht die (in westlichen Staaten zumindest gegebene) nahezu ubiquitäre Vernetzung mit mobilen Medien eine günstige infrastrukturelle Voraussetzung für Commons ‚jenseits von Markt und Staat‘ ist, wie es im Untertitel eines bekannten Buches zum Thema heißt (vgl. Helfrich & Heinrich-Böll-Stiftung 2012; auch der Untertitel der deutschen Übersetzung von Ostrom [1999] heißt so). Hayeks Ansatz der Betonung von Dezentralisation und Selbstorganisation sowie des situierten und impliziten Wissens und der Notwendigkeit von Entdeckungsverfahren schließt, soweit wir das sehen können, mitnichten aus, dass es andere Weisen als den Markt und somit den Tausch Ware gegen Geld geben könnte, um Produktion, Allokation und Distribution zu organisieren. Insofern scheint uns immer noch nicht ausgemacht, dass Burczaks (2006, S. 138) Behauptung richtig ist: „Post-Hayekian socialism is necessarily market socialism. National economic planning, whether authoritarian or democratic, is a dubious ambition for the future of socialism.“ Don Lavoie (1990, S. 75) gibt ähnlich zu bedenken: „Those nonmarket forms of socialism that used to argue for the abolition of money needed to be reminded that the cognitive function markets serve requires that profitloss calculation take place in terms of a common denominator. There can be no systematic comparison of alternative production techniques without cost calculations in money units, and these at base involve matters of simple arithmetic.“
Lavoie argumentiert also, dass es ohne Geld keine ‚profit-loss calculation‘ gäbe. Dieses Argument kann man jedoch als erschlichen zurückweisen – denn Geld ist eben das Medium, das alles als profit/loss kalkulierbar macht, ja dies erzwingt, und natürlich kann diese Form des profit/loss ohne Geld nicht aufrechterhalten werden. Und das wäre vielleicht auch gut, wenn nicht abstrakter Profit, sondern z. B. eine gemeinsame, demokratische, sachbezogene Erörterung, die doch auch einen ‚systematic comparison‘ zustande bringen können sollte, darüber entscheidet, ob eine von verschiedenen ‚alternative production techniques‘ zum Einsatz kommt (zu einer derartigen Position bei Otto von Neurath, unter explizitem Bezug auf
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Hayek, vgl. O’Neill 1996; vgl. auch O’Neill 1999; Pircher 1999). Möglicherweise wäre dies – die unrühmliche Rolle von ‚Externalitäten‘ im Blick – eben genau die Weise, die besseren Technologien auszuwählen. Lavoies (1990, S. 74) Argument, „[m]arkets provide a cognitive aid, in this sense, without which economic activity would be prohibitively inefficient“, mag in dem Sinne unzutreffend sein, dass es vielleicht nicht immer darauf ankommt, ob etwas effizient ist, sondern vielmehr darauf, was man will. Allerdings verweist Lavoie auf einen nichttrivialen Punkt: Geld und die damit gegebene Darstellung von Produkten und Prozessen in Preisen macht diese vergleichbar und kalkulierbar (jedenfalls in bestimmten Hinsichten). Der ‚systematic comparison‘ kann sich auf einen ‚common denominator‘ berufen. Dies wirft eine wirklich zentrale Frage auf: Denn auch Big Data und mögliche andere Formen von Daten, die der gemeinsamen Koordination nach dem Geld zugrunde liegen könnten, sind immer noch quantitative Daten. Die Hinweise von Historikern wie Jacques Le Goff (2011; siehe auch Kurz 2012), dass es Geld schon vor dem Kapitalismus gab, werfen die Frage auf, ob es nicht auch Geld nach dem Kapitalismus geben kann – Geld, das dann vielleicht keines mehr ist.14 Jedenfalls kann Gesellschaft nach dem Geld nicht Gesellschaft nach der Mathematik bedeuten. Statt dass die Waren kommunizieren, müssen die menschlichen AkteurInnen über ihre Produktion kommunizieren, und sie werden immer noch abwägen müssen, was machbar und was nicht machbar erscheint – und das wird quantitative Vergleiche notwendig machen. Daher ist die Struktur und Operation dieses Zeichensystems, welches benutzt werden soll, um den Koordinationsprozess von der Zirkulation in die Produktion zu verschieben, von zentraler Wichtigkeit. Es ist zu klären, in welchem Verhältnis dieses Zeichensystem zur Quantifizierung steht. Und es ist zu erklären, wie große Vorteile des Geldes – seine Anonymität, aber auch gerade seine extreme Reduktion der Information, die eben eine regionale und globale ökonomische Kommunikation ermöglicht – kompensiert werden können.
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Technische und soziale Transformationen
Jedoch wird die Argumentation, dass zumindest im Prinzip auch nichtmonetäre dezentrale Koordination möglich sein müsste, nicht nur vonseiten der Neo-Hayekianer wie Lavoie oder Hodgson angegriffen. Man kann die ganze hier geführte Diskussion – es wurde bereits angedeutet – auch von emanzipatorischer Seite angreifen: Ist sie nicht bloß der Versuch, technische Lösungen für soziale Probleme zu schaffen ? Ist es nicht entscheidend – mit Marx –, die Organisationsform einer 14 Siehe dazu den Beitrag von Siefkes in diesem Band.
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ex post gesteuerten Produktion durch eine direktkommunikative Ex-ante-Produktion zu ersetzen, also die ‚isolierten PrivatproduzentInnen‘ durch eine Art basisdemokratische Kollektivproduktion ? Ja, das ist es – Märkte und Geld wird man nur so loswerden. Aber die ganze Frage, um die es sich in der (neo)hayekianischen Diskussion eben dreht, ist, ob eine Ex-ante-Produktion überhaupt möglich ist: Zwar hat Hayek immer bloß die zentrale Planung kritisiert, wohingegen z. B. Hodgson direkt basisdemokratisch-partizipatorische Ansätze angreift. In seiner Debatte mit Adaman und Devine (zwischen 1998 und 2005), die eine demokratische Planung anvisieren, argumentiert Hodgson ebenso, dass das verstreute, implizite Wissen nicht aktualisiert werden kann; dass die Beschlussfassungen zu viel Zeit brauchen; dass der unaufhörliche Diskussionsprozess Innovation blockiert etc. Es ist interessant, dass der wertkritische Kapitalismuskritiker Robert Kurz die Indirektheit der geld- und marktvermittelten Kommunikation ebenfalls – wie Hayek, nur Hayek eben positiv – am Beispiel des Telefons verdeutlicht. Kurz (1999, S. 785) schreibt, dass „die Geldform […] ebenso verrückt ist, wie wenn Leute, die in demselben Haus wohnen, sich nur per Satellitentelefon verständigen dürften“. Symptomatisch an diesem Beispiel bleibt, dass Kurz ‚Leute, die in demselben Haus wohnen‘, nennt – dass diese sich ohne ‚Satellitentelefon‘, also eine indirekte Vermittlung, verständigen könnten, leuchtet ein. Aber das Beispiel bleibt im Dispositiv einer lokalen Wohngemeinschaft befangen. Eine Ex-ante-Koordination zwischen ‚Leuten, die in demselben Haus wohnen‘, ist ja leicht vorstellbar – aber regional oder global ? Da braucht es ‚Satellitentelefone‘ (um in Kurz’ Metaphorik zu bleiben), wohingegen eine verbale Kommunikation, wie sie in Kurz’ Beispiel impliziert bleibt, unmöglich und sinnlos ist. Das Problem ist der schematische Gegensatz zwischen indirekt und direkt: Natürlich sind Märkte und also Geld problematisch indirekt, aber die Antwort kann keine abstrakte ‚Direktheit‘ sein – und zwar nicht nur, weil das möglicherweise totalitär wäre, sondern vor allem, weil es unmöglich ist. Bestimmte soziale Formen sind nur auf der Basis bestimmter Technologien realisierbar (ohne entsprechende Medien kann es keine globale Weltgesellschaft geben) – und das betrifft die Frage nach einer kommunikativen Ex-ante-Organisation der Produktion direkt: Wenn man nicht glauben will (wie die Hayekianer), eine Ex-ante-Produktion sei prinzipiell unmöglich, müssen Lösungen her für die Frage, wie man eine direktkommunikative Planung z. B. aus einem überschaubaren Personenkreis auf ein regionales oder globales Niveau hochskaliert: Wie hält man die Diskussionszeit effizient, sodass sie nicht nur mit der Privatzeit der Einzelnen vereinbar bleibt, sondern nicht länger dauert als das Problem ? Wie kann man die Vielheit möglicher Abstimmungen organisieren, sodass sie realisierbar bleiben ? Diese Probleme sind für die Organisation einer Gesellschaft nach dem Geld keineswegs äußerlich oder sekundär: Sie sind vielmehr absolut zentral, treffen damit auch die Commons, sobald von einem lokalen Commons auf einen größeren
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vernetzten Zusammenhang skaliert wird. Denn schon der Austausch zwischen zwei Commons muss, wenn es nicht wieder Tausch und letztlich also Markt werden soll, irgendwie durch ‚Meta-Commons‘ (wie Meretz in diesem Band sagt) koordiniert werden, womit alle – und zwar wirklich alle – Probleme und Fragen nach dem Status der Planung wiederkehren. Oder anders gesagt: Im Grunde beginnen die Probleme erst dort, wo es nicht um ein Commons, sondern um ihre Vernetzung geht (oder um ein translokales Commons). Meretz (in diesem Band) schlägt vor, dies v. a. über das Konzept der Stigmergie zu lösen und nennt „Messwerte, Zustandssignale, Trackingdaten […] oder affektive Signale zwischen Menschen“ und „Anforderungsbeschreibungen, To-do-Listen, Besprechungen, Pläne, Statis tiken oder Wunschlisten“ als „mediale Vermittlung der Informationen“ – und zieht schließlich die heute vieldiskutierte Blockchain-Technologie heran. Das erscheint uns interessant und überzeugend (wenngleich das Konzept der Stigmergie durchaus auch problematisch ist, wie Siefkes in seinem Beitrag in diesem Band zeigt). Es schließt an eine aktuelle Diskussion an, die danach fragt, wie die medialen Koordinationsmechanismen einer postmonetären Vermittlung aussehen könnten: Nick Dyer-Witheford (2013, S. 12 f.) hat in seinem ausgezeichneten Aufsatz Red Plenty Platforms – ebenfalls im Ausgang von Hayek – ausführlich solche Fragen und verschiedene technische Optionen diskutiert: „A society of participatory, informed, democratic and timely collective planning would require fast, varied and interactive communicative platforms where proposals could be circulated, responded to, at length or briefly, trends identified, reputations established, revisions and amendments generated, and so on. It would, in short, demand that Facebook, Twitter, Tumblr, Flickr and other Web 2.0 platforms not only themselves become operations self-managed by their workers (including their unpaid prosumer contributors), but also become fora for planning: Gosplan with ‚tweets‘ and ‚likes‘. […] Yet perhaps the idea of everyone watching mobile screens lest they miss, not a Facebook poke, but voting the seventh iteration of the participatory plan, duplicates unattractive features of everyday life in high-tech capitalism. So we might speculate further, and suggest that what decentralized collective planning really needs is not just council media but communist agents: communist software agents. […] Commercially, software ‚bidding agents‘ are able to consistently outperform human agents so that ‚Humans are on the verge of losing their status as the sole economic species on the planet‘ (Kephart […]). […] One can’t help but ask, however, what if software agents could manifest a different politics ? Noting that Multi-Agent System models can be thought of as a means to answer problems of resource allocation, Don Greenwood […] has suggested they could be geared toward solving the ‚socialist calculation problem‘. As planning tools, MultiAgent Systems, he notes, have the advantage over real markets that ‚the goals and constraints faced by agents can be pre-specified by the designer of the model‘ (Greenwood
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[…]). It is possible to design agents with macro-level objectives that involve more than just the maximization of individual self-interest; two ‚welfare‘ principles that economists have experimented with incorporating are equality and environmental protection sustainability.“
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Tracking und das implizite Wissen
Wir wollen hier einen anderen Aspekt betonen und – es wurde schon kurz erwähnt – ein technologisches Dispositiv in den Blick nehmen, das bei Dyer-Withe ford keine Rolle spielt, aber u. E. neben den von ihm diskutierten Kommunika tionstechnologien und künstlichen Intelligenzen eine zentrale Rolle spielen wird (nämlich beim Versuch, solche Informationen zu sammeln und operativ zu machen, die für die postkapitalistische Organisation unverzichtbar sind): die automatische Aufzeichnung von Spuren und die Profilbildung. Jeder Mensch hat Bedürfnisse: Schlaf, Hunger, Durst, Bewegung, Ruhe etc. Diese sind lebensnotwendig und ihre Befriedigung hat äußersten Vorrang. Andere Bedürfnisse hingegen zielen darauf ab, das Wohlbefinden eines Menschen zu steigern. Hierbei handelt es sich um solche, die durch die jeweilige Kultur geprägt werden, in der ein Mensch lebt. Werbung beispielsweise erzeugt das Bedürfnis, ein bestimmtes Produkt besitzen zu wollen, weil suggeriert wird, dass das Produkt den Alltag erleichtert, die KonsumentInnen attraktiver erscheinen oder fitter werden lässt. Oftmals handelt es sich jedoch um Produkte, die entbehrlich sind und nur scheinbar zum Wohlbefinden beitragen. Das Glücksgefühl, das der Kauf auslöst, ist nach kurzer Zeit verflogen und das konsumierte Produkt wird durch ein anderes ‚Bedürfnis‘ ersetzt. Anstatt ständig neue Bedürfnisse künstlich zu generieren, sollte die Frage gestellt werden, welche Bedürfnisse tatsächlich bestehen. Doch wie kann dieses Wissen erlangt werden, wenn weder HerstellerInnen noch KonsumentInnen selbst benennen (geschweige denn vorhersehen) können, was gebraucht wird ? Im Folgenden möchten wir dieser Frage nachgehen, indem wir die oben aufgeworfene These untersuchen, dass Tracking-Technologien sowie Self-Tracking im Besonderen als mobile und pervasive Medientechnologien in der Lage sind, implizites Wissen abzutasten und nutzbar zu machen. Um der Beantwortung der Frage näher zu kommen, soll zuerst umrissen werden, wie ‚Wissen‘ geschaffen werden kann. Bekannt ist die Unterscheidung zwischen explizitem und implizitem Wissen. Nach Ikujirō Nonaka und Hirotaka Takeuchi (1997, S. 23) lässt sich explizites Wissen „in Worten und Zahlen ausdrücken und problemlos mit Hilfe von Daten, wissenschaftlichen Formeln, festgelegten Verfahrensweisen oder universellen Prin-
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zipien mitteilen“. Nach dieser Definition ist Wissen etwas, das kommunizierbar und vor allem bewusst ist. Während explizites Wissen vermittelt, ausgedrückt und geteilt werden kann, ist implizites Wissen subjektiv, kann nicht (direkt) artikuliert werden und verbleibt in den Gedanken des Einzelnen. Nonaka und Takeuchi (ebd.) unterscheiden hier zwischen zwei Dimensionen impliziten Wissens: „Die technische Dimension umfasst die informellen und schwer beschreibbaren Fertigkeiten, die der Begriff Know-how wiedergibt. […] Implizites Wissen beinhaltet aber auch eine wichtige kognitive Dimension. Diese besteht aus mentalen Modellen und Vorstellungen, die wir aufgrund ihrer tiefen Verwurzelung für selbstverständlich halten. […] Obgleich sie sich nur schwer artikulieren lassen, formen diese impliziten Modelle unsere Wahrnehmung der Welt.“ Das implizite Wissen stellt dabei den größeren Teil des gesamten Wissens dar. Soll es nutzbar gemacht werden, so muss es in verständliche Worte oder Codes umgewandelt werden. Denn auch wenn es schwierig auszudrücken ist, kann es kodifiziert werden (vgl. Kabir & Carayannis 2013, S. 56), schließlich besteht implizites Wissen aus Informationen. So ist zum Beispiel die Fähigkeit, Fahrrad zu fahren, implizites Wissen, das ebenfalls durch Abschauen und Nachmachen implizit weitergegeben wird. Dennoch kann das Wissen darüber, wie man Fahrrad fährt, in einen Code übertragen werden – beispielsweise mithilfe von Abbildungen, die Schritt für Schritt zeigen, was getan werden muss. Ein anderes Beispiel, das die zweite Dimension impliziten Wissens betrifft, könnte sein, das Gefühl ‚Gemütlichkeit‘ zu beschreiben (ein Wort, das es in der englischen und französischen Sprache nicht gibt). Hier könnte mittels Analogien oder bildhafter Sprache ein individuelles Verständnis des Begriffs zu einem gemeinsamen werden. Das implizite Wissen wird dadurch kommunizierbar und zu einem gewissen Grad explizit. Durch den Vorgang der Übertragung von implizitem zu explizitem Wissen wird neues Wissen zugänglich (vgl. Nonaka & Takeuchi 1997, S. 24, 28 f.). Auch Hayek lenkte seine Aufmerksamkeit auf implizites Wissen: „Die besondere Problematik einer rationalen ökonomischen Ordnung wird eben von der Tatsache bestimmt, dass das Wissen um die Umstände, dessen wir uns bedienen, nie in konzentrierter oder integrierter Form existiert, sondern nur als verstreute Bruchstücke eines unvollkommenen und oft widersprüchlichen Wissens, das die Einzelnen getrennt besitzen. Das ökonomische Problem der Gesellschaft besteht also nicht nur in der Verteilung ‚gegebener‘ Ressourcen, sondern im Gebrauch von Wissen, das keinem in seiner Gesamtheit gegeben ist.“ (Hayek 1945, S. 519 f., zitiert nach Nonaka & Takeuchi 1997, S. 52; siehe auch Hayek 2007a, S. 57 f.).
Nonaka und Takeuchi (1997) argumentieren nun, dass Hayek die Möglichkeit der Umwandlung impliziten und kontextspezifischen Wissens in explizites Wissens
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übersehen habe. Daher sei Hayeks Theorie des Marktes, entgegen seiner Absichten, statisch und fokussiere allein auf die effiziente Nutzung vorhandenen Wissens. Und es stellt sich, wie oben schon diskutiert, die Frage, ob entgegen der Auffassung Hayeks (und ebenso der Hodgsons [1998, 2005]) nicht auch das implizite Bedürfniswissen expliziert werden könnte. Ein Schritt, um herauszufinden, was produziert werden soll, besteht also darin, das implizite Wissen zu erfassen; wie zuvor erwähnt, stellt Big Data dabei eine Möglichkeit dar. Das Internet mit Suchmaschinen und sozialen Netzwerken (und damit selbst eingerichteten Profilen), aber auch (Online-)Shopping, Kundenkarten, Kreditkarten, Payback-Karten etc. sind wichtige Quellen, um Daten und Informationen (und damit Wissen) über das Kauf- und Nutzungsverhalten (explizites wie implizites) von Kunden zu generieren. Dies bietet die Möglichkeit, Profile von Zielgruppen zu erstellen und deren Verhalten zu analysieren, um auf Stimmungen und Trends reagieren zu können. Ziel ist momentan die Optimierung der Produkte und die Möglichkeit einer Vorausberechnung, wie Innovationen besser auf den Markt gebracht werden können (vgl. Gabler Wirtschaftslexikon o. J.). Die Erhebung der Daten (selbst einge brachter und fremd erhobener) findet vielfach versteckt statt: Die teilnehmenden Personen können – da sie einen Einkauf tätigen oder die Ortungsfunktion ihres Smartphones aktiviert haben – durch ihre Aktivitäten identifiziert und kontrolliert werden. Big Data stellt damit eine Herausforderung für den Datenschutz dar, denn „[o]ft liegt vom Betroffenen kein Einverständnis für die Verwendung der Daten vor […]. Die Verknüpfung von an sich unproblematischen Informationen kann zu problematischen Erkenntnissen führen.“ (Ebd.) Der oder die Betroffene kann als kreditunwürdig, risikobehaftet, oder sogar verdächtig eingestuft werden, „weil [er] im falschen Stadtviertel wohnt, bestimmte Fortbewegungsmittel benutzt und gewisse Bücher liest“ (ebd.). Ein möglicherweise positiver Aspekt von Big Data könnte sein, dass die Bedürfnisse der NutzerInnen im Voraus erkannt werden und sie sich einerseits um die Beschaffung/Bestellung keine Gedanken mehr machen müssen, andererseits aber auch keinen Einfluss auf die ihnen zur Verfügung gestellten Waren haben (Stichwort: pre-shipping/predictive delivery, vgl. Lomas 2014). Auch Tracking-Technologien sind ein Teil von Big Data, stellen aber eine eigene Gruppe dar. Deborah Lupton weist darauf hin, dass zwischen einer Datenüberwachung des Selbst und einer Datenüberwachung durch Dritte unterschieden werden muss. In der Einleitung ihres Buches The Quantified Self: A Sociology of Self-Tracking Cultures bringt sie diesen Unterschied auf den Punkt: „Indeed in many cases people have no knowledge of what data are collected on them, where these data are stored and to what purposes they are used by other actors and agencies. These are examples not of self-tracking, but of tracking of the self by others.“ (Lupton 2016a, S. 2) Weiter beschreibt sie: „Self-tracking differs, therefore, from
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covert surveillance or means of collecting information on people that result in data sets to which the subjects of monitoring do not have access.“ (Ebd.) Tatsächlich gibt es eine Vielzahl an Überwachungsmethoden, denen sich Menschen oft nicht bewusst sind: Videoüberwachung (CCTV) und Sensorüberwachung von Personenbewegungen im öffentlichen Raum, Überwachung von Kommunikationsmetadaten und Internet-Unternehmen durch die nationale Sicherheitsbehörde und Polizeibehörden etc. – selbst so etwas wie das biometrische Screening an Flughäfen zählt dazu (vgl. Lupton 2016b, S. 102). Im Gegensatz zur Profilerstellung, die versteckt vonstattengeht, geht es bei Self-Tracking um ein Vermessen des Körpers und des eigenen Selbst. Ziel ist es, „weitreichende Erkenntnisse zur eigenen Person [zu gewinnen]. Wie genau ticke ich, was ist ganz speziell für mich wichtig und richtig, oder eben genau falsch. Wie sehen meine Gewohnheiten aus und wie interagiere ich mit meiner Umwelt. Dies sind zentrale Fragestellungen, welche mit Hilfe von analytischer Beobachtung behandelt werden.“ (Quantified Self o. J.) Die Daten werden mithilfe aufwendiger Minicomputer in Form von Tracking-Armbändern, Smartwatches und anderer Wearables erlangt, die mit dem Smartphone oder Tablet problemlos zu vernetzen sind. Die Datenerhebung durch Selbstvermessung fördert Informationen zutage, aus denen Wissen abgeleitet werden kann: „[A]lle Praktiken des SelfTracking sind im Kern Visualisierungspraktiken, die etwas sichtbar machen, was zuvor – auf diese Weise – nicht sichtbar war. Sie zielen darauf ab, Implizites und Unausgesprochenes sichtbar und so der Beobachtung, Analyse und nicht zuletzt der Überwachung und Kontrolle zugänglich zu machen […]. Dabei erfassen die Gadgets auch Lebensäußerungen, die zuvor nicht erfass- und messbar waren.“ (Duttweiler & Passoth 2016, S. 12) Wie dieses Zitat von Duttweiler und Passoth zeigt, bieten Self-Tracking und die damit verbundenen Technologien die Möglichkeit, genau das implizite Wissen fassbar zu machen, das bisher nicht in Gänze erfasst werden konnte. Auch weisen Duttweiler und Passoth darauf hin, dass Tracking dadurch verstärkt Kontrolle und Überwachung möglich macht. Natürlich erheben die NutzerInnen die Daten komplett freiwillig, dennoch müssen diese in der Regel online auf einer Plattform hochgeladen werden und stehen somit auch den HerstellerInnen und BetreiberInnen zur Verfügung. „Die technischen oder infrastrukturellen Möglichkeiten, seine eigenen Daten tatsächlich ausreichend sichern und schützen zu können, ist in Zeiten von Facebook, Google, Twitter etc. unmissverständlich zu verneinen. […] Der Traum der positiven Selbstvermessung als erfolgreiche Anreicherung eigener Lebensphasen geht von der Annahme aus, dass das ‚Ich‘ stets freiwillig und stets frei von äußeren Zwängen bzw. strukturellen Einengungen über den Fortgang des eigenen Datensammelns entscheiden kann.“ (Schröter 2016, S. 194)
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Dies ist jedoch im Moment nicht der Fall. Leider finden sich in vielen ‚allgemeinen Geschäftsbedingungen‘ der jeweiligen Anbieter Formulierungen, die anzeigen, dass zusätzlich zu den Daten, die die NutzerInnen selbst erheben, auch Informationen über das Gerät, auf dem die App installiert wurde, gesammelt werden dürfen (vgl. Schaupp 2016a, S. 15). Die aus dem impliziten Wissen gewonnenen Daten können weiterverkauft und dazu verwendet werden, „mehr oder weniger genaue psychologische Profile“ zu erstellen (ebd., S. 16). Dass diese Fremderhebung von Daten und Profilerstellung durch Daten ein Problem darstellt, ist bekannt und wird gegenwärtig diskutiert. Karanasiou und Kang (2016) weisen darauf hin, dass die Beliebtheit sensorbasierter Messgeräte, die Aktivität, Gesundheit und Stimmung tracken können, gerade in der Post-Snowden-Ära paradox wirkt. Einerseits ist man der Auffassung, dass das unautorisierte Datensammeln durch den Staat unvereinbar ist mit dem Recht auf Privatsphäre. Andererseits gibt es einen Trend zum Messen und Sammeln von eigenen Daten mittels Sensoren: „In this sense, it has been suggested that privacy has gradually changed its meaning: in the era of wearable tech we seem to be accepting that measuring data is not a privacy infringement but a self-surveillance exercise, most acute to exercising one’s right to freely express oneself.“ (Ebd., S. 123 f.) Self-Tracking generiert aber nicht nur eine große Masse an Daten, sondern gibt auch – durch deren Aufbereitung – ein unmittelbares und direktes Feedback an die NutzerInnen. Jede Veränderung im Handeln und auch jede Form von Lücke kann durch den Einsatz von Self-Tracking-Technologien ermittelt werden, und das – durch Abkürzung der Feedbackschleife – ohne Zeitverlust; „Abweichung und Feedback fallen dann zeitlich in eins.“ (Schaupp 2016a, S. 70) Das unmittelbare Feedback ist wichtig für die Optimierung eines Systems. Simon Schaupp schlägt vor, den Begriff des Homöostaten auf das Self-Tracking anzuwenden. Dieser muss mindestens über drei Elemente verfügen: „Erstens einen Sensor, der Daten über das zu steuernde System sammelt; zweitens einen Datenverarbeitungs- oder Klassifikationsmechanismus, der die gesammelten Daten in einer Weise filtert und strukturiert, die sie für die Funktion des Systems relevant werden lässt (eine bloße Spiegelung aller Tatbestände des Systems wäre kein Informationsgewinn). Drittens muss der Homöostat über einen Ausgabemechanismus verfügen, der die strukturierten Daten an das System zurückleitet. Dieser Rückkopplungsprozess soll dem System erlauben, sich automatisch veränderten Bedingungen anzupassen, sei es um einen erwünschten Zustand beizubehalten oder auch um sich über diesen hinaus zu entwickeln.“ (Ebd., S. 91 f.)
Schaupp zeigt sehr genau, dass Self-Tracking-Technologien der Idee des Homöo staten ähneln. Auch sie besitzen Sensoren der Vermessung und verhelfen dem
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‚System‘ per Rückkopplung zur Selbstoptimierung. Wenn nun das ‚System‘ nicht als einzelnes Individuum (wie oftmals im Self-Tracking), sondern als Gruppe definiert wird, dann wäre auch dieses System imstande, seinen Zustand in Daten auszudrücken, das implizite Wissen nutzbar zu machen und zu erkennen, wie es sich optimieren kann – also zu erkennen, was es benötigt. Damit stellt Tracking eine denkbare Alternative einer Kommunikationsform jenseits von Preissignalen dar. Im Artikel Society’s Nervous System: Building Effective Government, Energy, and Public Health Systems aus dem Jahr 2012 fragt Alex Pentland, welches Potenzial in ,pervasive sensing‘ und ,mobile computing‘ im Laufe der nächsten zehn Jahre steckt und welche Herausforderungen damit verbunden sind, dieses Potenzial auszuschöpfen (vgl. Pentland 2012, S. 39). Direkt zu Anfang stellt Pentland klar, dass die heutigen sozialen Strukturen die Möglichkeiten digitaler FeedbackTechnologien nicht in dem Maße nutzen, wie man es könnte, um dynamisch und reaktionsfähig zu sein: „Instead of focusing only on access and distribution systems, we need dynamic, networked, self-regulating systems that take into account complex interactions. In short, to ensure a sustainable future society, we must use evolving technologies to create a nervous system for humanity that maintains the stability of government, energy, and public health systems around the globe.“ (Ebd.) Im weiteren Verlauf des Artikels geht er besonders auf Smartphones als „location-aware sensor platforms“ (ebd., S. 40) ein, die zu Self-Tracking-Zwecken verwendet werden können, um Muster des menschlichen Verhaltens zu verstehen, die Umgebung zu überwachen (beispielsweise den Verkehr, erhöhtes Stauaufkommen) und die soziale Entwicklung zu planen. Um das Problem von Privatsphäre und Kontrolle über die Daten zu lösen, schlägt Pentland vor, Gesetze einzuführen, die dem Einzelnen das Recht über die eigenen Daten und ihre Verwendung jederzeit zusprechen: 1. „You have the right to possess data about you. Regardless of what entity collects the data, the data belongs to you, and you can access it at any time. Data collectors thus play a role akin to a bank, managing the data on behalf of their ‚customers.‘ 2. You have the right to full control over the use of your data. The terms of use must be opt-in and clearly explained in plain language. If you are not happy with the way a company uses your data, you can remove it – just as you would close your account with a bank that is not providing satisfactory service. 3. You have the right to dispose of or distribute your data. You have the option to destroy data about you or redeploy it elsewhere.“ (Ebd., S. 41)
Wie solche Gesetze im Einzelnen aussehen sollen, muss natürlich diskutiert und an die gesellschaftliche Situation angepasst werden. Hier genannte Möglichkeiten stellen lediglich einen Vorschlag dar. Pentland wie auch Schaupp beschreiben die
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Technologien immer noch in Zusammenhang mit Märkten. Schaupp (2016b, S. 82) sieht im Self-Tracking „als kybernetische[r] Selbsttechnologie […] keineswegs nur eine individuelle Praxis“, sondern den „Ausdruck einer politisch-ökonomischen Verschiebung“, die er als „kybernetischen Kapitalismus“ charakterisiert. In einer Gesellschaft nach dem Geld stellt sich die Frage der Tracking-Technologien als Teil von Kapitalakkumulation aber nicht mehr. Wenn die eigenen Daten geschützt sind und sichergestellt wird, dass sie lediglich dazu verwendet werden, um die nötigen Informationen für die Produktion und Verteilung von Gütern zu generieren, bietet (Self-)Tracking jedem die Möglichkeit, stärker an der Organisation des eigenen Lebensraums beteiligt zu sein. Dies erstreckt sich nicht nur auf die Bereiche der Existenz- und Individualbedürfnisse, sondern auch auf immaterielle Bedürfnisse wie Gesundheitsvorsorge, Kinderbetreuung und Altenpflege etc. Die digitale Datenerhebung hätte zudem den Vorteil (ähnlich dem des Geldes), dass kein ‚Aufdecken‘ der eigenen Bedürfnisse notwendig wäre. Jegliche Anschaffungen könnten anonym getätigt werden und die Privatsphäre bliebe gewahrt.
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Fazit
Unsere Diskussion ist nur skizzenhaft und hat nur ein bestimmtes technologisches Dispositiv, das Tracking (das auch von Meretz in diesem Band erwähnt wird), etwas detaillierter unter die Lupe genommen, um anzudeuten, wie solche Technologien genutzt werden könnten, um das Wissensproblem zu lösen, das laut Hayek und seinen NachfolgerInnen jede kommunikative Ex-ante-Produktion von vornherein unmöglich macht. Dabei geht es nicht darum, einen ‚Ersatz‘ für Geld zu finden, wohl aber einen alternativen Mechanismus zum Markt. Immer nur vage von ‚sozialen Verhältnissen‘ zu sprechen oder davon, dass die vordem isolierten PrivatproduzentInnen nun kommunizieren müssten, reicht nicht mehr. Man muss zumindest andeuten können, wie die Wissens- und Komplexitätsprobleme einer Produktion, die die Grenzen der eigenen WG überschreitet, gelöst werden könnten. Ansonsten wird man immer von Hayekianern ridikülisiert werden. An dieser Stelle ist es wichtig, sich zu verdeutlichen, dass die gerne von emanzipatorischer Seite vorgebrachte Kritik, man könne soziale nicht durch technische Lösungen ersetzen, insofern richtig ist, als z. B. keine noch so avancierte Technologie per se eine postkapitalistische Organisation erzeugt (allerdings ist hier eine gewisse Asymmetrie zu beobachten: Zwar betonen etwa wertkritische Ansätze, dass es keinen Automatismus gäbe, der zu einer emanzipierten, postkapitalistischen Gesellschaft führt; den Automatismus, dass die konkurrenzgetriebene Verdrängung von Arbeit durch neue Technologien an die ‚innere Schranke‘ des Kapitals führt, gibt es für die Wertkritik aber sehr wohl). Aber sie ist falsch darin, das
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‚Soziale‘ und das ‚Technische‘ unvermittelt gegenüberzustellen, als ob man dies überhaupt trennen könnte. Das Technische ist immer schon sozial, aber das Soziale ist auch immer schon technisch. Auch eine Gesellschaft nach dem Geld ist keine Gesellschaft nach der Medialität und der Technologie, sondern vielmehr eine, die gegebene technische Ressourcen umnutzen und ggf. ganz neue technische Wege gehen muss, um z. B. die Wissens-, Komplexitäts- und Koordinationsprobleme translokaler Produktion zu lösen. Man könnte also formulieren, dass Hayeks Schlussfolgerung, die eminente Rolle, die dem situierten und impliziten Wissen zukomme, mache eine zentrale Staatsplanung und überhaupt jede Art von kommunikativer Planung unmöglich und den Markt und mithin den Tausch gegen Geld unumgänglich, nicht in Betracht zieht, dass die indirekte Kommunikation des situierten und impliziten Wissens – die im Preismechanismus ja als prinzipiell möglich angenommen wird – unter den Bedingungen von Computernetzwerken sowie mobilen Sensoren (Smartphones) auch ohne Geld funktionieren könnte. Hayeks Betonung von Dezentralisation und Selbstorganisation ist sicher richtig – doch warum sollte der pekunizentrische Markt die einzige oder gar die letzte und höchste Form einer solchen Organisation sein ? Hayeks ‚evolutionärer Agnostizismus‘, wie ihn Vanberg (1994) in durchaus kritischer Hinsicht einmal genannt hat, impliziert die Möglichkeit, dass auch Markt und Geld nur vorübergehende Formen sind, die sozioevolutionär, etwa in Konflikt mit den digitalen Technologien, wieder verschwinden. So bemerkt eine neuere Einführung in das Werk Hayeks geradezu ängstlich: „Was, wenn der evolutionäre Prozess, der in der Vergangenheit die Institutionen des Markts, des Rechts und des Privateigentums hervorgebracht hat, in Zukunft völlig andere Wege geht ?“ (Horn 2013, S. 210)15
15 Vgl. Hayek (2007b, S. 207): „Wir sind wahrscheinlich auch zu der Schlußfolgerung berechtigt, daß unsere gegenwärtigen Werte nur als Elemente einer besonderen kulturellen Überlieferung existieren und nur für eine mehr oder weniger lange Evolutionsphase kennzeichnend sind – gleichgültig, ob diese Phase einige unserer prähominiden Vorfahren einschließt oder sich auf bestimmte Perioden der menschlichen Zivilisation beschränkt. Wir haben ebensowenig Veranlassung, ihnen ewige Existenz zuzuschreiben, wie der menschlichen Rasse selbst. In diesem so verstandenen Sinne ist es möglich, die menschlichen Werte zu Recht als relativ anzusehen und von der Wahrscheinlichkeit ihrer weiteren Evolution zu sprechen.“
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402 Autor*innenverzeichnis
Universität Lüneburg, der Kunsthochschule Kassel, der Universität Basel und der ETH Zürich gearbeitet. Er forscht zu Medien, Ökonomie und Kunst. Heitmann, Lars: Dipl.-Pol., 2016 – 2017 Mitarbeiter im Projekt „Die Gesellschaft nach dem Geld“. Arbeitsschwerpunkte: Staats- und Gesellschaftstheorie, Theorie und Praxis sozialer Bewegungen, Kultursoziologie. Verschiedene Tätigkeiten in universitärer Forschung und Lehre sowie in sozialen Bewegungszusammen hängen. Kathöfer, Jasmin (MA): seit Oktober 2016 Doktorandin im Graduiertenkolleg „Das fotografische Dispositiv“ an der HBK Braunschweig mit dem Thema „Spurbildende Medien. Eine andere Mediengeschichte von Index und Spur“ (Arbeitstitel). Studium an der Universität Siegen (Literatur Kultur Medien und Kunstgeschichte B. A., Medienkultur M. A.), Oktober 2015 bis Mai 2016 Lehraufträge an der Fachhochschule des Mittelstands (Köln), seit April 2018 Lehraufträge an der HBK Braunschweig, seit Januar 2016 Mitarbeit im VW-Projekt „Die Gesellschaft nach dem Geld“ (Universität Bonn). Lohoff, Ernst: freier Publizist und Redakteur der gesellschaftskritischen Zeitschrift krisis. Arbeitsschwerpunkt: Kritik der politischen Ökonomie. Meretz, Stefan: Dr., Ingenieur und Informatiker, Mitbegründer des CommonsInstituts. Forschungsschwerpunkte: Commons, Technikentwicklung, Kritische Psychologie. Jüngste Publikation (mit Simon Sutterlütti): Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken, Hamburg: VSA 2018. Pahl, Hanno: Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter im BMBF-Projekt „Vom Modell zur Steuerung – Der Einfluss der Wirtschaftswissenschaften auf die politische Gestaltung der Finanzmärkte durch Zentralbanken“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Jüngste Veröffentlichung: Genese, Konsolidierung und Transformation der neoklassischen Wissenschaftskultur. Zur Konturierung einer Soziologie der Wirtschaftswissenschaften, Wiesbaden: Springer VS 2018. Schlemm, Annette: Dr., Physikerin und Philosophin, Forschungsschwerpunkte: philosophische Dialektik, kritische Sozialwissenschaft, Zukunft im Klima-Umbruch. Publikationen u. a.: Stichworte „Dialektik“, „Subjekt-Objekt“ und „Prozess“ in: Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Blochs, Berlin, Boston: De Gruyter 2012.
Autor*innenverzeichnis 403
Scholz-Wäckerle, Manuel: Dr., Senior Lecturer am Department Sozioökonomie, Wirtschaftsuniversität Wien, Forschungsschwerpunkte: Evolutionary Political Economy, Institutional Economics, Agent-Based Modeling (micro-meso-macro) Schröter, Jens: Prof. Dr., Lehrstuhl für Medienkulturwissenschaft, Universität Bonn, Forschungsschwerpunkte: Digitale Medien, Kritische Medientheorie, 3-DBilder. Jüngste Publikation: 3D. History, Theory and Aesthetics of the Technicaltransplane Image, New York et al.: Bloomsbury 2014. Siefkes, Christian: Dr., freiberuflicher Softwareentwickler und Commonsforscher, 2016/17 Mitarbeit im VW-Projekt „Die Gesellschaft nach dem Geld“ (Universität Bonn). Koautor des Gemeinschaftsblogs keimform.de zum emanzipatorischen Potenzial von Freier Software und anderen Formen commonsbasierter Peer-Produktion. Forschungsschwerpunkte: Commons, Peer-Produktion, Freie Software und Freie Kultur, Open Source Software und Hardware, kritische Gesellschaftsstudien, Kapitalismuskritik. Veröffentlichungen u. a.: Beitragen statt tauschen (Neu-Ulm 2008), „Eine Welt, in der alle gut leben können“ in Die Welt reparieren (Hrsg. Andrea Baier u. a., Bielefeld 2016), „Freie Software und Commons“ in Navigationen 2/2016, „Produktivkraft als Versprechen“ in Prokla 185 (2016).