Idea Transcript
Realitätsbezüge im Mathematikunterricht
Katja Eilerts Katharina Skutella Hrsg.
Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht 5 Ein ISTRON-Band für die Grundschule
Realitätsbezüge im Mathematikunterricht Reihenherausgegeber Werner Blum, Universität Kassel Rita Borromeo Ferri, Universität Kassel Gilbert Greefrath, Universität Münster Gabriele Kaiser, Universität Hamburg Katja Maaß, Pädagogische Hochschule Freiburg
Mathematisches Modellieren ist ein zentrales Thema des Mathematikunterrichts und ein Forschungsfeld, das in der nationalen und internationalen mathematikdidaktischen Diskussion besondere Beachtung findet. Anliegen der Reihe ist es, die Möglichkeiten und Besonderheiten, aber auch die Schwierigkeiten eines Mathematikunterrichts, in dem Realitätsbezüge und Modellieren eine wesentliche Rolle spielen, zu beleuchten. Die einzelnen Bände der Reihe behandeln ausgewählte fachdidaktische Aspekte dieses Themas. Dazu zählen theoretische Fragen ebenso wie empirische Ergebnisse und die Praxis des Modellierens in der Schule. Die Reihe bietet Studierenden, Lehrenden an Schulen und Hochschulen wie auch Referendarinnen und Referendaren mit dem Fach Mathematik einen Überblick über wichtige Ergebnisse zu diesem Themenfeld aus der Sicht von Expertinnen und Experten aus Hochschulen und Schulen. Die Reihe enthält somit Sammelbände und Lehrbücher zum Lehren und Lernen von Realitätsbezügen und Modellieren. Die Schriftenreihe der ISTRON-Gruppe ist nun Teil der Reihe „Realitätsbezüge im Mathematikunterricht“. Die Bände der neuen Serie haben den Titel „Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht“.
Katja Eilerts Katharina Skutella (Hrsg.)
Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht 5 Ein ISTRON-Band für die Grundschule
Herausgeber Katharina Skutella Institut für Mathematik Freie Universität Berlin Berlin, Deutschland
Katja Eilerts Institut für Erziehungswissenschaften Humboldt-Universität zu Berlin Berlin, Deutschland
Realitätsbezüge im Mathematikunterricht ISBN 978-3-658-21041-0 https://doi.org/10.1007/978-3-658-21042-7
ISBN 978-3-658-21042-7 (eBook)
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum Die vorherigen 18 Bände (0-17) der ISTRON-Schriftenreihe erschienen unter dem Titel „Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht“ beim Franzbecker-Verlag. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Verantwortlich im Verlag: Ulrike Schmickler-Hirzebruch Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Der Mathematikunterricht der Grundschule stellt die Weichen für erfolgreiches Modellieren. Gerade Schulanfänger gehen häufig noch unbefangen, kreativ und mit viel Freude an Modellierungsaufgaben heran und wachsen dabei nicht selten über sich hinaus. Offene und realitätsbezogene Aufgaben sollen daher von Beginn an den Mathematikunterricht prägen. Realitätsbezüge und Sachaufgaben haben in der Grundschule eine lange Tradition. Mathematisches Modellieren knüpft an diese Tradition an. Anders als beim traditionellen Sachrechnen, bei dem häufig das Festigen und Anwenden der Grundrechenarten bzw. der Umgang mit Größen im Vordergrund stehen, nehmen Modellierungsaufgaben ihren Ausgang in einer komplexen, realistischen Situation. Vom Zuckerverbrauch bis zur Haustierpflege, vom Sammelheft bis zum Kindergeburtstag: dieser 5. Band der ISTRONSchriftenreihe „Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Unterricht“ präsentiert erfolgreich erprobte Modellierungskontexte für die Grundschule und bietet praxisbezogene Empfehlungen für einen guten Mathematikunterricht. Die Beiträge belegen ein weiteres Mal, dass „mathematisches Modellieren“ gerade im Anfangsunterricht sein volles Potenzial entfalten und Kinder zu authentischem und zugleich substanziellem Mathematiklernen animieren kann. Neben zahlreichen Praxisbeispielen widmet sich der Band weiterführenden, für die Grundschule relevanten Fragen und eröffnet dabei neue Perspektiven: Wie gelingt mathematisches Modellieren in heterogenen, inklusiven oder jahrgangsübergreifenden Lerngruppen? Auf welche Weise können sprachförderliche Elemente das Mathematiklernen der Kinder bereichern? Wie wird Mathematikunterricht gendersensibel gestaltet? Wie lassen sich Übergänge gestalten und Brücken schlagen vom Elementar- in den Primarbereich und von dort in die Sekundarstufe? Diese und andere hochaktuelle Fragen werden in diesem Band am Beispiel konkreter Modellierungsanlässe adressiert.
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Qualitätskriterien für den Unterricht zum Modellieren in der Grundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . K. Maaß 1 Modellieren in der Grundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Was ist Modellieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Modellieren und Sachrechnen . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Qualitätskriterien für einen guten Unterricht zum Modellieren . 2.1 Erwartungshaltung der Lehrkraft . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Auswahl von geeigneten Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Förderung der Selbständigkeit durch Unterrichtsmethoden 2.4 Gezielter Aufbau von Modellierungskompetenzen . . . . 2.5 Reflektion über das Modellieren auf einer Metaebene . . 2.6 Hilfestellungen, die zur Selbständigkeit anleiten . . . . . . 2.7 Eigenständiger Lernbereich in allen Schuljahren . . . . . . 3 Einbezug des Modellierens in die Leistungsmessung . . . . . . .
Punkte sammeln um jeden Preis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . K. Eilerts und J. Kolter und K. Skutella 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Lernumgebung „Punkte sammeln – Lohnt sich das?“ . . 2.1 Zugänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Enthaltene Mathematik, angesprochene Kompetenzen 2.3 Ausgestaltung der Lernumgebung durch Material und Aktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Lösungsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Die Lernumgebung „Ein Berg voll Zucker“ . . . . . . . . . . . 3.1 Zugänge und enthaltene Mathematik . . . . . . . . . . . 3.2 Ausgestaltung der Lernumgebung durch Material und Aktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Lösungsräume – Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Resümee und Potentiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1 1 1 4 4 4 5 6 8 10 12 12 13
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Mathematik rund um die Schule – Modellieren mit Fermi-Aufgaben N. Haberzettl und S. Klett und S. Schukajlow 1 Modellierungsaufgaben in der Grundschule: Theorie und Praxis 1.1 Der Modellierungskreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Fermi-Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Kompetenzentwicklung durch Fermi-Aufgaben . . . . . . 2 Konzeption einer Unterrichtseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Aufbau der Unterrichtseinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Organisatorische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Methodische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Dokumentation ausgewählter Unterrichtssequenzen . . . . . . . . 3.1 Aufgabe: Apfel in Teile zerschneiden . . . . . . . . . . . . 3.2 Aufgabe: Brezeln für den Frühstücksbasar . . . . . . . . . 3.3 Aufgabe: Gäste bei der Afrika-Aufführung . . . . . . . . . 3.4 Aufgabe: Brotdosen aller Kinder der Klasse . . . . . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie viel Wasser verbrauchen wir in der Kita? – Modellieren von Anfang an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . K. Eilerts und D. van der Velden 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Die Auswahl einer kindgerechten Modellierungsfragestellung in der Kita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der einfache Modellierungsprozess im Vorschulbereich 2.2 Das Element Wasser und seine Bedeutung für Kinder . 2.3 Modellierungsaufgabe „Wasserverbrauch pro Tag in einer Kita“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Umsetzung in der Kita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erfolgreich das Tor hüten – Ein Modellierungskontext für verschiedene Altersstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . K. Skutella und K. Eilerts 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Mathematik und Fußball . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Mathematische und didaktische Analyse . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Ein mathematisches Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Inhaltsbezogene Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Klassenstufen 1/2 – Ein handlungsorientierter Zugang für den Anfangsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Klassenstufen 3/4 – Von der enaktiven zur ikonischen Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Klassenstufen 5/6 – Rechnen mit Maßstäben, Winkelbetrachtungen und dynamische Geometriesoftware . . . 3.6 Klassenstufen 7/8 – Vom Messen zum Rechnen . . . . .
31 31 32 33 33 34 34 34 35 35 35 36 37 39 40
. 43 . 43 . 44 . 44 . 46 . 46 . 46 . 49
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Klassenstufen 9/10 und Oberstufe – Trigonometrische Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung der Aufgabenstellung für höhere Klassenstufen . 4.1 Das Zonenmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernumgebung – Erste Erfahrungen und Ergebnisse . . . . . . . 5.1 Praktische Erprobung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Was kostet mein Haustier? – Sprachfördernder Mathematikunterricht A. Deseniss 1 Beziehungsreiches Lernen in der Grundschule . . . . . . . . . . . 1.1 Die Verbindung von Mathematik, Umwelt und Sprache . 1.2 „Haustiere“ als (fächer-)verbindendes Thema . . . . . . . 2 Die Modellierungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Sprachliche Aspekte der Aufgabenstellung . . . . . . . . . 2.2 Die Frage nach den Haustierkosten . . . . . . . . . . . . . . 3 Gestaltung der Unterrichtssituation unter sprachfördernden Aspekten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Aufgabe verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Hilfen nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Lösungsprozess begleitend reflektieren, Probleme und Fehler nutzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Ergebnis und Rückschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Erfahrungen aus der unterrichtlichen Umsetzung . . . . . . . . . . 4.1 Erprobung in einer zweiten Klasse . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Was wir an der Aufgabe gelernt haben . . . . . . . . . . . . . 5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wann ist das Sammelheft voll? – Kommunizieren und Argumentieren in inklusiven Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . S. Nordheimer und K. Eilerts und D. van der Velden 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gemeinsamer Unterricht für hörende und hörgeschädigte Kinder 3 Modellieren mit hörgeschädigten Schülerinnen und Schülern . . 3.1 Diskussion der vierschrittigen Modellierungskreisläufe und deren Umsetzung für hörgeschädigte Kinder . . . . . 3.2 Modellierungskreislauf für hörgeschädigte Schülerinnen und Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Entwicklung einer Lernumgebung für das mathematische Modellieren in einer inklusiven Klasse . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Umsetzung im MatheTreff – zwei Schülerbeispiele . . . . . . . . 6 Auswertung: Modellieren in inklusiven Gruppen . . . . . . . . . . 7 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57 58 58 59 59 61 63 65 65 65 66 67 67 69 70 70 71 72 73 74 74 75 79
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Modellierungspotenzial problemhaltiger Textaufgaben . . . . . . . . . R. Rasch und N. Sturm 1 Problemhaltige Textaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Ein Modellierungskreislauf für problemhaltige Textaufgaben . . 2.1 Modellbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Modellierungskreislauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Modellierungsphasen – Besonderheiten bei problemhaltigen Textaufgaben . . . . . . . . . . . . . . 3 Modellierungsprozesse von Viertklässlern – Fallbeispiele . . . . 3.1 Entwickeln eines Situationsmodells . . . . . . . . . . . . . 3.2 Selbstkonstruierte Repräsentationen bei der Entwicklung mathematischer Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Förderung des Modellierens im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Ein Repräsentationstraining in Klasse 4 . . . . . . . . . . . 4.2 Lösungshilfen beim Konstruieren mathematischer Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Wirksamkeit eines Repräsentationstrainings . . . . . . . . Welche Modellierungsaufgaben wählen Grundschullehrkräfte? – Ergebnisse einer Weiterbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . G. Lilitakis und K. Skutella 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Hintergrund zur DZLM-Weiterbildung „Modellieren in der Grundschule“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Was macht Modellieren aus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Präsentation der Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Mathematische Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Repräsentationsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Alltagsbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Die Aufgabe Apfelspalten und ihre Variationen . . . . . . . . . . 5.1 Wie viele Apfelspalten bekommst du aus einem Apfel? . 5.2 Wie viele Äpfel muss man zerschneiden, wenn die JÜL-b-Kinder in der Pause Äpfel essen wollen? . . . . . . 6 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Anregungen für erste Modellierungen im Mathematikunterricht der Grundschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Modellieren im Mathematikunterricht gendersensibel gestalten . A. Mischau und K. Eilerts 1 Warum eine gendersensible Gestaltung des Mathematikunterrichts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Kriterien für eine gendersensible Gestaltung . . . . . . . . . . 3 Vorstellung einer gendersensibel gestalteten Lernumgebung für das Modellieren im Mathematikunterricht . . . . . . . . . . 4 Reflexion des Beispiels und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . .
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Qualitätskriterien für den Unterricht zum Modellieren in der Grundschule Katja Maaß
Zusammenfassung
Die nationalen deutschen Bildungsstandards für die Grundschule nennen Modellieren als eine von fünf allgemeinen Kompetenzen, die die Lernenden in der Grundschule erwerben sollen. Doch was versteht man unter Modellieren und wo liegen die Unterschiede zum Sachrechnen? Können die Schülerinnen und Schüler der Grundschule überhaupt das Modellieren lernen? Wie sieht guter Unterricht zum Modellieren aus? Das sind alles Fragen, die sich in der Praxis stellen. Dieser Artikel versucht, darauf Antworten zu geben und eine Übersicht über die Thematik des Modellierens in der Grundschule zu geben.
1 Modellieren in der Grundschule 1.1
Was ist Modellieren?
Um die Frage zu beantworten schauen wir uns zwei Beispiele an. Beide sind offenbar Sachaufgaben zu einem Kontext, der die Schülerinnen und Schüler interessiert. Worin liegen die Unterschiede? In der Aufgabe (Kasten 1) sind alle wichtigen Angaben gegeben. Man kann dem Text entnehmen, dass die Jungen 60 Minuten gesprungen sind. Der Schüler oder die Schülerin muss also nur 60 durch 5 teilen und errechnet dabei, K. Maaß B Pädagogische Hochschule Freiburg, Freiburg, Deutschland
dass die Kinder jeweils 12 Mal springen konnten. Diese Sachaufgabe, aus der die Schülerinnen und Schüler Angaben entnehmen und die richtige Rechenoperation auswählen müssen, ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern, den Transfer zwischen Realität und Mathematik zu üben und schult das Operationsverständnis. Die Aufgabe ist jedoch keine Modellierungsaufgabe. Erst durch eine Veränderung (Kasten 2) wird sie dazu. In der Aufgabe in Kasten 2 wird nur die Situation beschrieben, wichtige Angaben fehlen jedoch. Man weiß weder, wie lange die Kinder springen, noch wie häufig sie pro Zeiteinheit springen können und genau hier fängt das Modellieren an. Realistische Sachverhalte und Problemstellungen wie im eben genannten Beispiel sind vielfach
K. Eilerts, K. Skutella (Hrsg.), Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht 5, Realitätsbezüge im Mathematikunterricht, DOI 10.1007/978-3-658-21042-7_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
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K. Maaß
zu komplex, um Mathematik direkt darauf anwenden zu können. In der Regel kann aber durch Vereinfachen ein passendes Modell entwickelt werden, in dem mathematisch gearbeitet werden kann. Ein Modell ist eine vereinfachende Darstellung des realen Sachverhaltes, die nur gewisse, für die jeweilige Fragestellung relevante Teilaspekte der Situation berücksichtigt.
Kasten 2: Bennies Geburtstagsfeier, Version 2
Kasten 1: Bennies Geburtstagsfeier, Version 1
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Benni hat Geburtstag. Zur Feier des Tages laden seine Eltern ihn und seine drei Freunde ins Schwimmbad ein. Die vier sind besonders versessen darauf, vom 3-Meter-Turm zu springen. Benni und seine Freunde verbringen zweimal 30 Minuten am Sprungturm. Jeder schafft es, alle 5 Minuten einmal zu springen. Wie oft konnten Benni und seine Freunde an diesem Nachmittag vom DreiMeter-Turm springen?
Wie gelangt man nun von einem Problem in der Realität zu einem Modell und von dem Modell zu einer Lösung des Problems? Der komplexe Vorgang des Modellierens kann vereinfachend als Kreislauf beschrieben werden (Abb. 1, vgl. Maaß 2009).
Endlich ist Sommer. Benni hat Geburtstag. Zur Feier des Tages laden seine Eltern ihn und seine drei Freunde ins Schwimmbad ein. Benni und seine Freunde sind besonders versessen darauf, vom 3-Meter-Turm zu springen und probieren immer neue Sprünge aus. Nach einer Stunde bekommen die Kinder Durst und holen sich am Kiosk etwas zu trinken. Am Ende des aufregenden Nachmittags spendiert Bennis Mutter noch eine Runde Eis! Ein toller Tag! Wie oft konnten Benni und seine Freunde an diesem Nachmittag vom Drei-Meter-Turm springen?
Die Kreislaufdarstellung des Modellierens (Abb. 1) ist ein vereinfachendes Schema. In den seltensten Fällen wird dieses Schema wie ein Algorithmus durchlaufen. In der Regel wird man zum Beispiel schon bei der Bildung des mathematischen Modells überlegen, inwieweit man überhaupt über die nötigen mathematischen Kompetenzen zur Bearbeitung des Modells verfügt. Oder man bemerkt bereits beim Bearbeiten, dass das Modell nicht geeignet ist und sucht nach neuen Möglichkeiten. Insgesamt ist Modellieren ein komplexer Prozess, bei dem immer wieder zwischen verschiedenen Schritten gewechselt wird. Bezogen auf die Aufgabe in Kasten 2 könnte der Lösungsprozess zum Beispiel
Qualitätskriterien für den Unterricht zum Modellieren in der Grundschule
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Abb. 1 Kreislaufdarstellung des Modellierungsprozesses
so aussehen wie im Folgenden kursiv dargestellt. Die reale Situation ist die Situation im Schwimmbad. Die Kinder sind am Nachmittag dort und nutzen die Zeit zum Springen. Weitere Zeit wird zum Durstlöschen und zum Eis essen benötigt. Die vorgegebene Situation in der Realität muss zunächst von den Lernenden verstanden werden. Dadurch entsteht ein mentales Modell der Realität, das sogenannte Situationsmodell. Durch Vereinfachen und Strukturieren der Situation sowie das Übersetzen in die Sprache der Mathematik entsteht das mathematische Modell. Wir nehmen hier an, dass Benni und seine Freunde von 15–18 Uhr, also drei Stunden, im Schwimmbad sind. Für das Umziehen, Trinken und Eis essen werden 45 Minuten benötigt. Dann bleiben zum Springen 135 Minuten. Sicherlich muss man beim Sprungturm anstehen. Also nehmen wir weiter an, dass dies inklusive des Besteigens des Turmes 5 Minuten dauert (bei heißem Wetter wollen viele Leute springen) und das Springen, Verlassen des Beckens und erneutes Laufen zur Treppe nochmals 3 Minuten benötigt. In diesem mathematischen Modell können nun heuristische Strategien und mathematische Algorithmen angewendet werden. Man erhält – im Idealfall – eine mathematische Lösung. 135 Minuten: (3+5 Minuten) = 16 Rest 7.
Was bedeutet nun dieses Ergebnis im Hinblick auf die Realsituation und Fragestellung? Man muss es darauf bezogen interpretieren und erhält die interpretierte Lösung. Wenn Benni und seine Freunde die gesamte Zeit mit Springen verbringen würden, könnten sie jeder 16-mal springen. Das Modellieren ist mit der Interpretation noch nicht beendet. Vielmehr muss über die gesamte Modellierung kritisch reflektiert, das Ergebnis durch das Vergleichen mit geeigneten Werten validiert werden. Erweist sich im Rahmen der Validierung die gefundene Lösung oder das gewählte Vorgehen als der Realität nicht angemessen, so müssen einzelne Schritte oder auch der gesamte Modellierungsprozess erneut durchgeführt werden, sei es mit veränderten vereinfachenden Annahmen oder mit anderen mathematischen Strategien. Wie könnte hier die Validierung aussehen? Grundsätzlich erscheint die Vorgehensweise sinnvoll. Die Erfahrung zeigt, dass 16-mal springen möglich ist, aber auch viel Kraft kostet. Man könnte hier aber zum Beispiel auch überlegen, dass die Kinder zwischendurch auch etwas anderes machen, so dass sie wahrscheinlich weniger häufig springen. Dauert das Warten nicht 5 sondern 10 Minuten, so können Benny und seine Freunde nur 10-mal springen. Wäre die Wartezeit kürzer, könnten sie entsprechend öfter springen.
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1.2
K. Maaß
Modellieren und Sachrechnen
Kann man das Sachrechnen eindeutig vom Modellieren abgrenzen? Das ist leider nicht möglich und liegt zum einen daran, dass es sowohl für das Sachrechnen als auch das Modellieren viele verschiedene Definitionen gibt (vgl. etwa Kaiser und Sriraman 2006; Franke und Ruwisch 2010), zum anderen daran, dass Überschneidungen aufgrund der Ähnlichkeit in der Natur der Sache liegen. Im Sinne einer möglichst klaren Definition sollen hier unter Sachaufgaben alle Arten von Aufgaben verstanden werden, die in einen realen oder realitätsnahen Kontext eingebunden sind. Unter Modellierungsaufgaben hingegen verstehen wir Sachaufgaben, die ein Durchlaufen des Modellierungskreislaufes oder zumindest einiger Teilschritte des Modellierungskreislaufes erfordern. Modellierungsaufgaben sind nach diesem Verständnis eine Teilmenge der Sachaufgaben.
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Qualitätskriterien für einen guten Unterricht zum Modellieren
Sachaufgaben haben eine lange Tradition im Mathematikunterricht der Grundschule. Doch wie sieht ein guter Unterricht zum Thema Modellieren aus? Folgende Qualitätskriterien erscheinen in diesem Zusammenhang wichtig: 1. Erwartungshaltung der Lehrkraft: Es ist wichtig, Vertrauen in die Kompetenzen der Kinder im selbständigen Arbeiten zu haben und ihnen etwas zuzutrauen. Gleichzeitig sollte man keine überzogenen Erwartungen an die Kinder haben, die sie nicht erfüllen können. 2. Auswahl von geeigneten Modellierungsaufgaben: Sie müssen sowohl bezogen auf die Schülerinnen und Schüler als auch auf die gesetzten Ziele geeignet ausgewählt werden. 3. Förderung der Selbständigkeit durch Unterrichtsmethoden: Sie sollten so ausgewählt werden, dass sie das selbständige Bearbeiten der Aufgaben durch die Schülerinnen und Schüler ermöglichen.
4. Gezielter Aufbau von Modellierungskompetenzen: Um die Schülerinnen und Schüler gezielt im Aufbau von Modellierungskompetenzen zu fördern, sollten auch einzelne Schritte des Modellierungskreislaufes gezielt gefördert werden. 5. Reflexion über das Modellieren auf einer Metaebene: Kenntnisse über das Vorgehen an sich sowie Reflexionen darüber unterstützen die Lernenden und geben ihnen einen Leitfaden zur Orientierung an die Hand. 6. Hilfestellungen, die zur Selbständigkeit anleiten: Die Hilfestellungen sollten so ausgewählt werden, dass sie den Lernenden keine Denkprozesse abnehmen, sondern sie in ihrer Eigenständigkeit unterstützen. 7. Eigenständiger Lernbereich in allen Schuljahren: Um die Schülerinnen und Schüler angemessen in das Modellieren einzuführen, sollte es vom ersten Schuljahr an ein eigenständiger Lernbereich in allen Klassenstufen sein. 8. Einbezug des Modellierens in die Leistungsmessung: Damit das Modellieren von den Schülerinnen und Schülern ernstgenommen und nicht nur als „Freizeitaktivität“ angesehen wird, muss es in die Leistungsmessung einbezogen werden. Im Folgenden werden diese Kriterien näher ausgeführt.
2.1
Erwartungshaltung der Lehrkraft
Vergleicht man das mathematische Modellieren mit einfachen arithmetischen Sachaufgaben, so mag es einem als sehr anspruchsvoll vorkommen, insbesondere, wenn man bedenkt, dass viele Schülerinnen und Schüler schon bei Textaufgaben Schwierigkeiten haben. Schaut man sich jedoch im Alltag um, so ist Modellieren eigentlich nichts anderes als eine Art, Probleme mit Hilfe von Mathematik zu lösen. Ein fünfjähriges Kind, dass den Tisch für die ganze Familie deckt, modelliert auf seinem Niveau: Die Teller und das Besteck müssen gerecht aufgeteilt und jedem Familienmitglied zugeordnet werden. Diese bereits
Qualitätskriterien für den Unterricht zum Modellieren in der Grundschule
vorhandenen Kompetenzen kann man gut für das Modellieren nutzen. Deshalb sind zwei Dinge für die Lehrkraft wesentlich: (1) Sie muss Zutrauen in die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler haben und davon überzeugt sein, dass sie die Aufgabe lösen können. (2) Sie darf nicht zu viel und keine perfekten Lösungen erwarten. Nicht alle Grundschüler und -schülerinnen sind bereits an das Modellieren gewöhnt und es kann in der Grundschule nicht darum gehen, die Lernenden zu perfekten Modelliererinnen und Modellierern auszubilden, sondern darum, ihnen ausreichend Raum für die Entwicklung zum selbständig denkenden Menschen zu geben. Die Schülerinnen und Schüler sollen vom Beginn ihrer mathematischen Ausbildung an mit Modellierungsaufgaben konfrontiert werden und sich daran gewöhnen, dass diese zum Mathematikunterricht gehören. Die Gründe dafür werden im folgenden Abschnitt betrachtet. Hier ist also Geduld bei der Lehrkraft gefragt: Auch wenn die ersten Modellierungsaufgaben nicht perfekt, ja vielleicht gar nicht gelöst werden, wenn die Argumentation nicht schlüssig ist oder mathematische Fehler auftauchen: Es geht hier darum, die Schülerinnen und Schüler an solche Aufgaben zu gewöhnen. Das ist nicht anders als im Deutschunterricht: Die ersten eigenen Schüleraufsätze sind in der Regel weit von literarischen Werken entfernt und dennoch wird das Schreiben von Aufsätzen nicht aus dem Deutschunterricht verbannt.
2.2
Auswahl von geeigneten Aufgaben
Die Auswahl der Aufgaben hängt sowohl von den jeweiligen Schülerinnen und Schülern und ihren Kompetenzen als auch von den Zielsetzungen ab, die man mit dem Modellieren verbindet. Was sind also die Ziele des Modellierens und des Sachrechnens? 1. Durch das Modellieren sollen die Schülerinnen und Schüler lernen, Mathematik in ihrer Umwelt wahrzunehmen und auf realistische
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Probleme anzuwenden. Sie entwickeln Kompetenzen zum Anwenden von Mathematik in realistischen Situationen sowie zum Verstehen und Bewältigen von Umweltsituationen; 2. Die Schülerinnen und Schüler sollen außerdem ein ausgewogenes Bild von Mathematik als Wissenschaft und ihrer Bedeutung für unsere Kultur und Gesellschaft erwerben (weg von „Mathematik braucht man im Leben nicht“); 3. Sie lernen heuristische Strategien, Problemlöse- und Argumentationsfähigkeiten sowie kreatives Verhalten; 4. Durch den Bezug zur Realität wird die Motivation zur Beschäftigung mit Mathematik gesteigert. Der konkrete lebensweltliche Bezug fördert außerdem das Behalten und Verstehen von mathematischen Inhalten. Diese vielfältigen Ziele führen dazu, dass viele unterschiedliche Aufgaben eingesetzt werden müssen. Diese Unterschiedlichkeit bezieht sich einerseits auf den zu wählenden Sachkontext, andererseits auf die Offenheit der Aufgabe. Welche Sachkontexte kommen in Frage? Will man den Schülerinnen und Schülern Kompetenzen zum Anwenden von Mathematik in realistischen Situationen vermitteln, so müssen Aufgaben ausgewählt werden, in denen nicht künstliche, sondern auch authentische Sachkontexte gezeigt werden. Gleiches gilt für das Ziel, ein angemessenes Bild von der Bedeutung von Mathematik für die Gesellschaft zu entwickeln. Damit die Lernenden die Aufgabe auch angemessen bearbeiten können, muss man auch von ihren Erfahrungen ausgehen. Welche Sachkontexte kommen also in Frage? Dies kann die Gestaltung einer Geburtstagsfeier wie oben in der Aufgabe sein, aber auch der Einkauf für ein Klassenfrühstück, die Frage, wie viel Geld eigentlich ein Haustier kostet (Kasten 7) oder die in Kasten 3 dargestellte Frage. Besondere Relevanz haben hier Aufgaben mit lokalem Bezug – zum Ort, in dem man wohnt oder zu regionalen Ereignissen. Außerdem dürfen die Schülerinnen und Schüler beim Bearbeiten von Sachkontexten auch etwas über den Sachkontext lernen, er muss also nicht immer aus ihrem unmittelbaren Erfahrungskon-
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text stammen. Warum sollte man also nicht eine Sachaufgabe zu Nashörnern oder Nilpferden stellen oder über Flugreisen? Wichtig ist nur, dass der Einstieg so gewählt wird, dass die Schülerinnen und Schüler sich an den Sachkontext annähern können und ihn verstehen (siehe Abschn. 2.3).
Kasten 3: Luftballons
Die Klasse 4b bläst für ihr Klassenfest viele Luftballons auf. Plötzlich fragt sich Nina, wie viele Luftballons wohl nötig sind, um den Klassenraum ganz zu füllen. Wie wäre das bei euch im Klassenzimmer? Wie viele Luftballons passen da rein? Und wie lange würdet ihr brauchen, um sie aufzublasen?
Schulstunde lösbar sind, können zunehmend auch solche ausgewählt werden, deren Bearbeitung 2–3 Stunden erfordert. Für Schülerinnen und Schüler, die noch nie modelliert haben, stellt die Aufgabe in Kasten 2 möglicherweise eine Überforderung dar. Aber sie werden nie lernen, selbständig Modellierungsaufgaben zu bearbeiten, wenn sie nur Aufgaben wie in Kasten 1 bearbeiten. Denkbar ist hier etwa eine Variante, wo zunächst nur eine Angabe, also etwa die Länge der Zeit, die die Schülerinnen und Schüler im Freibad verbringen, schätzen müssen. Dazu könnte man in der Aufgabe ergänzen: „Leider sind die Wartezeiten am Sprungturm wegen des Andrangs recht lang. Ein Schild kündigt an, dass die Wartezeit 10 min pro Sprung dauert.“
2.3
Förderung der Selbständigkeit durch Unterrichtsmethoden
Der Einsatz von Modellierungsaufgaben im Mathematikunterricht soll dazu führen, dass die Schülerinnen und Schüler lernen, selbstständig Mathematik auf komplexe Probleme anzuwenden. Daher müssen auch die Unterrichtsmethoden darauf ausgelegt sein, die Selbstständigkeit der Schülerinnen und Schüler und das eigenständige Denken zu fördern. Wie kann das beim Einstieg, beim Finden von Lösungsansätzen, beim Erarbeiten der Lösung und beim Präsentieren der Lösung aussehen? Foto from Wikimedia Commons, many thanks to KayEss. https://commons.wikimedia.org/wiki/file: balloons-kayess-1.jpeg?uselang=de
Wie offen sollte die Aufgabe sein? Ebenso wichtig wie die Auswahl eines geeigneten Sachkontextes ist die Auswahl eines geeigneten Grades der Offenheit der Aufgabe. Je besser die Schülerinnen und Schüler an Modellierungsaufgaben gewöhnt sind, desto mehr können der Grad der Offenheit der Aufgaben, die Anforderungen an die Argumentation sowie die zur Bearbeitung nötige Zeit erhöht werden. Während zunächst nur Aufgaben ausgewählt werden sollten, die in maximal einer
Einstieg: Wenn die Schülerinnen und Schüler den Sachkontext ernst nehmen sollen, muss er auch im Unterricht einen entsprechenden Stellenwert einnehmen und die Lernenden müssen zunächst einmal die Gelegenheit haben, sich mit dem Sachkontext auseinanderzusetzen. Dazu erhalten sie die nötigen Informationen zur realen Situation in Form von Bildern, kurzen Aufgabenstellungen, Informationstexten, Filmen, Erzählungen der Lehrkraft oder einer Geschichte. Eine Diskussion bzw. ein Austausch über den Sachkontext unter Einbezug des Vorwissens sollte sich anschließen, um die eigenen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler zu aktivieren und das Lernen in Zusammen-
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hängen zu ermöglichen. Bezogen auf die Aufgabe spräch bilden: Wie können wir nun vorgehen? von Bennis Geburtstag bieten sich Fragen an wie Welchen Lösungsweg wollen wir wählen? Hin„Wer von euch ist schon mal vom 3-Meter-Turm weise für die Erarbeitungsphase schließen sich an. gesprungen?“, „Wie oft macht ihr das?“. Erarbeitungsphase: In dieser Phase bieten sich Lösungsansätze finden: Ist das Problem verstan- Gruppen- und Paararbeit stärker an als Frontalden, so muss über Lösungsansätze nachgedacht unterricht, denn in solchen Arbeitsphasen sind werden. Zentral ist dabei, dass das Brainstor- deutlich mehr Schülerinnen und Schüler aktiv als ming von den Schülerinnen und Schülern und im Frontalunterricht, sie können angstfrei mitarnicht von der Lehrperson durchgeführt werden beiten und man kann sich als Lehrkraft einfach sollte. Vielleicht gibt man auch den Schülerin- weniger einmischen. Anders als Einzelarbeit bienen und Schülern zunächst Zeit, kurz allein über ten sie den Lernenden die Möglichkeit sich ausmögliche Ideen nachzudenken und sich dann mit zutauschen. Natürlich kann man nicht erwarten, dem Nachbarn bzw. der Nachbarin zu besprechen. dass Kinder in der Grundschule wirklich perfekt Anschließend werden die Vorschläge im Plenum in Gruppen arbeiten können. Doch Übung macht gesammelt und notiert. Durch die vorherige Part- bekanntlich den/die Meister/-in. Wichtig ist für einerdiskussion wird gewährleistet, dass nicht nur ne Gruppenarbeit in Mathematik, solche Aufgaben die leistungsstarken Lernenden an dem Brainstor- auszuwählen, die auch verschiedene Lösungswege ming teilnehmen. Die verschiedenen Ideen sollten zulassen und somit Diskussionsanlässe bieten. Die in dieser Phase von den Schülerinnen und Schü- zur Lösung nötigen Materialien sollten in ausreichender Anzahl vorhanden sein. Damit die Schüler lern untereinander diskutiert werden. Damit die Lernenden lernen, Diskussionen zu lernen, zusammen zu arbeiten, ist es sinnvoll, die führen, sollten sie ab dem ersten Schuljahr ange- Gruppen am Anfang möglichst klein zu wählen, leitet werden, Gespräche untereinander zu führen. also drei Lernende pro Gruppe. Die Gruppen können wahlweise nach den WünNatürlich können Erstklässlerinnen und Erstklässler kaum eine eigentliche Diskussion miteinander schen der Schülerinnen und Schüler, nach ihren führen. Aber man kann von vornherein die nöti- Kompetenzen (leistungshomogene oder -heterogege Basis dazu legen. Ganz wichtig dabei ist, dass ne Gruppen) oder durch Losung zusammengestellt die Kinder nicht nur lernen, der Lehrerin oder werden. Welche Art man wählt, hängt natürlich dem Lehrer, sondern auch den Mitschülerinnen von der Situation ab. Insgesamt sollte man abund Mitschülern zuzuhören. Der Lehrer bzw. die wechselnd vorgehen, weil alle Formen Vor- und Lehrerin kann dies durch Visualisierung der Bei- Nachteile haben und die Schülerinnen und Schüler träge unterstützen. Der einzelne Beitrag erfährt sich so auf verschiedene Situationen einzustellen lernen. Wichtig ist es, die Methode der Gruppenhierdurch Wertschätzung und bleibt verfügbar. Als Lehrkraft sollte man während solcher Pha- aufteilung mit den Lernenden zu besprechen und sen mit Kommentaren Zurückhaltung üben, wenn sie auch zu begründen. es auch noch so schwer fällt, und nur die Ideen sammeln und gelegentlich den Stand des Gesprä- Ergebnissicherung: Die Ergebnisse aus der Arches zusammenzufassen. Das Zurückhalten fällt beitsphase müssen gesichert werden. Angesichts leichter, wenn man sich immer wieder verdeut- der Vielzahl der möglichen Lösungswege und Lölicht, was man erreichen will: Die Schülerinnen sungen kann dies nicht durch einen von der Lehrund Schüler sollen lernen, selbstständig zu model- person formulierten Merksatz passieren. Vielmehr lieren und dazu müssen sie ihre Wege gehen und gibt es zahlreiche Möglichkeiten: Die Dokumentation im Heft oder auf einem Plaauch ihre Fehler machen! Den Abschluss dieser Phase kann zur Orien- kat dient in erster Linie dazu, den Weg, den der tierungshilfe für die Lernenden ein Planungsge- Schüler oder die Schülerin zur Lösung gegangen
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ist, festzuhalten. Sie ist also ein Teil des Lösungsprozesses und kein Endprodukt. Daher kommt es weniger auf die Form, als auf den Inhalt an. Auch Ansätze, die später vielleicht nicht weiterverfolgt werden, dürfen dokumentiert werden. Weil Fehlermachen dazugehört, sollen Fehler oder falsche Wege nicht auf dem Papier gelöscht werden. Die Ergebnisse der Erarbeitungsphase können dann z. B. im Plenum besprochen werden. Einzelne Gruppen stellen ihre Vorgehensweise und Ergebnisse vor. Die Lehrkraft hält sich dabei mit Kommentaren zurück und visualisiert, falls dies noch nicht von den Lernenden geleistet wurde, stattdessen die Erläuterungen der Schüler und Schülerinnen, etwa nach deren Diktat. Das Mitschreiben durch die Lehrkraft entlastet die Gruppenmitglieder davon, eine Präsentation zu erstellen. Sie können sich auf das Beschreiben ihres Vorgehens konzentrieren. Die Modellierungsergebnisse können auch durch die Gruppen präsentiert werden. Das Präsentieren ist für Grundschüler und Grundschülerinnen jedoch eine eigene Aufgabe, die sie erst lernen müssen. Daher ist es hilfreich – vor allem bei jüngeren und ungeübten Grundschülern und Grundschülerinnen – die Phase der Erarbeitung von der Phase der Vorbereitung einer Präsentation zu trennen. Die Lernenden erhalten erst den Auftrag eine Fragestellung zu bearbeiten. Erst wenn diese Phase beendet ist, bekommen sie den Auftrag ein Plakat o. Ä. zu erstellen und eine Präsentation vorzubereiten. Diese Präsentation sollte sich an den Kriterien orientieren, die in anderen Fächern bzw. im Methodencurriculum der Schule erarbeitet wurden. Um wesentliche Gütekriterien bezogen auf die Erstellung von Plakaten zu Modellierungsaufgaben zu erarbeiten, sollte anschließend anhand der Plakaten zu überlegt werde, wie man sie optimieren könnte. Dies muss natürlich in einer offenen, angstfreien Atmosphäre und in kleinen Schritten geschehen, um die Schüler nicht zu frustrieren. Wichtig ist auch, die Aufmerksamkeit der anderen Schülerinnen und Schüler für die Präsentation einzufordern. Dies gelingt am leichtesten, indem man die Wiederholung von Schüleraussagen ver-
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meidet. Ferner sollte man den anderen Schülerinnen und Schülern Beobachtungsaufträge geben: Z. B. „Achte darauf, was du an der Lösung gut fandst, was nicht so gut!“ oder „Merke dir, wenn du etwas nicht verstehst.“ Nach der Präsentation können diese dann den Präsentierenden Rückmeldungen geben. Grundsätzlich können kurze Modellierungsaufgaben natürlich auch in Freiarbeit oder auch im Rahmen eines Stationenlernens bearbeitet werden.
2.4
Gezielter Aufbau von Modellierungskompetenzen
Neben der Behandlung von Aufgaben, die das Durchlaufen des ganzen Modellierungsprozesses erfordern, ist es sinnvoll durch Schwerpunktsetzung im Unterricht auch gezielt die Entwicklung von Teilkompetenzen, die zum Modellieren nötig sind, fördern, so z. B. das Aufstellen des Modells, das Interpretieren oder Validieren. Diese Schwerpunktsetzung kann durch die Aufgabenstellung sowie durch Auswahl bestimmter Methoden erfolgen. Problembewusstsein und Fragestellungen entwickeln: Man kann den Schwerpunkt einer Stunde gezielt darauf legen, das Stellen von Fragen zu einem Sachkontext zu üben. Hier erfolgt der Einstieg in den Sachkontext durch eine Erzählung, ein Gespräch, ein Rollenspiel oder Bilder. Danach erhalten die Kinder die Gelegenheit, sich zum Sachkontext zu äußern. Wesentliche Aufgabe der Kinder ist es dann, Fragen zu dem Sachkontext zu stellen. Jedes Kind kann zunächst für sich über mögliche Fragen nachdenken. Anschließend werden die Fragen im Plenum gesammelt. Der Schwerpunkt des Unterrichts liegt also zunächst auf dem Finden der Fragen. Danach können ausgewählte Fragen weiterverfolgt werden. Modell aufstellen: Wenn die Kinder bei offenen Aufgaben Schwierigkeiten damit haben, zu erkennen, welche Größen die Aufgabe beeinflussen, so
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kann es hilfreich sein, die Situation im Modell nachzustellen oder eine Skizze anzufertigen. Die Schülerinnen und Schüler können auch aufgefordert werden, selbst Teilfragen zu entwickeln: Was müssen wir alles wissen oder schätzen, um die Aufgabe zu lösen? Anschließend können sie aufgefordert werden, diese Teilfragen zu lösen. Darüber hinaus kann die Lehrkraft auch verschiedene Annahmen zum Aufstellen des Modells auf Karten schreiben. Aufgabe der Lernenden ist es dann, zu diskutieren, welche der Annahmen wichtig sind, und welche nicht. Leerkarten bieten den Lernenden die Möglichkeit auch ihre eigenen Ideen zu integrieren. Kasten 4 zeigt, wie das zum Beispiel für die Aufgabe aus Kasten 2 aussehen kann. Für die Annahmen wurden sowohl relevante und weniger relevante Angaben ausgewählt, damit gezielt die Diskussion zwischen den Schülerinnen und Schülern angeregt wird.
Kasten 4: Ergänzung zur Geburtstagsfeier, Aufgabe aus Kasten 2 Die Feier dau- Bennis Mutter ist Die Wartezeit ert 6 Stunden. 40 Jahre alt. am Sprungturm beträgt 30 min. Benni hat Benni braucht Für das Eis am Morgen 1 min um auf den essen und SchokolaSprungturm zu das Trinken denkuchen steigen, zu sprin- benötigen gegessen. gen und aus dem die Kinder Wasser zu klet2 Stunden. tern.
Berechnen: Selbst wenn klar ist, welche Werte einen Einfluss auf das Ergebnis haben sollen, kann es für die Kinder schwierig sein, die Größen mathematisch zu verknüpfen. Richtige Grundvorstellungen von den Grundrechenarten sind dabei zwingend nötig. Man schult die Grundvorstellungen, in dem man die Lernenden beim Modellieren begründen lässt, warum sie welche Operation
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ausgewählt haben. Kommt es hier zu größeren Schwierigkeiten, so muss gezielt und separat von den Modellierungsaufgaben an dem Aufbau von Grundvorstellungen gearbeitet werden. Interpretieren: Es passiert häufig, dass die Kinder mit dem mathematischen Ergebnis ihre Überlegungen beenden und sich nicht mehr verdeutlichen, was das Ergebnis bedeutet. Dies sollte man dann bei der Besprechung der Aufgaben einfordern. Manche Kinder verlieren auch beim Rechnen völlig den Überblick und wissen dann am Ende nicht mehr, was sie eigentlich berechnet haben. Hier muss nochmals auf die gesamte Rechnung und die Fragestellung zurückgeblickt werden. Validieren: Das Validieren ist das kritische Rückblicken auf das Vorgehen sowie das Heranziehen von Vergleichsgrößen. Im Zuge des Validierens soll deutlich werden, ob die gewählte Vorgehensweise bzw. das Ergebnis sinnvoll ist. Die Kinder sind jedoch häufig daran gewohnt, dass sie von der Lehrkraft gesagt bekommen, ob ihr Vorgehen bzw. das Ergebnis korrekt ist. Daher ist es besonders wichtig, diesen Schritt zu üben. Die Validierung sollte daher immer wieder gezielt eingefordert werden, sowohl bei der individuellen Betreuung von Lernenden während Arbeitsphasen als auch im Plenum: „Was sagt dir, dass du richtig vorgegangen bist?“; „Kannst du mir dein Vorgehen begründen?“. Ebenso kann man die Kinder nach der Präsentation der Ergebnisse von Mitschülerinnen und Mitschülern auffordern, zu deren Vorgehensweise Stellung zu nehmen. Dabei muss man natürlich darauf achten, dass dies alles sachlich und freundlich und nicht etwa herabwertend passiert. Manchen Kindern fällt es leichter, sich kritisch mit den Vorgehensweisen und Ergebnissen von Unbekannten als mit den eigenen oder denen von Mitschülern und Mitschülerinnen auseinanderzusetzen. Daher kann man ihnen spezielle Aufgaben zum Validieren geben, in denen sie aufgefordert werden, zu Ergebnissen und Rechnungen Stellung zu nehmen (Kasten 5).
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Kasten 5: Eisdiele, Validierungsaufgabe
In Leos Wohnort Grübelfingen gibt es vier Eisdielen. Leo steht – wie so oft in diesem Sommer – vor seiner Lieblingseisdiele, dem Eiscafé Sorrento. Eine Kugel Eis kostet 1 Euro. Er fragt sich, für wie viel Geld der Besitzer wohl an einem heißen Sommersonntag Eis verkauft. Leo geht wie folgt vor: Er erinnert sich, dass er am letzten Sonntag ein Eis mit 4 Kugeln gekauft hat. Jeder Einwohner, jede Einwohnerin isst also ungefähr 4 Kugeln. Leo weiß außerdem, dass Grübelfingen 20.000 Einwohner hat und 4 Eisdielen hat. Also rechnet er:
laufen des ganzen Modellierungsprozesses erfordern als auch solche, die Teilfähigkeiten fördern. Keinesfalls sollten zunächst erst alle Teilfähigkeiten geschult werden müssen, bevor ganze Modellierungsprozesse ausgeführt werden. Vielmehr ist der Erfolg im Modellieren dann am größten, wenn beide Aufgabenarten parallel bearbeitet werden.
2.5
Reflektion über das Modellieren auf einer Metaebene
Viele Schülerinnen und Schüler sind es gewohnt, dass sie von der Lehrperson genau gesagt bekommen, was sie zu tun haben und ob das Ergebnis richtig ist. Im Leben jenseits der Schule ist die Situation jedoch ganz anders. Hier wird einem in den 20:000 W 4 D 5000 seltensten Fällen gesagt, ob das eigene Vorgehen richtig ist, etwa, wenn man als Handwerker oder 5000 4 D 20:000 Handwerkerin ein Werkstück ausliefert oder als Journalist einen Artikel einreicht. Hier bekommt Pro Tag werden in der Eisdiele Sorrento also man in der Regel die „Quittung“ erst später: Der 20.000 Kugeln verkauft. Eine Kugel kosten Kunde reklamiert das Werkstück oder der Artikel 1 C. Leo rechnet: wird abgelehnt. Damit einem so etwas nicht zu häufig passiert, ist die kritische Reflexion auf ei20:000 1 ¤ D 20:000 ¤: ner Metaebene essentiell und deshalb sollte man auch die Schülerinnen und Schüler darin fördern. Der Besitzer verkauft also für 20.000 C Eis. Die Lernenden können das natürlich nicht von Was meinst du dazu? Wie würdest du vorAnfang an, aber man kann sie Schritt für Schritt gehen? darin anleiten, in ihrem Vorgehen sicherer und selbständiger zu werden und vor allem über ihr Vorgehen nachzudenken. Ein kleines „Überleg doch mal, ob das Ergebnis richtig sein kann!“ oder „Stell dir die Situation doch mal konkret vor. Welchen Schritt würdest du jetzt gehen?“ können entsprechende Denkprozesse auslösen. Eine große Hilfe stellen auch Planungsgespräche vor dem Beginn der eigentlichen Arbeitsphase dar. „Wie könnten wir vorgehen?“ Zur Förderung der Reflexionskompetenz sollen von Anfang an Lösungsstrategien für Modellierungsaufgaben auf einer Metaebene diskutiert werden, also: Wie kann man vorgehen, um solche Damit die Schülerinnen und Schüler lernen, Aufgaben zu lösen? In den höheren Klassen (also etwa ab 3 oder komplexere Probleme zu modellieren, sollten sowohl Aufgaben bearbeitet werden, die das Durch- 4) kann man mit den Schülerinnen und Schülern,
Qualitätskriterien für den Unterricht zum Modellieren in der Grundschule
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Abb. 2 Lösungshilfe zum Bearbeiten von Modellierungsaufgaben (verändert nach Blum und Leiß 2005)
Abb. 3 Möglichkeiten für Modellierungskreisläufe für Klasse 1 und 2
etwa nach der Bearbeitung von drei Modellierungsaufgaben, z. B. folgendes Raster erarbeiten (Abb. 2): Hier ist wichtig, dass den Lernenden deutlich gemacht wird, dass es sich hier nicht um ein starres Schema handelt, dass es abzuarbeiten gilt. Wenn man das Problem durch Rechnen etc. nicht lösen kann, muss vielleicht anders vereinfacht werden. Wenn man keine Lösung findet – auch das kann passieren – muss man vielleicht noch mal von vorne anfangen. Auch für die jüngeren Schüler und Schülerinnen aus Klasse 1 oder 2 kann man das Metawissen über das Vorgehen bereits geeignet darstellen, wie die Überlegungen von Grundschullehrenden in Abb. 3 zeigen.
Über die Vermittlung von Wissen über Modellierungsprozesse hinaus sollten im Unterricht verschiedene Vorgehensweisen, Lösungen und Vorstellungen der Schülerinnen und Schüler produktiv, sachlich und nicht wertend diskutiert werden. Auch Fehler können in produktiver Weise Diskussionsgrundlagen liefern. Weiter sollten die Lernenden vor allem während der Gruppenarbeitsphasen immer wieder aufgefordert werden, ihr Vorgehen anhand ihres Metawissens zu überwachen („Was möchtest du jetzt machen? Schau mal auf unseren Leitfaden, wie du jetzt weiterkommst!“) und auch „Irrwege“ bei der Präsentation ihrer Lösung der Klasse darzustellen.
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2.6
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Hilfestellungen, die zur Selbständigkeit anleiten
Beim Bearbeiten von Modellierungsaufgaben durch die Lernenden sollte sich die Lehrperson soweit wie möglich zurückhalten und nur dann helfen, wenn es unbedingt nötig ist und auch dann nur so wenig wie möglich. Die Schüler und Schülerinnen sollen schließlich lernen selbstständig zu arbeiten! Es ist z. B. sehr effektiv, nur Fragen zu stellen, die die Probleme an die Schüler zurückgeben: Könnt ihr mir erklären, womit ihr euch gerade beschäftigt? Worin besteht das Problem? Was habt ihr bislang versucht, um das Problem zu lösen? Habt ihr weitere Ideen, wie ihr das Problem lösen könntet? Alleine das Beschreiben des Problems und der bisher versuchten Lösungswege durch die Lernenden führt häufig dazu, dass diese ihre Gedankengänge strukturieren und dann alleine Wege und Möglichkeiten finden, um fortzufahren. Genügt dies nicht, so kann man auch Hilfen geben. Hier sollte man zunächst im Rahmen einer Hierarchie von gestuften Hilfen (vgl. Zech 1998) möglichst solche Hilfen einsetzen, die das selbständige Arbeiten der Lernenden weitgehend fördern. Dazu gehören: Motivationshilfen („Du wirst das schon schaffen!“, „Versuch es doch mal!“) Rückmeldungshilfen („Du bist auf dem richtigen Weg!“, „Rechne noch mal nach!“) Strategische Hilfen („Mache dir eine Skizze!“, „Welche Größen benötigst du, wie kannst du sie erhalten?“, „Überlege dir, welcher Schritt vom Modellierungen als nächstes kommt.“) Sparsam sollte man hingegen mit konkreten inhaltlichen Hilfen sein, die sich zwar nicht ganz vermeiden lassen, im Interesse der Entwicklung der Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler jedoch deutlich reduziert werden sollten. Dazu gehören bezogen auf die Aufgaben in Kasten 2 Hinweise wie: „Überlege dir, wie lange Benni im Schwimmbad ist.“ „Wie lange braucht er, um auf den Turm zu klettern und zu springen?“ „Nimm einfach an, dass die Wartezeit pro Sprung 10 min beträgt.“
Die Beispiele zeigen deutlich: Setzt man massivere Formen der Hilfe, insbesondere inhaltliche Hilfen verstärkt ein, so wird aus einer offenen Aufgabe schnell eine geschlossene Aufgabe. Inhaltliche Hilfen sollten also wohl dosiert und so spät wie möglich eingesetzt bzw. ganz vermieden werden. Daher sollten die anderen Formen der Hilfestellungen bevorzugt werden. Motivationshilfen können den Lernenden Mut machen („Die Aufgabe ist lösbar, versuch es doch mal“, „Nur Mut!“). Eine Stufe weiter gehen Rückmeldungshilfen, die zum Lösungsprozess des Schülers direkt Bezug nehmen („Weiter so!“, „Du bist kurz vor der Lösung!“). Strategische Hilfen geben Tipps, welche Strategien zum Ziel führen könnten oder sie rücken das Ziel wieder in das Bewusstsein. Im Zweifelsfall gilt: Man sollte lieber auch mal eine einfachere Lösung akzeptieren, um die Schüler und Schülerinnen ans selbständige Denken heranzuführen, als sie durch geführte Hilfen zur möglicherweise von der Lehrkraft präferierten Lösung zu führen. Die Schüler müssen lernen mit der Offenheit einer Aufgabe umzugehen. Lässt man nach einer Arbeitsphase der Lernenden die verschiedenen Lösungen präsentieren, so erhalten auch die Schüler und Schülerinnen, die selbst einfache Lösungswege entwickelt haben, Einblicke in die komplexeren Lösungen. Vergleichende Gespräche über die verschiedenen Lösungswege im Plenum unterstützen dies. Natürlich ist es auch wichtig, die Lernenden gelegentlich durch wohldosierte Fragen zu einer „sinnvolleren“ Lösung zu führen – es kommt eben auf die Balance an.
2.7
Eigenständiger Lernbereich in allen Schuljahren
Sachrechnen durchzieht die gesamte Grundschulzeit und sollte in allen Schuljahren ein eigenständiger Lernbereich sein (vgl. Franke und Ruwisch 2010). Das gleiche gilt entsprechend auch für Modellierungsaufgaben. Die Schülerinnen erwerben die Modellierungskompetenzen quasi „nebenbei“, wenn Ihnen von Anfang an altersgerechte Aufgaben präsentiert werden, ist doch das Modellieren
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von Situationen selbstverständlicher Bestandteil ihres Alltages wie oben bereits erläutert wurde. Dieses Vorgehen ist daher für die Schülerinnen und Schüler bedeutend einfacher als wenn ihnen erst ab Klasse 3 oder 4 ein völlig neuer Aufgabentyp präsentiert wird. Natürlich können die Lernenden in Klasse 1 noch keine Texte lesen und ihre Antworten nicht aufschreiben. Um dem Sachkontext den nötigen Stellenwert zu geben, sollte er daher in der Grundschule „inszeniert“ werden. Das kann durch eine Erzählung geschehen, aber auch durch Gespräche, Rollenspiele oder Bilder. Die Ergebnisse können durch Zeichnungen oder auch mündlich dargestellt werden. Kasten 6 zeigt eine mögliche Modellierungsaufgabe für Klasse 1. Die Spontaneität der Kinder in Klasse 1 kann zu voreiligen Schlüssen führen. Lösungen anderer Kinder werden kaum hinterfragt. Gerade deshalb ist es so wichtig, Modellierungsaufgaben bereits im Unterricht der ersten Klasse zu behandeln, denn im Umgang mit solchen Aufgaben bilden sich die entsprechenden Kompetenzen heraus. Auch die Fähigkeiten, die Lösungen gemeinsam zu finden oder auch anderen mitzuteilen, sind noch nicht gut ausgebildet. Häufig setzt sich der/die „Stärkere“ durch und deshalb bedarf es auch hier der Übung. Häufig ist eine vorformulierte Frage für die Kinder nicht handlungsleitend. Sie gehen im Sachkontext auf und vergessen dabei mitunter die eigentliche Frage. Doch wenn man bedenkt, wie oft in späteren Schuljahren beklagt wird, dass die Schüler und Schülerinnen den Sachkontext nicht richtig beachten oder nur eingeschränkt wahrnehmen, kann dies nicht als Problem gesehen werden. Wichtig ist hier, dass die Kinder genügend Zeit erhalten, die Situation für sich zu klären, emotionale Bezüge herzustellen, Vorerfahrungen zu benennen und ihr Vorwissen zu aktivieren, um dann ein Problembewusstsein und eigene Fragen zu entwickeln. Die Fragen können dann als Ausgangspunkt für die weitere Behandlung genutzt werden. Während zu Beginn des ersten Schuljahres das handelnde Vorgehen im Vordergrund steht, kommen ab Klasse 2 immer mehr bildliche und mathematisch-symbolische Ausdrucksformen bzw. der Wechsel zwischen verschiedenen Dar-
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stellungsformen zum Einsatz. Zunehmend werden auch Veranschaulichungen und Zeichnungen eingesetzt, die allerdings am Anfang nicht notwendigerweise den Lösungsprozess unterstützen müssen. Die ersten Zeichnungen sind in der Regel noch sehr detailgetreu und von Skizzen weit entfernt. Den Kindern fällt das Abstrahieren schwer – ein Grund, das Anfertigen von Skizzen auch auf einer Metaebene zu diskutieren.
Kasten 6: Rutsche, Modellierungsaufgabe für Klasse 1
Die Klasse 1b macht einen Ausflug zu einem Spielplatz. Sie wollen ein Foto mit allen Kindern auf der Rutsche machen. Passen alle 25 Kinder der Klasse 1b auf die Rutsche? Wie ist es mit deiner Klasse und der Rutsche auf dem nächsten Spielplatz?
Foto from Wikimedia Commons, many thanks to Zwiegel. https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Wellenrutschburg-SpielplatzOberesslingenGartenstadt2.JPG?uselang=de
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Einbezug des Modellierens in die Leistungsmessung
Wenn die Schülerinnen und Schüler eine Modellierungsaufgabe bearbeiten, können Fehler in jedem einzelnen Schritt des Modellierungskreislaufes auftreten und nicht nur gewohnt beim „Rech-
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nen“. Ein Beispiel dazu zeigt die Schülerlösung in individuelle Stärken und Defizite zu diagnostizieren und Rückmeldungen zu geben, im zweiten Abb. 4 zu der Aufgabe aus Kasten 7. etwas schwieriger. Hilfreich ist bei der Diagnose von individuellen Leistungen in Gruppenarbeit, Kasten 7: Aufgabe „Kätzchen“ die Lernenden während der Gruppenarbeitsphase Wie viel Taschengeld benötigst du, um ein aufmerksam zu beobachten und diese Beobachtunkleines Kätzchen gut versorgen zu können? gen in einem Beobachtungsbogen festzuhalten. Phillip notiert seine Annahmen in Stichworten. Wichtige Kostenpunkte wie z. B. den Tierarzt vernachlässigt er. Er unterscheidet in seiner Darstellung nicht zwischen einmaligen Kosten und regelmäßigen Kosten, die entsprechend mehrfach zu berücksichtigen wären. Dieser Fehler setzt sich in der Rechnung fort. Es wird nicht zwischen den zwei Kategorien unterschieden und somit ein wenig geeignetes Ergebnis errechnet. Foto from Wikimedia Commons, many thanks to Nickolas Titkov. https://commons.wikimedia.org/ wiki/File:BEN_Bengalian_kitten_(4492540155). jpg?uselang=de
Möchte man nun das Modellieren in die Leistungsmessung einbeziehen, so stellen sich einem daher viele drängende Fragen: Wie bewertet man den Lösungsprozess im Vergleich zur Lösung? Wie bewerte ich es, wenn ein Schüler oder eine Schülerin einen sehr einfachen Lösungsweg wählt und dadurch ein richtiges Ergebnis erhält, während ein anderer oder eine andere einen mathematisch anspruchsvolleren Weg wählt, dabei aber Fehler macht? In welcher Weise sollen Fehler beim Erstellen des Modells im Vergleich zu innermathematischen Fehlern gewertet werden? Grundsätzlich muss hier zwischen der Diagnose von Schülerleistungen und der Leistungsbewertung unterschieden werden: Die Diagnose von Leistungen der Lernenden im Unterricht erfolgt am besten anhand des Modellierungskreislaufes, den man auch den Kindern an die Hand gegeben hat (vgl. Abschn. 2.5). Hier muss man zwischen individuellen Leistungen und solchen, die in Gruppen erbracht wurden, unterscheiden. Im ersten Fall ist es relativ leicht,
Abb. 4 Schülerlösung
Der Antwortsatz zeigt aber auch, dass er sich wohl bewusst ist, dass er die Kosten für einen Tag berechnet. Möglicherweise korrigiert er seine Rechnung nicht, weil er den engen Bezug zum Sachkontext und ein Überdenken der Rechnung nicht gewohnt ist.
Qualitätskriterien für den Unterricht zum Modellieren in der Grundschule
Die Validierung, die hier nötig wäre, fehlt. Dennoch zeigt Phillips Lösung, dass er sich in den Sachkontext ein gedacht hat. Er hat seine Ausführungen in Ansätzen begründet und auch einen Antwortsatz notiert. Außerdem hat er das „Rechnen geübt“, indem er verschiedene Rechnungen durchgeführt hat.
Grundsätzlich ist es wichtig, den Lernenden hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen entsprechende Rückmeldungen zu geben. Dies kann bezogen auf die konkrete Aufgabe angemessen sachlich und freundlich im Plenum geschehen. „Du hast alle Kosten einmal aufgelistet, z. B. die für das Katzenklo, aber auch für das Futter. Was meinen die anderen dazu?“ Es kann aber auch mündlich nach Ende der Stunde oder schriftlich unter einer Hausarbeit geschehen. Zur Bewertung der Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler gibt es viele verschiedene Möglichkeiten: Beobachtungsbögen, Präsentationen der Gruppenarbeit, Hausaufgaben und last but not least die Klassenarbeit, die als wesentliches Mittel zur Leistungsmessung hier besondere Beachtung verdient. Die Erfahrung zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler auch Modellierungsaufgaben in Klassenarbeiten gut bearbeiten können, wenn diese Aufga-
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ben vorher im Unterricht thematisiert wurden und wenn der Umfang der Aufgaben angemessen ist. In diesem Fall ist die Lehrkraft nicht nur gefordert, die Leistung zu diagnostizieren, sie muss auch bewertet werden. Und damit sind wir wieder bei den oben genannten Fragen: Wie macht man das in geeigneter Weise? Grundsätzlich ist das die Entscheidung der Lehrkraft! Dabei ist es wichtig die Ziele, die man erreichen will, nicht aus den Augen zu verlieren. Wer wegen einer fehlenden schriftlichen Argumentation nie Punkte abzieht, weil die Rechnung ja richtig ist, darf sich nicht wundern, wenn die Schülerinnen und Schüler ihre Bemühungen hier nicht intensivieren. Bzgl. der Einfachheit oder Komplexität einer Aufgabe sollte man überlegen, ob die Lösung für das Problem angemessen ist. Wird im Hinblick auf die Ausgangsfrage zu stark vereinfacht, so sollten Punkte abgezogen werden, führt eine gute Idee dagegen zu einem geeigneten, aber einfachen Modell, so kann das positiv honoriert werden. Neben dem Erstellen eines Erwartungshorizontes sollte man sich vorab die Bewertungskriterien genau überlegen und diese unbedingt auch den Schülerinnen und Schülern sowie den Eltern auch transparent machen. Die einzelnen Kriterien sollten durch die Punktverteilung bzw. Noten und Prozentangaben entsprechend gewichtet werden. Welche Kriterien und welche Gewichtung im
Tab. 1 Bewertungsschema 1 2 2
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Problembewusstsein entwickeln: Hat der Schüler bzw. die Schülerin verstanden, was das Problem ist? Bilden des Modells: Sind die getroffenen Annahmen sinnvoll? Ist der Grad der Vereinfachung der Problemfrage angemessen? Nutzen von Mathematik: Wurden die relevanten Größen und Beziehungen richtig mathematisiert? Werden geeignete Rechenoperationen verwendet? Wurden mathematisches Wissen und heuristische Strategien zur Lösung des mathematisierten Problems richtig angewendet? Ist die Lösung mathematisch korrekt? Erklären des Ergebnisses: Wird die mathematische Lösung bezogen auf die Realität interpretiert? Ist die Interpretation korrekt? Wird überlegt, ob das Ergebnis sinnvoll ist? (Vergleichswerte?) Dokumentation des Vorgehens: Werden die einzelnen Schritte des Vorgehens beschrieben und erläutert?
0–1 Punkte 0–3 Punkte 0–4 Punkte
0–2 Punkte
0–2 Punkte max. 12 Punkte
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Einzelnen gewählt werden, hängt von der Aufgabenstellung, dem vorangegangenen Unterricht und individuellen Präferenzen des/der Unterrichtenden ab. Ein Bewertungsschema für Klasse 3/4 könnte z. B. wie in Tab. 1 aussehen. Werden in einer Aufgabe nur Teilkompetenzen gefordert, so ist das Bewertungsschema entsprechend zu modifizieren. Diese Überlegungen zeigen, dass der Einbezug von Modellierungsaufgaben in die Leistungsmessung möglich ist. Er erfordert jedoch das Einbeziehen verschiedener Aspekte des Modellierens (vgl. Tab. 1) sowie Überlegungen der Lehrkraft, welche Aspekte für die Bewertung wichtig sein sollen.
K. Maaß
Literatur Blum, W., Leiß, D.: Modellieren im Unterricht mit der „Tanken“-Aufgabe. Math. Lehren 128, 18–21 (2005) Franke, M., Ruwisch, S.: Didaktik des Sachrechnens in der Grundschule, 2. Aufl. Spektrum, Heidelberg (2010) Kaiser, G., Sriraman, B.: A global survey of international perspectives on modelling in mathematics education. ZMD 38(3), 302–310 (2006) Maaß, K.: Mathematikunterricht weiterentwickeln. Cornelsen Scriptor, Berlin (2009) Zech, F.: Grundkurs Mathematikdidaktik. Beltz, Weinheim, Basel (1998)
Punkte sammeln um jeden Preis? Katja Eilerts, Jana Kolter und Katharina Skutella
Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden zwei Lernumgebungen in ihrer Anlage, mit ihren Variationsmöglichkeiten und den zugehörigen Lösungsräumen sowie explorative Einblicke in Unterrichtssituationen mit diesen Lernumgebungen vorgestellt. Beide Lernumgebungen wurden in Grundschulklassen (Klasse 4 bzw. Klasse 1/2/3) eingesetzt. Die Schülerinnen und Schüler der Versuchsklassen hatten zum Zeitpunkt der Erprobung nahezu keine Modellierungserfahrung, dennoch hat unseres Erachtens ein sehr gehaltvoller Umgang mit den Situationen stattgefunden und es sind vielseitige und anspruchsvolle Ergebnisse erarbeitet worden. Die hier formulierten Anregungen basieren einerseits auf theoretischen und inhaltlichen Überlegungen und andererseits auf den Erfahrungen und Eindrücken aus diesen Unterrichtsversuchen.
1 Einleitung Dass Modellieren „von Anfang an“ möglich und sogar sinnvoll ist, wurde zum Beispiel von Maaß (2009) zusammengefasst. Dieser Beitrag versucht nun, lebensweltliche Kontexte auf die enthaltene Mathematik hin zu durchleuchten und Anregungen für einen Modellierungsunterricht, beginnend K. Eilerts B Institut für Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland J. Kolter Fuldabrück, Deutschland K. Skutella Institut für Mathematik, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland
schon ab Klasse 1, aufzuzeigen. Wenn wir in den späteren Abschnitten von „ab Klasse 1“ sprechen, referieren wir allerdings eher auf die zweite Hälfte des ersten Schuljahres, wenn Zählstrategien beherrscht werden und gewisse Routinen im Unterrichtsablauf (Arbeit in Gruppen, Umgang mit Material etc.) etabliert sind. Der Taxonomie von Wollring (2007) folgend möchten wir keine Modellierungs„aufgaben“, sondern zwei Lernumgebungen um den Kern von realen Situationen vorstellen. Diese Lernumgebungen beinhalten verschiedene Aufgaben sowie die Materialien und Umsetzungsvorschläge. Damit geht es nicht mehr um „DAS Lösen DER Aufgabe“, sondern darum, sich mit einem Lerngegenstand – in unserem Falle einer Realsituation – vielfältig auseinander zu setzen und ihn entdeckend, for-
K. Eilerts, K. Skutella (Hrsg.), Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht 5, Realitätsbezüge im Mathematikunterricht, DOI 10.1007/978-3-658-21042-7_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
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K. Eilerts und J. Kolter und K. Skutella
schend und unter zu Hilfenahme von Mathematik zu beleuchten. Dabei wird das Betreiben von Mathematik geübt, ein „Fach-Sinn“ (ebd., S. 16) hergestellt. Es werden einerseits mathematische Strategien entwickelt und ggf. neue mathematische Zusammenhänge gefunden und andererseits der Werk-Sinn des Gegenstands, hier also die lebensbezogene Relevanz der Problemstellung, erkannt. In der Konzeption der Lernumgebungen wurde (in Anlehnung an die sechs Leitideen einer Lernumgebung nach Wollring, 2007) zudem darauf geachtet, verschiedene Artikulationen (Handeln, Sprechen, Schreiben) der Lernenden zu ermöglichen, die Logistik (z. B. Materialaufwand, insb. konsumptives Verbrauchsmaterial) möglichst gering zu halten und eine Evaluation des Unterrichtsgeschehens sowie der Schülerfortschritte durch den Lehrenden zu ermöglichen. Im Beitrag werden schlussendlich verschiedene Vernetzungsmöglichkeiten mit anderen Lernumgebungen sowie mit anderen Unterrichtsfächern und das Differenzierungspotential der Lernumgebungen aufgezeigt.
2
Die Lernumgebung „Punkte sammeln – Lohnt sich das?“
In den Jahren 2012 und 2014 wurden in der Fernsehwerbung und in Supermärkten Kampagnen gestartet, die anlässlich der Fußball-EM bzw. -WM zum Sammeln von Sammelpunkten animierten. Diese Sammelaktionen funktionieren wie folgt: Beim Kauf ausgewählter Aktionsprodukte, z. B. Schokoaufstrich oder Schokoriegel, erhält der Kunde oder die Kundin Sammelpunkte. Die Sammelpunkte befinden sich auf den Verpackungen dieser Aktionsprodukte. Hat man genügend Sammelpunkte erworben, können diese anschließend gegen Prämien, z. B. Trikots oder Fußbälle, eingetauscht werden. So kann man beispielsweise beim Kauf eines 450 g-Glases Schokoaufstrich 2 Punkte sammeln. Für den Kauf eines Trikots sind 110 Punkte erforderlich. Diese und ähnliche Sammelaktionen finden regelmäßig statt, gehören zur Lebenswirklichkeit der Kinder dazu und eröffnen eine schöne Gele-
genheit, sich auf authentische Weise mit realen Gegebenheiten mathematisch auseinanderzusetzen. Ferner bietet dieser Kontext ein reichhaltiges Angebot an „grundschultauglicher“ Mathematik, das im Mathematikunterricht aller Jahrgangsstufen zu fruchtbaren, anregenden und herausfordernden Modellierungsaktivitäten genutzt werden kann. Insbesondere bietet der Kontext Kindern die Chance, sich mit Sammelaktionen kritisch auseinanderzusetzen. Sicherlich ist eine Thematisierung im Unterricht besonders passend, wenn eine Sammelaktion zu dem Zeitpunkt läuft. Wir gehen aber davon aus, dass erstens auch eine rückblickende Behandlung anregend und motivierend ist und dass zweitens gleiche oder ähnliche Kampagnen zu verschiedenen Anlässen wiederkehren werden, sodass die Aufgabenidee quasi „zeitlos“ wird und durch kleine Anpassungen des Materials auf die je aktuelle Situation immer wieder verwendet werden kann. Die hier vorgestellte Lernumgebung kann variationsreich genutzt werden. Es ist eine Behandlung des Kontextes im Zeitrahmen von einer Doppelstunde bis hin zu einem mehrstündigen, ggf. fächerübergreifenden, Projekt möglich.
2.1
Zugänge
Die von uns entwickelte Lernumgebung zeichnet sich dadurch aus, dass keine Problemstellung vorgegeben wird, sondern diese von den Lernenden selbst – mit Unterstützung im Unterrichtsgespräch – erarbeitet wird. Wie im Abschn. 3.1 näher beschrieben, empfehlen wir, authentische Werbematerialien1 als „stillen Impuls“ einzusetzen und mit der Klasse eigene Fragestellungen zu entwickeln. Alternativ kann man auch Produktkarten selbst erstellen, auf denen jeweils ein Produkt (z. B. ein Schokoriegel) und die entsprechenden Sammelpunkte abgebildet sind. Oder die Kinder arbeiten mit Tabellen analog zu Tab. 1 und 2. Schon hier 1
Das Abbilden solcher Werbematerialien ist hier aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Entsprechende Anregungen findet man beispielsweise unter https://www. fanconnection.de/.
Punkte sammeln um jeden Preis?
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Tab. 1 Produkte mit Sammelpunkten Produkt Sammelpunkte Preis (C)
Haselnusstafeln (6er Pack) 2 1,69
Tafel Schokolade Schokoriegel (10er Pack) 1 2 0,95 2,19
Tab. 2 Prämien und erforderliche Sammelpunkte Prämie Sammelpunkte
CD 50
Fußball Rucksack Trikot 60 85 110
ergeben sich mannigfaltige Differenzierungsmöglichkeiten, die zum Teil von der Lehrkraft durch Auswahl der präsentierten Informationen und in hohem Maße von den Lernenden selbst durch die Auswahl von mehr oder weniger komplexen Fragestellungen vorgenommen werden können. Zu den einzelnen Fragestellungen geben wir die Klassenstufen an, in denen eine sinnvolle Bearbeitung nach unserer Einschätzung möglich ist. Dabei übersteigen wir in Anlehnung an Maaß (2011) an einigen Stellen die Zahlenräume, die sich üblicherweise für die jeweiligen Klassenstufen in Rahmenlehrplänen beschrieben finden. Ob eine Bearbeitung der Frage möglich ist, muss letztlich selbstverständlich vom Leistungsstand der Klasse bzw. der einzelnen Schülerinnen und Schüler abhängig gemacht werden. Mögliche primäre Fragestellungen sind: Wie viele Gläser Schokoaufstrich muss man für einen Fußball kaufen? (ab Klasse 1) Von welchem Produkt muss man am meisten/am wenigsten Packungen kaufen, um ein Trikot zu erhalten? (ab Klasse 1) Mit welchem Produkt ist der Rucksack am günstigsten/am teuersten? (ab Klasse 3) Sollte man den Fußball besser mit der kleinen oder mit der großen Schokoriegel-Packung „finanzieren“? (ab Klasse 3) Wie viel Zucker steckt (mit welchem Produkt) im Fußball? (ab Klasse 3) Wie lange würde es dauern, bis man bei „normalem“ Verzehr die gekauften Schokoladentafeln aufgegessen hat? (ab Klasse 3)
Schokoriegel (18er-Pack) 3 3,59
Schokoaufstrich 2 2,79
Wie lange würde es dauern, bis man bei „normalem“ Verzehr den gekauften Vorrat Schokoaufstrich aufgegessen hat? (ab Klasse 4) Wie lange würde es bei „normalem“ Schokoladenverzehr dauern, bis man mit der Klasse einen „Klassenfußball“ erhalten würde? Wie teuer wäre der Ball umgerechnet? Wie viele Riegel Schokolade müsste jedes Kind essen? (ab Klasse 4) Natürlich können bei der Bearbeitung auch „Mischkalkulationen“ mit mehreren Produkten vorgenommen werden. Diese zeigen dann zwar nicht die z. B. „günstigste“ Möglichkeit, aber wohl eine realistischere, als wenn nur ein Produkt in das Modell einbezogen wird. Ein Set von zusammengehörigen Fragestellungen könnte dann sein: Mit welchen verschiedenen Produkten kann man (genau/mindestens) die Punkte für eine CD sammeln? (ab Klasse 1) Wie lange würde es dauern, bis man in der Klasse einen Klassenfußball „zusammengefuttert“ hat, wenn jeder sein Lieblingsprodukt isst? (ab Klasse 1) Wie teuer wäre der Ball umgerechnet? (ab Klasse 3) Kann eine „normale“ Familie es schaffen, eine Prämie zu ergattern, wenn sie in dem halben Jahr der Kampagnenlaufzeit ihre Einkaufsgewohnheiten nicht ändern will? (ab Klasse 4) Für höhere Klassenstufen (ab Klasse 5) bietet sich die Weiternutzung des Kontextes im Mathematikunterricht aber auch fächerübergreifend (z. B. Biologie) an: Wie viel Verpackungsmüll wird produziert (für einen Fußball/in einer Schulklasse, wenn jeder teilnehmen würde/für alle versendeten Trikots/. . . )? Wie viele Kalorien stecken (mit welchem Produkt) im Fußball? (ab Klasse 5). Wie lange
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K. Eilerts und J. Kolter und K. Skutella
müsste man mit dem Ball spielen, um die KaloNeben der Modellierungskompetenz (K3) werrien wieder abzutrainieren? (frühestens ab Klas- den auch die anderen vier allgemeinen (oder prose 7) zessbezogenen) Kompetenzen der Bildungsstandards angesprochen:
2.2
Enthaltene Mathematik, angesprochene Kompetenzen
Bei der Auseinandersetzung mit der Lernumgebung werden verschiedene mathematische Inhaltsbereiche angesprochen: Neben arithmetischen Operationen mit Stückzahlen (Punkte pro Packung, Anzahlen von Punkten, Anzahlen von Packungen) stellt das Operieren und Vergleichen im Größenbereich Geld einen zentralen Aspekt dar. Dabei kann es bereits zum situativen Umgang mit rationalen Zahlen kommen (Cent-Beträge). Auf Wunsch kann dies durch Anpassung der Preise umgangen werden. Bei entsprechender Fragestellung tangiert man zusätzlich die Größenbereiche der Zeitspannen, der Volumina oder der Gewichte. Bei Vergleichen verschiedener Verpackungen wird – wenn auch in der Grundschule noch nicht explizit thematisiert – auf proportionale Zusammenhänge zurückgegriffen, die als Muster oder Strukturen erkannt werden können. Diese können die Argumentation erheblich erleichtern: Das Verhältnis aus dem Preis und der Anzahl an Sammelpunkten auf der Verpackung drückt die Kosten pro Sammelpunkt aus und ist damit die entscheidende Kenngröße dafür, ob das Produkt günstig für den Erwerb von Prämien ist oder nicht. Bei einer Packung Haselnusstafeln zahlt man zum Beispiel pro Sammelpunkt aufgerundet 85 Cent, bei einem Glas Schokoaufstrich hingegen zahlt man pro Sammelpunkt aufgerundet sogar 1,40 C. Abhängig von der Prioritätensetzung kann natürlich analog auch über das Verhältnis zwischen Punkten und Packungsinhalt argumentiert werden. Auch die enthaltene Zuckermenge steigt mit der Anzahl erworbener Produkte proportional an, sodass auch hier Muster entdeckt werden können. Doch auch auf antiproportionale Zusammenhänge kann man stoßen: Verdoppelt sich der tägliche Süßigkeitskonsum eines Kindes, so reicht der Süßigkeitenvorrat nur noch halb so viele Tage aus.
K1 – Argumentieren: Durch das Aushandeln der Annahmen müssen zunächst inhaltsbezogene Argumentationen gefunden werden. In der Zusammenschau von (verschiedenen) Ergebnissen wird das Begründen der eigenen Annahmen, des eigenen Rechenweges und der eigenen Resultate sowie das Vergleichen und Bewerten verschiedener Wege notwendig. Zusammenhänge oder Abweichungen werden thematisiert und können begründet oder revidiert werden. K2 – Problemlösen: Bei der Annäherung an den Kontext werden vielfältige Problemlösestrategien zur Strukturierung und Vereinfachung der Situation angewendet. Beim Bearbeiten einer ausgewählten Frage kommen dann Strategien wie das (systematische) Probieren, das Anfertigen von strukturierenden Skizzen oder das Rückwärtsarbeiten hinzu. K4 – Darstellungen verwenden: Die Schülerinnen und Schüler verwenden (je nach Altersstufe) verschiedene mathematische Darstellungen zum Erzeugen oder Präsentieren ihrer Lösungen, z. B. Säulendiagramme aus aufgeklebten Produkt-Kärtchen oder Sammel-Punkten, ikonisierte Säulendiagramme, Strichlisten, Verlaufsdiagramme und Tabellen. K5 – Kommunizieren: Zunächst ist beim Verstehen und Einarbeiten in die gegebene Situation rezeptives Kommunizieren nötig, um die relevanten Informationen aufzunehmen bzw. zu beschaffen. Bei der Bearbeitung der Problemstellung entsteht durch den kooperativen Austausch mit den Gruppenmitgliedern eine Kommunikation über Annahmen, Rechenansätze und Lösungswege. Schließlich wird in der Präsentationsphase, in der mindestens die Informationen über getroffene Annahmen und Folgerungen vorgestellt werden sollten, geübt, die eigenen Erkenntnisse rezipientenorientiert
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vorzutragen und sich in der Validierung mit den deutlich, dass verschiedene Annahmen möglich eigenen und den Annahmen anderer konstruktiv sind und dass damit auch das Ergebnis nicht „eindeutig“ ausfallen kann. Eine Präsentation der auseinanderzusetzen. Gruppenergebnisse in der Klasse kann die Vielfalt der mathematischen Modelle und, falls verschiedene Fragestellungen bearbeitet wurden, auch der 2.3 Ausgestaltung der Lernumgebung Vielfalt des Kontextes offenbaren. An dieser Steldurch Material und Aktivitäten le sollte unbedingt eine „Validitätsprüfung“ der verschiedenen Resultate erfolgen: Machen die un2.3.1 Aktivitäten und Arbeitsabläufe Wie oben erwähnt, gibt es in der Lernumgebung terschiedlichen Ergebnisse Sinn a) in Bezug auf nicht „die“ festgeschriebene Fragestellung, son- die Situation, b) bezüglich der getroffenen Andern wir empfehlen, diese im Unterrichtsgespräch nahmen und c) im Vergleich mit den Ergebnissen von den Kindern selbst entwickeln zu lassen. So anderer Gruppen? werden Fragen entwickelt, mit denen sich die Lernenden wirklich identifizieren können, und allein 2.3.2 Materialien und durch das Stellen „mathematikhaltiger Fragen“ Veranschaulichungen werden Komponenten der ModellierungskompeZusätzlich zu den oben präsentierten Werbematenz gefördert, nämlich Mathematik in Darstellunterialien für den Einstieg können verschiedene gen der Lebenswelt zu entdecken und relevante Arbeitsmaterialien zur direkten Nutzung oder als Informationen aus diesen Darstellungen zu entdifferenzierende Unterstützung angeboten werden. nehmen, bzw. Sachtexte oder Kontexte in die SpraWelche Materialien sinnvoll zur Verfügung gestellt che der Mathematik zu übersetzen. Je nach Erfahwerden sollten, hängt neben der Altersstufe der rungsschatz und Leistungsstärke der Klasse kann Kinder auch von den im Einstieg generierten (oder es reichen, die Werbematerialien (oder vergrößerintendierten) Fragestellungen ab. te Abbilder davon) als stillen Impuls in der Mitte auszulegen. Bei jüngeren oder mit Modellierungen unerfahrenen Lerngruppen kann eine „Coversto- Klassenstufe 1 und 2 ry“ (z. B. von einer Familie, in der die Kinder Für Erst- und Zweitklässler bietet es sich an, die sammeln wollen, und die Eltern fragen, ob sich verschiedenen Produkte (auf kleinen Papierkardas denn tatsächlich lohne) die Diskussion ansto- ten) und die Sammelpunkte (als ausgedruckte und ßen. Für allererste Modellierungserfahrungen er- laminierte „Originale“ oder repräsentiert durch scheint es sinnvoll, gezielt verschiedene Aufträge Wendeplättchen, Spielchips etc.) als Sammelmaan Kleingruppen zu vergeben (z. B. die Gruppen terialien zur Verfügung zu stellen. So können bestimmen für je ein unterschiedliches Produkt die die Kinder beispielsweise je eine „Schokoriegelbenötigte Packungsanzahl für eine oder mehrere Karte“ und gleichzeitig zwei „Sammelpunkte“ Prämien) und nach dieser ersten Arbeitsphase ver- nehmen, solange bis sie die für eine Prämie begleichende und ggf. weiterführende Diskussionen nötigte Punktanzahl zusammen haben. Durch Auszu führen. zählen der gesammelten Schokoriegel-Karten könGenerell möchten wir in Anlehnung an Kaiser nen Sie dann unmittelbar auf die Anzahl benötigter und Schwarz (2006) empfehlen, die Problemstel- Schokoriegel schließen. Dabei können natürlich lungen in kooperativen Kleingruppen bearbeiten auch verschiedene Produkte gemischt werden. Zu zu lassen. Die Auseinandersetzung mit einer so beachten ist hierbei, dass die Karten einen nichtkomplexen Situation fällt leichter, wenn im Aus- fixierten Spielraum beschreiben, in dem es leicht tausch über Annahmen und mögliche Lösungs- zu Verwechslungen kommen kann, insbesondere, wege beratschlagt werden kann. Durch die ver- wenn nach einer ersten Lösung ggf. Produkte geschiedenen Einflüsse der Gruppenteilnehmer wird tauscht werden sollen.
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K. Eilerts und J. Kolter und K. Skutella
Tab. 3 Übersicht über Produkte und Zuckergehalt Produkt
Portionsgröße
kcal/Portion
Haselnusstafel Tafel Schokolade Schokoriegel Schokoaufstrich
1 Stück, 20,7 g 1 Riegel, 12,5 g 1 Riegel, 18 g 15 g
119 70 98 82
Für die Darlegung der eigenen Annahmen und Vorgehensweisen bietet sich eine Anordnung der Karten in Form von Säulendiagrammen an (zu den Einsatzmöglichkeiten und zum mathematisch/didaktischen Potential von Säulendiagrammen im Anfangsunterricht vgl. Carniel und Huhmann, 2009). So werden beispielsweise für den Erwerb einer CD 50 Sammelpunkte benötigt. Hierzu wäre der Kauf von 50 Tafeln Schokolade oder der Kauf von 25 Gläsern Schokoaufstrich denkbar. Dieser Unterschied lässt sich unter Zuhilfenahme der Papierkarten sehr anschaulich durch das Säulendiagramm visualisieren. Beim Vergleichen der Ergebnisse innerhalb der Klasse können am Säulendiagramm weitere Entdeckungen gemacht werden (z. B.: Für welche Prämie sind die Säulen am höchsten? Mit welchem Produkt sind die Säulen am niedrigsten?). So ist es möglich, von den einzelnen Gruppen zunächst überschaubare Fragestellungen modellieren zu lassen und dann im Klassenverband weitere Zusammenhänge zu besprechen. Insbesondere die Tatsache, wie verschiedene Annahmen die Modelle, die mathematischen und realen Resultate und ggf. sogar die ganze Einschätzung einer Situation beeinflussen können, kann so thematisiert werden. Für die „Wie-lange-Fragen“ empfiehlt sich eine Vereinfachung derart, dass nur mit ganzen Packungen und nicht mit einzelnen Riegeln gerechnet wird. Zum Beispiel könnte man annehmen, dass es zwei Wochen dauert, bis eine Packung Schokoriegel leergegessen ist. Schon ab der zweiten Klasse können die Produkt-Karten und die damit entstehenden Säulendiagramme durch Strichlisten ersetzt werden, sodass hier effizienteres Arbeiten ermöglicht wird. Durch den geringen Materialaufwand ist es so
Zucker in Gramm pro Portion 9 6,6 9 8,5
Würfelzucker (3 g) pro Portion 3 2 3 3
einfacher möglich, mehrere Lösungen zu erstellen, da nicht Kärtchen umsortiert werden müssen (womit das erste Ergebnis nicht mehr präsent wäre), sondern eine zweite Liste angelegt werden kann. Klassenstufe 3 und 4 Ab Klasse 3 können durch Zusatzinformationen (Preise, Zuckergehalt) weitere Fragestellungen eröffnet werden. Tab. 3 gibt eine Zusammenschau von Kalorien- und Zuckergehalt ausgewählter Produkte. Falls der rechnerische Umgang im Größenbereich der Gewichte noch nicht sicher beherrscht wird, bietet sich hier ein Ausweichen auf Stückzahlen von Würfelzucker (ein normales Stück Würfelzucker wiegt in Deutschland üblicherweise 3 g) an. Eine Alternative kann auch die Veranschaulichung der Zuckermengen durch Auswiegen sein (vgl. dazu die Lernumgebung „Ein Berg voll Zucker“ in Abschn. 3). Rechengeld kann als Unterstützungsmaterial das Rechnen im Größenbereich Geld unterstützen. Für die „Wie-lange-Fragen“ können wiederum Produktkärtchen eingesetzt werden, allerdings können hier auch die einzelnen Riegel/Portionen kalkuliert werden ohne den üblichen (1000er-) Zahlenraum zu verlassen. Klassenstufe 5 und 6 Schulkinder ab Klasse 5 oder 6 können zusätzlich zu den o. g. Ansätzen die Anzahlen der Riegel in einem Verlaufsdiagramm eintragen (z. B. die tagesaktuelle Anzahl der verbliebenen Süßigkeiten) und daran schon implizit eine fallende Funktion nutzen, um schnell den Tag zu bestimmen, an dem der Vorrat aufgebraucht wird.
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Tab. 4 Übersicht über Prämien, Punkte, Produkte, Preise und Zuckergehalt Produkt Ball – 60 P Haselnusstafel 2 P/Packung 30 Packungen 1,69 C/Packung 150 Stück 84,5 Cent/Punkt 50,70 C 9 g Zucker/Stück 1,4 kg Zucker Tafel Schokolade 1 P/Packung 60 Packungen 0,95 C/Packung 480 Riegel 95 Cent/Punkt 57,00 C 6,6 g Zucker/Riegel 3,2 kg Zucker Schokoriegel (10er Pack) 2 P/Packung 30 Packungen 2,19 C/Packung 300 Riegel 109,5 Cent/Punkt 65,70 C 9 g Zucker/Riegel 2,7 kg Zucker Schokoriegel (18er Pack) 3 P/Packung 20 Packungen 3,59 C/Packung 360 Riegel 119,7 Cent/Punkt 71,80 C 9 g Zucker/Riegel 3,2 kg Zucker Schokoaufstrich (450 g) 2 P/Glas 30 Gläser 2,79 C/Glas 13,5 kg 139,5 Cent/Punkt (900 Portionen) 83,70 C 8,5 g Zucker/Portion 7,7 kg Zucker
2.4
Rucksack – 85 P
Uhr – 95 P
Trikot – 110 P
43 Packungen 215 Stück 72,67 C 2 kg Zucker
48 Packungen 240 Stück 81,12 C 2,2 kg Zucker
55 Packungen 275 Stück 92,95 C 2,5 kg Zucker
85 Packungen 680 Riegel 80,75 C 4,5 kg Zucker
95 Packungen 760 Riegel 90,25 C 5 kg Zucker
110 Packungen 880 Riegel 104,50 C 5,8 kg Zucker
43 Packungen 430 Riegel 94,17 C 3,9 kg Zucker
48 Packungen 480 Riegel 105,12 C 4,3 kg Zucker
55 Packungen 550 Riegel 120,45 C 5 kg Zucker
29 Packungen 522 Riegel 104,11 C 4,7 kg Zucker
32 Packungen 576 Riegel 114,88 C 5,2 kg Zucker
37 Packungen 666 Riegel 132,83 C 6 kg Zucker
43 Gläser 19,35 kg (1290 Portionen) 119,97 C 11 kg Zucker
48 Gläser 21,6 kg (1440 Portionen) 133,92 C 12,2 kg Zucker
55 Gläser 24,75 kg (1650 Portionen) 153,45 C 14 kg Zucker
Lösungsräume
Für alle vorgestellten Lösungsansätze möchten wir an dieser Stelle den „Genussfaktor“ einmal außen vor lassen. Sicherlich geht es beim Konsum der Süßigkeiten nicht nur um das Sammeln der Punkte, doch die Freude an den Naschereien lässt sich nur schwer mit mathematischen Modellen fassen und wird sicher individuell sehr unterschiedlich bewertet. Tab. 4 zeigt einen Ausschnitt eines systematischen Bearbeitungsansatzes. Diese Tabelle ist explizit nicht zu verstehen als angestrebtes Ergebnis einer Schüler_innengruppe, sondern soll für die Lehrperson eine Übersicht über einen mög-
lichen Lösungsraum liefern. In der ersten Spalte finden sich unter dem Produktnamen zunächst die Anzahl der Sammelpunkte je Packung, der im Einzelhandel übliche Packungspreis sowie der daraus berechnete „Preis eines Sammelpunktes“. Zusätzlich wird der Zuckergehalt (vgl. Tab. 3, Werte gerundet) wieder aufgegriffen. Für eine bessere Einschätzung der Menge Schokoaufstrich haben wir unter Bezugnahme auf einzeln abgepackte „Frühstücksportionen“ á 15 g, wie man sie in manchen Hotels serviert bekommt, auch die Anzahlen der Portionen angegeben. Man kann aus der Tabelle sofort ablesen, dass jede Prämie am preisgünstigsten zu erreichen ist, wenn man sich auf den Konsum von Haselnuss-
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tafeln „spezialisiert“, da hier jeder Sammelpunkt nur knapp 85 Cent kostet. Allerdings kann man hier auch „nur“ 150 Stück Süßigkeiten genießen, weniger als bei allen anderen Produkten. Am teuersten sind die Prämien, wenn man sie nur mit „Schokoaufstrich-Punkten“ erreicht, dafür bekommt man hier aber auch am meisten „Süßigkeiten-Einheiten“. Anhand dieser Übersicht lassen sich bereits viele der oben aufgeführten Fragestellungen beantworten. Sobald Einschätzungen zum Beispiel zur Dauer der Sammelaktion oder zum anfallenden Abfall gemacht werden sollen, bedarf es Annahmen, die nicht (wie z. B. handelsübliche Preise und Verpackungsgrößen) durch Recherchearbeiten eingeholt werden können. Die hier vorgestellten Lösungen können dementsprechend nur exemplarisch für eine ganz bestimmte Konstellation von Annahmen stehen. Unter der Annahme, dass in einer Familie mit zwei Kindern jeden Tag im Durchschnitt 4 Schokoriegel verspeist werden, ergibt sich eine folgende Modellierung für die Fußball-Prämie: Laut Tab. 4 müsste die Familie 30 kleine Packungen Schokoriegel für 65,70 C kaufen. An den 300 Riegeln würden sie mit dem unterstellten Tagesverbrauch 75 Tage, also etwa 11 Wochen essen. Unter der Annahme, dass ein (achtlos zusammengeknülltes) Verpackungspapier durch Lufteinschlüsse und Lücken beim Ansammeln im Container einen Raumbedarf etwa 6 cm3 hat, würde sie dabei einen Müllhaufen von 1800 cm3 , zuzüglich der 30 Papp-Umverpackungen also etwa zwei Liter Abfall produzieren. Ein Schokoriegel (18 g) enthält 98 kcal, die sich maßgeblich aus dem Zuckergehalt 9 g Zucker pro Riegel zusammensetzen. Neben Geld und Müll stecken also auch über 2,7 kg Zucker im Fußball. Die gleiche Familie würde (unter den gleichen Annahmen) knapp 13 Wochen an dem Berg Schokoriegel essen, dabei 3,25 kg Zucker zu sich nehmen und einen Müllberg von etwa 2,5 Litern Papier- und Plastikmüll anhäufen, wenn sie den Ball mit Punkten von großen 18-RiegelPackungen ersammeln würde. Sie würden dabei mit 71,80 C insgesamt 6,10 C mehr bezahlen, je-
K. Eilerts und J. Kolter und K. Skutella
der einzelne Riegel wäre aber verhältnismäßig günstiger (19,9 Cent vs. 21,9 Cent).
2.5
Zwischenfazit
Die hier vorgestellten Fragestellungen und Lösungen decken sicherlich nur einen Bruchteil dessen ab, was in diesem Realkontext an mathematischen Modellen enthalten ist. Von Aktivitäten in Klasse 1 (Tauschen und Auszählen konkret repräsentierter Punkte und Produkte) bis in die frühe Sekundarstufe 1 (Proportionale Zusammenhänge, Volumina, Kombinatorische Ansätze) werden diverse mathematische Aktivitäten eröffnet. In der Versuchsstunde zeigten sich die teilnehmenden Kinder einer vierten Klasse sehr begeistert und durch die Behandlung gleich zweier für sie spannender Themen (Fußball-EM und Süßigkeiten) sehr motiviert. Schwierigkeiten derart, dass nur das „Spielen“ mit den Materialien oder Diskussionen über die Prämien und über die Süßigkeiten im Vordergrund standen, haben wir kaum erlebt, alle Viertklässler(innen) haben sich schnell auf die Mathematik im Kontext eingelassen und sind zu sehr beachtlichen Erkenntnissen und Ergebnissen gekommen.
3
Die Lernumgebung „Ein Berg voll Zucker“
In fast jedem Lebensmittel ist Zucker enthalten, dies ist vielen Kindern (und auch vielen Erwachsenen) aber oft nicht bewusst. Insofern bietet der Kontext „Zuckergehalt in Lebensmitteln“ ein Betätigungsfeld, das nicht nur für jeden ganz authentisch, sondern sicherlich auch interessant und verblüffend sein kann. Die Frage, mit der wir in unseren Versuchsstunden Erst-, Zweit- und Drittklässler in jahrgangsgemischten Schulklassen hierzu konfrontierten, war kurz: Wie viel Zucker esst ihr in einer Woche? Durch den sehr knappen Aufgabentext ohne „schwierige“ Wörter ist die Leseanforderung auch
Punkte sammeln um jeden Preis?
für Erstklässler zu bewältigen. Durch die (zunächst) sehr offene Fragestellung sind verschiedenste Lösungsstrategien und entsprechend differenzierte Ergebnisse möglich, was nach Maaß (2007) als Qualitätsmerkmal einer Modellierungsaufgabe anzusehen ist, insbesondere hinsichtlich der daraus resultierenden Differenzierungsmöglichkeiten. Trotzdem ist – im Gegensatz zum Beispiel zu Fermi-Aufgaben – eine klare Fokussierung gegeben.
3.1 Zugänge und enthaltene Mathematik Bevor mit der „richtigen“ Bearbeitung der Fragestellung begonnen werden kann, muss die Entscheidung getroffen werden, welcher Zuckerverbrauch modelliert werden soll: Der einer Einzelperson oder der der ganzen Arbeitsgruppe? Entsprechend unterschiedlich hoch werden die Ergebnisse ausfallen. Weitere modell-beeinflussende Annahmen, die getroffen werden müssen sind beispielsweise: Wird ein Modelltag modelliert und der hierfür bestimmte Zuckerverbrauch auf eine Woche hochgerechnet? Wie sollen dabei Schultage und Wochenende berücksichtigt werden? Soll die aktuelle Woche oder eine „StandardWoche“ als Modell gewählt werden? Welche Rolle spielen dabei zum Beispiel Fastenzeiten oder Festtage? Alle drei grundlegenden Fragen bieten Gelegenheit für inhaltsbezogene Argumentationen und können die Präsentationsphase, in der verschiedene Ergebnisse vor dem Hintergrund verschiedener Modelle diskutiert werden, anregen. Erst wenn diese grundsätzlichen Festlegungen getroffen sind, kann eine Ausarbeitung des Modells durch Treffen von Annahmen bezüglich der verzehrten Lebensmittel beginnen. Die benötigte Mathematik lässt sich hauptsächlich beschreiben mit arithmetischen Operationen und dem Vergleichen im Größenbereich der Gewichte. Je nach Ausgestaltung der Lernumgebung
25
(vgl. Abschn. 3.2) kommen das Wiegen sowie das Zählen von Anzahlen hinzu. Auf eine Aufschlüsselung der einzelnen angesprochenen prozessbezogenen Kompetenzen möchten wir mit Verweis auf die Darlegung in Abschn. 2.2 an dieser Stelle verzichten. Mit geringen Adaptionen auf den neuen Kontext werden in diesem realen Problem die gleichen Anforderungen an die Lernenden gerichtet.
3.2
Ausgestaltung der Lernumgebung durch Material und Aktivitäten
Um eine fundierte Auseinandersetzung mit der sehr komplexen Frage zu ermöglichen, wurden den Kindern verschiedene zusätzliche Informationsquellen und Hilfsmittel zur Verfügung gestellt. Durch die besondere Situation der Jahrgangsmischung hatten in unserem Setting alle Kinder Zugriff auf alle Materialien. Lebensmitteltisch Um die Arbeit auf der enaktiven Ebene zu unterstützen, kann ein Lebensmitteltisch angeboten werden, auf dem die Kinder alltägliche Lebensmittel finden. Hier können Sie leichter ihre eigenen Essgewohnheiten reflektieren und außerdem ist auf vielen Verpackungen bereits der Zuckergehalt aufgedruckt. Allerdings empfiehlt es sich bei den meisten Produkten, diese Angabe zu modifizieren: Es sollte stets der Zuckergehalt pro Portion (nicht für 100 g) angegeben werden und ggf. sind rationale Zahlen entsprechend zu runden. Für die erste und zweite Klasse ist eine zusätzliche Angabe des Zuckergehalts in Würfelzucker interessant. Zuckerliste Die Zuckerliste (Abb. 1) kann entweder anstelle oder ergänzend zum Lebensmitteltisch ausgegeben werden. Sie enthält, nach Bereichen geordnet (z. B. Brotbelag, Getränke, Süßigkeiten, Obst . . . ), viele weitere Lebensmittel und den jeweiligen Zuckergehalt pro Portion in Gramm und/ oder in Zuckerwürfeln.
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„Gramm“ gearbeitet haben, kann eine rechnerische Auseinandersetzung bereits zum Ziel führen. Insbesondere wenn die Informationen nicht am Platz greifbar sind aber auch zur generellen Unterstützung eines strukturierten Vorgehens können den Kindern Tages- oder Wochenpläne zur Verfügung gestellt werden, in denen sie ihre Annahmen eintragen können und so nicht den Überblick verlieren. Für ungeübte Modellierer erscheint es sinnvoll, zusätzlich zu einer Strukturierung der Tage auch eine Unterteilung in verschiedene Malzeiten oder nach Essen und Getränken anzubieten.
Abb. 1 Zuckerliste Gebäck
In den Versuchsstunden haben wir das Informations-Set in einmaliger Ausführung zentral im Klassenraum platziert, sodass die Gruppentische für das „eigentliche“ Arbeiten freiblieben. Mit diesen Informationsquellen ist es grundsätzlich möglich, das eigene Essverhalten bezüglich des Zuckerverbrauches einzuschätzen. Um dabei die „mathematischen Hürden“ (z. B. Beherrschung eines recht hohen Zahlenraumes, Größenbereich Gewichte) überwindbar zu machen, wurden verschiedene Aktivitäten und entsprechende Materialien angeboten. Im Folgenden wird ausgehend von der 3. Klassenstufe eine zunehmende mögliche Reduktion der fachinhaltlichen Schwierigkeiten bis hin zum Einsatz in einer 1. Klassenstufe aufgezeigt:
Klassenstufe 2 und 3 Kinder, die zwar noch nicht mit Grammangaben rechnen können, diese aber mit Hilfe einer Waage schon (annähernd) präzise abwiegen können, können ihren Zuckerverbrauchs mit echtem Zucker abwiegen und so ein „konkretes“ Ergebnis erzeugen. Dies kann kumulativ durch „Zuschütten“ der jeweiligen Zuckerportionen geschehen. Dabei sind Rechenoperationen auch in höheren Zahlenräumen, aber je mit recht kleinem zweiten Summanden, nötig (z. B.: Es sind schon 217 g Zucker in der Schale und nun sollen 8 weitere Gramm hinzukommen, dann muss errechnet werden, dass das Gewicht auf 217 g C 8 g D 225 g erhöht werden muss). Eine andere Möglichkeit ist, (z. B. auf einer Brief- oder Küchenfeinwaage) den Zuckerverbrauch portionsweise abzuwiegen und die Gesamtmenge sukzessiv in einem weiteren Gefäß sammeln. Die Gesamtmenge kann am Ende gewogen werden, ohne die einzelnen Zwischensummen zu kennen.
Klassenstufe 1 und 2 Eine weitere Reduktion der fachinhaltlichen Schwierigkeiten kann die Verwendung von Würfelzucker sein. Durch einfaches „Zusammensammeln“ der benötigten Zuckerwürfel für die verbrauchten Lebensmittel wird ein Zuckerberg erzeugt, der am Ende des Prozesses ausgezählt werden kann. Hierbei können Bündelungsstrategien Klassenstufe 3 (und höher) Für die Drittklässler, die den Zahlenraum bis 1000 angewandt werden, die das stellenweise Notieren bereits kennen und auch schon mit der Einheit von Zahlen üben oder anbahnen lassen.
Punkte sammeln um jeden Preis?
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3.3 Lösungsräume – Erfahrungen Die Lernumgebung wurde von uns in zwei Schulklassen je in einer Doppelstunde (90 min) eingesetzt. Durch die Jahrgangsmischung in beiden Klassen (Klasse 1, 2, 3)2 können wir über Kinder aus drei Altersstufen berichten, die zum Teil in altershomogenen und zum Teil in altersgemischten Kleingruppen gearbeitet haben. Der zeitliche Rahmen war ausgereichend, um sich mit der Problemstellung auseinanderzusetzen und Lösungsansätze zu entwickeln. Allerdings kamen viele Gruppen nur zu dem Verbrauch für einen Tag oder sie konnten ihren Modellierungsprozess mit dem gewählten Modell nicht vollständig durchlaufen. Eine Ausdehnung der Arbeitszeit oder eine Reduktion der Komplexität können hier Alternativen eröffnen. Für die Fragestellung ließen sich alle Kinder schnell begeistern. Während der Arbeitsphase arbeiteten sie auf unterschiedlichen Wegen und in einem sehr individuellen Arbeitstempo. Schnell entwickelte sich eine Unterscheidung zwischen dem „Arbeitsvorgehen“ und der „Ergebnispräsentation“, so legten viele Kinder Wert auf ein „vielseitiges Ergebnis“ und wollten sowohl den konkreten Zuckerhaufen als auch eine Grammangabe als auch eine Würfelzucker-Anzahl angeben. Bei den von den Kindern gewählten Arbeitsweisen bestätigten sich die oben beschriebenen Überlegungen zu großen Teilen. Die Erstklässler hatten zunächst Schwierigkeiten, einen Zugang zur Aufgabe zu finden und spielten anfangs mit den Messgeräten. Mit kleinen Hilfestellungen zur Strukturierung der komplexen Herausforderung konnten sie aber sowohl konkrete als auch zeichnerische Ansätze entwickeln. Dabei wurden die Lebensmittel zum Teil notiert oder gezeichnet ebenso wurden die Zuckerwürfelanzahlen entweder notiert oder gezeichnet: In
Abb. 2 Wochen-Ernährungsplan einer Erstklässlerin
Abb. 2 wurden für das Frühstück am Montag ein Brot und drei Stück Zucker gezeichnet, für die Frühstückspause eine Brezel. Für das Frühstück am Mittwoch wurde die Darstellungsform geändert und es wurden 3 g notiert, was dem einen gezeichneten Zuckerwürfel entspricht. Diese Schüler zeigten allerdings größere Schwierigkeiten, die einzelnen Werte zusammenzufassen, generell schienen sie durch die vielen Felder des Nahrungs-Wochen-Plans eher abgeschreckt. Eine andere Schülerin der ersten Jahrgangsstufe, die schon mehr Schrifterfahrungen gesammelt hatte, suchte einige Lebensmittel, die sie gern aß, auf der Liste und notierte deren Zuckergehalt (vgl. Abb. 3). Für sie stellte die Waage ein technisches Problem dar, weil sie diese noch nicht bedienen
2
FLEX – Klassen (Flexible Eingangsphase) in Brandenburg sind jahrgangsgemischte Klassen 1 und 2 mit einer individuellen Verweildauer von 1 bis 3 Jahren in der Schuleingangsphase.
Abb. 3 Wochen-Zuckerliste einer Erstklässlerin
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konnte. Außerdem hatte sie Schwierigkeiten, ihre Annahmen zu systematisieren und in ein zusammenhängendes Modell zu überführen. Schließlich wog sie die notierten Zuckermengen mit Unterstützung einer Lehrperson in eine Schale ab und strich diese systematisch auf ihrer Liste durch. So fand sie zwar keine Angabe für ihren wöchentlichen Zuckerverbrauch, aber einen Eindruck über den in ihren Lieblingsspeisen enthaltenen Zucker. Wir schlussfolgern daraus, dass die Fragestellung für eine erste Klasse besser auf einen Tag (statt auf eine Woche) eingegrenzt werden sollte. Dies eröffnet weiterhin große Lösungsräume und die gleichen mathematischen Aktivitäten, doch ist der „Erhebungsaufwand“, der damit verbundene „Schreibaufwand“ und natürlich auch der erreichte Zahlenraum überschaubarer und besser zu bewältigen. Die Zweit- und Drittklässler konnten schon systematischer an die Aufgabe herangehen. Sicherlich war ein Punkt hierbei, die geringere Belastung durch die Schreibanteile bei der Aufgabenbearbeitung. Eine Zweitklässlerin erstellte sich zunächst eine ausführliche Liste dessen, was sie in der Woche gegessen hatte, recherchierte am Lebensmitteltisch und an den Zuckerlisten die Werte und begann hinterher, die Werte auf ihrer Liste in Zuckerwürfeln zusammenzutragen. Eine andere Gruppe aus Zweitklässlern modellierte durch kumulatives Aufwiegen den Zuckerbedarf für einen Tag (130 g). Anschließend entschied sich ein Teil der Gruppe, weitere sechs Mal 130 g abzuwiegen um den Wochenverbrauch zu bestimmen. Ein Schüler sonderte sich ab und versuchte das Ergebnis durch Multiplikation auf dem Papier zu errechnen. Im Rahmen der Gruppenarbeit fiel es den Schülerinnen und Schülern schwer, ihre Arbeitsprozesse und Ergebnisse zu validieren. Im Rahmen der Abschlusspräsentation fanden sie aber selbständig Argumente für höhere oder niedrigere Bedarfe, die sie sowohl an lebensweltliche Erfahrungen („du hast aber auch einen Süßigkeitengeheimvorrat!“) als auch an den modellbezogenen Vorgehenswei-
K. Eilerts und J. Kolter und K. Skutella
sen („ich habe ja auch für meine ganze Familie gerechnet.“) festmachten. Auch an modellverfeinernde Annahmen wie Festtage und Jahreszeiten („im Sommer esse ich viel Eis und trinke Eistee“) dachten die Schüler in dieser Phase des Unterrichts.
3.4
Zwischenfazit
Die Lernumgebung „ein Berg voll Zucker“ ist in ihrer Anlage trotz der vorgegebenen Problemstellung noch komplexer als die Lernumgebung „Punkte sammeln – Lohnt sich das?“. Das liegt zum einen an dem Umstand, dass hier das eigene Essverhalten erinnert oder geschätzt werden muss, was einen enormen „Erhebungsaufwand“ ausmacht, zum anderen ist das Arbeitsmaterial vielfältiger (nahezu unbegrenzt viele Lebensmittel die miteinander kombiniert werden können). Anders als in der ersten Lernumgebung kann hier nicht durch eigene Fragestellungen eine natürliche Differenzierung regulierend wirken (oder durch die Lehrkraft eine mehr oder weniger subtile äußere Differenzierung vorgenommen werden). Eine Einschränkung auf eine kürzere zu betrachtende Zeitspanne könnte hier eine Erleichterung verschaffen. Auch das vorherige Führen eines Ernährungstagebuches (z. B. auch in einem übergreifenden Projekt zum Sachunterricht) würde einen einfacheren Zugriff erlauben. Die Kinder haben sich nach einigen Startschwierigkeiten, die sich aber mehr auf das strategische Vorgehen bezogen und nicht auf den Inhalt, sehr begeistert mit dem Kontext ihres eigenen Zuckerverbrauches auseinander gesetzt. Sie haben mathematisch gearbeitet, Bezüge zwischen Handlungen und Rechnungen hergestellt und genutzt (z. B. 130 g siebenmal abwiegen oder multiplizieren). Gleichzeitig haben sie ihr Essverhalten überdacht, ein Bewusstsein dafür gezeigt, dass Zucker eher ungesund ist, sie ihn aber trotzdem gern konsumieren und sie waren an einigen Stellen überrascht, in welchen Lebensmitteln (wie viel) Zucker enthalten ist.
Punkte sammeln um jeden Preis?
4
Resümee und Potentiale
Die beiden vorgestellten Lernumgebungen stehen beispielhaft für eine große Fülle relevanter und/ oder anregender Kontexte, die uns alltäglich begegnen. Beide Lernumgebungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich leicht in verschiedenen Klassenstufen einsetzen lassen, sodass mit einem einmal angelegten Material-Set ein dauerhafter Einsatz im Unterricht über viele Jahre möglich ist. In beiden Kontexten wird durch die verschieden wählbaren Modell-Komplexitäten und Vorgehensweisen Mathematik betrieben, die für die verschiedenen Klassenstufen „altersgerecht“, lehrplankonform und herausfordernd ist. Durch die Sozialform und die Materialangebote bestehen für jedes Kind die Gelegenheit zum Austausch sowie die freie Wahl seiner präferierten Artikulationsebene, ebenso wie die Wahl der Darstellungsebene(n), auf der die Bearbeitung und die Ergebnispräsentation stattfinden. Mit nur ein wenig Phantasie können aus einer „Mathematik-Lernumgebung“ schnell fächerübergreifende Projekte, zum Beispiel zur gesunden Ernährung, werden und so das mathematische Arbeiten noch mehr in lebensweltliche sowie schulische Bezüge eingebettet werden. Um im Unterricht „Modellieren können zu können“ bedarf es sicherlich einiger Übung – von Lehrkraft und Kindern. Eine große Hürde der Schülerinnen und Schüler in unseren Versuchen war die Strukturierung des eigenen Vorgehens und der eigenen Annahmen. Mit etwas Unterstützung und im Verlaufe einer längeren
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unterrichtlichen Einbindung ist dies aber erlernbar und befähigt die Kinder, sich selbstständig(er) mit komplexen Kontexten auseinanderzusetzen. Wir bedanken uns bei allen Mitwirkenden der Universität Potsdam Jesko Eisgruber, Saskia Fenske, Francine Jarius, Stefanie Jung, für ihren Einfallsreichtum, für die liebevolle Umsetzung und Materialgestaltung und für ihren großen Einsatz bei den Versuchsstunden. Ebenfalls großer Dank gebührt den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern bzw. Lehrkräften für Ihre Offenheit, Neugierde und Unterstützung!
Literatur Carniel, D., Huhmann, T.: Säulendiagramme erstellen, analysieren, interpretieren. Prax. Grundsch. 4/2009, 51–55 (2009) Kaiser, G., Schwarz, B.: Mathematical modelling as bridge between school and university. ZDM 38(2), 196–208 (2006) Maaß, K.: Mathematisches Modellieren. Aufgaben für die Sekundarstufe I. Cornelsen Scriptor, Berlin (2007) Maaß, K.: Mathematik weiterentwickeln. Cornelsen Scriptor, Berlin (2009) Maaß, K.: Mathematisches Modellieren in der Grundschule. Handreichungen des Programms SINUS an Grundschulen. IPN, Kiel (2011) Wollring, B.: Zur Kennzeichnung von Lernumgebungen für den Mathematikunterricht in der Grundschule (2007). http://www.sinus-transfer.de/fileadmin/ MaterialienIPN/Lernumgebungen_Wo_f_Erkner_ 070621.pdf. Zugegriffen: 21.06.2018
Mathematik rund um die Schule – Modellieren mit Fermi-Aufgaben Nora Haberzettl, Stephanie Klett und Stanislaw Schukajlow
Zusammenfassung
Sachaufgaben in Schulbüchern der Grundschule sind häufig ausschließlich auf den aktuellen mathematischen Unterrichtsinhalt ausgerichtet, während realitätsnahe Modellierungsaufgaben dort nur selten vorhanden sind. Daher verwundert es nicht, dass Kinder Schwierigkeiten bei der Bearbeitung von Modellierungsaufgaben haben. Vor allem sehr offene Modellierungsaufgaben stellen eine Herausforderung dar. Dieser Beitrag soll der Fragestellung nachgehen, inwieweit Fermi-Aufgaben dazu beitragen können, die Modellierungskompetenzen von Kindern zu erweitern. Ziel ist es dabei, dass die Kinder erkennen, welche Relevanz die Mathematik zur Lösung von Alltagsproblemen hat. Im Zentrum stehen Fermi-Aufgaben, die für eine dritte Klasse entwickelt und erprobt wurden. Die Dokumentation von Unterrichtssequenzen ermöglicht einen Einblick in die Umsetzung der Modellierungsaufgaben im Unterricht und zeigt exemplarisch, wie die Modellierungskompetenz von Grundschulkindern durch Fermi-Aufgaben erweitert werden kann. Aufgabenlösungen und Schüleräußerungen veranschaulichen den Lernprozess der Kinder.
1 Modellierungsaufgaben in der Grundschule: Theorie und Praxis N. Haberzettl B Studienseminar GHRF Deutschland
Das Sachrechnen nimmt im Mathematikunterricht der Grundschule einen hohen Stellenwert ein. Häufig werden Sachaufgaben so stark auf S. Klett den aktuellen mathematischen Inhalt ausgerichtet, Kassel, Deutschland dass der Sachkontext überflüssig wird. Aufgrund S. Schukajlow Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Institut für der dadurch meist realitätsfernen AufgabenstelDidaktik der Mathematik und der Informatik, Münster, lung ist es nicht verwunderlich, dass die Motivation in Bezug auf Sachaufgaben bei dem Großteil Deutschland Kassel/Eschwege,
Kassel,
K. Eilerts, K. Skutella (Hrsg.), Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht 5, Realitätsbezüge im Mathematikunterricht, DOI 10.1007/978-3-658-21042-7_3, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
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N. Haberzettl und S. Klett und S. Schukajlow
der Grundschulkinder ausbleiben kann (vgl. Blum 2007). Werden im Sachrechnen aber Bezüge zur Realität hergestellt und der Fokus damit auf Phänomene aus der Umwelt gerichtet, können diese durch das mathematische Modellieren besser verstanden werden (vgl. Maaß 2009). Gerade das mathematische Modellieren bietet die Möglichkeit, die Realität mit der Mathematik zu verknüpfen und Lernende dazu anzuregen, ihre Umgebung bewusster zu erleben und kritischer wahrzunehmen (vgl. Franke 2003). Ihnen wird es dadurch möglich, ihr mathematisches Wissen anzuwenden und realistische Probleme zu lösen. In den Bildungsstandards für das Fach Mathematik in der Grundschule stellt das Modellieren oder Modellbilden eine der fünf allgemeinen mathematischen Kompetenzen dar. Diese Kompetenz beinhaltet die Entnahme von Informationen aus Sachtexten oder einfachen Darstellungen aus der Lebenswirklichkeit. Weiterhin sollen Sachprobleme in die Sprache der Mathematik übersetzt, innermathematisch gelöst und wieder auf die Ausgangssituation bezogen werden (vgl. KMK 2004).
1.1
Der Modellierungskreislauf
Die unterschiedlichen Anforderungen, die durch Modellierungsaufgaben an die Schülerinnen und Schüler gestellt werden, lassen sich mithilfe eines Modellierungskreislaufes darstellen. Der Unterschied zwischen verschiedenen Kreisläufen liegt zum Teil in der unterschiedlichen Definition des mathematischen Modellierens. Auf der einen Seite wird nur die Mathematisierung eines realen Problems in Betracht gezogen, auf der anderen Seite wird die gesamte Problemlösesituation in Augenschein genommen. Besonders in der Mathematikdidaktik wird der Begriff des Modellierens für den gesamten Problemlöseprozess verwendet. Die unterschiedlichen Phasen, die ein Kreislauf umfasst, werden nicht starr durchlaufen. Problemlöser wechseln flexibel zwischen verschiedenen Stationen eines Modellierungskreislaufs, wenn sie
eine Modellierungsaufgabe bearbeiten (vgl. Leiß 2007). Innerhalb der Mathematikdidaktik ist der Modellierungskreislauf nach Blum & Leiß besonders verbreitet. Er dient der Analyse des Bearbeitungsprozesses von Modellierungsaufgaben und kann speziell Lehrkräfte darin unterstützen, die Probleme ihrer Schülerinnen und Schüler bei der Planung und Durchführung mathematischer Modellierungen besser zu verstehen (vgl. Blum und Leiß 2005). Am Anfang jedes Modellierungsprozesses steht eine realitätsnahe Situation als Ausgangspunkt (vgl. Henn und Maaß 2003), an die sich sieben Schritte zu Lösung der Situation anschließen. Der erste Schritt (1) ist das Konstruieren und Verstehen. Die Lernenden müssen die Situation verstehen und gegebenenfalls Fragen stellen. Wichtige Informationen werden dem Text entnommen und mit dem Vorwissen verknüpft, wodurch sich eine Vorstellung von der Situation entwickeln soll. Ein Situationsmodell entsteht (vgl. Blum und Leiß 2005). Als nächstes (2) wird durch das Vereinfachen und Strukturieren das Ziel verfolgt, das Situationsmodell zu mathematisieren. Dafür werden wichtige Informationen von unwichtigen unterschieden, indem beispielsweise Überlegungen dazu angestellt werden, welche Angaben zum Lösen der Aufgabe benötigt bzw. welche Annahmen getroffen werden müssen. Das Situationsmodell wird in eine Struktur gebracht und vereinfacht, sodass ein Realmodell entsteht. Im dritten Schritt (3) wird durch das Mathematisieren das reale Modell in ein mathematisches Modell übersetzt, bevor in der nächsten Phase (4) das mathematische Arbeiten beginnen kann. Mithilfe heuristischer Strategien und mathematischer Algorithmen ist hierbei das Ziel, eine mathematische Lösung zu erhalten. Diese Lösung muss im folgenden Schritt (5) durch das Interpretieren zurück auf die Realsituation bezogen werden. Nachdem das Ergebnis gedeutet wurde, muss es anschließend (6) durch das Validieren auf die Plausibilität geprüft werden. Das Ergebnis wird dabei in Bezug auf den Sachkontext bewertet, reflektiert und anhand von Vergleichswerten validiert. Wichtig ist es, den Modellierungsprozess
Mathematik rund um die Schule – Modellieren mit Fermi-Aufgaben
nicht nach dem Schritt der Interpretation abzubrechen. Hinterfragt man das Ergebnis kritisch, können Lösungen in der Realität als nicht angemessen erscheinen, sodass entweder Teilschritte des Modellierungsprozesses oder der gesamte Modellierungskreislauf wiederholt werden muss. Der letzte Schritt (7) des Modellierungskreislaufs hat vorwiegend eine didaktische Funktion. Die Lernenden werden zum Darlegen und Erklären angeregt, indem sie ihre Lösungswege dokumentieren, sie präsentieren und sie für andere nachvollziehbar machen (vgl. Blum 2010, in Weiterentwicklung von Blum und Leiß 2005).
1.2
Fermi-Aufgaben
Offenheit, Komplexität, Realitätsbezug und die Lösbarkeit durch das Ausführen eines Modellierungsprozesses sind die wichtigsten Kriterien für Modellierungsaufgaben (vgl. Maaß 2009). Durch den Umgang mit Modellierungsaufgaben lernen die Kinder, sich mit realistischen Sachsituationen auseinanderzusetzen. Weiterhin erhalten sie ausgehend von ihren individuellen Kompetenzen die Möglichkeit, Fragen zu stellen und nach Lösungen zu suchen. Das Besondere an Modellierungsaufgaben ist die Tatsache, dass sie den Kindern aufzeigen, wie Mathematik im Leben nützlich sein kann (vgl. Maaß 2011). Fermi-Aufgaben1 sind offene Sachaufgaben und eine besondere Art von Modellierungsaufgaben (vgl. Maaß 2009), „die keine oder zumindest unzureichende numerische Informationen enthalten“ (Hinrichs 2008, S. 148). Fehlende Informationen müssen geschätzt, recherchiert oder durch Alltagswissen ermittelt werden. Die Ler1
Der italienische Kernphysiker Enrico Fermi war bekannt für seine guten Abschätzungen, die auf einfache und schnelle Weise erfolgten. Es war ihm stets ein Bedürfnis, dass Studierende ebenfalls in der Lage waren, möglichst einfach Abschätzungen vornehmen zu können. Eine seiner bekanntesten Fragen ist „Wie viele Klavierstimmer gibt es in Chicago?“. Zur Lösung müssen Schätzungen über die Anzahl der Einwohner, über die Anzahl der Klaviere und darüber, wie oft ein Klavier gestimmt werden muss, getroffen werden (vgl. Hinrichs 2008).
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nenden werden dazu angeregt, Methoden zur Datenerhebung in Form von Messen, Recherchieren oder Fragen stellen, zu nutzen. Weiterhin fordern Fermi-Aufgaben keine exakte, aber eine gut begründete Lösung. Die Lösungswege entwickeln und vollziehen die Lernenden selbst. Das Ergebnis wird weder als falsch noch als richtig deklariert, sondern als realistisch oder nicht realistisch eingeschätzt.
1.3
Kompetenzentwicklung durch Fermi-Aufgaben
Mit Blick auf kompetenzorientierten Unterricht fördern Fermi-Aufgaben neben dem Modellieren verschiedene allgemeine mathematische Kompetenzen und sind in unterschiedlichen Leitideen zu verorten. Die Schülerinnen und Schüler lernen, ihre Probleme mathematisch zu lösen, indem sie beim Bearbeiten geeignete Hilfsfragen formulieren und selbstständig Strategien zum Lösen der Aufgaben entwickeln. Um die fehlenden Informationen zu erhalten, ziehen die Lernenden ihr Alltagswissen heran oder benutzen ihre Stützpunktvorstellungen. Weiterhin werden besonders das Kommunizieren und mathematische Argumentieren durch das Lesen der Aufgabe und durch den Austausch in Kleingruppen gefördert. Die Lernenden werden dazu angeregt, ihre Lösungen zu notieren sowie mündlich zu erläutern. Dabei begründen sie, wie sie vorgegangen sind. Den Mitschülerinnen und Mitschülern ermöglicht dies, die Lösungswege anderer nachzuvollziehen, mit den eigenen zu vergleichen und darüber zu reflektieren. Die Kompetenz des Darstellens erweitern die Lernenden, indem sie ihren Lösungsweg zunächst für sich notieren und die Rechenschritte anschließend so dokumentieren, dass diese bei der Präsentation für alle nachvollziehbar sind (vgl. Hinrichs 2008). Beim Lösen von Fermi-Aufgaben ist es von großer Bedeutung, dass die Lernenden mit einfachen Mitteln zum Ergebnis kommen. Dafür greifen sie auf vergangene, bereits bekannte Inhalte
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N. Haberzettl und S. Klett und S. Schukajlow
Tab. 1 Aufbau der Unterrichtseinheit Sequenz 1 2 3 4 5 6 7 8
Fermi-Aufgaben In wie viele Apfelspalten kann man einen Apfel schneiden? (s. Abschn. 1) Putzt du länger als eine Stunde in der Woche deine Zähne? Wenn ja, wie lange? Wie viele Brezeln muss man für den Frühstücksbasar in der Schule kaufen? (s. Abschn. 2) Wie viele Seiten werden bei unserer Lesenacht gelesen? Wie viele Gäste können bei der Afrika-Aufführung sitzen? Wie viele müssen stehen? (s. Abschn. 3) Wie viele Schokoküsse muss Frau Mayer für die Geburtstagsfeier ihres Sohns kaufen? Wie viele Kinder müssen eine Kette bilden, damit sie das Fußballfeld unserer Schule einzäunen können? Wie viele Brotdosen benutzt unsere Klasse in einer Schulwoche? (s. Abschn. 4)
zurück und verknüpfen diese mit ihren bereits erworbenen, allgemeinen mathematischen Kompetenzen. Damit erweitern sie ihren Umgang mit symbolischen, formalen und technischen Elementen, was eine weitere wichtige mathematische Kompetenz darstellt (vgl. Hinrichs 2008). Jedoch werden nicht nur allgemeine mathematische Kompetenzen bei der Bearbeitung von Fermi-Aufgaben angesprochen, sondern auch inhaltliche mathematische Kompetenzen gefördert. Da es bei den meisten Modellierungsaufgaben um Zahldarstellungen und das Anwenden von Rechenoperationen geht, wird die Leitidee Zahlen und Operationen berücksichtigt. Hinzu kommt die Leitidee Größen und Messen, denn häufig werden Größen miteinander verglichen, es wird gemessen oder geschätzt. Sobald der Umgang mit Körpern und Formen oder Flächeninhalten oder das Lesen von Karten notwendig ist, wird die Leitidee Raum und Form angesprochen. Entnehmen die Lernenden Daten aus Tabellen oder erstellen sie Schaubilder, rückt die Leitidee Daten, Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeiten ins Zentrum (vgl. Maaß 2009).
dellierungskompetenzen von Kindern im 3. Schuljahr zu erweitern. Die im Folgenden dargestellte Unterrichtseinheit wurde für eine dritte Klasse konzipiert. Alle Aufgaben wurden mit Schülerinnen und Schülern erprobt und im Anschluss an die Durchführung evaluiert.
2.1
Aufbau der Unterrichtseinheit
Der Aufbau der Unterrichtseinheit2 ist in Tab. 1 dargestellt. Jede Fermi-Aufgabe wird in einer Doppelstunde im Fach Mathematik bearbeitet. Ein zweiseitiges Arbeitsblatt zu jeder Aufgabe dient der Dokumentation der Schülerergebnisse. Die Aufgaben werden anschließend auf der Metaebene mit den Kindern reflektiert.
2.2
Organisatorische Überlegungen
In der Unterrichtseinheit wird jede Aufgabe durch einen Brief der Eule Fermine eingeleitet, welche in Form eines Stofftieres in der Mitte des Sitzkreises der Klasse platziert ist (vgl. Hülse und 2 Konzeption einer Unterrichtseinheit Neubert 2015). Im Anschluss an das Vorlesen des Briefes werden die einzelnen Schritte des Modellierungsprozesses der Reihe nach von den Kindern Um den Blick auf realitätsnahe Sachaufgaben und durchlaufen (vgl. Tab. 2). das damit verbundene Modellieren zu richten, verfolgt dieser Beitrag die Fragestellung, inwieweit 2 Siehe u. a. Hülse und Neubert (2015), Maaß (2009), Fermi-Aufgaben dazu beitragen können, die Mo- Müller-Heise (2012).
Mathematik rund um die Schule – Modellieren mit Fermi-Aufgaben
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Tab. 2 Teilschritte des Modellierungsprozesses Teilschritte der Kinder Was will ich herausfinden? Welche Angaben brauche ich zum Lösen? Ich berechne die Aufgabe. Was bedeutet mein Ergebnis? Kann meine Lösung stimmen? Ich erkläre meinem Partner, wie ich gerechnet habe und warum. Wir besprechen unsere Ergebnisse.
Teilkompetenz des Modellierens Konstruieren/Verstehen Vereinfachen/Strukturieren und Mathematisieren Mathematisieren und Mathematisch arbeiten Interpretieren Validieren
2.3
durch die Kompetenz des Kommunizierens und Argumentierens positiv beeinflusst werden können (vgl. Maaß 2009).
Methodische Überlegungen
Zur Bearbeitung der entwickelten FermiAufgaben wurde die „Ich-Du-Wir-Methode“ ausgewählt, da diese vielfältige Kommunikationsanlässe bietet (vgl. Hülse und Neubert 2015). Die Lehrkraft nimmt die Position des zurückhaltenden Beobachters ein, steht den Lernenden beratend zur Seite und gibt ihnen genug Freiraum, ihre eigenen Lösungswege und gegebenenfalls auch Umwege zu gehen. Der Unterricht wird in drei Phasen eingeteilt. In der ersten Phase findet eine Einzelarbeit statt, in der sich jedes Kind alleine mit der Aufgabenstellung auseinandersetzt. Im Anschluss daran erfolgt eine Austauschphase zu zweit oder zu dritt. Die Einzelüberlegungen werden vorgestellt und gemeinsam diskutiert. Aufgrund der unterschiedlich benötigten Zeit und der verschiedenen Lösungswege ist es wichtig, dass der Unterricht offen gestaltet ist und dies ermöglicht (vgl. Habicht 2012). Zur Vorbereitung der Ergebnissicherung ist es beispielsweise möglich, dass in dieser Phase ein Plakat angefertigt wird. Dabei soll der Inhalt im Vordergrund stehen. Den Lernenden soll das Bewusstsein vermittelt werden, dass Fehler zum Arbeitsprozess dazugehören (vgl. Maaß 2009). Die letzte der drei Phasen bietet den Gruppen die Gelegenheit, ihre Ergebnisse im Plenum zu präsentieren (vgl. Mattes 2011). Wenn die verschiedenen Gruppen die Fermi-Aufgabe unterschiedlich gelöst haben, können die verschiedenen Lösungen zur Diskussion genutzt werden, wo-
Darlegen und Erklären
3
Dokumentation ausgewählter Unterrichtssequenzen
Die folgende Dokumentation von vier Unterrichtssequenzen stellt exemplarisch die Umsetzung der Modellierungsaufgaben im Unterricht dar. Dabei liegt der Fokus auf der Erweiterung der Modellierungskompetenz der Kinder des 3. Schuljahres, in dem die Unterrichtseinheit durchgeführt wurde. Die erste ausgewählte Unterrichtssequenz bezieht sich auf den Einstieg in die Unterrichtseinheit. Die weiteren Stunden wurden ausgewählt, um den Prozess der Weiterentwicklung der Modellierungskompetenz zu verdeutlichen.
3.1
Aufgabe: Apfel in Teile zerschneiden
Die Unterrichtseinheit wurde mit der Aufgabe eingeleitet: „In wie viele Spalten kann man einen Apfel schneiden?“ (Sequenz 1). Den Kindern war schnell klar, dass sich diese Art der Aufgabe von denen unterscheidet, die sie bisher als Sachaufgabe im Mathematikunterricht kennengelernt haben. Auf die Frage der Lehrkraft, wie man diese Aufgabe lösen könnte, hatte eine Schülerin die Idee, dass man es an einem richtigen Apfel ausprobieren könnte.
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N. Haberzettl und S. Klett und S. Schukajlow
Für jedes Kind standen ein Apfel, ein Schneidebrett und ein Messer zur Verfügung, sodass jeder Lernende die Aufgabe handlungsorientiert lösen konnte. Die Kinder waren sehr motiviert, wobei die Bearbeitungszeit sehr unterschiedlich war. Wichtig war, dass alle Kinder auf einem Zettel notieren mussten, wie viele Apfelstücke sie hergestellt hatten. Nachdem die Bearbeitungsphase abgeschlossen war, traf sich die Klasse im Sitzkreis. Alle Kinder hielten gleichzeitig ihre Lösung hoch, sodass alle Lösungen sichtbar wurden. Einige Kinder staunten über die Lösungen der anderen und die Lehrkraft konnte erkennen, dass viele Kinder durch die Menge der Lösungen verunsichert waren. Anschließend fragten die Kinder sofort, welches Kind denn nun die richtige Lösung hätte. Noch bevor die Lehrkraft auf die Frage reagieren konnte, erklärte eine Schülerin, dass alle Lösungen richtig seien. Weiterhin erklärte sie, dass es jedem selbst überlassen ist, wie groß oder klein er die Apfelspalten schneiden würde. Diese Erklärung war für alle Kinder verständlich und zufriedenstellend. Ergänzend zu der Aussage der Kinder, dass es viele verschiedene richtige Lösungen gibt, stellte die Lehrkraft eine provokante Behauptung auf: Wenn ich sage, dass ich meinen Apfel in 200 Spalten geschnitten habe, wäre das doch eine richtige Lösung.
Sofort erklärten die Kinder, dass diese Zahl viel zu hoch sei. Die Lehrkraft erklärte, dass die Angaben, die man für die Lösung der Aufgabe braucht, realistisch sein müssen.
3.2
Aufgabe: Brezeln für den Frühstücksbasar
In der dritten Unterrichtssequenz wurde den Kindern die Aufgabe gestellt: „Wie viele Brezeln muss man für den Frühstücksbasar in der Schule kaufen?“ (Sequenz 3). Einmal pro Woche findet an der Schule ein Frühstücksbasar statt, der jedes Mal von einer anderen Klasse organisiert wird. Alle Schulkinder lieben die Brezeln, die es dort gibt. Jedoch gibt es in der einen Woche zu wenige Brezeln und in der anderen Woche sind zu viele übrig.
Zu Beginn der Stunde wurde der Brief von Fermine von einem Schüler vorgelesen. Der erste Arbeitsschritt „Was will ich herausfinden?“ wurde von einem Schüler noch einmal in eigenen Worten zusammengefasst (Modellierungskompetenz: Verstehen). Der Schritt „Welche Angaben brauche ich zum Lösen?“ wurde von den Lernenden selbst durchgeführt. Die meisten Kinder fühlten sich aber in der Einzelarbeit noch unsicher und bevorzugten den Austausch mit einem Partner, was von der Lehrkraft begrüßt wurde. Damit wurde das Kommunizieren gefördert. Zu beobachten war, dass die Kinder wenige Annahmen selbst treffen konnten. Sie äußerten, dass sie nicht genau wüssten, was sie aufschreiben sollten. Um in der ersten Phase des Arbeitens keine Misserfolge entstehen zu lassen, wurden mögliche Angaben gemeinsam an der Tafel notiert. Das Finden der notwendigen Angaben war allerdings nur durch gelenktes Nachfragen der Lehrkraft möglich, da den Kindern die Informationen zum Lösen der Aufgabe nicht bewusst waren. Sie ergänzten die fehlenden Vermutungen auf ihrem Arbeitsblatt, sodass alle die gleichen Fragen verschriftlicht hatten (z. B. „Wie viele Brezeln isst jedes Kind?“, „Wie viele Kinder sind in der Schule?“, „Essen die Lehrkräfte auch Brezeln?“). Die entsprechende Antwort wurde unterhalb der Frage von jedem Kind selbst notiert (s. Abb. 1: Schülerlösung 1: oben). Anschließend folgte der Schritt „Ich berechne die Aufgabe“. Diese Phase war für einen Großteil der Kinder sehr schwierig. Häufig wussten sie nicht, welche Zahlen man zum Rechnen braucht und wie man diese sinnvoll in eine Rechnung einbettet. Einige Kinder addierten und multiplizierten die Zahlen beliebig. Gründe für die Schwierigkeiten beim Vereinfachen, Mathematisieren und Mathematisch Arbeiten könnten in der Komplexität der Aufgabe und der geringen Erfahrung der Schülerinnen und Schüler begründet sein. Die Vielzahl an Angaben, die man in seine Rechnung mit einfließen lassen muss, schienen die Kinder zu verunsichern. Kinder, die diese Aufgabe schnell lösen konnten, nahmen im Unterricht eine Helferrolle ein. Sie unterstützten die Kinder mit Schwierigkeiten gemeinsam mit der Lehrkraft.
Mathematik rund um die Schule – Modellieren mit Fermi-Aufgaben
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Kinder nicht genau, was passieren würde, wenn sie ihr Ergebnis nicht für plausibel hielten. Auffällig war in dieser Unterrichtssequenz insgesamt, dass viele Kinder in der Bearbeitungsphase große Unterstützung brauchten. Die Arbeitsatmosphäre wurde durch das gegenseitige Helfen positiv beeinflusst, sodass am Ende jedes Kind eine Lösung auf seinem Arbeitsblatt notieren konnte.
3.3 Aufgabe: Gäste bei der Afrika-Aufführung
Abb. 1 Schülerlösung 1
Als weitere Absprache einigte sich die Klasse zusammen mit der Lehrkraft darauf, dass hinter jeder Teillösung stichpunktartig aufgeschrieben wird, wofür diese steht (s. Abb. 1: Schülerlösung 1: unten). Nachdem die Kinder die Aufgabe bearbeitet hatten, folgte die Vorstellung der Ergebnisse an der Tafel von drei Kindern. Sie schrieben ihre Lösungen an und erklärten im Anschluss daran ihr Vorgehen (Modellierungskompetenz: Darlegen und Erklären). Die Lösungen der Kinder waren nachvollziehbar und übersichtlich präsentiert, jedoch bemerkte die Lehrkraft, dass es vielen Kindern schwerfiel, sich in die Lösungswege der anderen hineinzudenken und diese nachzuvollziehen. Sie empfahl daher für die folgenden Präsentationen, dass die präsentierenden Kinder noch einmal ihre im Vorhinein getroffenen Angaben an der Tafel notieren, um den Rechenweg transparenter zu machen. Das Interpretieren des Ergebnisses erfolgte von allen Kindern in der Formulierung eines Antwortsatzes, der keine Schwierigkeit darstellte. Auf die Frage „Kann mein Ergebnis stimmen?“ (Validieren), antworteten alle sofort mit „ja“. Dies vermittelte der Lehrkraft den Eindruck, als wüssten die
Auch die fünfte Aufgabe entstand im Umfeld der Schule. Da am Ende der Afrika-Projektwoche das Erlernte und Hergestellte den Eltern präsentiert werden sollte, lautete die dazu passende FermiAufgabe: „Wie viele Gäste können bei der AfrikaAufführung sitzen? Wie viele müssen stehen?“ (Sequenz 5). Da die Kinder bereits Erfahrungen mit einer Fermi-Aufgabe sammeln konnten, bei der etwas für eine Veranstaltung geplant werden musste (dritte Sequenz), war es denkbar, dass sich die bestehenden Erfahrungen positiv auf den Arbeitsprozess auswirken würden. Für den Arbeitsschritt „Welche Angaben brauche ich zum Lösen?“ erhielten die Kinder dieses Mal Zeit, sich erst einmal selbst Gedanken zu machen. Deutlich erkennbar war, dass viele Kinder direkt ein paar Ideen für die benötigten Angaben aufschrieben, wodurch eine positive Entwicklung in den Teilkompetenzen Vereinfachen/Strukturieren und Mathematisieren sichtbar wurde. Mehr als die Hälfte der Kinder wollte selbstständig arbeiten. Ein weiterer Fortschritt im Umgang mit der Modellierungsaufgabe zeigte sich in der Notation der Angaben. In den vorhergehenden Stunden wurden die Angaben häufig als Frage formuliert, wie z. B. „Wie viele Schüler hat die Schule?“. Ohne einen Impuls der Lehrkraft begannen einige Kinder ein paar der Angaben nur noch stichpunktartig zu notieren, wie z. B. „Anzahl der Kinder der Schule“ (s. Abb. 2).
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N. Haberzettl und S. Klett und S. Schukajlow
Abb. 3 Schülerlösung 3
Abb. 2 Schülerlösung 2
Überrascht von dieser Veränderung im Darlegen der Ergebnisse übernahm die Lehrkraft diese Form der Notation für andere Beispiele. Erkennbar war, dass die kurzen und prägnanten Aussagen den Kindern mehr Übersicht gaben und es ihnen erleichterte, die Angaben besser in ihre Rechnung zu integrieren. Nachdem die Angaben der Kinder gemeinsam an der Tafel zusammengetragen wurden, wurde klar, dass die Klasse nicht auf jede Frage bzw. Angabe eine Antwort hatte. Angaben wie „Wie viele Bänke haben wir?“ und „Wie viele Gäste passen auf eine Bank?“ konnten die Kinder nicht beantworten. Auf den Einwand eines Schülers, dass für die Beantwortung die Schulleitung gefragt werden könnte, ging die gesamte Klasse in das Lehrerzimmer. Ein Schüler erklärte, an welcher Aufgabe die Klasse gerade arbeitete und stellte die erste der beiden Fragen. Für die Beantwortung der zweiten Frage entschieden die Kinder, es an einer Bank selbst auszuprobieren. Die Lernenden baten den Hausmeister um Hilfe und kamen zu dem Ergebnis, dass sechs Kinder darauf sitzen konnten. Dabei berücksichtigten sie lediglich ihre Kindergröße. Da alle Kinder damit zufrieden
waren, merkte die Lehrkraft an, dass es meist Erwachsene sein würden, die auf den Bänken sitzen. Diese Aussage brachte die Klasse dazu, ihre Angabe von sechs Personen auf fünf Personen zu korrigieren. Nachdem alle Angaben vollständig waren, konnten die Kinder die Aufgabe berechnen. Während der Bearbeitung war auffällig, dass ein paar Kinder eine Skizze als Unterstützung zeichneten. Schon in vergangenen Stunden nutzten die Schüler Skizzen oder andere Formen der Darstellung als effektives Hilfsmittel, um den Sachverhalt zu verdeutlichen (s. Abb. 3 und 4). Inhaltlich musste die Lehrkraft bei dieser Aufgabe bei weniger Kindern Unterstützung geben. Auffällig war jedoch, dass die Kinder, die Schwierigkeiten mit der Bearbeitung der Aufgaben hatten, häufig nicht wussten, welche Rechenoperation durchgeführt werden muss. Dies zeigt erneut, wie wichtig es ist, dass die Kinder regelmäßig derartigen Aufgaben begegnen. Die leistungsstärkeren Kinder, denen die Bearbeitung keine Probleme bereitete, wurden als Helferkinder eingesetzt. Von der Lehrkraft wurden sie für eine unterstützende Hilfe sensibilisiert, ohne dass sie einfach das Ergebnis vorsagten. Dies führte dazu, dass am Ende der Doppelstunde alle Kinder eine Lösung auf dem Blatt notiert hatten. Durch die Beobachtung und kurzen Gespräche der Lehrkraft mit den Kindern, wurde deutlich, dass der Großteil der Klasse, den eigenen Lösungsweg selbstständig herausgefunden und verstanden hat. Festzuhalten ist, dass damit eine Verbesserung in der Teilkompetenz Mathematisch arbeiten zu erkennen war. Nachdem die Ergebnisse wieder an der Tafel vorgestellt wurden, folgte die Reflexionsphase. In dieser Phase zeigten die Schüleräußerungen, dass sich die Kinder immer sicherer im Umgang mit
Mathematik rund um die Schule – Modellieren mit Fermi-Aufgaben
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Abb. 4 Schülerlösung 4 (B D Bänke; K D Kinder)
Im Vergleich zu den ersten Sequenzen arbeiteFermi-Aufgaben fühlten. Auch der Nutzen der Aufgaben wurde von einem Kind deutlich ge- ten die Lernenden intensiver an der mathematimacht, indem es feststellte, dass die Klasse durch schen Bearbeitung der Aufgabe und der Darsteldas Ausrechnen solcher Situationen beispielswei- lung ihrer Lösungswege. Nachdem alle Kinder mit der zu bearbeiteten se die Afrika-Aufführung besser planen könne. Aufgabe fertig waren, erklärten vier Kinder ihre Lösungswege an der Tafel. Im Laufe der Zeit wurde deutlich, dass es den Kindern immer bes3.4 Aufgabe: Brotdosen aller Kinder ser gelang, ihre Vorgehensweisen so zu erklären, der Klasse dass alle anderen es verstehen konnten. Zu Beginn Diese Unterrichtsstunde war die letzte der Einheit. jeder Erklärung erläuterten die einzelnen Kinder, Die Besonderheit bestand darin, dass das erste von welchen Angaben sie ausgegangen waren. So Mal eine Aufgabe bearbeitet wurde, die von ei- war es für die Zuhörer leichter, die Gedankengänner Schülerin formuliert worden war: „Wie viele ge nachzuvollziehen. Besonders hervorzuheben ist Brotdosen benutzt unsere Klasse in einer Schulwo- die Rechnung eines Mädchens, welches während che?“ (Sequenz 8). Zusätzlich sollten die Kinder der gesamten Unterrichteinheit starke Probleme in dieser Stunde den gesamten Ablauf zum Lö- mit dem Finden eines geeigneten Rechenwegs hatsen der Modellierungsaufgabe selbst durchführen, te. In dieser Stunde hatte sie erstmals den Mut, ohne dass es eine Zwischenphase gab, in der ge- ihr Ergebnis ihren Mitschülerinnen und Mitschümeinsam Informationen zusammengetragen wur- lern zu präsentieren. Ihre Rechnung war in viele den. Als die Kinder von der Besonderheit der Teilrechnungen untergliedert, weil sie Annahmen getroffen hatte, die sonst kein Kind berücksichtigt Stunde erfuhren, waren sie sehr begeistert. Ob die Kinder Partner- oder Einzelarbeit wähl- hatte. Sie ging davon aus, dass von 13 Kindern in ten, war ihnen überlassen. Bis auf zwei Jungen einer Schulwoche ein Kind krank ist, ein Kind das entschieden sich alle Kinder dafür, zunächst allei- Frühstück vergessen hat und ein Kind statt einer ne zu arbeiten. Während die Lehrkraft die Kinder Brotdose eine Frühstückstüte dabei hat. Diese Anbeobachtete, fiel ihr auf, dass fast alle Kinder die nahmen berücksichtigte sie in ihrer Rechnung und benötigten Angaben wie z. B. „Anzahl der Schul- kam zu einem plausiblen Ergebnis. Dieses Mädwochentage“, „Anzahl der Kinder in der Klasse“, chen zeigt beispielhaft, wie sich die Kompetenz „Anzahl der Brotdosen für jedes Kind“ selbststän- der Kinder besonders in Bezug auf die Modelliedig notierten. Das Aufschreiben des Rechenweges rung weiterentwickelt hat. In der anschließenden Reflexionsphase äußerte wurde von einigen Kindern durch Skizzen ergänzt sich ein anderes Mädchen und gab den anderen (s. Abb. 5).
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N. Haberzettl und S. Klett und S. Schukajlow
Abb. 5 Schülerlösung 5 (B D Brotdose; K D Kind)
Kindern den Tipp, dass man das Ergebnis gut mit einer Skizze überprüfen könne. Diese Art der Selbstkontrolle hatte das Mädchen bei dieser Aufgabe gewählt und dadurch gemerkt, dass sie richtig gerechnet hatte.
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Selbstvertrauen die Kinder beim Lösen von FermiAufgaben erhalten hatten und wie sich dies auf den Modellierungsprozess und dessen Teilkompetenzen ausgewirkt hat. Die Fermi-Aufgaben haben vor allem dazu beigetragen, den Kindern den Nutzen der Mathematik im Alltag zu verdeutlichen.
Fazit
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Beobachtungen und Schülerlösungen auf eine Weiterentwicklung von Teilkompetenzen der Kinder im Modellierungsprozess mithilfe der FermiAufgaben schließen lassen. Besonders hervorzuheben ist die positive Entwicklung der Teilkompetenzen Verstehen/Konstruieren, Vereinfachen/Strukturieren, Mathematisieren, Mathematisch Arbeiten, Interpretieren sowie Darlegen/Erklären, während das Validieren den Kindern nach wie vor noch Schwierigkeiten bereitete. Die insgesamt positive Entwicklung wurde anhand exemplarischer Schülerlösungen beschrieben. Dabei ist davon auszugehen, dass die Weiterentwicklung nicht bei allen Lernenden der Klasse gleichermaßen erfolgte. Dennoch wurde am Ende der Unterrichtseinheit deutlich, wieviel mehr
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Wie viel Wasser verbrauchen wir in der Kita? – Modellieren von Anfang an Katja Eilerts und Denise van der Velden
Zusammenfassung
Ist Modellieren schon im Vorschulalter möglich? Dieser Frage soll in dem folgenden Artikel nachgegangen werden. Dazu wird eine Modellierungsaufgabe für die frühkindliche Förderung in einer Kita entwickelt und dort auch umgesetzt. Grundlage für die Modellierungsaufgabe ist das Thema „Wasser“, da es Teil der Lebenswelt und Erfahrung der Kinder ist. Die hier vorgestellte Aufgabe verdeutlicht exemplarisch, dass Kindergartenkinder mittels geeignet konzipierter Aufgaben bereits in die Modellierung eingeführt werden können, um so Grundlagen für den schulischen Bereich zu legen.
1 Einleitung Nicht nur für die Grundschule ist das Modellieren von zentraler Bedeutung. Seit der Diskussion über frühkindliche Bildung gibt es die Ansicht, dass man auch schon im vorschulischen Bereich Modellierungsaufgaben etablieren kann (vgl. Benz et al. 2017). Zentraler Blickpunkt in der Kita ist die aktive Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umgebung auf der Grundlage seinerbisherigen Le-
K. Eilerts B Institut für Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland D. van der Velden Institut für Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland
benserfahrungen. Somit sollen die Kinder auch erleben, dass Mathematik viel mit ihrer Lebenswelt zu tun hat und alltägliche Probleme mithilfe der Mathematik gelöst werden können. Dabei geht es nicht um vorschnelle Lösungen, sondern viel mehr um den Spaß am Entdecken (vgl. mfkjks 2016, S. 116). Dieser aktive Ansatz bietet einen geeigneten Rahmen, um auch einfache Modellierungsaufgaben hier zu verorten. Die Kinder kommen mit zahlreichen, aber auch unterschiedlichen Vorerfahrungen in die Schule. Vorhandene Fähigkeiten sollten unbedingt vor dem ersten Schuljahr an schon aufgegriffen werden. Daraus können die für das Modellieren benötigte Kompetenzen frühzeitig weiterentwickelt werden. Wichtig ist vor allem, dass die Kinder genügend Zeit erhalten, ihre Fragen in Alltagssituationen für sich zu klären, emotionale Bezüge herzustellen, Vorerfahrungen zu benennen und ihr
K. Eilerts, K. Skutella (Hrsg.), Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht 5, Realitätsbezüge im Mathematikunterricht, DOI 10.1007/978-3-658-21042-7_4, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
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Vorwissen zu aktivieren, um dann ein Problembewusstsein und eigene Fragen zu entwickeln. Maaß (2009) beschreibt für die Grundschule grob drei Phasen, um Modellierungsaufgaben im Unterricht zu behandeln. Phase 1 ist der Einstieg in die Problemsituation, das Stellen von Fragen bzw. das Erfassen der Fragestellung. Phase 2 ist das Erarbeiten einer Lösung und Phase 3 ist die Präsentation und Besprechung der Lösung. Selbstverständlich können die einzelnen Phasen noch unterteilt werden. In der Kita wird besonders die erste Phase gefördert. Weiterhin hat Maaß (2009) drei Aspekte erläutert, die den Lernenden erfahrungsgemäß Schwierigkeiten bereiten. Der erste Aspekt ist „Fragen zu stellen“. Gerade im Kindergartenalter stellen Kinder zahlreiche Fragen, wofür es wichtig ist, ausreichend Zeit zur Verfügung zu stellen, um sich die vorgegebene Situation vorzustellen und die Fragen zu beantworten. Hierbei ist es besonders bedeutend an den Erfahrungshorizont der Kinder anzuknüpfen. Der zweite Aspekt ist die kritische Reflexion am Schluss. Modellierungsaufgaben sind dadurch gekennzeichnet, dass es oft keine eindeutige Lösung bzw. keinen eindeutigen Lösungsweg gibt. Diese stehen in Abhängigkeit vom Vorgehen und den getroffenen Annahmen und sind somit subjektiv. Ziel ist es, den Kindern Einsicht zu vermitteln, warum die Ergebnisse so unterschiedlich sind. Durch entsprechende Fragen kann man die Interpretation der Ergebnisse begleiten und den Kindern helfen ihre Ergebnisse zu reflektieren (vgl. mfkjks 2016, S. 116). In der Kita setzt die Reflexion der Ergebnisse eine hohe Unterstützung durch die pädagogische Fachkraft voraus. Aber im gemeinsamen aktiven Forschen und Entdecken, finden die Kinder eigene Wege um ihre Umwelt mathematisch zu entdecken, wozu auch die Einordnung der Ergebnisse gehört. Der dritte Aspekt, der den Kindern nach Maaß Schwierigkeiten bereitet, ist die Lernumgebung. Hier benötigen die jüngeren Schülerinnen und Schüler meistens noch viel anschauliches Hilfsmaterial, wie in dieser Aufgabe die Wassergefäße, um die Aufgaben besser verstehen zu können (vgl. Maaß 2009).
K. Eilerts und D. van der Velden
Können Kita-Kinder dann überhaupt schon modellieren? Oder ist es dafür noch zu früh? PeterKoop und Grüßing (2007) äußern sich folgendermaßen zum Modellieren: „Mathematisches Modellieren ist eindeutig eine Kompetenz, die in der Regel erst in der Grundschule angebahnt und im Mathematikunterricht der weiterführenden Schulen weiter ausgebaut wird.“ (ebd., S. 172). Modellieren ist damit als Teil formaler Mathematik keine sinnvolle mathematische Beschreibungsdimension für den vorschulischen Bereich. Auch Sprenger et al. (2013) vertreten die Ansicht, dass sich die allgemeinen mathematischen Kompetenzen, also auch das Modellieren, nicht dazu eignen, die Art und Weise vorschulischer mathematischer Begegnungen zu beschreiben. Durch die Planung und Durchführung eines Projektes soll in diesem Artikel jedoch aufgezeigt werden, dass einfache Modellierungsaufgaben durchaus im Vorschulbereich umgesetzt werden können. Diese müssen gut vorbereitet und evaluiert sein, denn Kinder im Vorschulalter verfügen nur über wenige oder gar keine mathematischen Begriffe sowie Modelle. Genau aus diesem Grund sind vereinfachte Aufgaben wichtig.
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2.1
Die Auswahl einer kindgerechten Modellierungsfragestellung in der Kita Der einfache Modellierungsprozess im Vorschulbereich
Modellierung ist der Prozess ein außermathematisches Problem mit Hilfe der Mathematik zu lösen (vgl. Borremeo Ferri und Kaiser 2008). Aber wie sollen Kinder, die kaum rechnen können, offene Probleme lösen? Gerade Kindergartenkinder, die noch keinen Mathematikunterricht kennen, gehen spontan, kreativ und unbefangen an Aufgaben heran. Sie üben sich dabei besonders im Argumentieren und Kommunizieren (vgl. Maaß 2009). Der Ausgangspunkt beim Modellieren ist eine komplexe, vorgegebene Situation, für die eine
Wie viel Wasser verbrauchen wir in der Kita? – Modellieren von Anfang an
Lösung gesucht wird. Dazu wird die vorgegebene Situation passend vereinfacht, idealisiert und strukturiert. So entsteht das Realmodell. Die Modelle stecken also nicht bereits in der Realität, sondern sie werden vom frühpädagogischen Personal gemeinsam mit den Kindern mit zielgerichteten Absichten konstruiert. Dieser Aspekt ist somit für die Bearbeitung von mathematischen Aufgaben von großer Relevanz, da folglich nicht zwischen „richtigen“ und „falschen“ Modellen präzise unterschieden werden kann, sondern zwischen „angemessenen“ und „weniger angemessenen“ Modellen (vgl. Hinrichs 2008). Dieses Realmodell muss nun in die mathematische Sprache übersetzt werden. Es ergibt sich das mathematische Modell. Dieser Schritt ist insgesamt sehr komplex. Hier benötigen gerade die jüngeren Kinder noch Unterstützung der Erwachsenen, denn Kinder im Vorschulalter verfügen nur über wenige oder gar keine mathematischen Begriffe. Das aus dem Modell bestimmte Ergebnis muss anschließend noch interpretiert und validiert werden. Passt die gefundene Lösung nicht zur Realität, sollten einzelne Schritte oder bei Bedarf auch der gesamte Prozess neu durchlaufen werden (vgl. Maaß 2009). Im Kindergarten wird dieser Schritt lediglich durch Vorarbeit und viel Hilfe seitens der Erzieherinnen bzw. Erzieher angedacht werden können. Für Schülerinnen und Schüler, besonders wenn sie noch sehr jung sind, ist der reduzierte Modellierungskreislauf angebrachter (vgl. Schukajlow 2011). Hierzu gehören die Teilschritte (1) Aufgabe verstehen, (2) Reduzieren, Mathematik suchen, (3) Mathematik nutzen sowie (4) Interpretieren und Validieren. Baumann (2012) hat diese vier Teilprozesse für die Grundschule mit bildhaften Karten und dazu passenden Fragen entwickelt. Eilerts und Kolter (2015a) haben diese Karten zum vierschrittigen Lösungsplan umgewandelt, der auch schon bei jüngeren Lernenden sinnvoll eingesetzt werden kann (vgl. Abb. 1). Bezogen auf die Kita-Aufgabe bedeutet dies, dass der Lösungsplan dem frühpädagogischen Personal ein Handlungswegweiser
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Abb. 1 Vierschrittiger Modellierungskreislauf für die Grundschule. (Nach Baumann 2012, zitiert nach: Eilerts und Kolter 2015a)
mit Fragen zum Durchführen der Modellierung darstellt. Im dritten Schritt bietet sich die Aufgabenstellung „Wir überlegen, zeichnen und zählen.“ als Ergänzung zum Rechnen an. Insgesamt ist der Modellierungsprozess ein komplexer Vorgang, der unterschiedlich durchlaufen wird (vgl. Borreomeo Ferri 2010). Für die Umsetzung in der Kita sollte hier die verbale und intuitive Umsetzung im Vordergrund stehen. Im Gegensatz zur Schule, ist es sinnvoll, die Schritte des Lösungsplanes mit den Kindern in der Kita nicht zu thematisieren, sondern durch die Projektplanung zu initiieren. Ausgehend von einem vereinfachten Lösungsplan stellt sich die Frage, wie früh Kinder mit welchen Ergebnissen an das mathematische Modellieren herangeführt werden können. Hierzu ist zunächst eine geeignete Aufgabe zu entwickeln. Die Anforderungen an die Aufgaben bestehen im Weiteren in einem kindgerechten Durchlauf des Kreislaufes und bedeuten inhaltlich in einer altersgerechten Sprache, dass die Kinder in hinrei-
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K. Eilerts und D. van der Velden
chendem Maße über die mit den Einzelschritten Werden die Kinder gefragt „Wie viel Wasser einhergehenden Kompetenzen verfügen. verbrauchen wir pro Tag in der Kita?“, liegt die Modellierung der Gesamtmenge als Summe der Teilmengen nah. Für die Planung und Umsetzung 2.2 Das Element Wasser und seine ist wichtig, wie die Wassermengen in Bezug auf die Vorerfahrungen der Kinder, visualisiert und erBedeutung für Kinder fahrbar gemacht werden können. Gesucht ist demnach eine Aufgabe, die von den Kindern verstanden werden kann, weil sie ihrer Vorstellungs- und Lebenswelt entspricht und die 3 Umsetzung in der Kita1 inhaltlich so aufgebaut ist, dass sie zu einem Modell reduziert und mathematisch gelöst werden Einstimmend auf das Thema Wasser starten die kann. Zudem muss deren Ergebnis für die Kinder Kinder im Sitzkreis mit dem Lied „Tröpfchen, interpretierbar und nachvollziehbar sein. Tröpfchen du musst wandern . . . “. In der Mitte Die Wahl der realen Situation als Teil der Vor- des Kreises befindet sich ein großes Planschbestellungwelt der Kinder fiel dabei auf eine Aufga- cken, in dem kein Wasser, aber Eimer, Gießkannen be zum Thema Wasser. Wasser fasziniert Kinder und weitere Gefäße zum Thema Wasser stehen. in jedem Aggregatzustand. Es gehört zur Lebens- Anhand der Frage der Erzieherin: „Wofür brauwelt der Kinder und ist dennoch in dem Sinn chen wir Wasser?“ zählen die Mädchen und Jun„abstrakt“, dass es in seiner für die Kinder „nor- gen Alltagssituationen auf in denen sie Wasser malen Form“ als Flüssigkeit nicht (ab-)gezählt verbrauchen: Zähne putzen, Hände waschen, Tee werden kann. Daher eignet es sich besonders für trinken, kochen, Wasser trinken, Toilettenspülung praktische Arbeiten, die den Kindern zu ersten drücken, duschen, Gesicht waschen, Wasserbomkonkreten Vorstellungen von abstrakter Begriff- ben basteln, putzen, Planschbecken füllen2 , Blulichkeit verhelfen. men gießen, Aquarium u. v. m. Abschließend folgt Im Kindergarten stützt sich die Pädagogik oft die Frage: „Und wie viel Wasser brauchen wir hier auf die praktische Arbeit mit vertrauten Materia- in der Kita an einem Tag?“ lien. Deshalb überwiegt beim Thema WasserverIm zweiten Schritt des vereinfachten Lösungsbrauch also insgesamt der sinnliche Aspekt, in der plans (vgl. Abb. 1) geht es um die Fragen: Wie Grundschule würde dann die Auseinandersetzung können wir das herausfinden und welche Informamit den Eigenschaften des Wassers beginnen. tionen haben wir dafür? Um dieses Ergebnis am Ende der Modellierung verständlich, aber auch vergleichbar zu machen,
2.3
Modellierungsaufgabe „Wasserverbrauch pro Tag in einer Kita“
Ausgehend von der vertrauten Materie „Wasser“ wird nun eine Fragestellung gesucht, die für KitaKinder verständlich und modellierbar erscheint. Wasser wird in Einrichtungen dieser Art an vielen Stellen von den Kindern sichtbar verwendet. Jedoch ist die Gesamtmenge Wasser, die in der Einrichtung verbraucht wird, für die Kinder eine vollkommen abstrakte und zunächst unschätzbare, komplexe Größe.
1
Diese Aufgabe wurde in einer Kita mit Kindern im Alter von 3–6 Jahren von Prof. Dr. Katja Eilerts in Unterstützung von Dr. Julia Rasche durchgeführt. Dafür wurde ein gesamter Vormittag von 8.30 Uhr bis 12 Uhr genutzt. Ein herzlicher Dank geht an die AWO Kita Mullewapp in Soest und Frau Andrea Grumme, sowie den Kita-Kindern der Waldemar-Gruppe und deren Erziehungsberechtigten. 2 An heißen Tagen wird in dieser Kita immer ein kleines Planschbecken aufgestellt. Die Wasserbombenaktion fand nur an dem Aktionstag statt, da die Kinder zum Abschluss alle Erwachsenen mit Wasserbomben bewerfen durften. Dafür wurde aber der Brunnen, den die Kinder sonst täglich zum Spielen im Garten nutzen, nicht mit eingerechnet.
Wie viel Wasser verbrauchen wir in der Kita? – Modellieren von Anfang an
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Tab. 1 Stationen mit Referenzgefäßen 1. Station: Waschraum – Toilette – Waschbecken zum Händewaschen – Waschbecken zum Zähneputzen 2. Station: Küche – Trinkflasche – Putzwagen 3. Station: Frühstücksraum – Teekanne – Wischlappen 4. Station: Spielplatz – Wasserbomben 5. Station: Klecksbilder – Wasserfarbe
schätzen die Kinder zunächst, welche Menge Wasser sie pro Tag in der Kita gemeinsam verbrauchen. Dafür überlegen sie vorab wie viel Wasser das in der Gesamtmenge sein könnte. Passt das Wasser in eine Tasse, eine Wasserflasche, eine Gießkanne oder ein Planschbecken? Mit Hilfe von Smileys werden die Kinder gebeten ihre Vermutung an das entsprechende Gefäß zu legen. 80 Prozent der Kinder in unserer Untersuchung haben ihren Smiley intuitiv an das Planschbecken gelegt. Um herauszufinden, wie viel Wasser sie tatsächlich an einem Tag in ihrer Kita verbrauchen, wird gemeinsam entschieden, welche Wasserverbrauchsmengen im Tagesablauf der Kita relevant sind. Diese werden dann bei der Untersuchung abgemessen. In Form eines Rundgangs durch die verschiedenen Stationen entdecken die Kinder mit Hilfe der Mathematik schließlich ihren eigenen Wasserverbrauch. In Tab. 1 sind die fünf Stationen dargestellt. Zur Ergebnissicherung liegen an den einzelnen Stationen in der Kita Symbolkarten aus (Abb. 2) um zusammen mit Referenzgefäßen den Wasserverbrauch festzuhalten. Im dritten Schritt des vereinfachten Modellierungskreislaufes wird die Mathematik genutzt. Mit Hilfe der Symbolkarten und den nutzbaren Referenzgefäßen werden die tatsächlichen Wassermengen abgemessen und anschließend ins Planschbe-
Referenzgefäß: – Gießkanne (5 Liter) – 1 l-Eimer – Zahnputzbecher Referenzgefäß: – Trinkflasche – 10 l-Eimer Referenzgefäß: – Teekanne – 5 l-Eimer Referenzgefäß: – Zahnputzbecher Referenzgefäß: – Zahnputzbecher
Abb. 2 An jeder Station – Symbolkarten mit entsprechenden Referenzgefäßen
cken geschüttet und somit für den gesamten Vormittag festgehalten (Abb. 3). Gleichzeitig wird auf dem leeren Plakat eine passende Symbolkarte aufgeklebt, wodurch ein einfaches Säulendiagramm entsteht (Abb. 4). Und wie viel Wasser haben wir nun tatsächlich verbraucht? Um einen sinnlichen Eindruck davon zu erhalten, wie viel Wasser sich im Laufe des Vormittags in dem Planschbecken gesammelt hat, können alle Kinder gegen Ende des Projektes barfuß durch das Becken laufen. Zur tatsächlichen Ermittlung der Gesamtliterzahl, schöpfen alle Kinder gemeinsam mit Hilfe ihrer 1-Liter-Eimerchen das gesamte Wasser aus dem Planschbecken und bewässern damit die Grünanlage der Kita. Die An-
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K. Eilerts und D. van der Velden
Abb. 5 Strichlisten werden angelegt
Abb. 3 Ermittlung der Gesamtwassermenge im Planschbecken mit Hilfe der Referenzgefäße
zahl wird von zwei leistungsstärkeren Kindern mit Hilfe einer Strichliste notiert (Abb. 5). Im vierten und letzten Schritt des Modellierungskreislaufes geht es darum, dass nach der mathematischen Lösung nun auch das Ergebnis betrachtet wird. Dazu wird anhand der Strichlisten,
Abb. 4 Ermittlung der Gesamtwassermenge mit Hilfe der Symbolkarten
die ältere und leistungsstärkere Kinder angefertigt haben, gemeinsam mit den pädagogischen Fachkräften der Gesamtwasserverbrauch ermittelt. Um den Kindern die Menge zu veranschaulichen, wird zum Schluss über das Plakat die Referenzgröße der Trinkmenge eines Pferdes und eines Elefanten pro Tag gehängt. Es ist dadurch auch leistungsschwächeren Kindern möglich diese Anzahl an Eimern mit der Eimermenge der Tiere zu vergleichen. In unserer Untersuchung rief dann ein Kinderchor ganz erstaunt „Boahh – wir haben sooo viel Wasser verbraucht, wie ein Elefant (ca. 150 Liter) und ein Pferd (ca. 50 Liter) an einem Tag trinken“ – ca. 200 Eimer (Liter) Wasser (Abb. 6). Diese grafischen Darstellungen ist ein erstes Erfassen und Darstellen von Daten. In Kombination mit dem aktiv handelnden Wasserumfüllen verdeutlicht das vereinfachte Balkendiagramm, dass bereits erstes enaktives Arbeiten in einer Kita möglich ist. Eine, wenn auch sehr vereinfachte Erkenntnis, ob das Modell tatsächlich „angemessen“ (Hinrichs 2008) ist, findet ansatzweise durch das Ausschütten der 1Liter-Eimer sowie den Vergleich mit dem Tierwassermengen statt. Allerdings an dieser Stelle mit viel Vorgabe seitens des frühpädagogischen Personals. Eine Validierung ist deshalb in diesem Alter noch nicht durchführbar. Allerdings erhalten die Kinder eine erste Idee zu den Mengen an Wasser, die an einem Kita-Vormittag verbraucht werden. Intuitiv hatten die Kinder in unserer Untersuchung direkt beim Einstieg in das Problem richtig vermu-
Wie viel Wasser verbrauchen wir in der Kita? – Modellieren von Anfang an
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Lernen (ohne schulisches Lernen vorweg zu nehmen) Größenvorstellungen anzubahnen, um den fließenden Übergang von der Kita in die Grundschule zu ermöglichen.
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Abb. 6 Ergebnisplakat
tet, dass der gemeinsame Wasserverbrauch eher in ein Planschbecken passt und nicht in eine Gießkanne. Da sich der ganze Projekttag um das Thema Wasser drehen soll, gibt es weitere Stationen, an denen die Kinder spielerisch das Element Wasser mit allen Sinnen entdecken können. Exemplarisch sollen die Kinder an einer Station das Maß von einem Liter erfahren und dazu einen Messbecher mit 1 Liter Wasser in Trinkbecher abfüllen, da Kinder pro Tag mindestens ein Liter Wasser trinken sollen. Darauf basierend wird auch am Ende die Wassermenge in den Trinkbedarf von Tieren umgerechnet, damit die Mädchen und Jungen eine grobe Vorstellung von dieser Menge erhalten. An einer weiteren Station können die Kinder Erfahrungen mit dem Umfüllen von Wasser in verschiedene Gefäße machen. Dadurch wird insgesamt an ihr vorhandene lebensweltliche Erfahrung angeknüpft und ihr Vertrauen in die eigene Leistungsfähigkeit gestärkt. Der Wasserverbrauch im Alltag kann so an verschiedenen Situationen spielerisch entdeckt werden. Es ist zudem möglich in situationsbezogenem
Fazit
Modellierungsaufgaben verdeutlichen die Nutzbarkeit von mathematischen Denkweisen zwischen realitätsbezogenen Problemstellungen und der Mathematik (vgl. Borromeo Ferri et al. 2013). Während der Untersuchung zur oben dargestellten Wasseraufgabe sammelten die Kindergartenkinder erste Erfahrungen im Bereich der Modellierung. Insbesondere im Teilprozess Vereinfachen und Strukturieren der Aufgabe erlangten die Mädchen und Jungen Erkenntnisse über wesentliche Aspekte im täglichen Wasserverbrauch. Die Teilmengen des Wasserverbrauchs wurden von leistungsstarken Kindern nahezu vollständig aufgezählt, während leistungsschwächere Kinder nur mit Hilfe auf die Wasserteilmengen kamen. Bei abstrakteren, also nicht direkt messbaren, Wassermengen wie bei der Toilettenspülung, dem Hände waschen und Zähne putzen benötigten alle Kinder noch Unterstützung bei der Zuordnung von Hilfsmitteln zum Messen der verbrauchten Wassermenge. Dabei kam es immer wieder zu interessanten Diskussionen über den Aushandlungsprozess bzgl. verschiedener Annahmen der Kinder, wie viel Wasser für das Zähneputzen (mit laufendem oder nicht laufendem Wasser) als auch das Händewaschen (mit mehr oder weniger verschmutzen Händen) für alle im Durchschnitt angenommen und mit einem Referenzgefäß gemessen werden sollte. Bei der realistischen Übersetzung in ein Modell brauchten die Kinder insgesamt noch viel Hilfe vom frühpädagogischen Personal. Jedoch wurde das Zerlegen und anschließende Aufsummieren der Teilmengen von allen Kindern durchgängig verstanden. Es ist demnach wichtig, die Kompetenz „Modellieren“ schrittweise aufzubauen, um die Teilkompetenzen kleinschrittig, aber immer an einer global gestellten Modellierungsaufgabe zu erler-
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nen. So können bereits Kita-Kinder die für das Modellieren wesentliche Strategien Aktivierung von „Vorwissen“ und die Verknüpfung zur Lebenswirklichkeit intuitiv anwenden. Damit zeigt sich, dass bei einer kindgerechten und aus der Lebenswelt der Kinder stammenden Aufgabe, eine einfache Modellierung möglich ist. Der Aufwand für solche Modellierungsaufgaben in einer Kita ist in der Konzeption sowie in der Durchführung insgesamt sehr hoch, so dass es besser ist, sich bei der Konzeptionierung von Projekten auf einige, aber gut vorbereitete Aktionstage zu fokussieren. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil der frühen Förderung der Modellierungskompetenz in der Kita ist es, einen gesamten Vormittag Zeit für ein mathematisches Projekt zu haben. Schließlich sind für viele Lehrkräfte der Zeitaufwand oder die Unplanbarkeit des Unterrichts Hinderungsgründe, Modellierungsaufgaben einzusetzen (vgl. Borromeo Ferri et al. 2013). Verfügen Kinder aber bereits über erste, in der Kita erlernte Modellierungsteilkompetenzen, wird in der Grundschule vielleicht der hohe Zeitfaktor für enaktives Modellieren reduziert, so dass in der Grundschule direkt mit ikonischem und symbolischem Modellieren, also ohne tatsächlichem Durchführen der Aufgabe (hier Messen des Wasserverbrauchs), begonnen werden kann.
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Erfolgreich das Tor hüten – Ein Modellierungskontext für verschiedene Altersstufen Katharina Skutella und Katja Eilerts
Zusammenfassung
Modellierungsaufgaben sind in der Regel offen und selbstdifferenzierend. Sie erlauben eine Bearbeitung auf individuellen Niveaustufen und ermöglichen den Einsatz in verschiedenen Klassenstufen. In diesem Beitrag wird die Modellierungsaufgabe „Erfolgreich das Tor hüten“ vorgestellt und aufgezeigt, wie sich ihr volles Potenzial für verschiedene Altersstufen entfalten lässt. Sowohl Kindern im Grundschulalter als auch Kindern der Sekundarstufe bietet die Aufgabe eine mathematische Tiefe, die zu vielfältigen und gleichzeitig substanziellen mathematischen Aktivitäten animiert. Neben mathematischem Gehalt machen praktische Relevanz und hoher Alltagsbezug die Aufgabe zu einer gelungenen Modellierungsaufgabe.
1 Einleitung Die Grundschule legt die Basis für das Mathematiklernen in den weiterführenden Schulen und für die lebenslange Auseinandersetzung mit der Mathematik im Alltag, indem frühe mathematische Alltagserfahrungen der Kinder aufgenommen und allgemeine mathematische Kompetenzen entwickelt werden. Vor dem Hintergrund der stärker werdenden Forderungen nachder Anschlussfähig-
K. Skutella B Institut für Mathematik, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland K. Eilerts Institut für Erziehungswissenschaften, Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland
Humboldt-
keit der Bildungsprozesse bietet gerade das Thema des mathematischen Modellierens eine sehr gute Option, um einen fließenden Übergang in die weiterführenden Schulen zu ermöglichen, wie in diesem Artikel an einem Beispiel dargelegt werden soll. Gute Modellierungsaufgaben für den Mathematikunterricht zu finden, stellt eine Herausforderung dar. Modellierungsaufgaben sind komplexe und realistische Aufgaben (vgl. Maaß 2008), die vorzugsweise für die Alltagswelt der Kinder von praktischer Relevanz sind. Gute Mathematikaufgaben sollen ferner offen, differenzierend und authentisch sein (vgl. Bruder et al. 2005). Wir stellen in diesem Beitrag die Modellierungsaufgabe „Erfolgreich das Tor hüten“ vor, welche die oben genannten Merkmale aufweist. Da diese Aufgabe Kinder verschiedener Altersstufen zu authentischen und
K. Eilerts, K. Skutella (Hrsg.), Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht 5, Realitätsbezüge im Mathematikunterricht, DOI 10.1007/978-3-658-21042-7_5, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
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K. Skutella und K. Eilerts
zugleich substanziellen mathematischen Aktivitäten anregt, eignet sie sich insbesondere für den Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule.
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Mathematik und Fußball
Es ist nicht neu, dass Fußball und Mathematik kombiniert Kinder zum Mathematiklernen motiviert (vgl. Ludwig 2010, 2014; Weigand 2010). Häufig geht es dabei allerdings um konstruierte Probleme, wie etwa um die Berechnung der Gesamtlänge der weißen Linien auf dem Spielfeld oder etwa um die Bestimmung der Anzahl aller Fünf- und Sechsecke auf einem klassischen Fußball (abgestumpftes Ikosaeder). Die Behandlung von praktisch relevanten Fragen wie etwa die nach der optimalen Flugbahn des Balls oder die nach taktischen Spielzügen scheint für den Mathematikunterricht der Grundschule jedoch unerreichbar. Mit der Modellierungsaufgabe „Erfolgreich das Tor hüten“ (Abb. 1) adressieren wir ein Thema, das im Fußballkontext von hoher Relevanz ist. Statistisch gesehen werden die meisten Torschüsse und Treffer aus einer relativ nahen Distanz, nämlich aus dem Strafraum heraus, erzielt.
Es erscheint daher sinnvoll, einen maßgeblichen Anteil des Torwarttrainings auf diese Spielsituation zu verwenden. Dies haben die Fußballvereine erkannt und auch der Ausbildungsleitfaden für DFB-Torhüterinnen (vgl. Fuchs und Rottenberg 2014) widmet sich umfassend dem Stellungsspiel vor dem Tor. Dass der Deutsche Fußball-Bund e. V. einen Leitfaden für Torhüterinnen herausgibt, bestätigt, dass Mädchen den Fußballsport schon lange für sich entdeckt haben und dass das Thema Fußball Mädchen und Jungen gleichermaßen begeistern kann.
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Mathematische und didaktische Analyse
Der besondere Reiz der Aufgabe besteht darin, dass sie in unterschiedlichen Altersstufen einsetzbar und auf verschiedenen Niveaus zugänglich ist. Ein und derselbe Modellierungskontext kann bereits in jüngeren Klassen thematisiert, später in höheren Klassen aufgegriffen und in seiner mathematischen Komplexität mit einem stetig erweiterten Strategierepertoire und mit zunehmend differenzierten Modellierungskompetenzen weiter ausgearbeitet werden. In diesem Kapitel geben wir
Du bist Torhüterin. Ein Stürmer der gegnerischen Mannscha schießt aus dem Strafraum auf das Tor. Wo solltest du dich im Moment des Abschusses vor dem Tor platzieren, um den Angriff erfolgreich abzuwehren?
Abb. 1 Die Modellierungsaufgabe „Erfolgreich das Tor hüten“. © bst2012 – stock.adobe.com
Erfolgreich das Tor hüten – Ein Modellierungskontext für verschiedene Altersstufen
Abb. 2 Geometrische Darstellung der Spielsituation
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Abb. 3 Schusswinkel des Stürmers und Armspanne der Torhüterin
eine Übersicht darüber, welche inhaltsbezogenen Kompetenzen in welcher Altersstufe mit dieser und zwar so nah am Punkt S (Stürmerposition), Aufgabe gefördert werden können. Darüber hinaus dass die Punkte A und B jeweils auf den entsprewird das zugrundeliegende mathematische Modell chenden Schenkeln des Winkels †DSC liegen. Dieses Modell basiert auf gewissen vereinfaund mögliche Lösungswege erläutert. chenden Annahmen, z. B. wird nicht berücksichtigt, dass der Stürmer die Torhüterin umspielen oder den Ball über die Torhüterin „lupfen1 “ könn3.1 Ein mathematisches Modell te. Ferner wird nicht berücksichtigt, dass die Torhüterin den Angriff durch ein Abkippen bzw. Eine Lösung der Aufgabe besteht in der Entwick- durch ein Abspringen verteidigen könnte. Diese lung eines Modells, welches die Zielvorstellung und andere Überlegungen können zu weiteren Ander Torhüterin, nämlich eine bestmögliche Torver- passungen des Modells führen. teidigung, realisiert. Gesucht ist also ein normatives Modell. Die in der Aufgabe beschriebene Spielsituati- 3.2 Inhaltsbezogene Kompetenzen on lässt sich vereinfacht geometrisch darstellen (Abb. 2). Der Stürmer schießt den Ball von der In der Auseinandersetzung mit der ModellierungsSchussposition S, die Torhüterin platziert sich zur aufgabe „Erfolgreich das Tor hüten“ lassen sich inAbwehr auf Position T. haltsbezogene Kompetenzen fördern, die den drei In Abb. 3 wird der Schusswinkel visualisiert: Leitideen 1) Raum und Form 2) Größen und MesDie Punkte C und D beschreiben die Lage der sen und 3) Gleichungen und Funktionen zuzuordTorpfosten. Vernachlässigt man, dass der Ball ei- nen sind. Ein und derselbe Aufgabenkontext bietet ne Flugkurve beschreibt und geht stattdessen von diverse, reichhaltige mathematische Facetten und einem flachen Torschuss aus, so ist der Winkel kann Schülerinnen und Schüler von der Grund†DSC zwischen Stürmer und Torpfosten eine ge- schule bis in die Sekundarstufe zu anspruchsvollen eignete geometrische Darstellung aller möglichen mathematischen Aktivitäten anregen. In der folSchussbahnen des Balls. Die Strecke AB stellt die genden Tab. 1 werden diese Kompetenzen diffeArmspanne der Torhüterin dar. Um den Ball mög- renziert nach Klassenstufen aufgezeigt. lichst gut zu erreichen, sollte sich die Torhüterin in diesem Modell möglichst so positionieren, dass sie alle Bälle gut erreichen kann. Geometrisch interpretiert liegt der Punkt T (Torhüterposition) also 1 Hier: Schuss, bei dem der Ball gefühlvoll angehoben auf der Winkelhalbierenden w des Winkels †DSC und über die Torhüterin in das Tor geschossen wird.
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Tab. 1 Inhaltsbezogene Kompetenzen differenziert nach Klassenstufen Klassen- Raum und Form stufe/ Leitidee 1/2 Lagebeziehungen von realen Objekten im Raum beschreiben und zeichnerisch darstellen (hier Lagebeziehung zwischen Tor und Spielern enaktiv darstellen und skizzieren, Abschn. 3.3)
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Größen und Messen
Direktes Vergleichen von Längen Indirektes Vergleichen von Längen, z. B. mit Fäden, selbst gefertigten Linealen, Schrittweite o. ä. (hier Entfernungen zwischen Torhüterin, Stürmer und Tor auf dem Fußballfeld vergleichen, z. B. mit Absperrband; Abschn. 3.3) Lagebeziehungen zwischen geoLängen messen und vergleichen metrischen Objekten beschreiben und Einheiten nutzen (hier Län(hier Lagebeziehung zwischen Punk- gen auf dem Fußballfeld und ten und Strecken ikonisch auf einem auf einem Plan messen und verPlan darstellen; Abschn. 3.4) gleichen; Abschn. 3.4) Geometrische Objekte wie GeraMaße aus Darstellungen entde, Strecke, Strahl, Dreieck, Kreis, nehmen (hier Darstellung des Winkel, Senkrechte, Schnittpunkt Fußballfelds) zeichnen oder konstruieren (hier Rechnen mit Maßstäben (hier Spielfeld zeichnen oder konstruieErstellen oder Interpretieren ren; Abschn. 3.5) eines maßstäblichen Plans des Beziehungen zwischen geomeStrafraums; Abschn. 3.5) trischen Objekten (auch Winkel) Winkel messen (hier Abstoßbeschreiben (hier z. B. Torhüwinkel messen; Abschn. 3.5) terposition in Abhängigkeit vom Abschusswinkel beschreiben; Abschn. 3.5) Maßstäblich verkleinern (hier Erstellen eines maßstäblichen Plans des Strafraums z. B. mit Geometriesoftware; Abschn. 3.5) Beziehungen zwischen geometriÄhnlichkeit von Dreiecken nutschen Objekten für Berechnungen zen, um Längen zu berechnen und Argumentationen nutzen (hier z. B. zur Bestimmung der Ähnliche geometrische Objekte optimalen Torhüterposition identifizieren bei einem Frontalangriff; Ab(hier z. B. Ähnlichkeit von Dreiecken schn. 3.6) erkennen, Strahlensätze nutzen; Abschn. 3.6) Trigonometrische Beziehungen zur Längenberechnung nutzen (hier z. B. zur Bestimmung der optimalen Torhüterposition; Abschn. 3.7) Vektorkalkül zur Beschreibung der Lagebeziehung nutzen (hier Lagebeziehung Torhüterin und Stürmer; Abschn. 3.7)
Gleichungen und Funktionen
Intuitives Verständnis für funktionale Zusammenhänge entwickeln (hier zwischen Torhüterposition und Stürmerposition) Einzelne Werte zu Zuordnungen ermitteln (hier jeder Stürmerposition eine Torhüterposition zuordnen; Abschn. 3.3)
Intuitives Verständnis für funktionale Zusammenhänge entwickeln (hier Zusammenhang zwischen Torhüterposition und Stürmerposition z. B. mit dynamischer Geometriesoftware visualisieren; Abschn. 3.5)
Funktionalen Zusammenhang (linear) erkennen und darstellen (hier zwischen Torhüterposition und Stürmerposition bei Frontalangriffen, Visualisierung z. B. mittels dynamischer Geometriesoftware; Abschn. 3.6) Funktionalen Zusammenhang (trigonometrisch) erkennen und darstellen (hier zwischen Abschusswinkel und Torhüterposition; Abschn. 3.7)
Erfolgreich das Tor hüten – Ein Modellierungskontext für verschiedene Altersstufen
Abb. 4 Simulation des Stellungsspiels. © Mikkel Bigandt – stock.adobe.com
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Abb. 5 Materialien
3.3 Klassenstufen 1/2 – Ein handlungsorientierter Zugang für den Anfangsunterricht Gerade in jüngeren Klassen bietet sich ein Zugang zu der Aufgabe auf der enaktiven Repräsentationsebene an (vgl. Bruner 1974). Idealerweise wird das Stellungsspiel der Torhüterin auf dem Fußballfeld mit verteilten Spielerrollen nachgespielt (Abb. 4). Ein Kind übernimmt die Rolle der Torhüterin, ein anderes Kind die Rolle des Stürmers. Im Fokus steht die Analyse der Lagebeziehung von Stürmer, Torhüterin und Tor. Durch das Ausprobieren unterschiedlicher Schussund Abwehrpositionen können erste Erkenntnisse gewonnen werden wie zum Beispiel, dass die Position der Torhüterin von der Position des Stürmers abhängt und in jeder Situation aufs Neue angepasst werden muss. Hierdurch wird ein intuitives Verständnis für Zuordnungen und funktionale Zusammenhänge angebahnt. Auch können Entfernungen z. B. durch Abschreiten und Abzählen der Schritte gemessen und verglichen werden. Materialien wie Absperrband, Stangen und Hütchen (Abb. 5) sind nützlich, um mögliche Spielerpositionen und Schussbahnen zu markieren. Der Einsatz solcher Materialien ist im Fußballsport eine gängige Praxis und daher für einige Kinder ein vertrautes Vorgehen. So entsteht ein Bodenplan, welcher anschließend auf einen maßstäblichen Pa-
Abb. 6 Papierplan des Fußballfelds
pierplan des Fußballfelds (Abb. 6) übertragen und festgehalten werden kann. Auf die Weise vollzieht sich der Wechsel von der enaktiven auf die ikonische Darstellungsebene. Das Darstellen ist eine der zentralen Kompetenzen in den Bildungsstandards und kann insbesondere für das gemeinsame Modellieren sehr förderlich sein: „Ein Plan dient aber nicht nur dem, der ihn gemacht hat, sondern er soll auch einem Kommunikationspartner dazu dienen, auf bestimmte Tatsachen zu schließen, etwas zu konstruieren oder zu rekonstruieren.“ (Wollring und Rinkens 2008, S. 120 f).
3.4
Klassenstufen 3/4 – Von der enaktiven zur ikonischen Ebene
In den Klassenstufen 3/4 rückt die Auseinandersetzung mit dem Papierplan stärker in den Vorder-
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grund. Spielerpositionen und Schussbahnen werden durch Punkte und Strecken dargestellt, reale Entfernungen zwischen Stürmer, Torhüterin und Tor können sowohl auf dem Bodenplan als auch auf dem Papierplan gemessen und verglichen werden. Damit kann das optimale Stellungsspiel der Torhüterin nicht nur qualitativ sondern auch quantitativ erfasst werden.
3.5 Klassenstufen 5/6 – Rechnen mit Abb. 7 Verschiedene Stürmerpositionen Maßstäben, Winkelbetrachtungen und dynamische Geometriesoftware Das Messen auf einem maßstäblichen Plan und anschließende Umrechnen in die Realität setzt den sicheren Umgang mit Maßstäben voraus und bietet sich daher ab den Klassenstufen 5/6 an: Auf einem maßstäblichen Plan des Strafraums kann bei gegebener Abschussposition eine optimale Torhüterposition bestimmt werden. Hierzu müssen Winkel und Winkelhalbierende gezeichnet bzw. konstruiert werden (Abb. 3). Anschließend werden Entfernungen zwischen Stürmer und Torhüterin auf dem Plan gemessen und in reale Entfernungen umgerechnet. Auch das Erstellen eines maßstäblichen Plans des Strafraums ist eine anspruchsvolle Tätigkeit, denn es beinhaltet neben dem Umrechnen von Längen auch das Zeichnen und ggf. Konstruieren von Strecken, Kreisen und rechten Winkeln. Wie verändert sich die optimale Torhüterposition, wenn sich die Stürmerposition verändert? Diese Fragestellung greift das operative Prinzip auf und zielt auf den funktionalen Zusammenhang zwischen Stürmer- und Torhüterposition ab. Abb. 7 stellt diesen Zusammenhang exemplarisch für drei Stürmerpositionen S1 , S2 , S3 dar. Bei einem frontalen Angriff sollte die Torhüterin in diesem Modell dem Stürmer entgegenlaufen (Abb. 7, Stürmerposition S1 , Torhüterposition T1 ). Schießt der Stürmer hingegen aus einem sehr spitzen Winkel auf das Tor, so sollte sich die Torhüterin in der Nähe des entsprechenden Torpfostens platzieren (Abb. 7, Stürmerposition S3 , Torhü-
Abb. 8 Zusammenhang zwischen Stürmer- und Torhüterposition
terposition T3 ). Der Begriff „Spitzer Winkel“ ist Bestandteil der Fußball-Fachsprache. Winkelbetrachtungen fließen so auf ganz natürliche Weise in die Analyse mit ein. Dieser funktionale Zusammenhang lässt sich unterstützt durch dynamische Geometriesoftware entdecken und visualisieren. Das Ausprobieren unterschiedlicher Stürmer- und Torhüterpositionen auf dem Fußballfeld lässt sich gut am Computer simulieren. Bewegt sich der Stürmer S beispielsweise auf einer Parallelen g zur Torlinie durch den Elfmeterpunkt, so lässt sich die Ortslinie der zugehörigen optimalen Torhüterpositionen T mittels der Spur visualisieren (Abb. 8). Der zugrundeliegende trigonometrische Zusammenhang zwischen Abschusswinkel und Stürmerposition kann, muss aber nicht explizit mit den Schülerinnen und Schülern höherer Klassenstufen thematisiert werden (vgl. Abschn. 3.7).
Erfolgreich das Tor hüten – Ein Modellierungskontext für verschiedene Altersstufen
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sich bei einem Frontalangriff des Stürmers der Abstand jS T j der Torhüterin zum Stürmer (in m) berechnen durch: jS T j=2 D jSM j=7; 3 ) jS T j D 2=7; 3 jSM j 0; 27jSM j
Abb. 9 Schuss vom Elfmeterpunkt
3.6 Klassenstufen 7/8 – Vom Messen zum Rechnen Eine quantitative Beschreibung der optimalen Torhüterposition lässt sich auf zwei unterschiedlichen Wegen erzielen: durch Messen und durch Rechnen. Die Umsetzung und der anschließende Vergleich dieser beiden Zugänge können einen echten Mehrwert darstellen, zum Beispiel in der Auseinandersetzung mit dem Thema „Grenzen der Messgenauigkeit“. Die ideale Position der Torhüterin bei einem Frontalangriff kann mit Hilfe der Ähnlichkeit von Dreiecken rechnerisch bestimmt werden: Wir betrachten zunächst den Fall, dass der Stürmer vom Elfmeterpunkt schießt (Abb. 9). Das Dreieck SDC; welches durch den Elfmeterpunkt und die beiden Torpfosten definiert wird, ist ähnlich zu dem Dreieck SBA, welches durch den Elfmeterpunkt und die Armspanne AB der Torhüterin definiert wird. Geht man von einer Torbreite von 7,3 m und von einer Armspanne von 2 m aus, so lässt sich der Abstand jS T j der Torhüterin zum Stürmer (in m) berechnen aufgrund des Zusammenhangs: ˇ ˇ jS T j=2 D 11=7; 3 ) ˇS T ˇ 3
Unter den Annahmen unseres Modells sollte der Abstand der Torhüterin zum Stürmer bei einem Frontalangriff also idealerweise etwa ein Viertel des Abstands des Stürmers zum Tor betragen. Dieser proportionale Zusammenhang lässt sich auch graphisch darstellen und eröffnet weiterführende Betrachtungen im Bereich der linearen Funktionen.
3.7
Klassenstufen 9/10 und Oberstufe – Trigonometrische Betrachtungen
Erfolgt der Angriff nicht frontal sondern von einem beliebigen Punkt des Strafraums aus (Abb. 10), so lässt sich der Zusammenhang zwischen Schusswinkel und Torhüterposition durch einen trigonometrischen Zusammenhang beschreiben, der hier nur angedeutet werden soll: ˇ ˇ ˇS T ˇ D cot .˛=2/ In der Oberstufe lässt sich das Stellungsspiel der Torhüterin mit Hilfe des Vektorkalküls analysieren. Ferner können bei der Modellierung gekrümmte Flugbahnen, Abwehrmauer, takti-
Daraus ergibt sich unter den Annahmen des Modells eine optimale Entfernung von etwa 3 m zwi- Abb. 10 Zusammenhang zwischen Schusswinkel und schen Stürmer und Torhüterin. Allgemein lässt Torhüterposition
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sches Spiel und vieles mehr berücksichtigt werDie Aufteilung des Strafraums in drei Zonen ist den, wodurch die Aufgabe deutlich komplexer in Abb. 11 dargestellt. Je nach Zone gelten entwird. sprechend dem Leitfaden unterschiedliche Empfehlungen für die Torhüterin. Laut Leitfaden soll sich die Torhüterin in der Standzone unmittelbar 4 Erweiterung der Aufgabenstellung vor dem entsprechenden Torpfosten positionieren, für höhere Klassenstufen um so mit einem Schritt zur Seite das ganze Tor abzudecken. Im Leitfaden heißt es dazu: „Die In Abschn. 3.5 wurde der funktionale Zusammen- ‚abzudeckende Torbreite‘ beträgt bei gutem Stelhang zwischen Stürmer- und optimaler Torhüter- lungsspiel nur ca. 2,5 Meter.“ (ebd. S. 30) In der position erläutert. Diese Betrachtungsweise betont Kippzone hingegen wird der Torhüterin empfohden dynamischen Aspekt des Stellungsspiels der len, sich auf der Verbindungslinie Tormitte-Ball Torhüterin. Wir beschreiben im Folgenden, wie die 3–4 Meter vor dem Tor zu positionieren, um den Aufgabe so erweitert werden kann, dass der Fokus abzudeckenden Raum zu verkleinern. Die Torhüder Kinder stärker auf die Dynamik des Stellungs- terin deckt so durch Abkippen die gesamte Torspiels gelenkt wird. Wir bedienen uns dabei des in breite ab. der Trainerliteratur gängigen Zonenmodells, welIm Leitfaden wird weiterhin empfohlen, dass ches sich hervorragend für weitere mathematische der Trainer mit der Torhüterin nach und nach die Erkundungen eignet. Zonen abgeht und ihr mittels Zauberschnur und mittels eines Stangentors die jeweils „tatsächliche“ Torgröße verdeutlicht. Das hierbei entschei4.1 Das Zonenmodell dende Prinzip der Torverkleinerung verdeutlicht der Torhüterin laut Leitfaden, dass sie bei richAuch im Profisport hat man die Notwendigkeit tigem Stellungsspiel nie das normale 7,32 Meter erkannt, geeignete Strategien für ein gutes Stel- große Tor verteidigen muss, sondern lediglich ein lungsspiel der Torhüterin zu entwickeln und ins sogenanntes virtuelles Tor oder Torfenster, das in Training einfließen zu lassen. Für die systemati- der Kippzone maximal 3,5 Meter breit ist. Im sche Analyse des Torhüterinnenspiels sowie für Leitfaden heißt es dazu „Für viele Torhüterinnen die daraus abzuleitenden Fehlerkorrekturen und stellen sich echte Aha-Erlebnisse ein, die für ihr die Entwicklung entsprechender Trainingsformen Torwartspiel eine große Bereicherung darstellen!“ wird der Strafraum in drei Zonen aufgeteilt (vgl. (ebd. S. 34) Fuchs und Rottenberg 2014).
Abb. 11 Aufteilung des Strafraums in Zonen
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Für ein gezieltes Torhütertraining wird der Strafraum in drei Zonen aufgeteilt: Die Standzone, die Kippzone, die Abdruckzone. a) Warum heißen die Zonen so? Stelle eine Vermutung auf. b) Erstelle eine maßstabsgetreue Zeichnung des Strafraums und markiere dort die drei Zonen. c) Im Leitfaden für DFB-Torhüterinnen heißt es: Die „abzudeckende Torbreite“ beträgt bei gutem Stellungsspiel in der Standzone nur 2,5 Meter. Erkläre, was damit gemeint ist. d) Entwickele einen Trainingsleitfaden für das Stellungsspiel der Torhüterin im gesamten Strafraum.
Abb. 12 Erweiterung der Modellierungsaufgabe „Erfolgreich das Tor hüten“ basierend auf dem Zonenmodell
Bezieht man die Einteilung des Strafraums in dass er anschließend mit dem Ball alleine Stand-, Kipp- und Abdruckzone in die Aufgabenauf dich zuläuft und ein Tor erzielen möchstellung mit ein, so ergibt sich eine interessante te?“ Variante (Abb. 12) der ursprünglichen Modellie- Justin: „Oh ja, das kam schon ganz oft vor!“ rungsaufgabe „Erfolgreich das Tor hüten“. Interviewerin: „Und was machst du dann?“ Justin: „Ich habe versucht, mich vor den Ball zu schmeißen und ihm den dann wegzunehmen.“ 5 Lernumgebung – Erste Erfahrungen Interviewerin: „Und hat das gut funktioniert?“ und Ergebnisse Justin: „Nee . . . nur manchmal.“ Die Modellierungsaufgabe wurde im Rahmen ei- Interviewerin: „Denkst du es gibt noch andere Möglichkeiten, das vielleicht noch clevener Bachelorarbeit (vgl. Peters 2015) mit Zweitrer zu machen?“ klässlern auf dem Fußballplatz erprobt und pilotiert. Im Folgenden stellen wir Gesprächsauszüge Justin: „Ja, die großen Torwarte können das glaube ich besser.“ und Ergebnisse der Zweiergruppe Justin und Paul2 Nach diesem Einstieg suchte sich Paul auf dem dar. Spielfeld eine Abschussposition im Strafraum. Beide überlegten gemeinsam, wie Justin am besten das Tor verteidigen könne. Nach einigen Probe5.1 Praktische Erprobung schüssen waren die Kinder zu folgenden beiden Justin übernahm die Rolle des Torhüters, sein Mit- Erkenntnissen gelangt: 1) Der Torhüter darf nicht schüler Paul die Rolle des Stürmers. Beide Kinder zu nahe vor dem Tor stehen, denn dann verwanhatten zum Zeitpunkt der Erprobung keine Erfah- delt der Stürmer entweder durch einen direkten rung mit Modellierungsaufgaben im Mathematik- Schuss am Torhüter vorbei oder durch einen Vorunterricht gemacht. Als Einstieg wurde zunächst stoß zum Tor. 2) Der Torwart sollte sich möglichst die in der Aufgabe beschriebene Spielsituation ge- mit seinem Oberkörper zum Stürmer hin ausrichdanklich durchlaufen und somit das Vorwissen der ten, um Stürmer und Ball gut im Blick zu haben. Kinder aktiviert. Nach weiteren Probeschüssen auf das Tor, stellInterviewerin: „Hast du schon einmal in einem Spiel erlebt, dass ein Gegenspieler die Ver- ten sie fest, dass ihre aktuelle Strategie noch nicht teidiger deiner Mannschaft so ausspielt, optimal war. Es erfolgte ein weiterer Impuls. 2
Beide Namen geändert.
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Abb. 13 Markierung des Abschusspunkts und des Schusswinkels
Interviewerin: „Wohin sollte Paul am besten schießen, um es Justin so schwer wie möglich zu machen?“ Paul: „Na in die Ecken, so machen die das bei Bayern auch immer!“ Justin: „Stiiiimmt! Und dann muss sich der Torwart immer ganz doll strecken, das ist voll schwierig!“ Paul: „Dann kann ich entweder da links hin, oder da rechts, dann hat Justin gar keine Chance.“ Die Interviewerin regte an dieser Stelle an, das mitgebrachte Material (Abb. 5) zu nutzen, um mögliche Torschüsse zu visualisieren. Mit Absperrband wurden die beiden Schussbahnen in Richtung der Torpfosten gespannt, mit Hütchen und Stange wurde der Abschusspunkt markiert (Abb. 13). Diese Form der Visualisierung brachte die beiden Kinder schnell auf die Idee, dass sich der Torhüter in dem Dreieck (den Begriff Dreieck brachte Paul ein) so bewegen soll, dass er das Absperrband mit beiden Armen erreichen kann (Abb. 14). Auf die Frage, wo genau im Dreieck sich Justin am besten positioniere, erwiderte dieser, dass er sich immer in der Mitte bewege, um gleich schnell in beide Ecken zu gelangen.
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Abb. 14 Stellungsspiel des Torhüters
Abb. 15 Zeichnerische Schülerlösung
Justin versuchte daraufhin, den Spielaufbau zeichnerisch auf den vorgefertigten Plan zu übertragen (Abb. 15). Sobald Paul eine neue Schussposition auf dem Fußballfeld festgelegt hatte, übertrug Justin diese auf den Plan, ergänzte die Verbindungslinien zu den Torpfosten und leitete entsprechend den gemeinsamen Vorüberlegungen die optimale Torhüterposition ab. Paul und Justin vertraten unterschiedliche Meinungen in Bezug auf die Tragfähigkeit des so entwickelten Modells: Paul: „Dann kannst du dich entweder auf den Boden schmeißen, oder, wenn ich versuche zu lupfen, ganz schnell die Arme nach oben machen.“ Justin: „So stehe ich aber ganz schön weit weg vom Tor . . . das mache ich nie!“ Pauls Vorschlag wurde ausprobiert und Justin stellte fest, dass es so tatsächlich sehr leicht war,
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Abb. 16 Ungünstige Torhüterposition in Tornähe
den Ball zu erreichen und er sich nicht so sehr strecken müsse wie sonst. Justin war trotz der erfolgreichen Parade unsicher und platzierte sich daher in gewohnter Weise direkt vor dem Tor: Paul: „Jetzt habe ich viel mehr Platz, um ins Tor zu schießen.“ Justin: „Aber ich habe mehr Zeit, um den Ball zu sehen.“ Paul: „Naja, wenn du so weit weg stehst, würde ich normalerweise auch weiter zum Tor laufen, dann ist es einfacher.“ Paul schoss und tatsächlich hatte Justin trotz zusätzlicher Reaktionszeit keine Chance, den Ball zu erreichen. Justin erkannte, dass er in dieser Position zu weit vom Ball entfernt war (Abb. 16): Justin: „Ne, das war jetzt zu weit weg von dir, da habe ich ja gar keine Chance. Dann muss ich wirklich weiter nach vorne, damit ich auch in die Ecken kann.“ Daraufhin überlegten beide Kinder, wie es denn wäre, wenn Justin sehr nah am Ball stünde. Paul: „Dann musst du dich ja eigentlich gar nicht bewegen. Aber ich könnte dich zum Beispiel, wenn ich auf dich zulaufe, einfach umkurven und dann kann ich ins Tor schießen.“
Abb. 17 Lupfer
Justin: „Ja, das kann schon sein, und ich kann dann ja auch gar nicht mehr reagieren, weil du so schnell an mir vorbei bist!“ Ungeachtet der Einwände probierten die beiden Fußballer diese Form des Stellungsspiels aus. Paul versuchte, Justin mit einem Lupfer zu überwinden. Diesen unerwarteten Ball fing der Torhüter mit geringen Schwierigkeiten (Abb. 17). Sie einigten sich darauf, dass diese künstlich hergestellte Spielsituation in einem richtigen Fußballspiel so nicht stattfinden würde und damit Torwart und Stürmer nicht so agieren würden.
5.2
Ergebnisse
Der Modellierungsprozess ist ein komplexer Vorgang, der von Aufgabe zu Aufgabe und von Aufgabenlöser zu Aufgabenlöser unterschiedlich durchlaufen wird. Eine Darstellung des Modellierungsprozesses, wie ihn Justin und Paul durchlaufen haben, zeigt die Tab. 2 (Modellierungsschritte nach Blum und Leiß 2005). Justin und
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Tab. 2 Die Modellierungsschritte am Beispiel der Aufgabe „Erfolgreich das Tor hüten“ Modellierungsschritt Beispiel Verstehen Aktivierung von Vorerfahrungen bei erlebten Spielsituationen. Vereinfachen/Strukturieren Nur die Abschussposition des Stürmers ist für das Torhüterspiel relevant. Andere Aspekte wie zum Beispiel die Flugkurve des Balls oder taktische Überlegungen (z. B. Umspielen) werden bewusst vernachlässigt. Mathematisieren Enaktiv: Konstruktion eines Dreiecks (mit Hilfe von Absperrband). Ikonisch: Übertragen der Spielsituation auf einen Papierplan. Mathematisch arbeiten Finden der optimalen Torhüterposition: – „In der Mitte des Dreiecks“ (mathematisch: auf der Winkelhalbierenden des Abschusswinkels) – dem Ball zugewandt, Arme ausgestreckt, so dass beide Bänder erreicht werden können (mathematisch: s. Abb. 3) Interpretieren Je nach Schussposition verändert sich die Torhüterposition. Die Torhüterin soll sich in einem gedachten Dreieck so bewegen, dass ihre Arme den gesamten Schusswinkel abdecken. Insbesondere bei einem frontalen Angriff soll die Torhüterin dem Stürmer entgegenlaufen. Validieren – Die Grenzen des Modells werden erkannt, z. B. werden taktische Entscheidungen des Stürmers (z. B. das Umspielen der Torhüterin) im Modell vernachlässigt. – Justin traut dem Ergebnis nicht und bevorzugt grundsätzlich eine Position in Tornähe. Durch Ausprobieren kann er das Modell validieren und eine geeignete Handlungsempfehlung für sein zukünftiges Torhüterspiel ableiten. Darlegen/Erklären Justin und Paul legen ihren Mitspielern ihre Erkenntnisse dar und probieren sie im gemeinsamen Spiel aus.
Paul haben die Modellierungsaufgabe im wörtlichen Sinne spielend gelöst und dabei erste Modellierungskompetenzen erworben. Ihre Erkenntnisse gründen auf dem spielerischen Ausprobieren: Neu entwickelte Konzepte werden unmittelbar umgesetzt und Thesen gegebenenfalls handelnd widerlegt. Die mathematischen Aktivitäten der beiden Kinder sind nie völlig losgekoppelt von der Realität, stattdessen findet ein reger Wechsel zwischen „Realität“ und „Mathematik“ statt. Dennoch werden alle Modellierungsschritte durchlaufen, wie die Tab. 2 zeigt. Justin und Paul entwickeln beim Bearbeiten der Aufgabe einen Leitfaden für das Stellungsspiel des Torhüters im Strafraum. Dieser Leitfaden beruht auf einem mathematischen Modell, das sie durch Ausprobieren unterschiedlicher Schussposition handelnd erwerben und auf seine Tragfähigkeit hin analysieren, indem sie beispielsweise Torhüterpositionen direkt vor dem Tor oder direkt vor dem Stürmer testen. Justin und Paul entwickeln ein normatives Modell, welches ihre Zielvorstellung von einem guten Stellungsspiel realisiert.
Justin äußert beim Bearbeiten der Aufgabe wiederholt Zweifel an dem Modell und an seinen Implikationen für das Stellungsspiel des Torhüters. Basierend auf seinen bisherigen Torhütererfahrungen bevorzugt er eine Position in Tornähe, denn diese Position verleiht ihm nach eigenen Aussagen mehr Sicherheit. Durch ein systematisches Ausprobieren verschiedener Torhüterpositionen kann seine bisherige Vorstellung revidiert und das neu entwickelte Modell validiert werden. Neben dem Modellieren spielen die prozessbezogenen Kompetenzen Kommunizieren, Argumentieren und Darstellen für das erfolgreiche Bearbeiten der Aufgabe eine zentrale Rolle. Neben prozessbezogenen Kompetenzen aktiviert die Aufgabe inhaltsbezogene Kompetenzen der Leitideen Raum und Form (z. B. Beschreiben und zeichnerisches Darstellen von Lagebeziehungen zwischen realen Objekten) und Messen (z. B. direktes Vergleichen von Längen). Ferner wird ein intuitives Verständnis für funktionale Zusammenhänge (z. B. zwischen der Torhüterposition und der Stürmerposition) angebahnt.
Erfolgreich das Tor hüten – Ein Modellierungskontext für verschiedene Altersstufen
Justin und Paul lösen die Aufgabe überwiegend auf der enaktiven Ebene. Mit Hilfe des Materials und mit Hilfe weniger, behutsamer Impulse können die beiden Kinder die Aufgabe selbstständig bearbeiten und ein tragfähiges, mentales Modell konstruieren, welches sie darüber hinaus von der enaktiven Ebene auf die ikonische Ebene übertragen (Abb. 15).
6
Fazit
Modellierungskompetenzen sollen von Beginn der Grundschule an Schritt für Schritt aufgebaut werden, damit sich diese in der Sekundarstufe in vollem Umfang entfalten können (vgl. Eilerts und Kolter 2015). Das Ziel kann allgemein in der alters- bzw. entwicklungsangemessenen Bearbeitung der Aufgabe mit unterschiedlichen Strategien gesehen werden. Kindern im Grundschulalter bietet die Aufgabe einen handlungsorientierten Zugang: Aha-Effekte auf dem Fußballfeld werden spielerisch mit mathematischen Erkenntnissen verknüpft (Abschn. 3.3–3.4). Darüber hinaus bietet die Aufgabe eine mathematische Tiefe, die auch Kinder der Sekundarstufe zu substanziellen mathematischen Aktivitäten animieren kann (Abschn. 3.5–3.7). Die Aufgabensituation kann mit Hilfe dynamischer Geometriesoftware simuliert und somit der statische Blick auf das Stellungsspiel in einen dynamischen Blick verwandelt werden (Abschn. 3.5). Durch eine Erweiterung der Aufgabe kann der Blick der Schülerinnen und Schüler stärker auf den funktionalen Zusammenhang zwischen Stürmer- und Torhüterposition gelenkt werden (Abschn. 4). Neben ihrem mathematischen Gehalt machen die praktische Relevanz und der hohe Bezug zur Alltagswelt der Kinder
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die Aufgabe zu einer gelungenen Modellierungsaufgabe.
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Was kostet mein Haustier? – Sprachfördernder Mathematikunterricht Astrid Deseniss
Zusammenfassung
Inwiefern zwischen einer Auseinandersetzung mit Sachfragen, der Sprachförderung und dem Mathematiklernen ein enger innerer Zusammenhang besteht, und auf welche Weise das Mathematiklernen der Kinder durch eine Integration von Sachkontexten und sprachförderlichen Elementen bereichert werden kann, wird in diesem Beitrag nachgezeichnet. Illustriert werden die Möglichkeiten eines solchen beziehungsreichen Mathematikunterrichts am Beispiel der Modellierungsfrage nach „Haustierkosten“, die im Rahmen des Mathematikunterrichts in einer zweiten Klasse erprobt wurde.
1 Beziehungsreiches Lernen in der Grundschule 1.1
Die Verbindung von Mathematik, Umwelt und Sprache
In der Schule begegnen uns die drei Bereiche Mathematik, Umwelt und Sprache in der Regel getrennt voneinander als eigene Schulfächer mit jeweils eigenen Themen und Lehrkräften, so dass eine Verbindung oft schwierig erscheint. Bei näherer Betrachtung liegt eine Verbindung dieser Bereiche jedoch in ihrer jeweiligen Natur, und die Pflege ebendieser Verbindungen ist ein wich-
A. Deseniss B Fachbereich Erziehungswissenschaft, Arbeitsbereich Mathematikdidaktik, Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland
tiger Grundstein für das Lernen in jedem der drei Bereiche. Dieser Gedanke soll hier kurz ausgeführt werden, um das grundsätzliche Potential von Modellierungsaufgaben und Sprachförderung im Mathematikunterricht zu beleuchten. Mathematik besitzt nach einer sozialkonstruktivistischen Auffassung keine vom menschlichen Denken und von Zeit und Raum unabhängige Existenz, sondern wurde und wird auch immer neu vom Menschen in Auseinandersetzung mit seiner Umwelt geschaffen. Und um sich in seiner räumlichen, zeitlichen und sozialgesellschaftlichen Umwelt zurechtzufinden und sie zu gestalten, benutzt der Mensch wiederum die Mathematik. Die Mathematik bildet somit einerseits ein Werkzeug zur Umwelterschließung, und andererseits wird in Auseinandersetzung mit der Umwelt Mathematik konstruiert (vgl. Vollrath 1983). In einer ähnlichen Wechselwirkung stehen auch Mathematik- und Sprachlernen. Die
K. Eilerts, K. Skutella (Hrsg.), Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht 5, Realitätsbezüge im Mathematikunterricht, DOI 10.1007/978-3-658-21042-7_6, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
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A. Deseniss
Sprache bildet mit ihrer Kommunikationsfunktion zum einen die Grundlage dafür, dass Menschen sich über Mathematik austauschen können. Mit ihrer kognitiven Funktion trägt eine gut ausgebildete Sprache zum anderen auch dazu bei, dass komplexe mathematische Ideen für den Menschen gedanklich fassbar werden. Die Idee, Sprachförderung in den Mathematikunterricht einzubinden, ist nicht neu und wurde auch in Verbindung mit der umwelterschießenden Funktion der Mathematik schon vor über dreißig Jahren beschrieben (vgl. Vollrath 1983). Eine besondere Dringlichkeit hat das Thema der Sprachförderung im Mathematikunterricht angesichts der steigenden Anzahl von Kindern aus zugewanderten Familien erhalten, die mit sehr unterschiedlichen und teilweise auch sehr geringen Sprachständen in der Unterrichtssprache Deutsch gemeinsam lernen. Aber nicht nur Kinder mit Migrationshintergrund, sondern auch einsprachig deutsch aufwachsende Kinder aus bildungsferneren Elternhäusern verfügen häufig nicht über die im Mathematikunterricht benötigte Sprachkompetenz und können von einem sprachfördernden Mathematikunterricht profitieren. Ein Angebot an Praxisanregungen für einen sprachfördernden Umgang mit Modellierungsaufgaben, durch die auch im Grundschulunterricht die Verbindung zwischen Umwelt und Mathematik in den Blick gerückt werden kann, bedarf noch der Entwicklung.
1.2
„Haustiere“ als (fächer-)verbindendes Thema
Für die Bearbeitung einer Modellierungsaufgabe, die nicht nur in einen Sachkontext eingekleidet, sondern inhaltlich eng mit ihm verknüpft ist, muss den Kindern im Unterricht ausreichend Zeit eingeräumt werden, sich in den Sachkontext einzuarbeiten (vgl. Maaß 2009, S. 57). Dafür ist ein fächerverbindendes Arbeiten – beispielsweise in Kooperation mit der Sachunterrichtslehrkraft – von Vorteil. Eine fächerübergreifende Beschäftigung mit einem Unterrichtsthema bietet den Kindern allgemein die Möglichkeit, sich ganz-
heitlich und vertiefter mit einem Themenbereich auseinanderzusetzen. Durch vielfältige fachliche Zugänge steigt die Chance, die Lernenden für das Thema aufzuschließen. Und eine Begeisterung, die durch den einen fachlichen Zugang entfacht werden konnte, kann auch zur inhaltlichen Auseinandersetzung unter fachlich anderen Aspekten beitragen. Gerade der Mathematikunterricht als polarisierendes Schulfach, das von einigen geliebt, von anderen aber strikt abgelehnt wird, kann von solchen Verbindungen profitieren, wenn durch die verschiedenen Themenzugänge ein größerer Kreis Lernender mit Interesse und Motivation an mathematikbezogene Fragestellungen herantritt. Das Thema „Haustiere“ ist in der Lebenswelt vieler Kinder präsent, sei es durch ein eigenes Haustier, durch Kontakte zu Haustieren anderer oder auch durch den Wunsch nach einem Haustier. Die Motivation, sich mit diesem Thema auch im Unterricht zu beschäftigen, ist bei den meisten Kindern hoch, und den Lehrkräften eröffnet es vielfältige Möglichkeiten, fachliche und überfachliche Kompetenzen damit anzusprechen und zu schulen. Im Mathematikunterricht bietet das Thema Haustiere ebenfalls vielfältige Lerngelegenheiten. Es können zum einen gezielt inhaltsbezogene mathematische Kompetenzen aufgebaut oder gefestigt werden. Die Informationen, durch die die Kinder ihr Sachwissen über Haustiere erwerben oder für andere darbieten, lassen sich beispielsweise in Tabellen, Schaubildern oder Diagrammen darstellen, so dass der Umgang mit diesen Darstellungsformen erarbeitet oder weiter gefestigt werden kann. Zu diesem Thema bietet es sich auch an, eigene einfache Umfragen in der Klasse durchführen zu lassen, z. B. zu eigenen Haustieren oder Lieblingshaustieren. Auf diese Weise können die Kinder lernen, selbst Diagramme zu erstellen, und sie vollziehen schrittweise und handelnd nach, wie Informationen in Diagrammen dargestellt sind (für Unterrichtsanregungen und Materialien vgl. z. B. Lemmer 2014). Neben der gezielten Schulung inhaltlicher Kompetenzen kann der unterrichtliche Fokus aber auch auf die Vermittlung allgemeiner mathematischer Kompetenzen gerichtet werden. Auch hierfür sind verschiedene Lernarrangements
Was kostet mein Haustier? – Sprachfördernder Mathematikunterricht
und unterschiedliche Aufgaben- oder Fragestellungen möglich, und je nach Fragestellung lassen sich Verbindungen mit unterschiedlichen inhaltlichen mathematischen Bereichen herstellen. Für Modellierungsaktivitäten können beim Thema Haustiere beispielsweise gleichzeitig verschiedene Größenbereiche angesprochen und geübt werden („Wie viel Zeit brauche ich für mein Haustier?“, „Plant den Bau eines Kaninchenfreilaufs!“, „Was kostet mein Haustier?“). In Klassen, in denen Kinder aus unterschiedlichen Herkunftsländern miteinander lernen, ist bei diesem Thema zu bedenken, dass nicht in allen Kulturen Haustiere auf die gleiche Weise gehalten und behandelt werden wie in Deutschland und sich auch die Vorlieben oder Abneigungen für oder gegen bestimmte Haustiere unterscheiden können. Die Motivationslage, sich mit einem bestimmten Haustier oder einer bestimmten darauf bezogenen Fragestellung zu beschäftigen, könnte durch solche Gegebenheiten beeinflusst sein und sollte berücksichtigt werden.
2 2.1
Die Modellierungsaufgabe Sprachliche Aspekte der Aufgabenstellung
Der erste Schritt für die Bearbeitung einer Modellierungsaufgabe besteht darin, die mit der Aufgabenstellung gegebene Realsituation zu verstehen. Und schon für diesen ersten Schritt können die sprachbezogenen Merkmale der Aufgabenstellung jeweils spezifische sprachliche Hürden mit sich bringen. Viele Aufgabenstellungen werden den Kindern in Textform dargeboten. Solche mathematikbezogenen Texte sind in einem sprachlichen Register verfasst, das den Kindern mit Schuleintritt in der Regel nicht geläufig ist. Die Sprache in Informations- und Aufgabentexten unterscheidet sich von der Alltagssprache der Kinder und kann als eine fachsprachlich orientierte Bildungssprache (vgl. für eine ausführlichere Beschreibung des bildungssprachlichen Registers z. B. Gogolin und Lange 2011) beschrieben
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werden. Sie zeichnet sich zum einen durch eine hohe Informationsdichte aus, denn die in der Alltagssprache verwendeten Füllwörter und Floskeln fehlen hier, sodass jedes Wort bedeutungstragend und für das Textverständnis wichtig ist. Zum anderen sind die Satzstrukturen und Wortformen in der Bildungssprache bedeutend komplexer als in der den Kindern vertrauten Alltagssprache. Während in der Alltagssprache – insbesondere von Kindern mit wenig fortgeschrittenem (Zweit-)Spracherwerbsprozess – vorwiegend kurze Hauptsätze genutzt werden, ist die Bildungssprache reich an Nebensätzen, die oft auch in sich weiter verschachtelt sind. Häufig werden in bildungssprachlichen Texten durch Pronomen Rückbezüge auf vorausgegangene Textelemente geschaffen. Die Zuordnung solcher Rückbezüge kann insbesondere für Kinder, die das grammatische Geschlecht von Nomen noch nicht sicher kennen, ein Problem darstellen. Auf der Ebene der Wortformen sind für die Bildungssprache insbesondere Passivkonstruktionen und unpersönliche oder allgemeingültige Formulierungen (z. B. es lassen sich finden, man kann), Konjunktivformen, Komposita, Nominalisierungen oder die Verwendung von Genitivattributen kennzeichnend und für die Kinder meist noch unvertraut. Auch der Wortschatz, der in mathematischen Aufgaben- oder Sachtexten verwendet wird, unterscheidet sich von dem Wortschatz, den die Kinder aus ihrem Alltag kennen. Neben neuen fachsprachlichen Begriffen erschweren den Kindern weniger geläufige bildungssprachliche Begriffe das Textverständnis. Ferner können Bedeutungsinterferenzen zwischen Fach- und Alltagssprache oder zwischen deutscher Sprache und Herkunftssprache eines Kindes für Missverständnisse beim Verständnis der Texte sorgen (vgl. Deseniss und Kaiser 2003). Nicht nur die sprachlichen Merkmale eines sachbezogenen Aufgabentextes, sondern auch die Anschaulichkeit der beschriebenen Sachsituation und der Grad an Nähe oder Distanz, der zwischen dem angesprochenen Aufgabenkontext und der Lebenswelt der Kinder besteht, beeinflusst das Aufgabenverständnis (vgl. Busse 2009). In Sachaufgaben mit ernstzunehmenden sachkontextuel-
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A. Deseniss
Abb. 2 In einfacher Sprache verfasste Aufgabenstellung. Aufgabentext adaptiert von Eilerts und Kolter 2015, S. 123
Abb. 1 Textmerkmale einer Modellierungsaufgabe. Aufgabentext entnommen aus: Eilerts und Kolter 2015, S. 123
len Bezügen findet sich deshalb oftmals eine einleitende Situationsbeschreibung, die zwar für die Beantwortung oder Lösung keine sachdienlichen Informationen liefert und somit keine unmittelbare Relevanz besitzt, aber die für das Aufgabenverständnis förderliche Anschaulichkeit herstellt. Die eben beschriebenen Textmerkmale seien hier an einer der Literatur entnommenen Grundschul-Modellierungsaufgabe zum Thema „Haustiere“ in Abb. 1 illustriert (Aufgabentext aus Eilerts und Kolter 2015, S. 123). Die Aufgabenstellung beginnt mit einer Situationsbeschreibung, die wie oben dargestellt den Sachkontext der Aufgabe veranschaulicht. Die damit gegebenen Informationen sind für die erfolgreiche Bearbeitung der Aufgabe nicht unbedingt relevant. Der Arbeitsauftrag bzw. die Fragestellung und alle dafür notwendigen Informationen
sind ausschließlich in den hier durch Fettdruck hervorgehobenen Textteilen enthalten. Entsprechend der Intention des Textes, Grundschulkinder in einen auf ihre Lebenswelt bezogenen Sachkontext einzuführen und ihnen Impulse für Modellierungsaktivitäten zu geben, enthält dieser Aufgabentext vergleichsweise wenig explizit bildungssprachliche Formulierungen. Doch auch hier sind komplexere Satzstrukturen (längere Nebensatzkonstruktionen im letzten Satz), Genitivattribute, Rückbezüge auf vorausgegangene sprachliche Einheiten durch Pronomen, eine Konjunktivform, Komposita, eine mögliche Bedeutungsinterferenz (Junge vs. Jungen als den Kindern vertrauterer Begriff) und ein stärker bildungssprachlich geprägter Begriff zu finden. Solche bildungssprachlichen oder fachsprachlichen Elemente können den Kindern das Aufgabenverständnis erschweren und sie im ungünstigsten Fall an einer erfolgreichen Bearbeitung der Aufgabe hindern. Um auch den Kindern, die einen erhöhten Sprachförderbedarf im Deutschen haben, ein tragfähiges Aufgabenverständnis zu ermöglichen, können zwei im Grundsatz verschiedene Ansätze im Umgang mit Aufgabenstellungen verfolgt werden. Ein Ansatz verfolgt eine Entlastung der Aufgabenstellung von komplexeren sprachlichen Strukturen und weiteren bildungssprachlichen Elementen. Ein Beispiel für eine umformulierte, entlastete Aufgabenstellung zeigt Abb. 2. Eine in einfacherer Sprache verfasste Aufgabenstellung ermöglicht auch Kindern, die in der deutschen Sprache noch weniger kompetent sind, ein
Was kostet mein Haustier? – Sprachfördernder Mathematikunterricht
selbstständiges Erschließen der Aufgabenstellung und ist deshalb für Unterrichtssituationen geeignet, in denen genau dies geübt werden soll oder gefordert ist – wie beispielsweise auch in Tests. Mit einem entlasteten Text werden die möglichen sprachlichen Stolperstellen jedoch nur umgangen, und es werden nicht Schwierigkeiten abgebaut und sprachliche Kompetenzen gefördert. Das leistet der andere mögliche, offensive Ansatz, mit dem sprachliche Stolperstellen nicht vermieden, sondern gezielt thematisiert und so für eine Sprachförderung – insbesondere im bildungssprachlichen Register – genutzt werden. Methodisch lässt sich dies durch eine Aufbereitung des Textes mit erläuternden Kommentaren und Hilfen (z. B. durch eine Kommentierung der ungebräuchlichen Wörter oder eine Kennzeichnung der Rückbezüge von Pronomen durch Pfeile auf die Bezugswörter) realisieren oder durch gemeinsames Lesen und Besprechen des Textes, was beispielsweise mit einem Lernpartner oder im Klassenverband erfolgen kann. Die Investition von Unterrichtszeit in eine sorgfältige Erarbeitung und Sicherung des Aufgabenverständnisses vor Beginn der weiteren Aufgabenbearbeitung lohnt sich auch im Hinblick auf den Erfolg des gesamten Lösungsprozesses. Neben einem tatsächlichen Miss- oder Fehlverständnis der Aufgabenstellung kann auch schon eine nur subjektiv empfundene Unsicherheit im Aufgabenverständnis eine konstruktive Bearbeitung der Aufgabe stören. So konnte bei Kindern mit einem Migrationshintergrund und Unsicherheiten im Verständnis der deutschen Bildungssprache beobachtet werden, dass sie auch im Verlauf des Lösungsprozesses bei Problemen, die bei der Bearbeitung auf mathematischer Ebene auftraten, immer wieder zu einer erneuten Auseinandersetzung mit der Aufgabenstellung auf sprachlicher Ebene zurückkehrten und eine tiefere Auseinandersetzung mit dem mathematischen Gehalt der Aufgabe verhindert wurde (vgl. Deseniss 2015). Als Alternative zu einem schriftlich dargebotenen Aufgabentext können auch beispielsweise ein stummer Impuls in Form eines Bildes, eine szenisch dargebotene Geschichte oder eine münd-
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liche Erzählung den Kindern den Sachkontext der Aufgabe nahebringen und in eine Frage- oder Aufgabenstellung münden.
2.2
Die Frage nach den Haustierkosten
Die Frage nach den Kosten für eine Haustierhaltung ist komplex und mathematisch reichhaltig, und ihr kann mit unterschiedlichem Anspruch auf Grundlage verschiedener Lernvoraussetzungen nachgegangen werden. Sie ist als stärker vorstrukturierte Frage in einem Mathematikarbeitsbuch für das fünfte Schuljahr zu finden (Kliemann et al. 2006), kann aber auch schon in der Grundschule als komplexe Modellierungsaufgabe genutzt werden. Eilerts und Kolter (2015) zeigen beispielsweise mit der oben analysierten Aufgabenstellung, dass Kinder des vierten Schuljahres in der Auseinandersetzung mit der Frage nach den jährlichen Kosten für eine Katzenhaltung verschiede kognitive Strategien und Hilfen anwenden, um zu einer Lösung zu gelangen. Die Frage „Was kostet mein Haustier?“ ist offen gestellt. Sie erfährt eine erste Konkretisierung durch die Festlegung auf ein bestimmtes (eigenes oder Wunsch-)Haustier. Auch nach der Festlegung auf eine bestimmte Tierart können weitere Eingrenzungen (z. B. Hunderasse mit Einordnung in eine Größenkategorie oder Haltungsbedingungen) für eine genauere Kostenangabe sinnvoll sein. Die Kostenfrage zeigt sich insbesondere auch dadurch komplex, dass die Kosten in ihrer Art und ihren Bezügen verschieden sind. Es kann eine Unterscheidung zwischen einmaligen Kosten (z. B. Anschaffung des Tieres) und laufenden Kosten getroffen werden. Bei den laufenden Kosten ist weiter zu differenzieren nach den Intervallen, in denen sie fällig werden oder sinnvoll angegeben werden können (z. B. jährliche Steuern, monatliche Kosten für Reitunterricht oder Hundeschule, tägliche Futterkosten). Es muss entschieden werden, für welchen Zeitraum die Kosten jeweils angegeben werden sollen und ob für eine Beantwortung der Frage die Angaben vereinheitlicht werden sollen. Mehrere Kostenpunkte fallen zudem nur unregel-
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mäßig oder nur mit gewisser Wahrscheinlichkeit an (z. B. Tierarztkosten), so dass es notwendig ist, sich auf Annahmen zu verständigen. Informationen über Kostenpunkte bei einer Haustieranschaffung können im Internet recherchiert werden. Dort findet man für viele Haustierarten auch bereits fertige Kostenaufstellungen, und es gibt für einige Tierarten „Haustierrechner“, in die die für das eigene Haustier spezifischen Daten eingegeben werden können (vgl. Tierverstand (o. J.)). Die für die Bearbeitung der Frage notwendigen Informationen können jedoch ebenso aus Sachbüchern entnommen, in einem Zoogeschäft erfragt oder aus kleinen Informationsbroschüren, die in Fachmärkten für Tierfutterbedarf kostenlos ausliegen, zusammengetragen werden. Haben die Kinder sich zuvor schon im Rahmen des Sachunterrichts in das Thema „Haustiere“ einarbeiten können, werden sie zudem über einiges Vorwissen verfügen, z. B. über die Bedürfnisse von Haustieren, ihre Pflege und über notwendige Anschaffungen. Als inhaltsbezogene mathematische Kompetenzen werden mit dieser Aufgabe insbesondere verschiedene Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Größen (Geldwerten und Zeitspannen) und mit Rechenoperationen gefestigt, aber auch funktionale Beziehungen können erkannt, genutzt und dargestellt werden. Je nach Konkretisierung der Aufgabenstellung und je nach Schuljahr bzw. mathematischem Kenntnisstand der Kinder, kann es für die Bearbeitung der Aufgabe notwendig werden, sich in einem größeren als dem bisher erarbeiteten Zahlenraum zu bewegen, wie es bei Modellierungsaufgaben durch die enge Anbindung an einen konkreten Sachkontext oft zu beobachten ist (vgl. Maaß 2011).
A. Deseniss
ten weiteren Bearbeitungsprozess. Eine Sicherung des Verständnisses kann beispielsweise durch ein auf den Realkontext bezogenes Klassengespräch erfolgen. Hierbei werden zentrale Begriffe der Aufgabe in den Gesprächsbeiträgen der Kinder wiederholt verwendet und dabei z. B. der Begriff „Kosten“ durch eigene Beispiele der Kinder weiter expliziert. In einem solchen Gespräch werden außerdem schon erste Überlegungen zum Vorgehen für eine Aufgabenlösung geäußert oder auch erste Ideen gesammelt, was bei einer Aufgabenlösung inhaltlich zu bedenken sein könnte. Von Grundschulkindern werden in solchen Gesprächen gerne Bezüge zu ihrer eigenen Lebenssituation hergestellt, so dass sie auch einen persönlichen Zugang zu der Realsituation und der Aufgabenstellung entwickeln. Auf diese Weise wird gleichzeitig die Motivation für die folgende Arbeitsphase gesteigert. Ein Klassengespräch über mathematikbezogene Situationen fordert und fördert die sprachlichkommunikativen Fähigkeiten der Kinder: Sie üben, sich – vorwiegend in ihrer Alltagssprache – verständlich auszudrücken, beziehen sich dabei teilweise auch auf (mathematische) Fachbegriffe oder bildungssprachliche Formulierungen, so dass Übergänge zwischen diesen sprachlichen Registern geschaffen werden. Gerade diese Verbindungen verschiedener sprachlicher Register, wie auch Bezugnahmen auf Gesprächsbeiträge und wiederholte Paraphrasierungen sind wertvolle Sprachlerngelegenheiten für Kinder, die sich gerade im (Zweit-)Spracherwerbsprozess befinden. Eine Möglichkeit, auch zurückhaltenden und sprachlich unsicheren Kindern eigene Beiträge zum Klassengespräch zu erleichtern und den Anteil eigener Sprachproduktion im Unterricht für alle Kinder zu erhöhen, bieten beispielsweise „Murmelgespräche“, die dem Klassengespräch vorgeschaltet wer3 Gestaltung der Unterrichtssituation den. In den Murmelgesprächen erhalten die Kinder die Gelegenheit, sich für kurze Zeit in „Murunter sprachfördernden Aspekten mellautstärke“ mit ihrem Sitznachbarn über die Fragestellung, die dem anschließenden Klassenge3.1 Aufgabe verstehen spräch zugrunde liegt, auszutauschen. Ebenso ist Ein gesichertes Verständnis der Aufgabenstellung auch ein vollständiger Durchlauf der kooperativen bildet eine wichtige Grundlage für den gesam- Lernform „Denken – Austauschen – Besprechen“
Was kostet mein Haustier? – Sprachfördernder Mathematikunterricht
71
(kurz „DAB“) möglich (vgl. z. B. Landesinstitut grund sprachlicher Probleme in Gruppendiskussionen nicht einbringen können oder mögen. Die für Lehrerbildung und Schulentwicklung 2012). Zusammenarbeit mit nur einem einzigen Lernpartner kann hier mehr Sicherheit vermitteln und die Kinder gleichzeitig stärker in die Pflicht nehmen, 3.2 Hilfen nutzen sich in den Arbeitsprozess einzubringen. Eine weitere sprachbezogene Hilfestellung kann Für den weiteren Bearbeitungsprozess einer Modellierungsaufgabe hat die Lehrkraft in erster Linie dadurch erfolgen, dass den Kindern mit Hilfe eines die Aufgabe, sich selbst zurückzunehmen. Sol- „Wort- und Satzspeichers“ Redemittel bereitgelen die Kinder lernen, Aufgaben selbstständig zu stellt werden, die für die Bearbeitung der Aufgabe bearbeiten und im Lösungsprozess eigene Wege zentral und den Kindern ggf. noch wenig vertraut zu gehen, müssen sie den Raum dafür erhalten. sind (vgl. Verboom 2012). Die Begriffe und SatzInhaltliche Tipps und zu ungünstigem Zeitpunkt bausteine in einem Wort- und Satzspeicher können gegebene strategische Hinweise können dabei stö- von der Lehrkraft vorgegeben oder gemeinsam mit rend wirken. Gleichwohl muss die Lehrkraft in der Klasse gesammelt werden. Bevor sie auf eiihrer zurückgenommenen aber präsenten Haltung nem Plakat in der Klasse als visuelle Stütze für die die Arbeit aller Kinder aufmerksam begleiten und selbstständige Arbeit ausgehängt werden können, passende Hilfen zu einem passenden Zeitpunkt müssen sie sorgfältig geklärt, ggf. auch explifinden und bereitstellen. Wertvolle Unterstützung zit erarbeitet und ihre Verwendung geübt werden. können zum einen solche Hilfen leisten, die sich Im Vergleich mit den ganzheitlicheren Sprachförauf die Planung und Steuerung des Lösungspro- derangeboten, die durch die oben beschriebenen zesses beziehen. Kinder im Grundschulalter set- Kommunikationsanlässe und -formen geschaffen zen solche metakognitiven Strategien in Modellie- werden, ist dieses Sprachförderangebot stärker forungsprozessen noch selten selbstständig ein (vgl. kussiert. Die ausgewählten Redemittel, die den Eilerts und Kolter 2015), so dass durch allge- Kindern als Hilfe für die eigene Sprachproduktimeinere Impulsfragen zum Lösungsprozess oder on zur Verfügung gestellt werden, sollen ihnen wie ggf. auch konkretere strategische Anregungen der ein Gerüst als temporäre Stütze dienen. Haben die Lösungsprozess der Kinder behutsam unterstützt Kinder sich mit Hilfe dieses Gerüstes neue Fertigwerden kann (vgl. zu geeigneten Hilfestellungen keiten aneignen und sich mit den Redemitteln vertraut machen können, kann es wieder abgebaut und auch Maaß 2009, S. 38 ff.) Zum anderen kann auch durch sprachliche Hil- ein neues Gerüst für neue Lernschritte errichtet fen der Bearbeitungsprozess unterstützt werden. werden. Eine solche fokussierte Sprachförderung Eine erste Hilfestellung kann die Auswahl einer mit einer gezielten Erweiterung von Redemitteln geeigneten Sozialform sein. Durch die Bearbei- ist im Hinblick auf die fach- und bildungssprachtung der Aufgabe in Partner- oder Gruppenarbeit lich orientierte Sprache des Mathematikunterrichts wird eine Kommunikation über die Aufgabe und sehr gewinnbringend und für die meisten Unden Bearbeitungsprozess angeregt, in deren Ver- terrichtsthemen problemlos umsetzbar. Gerade in lauf ihr inhaltliches und sprachliches Verständ- Modellierungssituationen stellt sich hier jedoch nis ausgehandelt und geklärt werden kann. Wäh- die Herausforderung, den Kindern einerseits die rend unter allgemein inhaltlichen Gesichtspunkten benötigten Redemittel als Unterstützung für ihre die Gruppenarbeit für die Bearbeitung von Mo- selbstständige Arbeit bereitzustellen, damit aber dellierungsaufgaben eine bevorzugte Sozialform andererseits ihr Denken durch die Auswahl an ist (vgl. z. B. Kaiser und Schwarz 2006), kann Redemitteln nicht in eine bestimmte Richtung zu die Partnerarbeit insbesondere für Kinder geeig- lenken. Es bietet sich in dieser Unterrichtssituatinet sein, die z. B. Aushandlungsprozessen in einer on demnach eher an, einen Wort- und Satzspeicher Gruppe sprachlich nicht folgen oder sich auf- als Lehrkraft nicht vorzugeben, sondern ihn mit
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A. Deseniss
den Kindern begleitend zu den jeweiligen Bear- sind spezifisch, so dass passende Hilfestellungen beitungsschritten gemeinsam und sukzessive zu nur für das jeweilige Team interessant sind, manche sind aber auch allgemein relevant. Aus solchen erstellen. Problemen und Fehlern, die in mehreren Teams auftreten, können sich erneute Klassengespräche ergeben, in denen die Kinder durch die eigene Be3.3 Lösungsprozess begleitend schreibung des Problems ihre Gedanken ordnen reflektieren, Probleme und Fehler können und durch den gemeinsamen Austausch nutzen Ideen für die Weiterarbeit gewinnen. Auch in dieAuch wenn die Kinder möglichst selbstständig sen weiteren Gesprächen gibt die Lehrkraft mögdie Aufgabe bearbeiten sollen und die Gestaltung lichst wenig inhaltliche Hilfen und regt in erster des Lösungsprozesses größtmöglich den Kindern Linie durch geeignete Fragen zu eigenen Lösunüberlassen werden sollte, können Planungsgesprä- gen der Kinder an (vgl. Maaß 2009). In den gemeinsamen Gesprächen wird den Kinche den Kindern hilfreiche Impulse für ihre Arbeit geben und ihnen als Vorbild für eine Steuerung des dern nicht nur ein Vorbild für die Planung und Steuerung des Lösungsprozesses gegeben, sonModellierungsprozesses dienen. Ein erstes Reflexions- und Planungsgespräch dern auch für den Umgang mit Problemen und bietet sich an, nachdem die Kinder sich als Team Fehlern. Mathematiklehrkräfte sind damit vertraut, gefunden haben und gemeinsam mit ihrem Lern- mit inhaltlichen Fehlern der Kinder sensibel und partner oder in einer Gruppe Gelegenheit hatten, konstruktiv umzugehen. Sie wissen, dass Fehsich in dieser Zusammensetzung noch einmal über ler zum Mathematiklernen dazugehören und eine die Aufgabe zu verständigen und erste Konkreti- wertvolle Lerngelegenheit darstellen, die es zu sierungen vorzunehmen (z. B. zur Tierart). Auch nutzen gilt. Sie sind darin geschult, diese Feherste Gedanken zu inhaltlichen Aspekten und zum ler unter Würdigung dahinterstehender Gedanken Lösungsvorgehen können in dieser Phase ausge- aufzugreifen und mit Selbstverständlichkeit in den tauscht und schriftlich festgehalten werden. Ei- weiteren Lernprozess einzubinden. Weniger ausne solche Vorbereitung des Klassengesprächs gibt gebildet sind Mathematiklehrkräfte jedoch in der den Kindern – wie bei dem oben beschriebenen Regel für einen bewussten und sicheren Umgang „Murmelgespräch“ – Gelegenheit, ihre Gedanken mit Problemen und Fehlern, die auf sprachlicher schon einmal in kleinerem Kreis zu formulie- Ebene auftreten können. Ein rein intuitiver Umren und Rückmeldung dazu zu erhalten, so dass gang mit sprachlichen Schwierigkeiten und Fehsie sich sicherer dabei fühlen können, sich vor lern birgt jedoch Gefahren. Wenn eine Lehrkraft der Klasse zu äußern. Auch das Klassengespräch bemerkt, wie ein Kind in seinem Gesprächsbeitrag kann von einer Vorbereitung profitieren und an nach Worten und um Formulierungen ringt und Reichhaltigkeit und Tiefe gewinnen. Mögliche Ge- Probleme hat, seine Gedanken zu äußern, tappt sie sprächsimpulse zu diesem Zeitpunkt des Modellie- vielleicht in eine Erleichterungsfalle: Sie versucht zu helfen, indem sie schon während des (stockenrungsprozesses wären: Was wisst ihr schon für eure Aufgabenlösung? den) Gesprächsbeitrags dem Kind durch Mimik und Gestik ermutigend zu verstehen gibt, dass sie Was müsst ihr noch herausfinden? es verstanden hat. Erleichtert darüber, verstanden Wie könnt ihr das herausfinden? Im Verlauf des Lösungsprozesses werden in allen worden zu sein, bricht das Kind oftmals daraufhin Teams auch Probleme und Fehler auftreten. Man- seine Formulierungsbemühungen ab. Die Lehrche davon können von den Kindern im Verlauf kraft greift würdigend den begonnenen Gesprächsder weiteren Bearbeitung selbst erkannt und be- beitrag des Kindes auf und führt seine Gedanken arbeitet werden, manche gefährden dagegen einen wohlformuliert zu Ende. Als andere Möglichkeit, erfolgreichen Verlauf und erfordern Hilfe; manche dem Kind die Kommunikation seiner Gedanken
Was kostet mein Haustier? – Sprachfördernder Mathematikunterricht
zu erleichtern, fordert die Lehrkraft das Kind vielleicht auch auf zu zeigen, was es meint. In dem Wunsch, dem Kind den Gesprächsbeitrag zu erleichtern, nimmt sie ihm allerdings auch eine wertvolle sprachliche Übungs- und Lerngelegenheit. Um die Kinder in ihrem Sprachlernen zu unterstützen, ist es günstig, auch die sprachlichen Probleme nicht für die Kinder zu lösen und Fehler nicht zu umgehen oder höflich zu ignorieren, sondern die sprachlichen Probleme und Fehler der Kinder in gleicher Weise wie die mathematischen als willkommene gemeinsame Lerngelegenheiten aufzugreifen. Eine mögliche sprachliche Unterstützung bieten die oben beschriebenen, gut sichtbar ausgehängten Wortspeicher oder Satzbausteine, aus denen die Kinder sich selbstständig für ihre Formulierungen bedienen können. Sprachliche Fehler können von der Lehrkraft im Anschluss an den Gesprächsbeitrag des Kindes quasi nebenbei korrigiert werden, wenn der fehlerhaft formulierte Gedanke in korrekter Formulierung aufgenommen und moderierend weitergeführt oder zur Diskussion an die Klasse übergeben wird. Greift die Lehrkraft schon während des Gesprächsbeitrags korrigierend ein, läuft sie zum einen Gefahr, den
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Gedankenfluss des Kindes zu stören, zum anderen könnte auch die Aufmerksamkeit der anderen Kinder zu unpassender Situation von der inhaltlichen Ebene auf die sprachliche Ebene des Gesprächsbeitrags gelenkt werden.
3.4
Ergebnis und Rückschau
Haben die Teams zu einer für sie befriedigenden Lösung gefunden, geht es darum, die Ergebnisse in geeigneter Form darzustellen und sich schließlich reflektierend mit anderen darüber auszutauschen. Für diese Phasen kann auch die schriftliche Form der Kommunikation stärker in den Blick rücken. Ein denkbares Szenario ist eine Posterpräsentation mit der Möglichkeit, dass die Kinder sich stumm schreibend zu den ausgehängten Postern Rückmeldungen in Form von Würdigungen und kritischen oder offenen gebliebenen Fragen geben (vgl. Abb. 3). Auch die Rückmeldungen der Lehrkraft, mit denen jeweils ausgewählte Aspekte des Ergebnisses würdigend hervorgehoben werden können, ist in schriftlicher Form – z. B. als Brief an das Team – möglich. Das Schreiben ist ein wich-
Abb. 3 Schriftliche Kommunikation für Ergebnisdarstellung und Rückschau
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tiges Element sprachfördernden Unterrichts und sollte vom ersten Schuljahr an in den Mathematikunterricht integriert werden. Mit der medialen Schriftlichkeit ist jedoch nicht gleich die Erwartung einer konzeptionellen Schriftlichkeit verbunden. Ebenso, wie zum Beispiel eine SMS zwar medial schriftlich, aber eher im Stil gesprochener Sprache abgefasst ist, können auch die schriftlichen Produkte der Kinder konzeptionell mündlich formuliert sein und nonverbale Elemente wie Symbole oder ikonische Darstellungen (z. B. Pfeile, farbige Markierungen) enthalten. Dennoch stellt der Prozess der Verschriftlichung eigene kognitive Anforderungen und kann sich hemmend auf die Darstellung von Gedanken auswirken. Andererseits bringt das schriftliche Formulieren der Rückmeldungen bedeutende Vorteile mit sich. Zum einen nimmt es Tempo aus dem Austausch und lässt den Absendern mehr Zeit darüber nachzudenken, was sie genau rückmelden möchten und wie sie es formulieren können. Die Adressaten können die schriftlichen Rückmeldungen in Ruhe aufnehmen und für sich überdenken. Diese größere Ruhe für die eigene Sprachproduktion und -rezeption kommt nicht nur Kindern zugute, die Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben, sondern beispielsweise auch Kindern mit Konzentrationsschwierigkeiten, die in Klassengesprächen leicht den Gesprächsfaden verlieren. Des Weiteren kann die schriftliche Form der Kommunikation auch schüchterne Kinder entlasten, die sich im Klassengespräch nicht äußern mögen oder sich scheuen, ihre Rückmeldung „von Angesicht zu Angesicht“ zu geben. Schließlich empfinden die Kinder die schriftlichen Rückmeldungen oft auch als eine besondere Würdigung ihrer Arbeitsergebnisse.
A. Deseniss
Abb. 4 Aufgabenstellung als frei erzählte Geschichte
genden werden die Rahmenbedingungen und der Ablauf der Unterrichtseinheit skizziert, bevor dann in den nächsten Abschnitten einige Beobachtungsaspekte herausgegriffen und illustrativ dargestellt werden. Die Kinder der Klasse hatten sich zuvor im Sachunterricht mit Haustieren beschäftigt, und bei mehreren Kindern wurde der Wunsch nach einer Haustieranschaffung bereits in der Familie diskutiert. Als Einstieg in die Modellierungsaufgabe wurde die Form einer inhaltlich an die Situation der Klasse angepassten, frei erzählten Geschichte gewählt (vgl. Abb. 4). Die Geschichte enthielt auch in der mündlich vorgetragenen Form Wörter, die nicht allen Kindern vertraut waren. Da das Aufgabenverständnis aber in einem direkt anschließenden Unterrichtsgespräch gemeinsam gesichert wurde, konnten eventuell unverstandene Wörter hier nicht zur Hürde für eine erfolgreiche inhaltliche Auseinandersetzung werden. Die Geschichte und das Gespräch über die Aufgaben4 Erfahrungen aus der situation mündeten in die an die Kinder gerichtete unterrichtlichen Umsetzung Frage „Was kostet mein Haustier?“ und den anschließenden Auftrag, die Arbeitsergebnisse auf 4.1 Erprobung in einer zweiten Klasse einem Plakat festzuhalten. Die Motivation, sich weiter mit dem Thema zu Die Modellierungsaufgabe wurde als kurze Unterrichtseinheit im Rahmen des Mathematikunter- beschäftigen, war bei vielen Kindern groß und richts in einer zweiten Klasse eingesetzt. Im Fol- das Gespräch über die Aufgabenstellung lebhaft.
Was kostet mein Haustier? – Sprachfördernder Mathematikunterricht
Dennoch verlief die erste Arbeitsphase, die an die Klärung der Aufgabenstellung anschloss, wenig zielführend und das anschließende erste Reflexionsgespräch schleppend. Als die Lehrkraft das Gespräch unterbrochen und den Kindern ihren Eindruck von der Situation gespiegelt hatte, entbrannte spontan ein Gespräch darüber, welchen Sinn eine solche Aufgabenstellung eigentlich hat, welchen Wert sie im Mathematikunterricht hat und was (strategisch) dafür notwendig ist, die Frage gut beantworten zu können. Die Beteiligung an diesem ungeplanten Gesprächseinschub war rege, und ebenso konstruktiv arbeiteten die Kinder auch im weiteren Verlauf der kurzen Unterrichtseinheit, die im Wesentlichen so gestaltet war, wie es im vorhergehenden Kapitel als mögliches Szenario beschrieben wurde. Der Zeitaufwand betrug insgesamt etwa drei Unterrichtsstunden. Im Anschluss an die Unterrichtseinheit wurden die Kinder mit Hilfe eines Fragebogens zu der Aufgabe und ihrer Arbeit an der Aufgabe befragt. Neben Beobachtungen des Unterrichtsverlaufs – insbesondere auch der Reflexionsgespräche – und den Postern der Kinder bilden die Antworten aus den Fragebögen (insbesondere der Frage „Was hast du bei der Arbeit an dieser Aufgabe gelernt?“) die Grundlage für die im Folgenden dargestellten Beobachtungen und Einschätzungen.
4.2
4.2.1
Was wir an der Aufgabe gelernt haben . . .
Sprachliche und mathematische Erarbeitung des Kostenbegriffs Die Komplexität des Begriffs Die Frage „Was kostet mein Haustier?“ regte die Kinder an, sich mit dem Begriff „Kosten“ näher auseinanderzusetzen. Schon in ihren Recherchen bemerkten sie, dass sie bei ihren Kostenangaben präzisieren müssen. Die folgenden Beispiele für solche Präzisierungen stammen aus den schriftlichen Aufzeichnungen der Kinder (die kennzeichnenden sprachlichen Mittel sind hier in
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Fettdruck hervorgehoben, die Rechtschreibung ist korrigiert): Mögliche Kosten, z. B.: Ein Hund kann 900 C kosten. Wie viel es kostet, wenn man eine Katze zum Arzt bringen will. Ungefähre Kosten, z. B.: Gesamtkosten ungefähr 200 C. Futter pro Tag: um die 8 C. Impfungen etwa 10 C im Monat. Kostenspanne, z. B.: Nach oben und unten begrenzt: Leine: 10 C bis 15 C. Nach oben offen: Putzkasten ab 20 C. Der Sattel kostet von 200 bis über 2000 C. Ein Schleierfisch kostet mindestens 99 C und 10 ct. Im Verlauf des Bearbeitungsprozesses entdeckten die Kinder die Komplexität des Kostenbegriffs und erkannten, welche Bezüge für eine sinnvolle Kostenbestimmung in welcher Weise hergestellt und angegeben werden mussten: Die Kosten hatten immer einen bestimmten Sachbezug, z. B. Futterkosten. Der Geldwert konnte einen Mengenbezug haben, z. B. 1 Dose Katzenfutter kostet 1 C. Der Geldwert konnte einen Zeitbezug haben, z. B. 10 C pro Monat. Um für die Kostenangabe einen Zeitbezug herzustellen, musste manchmal als Zwischenschritt der Bezug zwischen Geldwert und Menge sowie zwischen Menge und Zeit betrachtet werden, z. B. 1 Dose Katzenfutter kostet 1 C. Die Katze braucht 2 Dosen pro Tag, also 60 Dosen pro Monat. Futterkosten: 60 C pro Monat. Um diese Bezüge kenntlich zu machen, verwendeten die Kinder die folgenden sprachlichen Mittel: im Monat/Jahr; in 30 Jahren; am Tag; für ein Jahr; pro Tag/Monat/Jahr. Während in dem Reflexionsgespräch, in dem diese zeitliche Dimension der Kosten erstmals thematisiert und in Beispielen erklärt wurde, häufiger die Formulierungen „für ein Jahr“ oder „am Tag“ genutzt wurde, war schließlich auf den Postern der Kinder größtenteils die Formulierung „pro Monat/Jahr“ zu finden.
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Einige Teams ließen in ihren Kostenübersichten unterschiedliche Einheiten für ihre zeitlichen Bezüge nebeneinander stehen (z. B. Futterkosten pro Tag und Versicherung pro Jahr), und auch einmalige und laufende Kosten wurden nicht in allen Teams gruppiert. Eine weitere Bearbeitung der Kostenübersichten durch Umrechnungen und Zusammenfassungen übersteigt die im zweiten Schuljahr im Mathematikunterricht erworbenen Kompetenzen und wurde dementsprechend auch nicht von den Kindern erwartet. Einige Teams bemühten sich jedoch aus eigenem Antrieb darum, den zeitlichen Bezug der Kosten für alle Angaben zu vereinheitlichen, und ein Team versuchte schließlich, die unterschiedlichen Bezüge der Kosten so zu fassen, dass sie eine Gesamtsumme berechnen können. Welche mathematischen Tätigkeiten durch die Komplexität des Kostenbegriffs angeregt wurde, soll noch etwas näher beleuchtet werden. Die Chancen der Komplexität Ein Team legte sich eine Tabelle an (vgl. Abb. 5) und ordnete darin seine recherchierten Informationen. Als Spalten wählten die Kinder die oben angesprochenen Bezüge. Durch das Anlegen dieser Tabelle übertrugen die Kinder ihre Erkenntnisse, die sie aus Texten und Gesprächen gewonnen hatten, in eine andere Darstellungsform. Gerade durch einen solchen Wechsel zwischen verschiedenen Darstellungsformen und die eigenständige Reorganisation von Informationen kann das inhaltliche Verständnis vertieft und ein flexiblerer Umgang mit Erkenntnissen gefördert werden. Ein anderes Team, das aus zwei ausgesprochen mathematikaffinen, zweisprachig aufwachsenden Kindern bestand und den Fokus eher auf schnelles als auf sorgfältiges Arbeiten legte, hatte rasch eine Kostenaufstellung für das gewählte Tier fertig und zeigte sich zunächst mit dem Ergebnis zufrieden. Durch den Austausch mit anderen Teams bemerkten die Kinder jedoch, dass andere das Ziel hatten, die Kosten möglichst mit einheitlichen zeitlichen Bezügen darzustellen und sie übersichtlich zu gruppieren. Daraufhin überprüften die beiden Kinder bei ihrer eigenen Kostenaufstellung, was
A. Deseniss
Abb. 5 Tabelle für eine Kostendarstellung von Kindern einer zweiten Klasse
sich gruppieren und durch Umrechnungen vereinheitlichen lassen konnte. Sie kennzeichneten in einem ersten Schritt die einmaligen Kosten und überlegten dann, in welcher Einheit sie alle zeitlichen Bezüge sinnvoll ausdrücken könnten. Sie entschieden sich dafür, alle laufenden Kosten pro Monat anzugeben und nahmen Umrechnungen vor. Dabei stießen sie auf unterschiedliche Probleme: Die Kinder hatten beispielsweise recherchiert, dass eine Reitstunde 15 C kostet und wollten nun die monatlichen Kosten für Reitunterricht angeben. Da beide Kinder nicht wussten, wie viele Reitstunden pro Monat üblich sind, mussten sie Wissen aus anderen Erfahrungsbereichen nutzen, um Annahmen für ihr Modell zu treffen. So folgerten sie aus ihren Erfahrungen mit Fußballtraining und Klavierunterricht, dass eine Reitstunde pro Woche angemessen sein könnte. Für die Umrechnung konnten sie auf ihr im vorherigen Mathematikunterricht erworbenes Wissen zurückgreifen. Sie wussten, dass ein Monat ungefähr vier Wochen hat und dass die Multiplikation mit vier durch zweimaliges Verdoppeln erreicht werden kann. So konnten sie – auch ohne Kenntnis des großen Einmaleins – die monatlichen Kosten für den Reitunterricht schnell ermitteln. Vor ein weiteres Problem stellte sie ihr Ziel, die jährlichen Versicherungskosten von 96 C in monatliche Kosten umzurechnen. Wieder konnten sie dafür schnell ihr Wissen aufrufen, dass ein Jahr zwölf Monate hat. Sie erkannten, dass sie die Kosten eigentlich durch zwölf teilen müssten, ihnen aber
Was kostet mein Haustier? – Sprachfördernder Mathematikunterricht
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Validierung und Überarbeitung der Ergebnisse angestoßen. Die Notwendigkeit einer Verbindung von Mathematik und Sprachförderung bzw. Sprachförderung und Mathematik I Kind 1: „Das der Fisch 182 pro Tage Futer bekommt.“
Abb. 6 Ergebnisdarstellung zur Frage „Was kostet mein Haustier?“ von Kindern einer zweiten Klasse
(noch) kein Standardverfahren dafür zur Verfügung steht. Nach der schnell verworfenen Überlegung, ob mehrfaches Halbieren das Teilen durch zwölf ermöglichen kann, kamen sie darauf, die Multiplikation als Umkehrung der Division zu nutzen und wollen ausrechnen, wie oft die Zwölf in die 96 passt. Sie verständigten sich darauf, dass ihnen ein ungefährer Wert als Ergebnis reicht und sie sich wieder durch Verdopplungen der Zwölf an die Zahl 96 herantasten wollen. So kamen sie nach dreimaliger Verdopplung der Zwölf genau auf die gesuchte Zahl und schlossen daraus, dass die Versicherung 8 C pro Monat kosten müsste. Nachdem die Kinder alle Kosten als monatliche Kosten in ihrer Übersicht angegeben hatten, betrachteten sie ihre Kostenaufstellung erneut mit prüfendem Blick und empfanden es als Makel, dass sie keine Gesamtkosten als Antwort auf die Frage „Was kostet mein Haustier?“ errechnet hatten. Sie standen vor dem Problem, die einmaligen Kosten nicht einfach mit den monatlichen Kosten verrechnen zu können, und fanden für sich die Lösung, die laufenden Kosten auf die Lebenserwartung des Pferdes anzupassen und schließlich alle Kosten zu addieren (das Ergebnis ist in Abb. 6 dargestellt). Dieses Team wurde erst durch den Austausch mit anderen auf die Komplexität des Kostenbegriffs und damit verbundene mögliche (mathematische) Herausforderungen aufmerksam und zur
Bei dieser Formulierung stimmt etwas nicht, und man kann ohne weitere Informationen nur versuchen zu erraten, was gemeint ist: 182 (Mal, Kalorien, Pellets, Würmer . . . ?) pro Tag? Oder 182 Tage pro Jahr? Das Kind 1, das diese Lernerkenntnis formuliert hat, ist einsprachig deutsch aufgewachsen, kann sich alltagssprachlich sehr differenziert ausdrücken, zeigt aber im Mathematikunterricht große Lernschwierigkeiten. Eine kurze Darstellung des Arbeitsprozesses, der dieser Formulierung vorausgegangen ist, erhellt die Bedeutung und die Fehlerquellen der Aussage: Das Kind 1 hatte sich zuvor mit dem Kind 2 im Arbeitsteam mit den Futterkosten für den Fisch beschäftigt. Kind 2 ist ebenfalls einsprachig deutsch aufgewachsen, hat leichtere Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht, dafür aber im sprachlichen Bereich größere Probleme. Die Kinder hatten bereits notiert, wie viel eine Dose Fischfutter kostet, dann aber bei einem anderen Team gesehen, dass dort immer die Kosten „pro Jahr“ angegeben waren. Deshalb überlegten sie weiter, wie die jährlichen Futterkosten für einen Fisch berechnet werden könnten. Sie erkannten, dass sie für ihre Berechnung wissen müssen, wie viele Dosen Fischfutter pro Jahr benötigt werden. Um dies abschätzen zu können, nahmen sie an, dass eine Dose für etwa 100 Futtergaben ausreicht und der Fisch jeden zweiten Tag gefüttert werden muss. Sie wussten, dass ein Jahr 365 Tage hat und berechneten nun mühevoll die Anzahl der Fütterungstage (durch stellengerechtes Zerlegen, Halbieren und anschließendes Addieren der Einzelergebnisse). Auf diesen Teil der Aufgabenlösung bezieht sich die schriftlich formulierte Erkenntnis von Kind 1. Die Pluralform „Tage“ in der fehlerhaften Formu-
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A. Deseniss
lierung („[. . . ] 182 pro Tage [. . . ]“) deutet darauf hin, dass es verstanden hat, dass 182 die Anzahl der Tage ist, an denen der Fisch Futter bekommt. Zu vermuten ist, dass es auch erkannt hat, dass die Futtergabe in einen Bezug gestellt werden soll, und es deshalb das Wort „pro“ verwendet. Es gelingt dem Kind jedoch sprachlich nicht zu ordnen, dass die Anzahl der Tage hier mit Futtergaben gleichgesetzt sind und in Bezug zu einem Jahr gebracht werden sollen („Dass der Fisch an 182 Tagen pro Jahr Futter bekommt.“). Sichtbar wird dieses Problem des Kindes auf einer sprachlichen Ebene, es weist jedoch darauf hin, dass das Kind die sprachlich fehlerhaft formulierten Zusammenhänge auch gedanklich noch nicht durchdrungen hat. I Kind 2: „Das der Fisch 182 male am Jahr Futer bekomt. Jeden 2. Tag. geschätzt. 9 €.“
Auch dieser Text enthält sprachliche Fehler (z. B. „am Jahr“ statt „im“ oder „pro Jahr“) und die letzten Sätze sind auf Stichworte verkürzt. Dennoch wird ersichtlich, dass das Kind vieles gedanklich geordnet und verstanden hat: Die Zahl 182 bezeichnet eine Häufigkeit („male“), die Häufigkeit ist auf die Zeitspanne eines Jahres („am Jahr“) und auf das Ereignis der Futtergabe für einen Fisch bezogen. Und stichpunktartig nennt das Kind sowohl die Prämissen seiner Erkenntnis als auch sein Ergebnis, das auf weiteren Schritten im Lösungsprozess beruhte (wenn 1 Dose Fischfutter 5 C kostet und für ca. 100 Futtergaben reicht, werden knapp zwei Dosen pro Jahr benötigt, wodurch jährliche Futterkosten von ca. 9 C entstehen). Aus der vergleichenden Betrachtung der Texte beider Kinder wird ersichtlich: Die Kinder müssen zum einen die darzustellenden Zusammenhänge und die benötigten Begriffe gedanklich fassen können (Schwierigkeit von Kind 1) und zum anderen korrekte sprachliche Formulierungen für ihre Gedankengänge nutzen können (Schwierigkeit von Kind 2). Erst die Verbindung dieser Kompetenzen ermöglicht es den Kindern, im Mathematikunterricht verständlich zu kommunizieren.
4.2.2
Vernetzungen und das Bild von Mathematik(-Unterricht) Neben den eben beschriebenen engen inneren Verbindungen von sprachlichem und mathematischem Lernen wurden in der vorgestellten kurzen Unterrichtseinheit auch verschiedene innermathematische Verknüpfungen von den Kindern vorgenommen. In den Beschreibungen oben wird beispielsweise deutlich, wie verschiedene Größenbereiche miteinander in Beziehung gesetzt und Beziehungen zwischen Division und Multiplikation oder auch von verschiedenen multiplikativen Strukturen genutzt wurden. Es wurde ein zuvor im Sachunterricht behandeltes Thema im Mathematikunterricht aufgegriffen und dort eine den Kindern zum Teil aus ihrer Lebenswelt bekannte Frage gestellt und bearbeitet. Ein Kind hat als Lernerkenntnis nach der Unterrichtseinheit passend festgestellt: „Das Sachuntericht Mit Mathe sein kann.“. Zwei weitere Kinder haben als Lernerkenntnis formuliert: „Das mann nicht so einfach ein Tieer krigen kann.“ und „Das wenn mann ein haustier kaufen wiel das mann auch kuken mus wievil mann bezahlen mus.“. Diesen beiden Kindern wurde offensichtlich durch die Beschäftigung mit der Kostenfrage die Bedeutung eines verantwortlichen Handelns in ihrer Lebenswelt bewusst, und sie haben die Mathematik als Werkzeug für ein mündiges und verantwortungsbewusstes Verhalten in der Umwelt kennen gelernt. Die erfahrenen Vernetzungen zwischen unterschiedlichen Bereichen oder Ideen innerhalb der Mathematik wie auch zwischen der Mathematik und anderen Fächern oder mit der außerschulischen Lebenswelt der Kinder prägen auch das Bild, das die Kinder von Mathematik und Mathematikunterricht entwickeln. Schließlich haben sich die Kinder bei ihrer Arbeit auch gewinnbringend mit anderen Kindern vernetzt und ausgetauscht, so dass ein Mit- und Voneinanderlernen stattgefunden hat. 4.2.3 Mit- und voneinander lernen Der Fokus auf eine sprachfördernde Gestaltung des Unterrichts hat die Kinder zum einen durch die bewusste Förderung von Kommunikation da-
Was kostet mein Haustier? – Sprachfördernder Mathematikunterricht
zu angeregt, sich gegenseitig zu helfen, sich zu hinterfragen, sich Anregungen und Würdigungen zu geben. Durch eine sprachsensible Gestaltung des Lernarrangements und die gezielte Bereitstellung (fehlender) sprachlicher Mittel hat er zum anderen gewährleistet, dass auch alle Kinder an der Kommunikation erfolgreich teilhaben können. Wenn dabei sichtbar wird, dass punktuell sprachliche oder mathematische Kompetenzen für eine erfolgreiche Bearbeitung der Aufgabe fehlen (wie bei Kind 1 und Kind 2 oben dargestellt), liegt darin wertvolles diagnostisches Potenzial. Hieraus kann die Lehrkraft lernen, wie den Kindern passgenauere Hilfe und Förderung angeboten werden können. Auch die Modellierungsaufgabe hat das Mitund Voneinanderlernen in besonderer Weise befördert. So war die Modellierungsaufgabe komplex genug, um jedes Arbeitsteam vor Herausforderungen zu stellen, die sie ad hoc nicht alleine lösen konnten. Dadurch, dass einerseits die Struktur der Modellierungsaufgabe (Kostenfrage) für alle Lernteams gleich war, waren sie vor vergleichbare Probleme gestellt und konnten von einem Austausch profitieren. Andererseits bezog sich die Kostenfrage für die meisten Teams aber auf unterschiedliche Haustierarten. Dadurch hatten die Kinder das Gefühl, jeweils eigenen Fragen nachzugehen und auch mit ihren Ergebnissen nicht untereinander in Konkurrenz zu stehen, was die Bereitschaft zu einem Ideenaustausch erleichtert hat. Die Partnerarbeit hat sich für diese Grundschulkinder als günstige Sozialform für eine gemeinsame, konstruktive Arbeit an der Aufgabe erwiesen. Die Kinder betonten in ihren schriftlichen Rückmeldungen zur Wahl der Sozialform als Vorzüge der Partnerarbeit die Möglichkeit sich auszutauschen, die Kompetenzerweiterung durch ein Team (man weiß mehr, schafft mehr), die Möglichkeit zu Arbeitsteilung und Zeitersparnis, die Möglichkeit, sich zu helfen, weniger „Streit“ als in der Gruppenarbeit. Das mehrfach angeführte Argument der Streitvermeidung wäre dabei jedoch noch kritisch zu
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hinterfragen. Ein anderes Kind, das in einer Dreiergruppe gearbeitet hat, erläuterte den Gegenstand des Streits in seinem Team: „Das wir zu dritt gearbeitet haben fand ich blöd weil [Name eines Kindes] und [Name eines Kindes] sich ein bischen geschdriten haben ob sie bei essen pro monad nehmen oder Jahr.“ Bei dem „Streit“ kann es sich somit um eine aus fachlicher Sicht fruchtbare Diskussion handeln. Da beim Lernen emotionale Aspekte aber ebenfalls eine große Rolle spielen, sind auch solche Missempfindungen von Kindern für die Unterrichtsgestaltung ernstzunehmen und einzubeziehen. Diese Unterrichtseinheit hat nicht nur Gelegenheit und Anlass geboten mit- und voneinander zu lernen, sondern auch den Kindern erlaubt, ihren Lern- und Arbeitsprozess gemeinsam mit der Lehrkraft zu gestalten, was positiv aufgenommen wurde („Mir gefiel diese aufgabe gut weil wir intscheiden durften.“). Auch die Freiheit, eigenen Fragen forschend nachzugehen, wurde von Kindern positiv hervorgehoben („Ich fand diese Aufgabe gut weil man da halt forschen konnte und ich mag forschen.“) Der Lehrkraft bot die selbstständige Arbeit der Kinder den Raum, sie in ihren Lernprozessen zu beobachten und durch sie auch selbst weiter zu lernen. So bot beispielsweise die Beobachtung des stockenden Einstiegs der Kinder in die Bearbeitung Anlass zu überdenken, inwieweit und an welcher Stelle im Lernprozess auch für jüngere Grundschulkinder Gespräche zu Modellierungsaufgaben auf einer Metaebene nicht nur möglich, sondern notwendig sind.
5 Fazit Sprachliche und mathematische Aktivitäten greifen bei der Bearbeitung dieser Modellierungsaufgabe eng ineinander. Für die Gestaltung der Unterrichtssituation bietet sich Gelegenheit, vielfältige Formen der Sprachförderung zu nutzen: Die mündliche Sprachproduktion und -rezeption kann ganzheitlich durch Kommunikationsanlässe
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mit einem Lernpartner wie auch in Klassengesprächen gefördert werden. Insbesondere in Plenumsphasen kann die Lehrkraft dabei als (Sprach-) vorbild wirken und einen mutigen und konstruktiven Umgang mit Problemen und Fehlern stärken. Eine schriftliche Form der Kommunikation bietet für die Darstellung und Reflexion der Ergebnisse besondere Vorzüge. Als möglich, aber mit spezifischen Herausforderungen verbunden, gestaltet sich eine fokussierte Sprachförderung im Modellierungsprozess. „Wichtiger als das Werkzeug ist die Haltung, die das Verhalten prägt.“ Vollrath (1983, S. 12) bezieht sich damit auf die Feststellung, dass ein Forschen und ein „intellektuell ehrliches und fruchtbares Tun“ (ebd.) auf verschiedenen formalen Niveaus möglich ist. Mit Blick auf die Gestaltung des Grundschul-Mathematikunterrichts kann diese Feststellung als ein Plädoyer dafür verstanden werden, sich im Unterricht nicht nur auf das Schmieden einzelner mathematischer und sprachlicher Werkzeuge zu konzentrieren, sondern vor allem auch darauf, die eigenmotivierte Fragehaltung und den natürlichen Forscherdrang der Kinder lebendig zu halten, sie in ihrer Risikobereitschaft zu bestärken, sich mathematischen und sprachlichen Problemen zu stellen. Hierfür bietet die in diesem Beitrag vorgestellte Modellierungssituation einen geeigneten Anlass.
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A. Deseniss Deseniss, A.: Schulmathematik im Kontext von Migration. Mathematikbezogene Vorstellungen und Umgangsweisen mit Aufgaben unter sprachlich-kultureller Perspektive. Springer Spektrum, Wiesbaden (2015) Deseniss, A., Kaiser, G.: Eine Frage der Perspektive! Zum Umgang mit einer Sachrechenaufgabe in mehrsprachigen Schulklassen. Math. Lehren 116, 32–35 (2003) Eilerts, K., Kolter, J.: Strategieverwendung durch Grundschulkinder bei Modellierungsaufgaben. In: Kaiser, G., Henn, H.-W. (Hrsg.) Werner Blum und seine Beiträge zum Modellieren im Mathematikunterricht. Festschrift zum 70. Geburtstag von Werner Blum (Realitätsbezüge im Mathematikunterricht), S. 119–133. Springer Spektrum, Wiesbaden (2015) Gogolin, I., Lange, I.: Bildungssprache und Durchgängige Sprachbildung. In: Fürstenau, S., Gomolla, M. (Hrsg.) Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit, S. 107–127. VS, Wiesbaden (2011) Kaiser, G., Schwarz, B.: Mathematical modelling as bridge between school and university. ZDM 38(2), 196–208 (2006) Kliemann, S., Mallon, C., Puscher, R.: mathe live 5. Mathematik für Sekundarstufe I. Klett, Stuttgart (2006) Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung: Sprachbildung durch kooperative Lernformen in der Grundschule. Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung, Hamburg (2012) Lemmer, D.: Kompetenzerwerb von Anfang an. Unsere Haustiere. Grundschulzeitschrift 5, 12–18 (2014) Maaß, K.: Mathematikunterricht weiterentwickeln. Aufgaben zum mathematischen Modellieren; Erfahrungen aus der Praxis; für die Klassen 1 bis 4 (Lehrer-Bücherei Grundschule, 1. Aufl. Cornelsen Scriptor, Berlin (2009) Maaß, K.: Mathematisches Modellieren in der Grundschule. IPN Leibniz-Institut f. d. Pädagogik d. Naturwissenschaften an d. Universität Kiel, Kiel (2011) Tierverstand e.U.: Haustierrechner (o. J.). https://www. tierverstand.com/haustierrechner.html. Abgerufen am 10.06.2018 Verboom, L.: „Ich kann das jetzt viel besser bedrücken“: Gezielter Aufbau fachbezogener Redemittel. Prax. Math. Sch. 54(45), 13–17 (2012) Vollrath, H.-J.: Die umwelterschliessende Funktion des Mathematikunterrichts. Pädagogische Welt 37(12), 726–730, 743 (1983)
Wann ist das Sammelheft voll? – Kommunizieren und Argumentieren in inklusiven Gruppen Swetlana Nordheimer, Katja Eilerts und Denise van der Velden
As I did not think of my pupils as being handicapped, but as being what they were, I did not think of them as teaching them as if they were myself minus some of my qualities, but rather as persons who have a universe of experience of their own into which I might enter if I were sufficiently sensitive. (Caleb Gattegno 146 In Mathematics and the Deaf, 145)
Zusammenfassung
Wie sieht ein Lösungsplan für Schülerinnen und Schüler mit Hörschädigung aus? Dieser Frage soll in dem folgenden Artikel nachgegangen werden. Anhand bestehender Lösungspläne zum Modellieren im Regelunterricht wird ein eigener Lösungsplan mit Gebärdensprache entwickelt. Dieser Lösungsplan ist im Mathetreff-Konzept der Humboldt-Universität zu Berlin in heterogenen Kleingruppen eingesetzt worden. Die Überprüfung wird exemplarisch anhand von zwei Beispielgruppen beim Lösen der FußballSammelpunkt-Aufgabe erläutert.
1 Einleitung Kommunikationsfähigkeit gilt nach Fröhlich und Prediger (2008) als eine wichtige Kompetenz, weshalb Kommunizieren im Mathematikunterricht immer wieder gezielt angeregt werden muss. Humboldt- Nicht ohne Grund wurde in der Kultusministerkonferenz der Länder das Kommunizieren als eine von sechs allgemeinen mathematischen KompeHumboldt- tenzen in den Bildungsstandards aufgenommen und wird somit verpflichtend in allen neuen Lehr-
S. Nordheimer B Förderzentrum mit Schwerpunkt „Hören“, Margarethe von Witzleben-Schule, Berlin, Deutschland K. Eilerts Institut für Erziehungswissenschaften, Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland D. van der Velden Institut für Erziehungswissenschaften, Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland
K. Eilerts, K. Skutella (Hrsg.), Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht 5, Realitätsbezüge im Mathematikunterricht, DOI 10.1007/978-3-658-21042-7_7, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
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S. Nordheimer und K. Eilerts und D. van der Velden
plänen berücksichtigt (KMK 2004). Dabei ist das Kommunizieren über mathematische Inhalte nicht nur Mittel zum Zweck für ein intensiveres Lernen, sondern ein wichtiges Bildungsziel in einer mathematisch-technisch geprägten Gesellschaft. Für die prozessbezogene Kompetenz des Modellierens ist eine sprachliche Verständigung eine wichtige Vorbedingung zum kooperativen Arbeiten (Fröhlich und Prediger 2008). In einer inklusiven Gruppe, mit hörgeschädigt Kindern, stellt dieses Ziel eine besondere Herausforderung dar, bietet aber auch neue Chancen, da eine andere Form der Kommunikation entsteht und das Repertoire an Strategien zunimmt. Dieser Artikel zeigt erstmals Möglichkeiten auf, wie das Kommunizieren und Argumentieren in inklusiven Gruppen mit hörgeschädigten Kindern am Beispiel des mathematischen Modellierens angeregt und gefördert werden kann. Dieser Aufsatz ist in zwei Bereiche geteilt: einleitend wird die Entwicklung eines Modellierungskreislaufes für hörgeschädigte Kinder diskutiert und der zweite Teil berichtet über eine erste Umsetzung im Rahmen des Projekts „MatheTreff“ an der Humboldt-Universität zu Berlin zusammen mit Masterstudierenden des Lehramts für die Primarstufe, indem hörende wie hörgeschädigte Kinder aus verschiedenen Berliner Grundschulen aufgrund ihres Interesses und einer Begabung im Fach Mathematik ausgewählt wurden.
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Gemeinsamer Unterricht für hörende und hörgeschädigte Kinder
Gemeinsame Beschulung von hörenden und hörgeschädigten Kindern wird in der Hörgeschädigtenpädagogik nach Becker (2012b, S. 102) seit Jahrzehnten thematisiert. Dennoch war dieses bisher häufig nur für Schüler und Schülerinnen, mit sehr hohen kognitiven und lautsprachlichen Voraussetzungen, die sich an die Regelschule anpassen konnten, realisierbar. Die von den hörgeschädigten Lernenden entwickelten Kompensationsstrategien auf der einen Seite und die „Unsichtbarkeit“ der Hörschädigung auf der anderen Seite
können dazu verleiten, ihre besonderen Begabungen auf der einen und ihre speziellen Bedürfnisse auf der anderen Seite zu übersehen. So könnten die Kinder daran gehindert werden ihre Potenziale in ihrer Fülle zu entfalten und ihrem Interesse an Mathematik so nachzugehen, wie sie es sich wünschen. Nicht nur aus diesem Grund entscheiden sich viele Eltern heute immer noch für die Beschulung ihrer Kinder an einem Förderzentrum und nicht an der Regelschule. Doch spätestens nach dem Abitur stellt sich die Frage nach der Inklusion oder Integration von mathematisch besonderes begabten und interessierten Schülern und Schülerinnen erneut. An der Humboldt-Universität zu Berlin zeigen immer wieder talentierte junge Menschen mit Hörschädigung, die sich gemeinsam mit den hörenden Studierenden den Herausforderungen eines mathematischen oder mathematikbezogenen Studiums stellen, das dies möglich ist. Nichtsdestotrotz haben Studierende mit Hörschädigung an den Universitäten mit den Kommunikationshürden zu kämpfen. Viele von den hörenden Mensch wissen nur wenig darüber, welche kommunikative Schwierigkeiten die Schwerhörigkeit verursachen kann. So lehnt sich beispielsweise die deutsche Schriftsprache an die Laut- und nicht an die Gebärdensprache an. Dies versursacht für die meisten seit ihrer Kindheit schwerhörigen Menschen viele verschiedene Schwierigkeiten beim Erlenen des Lesens und des Schreibens. Dazu kommt auch noch, dass sehr wenige Hörende gebärdensprachkompetent und für die besonderen Schwierigkeiten der Menschen mit Hörschädigung sensibilisiert sind, deshalb sind viele Menschen mit Hörschädigung entweder auf die Dolmetscher oder andere kompensatorische Mittel angewiesen, die nur teilweise die kommunikativen Barrieren beseitigen. Das kann das Mitreden oder Mitarbeiten, für hörgeschädigte Studierenden zum Problem machen. Um besondere Bedürfnisse von hörgeschädigten Kindern in der Inklusion zu verstehen, reichen die in der Vergangenheit gebrauchten Begriffe wie „gehörlos“, „schwerhörig“, „taub“ und „hörbehindert“ nicht aus. Es müssen die Ba-
Wann ist das Sammelheft voll? – Kommunizieren und Argumentieren in inklusiven Gruppen
sissprachen als Kommunikationsmittel stärker berücksichtigt werden. Kinder mit Hörschädigungen werden nach ihrer Basissprache in lautsprachlich orientierte und gebärdensprachlich-bilingual orientierte Lernende eingeteilt. Dies bedeutet nicht, dass lautsprachliche Orientierung die Verwendung von unterstützenden Gebärden im Unterricht völlig ausschließt, sondern, dass die Lautsprache als primäres Sprach- und Kommunikationsmittel im Unterricht eingesetzt wird. Bei der gebärdensprachlich-bilingualen Orientierung dient Gebärdensprache als Basissprache, auf der Laut- und Schriftsprache aufgebaut werden. Hierbei setzt Inklusion die Unterstützung durch Gebärdensprachdolmetscher bzw. gebärdensprachkompetente Lehrkräfte voraus. Die Entscheidung für lautsprachliche bzw. gebärdensprachlichbilinguale Orientierung hängt von verschiedenen Faktoren wie beispielsweise dem familiären Umfeld oder dem Ausmaß der Hörschädigung ab. Die am MatheTreff der Humboldt-Universität zu Berlin teilnehmenden Kinder werden in der Schule entsprechend dem Elternwunsch lautsprachlich gefördert und können unter günstigen akustischen Voraussetzungen und mit dem Einsatz von technischen Hilfsmitteln wie Hörgeräte und Cochlea Implantate (Innenohrprotese) lautsprachlich kommunizieren. Da die Entwicklung der Laut- und Schriftsprache von den Hörfähigkeiten abhängt und von seiner Umgebung beeinflusst wird, unterscheiden sich die an der Erprobung teilnehmenden Kinder im Hinblick auf ihre Lese- und Schreibkompetenzen. Im Einklang mit den aktuellen Untersuchungsergebnissen aus der Hörgeschädigtenpädagogik (vgl. Hennies 2008, S. 294) liegen die meisten Kinder mit Hörschädigung in der Entwicklung ihrer Laut- und Schriftsprache bei der gleichen Intelligenz hinter ihren hörenden Gleichaltrigen. Dies ist zum einen dadurch bedingt, dass die Kinder eventuell bereits seit ihrer Geburt die Höreindrücke nicht vollständig wahrnehmen können. Zum anderen ist die Gebärdensprache eine eigene Sprache mit ihrer eigenen Grammatik und Syntax, die sich von der der Lautsprache grundsätzlich unterscheidet. Das beides wirkt sich auf die Lese-
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kompetenz der Kinder aus (vgl. Hennies 2008, S. 294). Da die Kinder die Höreindrücke nur verzerrt wahrnehmen, ist es wichtig, dass die technischen Hilfsmittel intakt funktionieren. Außerdem ist darauf zu achten, dass die Kinder ihre Hörschädigung durch das Absehen, den gezielten Einsatz von Visualisierungen und angepasste Texte kompensieren können. Durch die Sitzordnung, die das Absehen ermöglicht, entsprechende Raumbeleuchtung, Minimierung des Störschalls, Antlitzgerichtetheit der sprechenden Menschen und die im Hinblick auf die Lernenden mit Hörschädigung vorbereitete Lernumgebung können für alle günstige sowie für die hörgeschädigten Schülerinnen und Schüler notwendige Lernbedingungen geschaffen werden (vgl. Becker 2012b). Die an dem Projekt teilnehmenden Studierenden und Wissenschaftler wurden deshalb durch die Kooperation mit dem Institut für Rehabilitationswissenschaften in einem Einführungskurs vorbereitet die besonderen Bedürfnisse der Kinder mit Hörschädigung wahrzunehmen, um nach Kompensationsmitteln gemeinsam mit der das Projekt begleitenden Sonderpädagogin zu suchen und diese im Voraus vorzubereiten (vgl. Brandl und Nordheimer 2016, S. 235).
3
Modellieren mit hörgeschädigten Schülerinnen und Schülern
Insbesondere Blum hat sehr viel über Modellieren und was darunter zu verstehen ist publiziert, daher gelten die Grundlagen hierüber wie der Modellierungskreislauf (vgl. Blum und Leiß 2005), vierschrittige Lösungsplan (vgl. Blum 2010) oder die generelle Beschreibung und Konkretisierung der Modellierungskompetenz (vgl. ebd.) – als bekannt. Der Fokus liegt im Folgenden darin, zu prüfen, welche veränderten Anforderungen an einen Modellierungskreislauf für hörgeschädigte Schülerinnen und Schüler in der Grundschule gestellt werden. Eine bewusste Auseinandersetzung des Lernenden und der Lehrkräfte mit gut nutzbaren Lösungsplänen stellt ein wichtiges Instrument für
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eine erfolgreiche Bearbeitung von Modellierungsaufgaben dar. Für die Umsetzung in der Praxis wird der siebenschrittige Modellierungskreislauf im Allgemeinen als zu komplex angesehen und aus empirischen Studien ist zudem bekannt, dass Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten haben, zwischen den sieben Schritten dieses Modellierungskreislaufs zu unterscheiden (vgl. Borromeo Ferri 2011). Im Bereich der Grundschule gibt es bereits erste vereinfachte vierschrittige Modelle (z. B. Baumann 2012; Maaß 2018 in diesem Band). In diesem Projekt wurde mit Kindern der Klassen 1 bis 6 gearbeitet. Hierzu wird auch der Blick auf den Lösungsplan von Blum (2010) gerichtet. Bei dem vierschrittigen Modellierungskreislauf bleibt im Vergleich zum siebenschrittigen Kreislauf (Blum und Leiß 2005) der erste Schritt „Aufgabe verstehen“ gleich, der zweite Schritt „Modell erstellen“ fasst die Schritte 2 und 3 zusammen, der dritte Schritt „Mathematik benutzen“ entspricht Schritt 4 und der vierte Schritt „Ergebnis erklären“ vereint die Schritte 5 bis 7 des siebenschrittigen Modellierungskreislaufs. Bei der Beurteilung eines passenden Modellierungskreislaufes sind besonders die speziell erforderlichen kommunikativen Bedürfnisse und Kompetenzen (Laut-, Gebärden- und Schriftsprache) der Schülerinnen und Schüler mit zu berücksichtigen. Um den Schülerinnen und Schülern ein breites Spektrum an Kommunikations- und Informationsmitteln zur Verfügung zu stellen, war eine Überlegung, den Modellierungskreislauf für die hörgeschädigten Kinder neben der Textdarstellung auch mit Gebärden oder gebärdenunterstützend anzubieten. Damit sollten unterschiedliche Kommunikationsformen berücksichtigen werden. Zudem sollte das bereitgestellte Material zusätzliche Hilfe und Unterstützung bei akustischen Störungen bieten, die sich in einer größeren Schülergruppe schwer vermeiden lassen. Damit ergab sich die Frage, ob und wenn ja welcher der bisherigen Modellierungskreisläufe geeignet ist für eine Umsetzung der Begrifflichkeiten in Gebärden. Zudem lassen sich nicht alle Begriffe Eins-zu-Eins in Gebärden übersetzen und müssen sinngemäß dar-
S. Nordheimer und K. Eilerts und D. van der Velden
gestellt werden. Eine weitere Schwierigkeit ist die dynamische Form der deutschen Gebärdensprache. Hierzu müssen Fotos mit Bewegungspfeilen versehen werden.
3.1
Diskussion der vierschrittigen Modellierungskreisläufe und deren Umsetzung für hörgeschädigte Kinder
Unter Berücksichtigung der oben erläuterten Anforderungen werden unterschiedliche vierschrittige Modelle diskutiert.
3.1.1
Modell Projekt DISUM – Lösungsplan (Blum 2010) In diesem Kreislauf (Abb. 1) wird jeder Schritt stichpunktartig erklärt und mit Visualisierungen versehen. Zwar kommt die Erklärung den Kindern mit Hörschädigung entgegen, aber dadurch vergrößert sich wiederum der Textanteil, was wiederum zu kommunikativen Hürden führen kann. Die hier verwendeten Symbole sind hilfreich, aber nicht aussagekräftig genug, um das Textverständnis zu erleichtern. So machen beispielsweise Nolte und Engel (2004, S. 6) darauf aufmerksam, dass im Unterricht mit hörgeschädigten Kindern kompensatorisch eingesetzte Visualisierungen nicht selbst erklärend sind und unterschiedlich gedeutet werden können. Erst in der Kommunikation darüber, die eventuell mit zusätzlichen Kommunikationsmitteln, wie Gebärden unterstützt werden kann, kann und muss der Bedeutungsinhalt für die Schülerinnen und Schüler explizit werden. Bei der Übersetzung in Gebärden bereitet jedoch der Begriff „Modell erstellen“ Probleme. Dieser Begriff lässt sich nicht ohne Schwierigkeit übersetzen, weil das Wort bzw. die Gebärde „Modell“ den Kindern relativ selten im Alltag begegnet. 3.1.2 Modellierungskreisläufe für den Anfangsunterricht (Maaß 2018) Der von Katja Maaß (2018 in diesem Band) vorgestellte Lösungsplan (Abb. 2), welcher von
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Abb. 1 Lösungsplan nach Blum (2010)
fang des Modellierungsprozesses stellt und somit u. a. ausreichende Lesekompetenz nicht nur voraussetzt, sondern gezielt fördert. Die Entwicklung der Lesekompetenz ist sicherlich auch für Kinder mit Hörschädigung sehr wichtig, weil viele Modellierungsaufgaben als Texte angeboten werden. Reicht jedoch die Lesekompetenz des Kindes zum Verstehen des Textes nicht aus, so kann es für ein Kind mit Hörschädigung unmöglich sein, einen passenden Plan dazu zu überlegen. Deshalb sollen neben der gezielten Förderung von Lesekompetenz Modellierungssituationen geschaffen werden, in denen die Kinder mit ihrer Leseschwierigkeit auch umgehen können, indem auf zu viel Text und damit verbunden zu viel Lesen verzichtet wird. Das Lesen der Aufgabenstellung allein reicht für Abb. 2 Lösungsplan von Maaß (2018) ein Kind mit Hörschädigung häufig nicht aus, um die Aufgabe zu verstehen, und setzt höhere Frustrationstoleranz voraus. Der Einsteig mit dem Lehrkräften für den Anfangsunterricht entwickelt Begriff „Lesen“ erschien deshalb nicht optimal. wurde, kann schon im ersten Schritt eine Hürde enthalten, weil gerade das Lesen von Texten, die von Hörenden formuliert wurden, für Schü- 3.1.3 Modell Leiss und Tropper (2014) lerinnen und Schüler mit Hörschädigung proble- Der Lösungsplan des DISUM-Projektes von Blum matisch sein kann. Eine alternative Möglichkeit (2010) wurde im DISUM II-Projekt (2014) noch wäre, dass man das Lesen bewusst an den An- weiter präzisiert. Dieser Lösungsplan (Abb. 3) ent-
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S. Nordheimer und K. Eilerts und D. van der Velden
Abb. 3 Lösungshilfsplan aus DISUM II (Leiss und Tropper 2014, S. 33)
dieser Basis zu entwickeln. Dafür wurden die Begriffe „Aufgabe verstehen, Mathematik suchen, Mathematik benutzen, Ergebnis erklären“ mit Hilfe der deutschen Gebärdensprache und der Expertise von Gebärdendolmetscher/-innen1 entsprechend umgesetzt. Bei der Einführung des Modellierungskreislaufes sollte zunächst wenig verbal erklärt werden müssen. Die Schritte sollten möglichst selbsterklärend sein. Zum einen, da zu lange akustische Informationen vermieden werden sollten. Zum anderen sollten die Schritte auch im Arbeitsprozess mit wenig Textverständnis selbsterklärend zu nutzen sein. Ein mit Gebärden unterstützter Lösungsplan erfüllt diese Anforderung in besonderem Maße. Häufig werden im Arbeitsprozess die einzelnen Modellierungsschritte von den 3.2 Modellierungskreislauf Kindern auch intuitiv richtig verwendet. Dann biefür hörgeschädigte Schülerinnen tet es sich besonders an, die einzelnen Schritte erst und Schüler bei der Präsentation mit Kontext einer konkreten Die verwendeten Begriffe des Modellierungskreis- Modellierungssituation rückblickend und reflektierend zu besprechen. laufes (vgl. Abschn. 3.1.1 und 3.1.3) stellen nach intensiven Analysen der Autorinnen eine geeig- 1 Gebärdendolmetscher/-innen: Ulrike Steinseifer, Lena nete Grundlage dar, um erstmals einen Model- Brückmann & Tino Sell; Person auf den Fotos: Henrike lierungskreislauf für hörgeschädigte Kinder auf Falke. hält im Vergleich zu den beiden anderen Lösungsplänen passende Begriffe, die weniger problematisch und gut in Gebärdensprache zu übersetzen sind. „Suchen“ ist z. B. eine Gebärde die sich eindeutig übersetzen lässt und in die Alltagssprache der Kinder angelehnt ist. Die Symbole sind aber auch hier nicht aussagekräftig genug, um das Textverständnis zu unterstützen. Zudem ist auch hier wieder vergleichsweise zu viel Text, so dass man in der Praxis mit Hörgeschädigten sicher zunächst nur die Überschriften anbietet. Diese können ebenfalls als Arbeitsschritte zur Strukturierung der Präsentation von den Kindern genutzt werden.
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4
Entwicklung einer Lernumgebung für das mathematische Modellieren in einer inklusiven Klasse
Betrachtet man die Schritte des Modellierungskreislaufes aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler mit einer Hörschädigung, die kommunikative Barrieren mit sich bringen kann, so sind auf verschiedenen Stufen des Modellierungsprozesses mehrere Aspekte zu bedenken. Diese werden im Folgenden unter besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse der Kinder mit Hörschädigung beleuchtet. Daraus werden Modifikationsvorschläge für die bereits für hörende Gruppen entwickelte Lernumgebung „Punkte sammeln – Lohnt sich das?“ abgeleitet (vgl. Eilerts et al. 2018 in diesem Band). Hintergrund der Aufgabe ist, dass in der TV-Werbung und in Supermärkten regelmäßig Werbeaktionen anlässlich der Fußball EM bzw. WM starten und zum Sammeln von „Fan-Punkten“ animieren, die dann gegen Fan-Artikel (z. B. Fußball, Trikots, Kappen) oder Prämien (z. B. Freifahrtgutschein der Deutschen Bahn oder eine Kamera/ein Smartphone) eingetauscht werden können. Diese Werbeaktionen beinhalten ein reichhaltiges Angebot von „grundschultauglicher“ Mathematik, die im Mathematikunterricht aller Jahrgangsstufen zu fruchtbaren, anregenden und herausfordernden Modellierungsaktivitäten genutzt werden kann. Die Lernumgebung von Eilerts et al. (2018, in diesem Band) wurde anlässlich der Fußball-Europameisterschaft 2016 aktualisiert und im Weiteren an die Bedürfnisse der Schüler/-innen mit Hörschädigung angepasst. Ein Vorteil dieses Kontextes besteht darin, dass authentische Materialien (z. B. Sammelhefte, Flyer etc.) zum Einsatz kommen, in denen Fan-Artikel und Prämien nicht nur textuell, sondern auch durch Abbildungen illustriert werden. Um allen Schülerinnen und Schülern einen sicheren Rahmen bei der Erprobung zu geben, wurde die Lernumgebung um die Fragen: „Wie bekomme ich einen Fußball?“ bzw. eine andere Prämie fokussiert. Im Folgenden wird die Aufgabenmodellierung anhand des vierschrittigen
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Aufgabe verstehen,
Mathemak suchen (Weg finden)
Mathemak benutzen,
Ergebnis
Abb. 4 Gebärdenunterstützter Modellierungskreislauf
Modellierungskreislaufes (Abb. 4) für hörgeschädigte Kinder dargestellt. Aufgabe verstehen Die Entscheidung für den Einstieg durch eine konkrete fokussierende Frage, um die die Lernumgebung strukturiert wird, begründet sich durch die antizipierten Schwierigkeiten der Lernenden mit einer Hörschädigung. Denn wie bereits erwähnt, kann das Verständnis der Aufgabe dadurch erschwert sein, dass diese in der Laut- und Schriftsprache formuliert ist. Empirische Untersuchungen zeigen, dass Hörgeschädigte dazu neigen, Problemstellungen auch dann zu kategorisieren, wenn die Fragestellung nicht vollständig verstanden wurde (vgl. Solovjev et al. 1971, S. 201 ff.).
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Die Suche nach so genannten Schlüsselwörtern und ihre Verknüpfungen mit mathematischen Operationen führt dabei nicht immer zu einem geeigneten mathematischen Modell. So kann beispielsweise das Wort „mehr“ automatisch mit der Addition verknüpft werden, obwohl es im Kontext der Fragestellung keinen Sinn ergibt. Die syntaktische Struktur des Aufgabentextes kann Hörgeschädigte in einem stärkeren Maße als ihre hörenden Gleichaltrigen überfordern (vgl. Becker 2012a, S. 27; Dossche 2011, S. 130; Zevenbergen et al. 2001). Die in der Schriftsprache formulierten Texte können nicht nur für Kinder mit Hörschädigung Barrieren in der Kommunikation oder beim Anwenden von mathematischen Modellen verursachen (vgl. Nunes und Moreno 1997; Nordheimer und Brandl 2015; Dossche 2011). Dabei reicht die Reduktion der sprachlichen Hürden allein nicht aus, um diese Barrieren zu überwinden. Für viele Kinder ist eine Übersetzung in die Gebärdensprache oder zumindest unterstützende Gebärden hilfreich. Auch das Anknüpfen an konkrete Beispiele und unterstützende Visualisierungen der Sachverhalte können Abhilfe schaffen. Dossche (2011, S. 142) empfiehlt deshalb zunächst am konkreten Modell anzubahnen, was in den Handlungen und der Basissprache des Schülers bzw. der Schülerin, also in Laut- oder Gebärdensprache seine Entsprechung findet. Nolte und Engel (2004, S. 6) machen darauf aufmerksam, dass im Unterricht mit hörgeschädigten Kindern kompensatorisch eingesetzte Visualisierungen nicht selbst erklärend sind und erst in Kommunikation darüber ihr Bedeutungsinhalt für die Schülerinnen und Schüler explizit werden kann und muss. Dabei können sprachliche Unklarheiten durch das Miteinbeziehen des beteiligten (nicht immer bewussten) Kontextes kompensiert werden. Neben der laut- und schriftsprachlichen Formulierung ist es deshalb wichtig, eine zusätzliche Repräsentationsebene zu finden. Diese zusätzliche Repräsentationsebene ist in dieser Lernumgebung durch die Flyer (Abb. 5) und gut strukturierten Übersichten auf der entsprechenden Internetseite gegeben. Die Informationen sind kurz und prägnant. Die Produkte und Prämien werden als farbige
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Abb. 5 Flyer EM 2016
Bilder vorgestellt. Den entsprechenden Bildern werden Punkte und Gewichtsangaben in Gramm zugeordnet. Die Punkte sind darüber hinaus auf den Produkten abgebildet und können so abgezählt werden. Zusätzlich werden die Produktpreise den Schülerinnen und Schülern als Zuordnungen von Preisschildern zu den jeweiligen realen Produkten auf einem Extratisch angeboten. Diese Darstellung ist den Kindern aus den Kaufhäusern bekannt. Die Daten werden also gar nicht in Form von Texten oder Sätzen angeboten, sondern sind als Bilder mit Punktzahlen und Preisen angeordnet. So bleibt an dieser Stelle die Entschlüsselung der Texte oder Auseinandersetzung mit den Satzstrukturen erspart. Die Verständlichkeit der gewählten Aufgabe begründet sich demnach durch ihre Nähe zur Lebenswelt der Kinder und ihre klar strukturierte, visualisierte Präsentation. Die Flyer bieten darüber hinaus 1 bis 100 nacheinander geordnete Punktzahlen, auf denen die Punktzahlen markiert werden, die für die jeweiligen Prämien erforderlich sind. Die Kinder können auf dem Flyer also nicht nur eine symbolisch repräsentierte Zahl sehen, sondern, wie viele Punkte sie für eine Prämie brauchen und wie weit sie davon entfernt sind. Trotz der schriftsprachlichen Einfachheit ist die Aufgabe im Hinblick auf angebotene Datenmengen überbestimmt (vgl. Maaß 2009), das bedeutet, dass sie mehr Zahlenangaben enthält als zur Lösung der Aufgabe notwendig sind. Somit bedarf die Auswahl der Daten einer bewussten Entscheidung im Modellierungsprozess, weil die Flyer nicht nur Punkte, sondern auch andere Größenangaben wie beispielsweise Gewichte in Gramm
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rigkeiten genannt (vgl. Frostad 1996, S. 68; Nunes und Moreno 1998, S. 227; Knoors und Marschark 2014, S. 185; Dossche 2011; Frostad 1996; Becker 2012b). Um den Kindern eine Möglichkeit zu geben, trotz ihrer Andersartigkeit und der in der Fachliteratur beschriebenen Entwicklungsverzögerung auf ein breiteres Repertoire an mathematischen Modellen zurückzugreifen, wird die besondere Zusammensetzung im MatheTreff der HumboldtUniversität zu Berlin genutzt. Die Kleingruppen wurden nicht altershomogen, sondern jahrgangsübergreifend zusammengesetzt. So konnten die Fünft- und Sechstklässler beispielsweise sicheres Rechnen mit Dezimalbrüchen anbieten, während Erstklässler nur Addieren und Subtrahieren in dem Zahlenraum bis 10 bzw. bis 100 beherrschten. Eine Multiplikation war zu dem Zeitpunkt der Erprobung nicht allen Schüler/-innen bekannt. So mussten alle Kinder ihre mathematischen Kenntnisse und Fähigkeiten mobilisieren, um ein möglichst passendes Modell zu finden. Der durch ihr Alter und ihre Klassenstufe bedingte Vorsprung der Kinder mit Hörschädigung sollte ihnen die Möglichkeit geben, ihre kommunikativen Schwierigkeiten durch mathematische Expertise zu kompensieren, um mit den anderen über mathematische Modelle Mathematik suchen Ist die Entscheidung für eine Prämie gemeinsam ins Gespräch zu kommen und qualitativ zur Grupund begründet von den Gruppenmitgliedern ge- penarbeit beizutragen. troffen, kann nach mathematischen Werkzeugen bzw. Modellen gesucht werden. Was muss hier für Mathematik benutzen die Schülerinnen und Schüler mit Hörschädigung Kelly et al. (2003) beschäftigten sich mit den Probeachtet werden? Zahlreiche Autorinnen und Au- blemlösefähigkeiten hörgeschädigter Kinder und toren berichten, dass die Kinder mit einer Hörschä- stellten fest, dass diese kaum motiviert sind, readigung in der Entwicklung ihrer mathematischen litätsnahe Probleme in Textform zu lösen. Sie beKompetenzen hinter ihren hörenden Gleichaltri- richten auch, dass viele Lehrkräfte das Modelliegen liegen (vgl. Frostad 1996, S. 68; Nunes und ren von komplexen und authentischen Kontexten Moreno 1998, S. 227). Das betrifft nicht nur arith- ihren Schülerinnen und Schülern nicht zutrauen metische Fähigkeiten, sondern auch mathemati- und im Unterricht selten praktizieren. Als eine sche Problemlösekompetenz. Inzwischen besteht mögliche Erklärung dafür kann die Komplexiin der Hörgeschädigtenpädagogik ein breiter Kon- tät der schriftsprachlichen Formulierung der Mosens darüber, dass es nicht an den intellektuellen dellierungskontexte genannt werden. Kelly et al. Voraussetzungen der Kinder liegt, da diese sich (2003) unterstreichen zudem, wie wichtig es ist, grundsätzlich nicht von denen der Hörenden unter- den Hörgeschädigten vor allem Erfahrungen in der scheiden. Als eine der möglichen Ursachen wer- Repräsentation von Problemen und Wechsel der den in der Literatur die Kommunikationsschwie- Repräsentationsebenen zu ermöglichen. enthalten. Demzufolge müssen die Schülerinnen und Schüler eine bewusste Entscheidung treffen und nur die zum Modellieren nötigen Angaben auswählen. In diesem Punkt erfüllt die authentische Lernumgebung die Kriterien einer komplexen Modellierungsaufgabe in ihrem mathematischen Gehalt (vgl. Greefrath 2010), überfordert die Kinder jedoch nicht auf der schriftsprachlichen Ebene. Um die Kommunikation innerhalb der kleinen Gruppen zu fokussieren und somit zu erleichtern wird den Kindern innerhalb der Gruppe angeboten, sich auf eine Prämie zu einigen und gemeinsam eine Strategie zu entwickeln, um diese Prämie zu gewinnen. Schon das Einigen auf eine der verschiedenen Prämien (Ball, Rucksack oder Ähnliches) setzt Kommunikationsprozesse in Gang. Ein Argument für einen Ball wären das gemeinsame Fußball spielen. Auch ein Kühlrücksack kann für eine Kleingruppe eine begehrte Prämie darstellen, weil dort beispielsweise für jeden ein kühles Getränk mitgenommen werden kann, falls die Freunde zusammen Fußball spielen gehen. Das Argument „Man hätte, etwas kühles zum Trinken dabei.“ wurde tatsächlich von einem Schüler bei der Aufgabenerprobung gebracht.
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Auf der anderen Seite berichten empirische Untersuchungen, dass hörgeschädigte Schüler/ -innen beim Bearbeiten von Aufgaben, die von den Problemlösenden die Konstruktion von neuen Strukturen und Strategien erfordern, besondere Motivation zeigen, die sonst eher bei hochbegabten Schülerinnen und Schülern beobachtet wurden (vgl. Nolte und Engel 2004). Das sind Aufgaben, die nicht durch Übertragung von bekannten Strukturen auf neue Situationen gelöst werden können. Solovjev et al. (1971, S. 363 ff.) untersuchten wie Hörgeschädigte praktische Probleme lösen. Dabei unterscheiden sie zwischen „handlungsgebundenen“ und „arithmetischen“ Lösungsstrategien und berichten davon, dass es den Problemlösenden mit Hörschädigung meistens sehr gut gelingt, Probleme als eine Art szenischer Darstellung mit Gegenständen zu repräsentieren, um diese zu lösen. So wurden von einer untersuchten Lerngruppe in einer praktischen Problemlösesituation nur selten schriftliche Algorithmen angewandt. Die Kinder probierten vielmehr zu „handeln“, abzumessen oder zu schätzen, als schriftliche Rechenalgorithmen durchzuführen. Somit nutzen sie weniger die ihnen aus dem Unterricht bekannten mathematischen Modelle, sondern kreierten neue Lösungswege. Im Einklang mit dem oben Gesagten berichten Pagliaro und Ansell (2001), dass Menschen mit Hörschädigung aller Altersgruppen viel häufiger als ihre hörenden Gleichaltrigen das Zählen als Strategie zum Lösen von mathematischen Problemen anwenden. Dies könnte mit der Struktur der Gebärden für Zahlen zusammenhängen (vgl. Iversen 2009). Neben den Gebärden können die von den Kindern selbst oder von ihren Kommunikationspartnern/-innen entwickelten Gesten ihre Lern- und Problemlöseprozesse unterstützen, indem sie ihnen die Übergänge zwischen verschiedenen Repräsentationsebenen eines Problems oder zwischen verschiedenen Modellen erleichtern (vgl. Goldin-Meadow et al. 2012). Ein quantitativer Vergleich von hörenden und hörgeschädigten Kindern im Hinblick auf ihre mathematischen Kompetenzen und insbesondere
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Problemlösekompetenzen ist insofern problematisch, weil diese Herangehensweise sehr normativ ist und die Normsetzung sehr stark von den Hörenden dominiert ist. Deshalb wollen wir als hörende Wissenschaftler und -innen unsere hörgeschädigten Lernenden im Sinne von Gattegno (1987) nicht als Menschen wie wir es sind minus etwas Wichtiges sehen, sondern versuchen sie anzuerkennen als das, was sie sind: Menschen, die die Welt anderes als wir wahrnehmen und ein Universum an eigenen andersartigen Erfahrungen mitbringen. Insofern geht es uns hier primär nicht um schlechter oder besser, sondern um Andersartigkeit, der wir in einer konkreten Lernumgebung auf die Spur kommen möchten und von der wir uns nicht nur für hörgeschädigte Kinder neue Vermutungen und Einblicke in das mathematische Modellieren erhoffen. Auf der anderen Seite wollen wir die Barrieren, die in Kommunikation von hörenden und hörgeschädigten Menschen entstehen können, nicht ausblenden, sondern die besonderen Kommunikationsbedürfnisse beider Gruppen so gut wie es geht berücksichtigen. Ergebnis erklären Die Ergebnisse zu erklären kann für eine Person mit einer Hörschädigung noch schwieriger sein als die Aufgabe zu verstehen, weil es nun nicht nur darum geht einen fertigen Text zu entschlüsseln oder eine Situation zu erfassen, sondern darum die Ideen für das Gegenüber, das über grundsätzlich andere Kommunikationserfahrungen verfügt, verständlich zu artikulieren. Auf der anderen Seite erfordert es vom Team eine gewisse Sensibilität und Bereitschaft zur Kompensation der Höreindrücke, die nicht immer in der gleichen Perfektion angeboten werden können, wie bei hörenden Kindern (vgl. Becker 2012b, S. 102). Einer der wichtigen Prinzipien dabei ist die Antlitzgerichtetheit. Diese ermöglicht verzerrte unvollkommene Höreindrücke durch das Ablesen des Mundbildes zu kompensieren. Auch Mimik, Gestik und visualisierende Unterstützungen können das Kommunizieren erleichtern. Der Präsentation der Ergebnisse in der großen Gruppe, soll das Besprechen der Ergebnisse in kleinen Gruppen
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vorangehen, weil es so einfacher ist, sich auf die im klassischen Sinne fasziniert Peter und fesselt seine Aufmerksamkeit so, dass er manchmal auch Kommunikationspartner/-innen einzustellen. nach dem Stundenschluss nicht aufhören kann, mathematische Probleme zu lösen. In einer Gruppenarbeit sieht Peter für sich nicht so viele Vorteile 5 Umsetzung im MatheTreff – und äußert: „Es dauert es immer so lange!“ zwei Schülerbeispiele Der zweite Schüler Mourice geht in die 5. Wie Kommunikation um ein Modellierungspro- Klasse. Seine Stärke ist sein vielfältiger Schatz blem verlaufen kann, soll nun anhand von zwei an Kommunikationsmitteln. Mourice kann seine Kindern mit unterschiedlichen kommunikativen Ideen nicht nur in der deutschen Laut- und Schriftsprache, sondern auch in der Gebärdensprache Kompetenzen exemplarisch betrachtet werden. Peter ist zur Zeit der Studie 11 Jahre alt und äußern. Mourice hatte eine besondere Möglichkeit in der 6. Klasse. Er war fast zwei Jahre als sei- frühzeitig mit der Gebärdensprache aufzuwachne Hörschädigung diagnostiziert wurde. Bis dahin sen. Dies ist sicherlich nicht nur für seine kommugelang es ihm seine Hörschädigung so zu kompen- nikativen, sondern auch sozial-emotionalen und sieren, dass es seiner Umgebung nicht aufgefallen kognitiven Fähigkeiten von Vorteil (vgl. Becker ist. Mit zwei Jahren wurde er mit Hörgeräten ver- 2012a, S. 27). In der Schule werden die zwei beschriebesorgt, um sich zu verständigen nutzte er einzelne Worte und setzte viel Gestik und Mimik ein. Da in nen Schüler schwerpunktmäßig lautsprachlich und seiner Familie alle hörend sind und über Lautspra- nicht gebärdensprachlich-bilingual orientiert unche kommunizieren, lernte Peter Gebärdensprache terrichtet. Das bedeutet, dass die Lehrkräfte im erst in der Schule kennen. Noch bei der Einschu- Unterricht Lautsprache als primäres Kommunikalung fiel es Peter sehr schwer seine Gedanken tionsmittel einsetzen. Dabei werden einzelne Vound Gefühle auszudrücken. Durch zusätzliche ge- kabeln mit Gebärden begleitet bzw. unterstützt. zielte Sprachförderung im Deutschunterricht und Die Lehrkräfte sprechen also mit den Kindern anderen Fächern, aber insbesondere durch indivi- nicht Gebärdensprache, die wie eingangs erwähnt duelle Sprachtherapie entwickelt sich allmählich nicht nur ihre eigenen Vokabeln, sondern auch ihre Peters Laut- und Schriftsprache. Es fällt ihm je- eigene Grammatik und Syntax hat. Sie unterscheidoch immer noch nicht leicht, seine Lösungswege det sich deshalb grundsätzlich von der deutschen zu beschreiben und zu kommunizieren. Peter kno- Lautsprache. Die Verschiedenheit der Schülerinnen und belt gern mathematisch. Zudem kann er gut für sich selbst enaktive, ikonische und symbolische Schüler (exemplarisch durch Peter und Maurice Darstellungen zum Lösen von Problemen wäh- dargestellt) im Hinblick auf ihre kommunikatilen. Er kann diese Darstellungen auch wechselnd ven Kompetenzen begründet sich in dem vorlienutzen sowie selbst entwickeln. Jedoch stellt das genden Artikel dadurch, dass wir einerseits die sinnentnehmende Lesen und Erklären oder das Diversität der Schülerschaft mit einer HörschädiPräsentieren seiner Ergebnisse häufig eine beson- gung exemplarisch darstellen möchten. Gleichzeidere Hürde dar, die er aber durch viel Üben immer tig möchten wir auf das Potenzial von verschiebesser meistert. Die Situationen, in denen Peter denen Sprachsystemen oder Kommunikationsmitsich zu Wort meldet und gar nichts sagt, kommen teln einschließlich der speziellen Sprache der Maimmer seltener vor, und sind inzwischen fast nicht thematik als ein wichtiges Kommunikationsmitmehr mit Tränen oder Frustration verbunden. Ver- tel hinweisen. Wie insbesondere mathematische mutlich gerade weil die Kommunikation der Ideen Sprache kompensatorisch zur Kommunikation und Peter so viel Kraft kostet, mag er immer noch zum Lösen von außermathematischen Problemen lieber allein als in der Gruppe arbeiten. Mathe- gebraucht werden kann, werden wir im Folgenden matik mit einem einfachen Blatt Papier und Stift zeigen.
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Tab. 1 Übersicht über kommunikativen und mathematischen Kompetenzen der Schüler
Peter Mourice
Gebärdensprache
Lautsprache
Schriftsprache
Einzelne Vokabeln +++
+ ++
+ ++
Mathematische Kenntnisse und Fertigkeiten +++ (6. Klasse) ++ (5. Klasse)
Kommunikative Kompetenz + +++
+ kann mit viel Unterstützung und Ermutigung kommunizieren ++ kann mit wenig Unterstützung kommunizieren +++ kann kommunizieren
Gemeinsam bei den beiden Schülern ist, dass sie jeden Tag in der Woche von 8:00 bis 16:00 Uhr in der Schule für Hörgeschädigte verbringen und dort vor allem mit den Kindern kommunizieren, die in der Regel ebenfalls hörgeschädigt sind. Auch das pädagogische Personal stellt sich darauf ein. Darüber hinaus wird die Kommunikation durch die Raumakustik und Technik verbessert, so dass man in dem Zusammenhang vom Förderzentrum als „Schonraum“ sprechen darf. Das Verlassen dieses Schonraums für das Universitäre ist für die Kinder mit dem Überwinden von kommunikativen Hürden verbunden und fordert ein hohes Maß an Kompensations- und Problemlösefähigkeit. Tab. 1 gibt eine Zusammenfassung der kommunikativen und mathematischen Kompetenzen der beiden Schüler, deren Äußerungen und Ideen im weiteren Verlauf als Beispiele herangezogen werden.
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Auswertung: Modellieren in inklusiven Gruppen
Inwiefern in der Lernumgebung die Bedürfnisse der Hörgeschädigten berücksichtigt wurden, illustrieren die folgenden Beispiele in Bezug auf die oben genannten Kinder. Aufgabe verstehen Als der Flyer der Werbeaktion in der großen Einstiegrunde gezeigt wurde, haben sich viele Kinder gemeldet. Darunter einige mit Hörschädigung, was in einer relativ unbekannten raumakustischen Situation zeigt, dass der Kontext einen guten Einstieg darstellt. Peter hat sich darüber hinaus gemel-
det, um zu erklären, wie die Werbeaktion abläuft, konnte aber kein einziges Wort aussprechen. Auch die Unterstützung der Studierenden halfen ihm nicht, das, was er unbedingt sagen wollte, in Worte zu fassen. Nach einigen Minuten des Wartens gab er das Wort an ein weiteres hörgeschädigtes Kind ab, welches knapp, aber verständlich der ganzen Runde erklärte, wie die Aktion ablaufen könnte. Mourice versicherte durch die Nachfrage beim Nachbar, dass ihm nichts entgangen war. An dieser Stelle ist festzuhalten, dass der Kontext auf einer für alle Kinder zugänglichen Ebene repräsentiert werden konnte, es gelang aber nicht allen hörgeschädigten Kindern den Kontext verständlich für seine Mitschülerinnen und Mitschülern, die es noch nicht kennen, lautsprachlich zu beschreiben. Peter ist fest entschlossen von Anfang an mündlich zur Gestaltung der Situation beizutragen. Es gelang ihm aber an dieser Stelle noch nicht, sprachliche Äußerungen zu produzieren, die für die Mitschüler und -innen verständlich wären. Sein Wortschatz und seine Artikulationsschwierigkeiten hindern ihn also daran, einen konstruktiven mündlichen Beitrag in einer großen Gruppe zu äußern, obwohl er über das nötige Wissen verfügt. Mourice dagegen hält sich zu Beginn zurück bzw. meldet sich nicht zu Wort, da er sich erst an die Situation herantasten musste. Im Anschluss daran wurde der Gruppenarbeitsauftrag formuliert. Die Kleingruppen sollten sich nun auf eine Prämie einigen und nach Strategien suchen. Die Formulierung des Arbeitsauftrages wurde durch die Karten mit den darauf dargestellten Prämien unterstützt. Die Kinder wurden darauf aufmerksam gemacht, dass verschiedene Strategien zum Erreichen des angestrebten Zieles führen
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können. Zu dem präsentierten Modellierungskreislauf (Abb. 4) wurde an der Stelle nur ein kleiner Hinweis gegeben, um die Spanne der auditiven Aufmerksamkeit der Kinder kurz zu halten. Auf die einzelnen Schritte des Modellierungskreislaufs sollte während der Arbeitsphase genauer und in Bezug auf die konkrete Aufgabe eingegangen werden (vgl. Abschn. 4). Da die Aufgabe von den meisten Kindern schnell erfasst wurde, ging es in den Kleingruppen um die Teilfragen bzw. Strategien zum Lösen des Problems. Modell erstellen oder Mathematik suchen Um die Realisierbarkeit des Projektes zu prüfen, müssen Annahmen getroffen und Abschätzungen durchgeführt werden. Für die Preise mussten die Schülerinnen und Schüler Daten sammeln. Mourice und Peter versuchten das Verständnis der Fragestellung in ihrer jeweiligen Gruppe zu klären. Beide Kinder haben verschiedene mathematische Modelle vorgeschlagen, die sehr eng mit dem Realitätskontext verknüpft sind und nutzten anschauliche Darstellungen der Flyer. Beide griffen auf das Abzählen bzw. Abschätzen der Punkte zurück. Peter suchte als Modell die Multiplikation aus und Maurice gelangte zur Multiplikation über die Addition. Beide entschieden sich für die gleiche Genauigkeitsstufe und zwar für die zweistellige Dezimalzahlen als Preisangaben. Mathematik benutzen Peter (gelbe Gruppe) Die gelbe Gruppe besteht aus drei Kindern. Die Gruppe entscheidet sich als Prämie für den Unterschriftenball. Um diese Prämie zu bekommen, werden 70 Punkte benötigt. Daniel: „Wir kaufen einfach wo es die meisten Punkte gibt.“ Peter: „Nutella“ Daniel: „Wir brauchen . . . 100 Punkte . . . wir kaufen einfach 25 Nutella-Gläser.“ Auch wenn für den Ball nicht 100, sondern 70 Punkte zu sammeln sind, ist der Ansatz sinnvoll. Es gibt 4 Punkte für ein Glas Nutella. Daniel ist 8 Jahre und geht in die dritte Klasse. Er dividiert
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100 durch 4 im Kopf. Allerdings achteten weder Patrik noch Peter auf Daniel, obwohl er dies sogar mehrfach wiederholt. Da Daniel seine Idee nicht weiter erklärt, wird sein Ansatz nicht weiter gewürdigt. Peter: „Das geht nicht. Es muss genau 70 Punkte sein.“ Tatsächlich ist es auch so, dass für die Prämie, die die Gruppe gewählt hat, der Unterschriftenball, 70 Punkte benötigt werden. Peter rechnet dann für sich auf dem Zettel. Peter: „Also bei Kinderschokolade gibt es da so ein Sticker. Da brauch man aber 70 Stück. . . . dann kommt diese Aufgabe . . . und wie viel das da geht . . . 104 Euro 30 Cent (klatscht in die Hände) . . . bähm.“ Peter hat richtig gerechnet 70 1;49 C und sagt: „70 14,9 mal 10, weil 10 Stück in einer Packung sind.“ Er rechnet immer für sich und versucht es dann zu erklären. Jeder probiert alleine weiter und es wird noch überlegt, wie viele Nutella-Gläser benötigt werden. Dann ändert sich die Gruppenarbeit, in dem ein Ansatz an Kommunikation entsteht: Peter entwickelt die Idee mit dem Abzählen der notwenigen Nutella-Gläser auf dem Flyer. Seine bisherigen Rechnungen sind keine Kommunikationsgrundlage, sondern erst der Flyer. Patrik greift seine Idee auf und zählt auf der Punkteliste aus (jedes vierte Feld), wie viele Gläser Nutella benötigt werden. Peter: „17, da bekommt er noch keinen Ball, es fehlen 2 Punkte.“ Patrik folgt seiner Idee und stellt sie sogar später bei der Präsentation vor. Hier entsteht zum ersten Mal Kommunikation. Er erklärt richtig „18 mal 3,79 C ist 68,22 C“. Und dann hat er noch geschaut, wie viele das sind (zeigt auf die Punkte). Dies erklärt, warum er fälschlicher Weise noch mal 4 rechnet (siehe Plakat, Abb. 6). In der Gruppe zuvor gab es bis auf die beschriebene Situation keine Kommunikation. Somit gibt es auch keine Rückmeldung dazu, ob Peters Lösung sinnvoll ist; er rechnet nur für sich. Peter hat nicht nur Schwierigkeiten in der Gruppe zu sprechen, ihm gelingt es auch nicht, sich im Sitzkreis beim Einstieg und bei der Präsentation zu beteiligten.
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Abb. 6 Präsentationsplakat der gelben Gruppe
Lediglich kurzzeitig entsteht eine kommunikative Situation, wo Peter mit Patrik spricht und seine Idee erklärt. Patrik stellt dann Peters Idee für ihn bei der Präsentation vor. Patrik wird zum Sprachrohr für Peter, dem die Kommunikation nicht gelingt. Bei seinem Strategiewechsel, dem Abzählen der benötigten Gläser, greift er das zählende Rechnen auf. Hier fühlt er sich sicher und kann vielleicht deshalb diese Strategie auch Patrik erklären. Es ist für ihn eine Rückgriff auf Bekanntes im elementaren mathematischen Bereich (Jahrgangsstufe 1). Auf dieser Grundlage gelingt ihm dann auch mathematisch der Schritt zum schriftlichen Multiplizieren mit Dezimalzahlen, was nach dem Berliner Rahmenlehrplan den Inhalten den Jahrgangsstufen 5/6 entspricht (vgl. Pagliaro und Ansell 2001). Zudem nutzt er hier auch eine eigene Visualisierung, indem er auf dem Flyer die entsprechenden Punkte farbig markiert (Abb. 6). Mourice (grüne Gruppe) Die grüne Gruppe besteht aus zwei Kindern, die sich als Prämie den Kühlrucksack mit 85 Punkten ausgesucht haben. Auch wenn man bei zwei Kindern nur ansatzweise von einer Gruppenarbeit sprechen kann, so ist es für Mourice in der gegebenen Situation zunächst die einzige Möglichkeit zu kommunizieren, da er das Mundbild des Gegenübers zur Interpretation der Höreindrücke braucht. Bei der Betrachtung eines Ausschnitts des Posters (Abb. 7) fällt im Vergleich zu den anderen Gruppen auf, dass hier keine Rechnung zu finden ist. Hier wurden dafür die verwendeten Rechen-
Abb. 7 Präsentationsplakat der grünen Gruppe
arten und die genutzten Produkte festgehalten. Mourice: „Dann haben wir gemeinsam gerechnet und überlegt: Mal, Plus, Minus? Na ja, Minus nicht. Dann haben wir uns überlegt Mal und Plus passt und wir haben gemerkt, dass Mal schneller geht. Beim Plus muss man mehr schreiben als bei Mal, bei Mal weniger.“ Wie Mourice selber beschreibt, haben beide zunächst die mehrfache Addition als Lösungsmöglichkeit gesehen. Woraus Mourice dann aber die Multiplikationsaufgabe ableitet. In der Präsentation weist er dann auch darauf hin, dass Mal schneller geht. Mathematisch blickt Mourice hier weit zurück, er sichert sich über die mehrfache Addition (Jahrgangsstufe 2) ab, um dann zum Multiplizieren von Geldbeträgen (Jahrgangsstufe 5) zu wechseln. Genau wie Peter bezieht er sich auf Bekanntes aus dem elementaren mathematischen Bereich. Mourice nutzt in diesem Zusammenhang aber auch noch eine weitere Unterstützung, er nutzt Gebärden und zählt so parallel ab. Somit verwendet er gleichzeitig drei Medien: Laut-, Schriftsprache und Gebärden für Zahlen. An dieser Stelle nimmt er die Gebärde auch zur Visualisierung (Abb. 8). Auch an einer anderen Stelle
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Abb. 8 Lernumgebung mit Gebärden zur Visualisierung
Abb. 9 Säulendiagramm
greift Mourice auf eine Visualisierung als Hilfe zurück. Es ist die einzige Gruppe die eine Grafik auf dem Plakat verwendet hat. Schon zu Beginn der Gruppenarbeit hat Mourice eine grafische Lösung vor Augen und erläutert sein Säulendiagramm. Die Gruppe ist in der Zeit nicht fertig geworden, bietet aber einen Ansatz einer grafischen Lösung an (Abb. 9). Insgesamt sprechen sich Mourice und Farina bei der Bearbeitung der Aufgabe effektiv ab. Ergebnis erklären Eine Reflexion war möglich, da die ausgedruckten Schritte des Modellierungskreislaufes die Strukturierung der Präsentation ermöglicht haben. Mourice (grüne Gruppe) Obwohl das Plakat (Abb. 10) wenig Informationen enthält, auch keine Rechnung oder ein mathematisches Ergebnis schriftlich fixiert wird, halten sie eine sehr wichtige und interessante Erkenntnis fest, nämlich, dass das Produkt teurer wäre, als wenn sie das Original kaufen würden. Da-
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Abb. 10 Ausschnitt aus dem Präsentationsplakat der grünen Gruppe
mit wird das Ergebnis verifiziert. Mourice liefert hier eine praktische Lösung mit Alltagsbezug und zieht direkte Schlüsse für eigenes Handeln. Er stellt das Ergebnis (Ziel) in einen Kontext, der über die Werbeaktion hinausgeht, dar: „Wir haben herausgefunden, dass die Produkte teuer sind, als wenn wir diese kaufen.“ In dem Fall spricht das Kind wirklich „teuer“ und nicht „teurer“, weil die Höreindrücke der beiden Wörter sich kaum unterscheiden. Die Kinder mit einer Hörschädigung hören beispielsweise auch nicht immer den Unterschied zwischen „kongruent“ und „Kongruenz“, so sprechen und schreiben sie manchmal auch. Peter (gelbe Gruppe) Bei der Präsentation erläutert Patrik, wie Peter die Anzahl der benötigten Nutella-Gläser ermittelt hat, nämlich mit 4er-Schritten (Abb. 11). Peter beteiligt sich verbal gar nicht an der Präsentation. Patrik ist somit sein Sprachrohr. Da sonst wenig in der Gruppe kommuniziert wurde, geht keiner auf das falsche Ergebnis von Peter ein. Es findet damit keine Validierung statt. Hier zeigen sich Auswirkungen von Peters Kommunikationsschwierigkeiten, die er ansatzweise durch Rückgriff auf elementarmathematische Strategien zu überwinden versucht. Es gelingt ihm noch nicht über die seinem Alter und mathematischen Fachkompetenz entsprechenden Niveau mit seiner Gruppe zu kommunizieren, um seine Lösungen zu reflektieren. Er löst sich von der Realität ab und flüchtet gern in die Welt der Mathematik und nutzt dies, um seine kommu-
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S. Nordheimer und K. Eilerts und D. van der Velden
er ausgehend von der Frage für ihn interessante und anspruchsvolle mathematische Fragestellungen, die keine passenden Modellierungen waren und dennoch punktuell Kommunikationsanlässe schaffen konnten.
Abb. 11 Ausschnitt aus dem Präsentationsplakat der gelben Gruppe
nikativen Misserfolge auf der emotional-sozialen Ebene zu kompensieren. Hier hat er seine Erfolgserlebnisse, ohne mit Menschen zu kommunizieren. Es gibt aber so keine direkte Rückmeldung ob seine Überlegungen/Ergebnisse mathematisch richtig sind.
7 Fazit Die Ergebnisse zeigen exemplarisch, dass es beiden Schülern gelingt, erfolgreich an dem Modellierungskreislauf teilzunehmen. Dabei lässt sich der Erfolg nur in Bezug auf die kommunikativen Voraussetzungen deutlich machen. Aufgabe verstehen Dies war nur deshalb möglich, weil die Hörgeschädigten keine Probleme beim Verstehen der Aufgabe hatten, sondern wie die spätere Gruppenarbeit zeigte, eher noch den anderen Kindern die Aufgaben erklärten. Mathematik suchen Beim Suchen von Mathematik bemühten sich hörgeschädigte Kinder noch stärker als ihre hörenden Mitschüler und Mitschülerinnen um praxisnahe und realistische Lösungen. Dies bot eine sichere Kommunikationsgrundlage zum Treffen von Verabredungen und erlaubte es ihnen, mathematische Zusammenhänge zu erkennen und gemeinsam Vermutungen zu entwickeln. Auch wenn Peter den Realkontext aus den Augen verlor, fand
Mathematik benutzen Beim dritten Schritt „Mathematik benutzen“ stellen wir bei Kindern mit Hörschädigung eine Tendenz fest, auf elementare Rechenstrategien zurückzugreifen, um dann in die altersentsprechenden mathematischen Modelle (z. B. Multiplizieren mit Dezimalzahlen) einzusteigen. Erst danach bearbeiten sie mathematische Aufgaben erfolgreich gemeinsam. In Abhängigkeit von der sprachlichen Kompetenz und Kommunikationsstrategien können die Kinder mit Hörschädigung die Lösungswege anderer verstehen und darüber reflektieren. Aber alle Kinder haben nach unterschiedlichen Möglichkeiten der Kompensation und auf visuelle Darstellungen (Flyer, Tabellen, Gebärden) zurückgegriffen. Ergebnis erklären Beim Erklären von Ergebnissen im Plenum, an dem hörende und hörgeschädigte Kinder beteiligt sind und ohne Dolmetscher begleitet werden, wird wieder sehr stark Lautsprachkompetenz gefordert. Dies entspricht noch nicht dem Kompetenzniveau von Peter und wird in dem Fall auf der sozialen Ebene durch seine Gruppenmitglieder kompensiert. So gelingt es den Schülern, ihre eigenen Vorgehensweisen zu beschreiben, Lösungswege anderer zumindest teilweise zu verstehen, darüber zu reflektieren und mathematische Aussagen zu prüfen. Die Schritte des Kreislaufs helfen den Kindern mit Hörschädigung, die Präsentation zu strukturieren und zu gliedern, so dass sie sich in die Präsentation einbringen können. Während Mourice zwischen verschiedenen Sprachen und visuellen Unterstützungsmitteln gut wechseln und somit seine Hörschädigung erfolgreich kompensieren kann, macht Peter seine Fortschritte, indem er einen elementaren Ansatz an eine Kommunikationspartnerin weitergibt, so dass seine Ideen stellvertretend im Plenum präsentiert werden.
Wann ist das Sammelheft voll? – Kommunizieren und Argumentieren in inklusiven Gruppen
Anhand der in diesem Aufsatz dargestellten Untersuchung zeigt sich exemplarisch, dass Kinder mit Hörschädigung in der Lage sind mit diesem für sie entwickelten Modellierungskreislauf (Abb. 4) ein komplexes Probleme erfolgreich in Kleingruppen zu bearbeiten. Weitere Untersuchungen anhand anderer Modellierungsaufgaben und mit weiteren Schülerinnen und Schülern müsste diese These noch bestärken.
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Modellierungspotenzial problemhaltiger Textaufgaben Renate Rasch und Nina Sturm
Zusammenfassung
Problemhaltige Textaufgaben werden nicht zum Selbstzweck in den Mathematikunterricht einbezogen. Das übergeordnete Ziel besteht unter anderem darin, diese Aufgabengruppe im Mathematikunterricht der Grundschule zu etablieren und durch die Auseinandersetzung mit problemhaltigen Aufgaben das mathematische Verständnis der Schülerinnen und Schüler anzuregen und bestenfalls zu erweitern (vgl. Stern 2005, S. 141). Im Mittelpunkt unserer Unterrichtsforschung zu Textaufgaben steht die Befähigung der Grundschulkinder Lösungsunterstützungen selbst zu generieren (vgl. Rasch 2008, 2009, 2015; Sturm 2015, 2018). Repräsentationen wie z. B. Skizze, Tabelle, Zeichnung sind hilfreich beim Modellieren. Ein Training dieser Darstellungsformen führt zu einer positiven Leistungsentwicklung bezüglich des Lösungserfolgs und der Problemlösekompetenzen.
1 Problemhaltige Textaufgaben Innermathematische Zusammenhänge, die der Experte zu Gleichungen bzw. zu einem Gleichungssystem führen kann, prägen problemhaltige Textaufgaben. Da die Lösungsebene „(algebraische) Gleichungen“ für Grundschulkinder noch nicht erreicht werden kann, lösen sie problemhaltige
R. Rasch Universität Koblenz-Landau, Landau, Deutschland N. Sturm B Institut für Mathematik, Universität Koblenz-Landau, Landau, Deutschland
Textaufgaben, indem sie neben ihren Rechenfertigkeiten auch mathematische Zusammenhänge und Zahlbeziehungen erkennen und nutzen. Der Ausschnitt aus der Realität, der den Textaufgaben zugrunde liegt, ermöglicht häufig die genannten mathematischen Aktivitäten erst, die auf formaler Ebene für Grundschulkinder nicht zu leisten wären. Innermathematisches Modellieren auf der Grundlage des in der Aufgabe dargestellten Realitätsausschnittes macht vor allem den Modellierungsgehalt problemhaltiger Textaufgaben aus. Eine typische problemhaltige Textaufgabe ist die folgende Vergleichsaufgabe: Leo und Lea spielen mit Murmeln. Leo hat 4 Murmeln mehr als Lea. Zusammen haben sie 20
K. Eilerts, K. Skutella (Hrsg.), Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht 5, Realitätsbezüge im Mathematikunterricht, DOI 10.1007/978-3-658-21042-7_8, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
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R. Rasch und N. Sturm
Murmeln. Wie viele Murmeln hat Leo? Wie viele Murmeln hat Lea? (vgl. Rasch 2001)
Beim Lösen dieser Aufgabe gehen Grundschulkinder häufig von der Hälfte der Murmelmenge aus. Der rein rechnerisch zu ermittelnde Start kann durch das Nutzen des Zusammenhangs, dass vier Unterschied zwischen beiden Vergleichsmengen erreicht werden kann, indem die eine Menge um zwei vergrößert und die andere Menge um zwei verringert wird, weitergeführt werden. Dieser Zusammenhang (Konstanzgesetz der Summe) ist nur für wenige Schülerinnen und Schüler sofort sichtbar. Zu erwarten ist eher, dass weitergerechnet wird mit den Zahlen, die die Aufgabe „nahelegt“ und so beide Teilmengen mit vier ausgeglichen werden. Eine der beiden in der Aufgabe genannten Bedingungen (Summe 20, Differenz 4) gerät im Verlauf des Lösens häufig aus dem Blick und der Lösungserfolg bleibt aus. Alle problemhaltigen Textaufgaben beinhalten Anforderungen, die auch typischen Modellierungsaufgaben zugeschrieben werden. Wie das Aufgabenbeispiel zeigt, erfordern problemhaltige Textaufgaben eine Lösungskonstruktion und fragen nicht nur fertiges Wissen ab. Sie lassen mehrere Lösungswege zu und unterstützen dadurch innere Konstruktionsprozesse (vgl. Schukajlow 2011, S. 73 f.).
2 2.1
Ein Modellierungskreislauf für problemhaltige Textaufgaben
2.2
Modellierungskreislauf
Der Zusammenhang zwischen Realität und Mathematik wird häufig idealisiert in einem Modellierungskreislauf dargestellt. In den letzten Jahrzehnten wurden die verschiedensten Modellierungskreisläufe entwickelt. In der Mehrzahl sind die Kreisläufe in ähnlicher Weise gegliedert. Einer der ersten Modellbildungskreisläufe von Blum (1985) umfasst vier Phasen: die reale Situation, das reale Modell, das mathematische Modell und das mathematische Resultat (vgl. Blum 1985, S. 200). Das reale Modell oder Realmodell ist noch der Realität verhaftet, hat aber schon Modellcharakter, da nur solche Aspekte berücksichtigt werden, die dem Betrachter wichtig erscheinen. Der Schritt vom Realmodell zum mathematischen Modell bedeutet eine Übersetzung in die formale Sprache der Mathematik. Hohn (2012) hat in Ihrer Dissertation für eine Untersuchung zu selbstgenerierten Repräsentationen bei problemhaltigen Textaufgaben den Modellbildungskreislauf von Verschaffel et al. (2000) zugrunde gelegt (Abb. 1). Da die Autoren auch einfache Textaufgaben mit diesem Kreislauf analysieren, scheint er als Grundlage für die problemhaltigen Textaufgaben mit ihrer eher bescheidenen außermathematischen Basis geeignet (vgl. auch Schukajlow 2011, S. 79). Im Unterschied zu anderen aktuell genutzten Kreisläufen wird nicht noch einmal zwischen Situationsmodell und Realmodell unterschieden (vgl. z. B. Modellierungskreislauf aus Blum und Leiss 2007).
Modellbegriff 2.3
Ein mathematisches Modell kann in Worten, Symbolen, Graphiken dargestellt werden. Das Modellbilden wird mitunter beschrieben als kreativer Akt, aber auch als kompliziertes Unternehmen, das an das Vorwissen des Lösenden gebunden ist (vgl. Winter 1985, S. 31). In einem Modell werden in der Regel bestimmte Merkmale der Sachsituation hervorgehoben, andere ausgeblendet. Die Situation wird mit dem auf diese Weise gefundenen mathematischen Modell beschrieben und bearbeitet (vgl. Greefrath 2010, S. 44).
Modellierungsphasen – Besonderheiten bei problemhaltigen Textaufgaben
Die Textaufgabe repräsentiert die Ebene der sogenannten realen Welt. Der Lösungsprozess einer Textaufgabe beginnt mit dem Lesen der Aufgabenstellung. Die in der Aufgabe beschriebene Situation muss von den Lösenden zunächst verstanden werden, ein Situationsmodell wird konstruiert. Die im Situationsmodell enthaltenen Informationen werden im Hinblick auf die Aufgabenlösung
Modellierungspotenzial problemhaltiger Textaufgaben
101
Abb. 1 Modellierungskreislauf nach Verschaffel et al. 2000, S. 134
vereinfacht, auf lösungsrelevante Informationen reduziert, strukturiert, präzisiert und letztendlich mathematisiert und dadurch in ein mathematisches Modell überführt. Das Resultat wird mit mathematischen Verfahren berechnet. Das Ergebnis wird in einem nächsten Schritt interpretiert und schließlich evaluiert, also in Bezug zum Situationsmodell gesetzt. Während das Situationsmodell in der Regel mental repräsentiert wird, sind für das Erreichen eines mathematischen Modells häufig externe Repräsentationen hilfreich (vgl. auch Hohn 2012, S. 71 f.). Die Kontexte bei problemhaltigen Textaufgaben sind komplex. Je nachdem, wie vollständig die Situation von den Lösenden aufgenommen werden kann bzw. welches Vorwissen sie besitzen, werden beim Konstruieren des Situationsmodells unterschiedliche Zielvorstellungen genutzt, die zu verschiedenen mathematischen Modellen führen (vgl. Rasch 2016). Die Art des mathematischen Modells ist auch von den Repräsentationsfähigkeiten des Kindes abhängig (vgl. Franke und Ruwisch 2010, S. 70; Schnotz et al. 2011, S. 249). Damit bei Textaufgaben eine Problemlösung möglich wird, muss der Schüler bzw. die Schülerin die darge-
stellte Situation möglichst vollständig und präzise rekonstruieren (vgl. Aebli 1980, S. 71). Dabei bewegen sich die Lösenden wahrscheinlich in drei Medien: zum Teil in einem sprachlichen, zum Teil in einem anschaulich-bildhaften, vielleicht auch im Medium des innerlichen Handelns. Das Ziel ist, mathematische Operationen zuzuordnen. Wie diese anspruchsvollen Prozesse von den Schülerinnen und Schülern bewältigt oder auch nicht bewältigt werden, verdeutlichen die im Folgenden aufgeführten Lösungsbeispiele von Viertklässlerinnen und Viertklässlern. 42 Kinder nahmen an der Studie teil.
3 3.1
Modellierungsprozesse von Viertklässlern – Fallbeispiele Entwickeln eines Situationsmodells
Die Lösungsüberlegungen von Viertklässlern zu der folgenden Textaufgabe (vgl. Winter 1985, S. 7; Rasch 2001, S. 99, S. 127) belegen eindrücklich, wie bedeutsam ein präzises und vollständiges Situationsmodell für das Erstellen eines mathema-
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R. Rasch und N. Sturm
Abb. 2 Modellbildung zur Zugaufgabe aus Rasch 2008, S. 80
tischen Modells ist und welche Rolle die Reprä- reits gelöst hatten, noch einmal auswählen konnsentationsfähigkeiten dabei spielen. ten. In den Lösungsdialogen zur Zugaufgabe wurAuf einem Bahnhof fahren zur gleichen Zeit zwei de bei den leistungsschwächeren Kindern deutZüge ab. Sie fahren in entgegengesetzte Richtungen. lich, dass sich auch beim wiederholten Lösen die Der eine fährt pro Stunde 80 km, der andere fährt Modellierungskompetenz für diese Aufgabe nicht pro Stunde 60 km. Wie weit sind die beiden Züge verbessert hatte. Die Hürde bestand wiederum in nach eineinhalb Stunden voneinander entfernt? Die leistungsstärkeren Kinder bauten das Si- der Erstellung eines adäquaten Situationsmodells. tuationsmodell ohne größere Probleme auf und Die beim ersten Lösen zu Beginn des vierten kamen in der Regel mit Hilfe einer Skizze zum Schuljahres erfolgreichen Schülerinnen und Schümathematischen Modell. Andere fitte Kinder be- ler konnten sich gut an die von ihnen genutzten nötigten auch die Skizze nicht und konzipierten Repräsentationsformen (in der Regel Skizzen, vgl. und lösten die zu bewältigenden Schritte im Kopf. Abb. 2) erinnern. Das damals entwickelte matheFür leistungsschwächere Schülerinnen und Schü- matische Modell wurde mental genutzt, um das ler war die mentale Repräsentation eines adäqua- Situationsmodell korrekt zu reproduzieren. Einige ten Situationsmodells die Herausforderung. Das der Schülerinnen und Schüler mussten das Situagedankliche Verbinden von Richtungen und Ge- tionsmodell nicht erneut aufbauen, sie konnten schwindigkeiten gelang in der Regel nicht. Die sofort nach dem Lesen dank ihres guten Vorwisfolgende Lösungsdarstellung eines Viertklässlers sens zur Aufgabe zum mathematischen Modell ist ein Beispiel für eine erfolgreiche Modellbil- übergehen wie in Tab. 1 zu sehen ist (vgl. Rasch 2001, S. 127). dung (Abb. 2). Am Ende der vierten Klassenstufe gehörte die Weitere Dialoge zwischen leistungsstarken dargestellte Aufgabe zu einem Aufgabenpool, aus Schülerinnen und Schülern zeigten Ähnliches. Die dem sich die Viertklässler beim Lösen mit einem Kinder konnten das Situationsmodell aufbauend Partner Textaufgaben, die sie im 4. Schuljahr be- auf ihrem Vorwissen zur Aufgabe entwickeln und Tab. 1 Dialog leistungsstarker Schüler Dialog zwischen leistungsstarken Schülern L für Ludwig, M für Martin L: (nach einem kurzen Blick auf die Aufgabe begann er schnell für sich zu sprechen) Also, eine Stunde ist 60 und 80. . . . Da war 40, wären 70 und 60, . . . 30 und das wären 13, 21 . . . 210. (1 min) M: Wie hatte ich das jetzt gemacht? Bist du schon fertig? L: Ich bin fertig, ja, es ist 210. M: Wie hast du’s gemacht? L: 80 und 60 und die 80 und 60 geteilt und dann plus gerechnet. M: Wir müssen doch gemeinsam rechnen (hatte inzwischen eine Skizze begonnen) L: Ja, rechne doch einfach nur mit Zahlen.
Interpretation Ludwig konnte sich scheinbar an die Situation gut erinnern, entwickelte nach kurzer Überlegung sofort das mathematische Modell und ermittelte die korrekte Lösung. Auch Martin erinnerte sich (Wie hatte ich das jetzt gemacht?), aber zunächst nur an die Repräsentationsform (die Skizze), die er genutzt hatte. Da Ludwig sehr schnell und ausschließlich auf der symbolischen Ebene löste, hatte Martin nicht genug Zeit das Situationsmodell aus der Erinnerung heraus aufzubauen. Dies wäre ihm sonst sicherlich im Zusammenhang mit seiner Skizze gelungen. So fragte er immer wieder bei Ludwig nach dessen Überlegungen, um beim gemeinsamen Lösen den Anschluss zu halten. Ludwig zeigte wenig Verständnis für die zeitraubende Skizze seines Partners und empfahl ihm das eigene mathematische Modell.
Modellierungspotenzial problemhaltiger Textaufgaben
103
Tab. 2 Dialog leistungsschwacher Schüler Dialog zwischen leistungsschwachen Schülern W für Wolfram und M für Maria . . . einige Minuten nach dem Lösungsstart W: Na, ja, wir malen’s lieber auf, so spielen, das kann ich nicht so gut. Ich mal’ erst mal zwei Strecken, da ein Bahnhof, da ein Bahnhof (Wolfram zeichnete zwei zueinander parallele Strecken und skizzierte jeweils an den beiden Endpunkten einen Bahnhof.). M: (legte die gleiche Skizze wie Wolfram an) Hier ist der langsame Zug und hier ist der andere. . . . W: (auf die Skizze zeigend) Wie machst du jetzt, von da nach da oder von da nach da? M: Der nach hier und der nach hier (ließ beide in eine Richtung fahren). W: O. K., ich hab’s auch so gemacht. W: Was müssen wir eigentlich noch ausrechnen? Also, der ICE ist doch schon am Ziel, also, wie sie da entfernt sind.
Interpretation Die Kinder verließen die anfangs gewählte handelnde Ebene (Operieren mit Stiften) und suchten nach der inhaltlichen Klärung der Situation mit Hilfe einer Skizze. Da sie die Richtungen falsch zuordneten, entstand auch durch diese Bemühungen kein korrektes Situationsmodell. Die Lösungsdiskussion zeigt, dass es den Kindern ausgehend von ihrem fehlerhaften Situationsmodell nicht gelingen kann, sich bis zu einem mathematischen Modell vorzuarbeiten.
sich an die Repräsentationsform, an der sie dieses externalisiert hatten, erinnern. Anders war die Lösungssituation für leistungsschwächere Kinder und solche mit durchschnittlicher Leistungsfähigkeit. Diese Schüler mussten in der Regel das Situationsmodell noch einmal vollständig neu aufbauen und dies war für sie ebenso schwierig wie zum ersten Lösungszeitpunkt. Während sich die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler an die Repräsentationsform erinnern konnten, die sie zur Unterstützung der Denkprozesse genutzt hatten, standen den Leistungsschwächeren solche Gedächtnisstützen nicht zur Verfügung. Bei der zugrundeliegenden Studie arbeiteten die Kinder beim ersten Lösen in Kleingruppen zusammen (vgl. Rasch 2001, S. 72 f.). Die Analyse der Modellierungskompetenzen lässt vermuten, dass in der Gruppe erarbeitete Lösungswege nicht alle Schülerinnen und Schüler in gleicher Weise verinnerlichen. Die Schwächeren waren an den Lösungsprozessen beteiligt, aber sie bauten die Situationsmodelle in der Regel nicht selbst auf und gingen vielfach auch den Weg zum mathematischen Modell mit der Hilfe der anderen. Situationsmodell und mathematisches Modell wurden ihnen dadurch scheinbar weniger bewusst und waren deshalb nicht so im Gedächtnis verankert wie bei den aktiv an der Lösungskonstruktion beteiligten Kindern.
Die Schülerin und der Schüler, deren Dialogausschnitt in Tab. 2 zu sehen ist, scheiterten bei der Entwicklung eines Situationsmodells, brachen die Lösungssuche nach acht Minuten ab und wählten eine andere Aufgabe aus (vgl. Rasch 2001, S. 130 f.). Bei der Analyse der Modellierungskompetenzen der weniger erfolgreichen Lösungsgruppe wird deutlich, dass es diesen Kindern bei problemhaltigen Aufgaben schwer fiel, die für die Lösung wesentlichen Aspekte in ein Situationsmodell zu integrieren. Die Lösenden stellten häufig lösungsirrelevante Details in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen (vgl. auch Treilihs et al. 1980). Lediglich die Oberflächenstruktur der Aufgabe wurde wiedererkannt. Die für die Lösung relevanten Zusammenhänge und Strategien konnten nicht erinnert werden. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass für die Bewältigung problemhaltiger Textaufgaben zunächst das Erzeugen eines adäquaten Situationsmodells notwendig ist. Das Situationsmodell wird mental repräsentiert, kann aber vervollständigt und präzisiert werden durch das Nutzen externer Darstellungen, zum Beispiel durch eine Skizze. Der Einsatz einer geeigneten Repräsentationsform kann das Verstehen der Situation unterstützen und ist darüber hinaus ein wichtiges Element auf dem Weg zum mathematischen Modell (vgl. Rasch
104
R. Rasch und N. Sturm
2016). Die Lösungsdialoge im betrachteten Beispiel zeigen, dass Repräsentationsformen, die von den Lösenden selbst erzeugt werden, besonders gut im Gedächtnis bleiben.
3.2
Selbstkonstruierte Repräsentationen bei der Entwicklung mathematischer Modelle
Auf der zweiten Stufe des Modellierungsprozesses wird das Situationsmodell in ein mathematisches Modell übersetzt. Die lösungsrelevanten Informationen und ihre Relationen zueinander müssen identifiziert und mathematisch korrekt aus-
gedrückt werden (vgl. Schukajlow 2011, S. 80). Allgemein wird davon ausgegangen, dass externe Repräsentationen die kognitiven Prozesse unterstützen. Die Externalisierung mentaler Prozesse, bspw. durch das Aufschreiben einer Rechnung oder das Anfertigen einer Skizze, führt zu einer Entlastung des Arbeitsgedächtnisses (vgl. Sweller et al. 1998; Sweller 2005; Schnotz und Kürschner 2008), wodurch das Individuum Kapazitäten gewinnt, die für die Problemlösung verwendet werden können (vgl. Hohn 2012, S. 29). Nachdem eine Repräsentationsform für ein mathematisches Modell gefunden wurde, geht es beim Lösen darum, Schlussfolgerungen aus diesem Modell in Form von mathematischen Ergebnissen zu ziehen. Beispielhaft sollen an der fol-
Tab. 3 Mathematische Modelle von Grundschulkindern Konstruktion eines mathematischen Modells
Interpretation Die Repräsentation des Problems und damit ein korrektes mathematisches Modell gelangen nur zum Teil. Der Schüler erkannte, dass man sich nicht selbst die Hand gibt. Sein Modell bringt allerdings nicht zum Ausdruck, dass sich zwei Personen nur einmal die Hand geben.
Die Schülerin entwickelte ein mathematisches Modell, das ihr sozusagen das Ablesen der Lösung gestattete. Sie stellte die Kinder in ihrer Skizze einander gegenüber und die dadurch entstandene geometrische Lösung (Anzahl der Seiten und Anzahl der Diagonalen) führte zum korrekten mathematischen Ergebnis. Das Besondere: Es ist ein mathematisches Modell, das für diese Art Problemstellungen immer wieder genutzt werden kann.
Durch die tabellenartige Übersicht fand die Schülerin die richtige Anzahl der Zuordnungen. Auch das Modell dieses Kindes kann auf ähnliche Aufgabenstellungen übertragen werden.
Modellierungspotenzial problemhaltiger Textaufgaben
genden kombinatorischen Aufgabe die von Grundschulkindern erzeugten mathematischen Modelle, die mehr oder weniger sicher zu einem korrekten mathematischen Ergebnis führen, betrachtet werden.
105
on mehr Repräsentationen konstruieren als zuvor. Hierzu wurde einmal wöchentlich die Bearbeitung und Thematisierung einer problemhaltigen Textaufgabe in den Mathematikunterricht integriert. Die Unterrichtsstunden zeichneten sich dadurch Es ist langweilig, jammert Momo. Löse ein Rätaus, dass sie die Lernenden befähigten und mosel, sagt die Mama: tivierten, entsprechend ihren individuellen FähigWenn sich Anke, Birgit, Christian und Dieter früh keiten und Fertigkeiten eigene Repräsentationen auf dem Schulweg treffen, geben sie sich gegenseitig zu generieren, die für sie lösungsunterstützend und die Hand. Wie viele Handschläge werden zwischen ihnen gewechselt? (Rasch 2001, S. 247) hilfreich sind (vgl. Sturm und Rasch 2015; Sturm Die Beispiele für mathematische Modelle zur 2018). obigen Aufgabe in Tab. 3 spiegeln deutlich das Denken der Kinder wider. Es wird sichtbar, dass 4.1.1 Ausgangslage des Trainings die Art des mathematischen Modells die Su- Die individuell angefertigten Lösungen der che nach dem korrekten mathematischen Ergebnis Grundschulkinder waren die Grundlage des Traimaßgeblich unterstützen kann. Die Unterschied- nings. Voraussetzung war, dass sich zunächst jeder lichkeit der Modelle zeigt, dass die Kinder jeweils Lernende eigenständig in die problemhaltige Textein ganz individuelles Modell für ihre Überlegun- aufgabe eindachte, ein Situationsmodell erstellte gen erzeugen und damit häufig erfolgreich sind. und mithilfe eigener Ressourcen ein geeignetes mathematisches Modell zu entwickeln versuchte. Hierbei gab es keinerlei Vorgaben oder Einschränkungen, alles was dem Einzelnen half die Aufgabe 4 Förderung des Modellierens zu lösen, war zugelassen. Die Kinder wurden leim Unterricht diglich angeleitet, all ihre Lösungsgedanken und -ideen zu notieren (vgl. Westermann 2010, S. 161), 4.1 Ein Repräsentationstraining um sie später in der daran anknüpfenden Reflexiin Klasse 4 onsphase, dem eigentlichen Training, verfügbar zu Wie bereits die obigen Beispiele aus früheren Stu- haben. Es hatte sich bewährt, die Reflexionsphase in dien belegen, weisen selbstkonstruierte Repräsentationen beim Lösen problemhaltiger Textaufga- die Folgestunde zu verlagern. Die Lehrkraft hatte ben eine enorme Vielfalt und Unterschiedlichkeit dadurch Zeit gewonnen, die individuellen Lösunauf. Sie bieten Lernenden ein breites Spektrum an gen der Schülerinnen und Schüler zu sichten sowie Lösungshilfen und werden zugleich unterschiedli- hieraus geeignete Heran- und Vorgehensweisen für chen Lernvoraussetzungen und Lerntypen gerecht. das Training auszuwählen. Bei der Auswahl war Da Repräsentationen bereits das Erstellen des Si- maßgebend, dass nicht nur ein prototypischer Lötuationsmodells unterstützen, sind sie Bindeglied sungsweg herausgegriffen wurde. Vielmehr sollte zwischen den Lösungsetappen beim Modellieren auf möglichst unterschiedliche Modelle eingeganund wesentliches, lösungsunterstützendes Werk- gen werden, um den Kindern ein breites Lösungszeug des Modellbildens (vgl. Greefrath 2010, spektrum zu offerieren. Vier (maximal fünf) Repräsentationen eigneten sich für die gemeinsame S. 42 f.). Vor diesem Hintergrund stellte sich die Fra- Reflexion. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass ge, inwiefern ein Repräsentationstraining Grund- auch Repräsentationen zur Lösungsunterstützung schulkinder anregen kann, eigene Repräsentatio- werden konnten, wenn dem Kind ein (Rechen-) nen zu generieren und für individuelle Modellie- Fehler unterlaufen war oder die Schritte des „Morungsprozesse zu nutzen. Es wurde untersucht, ob dellierens“ und/oder des „mathematische Analydie Kinder nach einer fünfwöchigen Interventi- sierens“ nicht vollständig vollzogen werden konn-
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ten. Solche Lernsituationen haben das Potenzial, die Lerngruppe herauszufordern. Sie stehen gemeinsam vor der Aufgabe, den Fehler zu identifizieren und zu korrigieren bzw. die Denkbarriere zu überwinden. Daher sollte für die Auswahl der zu reflektierenden Repräsentationen nicht zwingend ausschlaggebend sein, dass das korrekte Ergebnis gefunden wurde. Auch fehlerhaften Modellen können wertvolle, lösungsweisende Heran- und Vorgehensweisen zugrunde liegen, die es zu thematisieren lohnt (vgl. Sturm 2018).
4.1.2 Trainingsbausteine Jede Trainingsstunde wurde im Sitzkreis eröffnet. Jede von der Lehrkraft ausgewählte Repräsentation wurde für sich allein im Inneren des Sitzkreises ausgelegt und reflektiert. Durch Vervielfältigungen wurde sichergestellt, dass alle Kinder die Lösung einsehen konnten. Insgesamt lassen sich vier Trainingsphasen unterscheiden (vgl. Cooper und Warren 2008, 25 ff.). Zunächst standen die Grundschulkinder vor der Aufgabe sich in die fremde, neuartige Lösung eines Mitschülers bzw. einer Mitschülerin hineinzuversetzen, diese nachzuvollziehen und zu verstehen (Phase 1). Ob das mathematische Modell mithilfe einer Zeichnung, Tabelle, Liste, Rechnung oder einem begründendem Text gefunden wurde, sollte im nächsten Schritt benannt werden (Phase 2). Dies stellte für die Lernenden keine größere Schwierigkeit dar. Die Intention ging dahin, die einzelnen Lösungsmöglichkeiten im Gedächtnis der Lernenden auch namentlich zu verankern. Im darauffolgenden Schritt sollten die Kinder die im Kreis ausliegende Heranund Vorgehensweise beschreiben (Phase 3). Einerseits konnten die Kinder Fragen an die Klasse stellen, wenn sie Schwierigkeiten hatten, den Lösungsprozess nachzuvollziehen oder zu verstehen. Andererseits konnten sie Vermutungen über die Lösungsgedanken und Lösungsschritte anstellen, um den Modellierungsprozess zu reflektieren und zu verinnerlichen. Die Kinder hatten dadurch die Möglichkeit Vorgehensweisen kennenzulernen und zu erkunden, die sie vielleicht nie in Betracht gezogen hätten. Kollektiv wurden dann die
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wichtigsten lösungsunterstützenden Merkmale der Repräsentation ausgehandelt und deren Vorteile aufgezeigt (Phase 4). Im Anschluss daran wurde eine weitere von der Lehrkraft ausgewählte Repräsentation im Sitzkreis ausgelegt und die vier Trainingsphasen aufs Neue vollzogen. Die Grundschulkinder lernten dadurch pro Unterrichtsstunde mindestens vier mögliche Heran- und Vorgehensweisen kennen. Vor dem Hintergrund, dass im Training stets darauf geachtet wurde, dass Gemeinsamkeiten und Unterschiede der thematisierten Repräsentationen herausgearbeitet, Bezüge hergestellt sowie Vor- und Nachteile abgewägt wurden, war es durchaus zu beobachten, dass die Lernenden den Lösungsprozess ihrer Mitschülerin bzw. ihres Mitschülers mit dem eigenen in Verbindung brachten und verglichen. Aufgrund dessen wurde sich teilweise auch auf mehr als vier Repräsentationen bezogen. Ziel war es, den Lernenden vielfältige Lösungsansätze darzubieten, welche sie in nachfolgenden Bearbeitungen aufgreifen und adaptieren können.
4.1.3 Ergebnisse Anfänglich hatten die Viertklässlerinnen und Viertklässler kaum ihren Lösungsprozess dokumentiert oder Hilfen integriert (vgl. Studien von Groß 2013 und Hohn 2012). Ihre Arbeitsblätter wurden fast nur genutzt, um das Ergebnis niederzuschreiben. Der Lösungsprozess erfolgte größtenteils vollständig im Kopf. Die für das Modellieren essenziellen Prozesse „Modellieren“ und „mathematisches Analysieren“, welche die Lernenden nach Verschaffel et al. (2000, S. 134) zur erfolgreichen Lösungsfindung durchlaufen müssen, wurden nicht sichtbar. Bereits nach fünf Trainingswochen zeigte sich, dass sich die Grundschulkinder an die Konstruktion eigener Repräsentationen wagten, ihre Lösungswege protokollierten und vielfältige, lösungsunterstützende mathematische Modelle entwickelten. Insgesamt bewirkte die Intervention eine Steigerung des Einsatzes externer Repräsentationen beim Lösen problemhaltiger Textaufgaben. Das Training befähigte die Lernenden den jeweiligen Sachverhalt aus der Problemstellung zu lösen
Modellierungspotenzial problemhaltiger Textaufgaben
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und diesen vereinfacht als Situationsmodell und schließlich als mathematisches Modell darzustellen. Es bestätigte sich, dass problemhaltige Textaufgaben durchaus Modellierungspotential aufweisen, da die zur Lösung herangezogenen Modelle auf unterschiedlichste Weise zu Vereinfachungen führten (vgl. Greefrath 2010, S. 44). Die Analyse der gewonnenen externen Repräsentationen zeigte das facettenreiche Potential der Modelle der Schülerinnen und Schüler auf und führte zu den Kategorien: Zeichnung, Tabelle, Rechnung, Liste und begründender Text.
4.2.1 Zeichnungen Zeichnungen, wie in Tab. 4, spiegeln das konstruierte Situationsmodell der Lernenden eindeutig und konkret erkennbar wider und ermöglichen somit einen Einblick in deren mentale Repräsentationen der Situation (vgl. Greefrath 2010, S. 51). Gelingt es mit Hilfe der Zeichnung jedoch nicht das Situationsmodell in ein mathematisches Modell zu überführen, so sprechen wir von rein illustrativen Zeichnungen. Sie können das Verstehen unterstützen, bilden aber ausschließlich die tatsächliche Sachsituation ab, das Situationsmodell. Wenn die Problemlösenden jedoch ihre Zeichnung mit den Daten der Aufgabe beschriften, ihre Darstellung die im Text beschriebene Struktur widerspiegelt oder auch Pfeile, Verbindungen, Markierungen oder Einkreisungen der Zeichnung eine Struktur geben, so dass Zusammenhänge und Gruppen sichtbar werden, dann haben sie durch Zeichnen ein mathematisches Modell erstellt, das zielführend sein kann. Diese Zeichnungen haben gegenüber rein illustrativen Darstellungen den Vorteil, dass neue Informationen direkt abgelesen werden können und dadurch eine „hohe inferenzielle Nutzungseffizienz“ vorliegt (vgl. Schnotz et al. 2011, S. 219).
4.2
Lösungshilfen beim Konstruieren mathematischer Modelle
Um herauszufinden, welche Lösungshilfen Grundschulkinder konstruieren und als lösungsunterstützend empfinden, wurden die Lösungsprotokolle von 39 an der Pilotstudie teilnehmenden Viertklässlerinnen und Viertklässlern analysiert. Jedes Kind bearbeitete neun problemhaltige Textaufgaben, so dass der Analyse circa 300 Lösungsprotokolle zugrunde lagen. Losgelöst von den einzelnen Problemstellungen wurden die in den Protokollen festgehaltenen Repräsentationen auf charakteristische Merkmale und Eigenschaften untersucht, Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestimmt und diesbezüglich die Gruppierungen Zeichnungen, Listen, Tabellen, Rechnungen und begründende Texte vorgenommen. Die fünf Kategorien selbstkonstruierter Repräsentationsformen werden nachfolgend anhand von exemplarischen Lösungen der Schülerinnen und Schüler vorgestellt und näher erläutert. Den Lösungen liegt eine Aufgabe mit komplexen Informationen in zwei Schwierigkeitsstufen zugrunde: An einem Herbsttag werden in einem Stall 10 Tiere gezählt. Es sind Pferde und Fliegen. Zusammen haben sie 48 Beine. Wie viele Pferde und wie viele Fliegen sind es? An einem Herbsttag werden in einem Stall 15 Tiere gezählt. Es sind Pferde und Fliegen. Zusammen haben sie 72 Beine. Wie viele Pferde und wie viele Fliegen sind es? (vgl. Rasch 2008, S. 92)
4.2.2 Listen Die zweite Kategorie stellt die Liste dar (vgl. Tab. 5). Darunter lassen sich alle Repräsentationen zusammenfassen, die eine Aufzählung darstellen. Sie werden genutzt, um sich schrittweise der Lösung anzunähern. Es können Zahlen, Namen, Symbole oder auch Informationen aus der Aufgabenstellung hinter- oder untereinander aufgeschrieben werden, so dass eine Auflistung mit Komma möglich wäre. 4.2.3 Tabellen Eine Tabelle, wie in Tab. 6, kann als Strukturierungshilfe von Informationen und als Darstellungsmöglichkeit absolvierter Suchprozesse genutzt werden. Sie unterstützt dadurch sowohl das systematische Probieren als auch das schrittweise Annähern an eine Lösung. Darüber hinaus kann sie auch als Grundlage für Rohdaten genutzt wer-
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Tab. 4 Zeichnungen Zeichnungen als Repräsentationen
Interpretation Das Kind entwickelte durch seine Zeichnung ein mathematisches Modell, indem es vermutlich nach und nach Fliegen und Pferde zeichnete bis es durch Abzählen der Beine auf die richtige Anzahl, 48 Beine, kam. Die Zeichnung ermöglichte das Ablesen der neuen Informationen und war daher lösungsunterstützend.
Das Kind zeichnete zunächst symbolisch alle Beine auf und bildete anschließend abwechselnd Vierer- und Sechser-Päckchen, bis kein Bein mehr übrigblieb. Dieses mathematische Modell spiegelt sowohl die Daten als auch die Struktur der Aufgabe wider. Die Lösung muss nur noch ausgezählt werden. Leider ist ihm hierbei ein Fehler unterlaufen, indem es statt 48, 54 Beine zeichnete und deshalb nicht zum mathematisch korrekten Ergebnis kam.
Tab. 5 Listen Listen als Repräsentationen
Interpretation Dieses von dem Kind entwickelte mathematische Modell eignet sich gut, um das Problem zu lösen. Die Zahl 4 stand für die Anzahl der Beine eines Pferdes, diese wurde zunächst 12-mal aufgelistet, als gäbe es keine Fliegen im Stall. Gleiches galt für die Zahl 6, sie stand für die Anzahl der Beine einer Fliege, diese wurde 8mal aufgelistet, als gäbe es keine Pferde im Stall. Durch Wegstreichen der Einheiten näherte sich das Kind der richtigen Kombination. Ein korrektes mathematisches Ergebnis erzielte es leider nicht, da ein Pferd, also eine 4, zu viel wegstrichen wurde. Das Kind konstruierte ein mathematisches Modell, indem es auf die Vielfachen von 4 und 6 zurückgriff und diese zunächst als Listen notierte. Um herauszufinden welche beiden Zahlen zusammen 48 ergeben, kombinierte es ein Vielfaches von 4 mit dem passenden Vielfachen von 6. Das Ergebnis hob das Kind durch Einkreisungen hervor. Darüber hinaus kann in seinem Modell abgelesen werden, dass es 4 Pferde sind (24 ist das vierte Vielfache von 6) und 6 Fliegen (24 ist das sechste Vielfache von 4). Das korrekte mathematische Ergebnis wird erzielt.
Modellierungspotenzial problemhaltiger Textaufgaben
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Tab. 6 Tabellen Tabellen als Repräsentationen
Interpretation Das Kind versuchte sich zunächst durch systematisches Probieren der Lösung anzunähern (1. Zeile: 5 Pferde, 5 Fliegen; 2. Zeile: 3 Pferde, 7 Fliegen; 3. Zeile: 2 Pferde, 8 Fliegen). Es stellte dabei seine Ergebnisse in zwei Tabellen gegenüber, die ihm einen guten Überblick verschafften. Das mathematische Modell das es gewählt hat, passt sehr gut zu diesem Aufgabentyp. Nach den ersten drei Kombinationsmöglichkeiten merkte das Kind, dass die Summe der Beine immer größer wurde, sich immer mehr von der 48 distanzierte und daher eine „andere“ Variation nötig war. Daher variierte es die Anzahl der Tiere und verlor dabei die Bedingung, dass es zusammen 10 Tiere sein müssen, aus dem Blick.
Als mathematisches Modell wählte dieses Kind eine Tabelle als Grundlage für Rohdaten. Es notierte schrittweise die Tiere untereinander. Ein Tier wurde dabei durch die Zahl 4 bzw. 6 repräsentiert, welche für die Anzahl der Beine des jeweiligen Tieres stand. Das schrittweise Annähern an die Lösung erfolgte so lange bis das korrekte mathematische Ergebnis gefunden wurde. (Hinweis: Hier handelt es sich um die kursiv gedruckte, differenzierte Aufgabenstellung.)
den, sie hat dann die Funktion eines „Datenblattes“ 4.2.5 Begründender Text und/oder einer „Wertetabelle für eine Funktion“ Teilweise spiegeln sich in den Lösungen der (Bruder und Collet 2011, S. 56–61). Grundschulkinder auch Textbausteine wider, bei denen sie die Problemlösung in Textform bestreiten. Diese mathematischen Modelle eignen sich 4.2.4 Rechnungen für Lernende, die gerne die Alltagssprache nutzen Unterrichtserfahrungen zeigen, dass Schülerinnen und weniger symbolische Arten der Darstellung und Schüler häufig Rechnungen nutzen oder sogar (vgl. Tab. 8). gezielt nach ihnen suchen, um Probleme zu lösen. Auch wenn sich Rechnungen weniger oder gar nicht eignen, greifen vorrangig untrainierte Problemlöser oder leistungsstarke Rechner auf dieses mathematische Modell zurück. Dieses Lösungsverhalten kann durchaus vom bisherigen Unterricht geprägt sein (vgl. Tab. 7).
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Tab. 7 Rechnungen Rechnungen als Repräsentationen
Interpretation Das Grundschulkind fand hier eine passende Rechnung zu der Aufgabe, die ihn zum richtigen mathematischen Ergebnis führte.
Diese Rechnung spiegelt ein fehlendes Verständnis wider. Der Schüler versuchte in seiner Rechnung die beiden gegebenen Zahlen 15 und 72 miteinander zu verrechnen (Hinweis: hier handelt es sich um die kursiv gedruckte, differenzierte Aufgabenstellung). Darüber hinaus wusste er mit dem Ergebnis 4 Rest 12 nicht umzugehen. Einen alternativen Lösungsweg strebte er nicht an. Das mathematische Modell führte ihn nicht zum mathematisch korrekten Ergebnis. Tab. 8 Begründeter Text Begründender Text als Repräsentation
Interpretation Das Kind verfasste zu seinem Ergebnis 6 Fliegen und 4 Pferde einen Text, indem es zentrale mathematische Strukturen und Zusammenhänge aufzeigte. Es erkannte, dass ein Pferd und eine Fliege immer zusammen 10 Beine haben, es aber keine gleichmäßige Verteilung der Tiere sein kann, da die Gesamtbeinzahl keine Zehnerzahl ist. Um auf die Endung 2 zu kommen, nannte das Kind die Möglichkeit der 3 Pferde und ergänzte so viele Zehnerpäckchen bis er auf die Zahl 72 kam. Es gelang ihm treffend sein Vorgehen in Worten zu beschreiben, so dass es seine Mitschülerinnen und Mitschüler nachvollziehen konnten. (Hinweis: Hier handelt es sich um die kursiv gedruckte, differenzierte Aufgabenstellung.)
4.3 Wirksamkeit eines Repräsentationstrainings
Die Pilotstudie konnte zeigen, dass die Viertklässlerinnen und Viertklässler bereits nach einer fünfwöchigen Intervention signifikant mehr Repräsentationen in ihren Lösungsprozess integrierten und als Modellierungswerkzeuge nutzten als vorher (vgl. Sturm 2018). Die Ergebnisse unterstützen unsere Hypothese, dass Grundschulkinder beim Lösen problemhaltiger Textaufgaben durch das Generieren von Re-
Problemhaltige Textaufgaben weisen einen hohen innermathematischen Modellierungscharakter auf, da sie das Selbstgenerieren vielfältiger Repräsentationen wie Zeichnung, Rechnung, Tabelle, Liste und begründender Text ermöglichen und fördern (siehe exemplarisch ausgewählte Schülermodelle).
Modellierungspotenzial problemhaltiger Textaufgaben
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präsentationen lösungsunterstützende, mathematische Modelle entwickeln. Die Lernenden ließen sich darauf ein, diese kognitiven Werkzeuge zum Bestandteil ihres Lösungsprozesses zu machen. Ein Unterricht, der das heterogene Lösungspotential der Kinder aufgreift und zum Gegenstand der Reflexion macht, ermöglicht ein Lernen auf unterschiedlichen Wegen. Insbesondere das Aufgreifen, Hinterfragen und Diskutieren unterschiedlicher Modelle bringt den Vorteil mit sich, dass die Kinder vielfältige Möglichkeiten kennenlernen, wie ein adäquates Situationsmodell erstellt und in ein zielführendes mathematisches Modell überführt werden kann. Der Vorher-Nachher-Vergleich ihrer Eigenproduktionen machte deutlich, dass die Viertklässlerinnen und Viertklässler mit zunehmenden Modellierungserfahrungen mehr und mehr in der Lage waren, ihr neu erworbenes Wissen auf neue Aufgabenstellungen zu übertragen und zu adaptieren. Sie erleben einerseits, dass die anspruchsvollen Prozesse beim Lösen von Textaufgaben mithilfe externer Repräsentationen bewältigbar werden, aber andererseits auch, dass sich nicht jede Darstellungsweise für jeden Problemtyp in gleicher Weise eignet, was durch das Diskutieren der Vorund Nachteile wie auch das aufeinander Bezugnehmen der unterschiedlichen Modelle begünstigt wird (vgl. Sturm 2018). Das Repräsentationstraining schafft durch das breite Spektrum an Heranund Vorgehensweisen für jeden Lerntyp einen Zugang zum innermathematischen Modellieren. Zudem konnte in der Hauptstudie gezeigt werden, dass das Training den Lösungserfolg und die Problemlösekompetenzen positiv beeinflusst und Leistungssteigerungen nach zwölf Problembewältigungen zu beobachten waren (vgl. Sturm 2015, 2018). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass bereits Grundschulkinder in der Lage sind konkrete mathematische Modelle zu kniffligen Textaufgaben zu konstruieren und diese in ihren Lösungsprozess zu integrieren. Es gelingt ihnen dabei Vereinfachungen vorzunehmen und Beziehungen herzustellen und abzubilden. Demzufolge kann ein Repräsentationstraining den Modellbil-
dungsprozess, ausgehend vom Situationsmodell über das mathematische Modell bis hin zum mathematischen Ergebnis, unterstützen und prägen.
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Welche Modellierungsaufgaben wählen Grundschullehrkräfte? – Ergebnisse einer Weiterbildung Georg Lilitakis und Katharina Skutella
Zusammenfassung
In diesem Beitrag werden Modellierungsaufgaben vorgestellt, die Mathematiklehrerinnen und -lehrer im Rahmen einer Weiterbildung zum Thema „Modellieren in der Grundschule“ erprobt und weiterentwickelt haben. Die Aufgaben werden in Bezug auf ihren mathematischen Inhalt, mögliche Repräsentationsformen, Alltagsbezug und Authentizität beleuchtet. Vor dem Hintergrund der Weiterbildung und den praktischen Erfahrungen der Lehrkräfte werden Anregungen für erste Modellierungen im Mathematikunterricht der Grundschule gegeben.
1 Einleitung Seit den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz (KMK 2004) gehört das Modellieren zum Unterrichtskanon der Grundschule. Ein kompetenzorientierter Unterricht beginnt bereits in der ersten Klasse mit dem sukzessiven Aufbau von Modellierungskompetenzen (vgl. Eilerts und Kolter 2015; Maaß 2009). Für viele Lehrerinnen und Lehrer stellen Modellierungsaktivitäten im Mathematikunterricht eine Herausforderung dar. Daher wurde G. Lilitakis Institut für Erziehungswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland
eine Weiterbildung zum Thema „Modellieren in der Grundschule“ für das Deutsche Zentrum für Lehrerbildung (DZLM) konzipiert und im Schuljahr 2015/16 erstmals angeboten. Auf den folgenden Seiten stellen wir Modellierungsaufgaben vor, welche die Teilnehmenden dieser Weiterbildung besonders ansprechend fanden und zur Erprobung auswählten. Wir beleuchten die Aufgaben exemplarisch in Bezug auf ihren mathematischen Inhalt, mögliche Repräsentationsformen, Alltagsbezug und Authentizität. Vor dem Hintergrund der Weiterbildung und den praktischen Erfahrungen der Lehrkräfte geben wir ferner Anregungen für erste Modellierungen im Mathematikunterricht der Grundschule.
K. Skutella B Institut für Mathematik, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland K. Eilerts, K. Skutella (Hrsg.), Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht 5, Realitätsbezüge im Mathematikunterricht, DOI 10.1007/978-3-658-21042-7_9, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
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2
G. Lilitakis und K. Skutella
Hintergrund zur DZLM-Weiterbildung „Modellieren in der Grundschule“
Die Weiterbildung erstreckt sich über ein Schulhalbjahr und besteht aus vier Präsenz- und drei Praxisphasen. Das Kurskonzept sieht vor, dass gleichermaßen theoretisches und praktisches Grundwissen zum Modellieren erarbeitet wird. Inhaltliche Schwerpunkte der Weiterbildung bilden: Das neue Mathematikbild der Bildungsstandards, Mathematik als Anwendung Aufgabendesign und Differenzierung Modellierungskreisläufe Kommunikation im Mathematikunterricht Lehrerinterventionen Offene Aufgaben und Bewertungskriterien Die Weiterbildung wurde erstmals im Schuljahr 2015/16 mit 24 Grundschullehrerinnen und lehrern aus Berlin und Brandenburg durchgeführt. Bei den Teilnehmenden handelte es sich überwiegend um erfahrene Mathematiklehrkräfte der Grundschule, die seit mindestens fünf Jahren Mathematik in der Grundschule unterrichten. Etwas mehr als die Hälfte unterrichtete in den Klassenstufen 1–3, die übrigen in den Klassenstufen 4–61 . In den Präsenzphasen lernten die Teilnehmenden Modellierungsaufgaben kennen, lösten diese selbst und tauschten sich untereinander über die Aufgaben und deren Potenzial aus. Aus diesem Fundus konnten die Teilnehmenden schöpfen und die Aufgaben für die Erprobung frei auswählen. Sie gestalteten Lernumgebungen für ihre eigenen Klassen, erprobten diese in der unmittelbar darauffolgenden Praxisphase und dokumentierten und reflektierten ihre Erfahrungen in Praxisberichten. Die anschließende Präsenzphase wurde wiederum genutzt, um sich mit den anderen Teilnehmenden über Erfahrungen und aufgetretene Probleme
auszutauschen und um weiterführende, relevante Themen zu diskutieren. Entstanden ist dabei eine Sammlung von erprobten Praxisbeispielen für das Modellieren in der Grundschule.
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Was macht Modellieren aus?
Eine Analyse der erprobten Praxisbeispiele zeigte einen bemerkenswerten Effekt: Neben Modellierungsaufgaben wurden weitere Aufgabentypen zur Erprobung gewählt wie z. B. Problemlöseaufgaben oder traditionelle Sachaufgaben. Wie das Modellieren in den Bereich des Sachrechnens einzuordnen ist, soll im Folgenden kurz skizziert werden. „Sachrechnen im weiteren Sinne bezeichnet die Auseinandersetzung mit der Umwelt im Mathematikunterricht sowie die Beschäftigung mit wirklichkeitsbezogenen Aufgaben im Mathematikunterricht“ (Greefrath 2010, S. 12). Traditionelle Sachaufgaben bzw. Textaufgaben dienen der Anwendung oder Einkleidung mathematischer Inhalte. Ein mathematischer Inhalt wird typischerweise in einen realitätsbezogenen Kontext eingebettet. Der Kontext ist austauschbar. Das Üben und Festigen mathematischer, häufig arithmetischer Inhalte steht im Vordergrund. Anders verhält es sich bei Modellierungsaufgaben. Ausgangspunkt ist nicht ein bestimmter mathematischer Inhalt, sondern ein komplexer Sachverhalt in der Realität. Dieser muss vereinfacht, strukturiert und auf wesentlich Teilaspekte reduziert werden, bevor mathematische Lösungsverfahren zum Einsatz kommen können (vgl. Franke und Ruwisch 2010; Greefrath 2010). Die mathematischen Lösungen sind Befunde, die zutreffen können oder nicht. Sie müssen interpretiert und auf die Ausgangssituation bezogen werden. Ein kritischer Umgang mit den Resultaten kann und soll zu einem kritischen Umgang mit dem mathematischen Modell führen. Im Folgenden stellen wir zwei Aufgaben vor, 1 Die Grundschulen Berlins und Brandenburgs umfassen die von Teilnehmenden der Weiterbildung ausgewählt und erprobt wurden. in der Regel die Jahrgangsstufen 1–6.
Welche Modellierungsaufgaben wählen Grundschullehrkräfte? – Ergebnisse einer Weiterbildung Vier Kinder teilen sich gerecht drei Pizzen. Wie viel Pizza erhält jedes Kind? Wie soll die Pizza verteilt werden?
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Grundschule sinnvoll einsetzen (vgl. Eilerts und Kolter 2015; Skutella und Eilerts 2018 in diesem Band).
Aufgabe 1
Wie viele Äpfel muss man zerschneiden, wenn die JÜL-b-Kinder in der Pause Äpfel essen wollen? Aufgabe 2
Die beiden Aufgaben haben eine Gemeinsamkeit: Beide Kontexte beschreiben ein Verteilungsproblem. Sobald man aber mögliche Lösungswege andenkt, treten die Unterschiede deutlich zu Tage. In Aufgabe 1 sind alle Angaben zum Lösen der Aufgabe geben: „Vier Kinder, drei Pizzen, gerecht teilen“. Die Aufgabe ist bereits vorstrukturiert und auf den wesentlichen Kern, nämlich die Division von 3 durch 4, reduziert. Für Lösungsvielfalt gibt es weniger Spielraum, denn es geht vorrangig um das Rechnen mit Brüchen. Hier wurde also ein mathematischer Inhalt in einen geeigneten Kontext eingebettet, wie man es bei einer traditionellen Sachaufgabe finden kann. Die zweite Aufgabe stellt eine komplexere Situation dar, weil wesentliche Angaben fehlen und sich daher relevante Fragen anschließen: Wie viele Kinder sind in der Klasse? Möchten alle Kinder Äpfel essen? Welche Kinder essen besonders viel, welche wenig? Ist der Zeitpunkt „in der Pause“ relevant? Gibt es Erfahrungswerte? Wie werden die Äpfel zerschnitten? Bevor Aufgabe 2 gelöst werden kann, muss der darin beschriebene Sachverhalt strukturiert und auf den wesentlichen Kern reduziert werden. Bei Modellierungsaufgaben wie dieser ist mit einer größeren Vielfalt bei den Lösungsstrategien und Ergebnissen zu rechnen. Trotz höherer Komplexität eignen sich Modellierungsaufgaben für den Mathematikunterricht der Grundschule: Durch ihre Offenheit haben Modellierungsaufgaben häufig ein hohes Differenzierungspotenzial, welches sich gerade in heterogenen Grundschulklassen gut entfalten kann. Manche Modellierungsaufgaben lassen sich mit geringen Anpassungen sogar in allen Klassenstufen der
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Präsentation der Aufgaben
Die Teilnehmenden der Weiterbildung erprobten in den Praxisphasen zum Teil selbst entwickelte Aufgaben, griffen jedoch größtenteils auf Aufgabenvorlagen aus der Literatur (z. B. Maaß 2008, 2009, 2011; Büchter et al. 2007) zurück und passten diese auf die Bedürfnisse der eigenen Klasse an. In Tab. 1 sind die erprobten Modellierungsaufgaben aufgeführt. Aufgaben, die man eher dem traditionellen Sachrechnen zuordnen würde, sind in Tab. 1 nicht aufgelistet, da sie nicht Gegenstand dieses Beitrags sind. In Anlehnung an Maaß (2010) beleuchten wir diese Modellierungsaufgaben mit Blick auf die folgenden vier Kriterien: Mathematische Inhalte Repräsentationsebenen und Differenzierungspotenzial Alltagsbezug Authentizität
4.1
Mathematische Inhalte
Die Aufgaben lassen sich überwiegend dem Inhaltsbereich „Zahlen und Operationen“ zuordnen. Ein typisches Beispiel hierfür ist die Aufgabe Sponsorenlauf (Tab. 1, 13) mit der Fragestellung: „Wie viele Runden werden insgesamt beim Sponsorenlauf von den Schülern gelaufen?“ Eine Lösung dieser Aufgabe kann darin bestehen, eine Annahme über die (durchschnittliche) Anzahl der Runden pro Kind zu treffen und diese dann auf die Gesamtzahl der Kinder hochzurechnen, d. h. mit der Anzahl der Kinder zu multiplizieren. Eine entsprechende Kinderlösung aus einer JÜL-Klasse2 1–3 ist in Abb. 1 dargestellt. In dieser Lösung wird zwischen Kindern der Jahr2
JÜL steht für jahrgangsübergreifendes Lernen.
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G. Lilitakis und K. Skutella
Tab. 1 Im Rahmen der Weiterbildung erprobte Modellierungsaufgaben 1
Apfelspalten
Variante a) Wie viele Spalten bekommst du aus einem Apfel? Variante b) Wie zerschneidest du den Apfel, damit jeder Pinguin [jedes Kind der Klasse] genau eine Apfelspalte bekommt? Variante c) Wie viele Äpfel muss man zerschneiden, wenn die JÜL-b-Kinder in der Pause Äpfel essen wollen? 2 Gartenbänke Am Donnerstag trifft sich eure Klasse bei Leo im Garten. Dort wollt ihr gemeinsam Kürbisse aushöhlen. Angenommen die Tische bei Leo im Garten sehen so aus wie auf dem Bild. Bekommt jeder von euch einen Platz am Tisch? 3 Kastanienzoo Du sammelst auf dem Heimweg Kastanien. Du möchtest einen Zoo bauen. Wie viele Kastanien und Zahnstocher brauchst du? 4 Picknick i) Sina plant ihren Geburtstag. Sie möchte ein Picknick machen. Sie lädt 11 Kinder ein. Wie viele Decken muss sie mitnehmen, damit alle gemütlich sitzen können? ii) Wie viele Stücke Kuchen soll sie kaufen? 5 Schokoküsse Max will an seinem 8. Geburtstag mit seinen Gästen Schokoküsse essen. Wie viele Schachteln muss er mit seiner Mutter einkaufen? 6 Steine Wie viele Steine benötigst du mindestens, um damit deinen Namen zu legen? 7 Fingerabdrücke Wie viele Fingerabdrücke passen auf ein DINA-4-Blatt? 8 Hausbewohner Wie viele Menschen wohnen wohl in diesem Hochhaus? 9 Hefteturm Wie groß wäre ein Turm aus allen Heften, die ihr im ersten Schuljahr bearbeitet habt? 10 Händewaschen Wie oft am Tag waschen sich alle Kinder unserer Klasse die Hände? 11 Treppenstufen Wie viele Treppenstufen gehe ich am Donnerstag? 12 Stau An einer Ampel hat sich ein 100 m langer Stau gebildet. Wie viele Fahrzeuge und wie viele Personen befinden sich im Stau? 13 Sponsorenlauf Variante a) Heute ist Sponsorenlauf. Jede Klasse läuft 20 Minuten. Welchen Betrag kann unsere Klasse erlaufen? Variante b) Wie viele Runden werden insgesamt beim Sponsorenlauf von den Schülern gelaufen? 14 Legosteine Wie viele Legosteine brauchst du, um ein 1 m hohes Haus zu bauen? 15 Handyabo i) Wie viele SMS schreibst du im Monat? ii) Wie viele Minuten telefonierst du im Monat? iii) Welches Angebot ist für dich das günstigste? 16 Fußball Wie viele Meter legt ein Fußball in einem Spiel zurück? 17 Klorollen Wie viel Toilettenpapier verbraucht eine Familie mit vier Personen in einem Jahr? 18 Schulzeit Paul behauptet, dass er die meiste Zeit seines Lebens in der Schule verbringt. Stimmt das?
gangsstufen 1–3 („Kind 123“) und Kindern der Jahrgangsstufen 4–6 („Kind 456“) unterschieden. Mit dieser und ähnlichen Aufgaben werden mathematische Grundlagen gelegt, die in höheren Klassen im Themengebiet proportionale Zusammenhänge wieder aufgegriffen und vertieft werden. Neben den arithmetischen Kompetenzen schulen die Aufgaben häufig auch Kompetenzen im Bereich „Größen und Messen“. Insbesondere das Umrechnen von Größen stellt beim Lösen solcher
Modellierungsaufgaben eine große Herausforderung dar. Beispiele hierfür sind die Aufgaben Stau (Tab. 1, 12), Fußball (Tab. 1, 16) und Schulzeit (Tab. 1, 18), in denen die Größen Länge und Zeit thematisiert werden. Unterrepräsentiert sind Aufgaben aus den Inhaltsbereichen „Raum und Form“ sowie „Daten und Zufall“. Auch die Teilnehmenden der Weiterbildung wünschten sich eine größere inhaltliche Vielfalt. So war beispielsweise eine Lehrerin vergeblich auf der Suche nach einer geeigneten Mo-
Welche Modellierungsaufgaben wählen Grundschullehrkräfte? – Ergebnisse einer Weiterbildung
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Abb. 1 Kinderlösung zu der Aufgabe Sponsorenlauf (Tab. 1, 13)
dellierungsaufgabe für die Grundschule, die das geometrische Thema „Winkel“ aufgreift. Abb. 2 Kinder einer zweiten Klasse bearbeiten die Aufgabe Hefteturm
4.2
Repräsentationsebenen
Gerade in jüngeren Klassen bietet sich ein Zugang zu mathematischen Aufgaben auf der enaktiven Repräsentationsebene an (vgl. Bruner 1974). Der überwiegende Teil der Aufgaben aus Tab. 1 erlaubt einen enaktiven Zugang. Die Chance, Aufgaben handelnd lösen zu lassen, wurde vor allem von Lehrerinnen und Lehrern der Klassenstufen 1 und 2 genutzt. So verwendeten zum Beispiel Schülerinnen und Schüler zur Lösung der Aufgabe Hefteturm (Tab. 1, 9) ihre eigenen Schulhefte und Lineale, um notwendige Daten zu erheben (Abb. 2). In den höheren Klassenstufen wurden die Modellierungsaufgaben den Kindern überwiegend symbolisch, ggf. unterstützt durch ein illustratives Bild, auf einer abstrakten Repräsentationsebene präsentiert und auch so von den Kindern gelöst. Ein Beispiel hierfür ist die Aufgabe Schokoküsse (Tab. 1, 5), welche in einer 3. Klasse ohne Zuhilfenahme von Material erprobt wurde. Bei der Erprobung der Aufgabe Kastanienzoo (Tab. 1, 3) entstanden Lösungen auf allen drei Repräsentationsebenen (Abb. 3). Genutzt wurden enaktive (a), ikonische (b) und symbolische (c) Repräsentationsformen.
Da der überwiegende Teil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Weiterbildung in jahrgangsübergreifenden (JÜL) und inklusiven Klassen unterrichtet, ist es notwendig, dass die Aufgaben in heterogenen Gruppen einsetzbar sind. Die Aufgaben müssen einerseits altersgemäß sein, d. h. angemessene fachliche Anforderungen an alle Kinder stellen, und gleichzeitig die Kinder ihren Fähigkeiten entsprechend fordern. Die Aufgaben lassen sich differenzieren durch die Art der Präsentation (Material, Bild, Text), durch Repräsentationsebenen (enaktiv, ikonisch, symbolisch) und durch die Offenheit, die jedem Kind ermöglicht, die Daten und Modelle so zu wählen, dass die Aufgabe auf dem eigenen Kompetenzniveau lösbar ist. So bietet beispielsweise die Frage nach der Anzahl benötigter Picknickdecken in der Aufgabe Picknick (Tab. 1, 4) genügend Spielraum für Lösungen auf ganz unterschiedlichen Niveaus: in der Erprobungsstunde standen den Kindern Picknickdecken und -geschirr zur Verfügung. Diese Materialien wurden von einigen Kindern genutzt, andere Kinder bevorzugten zeichnerische oder rein rechnerische Lösungen. Unterschiedlich anspruchsvolle Lösungswege ergaben sich zum Beispiel dadurch, dass in den Lösungen unterschiedliche Sitzanord-
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G. Lilitakis und K. Skutella b c
a
Enaktiv
Ikonisch
Symbolisch
Abb. 3 Kinderlösungen zu der Aufgabe Kastanienzoo
personal bzw. 2) educational entschieden. So haben zum Beispiel die Aufgabe Steine (Tab. 1, 6) und Handyabo (Tab. 1, 15) einen persönlichen Bezug. Die Aufgaben Sponsorenlauf (Tab. 1, 13) und Hefteturm (Tab. 1, 9) sind Beispiele für Aufgaben, die auf das Schulleben Bezug nehmen. Nur die Aufgaben Hausbewohner (Tab. 1, 8), Klorollen (Tab. 1, 17), Stau (Tab. 1, 12) und Fußball (Tab. 1, 16) beschreiben Situation, die aus einem allgemei4.3 Alltagsbezug nen Blickwinkel betrachtet werden. Damit folgen die Lehrkräfte dem Grundgedanken des ModellieFür die Frage, in welchem Bezug eine Aufga- rens, welches möglichst seinen Anfang in einer be zum Alltag der Kinder steht, schlägt Maaß realen Situation nehmen sollte. (2010) vier Typen vor: 1) personal, 2) educational, 3) public und 4) scientific. Eine Aufgabe vom Typ personal betrifft die persönliche Lebenswelt des Kindes. Eine Aufgabe vom Typ educational 4.4 Authentizität betrifft den Schulalltag oder im weiteren Sinne die Freizeitbeschäftigungen des Kindes. Solche Die ausgewählten Modellierungsaufgaben variieAufgaben stellen Bezüge zum Unterricht und zu ren in Bezug auf Authentizität erheblich. Maaß Ereignissen und Situationen aus dem Schulleben (2010) unterscheidet zur Klassifizierung von Moher und sind weniger für die Person, als für die dellierungsaufgaben vier Typen: 1) authentic, 2) Gruppe relevant. Mit public wird eine Aufgaben- close to reality, 3) eingebettet und 4) intentionally situation bezeichnet, die von allgemeinem, öffent- artificial/fantasy. Als authentic bezeichnen wir in lichem Interesse ist. Aufgaben vom Typ scientific Anlehnung an Maaß (2010) eine Aufgabe, die Phäentspringen einem rein wissenschaflichen Kontext nomene und Fragen aus der Realität behandeln, die und haben den geringsten Bezug zur persönlichen relevant sind bzw. die von einem auf dem Gebiet Lebenswelt des Kindes. ausgewiesenen Experten als relevant eingestuft Die Teilnehmenden der Weiterbildung haben werden. Die Aufgabe Sponsorenlauf (Tab. 1, 13a) sich überwiegend für Aufgaben der Kategorie 1) mit der Frage „Welchen Betrag kann unsere Klasnungen oder auch Platz für das Geschirr u. ä. berücksichtigt wurden. Die Lehrerinnen und Lehrer der Klassenstufen 1 bis 3 wählten bevorzugt die Aufgaben 1–9 der Tab. 1. Entsprechend kamen die Aufgaben 14–18 nur in den Klassenstufen 5 und 6 zum Einsatz.
Welche Modellierungsaufgaben wählen Grundschullehrkräfte? – Ergebnisse einer Weiterbildung a
b
c
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d
Abb. 4 Lösungsansätze von Kindern einer JÜL-Klasse 1–2 zu der Aufgabe Fingerabdrücke
se [beim Sponsorenlauf] erlaufen?“ bezieht sich auf eine reale, relevante Frage aus dem Schulalltag des Kindes. Die Aufgabe Handytarif (Tab. 1, 15) mit der Frage „Welches Angebot ist für dich das günstigste?“ thematisiert das Konsumverhalten des Kindes im Umgang mit seinem Handy und bezieht sich damit ebenfalls auf eine authentische Situation. Close to reality sind Aufgaben, die zwar einen Bezug zur Realität haben, die sich jedoch Kinder oder Experten auf dem Gebiet in der Regel nicht stellen. Hier wird beispielsweise der Lehrer oder die Lehrerin zum Protagonisten, der oder die eine Frage aufwirft. Die Frage „Wie oft waschen sich alle Kinder unserer Klasse die Hände?“ aus der Aufgabe Händewaschen (Tab. 1, 10) oder die Frage „Wie viele Meter legt ein Fußball in einem Spiel zurück?“ aus der Aufgabe Fußball (Tab. 1, 16) stellen sich Kinder bzw. Fußballexperten in der Regel nicht. Ein weiteres Beispiel ist die Aufgabe Fingerabdrücke (Tab. 1, 7): „Wie viele Fingerabdrücke passen auf ein Blatt Papier?“ Diese Aufgabe hat keine praktische Relevanz, allerdings lässt sich bei dieser Fragestellung auf spielerisch-kreative Art und Weise das Modellieren üben und lebhaft über die Ergebnisse bzw. über die Lösungswege diskutieren. Die Aufgabe „Fingerabdrücke“ wurde u. a. in einer JÜL-Klasse 1–2 erprobt. Die beiden Lehrkräfte, die diese Aufgabe erprobten, berichteten anschließend von der großen Vielfalt der Lösungs-
ansätze. Vier Lösungsansätze zu dieser Aufgabe sind in Abb. 4. dargestellt. In Lösung (a) hat das Kind das Blatt Papier Reihe für Reihe mit Fingerabdrücken bedruckt und anschließend die Fingerabdrücke gezählt. In Lösung (b) wurde in Fünferbündeln gedruckt, die farblich unterschieden sind. Die in der Mitte entstandene Lücke wurde nachträglich mit Fingerabdrücken aufgefüllt. Auch in den Lösungen (c) und (d) wurden Fingerabdrücke gebündelt. Dabei wurden 5er-, 10er- und 15erBündel verwendet. Von einer weiteren Lösungsstrategie wurde in der Weiterbildung berichtet: Ein Kind füllte die oberste Zeile des Blatts Papier mit Fingerabdrücken und bestimmte anschließend die Anzahl der Zeilen durch wiederholtes Falten. Als embedded werden Aufgaben bezeichnet, die gezielt einen mathematischen Inhalt einbetten und deren Kontext austauschbar ist. Ein Beispiel ist die Aufgabe „Wie zerschneidest Du den Apfel damit jeder Pinguin [jedes Kind der Klasse] genau eine Apfelspalte bekommt?“ (Tab. 1, 1b). Die Lehrerin, die diese Aufgabe erprobte, unterrichtet eine Klasse mit 24 „Pinguinen“ [Kindern]. Es geht also darum, einen Apfel in 24 Stücke zu zerteilen. Vermutlich würde man in der Realität kaum einen Apfel in 24 Stücke schneiden. Die Lehrerin stellte diese Aufgabe mit der Absicht, dass die Kinder erkennen, dass eine reine Halbierungsstrategie nicht zum Ziel führt. Mit dieser Zielsetzung verschiebt sich der Schwerpunkt der Aufgabe vom mathematischen Modellieren hin zu
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einem Erkenntnisgewinn aus dem Inhaltsbereich „Zahlen und Operationen“. Mit intentionally artificial/fantasy werden ausgedachte Situationen oder „märchenhafte“ Kontexte beschrieben, in denen modelliert werden soll. Modellierungsaufgaben dieser Kategorie wurden von Teilnehmenden dieser Weiterbildung nicht ausgewählt.
G. Lilitakis und K. Skutella b
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5 Die Aufgabe Apfelspalten und ihre Variationen Die Aufgabe Apfelspalten (Tab. 1, 1) wurde in vier unterschiedlichen Lerngruppen erprobt, weshalb nachfolgend exemplarisch an dieser Aufgabe mögliche Modellierungsprozesse von Grundschulkindern vorgestellt werden. Diese Aufgabe wurde von den Teilnehmenden der Weiterbildung als besonders gut geeignet für den Einstieg in das Modellieren gerade in jüngeren Klassen beschrieben. Interessanterweise wurden drei unterschiedliche Aufgabenvarianten verwendet. Aus Tab. 1, Zeile 1 lassen sich die drei Varianten ablesen. Das methodische Vorgehen bei den Varianten a) und c) soll im Folgenden jeweils skizziert und reflektiert werden.
5.1 Wie viele Apfelspalten bekommst du aus einem Apfel? Die auch in Maaß (2009) verwendete Aufgabenformulierung (Tab. 1, 1a) wurde in einer JÜLKlasse 1–3 eingesetzt. Den Kindern wurde zu Beginn der Stunde Apfel und Messer präsentiert und der Begriff Apfelspalte wurde geklärt. Anschließend durften die Kinder Vermutungen darüber anstellen, in wie viele Spalten ein Apfel geteilt werden kann. Die Schätzungen wurden notiert. In der Erarbeitungsphase wurden kreisförmige Faltblätter und Plättchen bereitgestellt. Die Kinder nutzten diese Kreise, um durch Falten, Schneiden3 3
Einige Kinder haben den Papierkreis in viele kleine Schnipsel zerschnitten und zur Dokumentation aufgeklebt.
Abb. 5 Kinderlösungen zu der Aufgabe Apfelspalten
oder Einzeichnen von Segmenten zu einer Lösung zu gelangen (Abb. 5). Die Präsentations- und Auswertungsphase wurde im Stuhlkreis durchgeführt. Es zeigte sich, dass auf dem Papier auch Lösungen entstanden waren, die sich nicht zurück auf die Realität (also auf den Apfel) übertragen ließen: Ein Papierkreis lässt sich in 61 Sektoren zerschneiden (Abb. 5a), einen echten Apfel in 61 Spalten zu schneiden ist hingegen schwierig. Auch lässt sich ein Papierkreis mittels Rasterung unterteilen (Abb. 5d), nicht jedoch ein Apfel. Solche Lösungen bieten hervorragende Anlässe, um über die Tragfähigkeit der Modelle zu reflektieren. Die Lehrkraft zog im Praxisbericht das folgende Fazit: „Auf das Angebot der Faltblätter von Anfang an würde ich in höheren Klassen verzichten, um die Bandbreite der Lösungsansätze zu erweitern.“
Welche Modellierungsaufgaben wählen Grundschullehrkräfte? – Ergebnisse einer Weiterbildung
5.2 Wie viele Äpfel muss man zerschneiden, wenn die JÜL-b-Kinder in der Pause Äpfel essen wollen? Diese Aufgabe wurde in einer JÜL-Klasse 1–2 eingesetzt. Die Aufgabenstellung wurde den Kindern im Stuhlkreis vorgelesen. Apfel und Messer wurden nur zur Anschauung in die Mitte des Kreises gelegt. Die Kinder erhielten dann die Gelegenheit, sich an ihrem Platz eigene Gedanken zu dieser Aufgabe zu machen. Im Plenum wurden anschließend Fragen geklärt und erste Lösungsideen gesammelt. Die Notwendigkeit, greif- und sichtbare Materialien zur Verfügung zu stellen, wurde an dieser Stelle laut Lehrkraft deutlich. Es wurden exemplarisch Äpfel in Hälften, in Viertel und in Achtel geschnitten. Zudem wurden 23 Steine (für jedes Kind ein Stein) aufgestellt. In der darauffolgenden Erarbeitungsphase stellten die Kinder ihre Lösungen bildlich und symbolisch dar. Abb. 6 zeigt drei Ergebnisse. Darunter ist auch eine Lösung, bei der jedes der acht Kinder einen ganzen Apfel erhält (Abb. 6a). In Lösung (b) wurden halbierte Querschnittsdarstellungen von Äpfeln gezeichnet, um so zu einer Lösung zu gelangen. In Lösung (c) wurde vermutlich von einer Apfelviertelung ausgegangen und der Wert vier so lange addiert, bis die Anzahl Kinder erreicht war. Obwohl die Kinder während der Erarbeitungsphase nicht selbst mit richtigen Äpfeln und Messern hantieren durften, sondern diese nur zu Beginn präsentiert bekamen, entstanden Ergebnisse, die sich auf die Realität (auf den Apfel) zurückübersetzen lassen und damit das ursprüngliche Problem lösen. Vielleicht liegt dies auch daran, dass die Aufgabenstellung (Tab. 1, 1c) authentischer und näher an der Alltagswelt der Kinder ist als die Aufgabenstellung a) (vgl. Abschn. 4.3 und 4.4). Die Option, die Kinder unter Aufsicht Äpfel selbst schneiden zu lassen, wurde weder bei Aufgabenvariante a) noch bei Aufgabenvariante b) gewählt, hätte aber vielleicht noch vielseitigere Lösungen erzeugt. Auch hätten die Kinder bei der
a
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b
c
Abb. 6 Kinderlösungen zu der Aufgabe Apfelspalten
Gelegenheit vielleicht herausgefunden, wie dünn man Apfelspalten eigentlich schneiden kann und wie viele Spalten aus einem Apfel geschnitten werden können.
6
Fazit
Die im Schuljahr 2015/16 durchgeführte Weiterbildung zum Thema „Modellieren in der Grundschule“ bestätigt, wie gewinnbringend es ist, Praxisphasen in Weiterbildungen zu integrieren und diese mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausgiebig zu reflektieren. Entstanden ist eine Sammlung von Modellierungsaufgaben und Erfahrungsberichten, die alle Teilnehmenden der Weiterbildung in Zukunft für den eigenen Unterricht nutzen können. In diesem Beitrag wurden Modellierungsaufgaben, die von Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Weiterbildung ausgewählt, erprobt und weiterentwickelt wurden, exemplarisch beleuchtet. Dabei ließen sich folgende Beobachtungen machen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Weiterbildung
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wählten überwiegend Modellierungsaufgaben mit einem inhaltlichen Fokus auf den Kompetenzen „Zahlen und Operationen“ und „Größen und Messen“. wünschten sich mehr Modellierungsaufgaben aus dem Inhaltsbereich „Raum und Form“. bevorzugten insbesondere in den jüngeren Klassen Aufgaben, die auf allen Repräsentationsebenen präsentiert und gelöst werden können und gute Differenzierungsmöglichkeiten bieten. In den höheren Klassenstufen wurden die Modellierungsaufgaben überwiegend auf ikonischer und symbolischer Ebene präsentiert und gelöst. bevorzugten Aufgaben mit hohem Bezug zur Lebenswelt der Kinder. wählten nicht nur Aufgaben mit authentischem Kontext, sondern entschieden sich auch für realitätsnahe und eingebettete Kontexte.
7 Anregungen für erste Modellierungen im Mathematikunterricht der Grundschule Die Weiterbildung bot den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wiederholt die Gelegenheit, Modellierungsaufgaben im eigenen Mathematikunterricht zu erproben und gesammelte Erfahrungen gemeinsam zu reflektieren. Aus den Erfahrungen und Berichten der Lehrerinnen und Lehrer dieser Weiterbildung lassen sich folgende Vorschläge für die Praxis ableiten: a) Das eigene Lösen von Aufgaben sensibilisierte die Weiterbildungsgruppe für die Erkenntnis, dass es unterschiedliche Lösungen und Lösungswege gibt. b) Aufgaben, die verschiedene Herangehensweisen ermöglichen und betonen, bieten einen guten Einstieg für Kinder aller Leistungsstufen. c) Grundlage für das Lösen von Modellierungsaufgaben ist das Verstehen der realen Situation. Es ist ratsam, die Sachsituation intensiv mit allen Kindern zu besprechen. d) Vor den ersten Modellierungsversuchen können gemeinsam mit den Kindern strategische
G. Lilitakis und K. Skutella
Überlegungen angestellt und festgehalten werden: Was will ich herausbekommen? Was weiß ich schon? Welche Informationen oder Annahmen brauche ich, um zu einem Ergebnis zu kommen? Wo bekomme ich diese Informationen her? e) Erste Lösungsideen sammeln: Gerade bei den ersten Lösungsversuchen lohnt es sich, erste Lösungsideen im Plenum zu sammeln. Damit können auch Kinder, die nicht sofort einen Ansatz finden, mit der Bearbeitung beginnen. f) Die Lösungsvielfalt bietet einen guten Anlass für substanzielle Diskussionen und Sprachförderung im Mathematikunterricht: Unterschiedliche Lösungswege werden präsentiert und miteinander verglichen. g) Bei der Thematisierung des Modellierens im Unterricht dürfen die letzten Schritte, das Validieren und das Interpretieren der Ergebnisse, nicht vernachlässigt werden. h) Zeit einplanen: Alle Teilnehmenden berichteten davon, dass ihre Klassen bei den ersten Modellierungsversuchen mehr Zeit benötigten als geplant. Das lag zum Teil an den handelnd angelegten Aufgaben, zum Teil an den ungewohnten Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler, die bei ihren ersten Versuchen noch Unterstützung brauchten. i) Mehrfach ausprobieren: Dieser prinzipielle Rat gilt auch hier. Die Erprobung einer Modellierungsaufgabe in verschiedenen Klassen unter Variation der Aufgabenstellung bzw. des Settings liefern wertvolle Erfahrungen über die Bandbreite und das Potenzial einer Modellierungsaufgabe. Die Berichte der Lehrkräfte zeigen zudem, dass die gesammelten Erfahrungen mit Problemen und Erfolgen mehr Sicherheit bei der Umsetzung im eigenen Unterricht geben. j) Die Offenheit der Aufgaben ermöglicht einen diagnostischen Blick auf die Leistungen der Kinder. Um mit den Worten einer Teilnehmerin zu sprechen: „In diesem Unterricht wurden die Denkweisen der einzelnen Kinder sehr schön sichtbar.
Welche Modellierungsaufgaben wählen Grundschullehrkräfte? – Ergebnisse einer Weiterbildung
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Sonst weiß ich oft nicht, warum Aufgaben nicht richt 5 – Ein ISTRON-Band für die Grundschule. Springer Spektrum, Wiesbaden (2018) richtig gelöst werden. Hier habe ich die MögFranke, M., Ruwisch, S.: Didaktik des Sachrechnens lichkeit, die Denkprozesse genau zu erkennen, in der Grundschule. Springer Spektrum, Heidelberg und dann gegebenenfalls ein Missverständnis aus(2010) zuräumen.“ Greefrath, G.: Didaktik des Sachrechnens in der Sekun-
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Modellieren im Mathematikunterricht gendersensibel gestalten Anina Mischau und Katja Eilerts
Zusammenfassung
Von der schulbezogenen Geschlechterforschung wird seit Jahren neben dem Unterrichtsgeschehen die Unterrichtsgestaltung einerseits als Problemfeld im Sinne der Inszenierung und Reproduktion von Geschlechterstereotypisierungen und geschlechterbezogenen Interessens-, Wissens- und Kompetenzrevieren und andererseits als Handlungsfeld eines gendersensiblen Unterrichts in den Blick genommen. Dennoch gibt es z. B. für das Schulfach Mathematik bis heute nur sehr wenige, tatsächlich auf die konkrete schulische Praxis bezogene Unterrichtsentwürfe für eine gendersensible Gestaltung des Mathematikunterrichts oder Beispiele für entsprechende Lernumgebungen. Diese zu entwickeln oder weiterzuentwickeln und für die Vermittlung inhalts- wie prozessbezogener mathematischer Kompetenzen im schulischen Mathematikunterricht fruchtbar zu machen, ist damit nicht nur ein Desiderat, sondern auch eine Herausforderung für die Fachdidaktik der Mathematik. Sich dieser zu stellen, ist Ziel des Beitrags, in dem exemplarisch eine von den Autorinnen nach gendersensiblen Kriterien gestaltete Lernumgebung für das Modellieren im Mathematikunterricht vorgestellt wird.
1 Warum eine gendersensible Gestaltung des Mathematikunterrichts? A. Mischau B FB Mathematik und Informatik, Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland K. Eilerts Institut für Erziehungswissenschaften, Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland
In Übereinstimmung mit Ergebnissen internationaler Leistungsvergleichsstudien früherer Jahre, bestätigen auch Befunde neuerer Erhebungen noch Humboldt- in vielen Ländern signifikante geschlechterbezogene Unterschiede im Fach Mathematik, die weit
K. Eilerts, K. Skutella (Hrsg.), Neue Materialien für einen realitätsbezogenen Mathematikunterricht 5, Realitätsbezüge im Mathematikunterricht, DOI 10.1007/978-3-658-21042-7_10, © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018
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überwiegend zugunsten von Jungen ausfallen (vgl. z. B. Mullis et al. 2012, 2016; OECD 2014, 2016). Während sich diese geschlechterbezogenen Unterschiede jedoch in einigen Ländern in den letzten Jahrzehnten verringert oder gar nivelliert haben (Hyde et al. 2008), zeigt sich für Deutschland, dass Jungen bei den schulischen Leistungen im Fach Mathematik in nahezu allen Bereichen signifikant bessere Ergebnisse als Mädchen erzielen und geschlechterbezogene Unterschiede häufig stärker ausgeprägt sind als in vielen anderen Ländern oder als im OECD-Durchschnitt. Dies gilt vor allem für die bei PISA im Fokus stehende Altersgruppe der ca. 15-Jährigen, wird tendenziell aber bereits in den TIMSS-Erhebungen bei Grundschüler_innen sichtbar. Ergebnisse aus TIMSS und PISA weisen zudem für Jungen – im Vergleich zu Mädchen – auf eine signifikant höhere intrinsische Motivation für das Lernen von Mathematik (z. B. Freude und Interesse an Mathematik), auf eine geringere Mathematikangst, eine höhere Selbstwirksamkeitserwartung und ein positiveres mathematikbezogenes Selbstkonzept hin (vgl. z. B. Mullis et al. 2012; OECD 2013, 2015; Wendt et al. 2016). In Deutschland sind demnach Schulfächer offensichtlich nach wie vor entlang geschlechterstereotyper Trennlinien in sogenannte geschlechterbezogene „Wissens-, Kompetenz- und Interessensreviere“ aufgeteilt, die durch entsprechende Unterschiede hinsichtlich der Interessensschwerpunkte, der Fächerpräferenz und den Leistungen sichtbar werden. Mathematik, so scheint es, muss dabei nahezu ungebrochen als „typisches Jungenfach“ oder als „männliche Domäne“ charakterisiert werden (vgl. Langfeldt et al. 2012). Auf der Suche nach möglichen Ursachen für die Entstehung und Reproduktion geschlechterbezogener Unterschiede im Fach Mathematik – und in deutlicher Abgrenzung von sogenannten biologi(sti)schen Erklärungsansätzen1 – ha1
In der Geschlechterforschung werden biologi(sti)sche Erklärungsansätze für geschlechterbezogene Unterschiede im Fach Mathematik schon seit mehreren Jahrzehnten kritisiert und zurückgewiesen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass in der OECD-Sonderauswertung aus dem Jahr 2015, in der es um die Chancengleich-
A. Mischau und K. Eilerts
ben inzwischen zahlreiche Studien soziokulturelle Einflussfaktoren in den Blick genommen (für einen Überblick vgl. z. B. Coradi Vellacott et al. 2003; Horwath et al. 2014). Die schulbezogene Geschlechterforschung hebt in diesem Zusammenhang neben z. B. (Geschlechter-)Stereotypisierungen in Mathematikschulbüchern sowie geschlechterstereotype und/oder geschlechterstereotypisierende Selbstzuschreibungen vor allem die Bedeutung stereotyper Einstellungen, Erwartungen und Zuschreibungen von Lehrkräften und die dadurch geprägte Art ihrer Unterrichtsgestaltung und ihres Handelns im Mathematikunterricht als Einflussfaktoren auf die (Re)Produktion eines fachspezifischen Geschlechterbias, aber auch eines vergeschlechtlichten Bilds von Mathematik hervor. Diese empirischen Befunde stehen unserer Ansicht nach im Widerspruch zu dem demokratischen Bildungsauftrag von Schule, der u. a. auch die Gleichberechtigung der Geschlechter vorsieht und der sich nicht nur – auf die eine oder andere Weise – in den jeweiligen Schulgesetzen der Bundesländer wiederfindet, sondern mehr oder weniger explizit auch in den entsprechenden Lehrplänen. Exemplarisch sei für das Land Berlin, dem Tätigkeitsbereich beider Autorinnen, auf das Berliner Schulgesetz verwiesen, in dem für die Gestaltung von Schule die Herstellung von Chancengleichheit, die Berücksichtigung des Prinzips des Gender Mainstreaming und die Einbeziehung u. a. der Geschlechterperspektive in alle erziehungsund bildungsrelevanten Maßnahmen und Strukturen betont wird (vgl. § 4 Abs. 2 SchulG Berlin). Dieser Anspruch findet sich im Rahmenlehrplan für die Jahrgangsstufen 1–10 wieder und erfährt dort zugleich weitere Präzisierungen. So werden z. B. in dem Abschnitt „Gleichstellung und Gleichberechtigung der Geschlechter“ im Teil B (fachheit der Geschlechter in der schulischen Ausbildung geht, nun ebenfalls explizit betont wird, dass nicht angeborene Fähigkeiten die unterschiedlichen Leistungen von Jungen und Mädchen im Fach Mathematik begründen, sondern eine erworbene Haltung gegenüber der Materie und dementsprechend geprägte Verhaltensmuster (OECD 2015, S. 137 ff.).
Modellieren im Mathematikunterricht gendersensibel gestalten
übergreifende Kompetenzentwicklung) die persönliche Entwicklung der Schüler_innen jenseits bestehender Geschlechterstereotype und die Überwindung eingrenzender Rollenzuschreibungen als Ziel festgeschrieben. Dies wird sodann mit dem intendierten Kompetenzerwerb seitens der Schüler_innen verbunden, z. B. zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht unterscheiden zu können, zu lernen, dass Zuschreibungen von Fähigkeiten und Aufgaben aufgrund des Geschlechts nicht naturgegeben sind, und Stereotypisierungen erkennen und reflektieren zu können (vgl. RLP Berlin/Brandenburg, Teil B, S. 30).2 Auf diesen „unerfüllten“ demokratischen Bildungsauftrag wird bereits in der 2009 erschienenen PISA-Sonderauswertung verwiesen, die den Einfluss geschlechterbezogener Stereotype seitens der Lehrkräfte auf die Leistungsentwicklung von Mädchen und Jungen hervorhob und zu dem Ergebnis kam, dass die Institution Schule Mädchen und Jungen unterschiedlich fördere und dass Lehrkräfte zur Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit weit mehr beitragen können, als dies bislang im Kontext von Reformmaßnahmen zur Schulund Unterrichtsentwicklung diskutiert worden war (vgl. OECD 2009). Aus dem bislang Angeführten wird Folgendes evident: die Notwendigkeit einer (weiteren) Sensibilisierung von Mathematiklehrkräften hinsichtlich ihres Beitrags zur Inszenierung und Reproduktion geschlechterstereotyper Trennlinien zwischen Schulfächern, die Notwendigkeit zur Stärkung ihrer Fähigkeiten bezüglich einer gendersensiblen Gestaltung (und Durchführung) von Lehr- und Lernprozessen sowie die Notwendigkeit zur Entwicklung gendersensibel gestalteter Unterrichtsentwürfe oder Lernumgebungen für den Mathematikunterricht. Letzteres wollen wir in diesem Beitrag aufnehmen. Bevor wir jedoch im Weiteren ein Beispiel für eine gendersensibel gestaltete Lernumgebung für das Modellieren im Mathema-
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tikunterricht vorstellen und reflektieren, erscheint es sinnvoll, auf mögliche Kriterien für eine solche Gestaltung einzugehen.
2
Kriterien für eine gendersensible Gestaltung
Eine gendersensible Gestaltung des Mathematikunterrichts oder entsprechender Lernumgebungen bedeutet nicht etwa an vermeintlichen geschlechterdifferenten Interessen, Erfahrungen oder Lebenswelten anzuknüpfen, da eine solche differenztheoretische Perspektive nicht selten mit alten wie neuen Stereotypisierungen verbunden ist. Eine gendersensible Gestaltung ist vielmehr dadurch gekennzeichnet, sich als Lehrkraft der Problemfelder bei der (Re)Produktion geschlechterbezogener Unterschiede bewusst zu werden und diese soweit wie möglich so zu verändern, dass Lehrund Lernprozesse jenseits geschlechterstereotyper oder -typisierender Verengungen möglich sind. Gendersensibel zu agieren bedeutet demnach also eine (de-)konstruktivistische Perspektive auf Prozesse des „doing gender“ im Mathematikunterricht einzunehmen, mit dem Ziel einer „Entdramatisierung von Geschlecht“ (vgl. Faulstich-Wieland 2005; Faulstich-Wieland et al. 2009). Zugleich, und darauf möchten wir explizit verweisen, nehmen Diskurse um eine gendersensible Gestaltung des Mathematikunterrichts z. B. jene um einen „guten Unterricht“ (z. B. Meyer 2004) oder um einen „sinnstiftenden Mathematikunterricht“ (Jahnke-Klein 2001) auf. Dies gilt auch für das didaktische Prinzip der „Individualisierung und Differenzierung des Lernens“ und in diesem Zusammenhang diskutierter Ansätze zu unterschiedlichen Differenzierungsformen (für einen Überblick vgl. z. B. Krauthausen und Scherer 2010). Wenn wir also für eine gendersensible Gestaltung plädieren, bedeutet dies nicht etwa eine Verortung außerhalb allgemeiner Ansätze und 2 Zum Schulgesetz Berlin vgl.: http://www.schulgesetz- Debatten in der Mathematikdidaktik, sondern vielberlin.de/berlin/schulgesetz.php; zum Rahmenlehrmehr, zentrale Aspekte aus diesen aufzunehmen, plan für Berlin/Brandenburg vgl.: https://www.berlin. teilweise aber neu zu akzentuieren oder zu ergände/sen/bildung/unterricht/faecher-rahmenlehrplaene/ zen (Mischau und Bohnet 2014). rahmenlehrplaene/(letzter Aufruf 08.12.2017).
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Unterschiedliche Ansätze und Ideen für einen gendersensiblen (und teilweise auch diversitysensiblen) Mathematikunterricht berücksichtigend (z. B. Jungwirth 2003, 2012; Herzig 2005; Curdes 2007; Schulz 2017) aber auch weiterentwickelnd, sollen nun im Folgenden Kriterien beschrieben werden, die – neben dem Bild von Mathematik – ausgewählte Aspekte der didaktisch-methodischen Gestaltung eines gendersensiblen Mathematikunterrichts bzw. entsprechender Lernumgebungen fokussieren.3 Der erste Aspekt betrifft die Lehr- und Lernformen. Ausgehend von Befunden, die insbesondere einen fragend-entwickelnden Frontalunterricht problematisierten (vgl. z. B. Jungwirth 1991; Jahnke-Klein 2001), wird in Diskursen um einen gendersensiblen Mathematikunterricht zwar übereinstimmend für eine Methodenvielfalt plädiert, jedoch ist letztlich eine deutliche Präferenz für den Einsatz kooperativer Lernformen/-methoden festzustellen, da diese, wie vielfach gefordert, u. a. die Möglichkeit eröffnen, Lernprozesse z. B. erfahrungsgeleitet, aktiv-entdeckend, handlungsorientiert und selbstverantwortlich zu gestalten. Darüber hinaus ist es im Sinne einer gendersensiblen Gestaltung erstrebenswert, dass Schüler_innen das Lernen von Mathematik als einen sozialen, kommunikativen Prozess wahrnehmen und erleben, was durch den Einsatz kooperativer Lernformen begünstigt und durch die Wahl entsprechender Aufgaben(formate) unterstützt wird (Mischau und Bohnet 2014). Für letztere wird in entsprechenden Diskussionen um Kriterien für eine gendersensible Gestaltung vor allem empfohlen, Aufgabenstellungen möglichst offen zu gestalten. Offene
A. Mischau und K. Eilerts
Aufgaben stärken nicht nur ein problemorientiertes wie forschend-entdeckendes Lernen, sondern geben zudem der Kreativität der Schüler_innen und einer stärkeren Fokussierung auf die Entwicklung unterschiedlicher Lösungswege den nötigen Raum. Zudem ermöglichen sie die häufig geforderte „Fehlerfreundlichkeit“, in der Fehler als konstruktives Element des Lernens betrachtet werden (vgl. Mischau und Eilerts 2017). Unter Aufnahme wesentlicher Befunde der genderorientierten Schulbuchforschung (vgl. zusammenfassend Hunze 2003; Mischau und Martinovi´c 2017) können für eine gendersensible Gestaltung von Mathematikschulbüchern oder allgemeiner Unterrichtsmaterialien folgende Kriterien exemplarisch festgehalten werden: (1) eine ausgewogene Präsenz von Menschen in ihrer ganzen Heterogenität in Bild und Text, (2) die Vermeidung stereotyper Darstellungen von Menschen sowohl z. B. hinsichtlich zugeschriebener (mathematikbezogener) Interessen, Fähigkeiten und Kompetenzen als auch hinsichtlich zugeschriebener vergeschlechtlichter, oder auf der Basis anderer sozialer und kultureller Kategorien konstruierter Tätigkeiten und Lebensbereiche, (3) eine Berücksichtigung von Interessen, Erfahrungen und Lebenswelten von Menschen in ihrer ganzen Heterogenität bei der Auswahl der Themen und Kontexte, in die mathematische Inhalte und Aufgabenstellungen eingebettet sind, sowie (4) eine ausgewogene Darstellung vielfältiger Personen als Identifikationsmodelle für Schüler_innen (vgl. Mischau und Bohnet 2014; Mischau und Eilerts 2017; Mischau und Martinovi´c 2017). Darüber hinaus sollte auf die Verwendung einer gendersensiblen oder genderneutralen Sprache geachtet werden.4
3
Für einen gendersensiblen Mathematikunterricht ist neben einer gendersensiblen Unterrichtsgestaltung auch eine gendersensible Interaktionskultur unabdingbar. Von ebenso großer Bedeutung sind deshalb auch Aspekte/Kriterien, die auf eine Überwindung bestehender und in der Forschung vielfach belegter geschlechterstereotyper oder -stereotypisierender Interaktionen im Unterrichtsgeschehen zielen (vgl. hierzu z. B. Jungwirth 1990, 1991; Stürzer 2003; Faulstich-Wieland et al. 2009). Diese sollen hier jedoch – aufgrund des gewählten Schwerpunkts des Beitrags – unberücksichtigt bleiben.
4
Zu unterschiedlichen Möglichkeiten einer gendersensiblen oder genderneutralen Sprache gibt es zwischenzeitlich einige Leitfäden. Für Interessierte verweisen wir exemplarisch auf jenen der Gleichstellungsbeauftragten der Universität Köln, der unserer Ansicht das Thema sehr umfassend behandelt und zugleich durch zahlreiche Beispiele sehr anschaulich ist (zu finden unter: https://gb.unikoeln.de/gendersensible_sprache/index_ger.html, letzter Aufruf: 20.11.2017).
Modellieren im Mathematikunterricht gendersensibel gestalten
Ein gendersensibler Mathematikunterricht zeichnet sich zudem durch die Vermittlung eines vielfältigen und ganzheitlichen Bilds der Mathematik aus, wobei Schüler_innen Mathematik vor allem als Bestandteil von Kultur und Gesellschaft sichtbar und erfahrbar gemacht werden soll. Damit ist einerseits gemeint, den Blick wieder verstärkt auch auf das „Werden“ von Mathematik zu lenken, d. h. Mathematik sowohl in ihrer innermathematischen Entwicklung als auch hinsichtlich der daran beteiligten Personen historisch, kulturell und gesellschaftlich zu kontextualisieren. Andererseits bedeutet dies auch z. B. den (realitätsnahen) Anwendungs- und Alltagsbezug der Mathematik sowie ihre Verschränkung (oder auch Interdependenz) mit anderen gesellschaftlichen Bereichen, Fachrichtungen oder Wissensgebieten (z. B. Kunst, Architektur, Musik, Natur, Naturwissenschaften, Medizin usw.) hervorzuheben (vgl. Mischau und Bohnet 2014; Mischau und Eilerts 2017). Nachdem zusammenfassend zentrale Kriterien einer gendersensiblen Gestaltung des Mathematikunterrichts benannt wurden, soll im nächsten Abschnitt deren Aufnahme und Umsetzung exemplarisch an einer Lernumgebung für das Modellieren im Mathematikunterricht aufgezeigt und nachvollzogen werden. Dabei verstehen wir in Anlehnung an die Fachliteratur eine Lernumgebung als Erweiterung des üblichen Begriffs „Aufgabe“. So beschreibt Wittmann (1997) die Lernumgebung als eine Arbeitssituation als Ganzes, die aktiv entdeckendes und soziales Lernen ermöglichen und unterstützen soll. Nach Wollring (2007) ist eine Lernumgebung im gewissen Sinne eine natürliche Erweiterung dessen, was man im Mathematikunterricht traditionell eine „gute Aufgabe“ nennt. Ihr Design folgt sechs Leitideen, die unter anderem den mathematischen Sinn der Gegenstände, die die Lernumgebung bestimmen, die Artikulation(sformen), Kommunikation und soziale Organisation des Lernens und der Darstellung von Arbeitswegen und Arbeitsergebnissen sowie die Möglichkeit der Eröffnung von Differenzierungsräumen betreffen. Die im Folgenden vorgestellte Lernumgebung wurde von den Autorinnen ent-
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wickelt und bereits erfolgreich in der Aus- und Weiterbildung von Mathematiklehrkräften (für die Primarstufe wie für Sekundarstufe I) erprobt, kann aber auch unmittelbar im schulischen Unterricht (in der 6. ggf. bereits 5. Klasse) eingesetzt werden.
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Vorstellung einer gendersensibel gestalteten Lernumgebung für das Modellieren im Mathematikunterricht
Das Modellieren im Mathematikunterricht eröffnet unserer Ansicht nach vielfältige Anknüpfungspunkte zu Diskursen einer gendersensiblen Gestaltung des Mathematikunterrichts und damit auch für die Umsetzung entsprechender Kriterien bei der Gestaltung von Lernumgebungen. Dies gilt übergeordnet für die Vermittlung eines angemessenen oder realitätsbezogenen Bilds der Mathematik und sodann im Einzelnen sowohl für die Gestaltung der Aufgabenstellung und die zum Einsatz kommenden Unterrichtsmaterialien wie für die gewählten Methoden der Umsetzung im Unterricht. Bevor wir dies anhand des von uns entwickelten Beispiels aufzeigen, sollen kurz einige zentrale Aspekte des Modellierens in Erinnerung gerufen werden. Die prozessbezogene Kompetenz Modellieren hat durch die Aufnahme in den von der Kultusministerkonferenz verabschiedeten nationalen Bildungsstandards für Mathematik eine hohe Relevanz erhalten und ist als ein wesentliches Ausbildungsziel in allen Schulformen und Klassenstufen anzusehen (vgl. Eilerts und Rinkens 2017; Borromeo Ferri et al. 2013). Beim Modellieren spielen das Identifizieren und ggf. Modifizieren/Reduzieren von realen Informationen, deren Mathematisierung und das Rückbeziehen von mathematischen Ergebnissen auf eine reale Situation eine zentrale Rolle. Im Zentrum steht also die Bearbeitung eines realen Kontextes mit mathematischen Mitteln, wobei insbesondere die Übersetzungsleistungen zwischen der realen Welt und der Mathematik die Kernelemente darstellen. Neben dem
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eigentlichen Erwerb der Modellierungskompetenz wird damit auch die Intention verbunden, Realitätsbezüge im Mathematikunterricht herzustellen (vgl. Eilerts und Kolter 2015b, 2015c). Modellieren ist der Prozess des Lösens eines komplexen realen Problems mithilfe von Mathematik, wobei der grundlegende Gedanke des Anwendens von Mathematik auf die Realität die Erstellung eines Modells ist (Maaß 2011, S. 3). Für Siller (2008) ist die Aufgabe der Modellbildung ein vereinfachtes Abbild der Realität zu erschaffen, welches es ermöglicht, komplexe Vorgänge relativ einfach zu beschreiben. Genauer noch: Das vereinfachte Abbild der Realität, also das entstandene Modell, berücksichtigt nur gewisse Teilaspekte, so dass der auf diese Weise beschriebene Sachverhalt einer mathematischen Bearbeitung zugänglich gemacht wird (Henn 2002). Das Ergebnis wird abschließend wieder in die reale Welt zurück überführt, interpretiert sowie validiert. Ausgangspunkt ist also ein Problem, das nicht „aus der Mathematik“, sondern „aus der Realität“ stammt (Siller 2008, S. 13). Modellierungsaufgaben, dies wird in dem bisher Angeführten bereits akzentuiert, sollten mittels eines sogenannten Modellierungskreislaufs gelöst werden (können). Dieser kann als „idealtypisches“ Schema verstanden werden, das den Lösungsprozess einer Modellierungsaufgabe in einzelnen Schritten beschreibt und dabei vor allem hilft, den Übergang zwischen den (realen und mathematischen) Situationen und den (realen und mathematischen) Modellen strukturieren zu können. Innerhalb der mathematischen und der fachdidaktischen Diskussion wurden unterschiedliche Modellierungskreisläufe entwickelt, die sich vor allem durch deren Sichtweise auf den Modellierungsprozess, die Anzahl der integrierten Schritte, durch die Verwendung von Begrifflichkeiten, der Abfolge der Teilschritte sowie hinsichtlich ihrer Komplexität unterscheiden (für einen Überblick siehe z. B. Lesh und Doerr 2003; Borromeo Ferri und Kaiser 2008; Ortlieb et al. 2013; Kaiser und Stender 2013). Allen Modellierungskreisläufen gemeinsam ist, dass die Bearbeitungsschritte
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zwar zur Veranschaulichung linear abgebildet werden, sich in der Realität jedoch bei Schüler_innen häufig ein Wechsel zwischen der Mathematik und dem „Rest der Welt“ feststellen lässt (Eilerts und Kolter 2015a). Weitere zentrale Aspekte und damit Kriterien für eine „gute Modellierungsaufgabe“ beschreibt z. B. Reit (2016) wie folgt: „Modellierungsaufgaben greifen Sachverhalte aus der realen Welt auf, sind offen im Sinne einer Anwendungsmöglichkeit verschiedener Lösungswege und behandelt eine, in der Realität tatsächlich mögliche und authentische Fragestellung. Die Realität ist wahrheitsgemäß abgebildet und alle Elemente (Zahlenwerte, Fragestellung, . . . ) der Modellierungsaufgabe bleiben so weit als möglich originalgetreu erhalten.“ (ebd., S. 18) Bereits Maaß (2007) hat als wesentliche Kriterien für Modellierungsaufgaben formuliert, dass diese offen, komplex, realistisch, authentisch und problemhaltig sind bzw. sein müssen. Bezugnehmend auf sowohl diese Kriterien als auch auf die Kriterien einer gendersensiblen Gestaltung wurde die Modellierungsaufgabe „Sightseeing in Berlin“ (Abb. 1 und 2) entwickelt, welche vorrangig den Leitideen Größen und Messen sowie Raum und Form zugeordnet wird. Zur Bearbeitung der Aufgabe ist vorgesehen, Vierergruppen zu bilden. Diese erhalten jeweils ein vorgefertigtes Placemat sowie einen Stadtplan von Berlin mit integriertem Netzplan für U- und SBahnen. Es werden zudem entweder Laptops oder Tablets zur Internetrecherche zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus können bereitgelegte Fahrpläne mit detaillierten Fahrzeiten der BVG für den ÖPNV in Berlin genutzt werden. Plakatpapier, Stifte, Schere und Klebstoff liegen für die abschließende Plakaterstellung ebenfalls auf jedem Gruppentisch. Bevor im letzten Abschnitt des Beitrages eine Reflexion des Beispiels hinsichtlich der Erfüllung der Kriterien einer guten Modellierungsaufgabe und der Umsetzung der vorgestellten Kriterien für eine gendersensible Gestaltung des Mathematikunterrichts bzw. entsprechender Lernumgebungen erfolgt, soll zunächst unter Verwendung des sie-
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Abb. 1 Aufgabenblatt – 1. Teil (Foto Common free; Quelle: https://pixabay.com/de/berlin-tasche-souvenir-376450/)
benschrittigen Modellierungskreislaufs nach Blum und Leiß (2005; vgl. Abb. 3) exemplarisch eine mögliche Modellierung der vorgestellten Aufgabe beschrieben werden. Der Modellierungsprozess ist ein komplexer Vorgang, der von Aufgabe zu Aufgabe und von Aufgabenlöser_in zu Aufgabenlöser_in unterschiedlich durchlaufen wird (Borromeo Ferri 2010). Eine Darstellung des Prozesses, wie er idealtypisch und linearisiert durchlaufen werden kann, zeigt der Modellierungskreislauf in den folgenden Abbildungen vier bis neun. Dabei
nehmen wir die Perspektive der Lehrkraft zur Vorbereitung des Unterrichts ein und beschreiben – aus eben dieser Perspektive heraus – auch mögliches oder vorstellbares Denken und Handeln von Schüler_innen der etwa 4. Klasse. Im Hinblick auf ein jahrgangsübergreifendes Arbeiten, liegt die Besonderheit dieser Aufgabe darin, dass diese in verschiedenen Klassenstufen auf verschiedenen Niveaus aufgegriffen und in seiner mathematischen Komplexität weiter ausgearbeitet werden kann. Jüngere Kinder (ab Klasse 4) können die Be-
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Abb. 2 Aufgabenblatt – 2. Teil (Wir bedanken uns ganz herzlich bei Robert Herbig, der uns die Fotos für das Aufgabenblatt und damit auch für die Publikation zur Verfügung gestellt hat.)
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1 Konstruieren/ Reales Modell/ Problem
1
Verstehen
3 Math. Modell/ Problem
3 Mathematisieren
2 Situationsmodell
Realsituation
2 Vereinfachen/ Strukturieren
4
7
4 Mathematisch arbeiten 5 Interpretieren
6
6 Validieren Reale Resultate
Math. Resultate
7 Darlegen/ Erklären
5
Rest der Welt
Mathematik
Abb. 3 Siebenschrittiger Modellierungskreislauf (Blum und Leiß 2005)
arbeitung der Aufgabe bereits durch fortgesetzte Addition und/oder die Aufstellung eines Terms lösen.5 Letztlich werden Schüler_innen dies jedoch je nach Klassenstufe mit ihren bereits vorhandenen (prozess- wie inhaltsbezogenen) Kompetenzen umsetzen und vor allem in der Grundschule, ggf. aber auch im Übergang zu Sekundarstufe I, falls sie im Modellieren noch nicht so geübt sind, (noch) nicht mit dem siebenschrittigen, sondern eher mit einem vierschrittigen Kreislauf arbeiten (vgl. Blum et al. 2009; Baumann 2012). Zu Beginn steht die Realsituation wie im Aufgabenblatt beschrieben. Um die eigentliche Aufgabenstellung nach dem Lesen des Aufgabenblatts zu verstehen, konstruieren sich Schüler_innen in einem ersten Schritt (Konstruieren/Verstehen) ein „mentales“ Modell der Situation. In Unterschei5
Die Aufgabe ist unserer Ansicht nach gut in den Klassenstufen 4–6 einsetzbar. Sie eignet sich jedoch auch – dann allerdings in deutlich geschlossenerer Form – für höhere Klassen der Sekundarstufe I, da sie auch z. B. in Anlehnung an das Traveling Salesman Problem gelöst werden kann, einem kombinatorischen Optimierungsproblem. Die Aufgabe bestünde dann jedoch vorrangig darin, eine Reihenfolge für den Besuch mehrerer, vorgegebener Orte so zu wählen, dass die gesamte „Reisestrecke“ möglichst kurz ist, wobei ebenfalls die erste Station gleich der letzten Station wäre.
dung zur Realsituation findet hierbei zunächst eine unbewusste Vereinfachung statt, d. h. eine Filterung der relevanten Informationen (vgl. Borromeo Ferri 2006, S. 92 f.). Die Schüler_innen könnten also z. B. die Informationen auswählen, dass es um einen gemeinsamen Ausflug zweier Klassen in einem bestimmten Zeitrahmen mit einem bestimmten Anfangs- und Endpunkt geht, für den ein Wunschzettel mit acht Sehenswürdigkeiten vorliegt (vgl. Abb. 4). Die „unbewusste“ Selektion mündet in einer bewussteren Vereinfachung beim Übergang zum Realmodell (Borromeo Ferri 2006, S. 92 f.), d. h. im zweiten Schritt (Vereinfachen/Strukturieren, vgl. Abb. 5) werden die für die Lösung essenziellen Angaben festgehalten und irrelevante Informationen, die auf dem Aufgabenblatt enthalten sind, aussortiert. Es entsteht ein reales Modell. Die Konstruktion eines Realmodells kann als eine Selektion von Handlungsstrukturen angesehen werden, die im nachfolgenden Schritt mathematisiert werden sollen. Der Übergang vom realen zum mathematischen Modell ist neben der kontinuierlichen Mathematisierung auch durch die Anwendung außermathematischen Wissens, das zur Lösung benötigt bzw. herangezogen wird, gekennzeichnet (vgl. ebd.). In unserem Beispiel betrifft
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Abb. 4 Schritt „Konstruieren/Verstehen“
Abb. 5 Schritt „Vereinfachen/Strukturieren“
dieses außermathematische Wissen z. B. die Lage der Sehenswürdigkeiten, die Schüler_innen wissen müssen, um im weiteren Verlauf eine Reihenfolge festlegen zu können, oder Kenntnisse über ÖPNV-Verbindungsmöglichkeiten zwischen den Sehenswürdigkeiten und mögliche oder nötige
Besichtigungszeiten, um letztlich einen Zeit- und damit auch Ablaufplan aufstellen zu können. Beim dritten Schritt (dem Mathematisieren) findet eine Übertragung des Realmodells in ein mathematisches Modell statt, d. h. die bislang gesammelten Informationen werden in die Sprache der
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Abb. 6 Schritt „Mathematisieren“
Mathematik übersetzt. In diesem Prozess erstellen Schüler_innen unter z. B. Hinzunahme sogenannter externer Darstellungen in Form von Zeichnungen und Formeln, je nach ihren (individuellen) mathematischen Kompetenzen, ein mathematisches Modell. Bezogen auf die vorgestellte Aufgabe könnten Schüler_innen, wie in Abb. 6 beispielhaft unter Einbezug aller auf dem Wunschzettel stehenden Orte dargestellt, z. B. zunächst die Lage der Sehenswürdigkeiten und die jeweilige Verweildauer bzw. mögliche Fahrtwege und deren Dauer mit öffentlichen Verkehrsmitteln recherchieren und in den zur Verfügung gestellten Stadtplan einzeichnen.6 Für die Bestimmung dieser einzelnen Werte ist es notwendig, dass sie erneut auf ihr außermathematisches Wissen zurückgreifen und dieses präzisieren (z. B. mit Hilfe von Fahrplänen, um Fahrtzeiten als konkrete Zeitwerte notieren zu können oder weiteren Recherchen zu Öffnungszeiten oder Zeiten zur Besichtigungsdauer im Internet usw.). Im nächsten Schritt (Mathematisch arbeiten) wenden Schüler_innen dann ihre mathematischen 6
Die Offenheit der Aufgabe lässt natürlich auch zu, aus den auf dem Wunschzettel der Hamburger Klasse stehenden Sehenswürdigkeiten nur einige auszuwählen und stattdessen längere Verweilzeiten oder auch mehr/längere Pausen einzuplanen.
Kompetenzen bei der Berechnung ihres erstellten Modells an. Im vorliegenden Beispiel handelt es sich um ein relativ einfaches Modell, in dem die ermittelten Werte tabellarisch dargestellt werden. Die Summe dieser Werte wird als Lösung festgehalten (vgl. Abb. 7). Anders ausgedrückt: In diesem innermathematischen Schritt wird ein mathematisches Resultat erzeugt. In dem sich anschließenden Schritt (Interpretieren) findet ein weiterer Übersetzungsprozess statt, bei dem die mathematischen Resultate zu realen Resultaten gedeutet werden. Den mathematisch ermittelten Zahlen wird also ein lebensweltlicher Sinn verliehen, indem sie von Schüler_innen in Zusammenhang mit dem Ausgangsproblem gesetzt werden. Dadurch entstehen reale Ergebnisse. Im vorliegenden Beispiel ist dies, wie in Abb. 8 dargestellt, ein konkreter (zeitlicher) Ablaufplan des Ausflugs. Mit diesem Rückübersetzungsprozess nähert sich demnach der Kreislauf wieder der „realen Welt“. Um nun herauszufinden, ob die reale Lösung auch zum realen Modell passt, wird im nächsten Schritt eine Validierung vorgenommen, wobei diese sowohl im Realmodell als auch im Situationsmodell stattfinden kann. Zur Validierung können Schüler_innen Fragen zu ihren Arbeitsschritten oder noch einmal zu ihren generellen
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Abb. 7 Schritt „Mathematisch arbeiten“
Realsituation
Genauer Ablaufplan des Ausflugs: 8:30 Uhr Treffen an der Schule 8:40 Uhr Busfahrt zur Siegessäule (20 Min.) 9:00 Uhr Besichtigung der Siegessäule (30 Min.) 9:30 Uhr Bus zum Reichstag (15 Min.) 1 Konstruieren/ 9:45 Uhr Besuch des Reichstages (60 Min.) Verstehen 3 10.45 Uhr zu Fuß zum Brandenburger Tor (5 Min.) Reales Modell/ 2 Vereinfachen/ Math. Modell/ 10:55 Uhr Besichtigung des Brandenburger Tors (15 Min.) Problem Strukturieren 11:10 Uhr U-BahnProblem zur Gedenkstätte Berliner Mauer(17 Min.) 11:27 Uhr Besichtigung der Gedenkstätte (60 3Min.) Mathematisieren 2 12:27 Uhr U-Bahn zum Sony Center (21 Min.) 1 4 Mathematisch Situations-12:48 Uhr Mittagspause im Sony Center (45 Min.) modell 13:33 Uhr U-Bahn zum Fernsehturm (16 Min.) arbeiten 7 13:49 Uhr Besichtigung des Fernsehturms (405 Min.) Interpretieren 14:29 Uhr U-Bahn zum Checkpoint Charlie (11 Min.) 6 Validieren 14:40 Uhr Fotoshooting am Checkpoint Charlie (30 Min.) Reale 15:10 Uhr U-BahnMath. zum Aquadom (15 Min.) 7 Darlegen/Erklären Resultate Resultate 15:25 Uhr Besichtigung Aquadom (30 Min.) 15:55 Uhr U-Bahn zum Endpunkt Schule (23 Min.) 5 Uhr Ende des Ausflugs 16:18
Rest der Welt
Mathematik
Abb. 8 Schritt „Interpretieren“
Überlegungen stellen. Für das vorliegende Beispiel könnten dabei z. B. folgende Fragen formuliert werden (vgl. Abb. 9): „Brauchen wir mehr Pausen?“ oder „Sollen wirklich alle Sehenswürdigkeiten besucht werden“ oder „Passen wir denn alle in einen Bus oder müssen wir doch auf U- und S-Bahnen umsteigen?“ oder „Passt unser Ergebnis zu unseren Vorüberlegungen?“ Insgesamt geht es darum, die rechnerischen Ergebnisse kritisch
zu reflektieren, um abzugleichen, ob die Problemstellung erfolgreich gelöst wurde. Borromeo Ferri (2006) verweist darauf, dass Validierungen, intuitive aber auch wissensbasierte, bei Lernenden nicht die Regel sind oder sich lediglich auf eine rein mathematische Validierung beziehen, ohne dass eine Verknüpfung mit der in der Aufgabe beschriebenen Problemstellung vorgenommen wird (ebd., S. 92 f.). Was dies bedeuten kann, soll unse-
Modellieren im Mathematikunterricht gendersensibel gestalten
Sollten wirklich alle 8 Sehenswürdigkeiten an einem Tag gemacht werden? Halten wir 8 Stunden durch?
Math. Modell/ Problem
2 Situations -modell
Realsituation
Soll es eine Führung bei der Gedenkstätte geben? Wie lange muss man bei der Siegessäule anstehen?
3
Reales Modell/ Problem
1
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7
Müssen wir Wartezeiten an den 4 Haltestellen berücksichtigen?
6 Reale Resultate
1 Konstruieren/ Verstehen 2 Vereinfachen/ Strukturieren 3 Mathematisieren 4 Mathematisch arbeiten 5 Interpretieren 6 Validieren
Passen wir alle in einen Bus? 5
Brauchen wir mehr Rest der Welt Pausen?
Math. Resultate
Mathematik
7 Darlegen/Erklären Gibt es an allen Stationen Aufzüge?
Abb. 9 Schritt „Validieren“ Abb. 10 Exemplarisches Plakat für den Schritt „Darlegen/Erklären“ aus einem Hochschulseminar mit Studierenden (Foto: Anina Mischau)
re exemplarische Frage „Gibt es an allen Stationen Aufzüge?“ (vgl. Abb. 9) aufzeigen. Eine rein mathematische (und dabei erfolgreiche) Validierung könnte übersehen, dass sich in der Gruppe der
Kinder z. B. ein Kind mit Rollstuhl befindet und deshalb nur Stationen der U-Bahn genutzt werden können, die entsprechend barrierefrei gestaltet sind. Dies zu prüfen, könnte möglicherweise
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vergessen worden sein und in der Konsequenz bedeuten, dass auf andere Stationen ausgewichen werden oder aber eine Sehenswürdigkeit wegfallen muss und sich damit Werte der Fahrtzeit oder Werte der Verweildauer an Sehenswürdigkeiten verändern könnten – beides mit Auswirkungen nicht nur auf das mathematische, sondern auch auf das reale Ergebnis. Ist die Validierung nicht erfolgreich bzw. merken Schüler_innen, dass die Lösung nicht stimmen kann, wird der Modellierungskreislauf bzw. werden Teilschritte desselben erneut durchlaufen (Borromeo Ferri und Kaiser 2008). Nach erfolgreicher Validierung kommt schlussendlich der Schritt der Vermittlung (Darlegen/ Erklären), bei dem der Lösungsprozess final dokumentiert wird und die gewonnenen Erkenntnisse/Ergebnisse dargestellt und kommuniziert werden. Im vorgestellten Beispiel erfolgt dies mithilfe der Plakate, die Schüler_innen entsprechend der Aufgabenstellung anfertigen sollen. Diese könnten aufgehängt werden und würden so im Vergleich auch die Möglichkeit geben, zu erkennen, dass es unterschiedliche Lösungswege wie Lösungen und damit in der Realität unterschiedliche Ideen zur Gestaltung der Sightseeingtour gibt. Dies zeigt beispielhaft die folgende Abbildung, in der – im Vergleich zu dem bisher Dargestellten – nicht nur die Reihenfolge des Ablaufs eine andere ist, sondern auch die Verweilzeiten und die für die einzelnen Fahrtwege genutzten Verkehrsmittel variieren (vgl. Abb. 10).
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Reflexion des Beispiels und Ausblick
Abschließend soll reflektiert werden, inwieweit und auf welche Weise das vorgestellte Beispiel einer Lernumgebung für das Modellieren im Mathematikunterricht sowohl Kriterien einer „guten Modellierungsaufgabe“ als auch (ausgewählte) Kriterien einer gendersensiblen Gestaltung erfüllt. Für die Bearbeitung des vorgestellten Beispiels wurden kooperative Lehr- und Lernformen eingesetzt. Die Gruppenarbeit entspricht der Offenheit, die als ein Kriterium für gute Modellierungs-
aufgaben benannt wurde und nicht nur für die Aufgabe selbst, sondern auch für die Arbeitsorganisation gilt (Greefrath 2007). Der Einsatz des schüler_innenaktivierenden Placemats eignet sich sehr gut zum Sammeln von Ideen sowie zur Stimulierung kreativer und kooperativer Lernprozesse, in denen alle Beteiligten gleichermaßen integriert sind, aber auch in einer individuellen, persönlichen Verantwortung zum Erreichen eines gemeinsamen Gruppenergebnisses stehen; darüber hinaus wird eine Visualisierung der unterschiedlichen Phasen des Lernprozesses ermöglicht (vgl. Barzel et al. 2011; Mischau et al. 2016). Durch diese Methode wird den Schüler_innen u. a. die Möglichkeit gegeben, selbständig, handlungsorientiert und erfahrungsgeleitet zu arbeiten sowie das Lernen von Mathematik als einen sozialen und kommunikativen Prozess zu erfahren. Alle diese Aspekte werden, wie dargestellt, in den Kriterien einer gendersensiblen Gestaltung explizit hervorgehoben. Zudem ist diese Methode dazu geeignet, möglichen geschlechterstereotypen oder -stereotypisierenden Interaktionen und Zuschreibungen in gemischtgeschlechtlichen Gruppen entgegenzuwirken, da die Schüler_innen gemeinschaftlich Lösungen entwickeln müssen, wobei die „Geschlechtszugehörigkeit“ zugunsten des „Sich-gegenseitig-ernstNehmen[s]“ (Jahnke-Klein 2001) an Relevanz verliert bzw. verlieren kann. Dies wird durch die stille Auseinandersetzung mit den Gedanken aller Gruppenmitglieder in der zweiten Phase noch begünstigt. Damit fördert die Methode des Placemats durch ihre unterschiedlichen Phasen nicht nur den individuellen und eigenverantwortlichen Lernprozess der Schüler_innen, sondern auch deren Problemlöse- und Sozialkompetenz (Mischau et al. 2016). Die gestellte Aufgabe erfüllt wesentliche auf den Aspekt Aufgaben(formate) bezogene Kriterien für eine gendersensible Gestaltung, die zugleich mit grundlegenden Kriterien einer guten Modellierungsaufgabe (Maaß 2007; Reit 2016) übereinstimmen: Es handelt sich um eine offene Aufgabe, die individuelle und differente Herangehensweisen und damit Lösungswege und Lösungen zulässt. Fehler werden zudem als konstruktiver
Modellieren im Mathematikunterricht gendersensibel gestalten
Teil des Lernprozesses betrachtet, was durch den Schritt des Validierens im Modellierungskreislaufs explizit akzentuiert wird. Um, wie in den Kriterien zu gendersensiblen Unterrichtsmaterialien gefordert, die Heterogenität von Menschen (und in diesem Fall speziell von Schulklassen) explizit aufzuzeigen und anzusprechen, wurden bei der Nennung der agierenden Schüler_innen im Arbeitsblatt Namen verwendet, die sowohl auf eine unterschiedliche Herkunft verweisen als auch auf unterschiedliche Geschlechter oder, wie bei dem Namen Toni, auf keine eindeutige Geschlechtszugehörigkeit. Alternativ wäre es jedoch auch denkbar, auf die Nennung konkreter Namen zu verzichten und nur von Schüler_innen zu sprechen. Mit der Verwendung einer gendersensiblen Sprache (z. B. durch die Bezeichnung Schülerinnen und Schüler, durch neutrale Begriffe wie Klasse und direkte Anrede) wurde ein weiteres Kriterium umgesetzt. Der mit dem für die Aufgabenstellung gewählte Kontext (Schule, Schüler_innenaustausch, Planung eines Klassenausflugs in der eigenen Stadt) entspricht nicht nur den beiden Kriterien „realistisch und authentisch“ einer guten Modellierungsaufgabe (Maaß 2007; Reit 2016).7 Er erfüllt zugleich die für eine gendersensible Gestaltung der Kontexte geforderte Berücksichtigung der Erfahrungen und Lebenswelten von Menschen in ihrer gesamten Heterogenität, ohne dass dieser Kontext eine auf Geschlecht oder auf andere Merkmale bezogene Konnotation enthält. Die Aufgabenstellung einen Klassenausflug zu planen, erfüllt die Anforderung an eine Modellierungsaufgabe „problemhaltig und komplex“ zu sein, wie in Abschn. 3 sichtbar wird. Das Beispiel stellt darüber hinaus eindeutig, wie beim Modellieren intendiert, Realitätsbezüge im Mathematikunterricht her (z. B. Reit 2016) und erfüllt damit auch, wie bei einer gendersensiblen Gestaltung bezüglich des Bilds von Mathematik adressiert, 7
Um diese Kriterien auch bei einer Übertragung der Aufgabe in die eigene schulische Praxis oder Hochschullehre zu „gewährleisten“, muss natürlich die „eigene Stadt“ (und deren Sehenswürdigkeiten) Ziel des Klassenausflugs werden.
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die Sichtbarmachung des Alltags- und Anwendungsbezugs der Mathematik. Je nach Kontext der Anwendung des Beispiels könnte man zudem auch eine Verknüpfung mit anderen gesellschaftlichen Bereichen (z. B. Stadt- oder ÖPNV-Planung) vornehmen. Mit der hier vorgestellten Lernumgebung war vor allem das Anliegen verbunden, exemplarisch aufzuzeigen, wie Kriterien für eine gendersensible Gestaltung des Mathematikunterrichts in der schulischen Praxis konkret umgesetzt werden können. Die Reflexion verdeutlicht unserer Ansicht nach sehr gut, dass es ohne große Schwierigkeiten möglich ist, ausgehend von dem im Mathematikunterricht im Vordergrund stehenden mathematischen Kompetenzerwerb der Schüler_innen, hier speziell dem des Modellierens, eine Brücke zwischen fachdidaktischen Anforderungen und denen einer schulischen Geschlechterforschung zu schlagen. Daher verbinden wir mit unserem Beitrag nicht nur die Hoffnung, Lehrkräfte (noch einmal generell) für das Themenfeld „Gender und Mathematikunterricht“ sensibilisieren zu können, sondern auch die Einladung, die von uns vorgestellten Kriterien einer gendersensiblen Gestaltung im eigenen Unterricht umzusetzen. Denn: In einer gendersensiblen Gestaltung des Mathematikunterrichts sehen wir einen wichtigen Beitrag von Lehrkräften, um perspektivisch die (Re)Produktion geschlechterbezogener Unterschiede im Fach Mathematik durchbrechen und so den demokratischen Bildungsauftrag von Schule erfüllen zu können.
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