Leben und Tod des Jesus von Nazaret


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Leben und Tod .des Jesus von Nazareth Joel Carmichael, Historiker und Orientalist, zeigt, was den Widersprüchen der Evangelienberichte und den theologischen Legenden wahrscheinlich zugrunde liegt: die Geschichte eines "Königs der Juden", der sich des Tempels in Jerusalem mit Waffengewalt zu bemächtigen versuchte ~ und als Aufrührer von · ~ ~ den Römern zum Tode ~ =verurteilt und hinge~ richtet wurde. · ·~ I

JOEL

CARMICHAEL

Was die Evangelien von Jesus berichten, ist durch die historische Forschung als unsicher, widersprüchlich oder sogar offensichtlich falsch erwiesen worden. Es ist erwiesen worden, daß es den Verfassern der Evangelien nicht darum ging, geschichtliche Tatsachen festzuhalten und zu überliefern, sondern einzig darum, ihren religiösen Glauben zu begründen, zu stützen und gegen Andersdenkende durchzusetzen. So können wir zwar annehmen, daß in den Evangelien wirklich Geschehenes enthalten ist, wir vermögen aber nur selten mit einiger Sicherheit zu erkennen, was als geschichtliche Tatsache angesehen werden darf. Carmichael geht von jener Tatsache aus, die historisch am besten gesichert erscheint, der Tatsache, daß Jesus die Hinrichtung am Kreuz erlitten hat. Diese Hinrichtung ist durch die Römer erfolgt und muß deshalb einen Grund gehabt haben,



der allein für die Römer erheblich war. Daß diese einen »Prediger der Liebe« deshalb zum Tode verurteilten, weil er in theologischen Streit mit der jüdischen Priesterkaste geraten war, darf als ausgeschlossen gelten. Jesus ist von ihnen als Aufrührer (»König der Juden«) hingerichtet worden, und Carmichael findet in den Evangelienberichten genug Zeugnisse dafür, daß dies kein Justizirrtum gewesen ist. Damit erhalten wir ein ganz neues Bild vom Leben J esu. Carmichael macht kein Hehl daraus, daß es eine Rekonstruktion ist, die sich nicht zwingend beweisen läßt. Er kann aber zeigen, daß viele Einzelheiten der J esusüberlieferung, die bisher unverständlich waren, sich zwanglos in den Rahmen seiner neuen Deutung fügen. Woran die moderne Theologie verzweifelt - »eine historische Darstellung der ·Geschichte und Gestalt J esu Christi zu geben, so wie es eigentlich gewesen ist« weil sie nämlich nicht darauf verzichten ~ill, Jesus, den Menschen, von Christus, dem göttlichen Erlöser (das heißt, historische Wirklichkeit und Mythologie) zu trennen, Betrachtung des Historikers sehr das vermag die unvoreingenommene wohl zu leisten. Sie kommt zwar infolge der mangelhaften und höchst verworrenen Überlieferung nicht zu absolut sicheren Ergebnissen, aber doch zu einer lebensnahen Darstellung, die Wahrscheinlichkeit besitzt und sich in den Gang der historischen Entwicklung sinnvoll einordnen läßt.

„Der Spiegel veröffentlicht Carmichaels abwegige Christusbiographie." Deutsche Tagespost, Würzburg „ Wie unhaltbar die Aufstellungen Carmichaels sind, liegt für jeden Einsichtigen auf der Hand." Evangelische Kirchenzeitung für Baden „Der Verfasser hat sich Mühe gegeben, Person, Lehre und Werk Jesu zu verstehen und die Quellen objektiv zu studieren. Sein Bericht ist nicht auf Sensation gemacht und nicht auf Polemik angelegt." Hans Conzelmann, Professor für Neues Testament an der Universität Göttingen, in „Christ und Welt"

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„Seine Darstellung fügt sich ausgezeichnet in das Bild der Zeitgeschichte mit der Vielzahl von m.essianischen Bewegungen ... Obwohl manche der Bausteine dieses Bildes als nidit sehr tragfähig erscheinen, lösen sich doch manche Schwierigkeiten der Auslegung. So wird vor allem verständlich, daß Jesus nur von Pilatus aus politischen Gründen verurteilt wurde ... Das ungelöste Problem der Berichte von zwei Prozessen vor der geistlichen Tempelbehörde und vor Pilatus ist so einleuchtend gelöst ... Carmichaels Buch zeigt den zeitgeschichtlichen Hintergrund, auf dem die Geschichte Jesu zu verstehen ist, darum so eindrücklich auf, weil er Jesus bruchlos in ihn einordnet. Aber er kann die Besonderheit Jesu und den Ursprung seiner Gemeinde,· den Glauben an ihn als den auferstandenen Messias nicht erklären ... Alles in allem: Ein nützliches Buch auch für Christen, die die Anschauungen des Verfassers nicht teilen." Hans Werner Bartsch, Prof. Dr. theol.,_in „Die Zeit"

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TOD DES

JESUS VON NAZARETH

JOEL CARMICHAEL ' LEBEN UND TOD DES JESUS VON NAZARETH

Joel Carmichael

Leben und Tod des Jesus von Nazaretl1

Szczesny V erlag München

Die Originalausgabe ersdllen bei The Macmillan Company, New York, unter dem Titel •The Death of Jesus•. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Cacola Diet!meier; die Übersetzung ist vom Verfasser durchi;esehen worden.

1. Auflage September 1965 · 2. Auflage November 1965 · 3. Auflage Juni 1966

© By Joel Carmichael 1962. Alle deutschspradllgen Rechte beim Szczesny Verlag KG, München Gesetzt in der Linotype Gatamond. Satz und Druck: A. Busch, Bad Tölz Bindeacbeiten: R. Oldenbourg, Graphische Betriebe, München Entwurf des Schutzumschlages: Uta Maltz. Printed in Germany 1966

Inhalt

Vorwort

6

Einleitung

9

Erstes Kapitel

Das Rätsel des Todes Jesu

14

Zweites Kapitel

DerProzeß

.

32

Drittes Kapitel

Die Herkunft J esu

54

Viertes Kapitel

Jesus in der Öffentlichkeit

81

Fünftes Kapitel

Das Reich Gottes

91

Sechstes Kapitel

Jesu Zuhörer

108

Siebtes Kapitel

Rekonstruktion: Handlung und Katastrophe

142

Achtes Kapitel

Weitere Rekonstruktion: Jesus und Johannes der Täufer

173

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INHALT

Neuntes Kapitel

Jesus, der jüdische Messias?

193

Zehntes Kapitel

Der entstellte Jesus

215

Elfies Kapitel

Jesus im Ausland

238

Zwölfies Kapitel

Eine neue Religion

268

Literatur

287

Vorwort

Mit diesem Buch lege ich eine Theorie zur Erklärung der Widersprüche in den Evangelienberichten vor, die immer noch Gelehrte wie Laien gleichermaßen beunruhigen. Auf eine knappe Formel gebracht, bewegen sich diese Widersprüche alle um das Rätsel, warum ein anscheinend friedfertiger Prophet von den römischen Machthabern mit der Zustimmung oder vielmehr auf Betreiben seines eigenen Volkes, der Juden, auf grausame Weise hingerichtet wurde. Die These dieses Buches steht den traditionellen Auffassungen entgegen. Es wird der Versuch unternommen, den Beweis zu erbringen, daß Jesus sich einzig als Verkünder einer nahe bevorstehenden materiellen Umwandlung der Welt (zum Reich Gottes) betrachtete, daß sich seine Botschaft an die Juden seiner Zeit wandte, an niemand sonst, und daß er, als das Zustandekommen des Reiches Gottes scheiterte, einen völlig neuen Kurs einschlug, der zu seinem gewaltsamen Tode führte. Die Erörterung darüber, welcher Art dieser Kurs gewesen sein mag, ist der radikalste und zugleich der spekulativste Teil des Buches. Ich bin der Auffassung, daß die Mehrzahl der unabhängigen Gelehrten meine Erklärungen für die zahlreichen Widersprüche in den Evangelien billigen würde. Die Glaubwürdigkeit meiner hypothetischen Rekonstruktion des Wirkens Jesu mag der Leser selbst beurteilen. Die letzten Kapitel, in denen ich die erstaun-

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VORWORT

liehe Umwandlung der Erinnerung an Jesus zu einer neuen Religion erörtere, sind kaum mehr als eine Zusammenfassung der herrschenden Meinung, ich hoffe aber, daß sie für eine breite Schicht von Lesern interessant sein werden. Obwohl das zum Studium des Neuen Testaments, des Lebens Jesu und der Ursprünge des Christentums im allgemeinen erforderliche Schrifttum unübersehbar ist, habe ich dieses Buch nur selten mit irgendwelchen Hinweisen auf die Literatur belastet. Ich hielt es für ausreichend, auf einige Werke hinzuweisen, die zu verschiedenen Deutungen herangezogen wurden, obgleich diese gewiß im allgemeinen so beschaffen sind, daß jeder Unvoreingenommene zu ihnen gelangen kann, wenn er die Quellen studiert, als die immer noch beinahe ausschließlich das Neue Testament, genauer gesagt, die vier Evangelien zu gelten haben. Meine Betrachtungsweise ist rein historisch. Ich wuchs ohne religiöse Unterweisung auf, interessierte mich aber sehr früh für die Mysterien des Alten Orients, so daß ich an der Universität eine Reihe von klassischen Sprachen belegte - Hebräisch, Aramäisch, Arabisch und Griechisch. Dies führte zu einem intensiven Studium der Bibel und der Ursprünge des Christentums, zu einem Problem von eigentümlicher Faszination. Die der Entstehung des Christentums zugrunde liegende Zweideutigkeit, die bereits erwähnt wurde, hat sich meiner Ansicht nach bis in unsere Tage unvermindert erhalten; sie geht uns alle weit über die Grenzen konfessioneller Religion hinaus an. Ich hoffe, daß wir uns dem Problem des Lebens Jesu auf dieser Welt, das in den vergangenen hundertfünfzig Jahren mit ängstlicher Zurückhaltung behandelt worden ist, von einem anderen, dem Geist unserer Zeit entsprechenden Standpunkt aus nähern können.

Einleitung

Mit der Geburt Jesu Christi beginnt für mehr als ein Drittel der Menschheit die eigentliche Geschichte. Merkwürdig, daß Jesus uns so dunkel und rätselhaft bleibt. Noch merkwürdiger, daß noch vor wenigen Generationen kaum Interesse an den irdischen Seiten seiner Laufbahn bestand: Jesus Christus wurde ausschließlich als göttliches Wesen verehrt, und achtzehnhundert Jahre lang schenkte man seinem Leben in dieser Welt keine ernsthafte Aufmerksamkeit. Natürlich wäre es schwierig gewesen, Material für eine Biographie des Menschen Jesus zusammenzutragen. Unser Wissen beschränkt sich fast ausschließlich auf den Inhalt des Neuen Testaments - praktisch auf die vier Evangelien. Die Information, die wir dort finden, ist äußerst karg; was wir in den Evangelien vorfinden, umfaßt schließlich nur einen kleinen Bruchteil des Lebens Jesu. Das vierte Evangelium - theologischer als die anderen und weniger historisch - umspannt nicht mehr als bestenfalls drei Jahre; die übrigen drei umfassen einige Monate oder noch weniger, auf keinen Fall aber mehr als ein Jahr. Es sind sogar Schätzungen angestellt worden, wie lange Jesus zu all den Reden, die ihm zugeschrieben, und zu den Taten, die berichtet werden, gebraucht hätte: nicht mehr als einige Wochen. Damit wird klar, daß die Aussichten für keinen der Biographen Jesu jemals sehr vielversprechend waren. Doch begreifen wir das erst jetzt, nachdem zu Beginn des neunzehnten Jahr-

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EINLEITUNG

hunderts, als die Gelehrtenwelt zu allen Fragen eine geschichtliche Betrachtungsweise einzunehmen begann, eine Bewegung einsetzte, die die Methoden der historischen Untersuchung, auf anderen Gebieten so fruchtbar, auch auf Jesus und die Ursprünge des Christentums selbst angewendet wissen wollte. Zuerst kam in Deutschland unter den liberalen protestantischen Theologen der sogenannte »Kritizismus« auf, eine Strömung, die sich derart eifrig mit dem Material über das Leben Jesu beschäftigte, daß in wenigen Generationen eine ungeheure Anzahl von Jesus-Biographien entstand. Man schätzt sie auf über 60 000! Offenbar liegt es an der Knappheit des Materials, daß so zahlreiche Bücher mit so vielen abweichenden Meinungen geschrieben wurden: eine Fülle von Information hätte die Möglichkeit begrenzt. Die Biographen befanden sich in der relativ glücklichen Lage, sich mit nichts auseinandersetzen zu müssen als mit den biographischen Fragmenten, die in den Evangelien enthalten sind. Darin ist die Ursache für die ungeheure Vielfalt dieser »Leben Jesu« zu sehen, von denen die meisten nichts anderes waren als Porträts, deren Züge von den Idealen der Biographen gepI'ägt waren. Es wurde Mode, spekulative und phantasievolle Berichte von unterschiedlichem Bildungsgrad zu ersinnen, auf die man die einzelnen Fragmente der Evangelien so geschickt wie möglich zurechtschnitt; das hing dann jeweils vom Geschick und von den romantischen oder theologischen Neigungen des jeweiligen Autors ab. Nachdem eine ungeheure Pionierarbeit geleistet und mit allen möglichen Themen in der Biographie Jesu experimentiert worden ist, bestätigt sich deutlicher denn je, was schon ein flüchtiger Blick in die Evangelien hätte zeigen müssen: Es ist nicht möglich, eine gültige Lebensgeschichte Jesu zu schreiben. Die ungewöhnliche Dürftigkeit der Informationen über den Menschen Jesus

EINLEITUNG

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gibt eine Vorahnung davon, welcher Art das Interesse war, das ihm durch die ganze Geschichte des Christentums galt. In den ältesten Berichten, die wir besitzen, ist der Mensch Jesus bereits aufgegangen im gÖttlichen Christus: Die Erzählung der Evangelien ist überlagert von den rituellen und doktrinären Interessen ihrer Verfasser und Bearbeiter. Und was noch wesentlicher ist: Sie wird aus einer gänzlich anderen Sicht erzählt, nämlich aus der Sicht cler Auferstehung und Verherrlichung des Erlösers. Diese neuartige Perspektive ist von der menschlichen Existenz Jesu völlig unabhängig, dennoch beherrschte sie die Schilderung wie die Deutung seines Lehens. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die historische Gestah J1::sus beinahe vollkommen ausgelöscht wurde durch ihre Verwandlung zum verehrungswürdigen Eckstein der urchristlichen Gemeinde. Begreiflicherweise sind wir so sehr in unserer eigenen Tradition befangen, daß wir uns den Evangelien und dem Neuen Testament in seiner Gesamtheit kaum ohne Voreingenommenheit nähern können. Es ist uns nahezu unmöglich, die Evangelien sozusagen naiv zu lesen - ganz einfach als Berichte von einem Ereignis, das geschehen ist. Unsere Tradition läßt uns keinen eigenen Zugang finden: Wir sehen die Texte, die so einfach erscheinen, gleichsam durch ein dunkles Glas. Das gesamte Neue Testament ist so vollkommen in unserem Denkgefüge aufgegangen, daß jenseits der gelangweilten Vertrautheit damit, die für viele unter uns charakteristisch ist, eine aktive und unermüdliche geistige Bemühung notwendig ist, um es so zu studieren, wie wir es mit jedem anderen historischen Bericht tun würden. Eine solche Bemühung aber ist notwendig. Unzählige Menschen setzen sich beständig, ja in steigendem Maße, mit der Gestalt Jesu am Kreuz auseinander. Das Interesse am Alten und

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EINLEITUNG

am Neuen Testament, das mit der Reformation begann, wächst und wird mit größerem Eifer als jemals zuvor verfolgt. Daß sich vor mehr als neunzehnhundert Jahren in Palästina etwas Unerhörtes ereignete, davon sind nicht nur mehr als 800 Millionen gläubige Christen überzeugt, sondern es messen auch viele Menschen, deren angestammter Glaube als Doktrin verlorenging, zweifellos eben aus diesem Grunde Jesus eine um so größere Bedeutung in der zeitlichen Welt bei. Die Dokumente, die vor einigen Jahren aufgefunden und als »Schrifhollen vom Toten Meer« bekannt wurden, verstärkten noch das Interesse an der historischen Umwelt Jesu, die in den Evangelien so unzureichend angedeutet wird. Die meisten werden sich an die Auffindung der Rollen im Jahre 1947 erinnern, an die sich eine der erbittertsten Kontroversen in der Geschichte der Wissenschaft knüpfte. Als die Rollen schließlich aus der Abgeschlossenheit der Gelehrtenwelt heraustraten, war die riesige Laienschar fasziniert von der Hoffnung, daß nun - zum ersten Mal in der Geschichte - nicht nur die historischen Ereignisse des Lebens Jesu, sondern auch seine besondere kulturelle oder gesellschafl:liche Umwelt erhellt würden. In dieser Hinsicht erwiesen sich die Rollen als Enttäuschung. Selbst wenn man ihr hohes Alter als gesichert ansieht, was in maßgeblichen Kreisen immer noch heftig umstritten ist, haben sie nicht das geringste Licht auf die Person Jesu geworfen oder unsere Kenntnis seiner unmittelbaren Umwelt bereichert. Auch unter den Gelehrten, die an die Entstehung der Rollen in vorchristlicher Zeit glauben, besteht keine Übereinstimmung darüber, welche Informationen sie nun eigentlich in Bezug auf die Welt des gesamten zeitgenössischen Judentums geben; es wäre viel zu früh, eine Abschätzung ihres Informationsgehalts zu versuchen.

EINLEITUNG

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Alles, was sich heute über die Rollen sagen läßt - vorausgesetzt, sie sind wirklich so alt, wie manche Forscher glauben -, ist, daß sie gleichsam das spezifische Gewicht des allgemeinen jüdischen Hintergrundes des Christentums vergrößert haben. So weit unser Wissen reicht, ist die ganze Epoche so leer, so verlassen von den alten Chronisten, daß wir fast keine spezifischen Informationen besitzen über die Geburt einer Religion, die die Welt umgewandelt hat. So dunkel und bruchstückhaft diese Schriftrollen auch sein mögen, sie bleiben zwangsläufig ein kostbares Mittel dazu, das Mosaik der turbulenten jüdischen Welt, aus der das Christentum hervorging, zusammenzufügen und einige der Fäden zu entwirren, die in die Urkirche hineinverwoben wurden. Obgleich wir vielleicht durch die Auffindung der Schriftrollen vom Toten Meer über die Umwelt Jesu mehr erfahren, erfahren wir doch nicht mehr über ihn selbst. Wir hängen immer noch vom Neuen Testament ab. Zwar kann auf der knappen Information, die in den Evangelien enthalten ist, keine gültige Biographie begründet werden, doch bieten sich immerhin interessante Möglichkeiten an. Eine unvoreingenommene Abschätzung der Evangelien wird uns bei einer erneuten Betrachtung der tragischen Laufbahn Jesu unterstützen. Der Evangelienbericht ist - wie wir sehen werden - nicht nur als geschichtliche Quelle unzulänglich; er ist auch merkwürdig widersprüchlich. Um daraus einen verständlichen Bericht darüber, was geschehen sein könnte, zu entnehmen, muß man eine radikale Rekonstruktion des Ereignisablaufs unternehmen; eine solche Rekonstruktion auf Grund des vorhandenen Materials, die sich aber nicht in dessen Dienst stellt, ist seit langem möglich, aber selten gewagt worden. Befassen wir uns also von neuem mit der Geschichte J esu.

ERSTES KAPITEL

Das Rätsel des Todes Jesu

Was für einen ungewöhnlichen Eindruck machen die Evangelien auf uns, wenn wir uns ihnen mit einer naiven Einstellung zuwenden! Was für ein faszinierendes Durcheinander von Rätseln, Widersprüchen, Lücken, Anspielungen und Andeutungen! Es ist die Geschichte eines Individuums, aber wir erfahren nichts Persönliches. Die Erzählung ist so dürr, daß wir vor einem Rätsel stehen. Sie erweckt den Eindruck, Jesus bewege sich in einem leeren Raum; wir erfahren nichts über seinen Alltag und verstehen die Beziehungen zu seinen Gefährten nicht. über deren Verhalten wird fast überhaupt nichts berichtet. Trotz der gelegentlichen Umweltatmosphäre liegt ein Schleier von Ungewißheit und Zeitlosigkeit über den Ereignissen und trübt den Zusammenhang: das Grundprinzip des Wirkens Jesu entzieht sich uns. Die einzelnen Anekdoten, die die Substanz der Geschichte bilden, scheinen alle in der Luft zu hängen, ebenso wie die Gleichnisse und Worte Jesu. Auch wenn der symbolische Sinn klar wird, wird das gleiche Ereignis in den verschiedenen Berichten höchst unterschiedlich eingeordnet. Auf jeden Fall scheinen die Gleichnisse so entfernt vom wirklichen Leben, daß sie weder den Charakter Jesu noch die Situation erhellen, für die sie aufschlußreich sein könnten. Persönliche Motive werden selten angeführt, es sei denn mit kindlicher und offensichtlich gewollter Einfachheit. Wir erkennen die inneren Gedanken und Gefühle J esu nicht, und selbst seine Ziele bleiben dunkel. Er ist wie eine Statue, auf diese oder jene Pose festgelegt. Selbst sein

DAS RÄTSEL DES TODES JESU

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Leiden bleibt gewissermaßen auf einer nichtmenschlichen Ebene: Was kann es uns bedeuten, wenn wir keine Vorstellung von seinen Zielen und Gedanken haben? Es sieht so aus, daß die Evangelien zwar eine Geschichte erzählen, aber damit nicht das Porträt einer Persönlichkeit zeichnen, sondern ein Thema aufbauen sollen. Die Darstellung dieses Themas enthält zahlreiche Widersprüche. Jesus wird uns stets als Quintessenz der Güte gezeigt, dennoch erweckt er unbegreifliche Mißgunst in seinem eigenen Volk, die zu seinem grausamen Ende führt. Er wird ewig und göttlich genannt, aber ausführliche Genealogien werden angeführt, die ihn in Verbindung zum jüdischen Königshaus bringen. Er hat sogar eine Familie, eine Mutter, vier Brüder und mindestens zwei Schwestern, die ihn keineswegs für göttlich, sondern eher für verrückt halten. Sein Judentum ist konventionell, er scheint aber den Juden als solchen bald freundlich, bald feindselig gegenüberzustehen. Er hat Jünger, die lehren sollen, selbst aber in Gleichnissen belehrt werden, die sie nicht nur unverständlich finden, sondern auch nicht mitteilen dürfen. Manchmal scheint sich Jesus allein ai1 die Juden zu wenden, dann wieder an die ganze Welt. Er scheint demütig und nimmt doch für sich in Anspruch, größer als Salomon zu sein und zur Rechten Gottes zu sitzen. Er untersagt den Gebrauch von Schmähworten und greift dennoch seine Gegner unaufhörlich an. Die Taufe spielt eine große Rolle, aber wir erfahren, daß Jesus selbst niemals taufte. Menschenmassen jubeln ihn an einem Tage zu und verstoßen ihn am folgenden. Als seine Jünger ihn den Messias nennen, ermahnt er sie, zu schweigen, obgleich sein öffentliches Auftreten diese Erklärung nahelegt. Seine Jünger wissen von seinem künftigen Schicksal, dennoch »verlassen sie ihn und fliehen«, als es sich vollzieht, und so weiter.

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ERSTES KAPITEL

Je eingehender man diese Dinge betrachtet, um so verwirrender werden sie. Es ist schwierig, mit einer derart dürftigen Information eine Skala von Wahrscheinlichkeiten aufzustellen. Ohne einen Kompaß scheinen wir verloren. Es läßt sich jedoch ein Kompaß finden. Im Kern des ganzen Evangelienberichtes - am Höhepunkt - ist ein Rätsel verborgen. Die Kreuzigung und ihre Gründe sind merkwürdig rätselhaft; bei der Entwirrung des Rätsels werden wir auf die Lösung des gesamten Problems stoßen. Das Problem ist: Obwohl Jesus mit vielen seiner Bemerkungen (die wir noch näher prüfen werden) zeigt, daß er ein frommer Jude ist, gerät er aus religiösen Gründen in Widerspruch zu anderen Juden. Sie hassen ihn, wird uns berichtet, und verschwören sich, um ihn zu verniditen. Er wird schließlich hingerichtet, aber nicht von den Juden, wie wir erwarten würden, sondern von den Römern. Fassen wir zusammen: Ein römischer Statthalter läßt einen Juden, der politisch ungefährlich ist, wegen eines Vergehens kreuzigen, das an einer Stelle als Verstoß gegen die jüdische Religion bezeichnet wird. An anderer Stelle wird auch von einem Vergehen gegen Rom berichtet, es wird aber ausdrücklich als erfunden bezeichnet. Am Ende aber wird Jesus eben wegen dieses Vergehens gegen Rom, weil er Macht für sich beansprucht (»König der Juden«), gekreuzigt. Dieser Widerspruch am Höhepunkt des Evangeliums ist ein unerläßlicher Wegweiser für die Rekonstruktion, die er geradezu fordert. Lassen wir einstweilen die anderen Widersprüche des Berichts beiseite und gehen in umgekehrter Richtung vor. Wir beginnen beim tragischen Ende des Lebens Jesu und durchlaufen die Evangelien gewissermaßen vom Ende her. Wir werden den Versuch

DAS RÄTSEL DES TODES JESU

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unternehmen, eine Alternative zu der traditionellen Auffassung der Laufbahn J esu zu finden und zu begreifen, was sie für die Menschen seiner Zeit bedeutete. Wir werden die Entstehungsgeschichte der Evangelien vergleichen: So, wie durch die Kreuzigung und ihre Deutung die Berichte über den Lebensweg Jesu entstanden und geformt wurden, wird sie uns einen Anhaltspunkt für eine neue Deutung dieses Lebenswegs geben. Für diesen Prozeß der umgekehrten Analyse müssen wir zwei Tatsachen feststellen: Zum einen, daß die frühesten Chronisten ihre Perspektive zur Verherrlichung des göttlichen Erlösers durch seine Auferstehung änderten. Zum andern, daß wir die Atmosphäre beachten müssen, in der die Evangelien entstanden sind und bearbeitet wurden. Dies geschah zu dem Zeitpunkt, als die neu entstandene christliche Sekte sich endgültig vom Stamm des Judentums ablöste, mit dem sie während der ersten Generationen ihres Bestehens gleichgesetzt worden war. Während die christliche Gemeinde zunehmend selbstbewußter wurde, stieß sie sich mehr und mehr an der Feindschaft des Judentums, vor allem der gebildeten jüdischen Gelehrten, die die Hauptgegner des frühen Christentums waren. Jüdische Elemente im frühchristlichen Glauben wurden ausgemerzt oder durch Elemente aus der griechisch-römischen Welt verdrängt. Die Verfasser und Bearbeiter der Evangelien übertrugen ihre eigenen Kontroversen mit den jüdischen Priestern in die Zeit Jesu. Dieser Prozeß wurde mit der Vernichtung des jüdischen Staates durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. verstärkt. Diese löschte die kleine Gemeinde von Juden, die an die persönliche Einzigartigkeit Jesu - nicht jedoch an seine Göttlichkeit - glaubte, aus, so daß sich die neue Sekte ganz unter dem Einfluß der griechisch-römischen Welt entwickelte. Die Perspektive, die mit der fortschreitenden Verherr-

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ERSTES KAPITEL

lichung Jesu geschaffen wurde, beherrschte die Aufzeichnung der Evangelien. Sie blieb der Brennpunkt des gesamten christlichen Denkens. Paulus selbst hat uns die Formel gegeben, die in gedrängter Form diesen Prozeß der kultischen Verklärung verdeutlicht: Seine ganze Sorge galt dem »gekreuzigten Christus« (1 Kor 1,23). Diese knappe Zusammenfassung erklärt nicht nur den Standpunkt der ersten christlichen Generation, sondern auch die Schnelligkeit, mit der die authentischen Erinnerungen an das Leben Jesu der transzendenten Tendenz untergeordnet wurden, die so deutlich in dem Satz des Paulus :t.Um Ausdruck kommt. Wären die Evangelien systematisch und vernünftig kontrolliert worden, so würden wir überhaupt nichts über den Menschen Jesus erfahren. Bedenkt man die umfassende Gewalt, die der Kirche zufiel, als das Christentum unter Konstantin dem Großen eine Staatseinrichtung wurde, und die Schärfe der Zensur, die unter ihm eingeführt und seit dem fünften Jahrhundert mit großem Nachdruck ausgeübt wurde, dann ist es erstaunlich, daß das wenige Material, über das wir verfügen, die Zeiten überdauert hat. Wir verdanken es einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte, die unzulänglich auf gezeichnet und der Verehrung überlieferter Texte untergeordnet wurde. Dadurch entstanden zahlreiche Lücken in dem Gewebe der Frömmigkeit, das eigentlich dazu ersonnen war, alle weltlichen Tatsachen im Interesse der Verherrlichung Jesu auszuschließen. Die innere, kultische Veränderung der Perspektive, die mit der Verherrlichung Jesu verbunden war, ging einher mit der äußeren, historischen Wandlung der Sicht, die dem zunehmenden und schließlich nicht mehr zu überbrückenden Schisma zwischen der neuen Sekte und dem Judentum entsprach. Dieser Gedanke ist die Grundlage für jede Untersuchung der

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Anfänge des Christentums; wir werden noch öfters darauf zurückkommen. Wir werden die vielschichtigen, unvereinbaren Elemente, die in die Evangelien verwoben sind, unter dem Einfluß dieser doppelten Verschiebung der Perspektive untersuchen - der theologischen und der historischen. Dies liefert uns das Hauptkriterium: Alles, was im Widerspru.ch steht zu dieser Umwandlimg der Perspektive, entspridJt wahrscheinlich der Wirklichkeit. Das bedeutet: Jedes Fragment, das wir isolieren können und das der vorherrschenden Evangelientendenz zuwiderläuft, Jesus zu erhöhen, seine Universalität zu predigen und seine Einmaligkeit zu betonen, wird eben dadurch als wahrscheinlich angesehen (selbstverständlich unter den gleichen Gegebenheiten). Das erste der Evangelien - das des Markus - wurde selbst in seiner frühesten Form erst eine Generation nach dem Tode Jesu niedergeschrieben. Die anderen Evangelien entstanden noch später, und die endgültige Abstimmung und Bearbeitung der frühesten überlieferten Elemente, die in die uns vorliegenden Evangelien übernommen wurden, fand erst in dieser sehr viel späteren Zeit statt. Die Feindseligkeit der Juden zwang die universale Mission des Christentums, ihre Arena nicht unter den Juden zu suchen, sondern in den großen Räumen des römischen Reiches. Wenn wir uns den positiven Faktor der neuen Perspektive des göttlichen Jesus und den negativen Faktor der Feindseligkeit zwischen den Juden und der neuentstandenen christlichen Kirche vergegenwärtigen, dann können wir auch feststellen, in welchem Maße dieses antijüdische Gefühl, vor allem bei Matthäus und Johannes, hinter dem rätselhaften Charakter der Kreuzigung steht.

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ERSTES KAPITEL

Durch den in den Evangelien enthaltenen Groll entstand der weitverbreitete Eindruck - und viele Leute halten das für in der Tat erwiesen - , daß in erster Linie die Juden die Schuld am Untergang Jesu tragen. Das war von Anbeginn ein Leitmotiv der christlichen Welt, wenn auch seine Intensität schwankte. Die Gehässigkeit der Evangelienschreiber richtet sich umrtißverständlich gegen die Juden; die Hinweise auf die Römer sind 'ziemlich harmlos. Ganz offensichtlich wird da und dort der Versuch unternommen, die Römer sozusagen vor unseren Augen reinzuwaschen und sie soweit wie möglich von einer aktiven Rolle bei der Hinrichtung Jesu zu entlasten. Die römische Obrigkeit erscheint in den Evangelien als unschuldiges Werkzeug der jüdischen Verschwörung: Mit einer Flut von Worten wird berichtet, wie der römische Statthalter Pontius Pilatus, der gegen die Verurteilung Jesu war, unter dem Druck der Juden gezwungen wurde, seine Zustimmung zu erteilen. Warum aber sollte ein römischer Beamter eingreifen, um einen armen jüdischen Visionär zu retten? Warum sollten andererseits die jüdischen Mitbürger Jesu darauf bestehen, daß ihn die Römer töteten? Wir werden sehen, daß ein mehr oder weniger bewußter Wunsch, die Juden zu beschuldigen und die Römer freizusprechen, im Spiel war; dieses antijüdische Rachegefühl der Evangelisten erklärt zwar zum Teil ihre Römerfreundlichkeit, macht es aber um so bedeutungsvoller, daß die eigentliche Schuld an der Hinrichtung Jesu dennoch den Römern in die Schuhe geschoben wird. Wenn die Evangelisten so feindselig zu den Juden standen und sich solche Mühe gaben, ihnen die Schuld an der Kreuzigung Jesu aufzubürden, warum berichten dann alle vier Evangelien - trotz des Fehlens von Einzelheiten in der Schilderung, die

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offensichtlich alle Arten von Phantasiezugaben ermöglicht - , daß es die Römer waren, die tatsächlich Jesus zum Kreuzestod verurteilten und das Urteil selbst vollstreckten? Die Kreuzigung als solche ist von entscheidender Bedeutung: Sie stellt eine typisch römische Hinrichtungsart dar und wurde von den Juden niemals als Höchststrafe angewandt. Die Vollstreckungsart, die die Juden hätten ausführen dürfen, wäre Erhängen, Steinigen, Verbrennung auf dem Scheiterhaufen oder Enthauptung gewesen. Allein die Tatsache der Kreuzigung Jesu deutet auf die direkte Mitwirkung der römischen Obrigkeit hin. Darüber hinaus war die Kreuzigung, die offenbar orientalischen Ursprungs ist, der schmähliche Tod par excellence bei

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