Pflege an der Grenze

Das Buch skizziert die in Zukunft immer wichtiger werdenden Möglichkeiten, Probleme und Handlungsfelder der Pflege. Schwerpunkt ist dabei eine Stärkung der sozialräumlichen Orientierung, die Analyse der Bemühungen um wohnortnahe Hilfen und des Ausbaus bürgerschaftlichen Engagements. Bislang fehlen wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zur Bedarfslage, realisierten und realisierbaren Strukturen sowie ihrer Wirkung. Ebenso offen sind Fragen zum Ausmaß erwartbarer Pflegeverpflichtungen und deren Einfluss auf das soziale Umfeld pflegebedürftiger Personen und die Region. Es werden unter anderem folgende Fragen behandelt: Welche Angebote gibt es in Bezug auf Art und Region? Wie werden diese Angebote nachgefragt und bewertet? Wie gut sind die verschiedenen Anbieter und Sektoren vernetzt? Neben der Analyse der aktuellen Situation liegt ein Schwerpunkt auf der Prognose zukünftiger Entwicklungen.

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Ralf Münnich Johannes Kopp Hrsg.

Pflege an der Grenze Entwicklungen · Fragestellungen · Herangehensweisen

Pflege an der Grenze

Ralf Münnich · Johannes Kopp (Hrsg.)

Pflege an der Grenze Entwicklungen · Fragestellungen · Herangehensweisen

Hrsg. Ralf Münnich Universität Trier Trier, Deutschland

Johannes Kopp Universität Trier Trier, Deutschland

ISBN 978-3-658-19575-5  (eBook) ISBN 978-3-658-19574-8 https://doi.org/10.1007/978-3-658-19575-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Pflege an der Grenze Einige Vorbemerkungen Ralf Münnich und Johannes Kopp Wirtschafts- und Sozialstatistik sowie Empirische Sozialforschung, Universität Trier

Der vorliegende Sammelband entstand in Folge des Workshops Pflege an der Grenze?!, welcher im November 2016 in Mondorf-les-Bains stattfand. Der Workshop wiederum war der Abschluss eines Forschungsprojektes an der Universität Trier in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Tübingen, dem Institut für Statistik und ökonomische Studien des Großherzogtums Luxembourg (STATEC) sowie dem statistischen Landesamtes des Landes Rheinland-Pfalz in Bad Ems, welches in den Jahren 2014 bis 2016 durchgeführt wurde. Das gesamte Projekt wurde freundlicher Weise – ebenso wie die Tagung selbst – durch die Fondation Marienburg unter dem Dach der Fondation de Luxembourg großzügig finanziell unterstützt. Das vorliegende Buch ist aber nicht nur ein Rückblick und ein Fazit bisheriger Arbeiten, sondern auch der Startpunkt vielfältiger weiterer Forschungsaktivitäten, die die oben genannten beteiligten, aber auch weitere Institutionen in Zukunft im Bereich der Analyse und Prognose sozialer Problemfelder als Folge des demographischen Wandels durchführen wollen und werden. Im Mittelpunkt steht dabei immer der Versuch, mit Hilfe der genauen Analyse sozialer Mechanismen und dem Einsatz kleinräumig verortbarer Individualdaten mit Hilfe sogenannter Mikrosimulationen sinnvolle Prognosen relevanter sozialer Phänomene zu erstellen. Sinnvolle sozial- und kommunalpolitische Planung und eben auch Politikberatung kann – so ist die Grundüberzeugung aller Beteiligten – nur mit Hilfe empirischer Analysen erfolgen. In dieser Hinsicht liefert dieser Sammelband eine Art Zwischenbericht, der die Möglichkeiten aber eben auch Problemfelder weiterer Forschungsvorhaben aufzeigt.

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Im Folgenden sollen kurz die wichtigsten Ergebnisse des vorliegenden Forschungsprojekts sowie einzelner Gastredner im Workshop skizziert werden, bevor die jeweiligen Beiträge des hier präsentierten Bandes und ihr Bezug zur allgemeinen Problematik vorgestellt werden können.

Problemstellung und Forschungsfragen Ausgangspunkt des gemeinsamen Forschungsinteresses war und ist die einfache Frage, wie sich der demographische Wandel gerade in Grenzregionen auf die Situation der Pflege und Betreuung älterer Menschen auswirkt. Die Grundüberlegung war, dass angesichts der demographischen Grundprozesse und veränderter wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Bedingungen auf die Stärkung der sozialräumlichen Orientierung, der Bemühung um wohnortnahe Hilfen und den Ausbau bürgerschaftlichen Engagements für die Ausgestaltung von Pflege nicht verzichtet werden kann – und eine entsprechende Analyse eben genau diese Punkte auch analytisch erfassen muss. Auf die Notwendigkeit eines demographischen Risikomanagements und die Brisanz der Problematik, gerade im Bereich der Pflege, wird vielfach hingewiesen. Jedoch fehlen wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse zur Bedarfslage, realisierten und realisierbaren Strukturen sowie ihrer Wirkung. Ebenso offen sind Fragen zum Ausmaß erwartbarer Pflegeverpflichtungen und deren Einfluss auf das soziale Umfeld pflegebedürftiger Personen und die Region. Das durch den demographischen Wandel induzierte Altern der Bevölkerung und die sich stetig verändernden sozioökonomischen Rahmenbedingungen stellen alle europäischen Gesellschaften hinsichtlich des demographischen Risikomanagement, der Gewährleistung angemessener Pflegeversorgung bei schnell steigenden Pflegefallzahlen, der langfristigen Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme und des Ausbaus des bürgerlichen Engagements für die Ausgestaltung von Pflege vor neue Herausforderungen. Im gesamteuropäischen Kontext wird es als Chance gesehen, diese Pflegeproblematik – aber auch andere sozialpolitische Herausforderungen – grenzüberschreitend anzugehen. Hierbei ist jedoch ein gemeinsames Forschen und Handeln nötig. Dies gilt auch angesichts der für Gesundheit und Wohlstand in Europa existenziellen Fragen – nicht nur mit Blick auf die Finanzierbarkeit der nationalen sozialen Sicherungssysteme, sondern auch mit Blick auf den Erhalt und die Sicherstellung einer Pflege in Würde für alle Beteiligten. Sicherstellung bedeutet dabei zweierlei: Einerseits muss der Bedarf an

Pflege an der Grenze. Einige Vorbemerkungen

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Pflegekräften gedeckt werden. Andererseits muss die Pflege auch der veränderten und eben geriatrietypischen Morbidität angepasst werden. Hierbei spielt auch eine Anpassung der Pflegeausbildung eine zentrale Rolle, ebenso wie eine eventuelle Umstrukturierung des Arbeitsmarktes Pflege. Vision ist die grenzüberschreitende Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen für Pflegebedürftige mit erheblichem allgemeinem Betreuungsbedarf, einschließlich Demenzkranker, auch zur Entlastung und Unterstützung von pflegenden Angehörigen, datenbasiert und an den Realitäten und Optionen aktueller Versorgung orientiert. Hieraus ergibt sich eine Reihe von Forschungsfragen, die hier – relativ ungeordnet – einfach zuerst einmal beispielhaft aufgezählt werden sollen, zu deren Beantwortung aber in der Regel aufeinander bezogene Forschungsvorhaben notwendig sind, die die jeweilige Dynamik der anderen inhaltlichen Aspekte hinreichend berücksichtigen: • Wie ist der Status quo der Pflegestrukturen? • Welche Angebote in welcher Art gibt es in der Region? • Wie werden diese Angebote nachgefragt und bewertet? • Wie gut sind die verschiedenen Anbieter und Sektoren vernetzt? • Stehen die Anbieter eher in einem Konkurrenz- oder in einem Kooperationsverhältnis? • Welchen Bedarf, welche Erwartungen und Bewertungen haben Pflegebedürftige beziehungsweise deren Angehörige, insbesondere solche, die in die Pflege eingebunden sind? • Welche Effekte auf die Kosten sind durch grenzüberschreitende Angebote möglich? • Besonders wichtig war in diesem Zusammenhang zudem die Frage, ob sich mit Hilfe von Zukunftsszenarien und Modellrechnungen Risikoabschätzung hinsichtlich des Pflegebedarf und der konkreten Gestaltung potentieller Pflegeangebote durchführen lassen? • Wie sind schließlich die Auswirkungen des demographischen Wandels auf die verschiedenen Beteiligten? • Wie entwickeln sich Pflegebedarf und familiäres Pflegepotential ganz generell?

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All diese und weitere Fragen lassen sich natürlich nicht abstrakt und generalisiert beantworten, sondern diese Forschungsfragen müssen unter Einbezug der regionalen Aspekte weiter konkretisiert beziehungsweise angepasst werden. Grenzregionen wie hier eben die Region Trier-Luxemburg, aber auch im Grenzraum zwischen der Bundesrepublik und der Schweiz die Region BaselLörrach, einem Vorgängerprojekt zu dieser Studie (siehe auch Kapitel 1), sind hierbei von besonderem Interesse. Denn diesen Gebieten wird der Charakter von Laboratorien für die Ausgestaltung von Versorgungsthemen der Zukunft zugeschrieben. In einer grenzüberschreitenden Forschungszusammenarbeit sind deshalb neue Wege zu erkunden. Daher sind die Projektergebnisse zum Thema Pflege und Pflegebedürftigkeit über die Region hinaus sowohl für andere Grenzregionen in Europa als auch für die Harmonisierung von Versorgungsstrukturen und Versorgungsprozessen in der Pflege mit Blick auf Europa, aber auch für die nationalen Systeme der sozialen Sicherung von Bedeutung. Kann es also längerfristig gelingen, internationale Pflegeregelungen zu etablieren, die Versorgungsstrukturen gemeinsam weiter zu entwickeln sowie die Pflegeausbildung entsprechend anzupassen und gegebenenfalls zu harmonieren. Hierbei gilt es auch zu berücksichtigen, inwieweit hier eine zielgerichtete Anpassung der Pflegeausbildung an den Pflegearbeitsmarkt erforderlich ist und wie entsprechende Umstrukturierungen gestaltet sein müssen.

Forschungsansatz und Forschungsbereiche Um diesen vielfältigen Fragen nachzugehen und eine Basis für die weiteren Forschungsvorhaben zu bilden oder zumindest prinzipiell aufzuzeigen, wie derartige Forschungsfragen zu handhaben sind, sind unterschiedliche methodische Ansätze parallel zu verfolgen. Im Rahmen des Projektverbundes standen dabei folgende Herangehensweisen im Mittelpunkt der Arbeiten: • Die Erfassung der demographischen Entwicklung im Grenzraum, insbesondere der Abgleich eines grenzüberschreitenden Methodenvergleichs (Erklärung aktuell auftretender Divergenzen/border statistics),

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• die Analyse von Sekundärdaten (Dokumente, Routinedaten wie zum Beispiel Daten der Kranken- und Pflegekassen, Daten aus der Pflegestrukturplanung, Daten zur ambulanten und stationären Morbidität, Statistiken der Landkreise und nationale Pflegedaten), welche zur Entwicklung geeigneter Szenarien herangezogen werden können, • ein Pflegeberufsmonitoring in der Region, also eine Befragung von Pflegeschülern und Pflegestudierenden zu ihrer Berufsmotivation und ihren Erwartungen an die spätere Berufstätigkeit, • die Erfassung verschiedener Armutsziffern unter Berücksichtigung verschiedener Probleme der Armutsmessung sowie Modellierung des Effekts der Pflege auf die Armut; • die Analyse des informellen Pflegemarkts, also die Analyse von persönlichen Unterstützungsnetzwerken und dem familiären Pflegepotenzial; • die Erfassung und Untersuchung von Pflegeverläufen und – auch regionalisierte – Modellierung der Einflussgrößen auf Veränderungen der Pflegestufen sowie schließlich • die regionale Schätzungen mit Hilfe verschiedener statistischer Modellierungstechniken als Basis für mittel- bis langfristige Planung der Pflegeversorgung.

Projektziele Über die Zielsetzungen von Wissenschaft kann man sicherlich ganz unterschiedlicher Meinung sein. Die in diesem Projektverband tätigen Personen sind sich jedoch – bei aller internen Differenzierung – einig, dass Wissenschaft eine öffentliche Aufgabe besitzt. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollen die Grundlage von politischen Entscheidungen und Maßnahmen sein, wobei bei aller Wissenschaft immanent innewohnender Unsicherheit keine Beliebigkeit herrscht. Prinzipiell können wissenschaftliche Erkenntnisse wahr sein – auch wenn man sich nicht immer sicher sein kann, ob man diesen Zustand schon erreicht hat. Wahr und falsch ist letztlich der Code der Wissenschaft und insofern kann es auch keine alternativen Fakten geben. Wenn man also davon ausgeht, dass wissenschaftliche Erkenntnisse praxisrelevant sind, so treten als Interessenten für die Ergebnisse der hier berichteten Forschungen eine Reihe von Personengruppen in den Fokus. Hier sind zuerst die

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(gesundheits-) politischen Entscheidungsträger aus den Regionen, aus anderen europäischen Staaten und auf all diesen Ebenen in der Pflege Tätige und Verantwortliche zu nennen. Dem Projekt ist eine darüber hinausweisende Bedeutung beizumessen mit Blick auf die Implikationen, die die Thematik Pflege und Pflegebedürftigkeit auf andere Bereiche hat: • auf die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherung der einzelnen Nationalstaaten, • die ökonomische Stabilität der europäischen Haushalte • und eine Haltung von Wertschätzung gegenüber allen Bürgerinnen und Bürgern, die jetzt oder in Zukunft der Pflege bedürfen. Im Sinne der Translationsforschung sowie der partizipativen Gesundheitsforschung sollen wissenschaftliche Erkenntnisse möglichst frühzeitig in die Praxis getragen und durch systematische Praxisreflexion unmittelbar hinsichtlich ihrer Umsetzbarkeit und Praxistauglichkeit überprüft und angepasst werden. Der Forschungsansatz ist dadurch gekennzeichnet, dass alle Betroffenen und in der Sache kompetenten Akteure in den Prozess einbezogen werden. Gemeinsames Lernen und Förderung der Versorgungsqualität sind das Ziel.

Aufbau des Bandes Wie ja schon einleitend erwähnt, soll dieser Band natürlich auch einige der Forschungsaktivitäten dokumentieren und zugänglich machen und somit die Möglichkeit eröffnen, dass die wissenschaftlichen Ergebnisse auch in den politischen Diskurs einfließen. Die hier publizierten Texte beruhen auf den Vorträgen der Autoren und Autorinnen auf der Tagung im November 2016 in Mondorf und der Gesamttext spiegelt deshalb natürlich die Schwierigkeiten des wissenschaftlichen Alltags wider. Einige der angefragten Autoren und Autorinnen waren durch wichtige andere Termine verhindert, ein Redner war leider kurzfristig erkrankt. Selbstverständlich kann dann auch in Form eines linearen Textes die Interaktion und Dynamik der Diskussion nicht vollständig wiedergegeben werden. Wir sind trotzdem davon überzeugt, dass die im Folgenden zu findenden Texte einen guten und wichtigen Einblick in das Forschungsfeld, aber auch die Forschungsarbeiten der Projektgruppe bietet.

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Den Einstieg in die Thematik bietet der Beitrag von Joachim Graf, Sara Yvonne Brucker und Elisabeth Simoes, die fundiert, aber doch in erfrischender Knappheit die jeweiligen sozialen Sicherungssysteme in der Bundesrepublik, in Luxemburg und der Schweiz und deren Implikationen für die Pflege darstellen. Der Beitrag von Mareike Breinbauer und ihren Kollegen berichtet die Ergebnisse des ersten Berufsmonitoring Pflege, einer Umfrage unter den Pflegekräften in Rheinland-Pfalz, um so die Sichtweise dieser Berufsgruppe, deren objektive Arbeitsbelastung und subjektive Wahrnehmung in die Diskussion einzubinden. Der Beitrag von Joscha Krause und Ralf Münnich quantifiziert die zukünftige Entwicklung des Pflegebedarfs in der Großregion Trier auf lokaler Ebene unter verschiedenen Szenarien. Ludwig Böckmann und Julia Stoffel befassen sich mit Hilfe amtlicher Daten mit der Situation der Pflege in Rheinland-Pfalz und untersuchen den Einfluss der demographischen Veränderungen. Guillaume Osier und Francois Peltier bearbeiten die äquivalente Fragestellung mit Daten der amtlichen Statistik in Luxemburg. In dem Beitrag von Hans-Josef Börsch wird die Entstehung der Landespflegekammer in Rheinland-Pfalz geschildert sowie deren Aufgaben und Organisation besprochen. In dem Beitrag häusliche Pflege in der Region Trier wendet sich das Team um Mareike Breinbauer der Frage zu, wie häusliche Pflege in der Region ausgestaltet ist, aber auch wie die subjektive Gesundheitslage und die Einschätzung der medizinischen Versorgung ist. Hierfür wurde eine Fülle regionaler Studien ausgewertet, die in den letzten Jahren in der Region erhoben wurden. Der Beitrag von Oliver Lauxen betrachtet die potentiellen Entwicklungen des Pflegearbeitsmarktes in der Groß- und damit eben auch in der Grenzregion. Heike Spaderna untersucht, welche neue Perspektiven der Pflegewissenschaft und der Gesundheitspsychologie hinsichtlich chronischer Erkrankungen und Pflege für die Grenzregion vorliegen. Elisabeth Simoes untersucht gemeinsam mit Ralf Münnich, Joscha Krause, Joachim Graf und Sara Yvonne Brucker die Implikationen häuslicher Pflegeverpflichtung, insbesondere hinsichtlich hierdurch induzierter armutsrelevanter Effekte. Joscha Krause, Ralf Münnich, Simon Schmaus, Jan O. Berndt, Daniel S. Lebherz und Ingo J. Timm analysieren das Potenzial von agentenbasierten Mikrosimulationen im Kontext pflegerischer Versorgung und und liefern

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damit einen wichtigen methodischen Beitrag zur zukünftigen Versorgungsplanung. Ein wesentliches Ziel des gesamten Projektes, aber auch der abschließenden Tagung in Mondorf war es, dass ein Dialog über die Situation der Pflege in der Region zustande kommt. Auch wenn es immer schwierig ist, derartige Dinge zu initiieren, so stand am Ende, und doch im Mittelpunkt der Tagung eine Podiumsdiskussion über Herausforderungen und Chancen im Zusammenhang mit der Pflege in der Grenzregion. Zum Abschluss des vorliegenden Bandes haben wir versucht, diese Diskussion ex post nachzuzeichnen. Diese Dokumentation beschließt die Reihe an Beiträgen.

Weitere Forschungsziele Wie ja schon zu Beginn betont, stellt dieser Band zwar einerseits den Schlusspunkt vielfältiger und institutionenübergreifender Forschungsvorhaben dar und ist allein aus diesem Grunde wertvoll. Die demographische Situation und die damit verbundenen sozialpolitischen Problemlagen sind jedoch sicher nicht abschließend gelöst. Eher das Gegenteil ist der Fall. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Einleitung ebbt eine Diskussion durch die Öffentlichkeit, die die Schwierigkeiten bei der Prognose von Schülerzahlen und die entsprechenden Folgeprobleme hinsichtlich der Ausbildung von Lehrern diskutiert. Wie etliche Beiträge in diesem Band jedoch zeigen, ist für eine sinnvolle Prognose eine relativ kleinräumige Herangehensweise und damit eine regionale (Mikro-) Simulation beziehungsweise Entwicklung von Szenarien unumgänglich. Die Entwicklung und der Aufbau eines Mikrosimulationszentrums, welches unter anderem auch Simulationen im Bereich der Pflege ermöglicht, ist eine Zielsetzung, die im Fokus der eines Forschungsprojektes zur regionalen Mikrosimulationsforschung sowie auch einer im Aufbau befindlichen Forschungsgruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft stehen. Dass derartige Simulationen natürlich Grenzregionen in einem besonderen Maße berücksichtigen müssen, ist nach den in diesem Band präsentierten Ergebnissen nicht mehr anzweifelbar.

Pflege an der Grenze. Einige Vorbemerkungen

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Es ist zu erhoffen, dass regionale Planungen eine starke Bürgerorientierung auf regionaler Ebene aufweisen und damit aber auch eine Ausstrahlung auf überregionale Einheiten besitzen. Regionale (statistische) Schätzungen legen Basis für mittel- bis langfristige Planungen und liefern Gestaltungsimpulse für die weitere Umsetzung.

Danksagung Zu dem Gelingen eines Forschungsprojektes, eines zugehörigen Workshops sowie der hier vorliegenden Publikation tragen selbstverständlich stets viele Personen bei. Wir möchten an dieser Stelle vor allem der Stiftung Marienburg unter dem Dach der Fondation de Luxembourg für ihre finanzielle Unterstützung danken, ohne die dieses Vorhaben nicht zu dem Erfolg geführt hätte. Insbesondere danken wir Frau Tonika Hirdman, Generaldirektorin der Fondation de Luxembourg, und Frau Petra Penders, Projektmanagerin der Fondation de Luxembourg, sowie Herrn Helmut Schröer, Präsident der Stiftung Marienburg, für ihre großartige Unterstützung und ihre Offenheit bei der Planung und Durchführung dieser Studie. Des Weiteren danken wir allen Vortragenden des Workshops für ihre Beiträge, die sie freundlicherweise auch diesem Sammelband in schriftlicher Form zur Verfügung gestellt haben, sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für ihre lebhafte und inspirierende Diskussionen. Frau Maria Dammann danken wir für die unermüdliche Hilfe bei der Erstellung dieses Sammelbandes. Schließlich gilt unserer Dank Frau Katrin Emmerich vom Verlag Springer VS für die hervorragende Zusammenarbeit.

Trier, im Herbst 2018 Ralf Münnich und Johannes Kopp

Inhaltsverzeichnis Pflege an der Grenze. Einige Vorbemerkungen Ralf Münnich und Johannes Kopp

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1 Pflegebezogene Aspekte der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland, in der Schweiz und in Luxemburg Joachim Graf, Sara Yvonne Brucker und Elisabeth Simoes 1.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Soziale Sicherung und Langzeitpflege . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Systeme der sozialen Sicherung in Deutschland, der Schweiz und Luxemburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Pflegebezogene Aspekte im Systemvergleich . . . . . . . . . . 1.4.1 Deutschland: Pflegeversicherungssystem mit festgelegter Maximalleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Schweiz: Pflegefinanzierung als Gemeinschaftsaufgabe von KV, AHV und IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.3 Luxemburg: Sozialversicherungssystem mit Vollversicherungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2 Die Situation der Pflege in Rheinland-Pfalz: Ergebnisse einer Online-Befragung von Mitgliedern der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz Mareike Breinbauer, Rüdiger Jacob, Nico Richter und Johannes Kopp 2.1 Einleitung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Hintergrund und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Forschungsdesign und Methodik . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Sozialstrukturelle Merkmale der Stichprobe . . . . . . . . 2.5 Arbeitszeit, Schichtdienst und Personalstärke . . . . . . . 2.6 Arbeitsbedingungen, Patientenversorgung und Pflege . . .

19 20 22 23 24 29 33

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XVI 2.7 Entlohnung und Gehalt . . . . . . . . . . . 2.8 Zeitdruck und Arbeitsverdichtung . . . . . . 2.9 Schwierigkeiten bei der Patientenversorgung 2.10 Gesundheit und Belastungen . . . . . . . . 2.11 Verweildauer . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.12 Wechselbereitschaft und Arbeitsmigration . 2.13 Arbeitsplatzzufriedenheit . . . . . . . . . . 2.14 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . .

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3 Kleinräumige Projektionen der zukünftigen Pflegesituation in der Großregion Trier Joscha Krause und Ralf Münnich 3.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Prognosemodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Demographische Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Entwicklung der Pflegeprävalenz . . . . . . . . . . . . 3.3 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Gesamtergebnisse für die Großregion Trier . . . . . . . 3.3.2 Ergebnisse auf Kreisebene . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Methodenanalyse und Interpretation . . . . . . . . . . 3.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4 Demografische Entwicklung und Situation der Pflege in der Region Trier aus Sicht der amtlichen Statistik Ludwig Böckmann und Julia Stoffel 99 4.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 4.2 Demografische Entwicklung in der Region Trier . . . . . . . . 100 4.2.1 Region Trier verzeichnet kräftigen Bevölkerungszuwachs100 4.2.2 Zahl und Bevölkerungsanteil älterer Menschen nimmt seit Jahren zu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4.2.3 Unterschiedliche Bevölkerungsentwicklungen innerhalb der Region . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

Inhaltsverzeichnis 4.3

Situation der Pflege in der Region Trier . . . . . . . . . . . 4.3.1 Immer mehr pflegebedürftige Menschen . . . . . . . 4.3.2 Pflegerische Versorgung überwiegend zu Hause . . . 4.3.3 Angebot an professioneller Pflege steigt . . . . . . . 4.3.4 Regional unterschiedlich starke Zuwächse bei den Pflegebedürftigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Regionale Verflechtungen bei der ambulanten Pflege 4.4 Ausblick: Zahl der 70-Jährigen und Älteren nimmt in den kommenden 20 Jahren deutlich zu . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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108 108 111 113

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5 Demografische Entwicklungen und Situation der Pflege in Luxemburg aus Sicht der amtlichen Statistik Guillaume Osier und Francois Peltier 123 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 5.2 Annahme zur Fertilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 5.3 Annahme zur Mortalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 5.4 Annahme zum Wanderungssaldo . . . . . . . . . . . . . . . . 125 5.5 Prognose der Bevölkerung Luxemburgs . . . . . . . . . . . . . 126 5.6 Altersstruktur der Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 5.7 Altenquotient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5.8 Die ältere Bevölkerung in Luxemburg: Befunde der Statistik der Europäischen Union über Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 6 Die Landespflegekammer Rheinland-Pfalz. Ein Bericht über die erste Pflegekammer Deutschlands Hans-Josef Börsch 137 6.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 6.2 Politische Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 6.3 Gründungsphase und erste Kammerwahl . . . . . . . . . . . . 139 6.3.1 Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 6.3.2 Erste Kammerwahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

Inhaltsverzeichnis

XVIII 6.4

Status Quo der Landespflegekammer . . 6.4.1 Aufgaben . . . . . . . . . . . . . 6.4.2 Mitglieder und Mitgliedsbeiträge 6.4.3 Weitere Organe . . . . . . . . . . 6.5 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . .

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7 Häusliche Pflege in der Region Trier Mareike Breinbauer, Rüdiger Jacob, Nico Richter und Johannes Kopp 7.1 Einleitung und Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Zur Datenbasis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Ergebnisse der Regionalstudien . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Zum Gesundheitszustand der Bevölkerung . . . . . 7.3.2 Medizinische Versorgung in der Region . . . . . . . 7.3.3 Pflege und Leben im Alter . . . . . . . . . . . . . . 7.3.4 Ehrenamtliches Potenzial . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang: Übersicht der verwendeten Studien . . . . . . . . . . .

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8 Der Pflegearbeitsmarkt in der Großregion „Saarland – Lothringen – Luxemburg – Rheinland-Pfalz – Wallonie – Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens“ Oliver Lauxen 179 8.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 8.2 Ausgangslage: Arbeitsmarktdaten als Grundlage für die Pflegearbeitsmarktpolitik in Rheinland-Pfalz . . . . . . . . . . . . 183 8.3 Methodisches Vorgehen und Herausforderungen großregionaler Arbeitsmarktforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 8.3.1 Methodische Herausforderungen auf der Systemebene 188 8.3.2 Methodische Herausforderungen auf der Messebene . . 188 8.3.3 Methodische Herausforderungen auf der Auswertungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Inhaltsverzeichnis 8.4

Ausgewählte Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.1 Grenzüberschreitende Aktivitäten im Strategiebereich „Qualifizierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Grenzüberschreitende Aktivitäten im Strategiebereich „Aktivierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.3 Grenzüberschreitende Aktivitäten im Strategiebereich „Migration“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.4 Grenzüberschreitende Aktivitäten im Strategiebereich „Ausweitung der Beschäftigung (Bindung)“ . . . . . 8.5 Diskussion: Bewertung der Ergebnisse aus einer rheinlandpfälzischen Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.1 Grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Strategiebereich „Qualifizierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Strategiebereich „Aktivierung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.3 Grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Strategiebereich „Ausweitung der Beschäftigung (Bindung)“ . 8.6 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIX . 192 . 192 . 195 . 196 . 199 . 200 . 201 . 202 . 202 . 203 . 208

9 Chronische Erkrankungen und Pflege in der Grenzregion: Neue Perspektiven durch Pflegewissenschaft plus Gesundheitspsychologie Heike Spaderna 209 9.1 Die Ausgangssituation - einige Schlaglichter . . . . . . . . . . 210 9.1.1 Chronische Erkrankungen stellen große Herausforderungen für die Gesundheitsversorgung dar . . . . . . . 210 9.1.2 Ambulante Rehabilitation und Gesundheitsförderung vor Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 9.1.3 In Rheinland-Pfalz besteht im Hinblick auf die ambulante Versorgung Entwicklungsbedarf . . . . . . . . . . 211 9.2 Pflegewissenschaft plus Gesundheitspsychologie . . . . . . . . 212 9.3 Bisherige Schritte und weitere Perspektiven . . . . . . . . . . 217 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

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10 Implikationen häuslicher Pflegeverpflichtung im Vergleich zweier Grenzregionen. Reicht die Weitsicht weit genug? Elisabeth Simoes, Ralf Münnich, Joscha Krause, Joachim Graf und Sara Yvonne Brucker 225 10.1 Grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung beinhaltet grenzüberschreitende Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 10.2 Die Ausrichtung pflegerischer Versorgung in zwei Grenzregionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 10.2.1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . 228 10.2.2 Lernen voneinander? Erfahrungen aus Projekten an der deutsch-schweizerischen Grenze . . . . . . . . . . . 232 10.2.3 Pflegemigration – unumgänglich kontrovers? . . . . . . 233 10.3 Implikationen aus häuslicher Pflegeverpflichtung

. . . . . . . 234

10.3.1 Ein Thema der Frauen – aber nicht nur . . . . . . . . 234 10.3.2 Wie weit reicht Armut durch Pflege? . . . . . . . . . . 236 10.3.3 Gesundheitliche Folgen aus einer häuslichen Sorgeverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 10.3.4 Tabu und Stigmatisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 241 10.4 Empirische Analyse zum Thema „Armut durch Pflege“ . . . . 243 10.4.1 Pflege und Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 10.4.2 Pflege und Erwerbstätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . 244 10.4.3 Pflege und Finanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 10.4.4 Praktische Relevanz und Forschungsbedarf . . . . . . 253 10.5 Die Vision: Pflegeregion im Grenzgebiet . . . . . . . . . . . . 254 10.5.1 Mehrdimensionaler Ansatz zu systematisierter Unterstützung häuslich Pflegender . . . . . . . . . . . . . . 254 10.5.2 Vertrauensbildung: Qualitätstransparenz und Aktionsbündnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 10.5.3 Koordiniertes Lernen miteinander

. . . . . . . . . . . 257

10.5.4 Zusammenfassende Schlussfolgerungen . . . . . . . . . 258 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

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11 Potenziale der agentenbasierten Mikrosimulation zur Versorgungsplanung in der Pflege Joscha Krause, Ralf Münnich, Simon Schmaus, Jan Ole Berndt, Daniel S. Lebherz und Ingo J. Timm 265 11.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 11.2 Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 11.2.1 Erzeugung der realitätsnahen synthetischen Population268 11.2.2 Dynamische Mikrosimulation . . . . . . . . . . . . . . 272 11.2.3 Agentenbasierte Simulation . . . . . . . . . . . . . . . 276 11.3 Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 11.3.1 Simulationsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 11.3.2 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 11.3.3 Evaluation der Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . 286 11.4 Fazit und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 12 Pflege an der Grenze. Möglichkeiten, Chancen und Risiken. Eine Diskussion Hans Braun, Hans-Joachim Börsch, Margit Haas, Elisabeth Simoes und Oliver Lauxen 295 12.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 12.2 Zur Situation der Pflegekräfte: Anreize für Berufswahl, Berufsverbleib oder Berufswechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 12.3 Vernetzung pflegerelevanter Angebote . . . . . . . . . . . . . 303 12.4 Inhalte der Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 12.5 Pflege als individuelles Handeln und als sozialstaatliche Leistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Kapitel 1 Pflegebezogene Aspekte der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland, in der Schweiz und in Luxemburg Joachim Graf, Sara Yvonne Brucker und Elisabeth Simoes Forschungsinstitut für Frauengesundheit, Universitätsklinikum Tübingen Zusammenfassung: Dieser Beitrag vergleicht sozialrechtliche Bestimmungen hinsichtlich der pflegerischen Versorgung in Deutschland, in der Schweiz und in Luxemburg, um das Potenzial von grenzüberschreitenden Pflegearrangements zwischen diesen Staaten zu evaluieren. Dabei werden die wesentlichen Kennzeichen der jeweiligen nationalen Langzeitpflegesysteme systematisch gegenübergestellt. Der Fokus liegt dabei auf Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei der Leistungshöhe, der Art der Finanzierung und der strukturellen Ausgestaltung in der Langzeitpflege. Es zeigt sich, dass insbesondere die Leistungshöhe zwischen den Staaten variiert. Während in Deutschland die Pflegeversicherung nicht als Vollversicherung konzipiert ist, werden in Luxemburg die Pflegekosten fast vollständig übernommen. Darüber hinaus sind in Deutschland und der Schweiz die Pflegesätze von der Art der Pflege abhängig, was in Luxemburg weitestgehend nicht der Fall ist. Der hieraus abzuleitende Handlungsbedarf aufgrund der Zunahme der Pflegebedürftigkeit muss vor dem Hintergrund der nationalen demographischen Entwicklungen reflektiert werden, um die pflegerische Versorgung auch langfristig zu sichern. Schlagworte: Langzeitpflegesysteme, Systeme der sozialen Sicherung, Pflegefinanzierung, Leistungsumfang, internationaler Vergleich

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Münnich und J. Kopp (Hrsg.), Pflege an der Grenze, https://doi.org/10.1007/978-3-658-19575-5_1

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1.1 Einführung Sowohl in Deutschland, als auch in der Schweiz wird sich in den nächsten Jahren der Anteil der Pflegebedürftigen aufgrund des demographischen Wandels sukzessive erhöhen, was die Pflegesysteme vor Herausforderungen stellen wird, nicht nur, da ein steigender (bisher nicht gedeckter) Bedarf an Pflegekräften angenommen werden kann, sondern insbesondere auch, da aus einer erhöhten Anzahl an Pflegebedürftigen steigende von den Pflegesystemen zu tragende Kosten resultieren. Auch für das Großherzogtum Luxemburg wird eine demographiebedingte Zunahme von Pflegebedürftigen angenommen, allerdings wird die Entwicklung aufgrund günstigere Ausgangsbedingungen (günstigeres Verteilungsprofil in der Altersverteilung, höhere Fertilitätsrate, hohe Zuwanderungsraten) moderater ausfallen als in Deutschland und der Schweiz. Als Möglichkeit zur Abfederung der Folgen des demographischen Wandels wird u. a. die Implementierung von grenzüberschreitenden Pflegeregionen und -arrangements diskutiert (Simoes et al., 2016), was jedoch die kritische Reflektion der eigenen Versorgungsergebnisse sowie die Entwicklung einer Kultur des transparenten und kontinuierlichen voneinander Lernens voraussetzt. Insbesondere beim grenzüberschreitenden Vergleich von Pflegesettings sind Kenntnisse der zugrundeliegenden Pflegesysteme bzw. der umgebenden Systeme der sozialen Sicherung bedeutsam, die sehr deutlich die Art und Weise, wie dem Phänomen der Pflegebedürftigkeit begegnet wird, determinieren – u. a. bezogen auf das Leistungsniveau und das Finanzierungsregime. Anders als bei anderen Aspekten der sozialen Absicherung (z. B. gegen die Risiken Krankheit oder Alter) fehlen in der Forschungsliteratur beim Risiko Pflegebedürftigkeit bisher Publikationen, welche die sozialrechtlichen Bestimmungen von pflegebezogenen Aspekten verschiedener Systeme der sozialen Sicherung vergleichend darstellen. An dieser Stelle soll daher der Versuch unternommen werden, die wesentlichen Kennzeichen der Pflegesysteme Deutschlands, der Schweiz und Luxemburgs gegenüberzustellen. Wenngleich sich alle drei Systeme (freilich in unterschiedlicher Intensität) dem Problem der steigenden Anzahl an Pflegebedürftigen stellen müssen, wird aufgrund differierender sozialrechtlicher

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Bestimmungen unterschiedlich auf die Herausforderung reagiert, insbesondere, da sich die Vorstellungen hinsichtlich der Leistungshöhe, der Finanzierung und der strukturellen Ausgestaltung unterscheiden.

1.2 Soziale Sicherung und Langzeitpflege Der Begriff der sozialen Sicherung umfasst die Gesamtheit staatlicher Maßnahmen zum Schutz gegen Risiken wie Krankheit, Unfall, Alter, Tod oder Arbeitslosigkeit, wobei soziale Sicherungssysteme nach den Prinzipien der Versicherung, der Versorgung oder der Fürsorge organisiert sein können (Altbarnmer, 2002). Entsprechend ihrer institutionellen Ausgestaltung, dem Leistungsniveau und dem vorherrschenden Finanzierungstypus (Abgabenfinanziertes Sozialversicherungssystem vs. steuerfinanziertes Regime) werden die Aspekte der sozialen Sicherung in Mitteleuropa häufig in Bismarckund Beveridgesysteme klassifiziert – auch, weil insbesondere im Bereich der Absicherung gegen die Risiken Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit analoge Entwicklungen ersichtlich sind, weswegen sich die Teilsegmente idealtypisch einem der beiden Systemtypen zuordnen lassen (Kulesher und Forrestal, 2014, Oschmiansky und Kühl, 2010, Rohwer, 2008). Ein anderes Bild zeigt sich hingegen bei der Langzeitpflege, da sich die Idee einer separaten Absicherung gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit zunächst in keinem der Systemtypen fand und in Europa bis heute uneinheitlich geregelt ist. So finden sich Systeme mit eigener institutioneller Pflegeversicherung neben Staaten, in denen die Langzeitpflege innerhalb des Krankenversicherungssystems (und damit nicht separiert von der Krankenversorgung und –pflege) angesiedelt ist (Allen et al., 2011, Costa-Font und Courbage, 2015, Kraus et al., 2010, Wild, 2010). Die Absicherung gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit präsentiert sich im sozialrechtlichen Sinne also als ein vergleichsweise junges Phänomen, auf welche die sozialen Absicherungssysteme Deutschlands, der Schweiz und Luxemburgs in unterschiedlicher Weise reagieren, auch weil sich die Prävalenzen der Pflegebedürftigkeit unterscheiden: So waren im Jahre 2008 der OECD folgend 2,1 Prozent der luxemburgischen Bevölkerung pflegebedürftig, während die Pflegequote in Deutschland im gleichen Jahr 2,8 Prozent und in der Schweiz sogar 3,9 Prozent betrug (Colombo et al., 2011). Wie

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noch zu zeigen sein wird, ist die Pflegequote allerdings abhängig von der zugrundeliegenden sozialrechtlichen Definition, wer als pflegebedürftig im Sinne der gesetzlichen Regelungen gilt und dementsprechend leistungsberechtigt für entsprechende Maßnahmen des Systems der sozialen Sicherung ist.

1.3 Systeme der sozialen Sicherung in Deutschland, der Schweiz und Luxemburg In Deutschland umfasst die soziale Sicherung die gesetzlichen Sozialversicherungen, die soziale Versorgung und die Sozialfürsorge. Der Abschluss einer Krankenversicherung gemäß SGB V und einer Pflegeversicherung gemäß SGB XI ist obligat. Grundzüge des Sozialversicherungssystems bestehen in Deutschland seit 1883, 1995 wurde die Sozialversicherung, die Kernaspekte des Systems der sozialen Sicherung enthält (u. a. Arbeitslosen-, Renten-, Unfall- und Krankenversicherung) um die Säule der Pflegeversicherung ergänzt, andere Leistungen (z. B. Sozialhilfe und Arbeitslosengeld II) werden primär aus Steuermitteln finanziert (Schmidt, 2005). Als einziger europäischer Staat hat sich in Deutschland im Gesundheits- und Pflegesektor ein dualistisches System aus gesetzlichen (GKV) und privaten (PKV) Kassen erhalten. Ca. 70 Millionen Menschen (85 Prozent) sind im Rahmen des Gesetzlichen Krankenversicherungssystems versichert, das als Familienversicherung konzipiert ist. Es gilt das Sachleistungsprinzip mit nur geringen Zuzahlungen (u. a. 10 Prozent auf rezeptpflichtige Arzneimittel und Hilfsmittel, maximal jedoch 10 Euro; Bei stationären Krankenhausleistungen zahlen volljährige Versicherte der GKV je Kalendertag des Krankenhausaufenthalts 10 Euro für längstens 28 Tage im Jahr), die die finanzielle Situation von Pflegebedürftigen aufgrund der z.T. hohen Zuzahlungen zu den Leistungen der Pflegeversicherung jedoch weiter verschlechtern können. Der Grundbetrag zur GKV ist gesetzlich festgeschrieben und beträgt bis zum Erreichen der Beitragsbemessungsgrenze (2017: 52.200 Euro) aktuell 14,6 Prozent mit paritätischer Aufteilung zwischen Arbeitgebern (AG) und Arbeitnehmern (AN). Daneben kann von den Kassen ein Zusatzbeitrag erhoben werden (2017: zwischen 0,3 und 1,7 Prozent), der ausschließlich von den Arbeitnehmern entrichtet wird. Zur PKV bestehen institutionelle und monetäre Zugangsbeschränkungen, als Berechnungsgrundlage sind hier

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das Äquivalenz- und das Kostenerstattungsprinzip maßgebend (Böckmann, 2011, Fischer, 2007). In der Schweiz besteht ebenfalls ein umfassendes System der sozialen Sicherung, wobei die Sozialversicherung nur Teilaspekte abdeckt (u. a. die Rentenversicherung AHV (Alters- und Hinterlassenenversicherung) und die Invalidenversicherung IV), und nicht die in seiner jetzigen Form erst 1994 in der Gesamtschweiz eingeführte Krankenversicherung beinhaltet, die größtenteils privatwirtschaftlich organisiert ist. Wie in Deutschland besteht auch in der Schweiz eine Krankenversicherungspflicht für Jedermann, allerdings ohne Konzipierung als Familienversicherung. Die zu entrichtenden Prämien müssen direkt entrichtet werden, da sie nicht vom Arbeitgeber eingezogen werden. Das Leistungsniveau der Schweizerischen Krankenversicherungen entspricht nicht jenem einer Vollversicherung und ist insbesondere durch Franchiseorganisation und z.T. hohe Selbstbeteiligungen limitiert. Der von den Versicherten zu entrichtende Beitrag ist einkommensunabhängig und darf von den Krankenkassen unter Beachtung mehrerer gesetzlicher Restriktionen frei festgelegt werden (Kopfprämie), wobei seitens des Bundesamtes für Gesundheit Altersgruppen und Prämienregionen definiert werden. Die Beitragshöhe ist jedoch abhängig vom gewählten Versorgungsmodell (gewählt werden kann hierbei zwischen Hausarzt- und Bonusmodellen, dem Modell der freien Arztwahl und dem Health Maintenance Organization Modell), ferner gilt das Kostenerstattungsprinzip. Es besteht eine freie Versicherungswahl, wobei nicht alle Kassen in allen Kantonen/ Prämienregionen verfügbar sind (Bundesamt für Sozialversicherungen und Staatssekretariat für Wirtschaft, 2015, Eling und Parnitzke, 2006, Indra et al., 2015, Mäder, 2014, Nold, 2015). Das Gesundheitssystem Luxemburgs ist in das obligatorische Sozialversicherungssystem eingebettet und wird zu zwei Dritteln aus Sozialversicherungsbeiträgen finanziert, die paritätisch aufgeteilt sind. Das System beruht auf drei Prinzipien: zwingende Gesundheitsversicherung, freie Wahl des Anbieters für Patienten und verpflichtende Einwilligung des Anbieters, mit einem festgelegten Gebührensatz. Der zu entrichtende Sozialversicherungsbeitrag beträgt 5,44 Prozent des Bruttolohns (AG: 2,72 Prozent; AN: 2,72 Prozent) bis zu einer Grenze von monatlich 6.225 Euro, der von Selbstständigen allein

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entrichtet werden muss (Stand: 2017). Der für die Krankenversicherung zu entrichtende Sozialversicherungsbeitrag dient zur Absicherung von Sachleistungen im Krankheitsfall. Zusätzlich muss ein Beitrag zur Finanzierung von Geldleistungen im Krankheitsfall entrichtet werden, der nach dem Berufsstatus unterscheidet und ebenfalls paritätisch zwischen AG und AN aufgeteilt ist (Arbeiter: 2,35 Prozent; Angestellte: 0,10 Prozent). Der Unterschied rührt daher, da Arbeiter vom Tag der Krankheit an Krankengeld beziehen, Angestellte aber erst nach drei Monaten, da hier zuvor der Anspruch auf Gehaltsfortzahlungen des Arbeitgebers besteht. Die gesetzliche Krankenversicherung in Luxemburg umfasst neun Krankenkassen, die – historisch gewachsen – neun Berufsgruppen widerspiegeln. Ein freier Wettbewerb zwischen den Kassen besteht nicht, Leistungsumfang und Beitragshöhe werden vom Gesetzgeber festgelegt. Das Leistungsniveau des luxemburgischen Gesundheitssystems gilt als hoch, Zahn- und Augenbehandlungen werden i. d. R. finanziert. Dennoch bestehen private Zusatzversicherungen, wenn darüber hinausgehende Leistungen gewünscht werden. Rund ein Drittel der Finanzierung wird über Steuermittel getragen. Das obligatorische Sozialversicherungssystem umfasst Arbeitnehmer und gleichgestellte Gruppen, zu denen im Wesentlichen Rentenbezieher und weitere Empfänger von sozialen Sicherungsleistungen zählen, mitversichert sind i. d. R. Ehepartner, Kinder (so lange der Anspruch auf Kindergeld besteht), sowie unter Umständen verschwägerte und bis zum dritten Grad verwandte Personen, die im selben Haushalt leben. In Luxemburg gilt das Kostenerstattungsprinzip, was bedeutet, dass die Patienten in Vorauszahlung treten müssen, um die Kosten von ihrer Kasse anschließend vergütet zu bekommen. Sowohl für Arztbesuche als auch für Medikamente beträgt der Erstattungssatz i. d. R. 80 Prozent, wobei die von Versicherten getragene Selbstbeteiligung nicht mehr als drei Prozent des beitragspflichtigen Jahreseinkommens des Vorjahres betragen darf (Döring et al., 2005). Die vergleichende Darstellung der Charakteristika der Gesundheitssysteme verweist auf ein hohes Absicherungsniveau gegen das Risiko der Krankheit insbesondere in Deutschland und Luxemburg (mit deutlich höheren Beiträgen in Deutschland im Zweiländervergleich), während das Schweizer System (in dem die Krankenversicherung nicht in das klassische Sozialversicherungssystem integriert ist) durch ein im Vergleich geringeres Leistungsniveau und

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höhere (individuell festgelegte) Zuzahlungen gekennzeichnet ist. Wie zu zeigen sein wird, orientiert sich das Pflegesystem lediglich in Luxemburg an der Ausgestaltung des Gesundheitssystems, während in Deutschland und der Schweiz deutliche Änderungen zwischen beiden Systemen insbesondere bezogen auf die Leistungsbereitschaft ersichtlich sind.

1.4 Pflegebezogene Aspekte im Systemvergleich 1.4.1 Deutschland: Pflegeversicherungssystem mit festgelegter Maximalleistung In Deutschland hat sich mit Beginn des Jahres 2017 der Begriff der Pflegebedürftigkeit grundlegend gewandelt, wodurch mehr Personen unter die Definition fallen und entsprechend Anspruch auf Leistungen entsprechend SGB XI haben. Als pflegebedürftig gelten jetzt Personen, „die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbständig kompensieren oder bewältigen können. Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, und mit mindestens der in § 15 festgelegten Schwere bestehen“ (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, 2016). Analog zum Krankenversicherungssystem zeigt sich der Dualismus zwischen Anbietern im Rahmen der Sozialversicherung und privaten Anbietern auch bei der Pflegeversicherung. Seit 1995 stellt die Soziale Pflegeversicherung eine eigene Säule im Sozialversicherungssystem dar. Mitglieder der GKV sind bei der zu ihrer Krankenversicherung gehörigen Pflegekasse versichert, privat Krankenversicherte verfügen über eine private Pflegeversicherung bei ihrer Krankenkasse. Der einkommensunabhängige Beitragssatz zur gesetzlichen Pflegeversicherung beträgt aktuell (2017) 2,55 Prozent, der analog zum Grundbeitrag zur GKV paritätisch zwischen AG und AN aufgeteilt ist (je 1,275 Prozent). Kinderlose Versicherte ab dem vollendeten 23. Lebensjahr müssen zusätzlich den sogenannten Kinderlosenzuschlag in Höhe von 0,25 Prozent des Bruttoeinkommens entrichten. Anders als bei der GKV handelt es sich bei der gesetzlichen Pflegeversicherung um keine Vollversicherung, da Zahlungen nur bis zu einer

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gesetzlich vorgegeben Höchstgrenze geleistet werden, weswegen (insbesondere bei der stationären Pflege) z.T. hohe Zuzahlungen seitens der Pflegebedürftigen bzw. ihrer Angehörigen geleistet werden müssen. Allerdings können bei Bedarf Zusatzleistungen beantragt werden (z. B. Verhinderungspflege, Kurzzeitpflege, Maßnahmen zur Wohnumfeldverbesserung). Die Kostenübernahme für (Pflege-)Hilfsmittel wird von den Pflegekassen i. d. R. gewährt. Es bestehen Unterschiede im Leistungsniveau in Abhängigkeit vom Pflegesetting, wobei zwischen häuslicher/ familiärer, ambulanter und stationärer Pflege differenziert wird. Seit 2017 werden jeweils fünf Pflegegrade unterschieden, nachdem zuvor nach drei Pflegestufen differenziert wurde. Das Ausmaß der Pflegebedürftigkeit wird dabei vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) am Grad der Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen festgemacht. So werden zum Beispiel bei schwerster Beeinträchtigung der Selbstständigkeit (Pflegegrad 5) seitens der Pflegekassen Leistungen in Höhe von 901 Euro (bei häuslicher Pflege), bzw. 1995 Euro (bei Durchführung der Pflegemaßnahmen mittels eines ambulanten Pflegedienstes) bzw. 2005 Euro (im stationären Setting) übernommen (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, 2016, Gerlinger und Röber, 2014, Graf, 2017, Nagel, 2007, Schulz, 2010).

1.4.2 Schweiz: Pflegefinanzierung als Gemeinschaftsaufgabe von KV, AHV und IV Der im deutschen Sozialrecht genutzte Begriff der Pflegebedürftigkeit findet sich auf Schweizer Seite nicht, korrespondiert hier aber mit dem vom Bundesrat genutzten Terminus der Hilflosigkeit, obwohl z. B. im Krankenversicherungsgesetz auch auf den Ausdruck Pflegebedürftigkeit zurückgegriffen wird. Als hilflos gilt dabei allgemein, wer „für alltägliche Lebensvorrichtungen (Ankleiden, Toilette, Essen etc.) dauernd auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und dauernder Pflege oder persönlicher Überwachung bedarf “ (Geissbühler und Michaelis, 2012). Anders als in Deutschland hat sich in der Schweiz für die Langzeitpflege kein gesonderter Zweig der Sozialversicherung bzw. des Systems der sozialen Sicherung herausgebildet. Bei vorliegender Hilflosigkeit greifen sowohl Leistungsaspekte der Krankenversicherung als auch der AHV und IV, die zusammengenommen einen Großteil der anfallenden Pflegekosten kompensieren, zumal Zuschüsse seitens der Kantone erfolgen. Dabei ist ein von den Pflegebedürftigen selbst zu tragender

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Maximalbetrag definiert (entsprechend Art. 25a, Absatz 5 KVG): „Der versicherten Person dürfen von den nicht von Sozialversicherungen gedeckten Pflegekosten höchstens 20 Prozent des höchsten vom Bundesrat festgesetzten Pflegebeitrages überwälzt werden. Die Kantone regeln die Restfinanzierung“ (Bundesrat Schweizerische Eidgenossenschaft, 2016b). Die Höhe bzw. der Anteil an den Gesamtpflegekosten, welche von der Krankenversicherung übernommen werden, bleibt dabei undefiniert und wird zwischen der Versicherung des Pflegebedürftigen und dem zuständigen Kanton individuell ausgehandelt. Wenn der Zustand der Hilflosigkeit ununterbrochen mindestens ein Jahr bestanden hat, werden darüber hinaus Leistungen der IV (bei Pflegebedürftigen, welche das Renteneintrittsalter noch nicht erreicht haben) bzw. der Hilflosenentschädigung im Rahmen der AHV fällig, womit die nicht von der Krankenversicherung und den Kantonen finanzierten 20 Prozent der Gesamtpflegeaufwendungen häufig gedeckt werden können. In der Schweiz werden bei ambulanter Pflege, die von Spitex-Institutionen erbracht werden, drei Grade der Hilflosigkeit unterschieden, die anhand der Anzahl derjenigen Lebensverrichtungen bestimmt werden, bei denen die hilflose Person dauerhaft auf die Hilfe Dritter angewiesen ist. Unterschieden werden sechs alltägliche Lebensvorrichtungen: Ankleiden/ Auskleiden, Aufstehen/ Absitzen/ Abliegen, Essen, Körperpflege, Notdurft, Fortbewegung. Leichte Hilflosigkeit (1. Grad) liegt vor, wenn der Betroffene in mindestens zwei Bereichen dauerhaft auf Hilfe anderer angewiesen ist, oder dauerhafter persönlicher Überwachung bedarf. Bei mittelschwerer Hilflosigkeit (2. Grad) muss bei vier alltäglichen Lebensbereichen regelmäßiger Hilfsbedarf bestehen, während zur Feststellung von schwerer Hilflosigkeit alle sechs Bereiche betroffen sein müssen. Die Einstufung erfolgt nach Antrag ärztlicherseits, wird in stationären Einrichtungen IT-basiert jedoch noch weiter entsprechend dem täglichen Pflegebedarf in Minuten in zwölf Pflegestufen differenziert (Pflegestufe 1: 20 Minuten; Pflegestufe 12: mehr als 220 Minuten). Entsprechend der rechtlichen Vorgaben werden die Kostensätze für die erbrachten Pflegeleistungen sowohl für die ambulante Spitexpflege als auch für stationäre Leistungen in Pflegeheimen auf kantonaler Ebene zwischen den Anbietern, den Versicherern und den Kantonalvertretern ausgehandelt. Die Leistungssätze der AHV bemessen sich an der aktuellen minimalen Altersrente, wobei nicht nach der Art der Pflege differenziert wird. Aktuell (2017) werden bei leichter Hilflosigkeit 20 Prozent der minimalen Altersrente berechnet (235 CHF), während es bei mittelschwerer Hilflosigkeit 50 Prozent (588 CHF) und bei schwerer Hilflosigkeit 80 Prozent (940 CHF)

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sind. Vor allem die Unterbringungskosten in Schweizer Pflegeinstitutionen (Hotelierkosten) sind allerdings sehr hoch. Hilfsmittel müssen größtenteils privat getragen werden und werden von der Krankenversicherung nur bezuschusst (Bundesamt für Sozialversicherungen und Staatssekretariat für Wirtschaft, 2015, Bundesrat Schweizerische Eidgenossenschaft, 2015, 2016a, Graf, 2017, Portenier et al., 2015). Die Leistungsbereitschaft des Schweizer Pflegesystems ist also (insbesondere im Vergleich zu Deutschland) hoch, da die Pflegekosten bezogen auf die für die Körperpflege anfallenden Kosten fast vollständig übernommen werden, insbesondere die Aufwendungen für Hilfsmittel und Unterbringung belasten die betroffenen Privathaushalte jedoch in erheblichem Ausmaß. Aufgrund der hohen Hotelierkosten der überwiegend privatwirtschaftlich organisierten Pflegeinstitutionen werden in der Grenzregion vermehrt Heimplätze in Deutschland in Anspruch genommen, ferner ist der relative Anteil an Pflegebedürftigen, der stationär versorgt wird, geringer als in Deutschland.

1.4.3 Luxemburg: Sozialversicherungssystem mit Vollversicherungsanspruch Analog zu Deutschland (und im Gegensatz zur Schweiz) ist für das Luxemburger Pflegesystem der Begriff der Pflegebedürftigkeit leitgebend. Als pflegebedürftig gelten dabei Personen, „die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung eine regelmäßige und umfangreiche Hilfe Dritter bei den Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) benötigen“ (Ministère de la Securité Sociale, 2004). Bei den Aktivitäten des täglichen Lebens werden die drei Aspekte der Körperpflege, Ernährung und Mobilität unterschieden. Pflegebedürftigkeit liegt vor, wenn in mindestens einer Dimension eine Einschränkung der potentiell pflegebedürftigen Personen vorliegt (Ministère de la Securité Sociale, 2004). Um als pflegebedürftig gelten zu können, muss der Hilfsbedarf für (und nicht seit) sechs Monate Bestand haben oder irreversibel sein. Ferner muss der Hilfsbedarf in Folge einer körperlichen, psychischen oder geistigen Krankheit oder Behinderung auftreten und muss erheblich sein, da die Leistungen der Pflegeversicherung erst dann in Anspruch genommen werden können, wenn der wöchentliche Hilfsbedarf 3,5 Stunden übersteigt (Ministère de la Securité Sociale, 2015). Die Leistungen werden im Rahmen einer Pflegeversicherung erbracht, um welche das Sozialversicherungssystem Luxemburgs im Jahre 1999 als eigene Säule erweitert wurde und die vom Verband der Krankenkassen getragen

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wird. Die Pflegeversicherung ist als Pflichtversicherung konzipiert, wobei die Beiträge von allen Bürgern mit Einkommen (Berufstätige und Rentner) entrichtet werden müssen und zum Einkommen (anders als bei der Krankenversicherung) auch Mieteinnahmen, Zusatzrenten und Einkommen aus Vermögen gezählt werden. Anders als bei der Krankenversicherung besteht keine Beitragsbemessungsgrenze, auch hier sind Ehepartner und Kinder beitragsfrei mitversichert. Der anfängliche – einkommensunabhängige – Beitragssatz betrug 1,0 Prozent, im Jahre 2006 wurde dieser auf 1,4 Prozent angehoben. Mittels der Beiträge werden etwa 55 Prozent der Ausgaben des Pflegesystems gedeckt, der Rest wird über steuerliche Zuschüsse und einer speziellen Verbrauchssteuer auf Strom finanziert. Die Pflegeleistungen werden sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich nach individuell festgelegtem Hilfebedarf in Stunden festgelegt. Bei einem geringen Pflegebedarf von weniger als 3,5 Stunden in der Woche kann bei geringem Einkommen ein (dem Einkommen entsprechend) reduzierter Preis für die Pflegeleistungen bezahlt werden. Anders als in Deutschland werden die Pflegekosten entsprechend dem festgelegten Hilfsbedarf in der anfallenden Höhe entrichtet, ein Höchstsatz besteht also nicht (Wild, 2010). Kennzeichnend für das Pflegesystem ist also die bedarfsabhängige Kostenübernahme, Pflegegrade (wie in Deutschland) oder Grade der Hilfsbedürftigkeit (wie in der Schweiz) bestehen nicht. Ziel der Pflegeversicherung ist es, für einen Ausgleich der Kosten zu sorgen, wenn der Versicherte zur Verrichtung der wesentlichen Aufgaben des täglichen Lebens auf die Hilfe Dritter angewiesen ist. Innerhalb des festgelegten Pflegestundenbedarfs besteht ein uneingeschränkter Anspruch der Versicherten auf die Leistungen der Pflegeversicherung, die (je nach Pflegesetting) Sach- oder Geldleistungen gewährt. Ob Pflegebedürftigkeit vorliegt, wird auf Antrag von einem Arzt der cellule d’évaluation et d’orientation festgestellt, der auch den individuellen Pflegebedarf in Form eines Wochenstundenkredits des gewährten Umfangs an Hilfe und Pflege festlegt, und i. d. R. keiner Zuzahlungen seitens der Pflegebedürftigen bedarf (European Commission, 2017). Um die Transparenz der an den Pflegeleistungen beteiligten Akteure zu erhöhen, entschied sich Luxemburg für die Einzelleistungsabrechnung (Informations du Ministère de la Santé et du Ministère de la Sécurité Sociale, 2010). Neben der Kompensation von Einschränkungen bei den ATL werden von Pflegeversicherung auch Kosten übernommen, die der hauswirtschaftlichen Hilfe zugeordnet werden (Einkaufen, Unterhalt der Wohnung und dessen Ausstattung, Abwasch, Unterhalt der Wäsche und der Kleidung), die im Bereich der unterstützenden Maßnahmen (activités de

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soutien) liegen (Aufsicht zu Hause, spezialisierte Gruppenaktivität, individuelle Unterstützung, Begleitung beim Ausgang) oder die bei der Beratung für die selbständige Ausführung der verschiedenen Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL) und die Beratung der Pflegepersonen entstehen. Darüber hinaus anfallende Kosten müssen selbst getragen werden (z. B. Unterbringungskosten im Heim), wobei (wie z. B. in Deutschland) bei wirtschaftlicher Not Zusatzleistungen des Sozialversicherungssystems in Anspruch genommen werden können. Zu den Pflege- und Hilfsleistungen im ambulanten und stationären Bereich gehören dabei Sachleistungen (entrichtet bei professioneller Pflege), Geldleistungen (bei familiärer Pflege), Pflegehilfsmittel (bei medizinischer/ pflegerischer Indikation z. B. bei vorliegender Inkontinenz verordnet und finanziert) und technische Hilfsmittel (z. B. Rollstühle werden nach ärztlicherseits festgestelltem Bedarf von der Pflegversicherung kostenlos zur Verfügung gestellt). Häufig kommt es zu kombinierten Leistungen (familiäre Pflege und Pflege durch ein Pflegenetz), für die Pflege werden also anteilig Sach- und Geldleistungen entrichtet, wobei im Leistungsniveau nicht nach Pflegesetting unterschieden wird.

1.5 Fazit Die Pflegesysteme Deutschlands, der Schweiz und Luxemburgs unterscheiden sich hinsichtlich des Leistungsumfangs, dem Finanzierungsregime und dem strukturellen Aufbau in deutlicher Weise: Während in Deutschland und Luxemburg separate Sozialversicherungen zur Abfederung des Risikos Langzeitpflege bestehen, werden in der Schweiz die Kosten für Pflegebedürftigkeit anteilig von den Krankenversicherungen, den Kantonen sowie der Alters- und Hinterlassenversicherung sowie der Invalidenversicherung übernommen. Während in Deutschland festgelegte Maximalleistungssätze bestehen, die Pflegeversicherung also nicht als Vollversicherung konzipiert ist, werden in Luxemburg die anfallenden Pflegekosten fast vollständig übernommen, wobei nicht nach Pflegegraden differenziert wird. Anders als in Luxemburg und der Schweiz werden die Pflegesätze in Deutschland von der Art der Pflege abhängig gemacht und sind bei familiärer Pflege deutlich geringer als im ambulanten und stationären Setting. Lediglich Luxemburg folgt bei der Ausgestaltung seines Pflegesystems den Prinzipien des Gesundheitssystems und bietet sowohl gegen das Risiko der Krankheit als auch gegen jenes der Pflegebedürftigkeit eine Vollversicherung mit nur geringem Zuzahlungsniveau. In Deutschland ist das Leistungsniveau der Pflegeversicherung jener

Kapitel 1: Pflegebezogene Aspekte der sozialen Sicherungssysteme

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der Krankenversicherung unterlegen, da vom Gesetzgeber Maximalbeträge zur Pflegefinanzierung festgelegt werden. In der Schweiz sind die von den Betroffenen selbst zu tragenden Kosten innerhalb des Pflegesystems geringer als bei der Gesundheitsversorgung, wenn ausschließlich pflegebezogene Kosten, nicht aber Unterbringungskosten fokussiert werden. Auch im direkten OECD Performanzvergleich sind Unterschiede zwischen den drei Pflegesystemen erkennbar: Sowohl Deutschland (1 Prozent des BIP/GDP) als auch Luxemburg (0,9 Prozent des BIP/GDP), die hinsichtlich der Leistungsbereitschaft deutlich voneinander divergieren, gelten im direkten OECD-Vergleich als unterfinanziert, während der Anteil der Gesamtwirtschaftsleistung, der in der Schweiz für die Langzeitpflege aufgewendet wird, mit 1,5 Prozent in etwa dem OECD-Durchschnitt von 1,6 Prozent entspricht (OECD, 2013). In der OECD-Darstellung wird jedoch ausschließlich der Anteil des GDP, der für Leistungen im Rahmen der Langzeitpflege absolut verwendet wird, miteinbezogen, ohne Berücksichtigung der Pflegequote, die in Luxemburg jedoch deutlich geringer ist als in Deutschland und der Schweiz. Aufgrund der demographischen Herausforderungen wird in allen drei Pflegeregionen auch über Beitragserhöhungen nachgedacht werden müssen. Insbesondere Deutschland und die Schweiz werden zu reflektieren haben, wie Pflegeleistungen bei steigenden Pflegequoten finanziert werden müssen. In Luxemburg werden die Folgen des demographischen Wandels zwar moderater ausfallen, dennoch wird auch hier mittelfristig der Diskurs zu führen sein, wie Pflegeleistungen bei einer wachsenden Schicht an Pflegebedürftigen zu finanzieren sind, wenn das bisherige System einer Vollversicherung beibehalten werden soll. Deutschland hat insofern auf die wachsende Bedeutung der Langzeitpflege als gesamtgesellschaftliche Verantwortung reagiert, als dass zu Beginn des Jahres 2017 eine umfassende Pflegereform in Kraft trat, im Rahmen derer nicht nur der Pflegebedürftigkeitsbegriff breiter gefasst und differenziertere Abstufungen eingeführt wurden, sondern insbesondere auch das bisherige System der Leistungsabrechnung nach Minuten durch ein Begutachtungsassessment ersetzt wurde, dass den Grad der Selbstständigkeit der Pflegebedürftigen fokussiert – ohne allerdings eine Reformierung der nach wie vor bestehenden Leistungsunterschiede entsprechend dem Pflegesetting und

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Joachim Graf, Sara Yvonne Brucker und Elisabeth Simoes

der finanziellen Deckelung der Leistungen mit zu berücksichtigen, weswegen Pflegebedürftigkeit häufig mit Armut korrespondiert, die insbesondere pflegende Angehörige betrifft, wie in Kapitel 10 fokussiert wird.

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Kapitel 1: Pflegebezogene Aspekte der sozialen Sicherungssysteme

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Kapitel 2 Die Situation der Pflege in Rheinland-Pfalz: Ergebnisse einer Online-Befragung von Mitgliedern der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz Mareike Breinbauer, Rüdiger Jacob, Nico Richter und Johannes Kopp Empirische Sozialforschung, Universität Trier Zusammenfassung: Wie nehmen Pflegefachkräfte in Rheinland-Pfalz ihren Berufsalltag wahr, durch welche Faktoren fühlen sie sich belastet und welche Aspekte beeinflussen ihre Arbeitszufriedenheit? Diesen Fragen geht der vorliegende Beitrag nach. Als Datenbasis dient eine Online-Erhebung unter den Mitgliedern der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz (n = 674) aus dem Jahr 2017. Das Ergebnis ist recht eindeutig: Die Pflegenden der Studie sind besonderen Belastungen ausgesetzt. Zwei von fünf der befragten Pflegenden weisen ein hohes Burnout-Risiko auf. Hauptsächlich bedingt durch eine geringe Anerkennung und Wertschätzung der eigenen Arbeit und ein Ohnmachtsgefühl, die offenbar belastende Arbeitssituation aus eigener Kraft zu verändern. Einen vorzeitigen Ausstieg aus dem Pflegeberuf, als letzte Konsequenz den schwierigen Arbeitsbedingungen und hohen Belastungen zu entkommen, haben rund zwei Drittel der Befragten schon einmal in Erwägung gezogen. Nur 28 Prozent würde sich auf jeden Fall noch einmal für den Pflegeberuf entscheiden. Für rund ein Drittel der Befragten käme eine pflegerische Tätigkeit dagegen eher nicht mehr in Frage. Schlagworte: Arbeitsbelastung, Burnout-Risiko, Online-Survey, Pflege, Pflegekammer © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Münnich und J. Kopp (Hrsg.), Pflege an der Grenze, https://doi.org/10.1007/978-3-658-19575-5_2

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Mareike Breinbauer, Rüdiger Jacob, Nico Richter und Johannes Kopp

2.1 Einleitung und Problemstellung Der viel diskutierte und allgegenwärtige demografische und soziale Wandel trifft insbesondere das deutsche Gesundheitssystem und die Pflege. Das ohnehin schon ungleiche zahlenmäßige Verhältnis von potenziellen Empfängern von Leistungen der Alterssicherungssysteme und Pflegeleistungen zu den potenziellen Erbringern dieser Leistungen wird sich in Zukunft weiter verschlechtern. Die Alterung bei gleichzeitiger Schrumpfung der Gesellschaft führt zum einen zu einer Steigerung der Zahl der Pflegebedürftigen sowie einer erhöhten Nachfrage nach gesundheitsbezogenen Dienstleistungen und Produkten und konfrontiert zum anderen den Arbeitsmarkt mit einem sich verschärfenden Fachkräftemangel. Die Alterung der Bevölkerung und die damit einhergehende Zunahme an multimorbiden und pflegebedürftigen Personen führen dazu, dass der Bedarf an professioneller Pflege steigt. Gleichzeitig schrumpft durch den Geburtenrückgang das Arbeitskräftepotential und der heute schon zu erkennende Fachkräftemangel in der Pflege wird weiter zunehmen. Der Pflegearbeitsmarkt ist von diesen Entwicklungen besonders betroffen, da er sowohl auf der Angebots- als auch auf der Nachfrageseite mit den Auswirkungen konfrontiert wird. Da Pflegebedürftigkeit überwiegend ältere Menschen betrifft, ist davon auszugehen, dass durch die Zunahme des Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung auch die Zahl der Pflegebedürftigen steigt. Auch schwerwiegende, chronische Erkrankungen und Multimorbidität nehmen mit dem Alter zu und gehen mit einem steigenden Bedarf an Gesundheitsleistungen und höheren Gesundheitsausgaben einher (Bundesministerium des Inneren, 2011, S. 149). Auf der anderen Seite schrumpft das potenzielle Arbeitsangebot, sodass sich die Frage stellt, inwiefern die Versorgung der Pflegebedürftigen auch in Zukunft gewährleistet werden kann (Pohl, 2010, S. 37). Diese Entwicklung ist bereits jetzt in der Statistik sichtbar. Seit Einführung der Pflegestatistik 1999 hat sich die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland kontinuierlich erhöht. Von 1999 bis 2015 stieg deren Zahl von rund 2,02 Millionen auf 2,9 Millionen an (+ 43,6 Prozent) (Statistisches Bundesamt, 2017a; Statistisches Bundesamt, 2017b, S. 7). Auch in Rheinland-Pfalz steigt die Zahl Pflegebedürftiger stetig an. Im Jahr 2015 waren fast 132.300 Menschen in ihrem Alltag dauerhaft auf pflegerische Hilfe angewiesen, rund 40 Prozent mehr als noch 2001 (Stoffel, 2017, S. 1).

Kapitel 2: Die Situation der Pflege in Rheinland-Pfalz

21

Demgegenüber hat sich seit 2009 die Zahl der Beschäftigten in der professionellen Pflege leicht erhöht. Die Pflegebranche gehört damit zu den Wirtschaftsbereichen mit seit Jahren wachsenden Beschäftigungszahlen. Allein in den letzten 10 Jahren ist ein Anstieg der Beschäftigten in den Gesundheitsund Pflegeberufen von einem Fünftel zu beobachten (Nowossadeck, 2013, S. 1044). Doch trotz dieser Entwicklung muss die Lage auf dem Pflegearbeitsmarkt bereits heute als angespannt bezeichnet werden, da die Anzahl der Pflegekräfte insgesamt nicht ausreicht, um die Folgen des demografischen Wandels zu kompensieren (Löffert und Golisch, 2013, S. 10). In der Konsequenz kommt es zur Arbeitsverdichtung und Mehrarbeit des bestehenden Personals und damit zu wachsendem Zeitdruck und Zeitmangel. Hand in Hand mit dem Zeitmangel geht eine steigende psychische Belastung aufgrund der unzureichenden Bedürfnisbefriedigung der Patienten einher.

„Schwestern, Pfleger, Altenpflegerinnen, Altenpfleger und andere an professioneller Pflege beteiligte spüren die Diskrepanz zwischen den Forderungen einer optimalen Pflege und den gesundheitspolitischen Gegebenheiten, die eine solche oft als Utopie erscheinen lassen“ (Arndt, 2007, S. V).

Wenn die optimale pflegerische und gesundheitliche Versorgung der Patienten noch nicht einmal mehr annähernd hundertprozentig gewährleistet werden kann, kommt es bei vielen Pflegekräften zu einer zunehmenden psychischen Überforderung und das Burnout Risiko steigt. Um die gesundheitliche und pflegerische Versorgung der Gesellschaft auch in Zukunft sicherstellen zu können, muss sich das Berufsbild der Pflege in erheblichem Maße weiterentwickeln und sich den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen anpassen. Auf der einen Seite muss dringend der Bedarf an fehlenden Pflegekräften gedeckt werden. Dies kann nur gelingen, wenn der Pflegeberuf hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und der Arbeitsbelastung attraktiver gestaltet wird und somit wieder für junge Menschen als Ausbildungsberuf in Frage kommt.

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Mareike Breinbauer, Rüdiger Jacob, Nico Richter und Johannes Kopp

2.2 Hintergrund und Fragestellung Das Projekt „Berufsmonitoring Pflege“ startete zu Beginn des Sommersemesters 2013 an der Universität Trier und beschäftigt sich mit der Situation, den Arbeits- und Ausbildungsbedingungen, sowie den Belastungen im Bereich der professionellen Pflege. Das Projekt knüpft methodisch an Befragungen zum Berufsmonitoring bei Ärzten und Medizinstudenten an, die in den letzten Jahren in Kooperation mit der Kassenärztlichen Vereinigung Rheinland-Pfalz, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den deutschen Universitätskliniken durchgeführt wurden (Jacob et al., 2012, 2015). Es wird bei der Befragung zwischen dem Nachwuchs in der Pflege und qualifizierten, berufserfahrenen Pflegefachkräften unterschieden. Bei dem „Berufsmonitoring Pflege“ wurden in einem ersten Schritt von November 2014 bis Januar 2015 die Auszubildenden in der Gesundheits- und Krankenpflege an sechs ausgewählten Pflegeschulen in der Region befragt (n = 223). Im Zentrum der Untersuchung standen dabei die Fragen, wie die Pflegeschüler einerseits die Qualität der Ausbildung einschätzen und wie zufrieden sie mit ihrer Ausbildung sind, andererseits aber auch, welchen Belastungen und einschränkenden Rahmenbedingungen sie ausgesetzt sind und wie sie ihre beruflichen Perspektiven einschätzen. Es hat sich gezeigt, dass bereits die Auszubildenden erheblichen Belastungen ausgesetzt sind, vor allem das Arbeiten unter Zeitdruck und der anhaltende Personalmangel sind hier kritisch zu sehen. Auf der anderen Seite würden sich allerdings über 90 Prozent der Befragten noch einmal für eine Ausbildung in der Pflege entscheiden. Die intrinsische Motivation zum Pflegeberuf ist sehr hoch. Eine daran anknüpfende Befragung von Altenpflegeschülern im Einzugsgebiet der ADD Trier (n = 119) hat ähnliche Ergebnisse geliefert, die Teilnahmebereitschaft war allerdings eher gering. Um ein ganzheitliches Bild über die Situation der Pflege in Rheinland-Pfalz zu erhalten, sollten in einem nächsten Schritt qualifizierte Pflegefachpersonen aus allen drei Pflegebereichen (Akutpflege, ambulante und stationäre Pflege) befragt werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Untersuchung der Arbeitsbedingungen und Arbeitsbelastungen mit denen die Pflegenden in ihrem Berufsalltag konfrontiert werden. Aufgrund des sich verschärfenden Fachkräfteman-

Kapitel 2: Die Situation der Pflege in Rheinland-Pfalz

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gel, der daraus resultierenden Arbeitsverdichtung und dem Arbeiten unter ständigem Zeitdruck sind Pflegende, genauso wie andere systemrelevante Berufsgruppen, besonderen Belastungen ausgesetzt. Konkret soll in dem vorliegenden Beitrag untersucht werden, wie die Pflegefachpersonen in Rheinland-Pfalz ihren Berufsalltag wahrnehmen, durch welche Faktoren sie sich belastet fühlen und welche Aspekte die Arbeitszufriedenheit und damit auch die Bindung an den Pflegeberuf, gemessen an der Verweildauer, positiv als auch negativ, beeinflussen. Zudem soll untersucht werden, ob bezüglich der empfundenen Arbeitsbelastungen signifikante Unterschiede zwischen den einzelnen Pflegebereichen existieren. Dazu wurde zwischen November 2016 und Februar 2017 eine Online-Befragung unter den Mitgliedern der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz durchgeführt. Die Ergebnisse dieser Befragung werden in diesem Beitrag vorgestellt.

2.3 Forschungsdesign und Methodik Die Befragung wurde als Online-Erhebung konzipiert. Zielgruppe waren alle Mitglieder der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz, grundsätzlich war damit eine Vollerhebung geplant. Der Fragebogen umfasste insgesamt 76 Fragen zu den Themenfeldern: Arbeitsbereich und Einrichtung, Qualifikation, Aus- und Weiterbildung, Position und Aufgaben, Arbeitszeit, Schichtdienst und Personalstärke, Team und Kollegen, Entscheidungen zur Berufswahl, Arbeitsbedingungen und Patientenversorgung, Arbeitsplatzzufriedenheit und Wechselbereitschaft, Gesundheit und Belastungen, Entwicklungen in der Pflege, Pflegekammer und abschließend Fragen zur Demografie. Der Link zur Befragung wurde über die Landespflegekammer per E-Mail an die Teilnehmer gesendet. Dazu wurde zum einen das Mitgliedermailing1 genutzt, welches die Mitglieder zweimal pro Monat über berufsrelevante Entwicklungen informiert und zum anderen Multiplikatorenverteiler, die nach dem Schneeballprinzip (Diekmann, 2009, S. 400; Jacob et al., 2011, S. 89) 1 Erstes Mitgliedermailing am 04.11.2016, zweites Mitgliedermailing am 09.12.2016 und drittes Mitgliedermailing am 22.12.2016

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Mareike Breinbauer, Rüdiger Jacob, Nico Richter und Johannes Kopp

funktionieren. Da nicht alle Mitglieder der Landespflegekammer automatisch am Mitgliedermailing teilnehmen, sondern sich erst vorher mit ihrer E-Mail Adresse dazu anmelden müssen, ist nicht bekannt, wie viele Personen die Umfrage insgesamt erreicht hat. Auch die Landespflegekammer kann darüber keine Aussagen machen. Der Fragebogen war vom 04.11.2016 bis zum 28.02.2017 im Feld. Insgesamt haben sich 788 Personen an der Befragung beteiligt. Davon haben 547 Teilnehmer den Fragebogen komplett beendet und 241 an irgendeiner Stelle unterbrochen. Die mittlere Bearbeitungszeit lag bei rund 30 Minuten. Für die Datenanalyse wurden die Personen ausgescreent, die bereits zu Beginn des Fragebogens die Umfrage verlassen haben und weniger als 50 Prozent der Fragen beantwortet haben. Insgesamt bleiben somit 674 auswertbare Datensätze. Die Fragen wurden jedoch auch teilweise sehr selektiv beantwortet, sodass die Prozentuierungsbasis deutlichen Schwankungen unterliegt. Das ambitionierte Vorhaben einer Vollerhebung konnte nicht realisiert werden, die Teilnehmerschaft stellt eine selbstselektive Stichprobe dar und ist nicht das Ergebnis einer zufälligen Auswahl. Allgemein stellen Online-Befragungen selbstselektive Stichproben aus einer nicht bekannten Gesamtheit dar, die wiederum in den meisten Fällen eine nicht-zufällige Auswahl aus der eigentlichen Grundgesamtheit – hier aller Mitglieder der Landespflegekammer Rheinland-Pfalz – darstellt. Es gilt daher zu beachten, dass die Ergebnisse nicht aus einer Zufallsauswahl entstammen und deshalb auch nicht im mathematisch-statistischen Sinn auf die Grundgesamtheit generalisiert werden können. Zudem handelt es sich natürlich um eine Momentaufnahme aktueller Präferenzen, Bewertungen und Erwartungen, die sich im Zeitverlauf ändern können und deren Extrapolation in die Zukunft immer hypothetisch ist.

2.4 Sozialstrukturelle Merkmale der Stichprobe Im Folgenden werden die Daten zur sozialstrukturellen Zusammensetzung der Stichproben ausgewiesen (siehe Tabelle 2.1).

Kapitel 2: Die Situation der Pflege in Rheinland-Pfalz

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Tabelle 2.1: Sozialstrukturelle Merkmale der Stichprobe

Geschlecht Alter

n

%

Weiblich

406

78,7

Männlich

110

21,3

20 bis 29 Jahre

66

12,8

30 bis 39 Jahre

105

20,3

40 bis 49 Jahre

122

23,6

50 bis 59 Jahre

183

35,5

40

7,8

60 Jahre und älter ∅ Schulbildung

Arbeitsbereich

Niedrig

18

3,5

Mittel

246

48,3

Hoch

245

48,1

Akutpflege

396

64,2

70

11,3

Stationäre/teilstationäre 151 Pflege

24,5

Direkte Pflege

347

51,5

Funktionsabteilung

100

14,8

Leitungsfunktion

171

25,4

Ambulante Pflege

Funktion

Beschäftigungsumfang

44,9 Jahre

Stabsstelle

31

4,6

Lehrfunktion

48

7,1

Vollzeit

361

57,7

Teilzeit

257

41,1

8

1,3

Geringfügig

Bezogen auf die Geschlechterverteilung zeigt sich ein konsistentes Bild. Berufe im Gesundheitswesen sind allgemein überwiegend weiblich geprägt, was sich auch in unserer Stichprobe bewahrheitet. Rund 79 Prozent der

26

Mareike Breinbauer, Rüdiger Jacob, Nico Richter und Johannes Kopp

befragten Pflegefachpersonen sind weiblich. Laut Gesundheitspersonalrechnung des Statistischen Bundesamtes waren Ende 2015 rund 82 Prozent der Pflegefachpersonen (Gesundheits- und Krankenpflege, Rettungsdienst und Geburtshilfe, Altenpflege) in Deutschland weiblich. Was die Verteilung nach den drei Pflegebereichen betrifft, so ist die Akutpflege in der Stichprobe deutlich überrepräsentiert. Rund zwei Drittel der Befragten arbeiten in diesem Pflegebereich. In der ambulanten Pflege sind es dagegen nur rund 11 Prozent. Differenziert nach Geschlecht zeigt sich, dass Männer hauptsächlich in der Akutpflege tätig sind und in der ambulanten Pflege fast gar nicht vertreten sind.

Frauen

62

Männer

0%

25

13

74

20% Akutpflege

40%

24

60%

Stationäre/teilstationäre Pflege

80%

2

100%

Ambulante Pflege Sig.: .003, Cramer's V: .153

Abbildung 2.1: Arbeitsbereiche nach Geschlecht

Kapitel 2: Die Situation der Pflege in Rheinland-Pfalz

27

Was die Ausbildung und Qualifikation betrifft, so haben rund zwei Drittel der Befragten eine Ausbildung in der Gesundheits- und Krankenpflege absolviert. Eine Ausbildung in der Altenpflege haben nur rund 14 Prozent der Befragten Pflegefachpersonen und 10 Prozent haben ein Studium mit Pflegeschwerpunkt absolviert. Ebenfalls rund 10 Prozent sind ausgebildete Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerinnen. Knapp 84 Prozent haben bereits eine Weiterbildung in der Pflege absolviert oder möchten gerne eine Weiterbildung absolvieren. Die mit Abstand beliebtesten Weiterbildungen sind Praxisanleitung, Wohnbereichs- oder Stationsleitung sowie die Anästhesie- und Intensivpflege. Das Alter der Befragten schwankt zwischen 20 und 69 Jahren, das Durchschnittsalter beträgt 44,9 Jahre, der Median 47 und der Modus 54 Jahre. Die Pflegefachpersonen in der ambulanten Pflege (49 Jahre) sind im Durchschnitt rund 4 Jahre älter, als ihrer Kollegen in der Akutpflege (44 Jahre; Mittelwertvergleich, Sig.: .012 F-Test). Das Durchschnittsalter in der stationären und teilstationären Pflege beträgt 45 Jahre. Fast alle Befragten (98 Prozent) haben die deutsche Staatsbürgerschaft und wohnen überwiegend in Rheinland-Pfalz (91 Prozent). Alle Pflegenden, die in Rheinland-Pfalz ihren Arbeitsplatz haben, sind Mitglied in der Pflegekammer Rheinland-Pfalz. Die Mitglieder der Landespflegekammer werden gemäß § 111 Absatz 5 Satz 1 Heilberufsgesetz (HeilBG) ermittelt und durch die Pflegekammer registriert. Die Mitgliedschaft ist für Pflegende aus Rheinland-Pfalz verpflichtend. Alle Angehörigen der drei Pflegeberufe, die früher in Rheinland-Pfalz tätig waren, sowie Schüler, die in Rheinland-Pfalz in der Pflegeausbildung sind, können freiwilliges Mitglied in der Pflegekammer RLP werden. Berufsangehörige, die über eine Berufszulassung im pflegerischen Bereich z. B. in der Altenpflegehilfe oder Krankenpflegehilfe verfügen, können ebenfalls freiwilliges Mitglied werden. Auch Pflegefachpersonen anderer Bundesländer können sich seit dem 29. Februar 2016 freiwillig in der Pflegekammer Rheinland-Pfalz registrieren 2 . 2 Genauere Informationen zur Mitgliedschaft und Registrierung finden sich auf der Homepage der Landespflegekammer: http://www.pflegekammer-rlp.de.

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Mareike Breinbauer, Rüdiger Jacob, Nico Richter und Johannes Kopp Tabelle 2.2: Wohnortgröße Einwohner

n

Prozent

Dorf

2.000

bis

5.000

169

38,6

Kleinstadt

5.000

bis

10.000

53

12,1

Mittelstadt

10.000

bis

100.000

132

30,1

Großstadt

100.000

bis

500.000

81

18,5

Metropole

500.000

oder mehr

3

0,7

438

100,0

Gesamt

Die meisten Pflegefachpersonen leben in einem Dorf mit bis zu 5.000 Einwohnern oder einer Mittelstadt mit 10.000 bis 100.000 Einwohnern. Insgesamt ist Rheinland-Pfalz strukturell eher ländlich-kleinstädtisch geprägt und beheimatet nur vier Großstädte. Aufgrund der kleinräumigen Siedlungsstruktur pendelt die überwiegende Mehrheit der Befragten (82 Prozent) zu ihrem Arbeitsort. Die Entfernung schwankt zwischen 0,2 und 200 Kilometern. Median und Modus betragen je 15 km. Hierbei zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Pflegebereichen, den Altersklassen oder dem Geschlecht der Befragten. Tabelle 2.3: Schulabschluss Schulabschluss

n

Prozent

Volks- oder Hauptschulabschluss

18

3,5

Mittlere Reife oder ähnlicher Abschluss

246

48,3

Fachhochschulreife

129

25,3

Abitur

116

22,8

Gesamt

509

100,0

In Bezug auf die Schulbildung sind keine großen Auffälligkeiten zu beobachten. Knapp 48 Prozent der Befragten haben die Schule mit der Mittleren Reife oder einem vergleichbaren Abschluss beendet, rund ein Viertel sogar mit Fachhochschulreife und rund 23 Prozent mit Abitur. Aussagekräftige

Kapitel 2: Die Situation der Pflege in Rheinland-Pfalz

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signifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern, den Altersgruppen oder den Pflegebereichen sind bezüglich des Bildungsniveaus nicht auszumachen. Die familiäre Situation ist ebenfalls relevant für die subjektive Empfindung der Arbeitssituation und der Arbeitsbelastung und kann diese sowohl positiv als auch negativ beeinflussen. Aspekte wie Partnerschaft, Kinder und pflegebedürftige Angehörige, spielen dabei eine wichtige Rolle. Die überwiegende Mehrheit der Befragten Pflegefachpersonen (84 Prozent) hat einen festen Partner. Rund 18 Prozent haben Kinder unter 12 Jahren und 26 Prozent haben pflegebedürftige Angehörige, um die sie sich kümmern müssen. In Bezug auf die Kinder und pflegebedürftigen Angehörigen wurde ebenfalls danach gefragt, ob deren Betreuung während der Arbeitszeit ein Problem darstellt. Die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf wird im Pflegeberuf, aufgrund des Schichtdienstes und der oftmals wechselnden Arbeitszeiten, häufig auch als ein entscheidender Belastungsfaktor angesehen. Für fast alle Teilnehmer der Befragung (96 Prozent) ist eine gute Vereinbarkeit von Familie und Beruf wichtig bis sehr wichtig. In der Stichprobe geben rund 58% der Befragten mit Kindern an, dass deren Betreuung während der Arbeitszeit durchaus ein Problem darstellt. Und zwar grundsätzlich immer, besonders aber auch bei Spät- und Nachtdiensten, sowie am Wochenende. Von den Befragten mit pflegebedürftigen Angehörigen sagen rund 35 Prozent, dass sich die Betreuung mit der Arbeitszeit schlecht vereinbaren lasse. Hierbei zeigen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen Männern und Frauen oder den Arbeitsbereichen.

2.5 Arbeitszeit, Schichtdienst und Personalstärke Ein erfreuliches Ergebnis ist, dass fast alle Befragten (95 Prozent) eine unbefristete Beschäftigung haben und die Mehrheit Vollzeit beschäftigt ist. Wie auch in anderen Berufsgruppen sind Frauen deutlich häufiger nur in Teilzeit beschäftigt als ihre männlichen Kollegen, was hauptsächlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf geschuldet ist. Zwischen den einzelnen Arbeitsbereichen zeigen sich dagegen keine signifikanten Unterschiede.

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Mareike Breinbauer, Rüdiger Jacob, Nico Richter und Johannes Kopp

Frauen

51

48

Männer

1

85

0%

20%

14

40% Vollzeit

60% Teilzeit

80%

1

100%

Geringfügig Sig.: .000, Cramer's V: .285

Abbildung 2.2: Beschäftigungsumfang nach Geschlecht

Obwohl die Verweildauer im Pflegeberuf insgesamt eher niedriger ist als in anderen Berufen (vgl. z. B. Behrens et al., 2009, Golombek und Fleßa, 2011, Hackmann, 2012, Hasselhorn et al., 2005), verfügen die meisten Befragten in der Stichprobe über eine lange Berufserfahrung. Im Durchschnitt sind die Pflegenden seit rund 24 Jahren (Standardabweichung SD 11,7 Jahre) in der Pflege tätig, inklusive Ausbildungszeit. Dabei sind die Beschäftigen in den ambulanten Diensten mit rund 27 Jahren (SD 11,1 Jahre) am längsten in der Pflege, gefolgt von der Akutpflege mit 24 (SD 12,0 Jahre) und der stationären/teilstationären Pflege mit 23 Jahren (SD 11,0 Jahre). Die Unterschiede sind allerdings statistisch nicht signifikant. Neben der allgemeinen Berufserfahrung wurde ebenfalls danach gefragt, wie lange die Pflegenden bereits bei ihrem jetzigen Arbeitgeber (zum Zeitpunkt

Kapitel 2: Die Situation der Pflege in Rheinland-Pfalz

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der Befragung) beschäftigt sind. Im Durchschnitt sind es rund 15 Jahre (SD 11,1 Jahre). Mit knapp 17 Jahren (SD 11,6 Jahre) sind die Beschäftigten in der Akutpflege im Vergleich zu den anderen Pflegebereichen (je 12 Jahre) signifikant länger bei ihrem jetzigen Arbeitgeber beschäftigt (Mittelwertvergleich, Sig.: .000 F-Test). Nur bei knapp einem Viertel der Befragten gab es während der Beschäftigungszeit längere Unterbrechungen, in denen sie nicht berufstätig waren. Hauptsächlich Beschäftigte in den ambulanten Diensten (50 Prozent) berichteten von längeren Unterbrechungszeiten. Gründe dafür sind zum größten Teil Schwangerschaft und anschließende Elternzeit. Rund 13 Prozent der Pflegenden mussten krankheitsbedingt pausieren und 11 Prozent gaben psychische Überlastung als Grund für die Beschäftigungspause an. Auch bei der Frage nach dem Arbeitszeitmodell zeigen sich statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Pflegebereichen, was allerdings der unterschiedlichen Arbeitsorganisation geschuldet sein dürfte. Die überwiegende Dienstform ist der Schichtdienst. Beschäftigte in der Akutpflege arbeiten überwiegend in einem 3-Schicht-Modell (Früh-, Spät- und Nachtdienst), während in der ambulanten Pflege das 2-Schicht-Modell (Tag- und Nachtdienst) oder der reine Tagdienst am gängigsten sind. Die Befragten in der stationären und teilstationären Pflege arbeiten sowohl im 3- als auch im 2-Schicht-Modell oder im Tagdienst. Die Bewertung des Arbeitszeitmodells fällt eher mittelmäßig aus. Auf einer Schulnotenskala vergeben die Befragten im Durchschnitt eine 2,7 (befriedigend). Rund 10 Prozent vergeben sogar die schlechtesten Noten „mangelhaft“ und „ungenügend“. Signifikante Unterschiede zwischen den Arbeitsbereichen gibt es hierbei nicht. Auch das Thema Personalmangel als möglicher Grund für eine erhöhte Arbeitsbelastung spielt bei den Befragten eine große Rolle. Rund drei Viertel der Pflegenden geben an, dass in ihrem Arbeitsbereich nicht genügend Personal vorhanden sei, um die anfallende Arbeit adäquat zu erledigen. Im Durchschnitt sollte die Anzahl der Vollzeitäquivalente um 3,7 (SD 3,4) erhöht werden, so die Meinung der Befragten. Dabei zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen den einzelnen Pflegebereichen. Besonderer Bedarf scheint in der Akutpflege zu bestehen. In diesem Bereich sollte in den Augen

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Mareike Breinbauer, Rüdiger Jacob, Nico Richter und Johannes Kopp

Schwangerschaft und Elternzeit

73

9

Krankheit

Körperliche Überlastung Pflege eines Familienmitglieds Sonstige private Gründe 0%

18 20

8

Psychische Überlastung

14 4

3

4 3

6

83 77

18

14

6

Akutpflege Stationäre/teilstationäre Pflege Ambulante Pflege

11

9

20%

40%

60%

80%

100%

Abbildung 2.3: Gründe für eine längere Unterbrechung der Berufstätigkeit nach Pflegebereichen

der Beschäftigten die Anzahl der Vollzeitäquivalente um 4,1 (SD 3,7) erhöht werden. In der stationären/teilstationären Pflege sind es 3,0 (SD 2,7) und in der ambulanten Pflege 2,6 Vollzeitäquivalente (SD 1,5; Mittelwertvergleich, Sig.: .002, F-Test).

Was den Workload betrifft, so betreuen die Pflegende in der Akutpflege rund 16 Patienten (SD 16,1) während einer Schicht. In der stationären Pflege sind die Beschäftigten im Schnitt für rund 30 Pflegebedürftige (SD 26,8) pro Schicht verantwortlich. In der ambulanten Pflege werden im Durchschnitt 19 Klienten (SD 28,7) auf einer Morgentour bereut und 20 Patienten (SD 21,5) auf einer Nachmittags-/Abendtour.

Kapitel 2: Die Situation der Pflege in Rheinland-Pfalz

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Da es im Pflegeberuf häufig zu Krankständen und unvorhersehbaren Ereignissen kommt, müssen die Pflegefachpersonen oftmals zusätzlich zu dem regulären Dienst Sonderschichten einlegen oder für Kollegen einspringen. Diese zusätzliche Arbeit und die Anhäufung von Überstunden tragen natürlich ebenfalls zu einer erhöhten Arbeitsbelastung bei. In der Stichprobe geben rund 43 Prozent der Befragten an, häufig Sonderschichten oder Dienste von Kollegen übernehmen zu müssen. Nur vier Prozent sagen, dies sei nie der Fall. Dabei gibt es zwischen den Arbeitsbereichen keine nennenswerten Unterschiede. Was die Anhäufung von Überstunden betrifft, so haben die Befragten im Durchschnitt in den letzten sechs Monaten vor der Befragung rund 64 Überstunden (SD 54,1) geleistet. Auch hier zeigen sich zwischen den Pflegebereichen keine signifikanten Unterschiede. Für die Gesundheit der Angestellten und die Qualität der Arbeit ist die regelmäßige Einhaltung der Pausenzeiten im Arbeitsalltag besonders wichtig. Doch aufgrund des Mangels an Zeit und der Arbeitsverdichtung in der Pflege können oft selbst die gesetzlich geregelten Pausenzeiten nicht mehr eingehalten werden, was zu zusätzlichem Stress und psychischer Belastung führt. Aus diesem Grund wurden die Befragungsteilnehmer explizit danach gefragt, ob es ihnen möglich sei, ihre Pausen regelmäßig einzuhalten. Über die Hälfte der Beschäftigten in der Akutpflege und der stationären/teilstationären Pflege berichten, die Pausen ganz und gar nicht oder eher nicht einhalten zu können. In der ambulanten Pflege sind es 41 Prozent.

2.6 Arbeitsbedingungen, Patientenversorgung und Pflege Der Arbeitsalltag von vielen Pflegekräften ist immer noch durch schwierige Arbeitsbedingungen und eine hohe Arbeitsbelastung gekennzeichnet. Vor allem die hohen körperlichen und psychischen Belastungen, das Arbeiten unter ständigem Zeitdruck und die häufig ungünstigen Arbeitszeiten führen zu hohen Krankenständen und einer geringen Verweildauer in den Pflegeberufen. Nirgendwo in Europa denken so viele Pflegekräfte oft daran, den Beruf entweder komplett aufzugeben oder in eine andere Berufssparte zu wechseln wie in Deutschland, so die Initiative Neue Qualität der Arbeit

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Mareike Breinbauer, Rüdiger Jacob, Nico Richter und Johannes Kopp

70% 60% 50%

59

40% 44

47

30% 20% 10% 0%

Akutpflege

Stationäre/teilstationäre Ambulante Pflege Pflege Sig.: .008, Cramer's V.: .120

Abbildung 2.4: Einhaltung der Pausen nach Arbeitsbereichen

(INQA, 2010, S. 5). Die hohe Belastung der Beschäftigten wirkt sich zudem direkt auf die Pflegequalität und indirekt auch auf die Patientensicherheit aus. Zudem ist die Entlohnung des Pflegepersonals im Verhältnis dessen, was sie für die Gesellschaft leisten, viel zu gering. Auch die adäquate Anerkennung ihres Berufes in der Öffentlichkeit fehlt häufig, was wiederum für viele Beschäftigte eine zusätzliche Belastung darstellt und sie an der weiteren Berufsausübung zweifeln lässt. Vor dem Hintergrund des heute schon knappen Pflegepersonals ist dies im Hinblick auf die Sicherstellung der pflegerischen Versorgung der Zukunft besonders problematisch.

Kapitel 2: Die Situation der Pflege in Rheinland-Pfalz

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2.7 Entlohnung und Gehalt Wenn es um die Attraktivität und Rahmenbedingungen der Arbeit geht und darum, Anreize für junge Menschen zu schaffen, sich für den Pflegeberuf zu begeistern, so spielt unter anderem auch das Einkommen und die Entlohnung eine wichtige Rolle. In einer Studie aus dem Jahr 2013 analysieren Reinhard Bispinck und Kollegen (Bispinck et al., 2012) auf Basis der Lohnspiegel-Datenbank des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler Stiftung (WSI) Einkommens- und Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen. Die Auswertung von Einkommensdaten für Pflegeberufe bezieht sich auf 3.965 Datensätze, die von 2006 bis Anfang 2013 im Rahmen des Projekts Lohnspiegel durch eine Online-Befragung erhoben wurden. Das Bruttomonatseinkommen in Pflegeberufen beträgt demnach durchschnittlich 2.412 e (38Stunden Woche), variiert jedoch stark zwischen den einzelnen Berufsgruppen und Qualifikationsniveaus. Allgemein verdienen Krankenpfleger (2.434 e) und Kinderkrankenpfleger (2.389 e) etwas mehr als Altenpfleger (2.327 e). Unterschiede in Bezug auf die Bezahlung lassen sich ebenfalls hinsichtlich des Geschlechts, der Betriebsgröße, der Tarifbindung und der Berufserfahrung ausmachen sowie danach, ob Personen in West- oder in Ostdeutschland beschäftigt sind. Ergebnisse bezüglich der Arbeitsbelastung des Pflegepersonals zeigen, dass rund 53 Prozent der Beschäftigten mehr arbeiten als vertraglich festgelegt und ca. 14 Prozent davon keine Überstundenvergütung erhalten. Die Zufriedenheit mit der Bezahlung allgemein fällt mit einem Wert von 2,4 auf einer Skala von 1 bis 5 sehr gering aus. Insgesamt wird die Zufriedenheit mit der Arbeit mit einem Wert von 3,3 angegeben, was unter dem Durchschnitt aller Beschäftigten aus dem LohnSpiegel liegt. Um herauszufinden wie die Pflegenden in Rheinland-Pfalz ihre Bezahlung einschätzen, wurden die Teilnehmer zunächst danach gefragt, ob sie die Bezahlung für ihre berufliche Tätigkeit angemessen halten. Etwas mehr als ein Drittel der Befragten stimmen dem überhaupt nicht zu. Es zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen den drei Pflegebereichen. Beschäftige in der Akutpflege sind demnach noch unzufriedener mit der Entlohnung als ihrer Kollegen.

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Mareike Breinbauer, Rüdiger Jacob, Nico Richter und Johannes Kopp

Die Bezahlung für meine berufliche Tätigkeit halte ich für angemessen 35% 30% 25%

30 26

20% 15%

19

10% 5% 0%

Akutpflege

Stationäre/teilstationäre Ambulante Pflege Pflege Sig.: .028, Cramers V.: .109

Abbildung 2.5: Einschätzung der Angemessenheit der Bezahlung nach Arbeitsbereichen

Etwas später im Fragebogen wurden die Pflegefachpersonen dann in einer offenen Frage danach gefragt, was ihrer Meinung nach ein angemessenes Monatsnettoeinkommen für eine examinierte Pflegekraft mit fünf Jahren Berufserfahrung sei. Die Angaben schwanken zwischen 1.400 und 7.000 e. Der Mittelwert liegt bei 2.638,06 e (SD 653,24 e), Median und Modus bei 2.500 e. Auch hier gibt es deutliche Unterschiede bei den Gehaltsvorstellungen zwischen den Arbeitsbereichen. Während Beschäftigte in der Akutpflege eine Bezahlung von durchschnittlich 2.703,72 e (SD 669,65 e) pro Monat für angemessen halten, sind es in der ambulanten Pflege 2.565,79 e (SD 681,92 e) und in der stationären und teilstationären Pflege nur 2.478,13 e (SD 581,64 e; Sig.:

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.011 F-Test). Überraschenderweise zeigen sich bezüglich der Einschätzung der Bezahlung und der Gehaltsvorstellungen keine auffälligen Unterschiede zwischen Männern und Frauen.

2.8 Zeitdruck und Arbeitsverdichtung Neben der geringen Wertschätzung und Entlohnung stellen Zeitmangel und Zeitdruck einen entscheidenden organisatorischen Belastungsfaktor für Pflegende dar, der häufig als Konsequenz aus einem anhaltenden Personalmangel, aus unvorhersehbaren Ereignissen bei den Patienten und Pflegebedürftigen, aus zeitlich zu eng bemessenen pflegerischen Tätigkeiten und einer zu hohen Anzahl zu versorgender Patienten pro Pflegekraft entsteht (Stadtler, 2009, S. 84f.). Der Aspekt des Zeitdrucks bzw. der Zeitplanung im Arbeitsalltag wurde in der Befragung konkret aufgegriffen. Wir wollten wissen, wie die Befragten die zur Verfügung stehende Zeit für verschiedene pflegerische Tätigkeiten bewerten. Dafür standen die Kategorien „Dafür steht genügend Zeit zur Verfügung“, „Dafür steht zu wenig Zeit zur Verfügung“, „Kostet im Vergleich zu anderen Tätigkeiten zu viel Zeit“ und „Kann ich nicht beurteilen“ zur Verfügung. Vor allem in der Akutpflege und der stationären/teilstationären Pflege scheint Zeitmangel im Arbeitsalltag der Pflegenden ein besonderes Problem zu sein. Besonders besorgniserregend ist die Tatsache, dass knapp 80 Prozent der Pflegenden in der Akutversorgung und 70 Prozent der Beschäftigten in der stationären/teilstationären Pflege angeben, für die Patientenversorgung bzw. -betreuung, also die Hauptaufgabe der Pflegefachpersonen, würde nicht genügend Zeit zur Verfügung stehen. Es stellt sich dabei die Frage, wie die Arbeitsverdichtung und der Zeitdruck der Pflegekräfte zu Kosten der gesundheitlichen- und pflegerischen Versorgung der Patienten zu sehen ist und inwieweit dadurch eine mögliche Gefährdung der Patienten nicht mehr auszuschließen ist. Auch für den persönlichen Umgang mit Patienten und deren Angehörigen, sowie für die Praxisanleitung der Auszubildenden steht nach Meinung der Befragten viel zu wenig Zeit zur Verfügung. Problematisch zu sehen ist ebenfalls, dass die überwiegende Mehrheit der Beschäftigten in der Akutpflege und der stationären/teilstationären Pflege

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Mareike Breinbauer, Rüdiger Jacob, Nico Richter und Johannes Kopp

Patientenversorgung/ Pflege*** Gespräche mit Patienten/ Pflegebedürftigen***

Praxisanleitung

65

46

Neuaufnahme/ Erstbesuch***

39 39

Pflegeplanung***

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Transport der Patienten/ Fahrt zu den Klienten***

75

70

69

55

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Teambesprechungen**

56

53 51 47 45

34

39 44 38

Dokumentation**

Akutpflege

70

56

Pausen

0%

76

57

50

79

70

59

Gespräche mit Angehörigen***

79

69

50

20%

40%

Stationäre/teilstationäre Pflege

60%

80%

100%

Ambulante Pflege Sig.: *

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