Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert

Die Epoche zwischen der Reformation und Gegenreformation einerseits und der Auflösung der Reichskirche bzw. der weitgehenden Privatisierung des Religiösen in der späten Aufklärung andererseits hat bisher wenig Interesse auf sich gezogen. Dabei handelt es sich um eine spannungsgeladene Konstellation, wenn wir auf das Verhältnis von Staat, Kirche und Gesellschaft um 1600, um 1700 und um 1800 schauen: War das Heilige Römische Reich Deutscher Nation in seiner territorialen Zersplitterung nicht gerade ein Reich religiöser Toleranzen? Warum kamen die Hugenotten nach Hessen-Kassel, nach Brandenburg-Preußen? In welchem sozialen Kontext formulierte Lessing die Ringparabel des Nathan? Welche Folgen hatte es für die deutsche Geschichte, dass das Land konfessionell gemischt war? In welchem Verhältnis steht die Aufklärung zum Konfessionellen Zeitalter? In dem vorliegenden Band unternimmt ein Allgemeinhistoriker eine Einschätzung dieser und weiterer Themen aus nicht konfessionsgebundener Sicht; er informiert dabei zuverlässig über die Fakten und führt in die umfangreiche Spezialliteratur ein.  Read more...

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ENZYKLOPÄDIE DEUTSCHER GESCHICHTE BAND 51

ENZYKLOPÄDIE DEUTSCHER GESCHICHTE BAND 51

HERAUSGEGEBEN VON LOTHAR GALL IN VERBINDUNG MIT PETER BLICKLE ELISABETH FEHRENBACH JOHANNES FRIED KLAUS HILDEBRAND KARL HEINRICH KAUFHOLD HORST MÖLLER OTTO GERHARD OEXLE KLAUS TENFELDE

KIRCHE, STAAT UND GESELLSCHAFT IM 17. UND 18. JAHRHUNDERT VON MICHAEL MAURER

R. OLDENBOURG VERLAG

MÜNCHEN 1999

CIP-Einheitsaufnahme

Die Deutsche Bibliothek -

Enzyklopädie deutscher Geschichte/hrsg. von Lothar Gall Verbindung mit Peter Blickle... München : Oldenbourg ISBN 3-486-53691-5

in

-

Bd. 51. Maurer, Michael: Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert. 1998 -

Maurer, Michael: Kirche, Staat und Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert / Michael Maurer. München : Oldenbourg, 1998 (Enzyklopädie deutscher Geschichte ; Bd. 5t) ISBN 3-486-55793-9 (kart.) ISBN 3-486-55794-7 (geb.)

von

-

© 1999 R. Oldenbourg Verlag GmbH, München Roser.heimer Straße 145. D-81671 München Internet: http://wwvv.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Dieter Vollendorf, München Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe GmbH, München

Umschlaggestaltung:

ISBN 3-486-55793-9 brosch. ISBN 3-486-55794-7 geb.

Vorwort Die

„Enzyklopädie deutscher Geschichte" soll für die Benutzer Fachhi-

storiker, Studenten, Geschichtslehrer, Vertreter benachbarter Disziplinen und interessierte Laien ein Arbeitsinstrument sein, mit dessen Hilfe sie sich rasch und zuverlässig über den gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse und der Forschung in den verschiedenen Bereichen der deutschen Geschichte informieren können. Geschichte wird dabei in einem umfassenden Sinne verstanden: Der Geschichte in der Gesellschaft, der Wirtschaft, des Staates in seinen inneren und äußeren Verhältnissen wird ebenso ein großes Gewicht beigemessen wie der Geschichte der Religion und der Kirche, der Kultur, der Lebenswelten und der Mentalitäten. Dieses umfassende Verständnis von Geschichte muß immer wieder Prozesse und Tendenzen einbeziehen, die säkularer Natur sind, nationale und einzelstaatliche Grenzen übergreifen. Ihm entspricht eine eher pragmatische Bestimmung des Begriffs „deutsche Geschichte". Sie orientiert sich sehr bewußt an der jeweiligen zeitgenössischen Auffassung und Definition des Begriffs und sucht ihn von daher zugleich von programmatischen Rückprojektionen zu entlasten, die seine Verwendung in den letzten anderthalb Jahrhunderten immer wieder begleiteten. Was damit an Unschärfen und Problemen, vor allem hinsichtlich des diachronen Vergleichs, verbunden ist, steht in keinem Verhältnis zu den Schwierigkeiten, die sich bei dem Versuch einer zeitübergreifenden Festlegung ergäben, die stets nur mehr oder weniger willkürlicher Art sein könnte. Das heißt freilich nicht, daß der Begriff „deutsche Geschichte" unreflektiert gebraucht werden kann. Eine der Aufgaben der einzelnen Bände ist es vielmehr, den Bereich der Darstellung auch geographisch jeweils genau zu bestimmen. Das Gesamtwerk wird am Ende rund hundert Bände umfassen. Sie folgen alle einem gleichen Gliederungsschema und sind mit Blicke auf die Konzeption der Reihe und die Bedürfnisse des Benutzers in ihrem Umfang jeweils streng begrenzt. Das zwingt vor allem im darstellenden Teil der den heutigen Stand unserer Kenntnisse auf knappstem Raum zusamihm schließen sich die Darlegung und Erörterung der Formenfaßt schungssituation und eine entsprechend gegliederte Auswahlbibliogra-

-

VI

Vorwort

phie an -, zu starker Konzentration und zur Beschränkung auf die zentraVorgänge und Entwicklungen. Besonderes Gewicht ist daneben, unter Betonung des systematischen Zusammenhangs, auf die Abstimmung der len

einzelnen Bände untereinander, in sachlicher Hinsicht, aber auch im Hinblick auf die übergreifenden Fragestellungen, gelegt worden. Aus dem Gesamtwerk lassen sich so auch immer einzelne, den jeweiligen Benutzer besonders interessierende Serien zusammenstellen. Ungeachtet dessen aber bildet jeder Band eine in sich abgeschlossene Einheit unter der persönlichen Verantwortung des Autors und in völliger Eigenständigkeit gegenüber den benachbarten und verwandten Bänden, auch was den Zeitpunkt des Erscheinens angeht. -

Lothar Gall

Inhalt /.

Enzyklopädischer Überblick.

1

Voraussetzungen Augsburgische Religionsfrieden: Bikonfessionalis-

1

mus im Reich 2. Das tridentinische Papsttum und die Reichskirche 3. Die lutherischen Landeskirchen im Zeichen der Orthodoxie 4. Christen außerhalb des reichsrechtlichten Konsenses

1 3

A.

.

1. Der

.

.

.

....

B. Das 17. Jahrhundert 1. Das Scheitern des verrechtlichten Konfessionssystems 2. Der Westfälische Frieden: Trikonfessionalismus im Reich . Die dritte Konfession: Zur Spezifik des deutschen 3. .

...

4. 5. 6. 7.

6 8 9 9

15

Calvinismus. 17 Reunionsversuche und Konversionen. 19 Katholische Barockfrömmigkeit Die Sonderstellung der geistlichen Staaten. Die Anfänge des Pietismus

21 22 24

C. Das 18. Jahrhundert 1. Pietismus als staatstragende Religion: Preußen und Württemberg. 2. Systemsprengende Tendenzen des radikalen Pietismus 3. Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine. 4. Der Protestantismus im Zeichen der Aufklärung. 5. Jansenismus, Reformkatholizismus, Josephinismus. 6. Febronianismus und reichskirchliche Bestrebungen

26 26 28 30 32 38 45

D. Um 1800 1. Das Ende der Reichskirche 2. Unionsbestrebungen im deutschen Protestantismus 3. Restauration, Romantik und Religion

46 46 49 50

.

.

.

...

.

.

.

.

.

VIII II.

Inhalt

Grundprobleme und Tendenzen der Forschung A.

Allgerneines 1. 2. 3.

.

.

Disziplinenproblematik. Epochenproblematik. Historiographie im Überblick: profan, konfessionell und

53 53 53 56

ökumenisch. 59 B. Kirche und Staat . 1. „Abschied vom Religionskrieg" 2. Konfessionsdifferenz und Reichsverfassung 3. Von der christlichen Obrigkeit zur säkularen Staatsrä.

.

son

.

4. Das Staatskirchenrecht die sensible Schnittstelle 5. Der Weg Brandenburg-Preußens 6. Der Josephinismus. .

-

.

68 68 70

72 75 79 82

C. Kirche und Gesellschaft . 85 1. Das Personennetzwerk der Reichskirche. 85 2. Sozialgeschichte des protestantischen Klerus 88 3. Sozialdisziplinierung: Konfession im Prozeß der Zivilisation. 91 4. Pietismus und soziale Entwicklung. 94 5. Konfession und Bildung. 98 6. Toleranz und Pluralismus. 101 .

///.

Quellen und Literatur

.

107

A.

Quellen (Quellensammlungen).

108

B.

Hilfsmittel (Atlanten, Wörterbücher, Lexika)

109

.

C. Literatur. 110 a.

1. 2. 3.

b. L. 2. 3.

Übergreifende Darstellungen. Disziplinenproblematik. Allgemeine Geschichte. Kirchengeschichte .

110 110 111 113

Kirche und Staat. 119

„Abschied

vom

Religionskrieg"

.

Konfessionsdifferenz und Reichsverfassung Von der christlichen Obrigkeit zur säkularen Staatsrä-

.

son

.

119 119

120

Inhalt

IX

4. Das Staatskirchenrecht die sensible Schnittstelle 122 5. Der Weg Brandenburg-Preußens 122 6. Der Josephinismus. 124 .

-

.

c.

Kirche und

Gesellschaft

.

125

1. Das Personennetzwerk der Reichskirche. 125 2. 3.

Sozialgeschichte des protestantischen Klerus Sozialdisziplinierung: Konfession im Prozeß

.

der Zivilisation. 4. Pietismus und soziale Entwicklung. 5. Konfession und Bildung. 6. Toleranz und Pluralismus.

127

128 129

130 132

Register. 135 Themen und Autoren

.

147

Dies Buch gehört dem Lehrer: ERNST WALTER ZEEDEN

Enzyklopädischer Überblick

I.

A.

Voraussetzungen

Religionsfrieden: Bikonfessionalismus im Reich Seit der Reformation konkurrierten rivalisierende religiöse und kirchliche Ordnungsvorstellungen um Einfluß auf die Heilsvorstellungen und 1. Der Augsburgische

t>

um

b

a

Einlieitskulturdes

Mittelalters zerbrocnen

weltliche Dominanz. Was für die einen reformatio war, die Wiederher-

stellung des ursprünglichen Zustandes und Erneuerung christlicher Rivalisierende Lehre, bgalt den anderen als Bedrohung des ordo, Abfall von der Kirche, OrdnungsvorsteiRingen Glaubensspaltung. Freilich hatten nur wenige Menschen die Möglichkeit, eine selbstbestimmte Gewissensentscheidung zu treffen, da schon bald nach der prinzipiellen Öffnung eine erneute Abschließung kleinerer Einheiten erfolgt war, deren jede in ihrem territorialen Bereich absolute Geltung beanspruchte. Für alle Untertanen und die Gläubigen jeder Konfession galt Parochialzwang: Der Pfarrer wurde in gewisser Hinsicht zum Rolle des Pfarrers Vorgesetzten seiner Gemeinde, der auf Kirchenbesuch und Teilnahme am Abendmahl achtete und eventuell auch entsprechende Kirchenzuchtmöglichkeiten hatte. Doch war er seinerseits an die Bestimmungen der jeweiligen Kirchenordnung gebunden und wurde durch Visitationen überwacht. Auf Gemeindeebene war der Pfarrer der jeweiligen Konfession derjenige, der durch Katechismusunterricht, Predigt und Seelsorge auf die Unterta'

o

>

einwirkte, mithin auf die Einheitlichkeit des Glaubens und Lebens Einfluß nehmen konnte. So ist die Frühe Neuzeit insgesamt gekennzeichnet durch eine enge Zusammengehörigkeit von geistlicher und weltlicher Gewalt, verflochten mit umfassender sozialer Kontrolle und Disziplinier rung. Es gehört zu diesem System, daß man im Bereich einer Herrschaft auch nur eine Konfession, d. h. gleichartige religiöse und soziale Beeinflussung, dulden wollte. Im Interesse der öffentlichen Sicherheit und Ordnung orientierten sich beide Konfessionen, die protestantische wie die katholische, weiterhin am Ideal der Uniformität, wenn dieses nun auch war. Für Toleranz war kein Raum. räumlich eingeschränkt ° Trotzdem blieb die normative Vorstellung eines allgemeinen Christentums, jenseits aller Konfessionen, auch dort erhalten, wo die Lebenswirklichkeit vom schieren Konfessionalismus (bis hin zum Bürgerkrieg!) nen

Zusammengehörigkel' ™" ge'stllcher und weltlicher Ge-

wait

Ideal der Uniformität-räumlich

eingeschränkt

2

I.

Enzyklopädischer Überblick

Alieinvertretungs- bestimmt war. Der Alleinvertretungsanspruch jeder Konfession mußte an ansprach jeder seme Grenzen stoßen, wo in unmittelbarer °geographischer Nachbarschaft ° r Konfession und normative Vorstel- Menschen eines konkurrierenden Alleinvertretungsanspruches lebten, lung einer Einheit ^e sjcn prinzipiell auf dieselbe christliche Botschaft bezogen. Während o r r der Christenheit das 16. Jahrhundert einen Gutteil seines Elans aus dem Drängen auf Erneuerung bezogen hatte, verstärkte sich im 17. Jahrhundert die Einsicht in die Obrigkeitlichesius Widersprüchlichkeit desKonfessionalismus. Konnte das Recht über reformandi'undin- ^ Bestimmung° der Konfession in die Kompetenz der Fürsten fallen? r dividuelle GlauSeelenheil eines Infür das von Sollten bensentscheidung unweigerlicher Bedeutung Fragen dividuums nicht von jedem einzelnen selbst entschieden werden? Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Ordnung der konfessioVerhältnisse waren im Augsburgischen Religionsfrieden nach jahnellen Augsburgischer Rehgionsfneden reiarigern 0ffenem Krieg abgesteckt worden: 1555 traten die bis dahin vom Ketzerrecht bedrohten lutherischen Fürsten denen des alten Glaubens gleichberechtigt zur Seite. Alle übrigen Denominationen (Zwinglianer, Calvinisten, Täufer, Spiritualisten) blieben weiterhin ausgeschlossen und genossen nicht den Schutz des Reichsrechtes. Im Augsburgischen Religionsfrieden war der Grundsatz fixiert worden, daß jeder Landesherr die Konfession seiner Untertanen zu bestimmen habe (ius reformandi). Seit dem eins „cuius regio, späten 16. Jahrhundert verwendete man die Formel „cuius regio, eius religio" religio". Im Prinzip war das nichts Neues; neu war, daß das Recht über die Religion infolge der Glaubensspaltung auf eine niedrigere Ebene übergegangen war: Nicht der Kaiser verfügte über die Religion seiner Untertanen, sondern die jeweilige territoriale Obrigkeit. Diese Aufspaltung war im 16. Jahrhundert geistig noch schwer zu verkraften; die Juristen folgten der normativen Kraft des Faktischen, wie sie sich im bewaffneten Kampf herauskristallisiert hatte. Vom Hauptprinzip wurden Ausnahmen statuParitatische iert: Es gab paritätischeStädte, in denen der Schutz einer konfessionellen Reichsstädte Minderheit genau geregelt war (Augsburg, Biberach, Ravensburg, Dinreservatum eccksia- kelsbühl). Des weiteren wurden Spezialregelungen für geistliche Fürstenslicuni tümer getroffen: Sollte sich ein geistlicher Fürst zum Konfessionswechsel entschließen, mußte er sogleich sein Amt niederlegen; alle geistlichen Fürstentümer sollten katholisch bleiben (reservation ecclesiasticum). Doch erhielten gleichzeitig diejenigen Untertanen geistlicher Fürsten, welche sich dem Luthertum (der Confessio Augustana", CA) zugewandt hatten, die (in ihrer rechtlichen Bindewirkung umstrittene) Versicherung, sie dürften bei ihrem Glauben bleiben („Declaratio Ferdinandea"). Die Hauptbestimmung („cuius regio, eins religio") wurde gewissermaßen kompensiert durch ein verbrieftes Auswanderungsrecht der konfessionell dissentierenden Untertanen (ius emigrandi). Der 1555 kodifizierte Zums emigrana stand enthielt das Prinzip, konfessionelle Uniformität sei zwar nicht uni-



A.

Voraussetzungen

3

versal, wohl aber territorial durchzusetzen (Segregation). Der Augsburgische Religionsfrieden legalisierte den Bikonfessionalismus und regelte Verrechtlicher Bidas Nebeneinander von Katholiken und Lutheranern im Heiligen Römi- kQnfessiQnalismus sehen Reich Deutscher Nation. 2. Das tridentinische

Papsttum

und die Reichskirche

DasTrienter Konzil (1545-1563) hatte geklärt, daß die Heilige Schrift und Trienter Konzil die mündliche apostolische Tradition Grundlagen des Glaubens seien, Schrift und Tradiwährend die Protestanten bekanntlich nur die erste akzeptierten. In be- tlon zug auf die Rechtfertigungslehre hatte das Konzil dekretiert: Glauben Glauben und und Werke. Auch die traditionelle Siebenzahl der Sakramente wurde be- Werke stätigt. Dies folgte jeweils aus der Grundentscheidung, nicht nur die Schrift zur Glaubensquelle zu nehmen, sondern auch die Tradition. Was sich in päpstlicher Lehre konkretisiert hatte, wurde auch vom Konzil als Glaubenslehre übernommen und im Zweifelsfall präzisiert. Das gilt auch für die Liturgie, die in ihrer traditionellen Form eingeschärft wurde, namentlich für die Messe in ihrem Opfercharakter. Die katholische Kirche entwickelte sich eigentlich erst mit dem Konzil von Trient zu einer Konfes- Katholizismus wird Konfession sion und zwar einer Konfession neben anderen. Es ist eine merkwürdige Erscheinung gerade der Epoche der Gegen- Neue Orden reformation, daß der alten Kirche immer wieder neue Kräfte zuwuchsen, die sich in Form von Orden institutionalisierten. Es bildeten sich, nach den neuen Idealen am Beginn der Neuzeit, neuartige Orden, die mehr Wert auf Aktivität als auf Kontemplation legten, die meist kein spezielles Habit und keine Klausur hinter Klostermauern kannten, ebensowenig Stundengebet und die üblichen mönchischen Kasteiungen. Stattdessen betonten sie Krankenpflege, Schulunterricht und Mission (Theatiner, Somasker, Barnabiten, Barmherzige Brüder, Kapuziner, Oratorianer). All diese Orden entstanden in Italien bzw. Spanien im Laufe des Jesuiten 16. Jahrhunderts. Der bedeutendste und wirkungsmächtigste Orden der Gegenreformation aber waren die Jesuiten (Companfa de Jesus, Societas Jesu), gegründet von dem baskischen Adligen Ignatius von Loyola und 1540 vom Papst approbiert. Besonderheiten des Jesuitenordens waren: dichte Organisationsstruktur und gegenseitige Überwachung, Befehl und Gehorsam, zentrale Anordnung, Rotation von Niederlassung zu Niederlassung. Die oberste Maxime war eine bedingungslose Unterstellung unter den Papst. Ignatius von Loyola und seine Anhänger wollten den neuen Glauben bekämpfen durch Stärkung der zentralen Institution des alten Glaubens: des Papsttums. Gregor XIII. unterstützte den Jesuitenorden und förderte die Schaffung einer zentralen neuen Universität in Rom, des -

4

L

Enzyklopädischer Überblick

(der späteren Gregoriana), wie auch die Einrichso des Collegium Germanicum (1552) zur Ausbildung der katholisch gebliebenen deutschen Elite im Geiste der Gegenreformation. Der Papst förderte die Gründung von Jesuitenkollegien in Deutschland und angrenzenden Ländern, um diese Gebiete wiederum für die alte Kirche zu gewinnen; Kollegien in Wien, Graz, Olmütz, Prag, Braunsberg, Fulda und Dillingen wurden vom Papst mitgetragen. Das Konzil von Trient bewirkte keine Schwächung, sondern eine Stärkung des Papsttums. Gregor XIII. erweiterte den päpstlichen Einfluß durch die Einrichtung ständiger Nuntiaturen, 1573 in München, 1584 in Köln, dann auch in Graz und Luzern. Sie bildeten ein Element des päpstlichen Zentralismus der Gegenreformation (direkte Anbindung an Rom, Umgehung der Erzbischöfe und Bischöfe) und schmiedeten eine Allianz von katholischen Fürsten und päpstlicher Politik. Die Kräfte des Papsttums und namentlich die Jesuiten konnten dazu Collegium

Romanian

tung nationaler Kollegien in Rom,

Päpstliche Nuntiaturen

Verhältnis von Staat und Knche

emgesetzt werden, den monarchischen Staat zu stärken und ihm eine Tendenz zum Absolutismus, zur Ausschaltung der ständischen Mitregierung, zu

geben. Damit erreichten Staaten wie Bayern letztlich auf einem andeWege ein ähnliches Ergebnis wie diejenigen Staaten, welche durch

ren

Geistliche Fürsten

Protestantismus und Landeskirchentum innere Konsistenz gewonnen hatten. Keineswegs bedeutete das Bündnis mit dem Papsttum, daß sich die weltlichen Fürsten der Gewalt der alten Kirche unterworfen hätten. Vielmehr unternahmen sie den Versuch, die Strukturen der Kirche ihren Herrschaftsbereichen anzupassen und die Kirche zu einer Institution innerhalb ihres jeweiligen Staates zu machen. Dies konnte freilich nicht in reiner Form gelingen, weil es gerade dem Wesen der katholischen Kirche widersprach. Aber es wurde doch eine Maxime weltlicher Fürsten der Gegenreformation, die Ansprüche des Papsttums zu beschränken; gern bediente man sich der päpstlichen Kräfte gegen andere Staaten, aber ungern ließ man sich in den eigenen Staat hineinregieren. Ein Lehrbeispiel für diese Zusammenhänge bietet der Zusammenstoß Pauls V. mit der Republik Venedig (seit 1605). Trotz Einsatz schwerster geistlicher Waffen durch den Papst (Exkommunikation und Interdikt) behauptete die Republik ihre uneingeschränkte Souveränität und setzte den umfassenden Anspruch des modernen Staates auch gegenüber dem durch die Gegenreformation gestärkten Papsttum durch. Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation waren (seit ottonischer Zeit) Bischöfe, Erzbischöfe und Äbte einerseits führende Männer der Kirche, andererseits weltliche Fürsten. Im Unterschied zu den übrigen Territorien wurden diese durch Wahl bestimmt, nicht durch Erbrecht. Dementsprechend kann man auch nicht eigentlich sagen, daß die Bistü-

A.

Voraussetzungen

5

bestimmten Dynastien gehörten oder Sekundogenituren großer Häu- „Sekundowaren, obwohl in bestimmten Bistümern immer wieder Angehörige 8enlturen derselben Familien gewählt wurden. Bis 1664 besetzten die Habsburger und die Wittelsbacher zusammen etwa die Hälfte der Bischofssitze. Die Bindung bestimmter Bistümer an bestimmte Dynastien verklammerte den Reichsverband. Daß beispielsweise in dieser Epoche fast stets Wittelsbacher Erzbischöfe von Köln waren, bewirkte, daß die westlichen Teile des Reiches auch im Interesse dieser Dynastie nach außen verteidigt wurden und gegen Säkularisationen gefeit waren. In den habsburgischen Erblanden wurden die Bistümer zumeist von Kandidaten des Hauses Habsburg besetzt ein Analogon zu den Landeskirchen protestantischer Fürsten. Andererseits suchten sich manche Bistümer auch unabhängig zu halten, indem sie gerade die mächtigen weltlichen Nachbarn ausschlössen. Das Erzbistum Salzburg statuierte 1606, es dürften weder Habsburger noch Wittelsbacher zum Erzbischof gewählt werden. Seit dem Wiener Konkordat von 1448 erfolgte die Besetzung von Bi- Wahl der Bisehöfe schofssitzen stets nach Wahl durch die Domkapitel. Man kann die Ausdehnung der Reichskirche geradezu durch dieses Wahlrecht der Domkapitel definieren. Die Reichskirche war nicht, wie die gallikanische Kirche, eine festgefügte Organisation mit hierarchischer Spitze. In Frankreich und anderwärts hatten Könige entscheidenden Einfluß auf die Ernennung von Bischöfen; nicht so im Reich. Entsprechend der zweistufigen Staatlichkeit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hatte sich der Adel das Bischofswahlrecht gesichert. Es gab etwa 720 Domher- Adelskirche renstellen, für die grundsätzlich nur adlige Bewerber mit zumindest vier edlen Ahnen in Frage kamen. Im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde die Ahnenprobe sogar noch verschärft, so daß man beispielsweise in den Kapiteln von Mainz, Bamberg und Würzburg 16 reichsunmittelbare Ahnen nachweisen mußte. Das bedeutet, daß gerade in diesem Bereich hoher territorialer Zersplitterung ein Ausscheidungskampf unter einer Vielzahl von Reichsrittern, Grafen usw. stattfand, in dem sich die angestammten Familien gegen Aufsteiger zu behaupten suchten. Im Inneren waren die Herrscher der geistlichen Staaten zwar weitge- Domkapitel hend ungebunden, doch beanspruchten die Domkapitel eine ständische Mitregierung. In fast allen Fällen mußten geistliche Herren Wahlkapitulationen unterschreiben, in denen die Verhältnisse nach Art eines Herrmer

ser

-

schaftsvertrages geregelt waren. Die geistlichen Fürsten entfalteten

im 17. und 18. Jahrhundert teil- Kulturbedcutung Fulsten weise bedeutende kulturelle und reformerische Aktivitäten. Dem Reprä- 8e,stUcheI sentationsdrang geistlicher Fürsten verdanken wir eine Fülle der prächtigsten Schlösser in Deutschland und eine umfassende Förderung aller Kün-

6

I.

Enzyklopädischer Überblick

ste, insbesondere aber der Musik, und keineswegs nur der Kirchenmusik. Die Blüte und Weltgeltung der europäischen Musik bis zu Mozart war Resultat der Förderung durch weltliche und geistliche Fürsten.

3, Die lutherischen Landeskirchen im Zeichen der Orthodoxie Während die erste Phase der Reformation im Zeichen einer stürmischen Erneuerung gestanden hatte, zeigte schon Luthers Spätzeit, noch mehr aber die Phase nach seinem Tode, neben Konsolidierung auch Lähmung. Streitigkeiten Jahrzehntelange Streitigkeiten der lutherischen Theologen (einerseits innerhalb des die Positionen Melanchthons übernahmen und auch als philippislen", rr Luthertums „Kryptocalvinisten" beschimpft wurden, andererseits „Gnesiolutheraner" um Flacius Illyricus, die sich auf den „ursprünglichen Luther" beriefen) bewirkten keine Öffnung und Pluralisierung, sondern im Gegenteil eine zunehmende Abschließung und Kodifizierung. 1577 einigte man sich Formula Con- auf die von Jakob Andreae vorbereitete Formula Concordiae (FC) aber 1577 auch dieses Dokument wurde nicht von allen lutherischen Landeskirchen angenommen (nicht z. B. in Holstein, Pommern, Braunschweig-Wolfenbüttel und Nürnberg). Die damalige Theologie stellte Dogmatik über alles. Dabei bediente sie sich auch einer erneuerten Scholastik. Während Erneuerung der Scholastik Lutjler den Einfiuß fjes „Heiden Aristoteles" aus der Theologie vertilgt wissen wollte, kam über Melanchthon das Gesamtwerk des Aristoteles (zunächst ohne die Metaphysik) erneut zur Geltung. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde innerhalb des Luthertums für zwei Jahrhunderte das Fundament einer wiederum scholastischen Theologie für die erneuerten Universitäten gelegt. Aus Aristoteles ergab sich die Systematik der Wissenschaften, aber auch ihre Methodik. Mit Melanchthon arbeitete man an Principia, aus denen durch anerkannte logische Verfahren Wahrheiten deduziert werden sollten. Nun wurde die Heilige Schrift als ganze in den Stand solcher Principia gehoben. Ansätze Luthers zum geschichtlichen Verstehen verschiedener Teile der Hl. Schrift wurden eskamotiert. Verbalinspiration Man entwarf eigens eine Inspirationslehre: Die gesamte Hl. Schrift sei den Autoren, Wort für Wort, vom Hl. Geist in die Feder diktiert worden (Verbalinspiration). Zwischen Glauben und Wissen sollte kein Unterschied bestehen. Glaubensinhalte wurden dem spontanen Zugriff absichtsvoll entzogen, für wissenschaftlich und rechtlich verbindlich erklärt. Im Kampf um solche Festlegungen konnte es leicht geschehen, daß die Symbola die Hl. Schrift in den Hintergrund drängten, da ja (angeblich) in ihnen bereits der Gehalt der Schrift vorlag. B Diese Tendenz zur AbschlieKonkoi dienbuch 1580 ßung gipfelte im sog. „Konkordienbuch" (1580). Es enthielt eine Reihe -

A.

Voraussetzungen

7

Texten mit überregional anerkannten Bekenntnisdarlegungen: die drei altchristlichen Glaubensbekenntnisse, die Confessio Augustana nebst Melanchthons Apologie, Luthers Schmalkaldische Artikel, Melanchthons Traktat Von der Gewalt und Obrigkeit des Papstes, Luthers Großen und Kleinen Katechismus sowie die Konkordienformel. Damit war die Entwicklung im wesentlichen abgeschlossen. Während die Orthodoxie Glauben und Lehre zu fixieren suchte (die dogmatische Theologie gipfelte, aufbauend auf die Loci Melanchthons und Martin Chemnitz', in den monumentalen Loci theologici des Jenaer Theologieprofessors Johann Gerhard, 1610-22), war doch seit etwa 1600 auch schon eine Unterströmung ganz anderer Art spürbar, die dann im Werk von Johann Arndt klarer faßbar wird: Neben der scholastisch geprägten Theologensprache setzte sich eine mystisch geprägte Frömmigkeitssprache durch. Die von der Orthodoxie intendierte Aufhebung des Gegensatzes von Leben und Lehre in der Wissenschaft, die dazu geführt hatte, daß die ministri verbi Dei studierte Theologen sein mußten und diese wissenschaftlich gebildeten Pastoren sich für die eigentliche Kirche hielten, trieb auf der Gegenseite die Betonung reiner Herzensfrömmigkeit und einfachen christlichen Lebens hervor. Johann Arndts Erbauungsschriften Vier Bücher vom wahren Christentum (1605-10) und Paradiesgärtlein (1612) knüpften an die spätmittelalterliche Mystik an, namentlich an Johannes Tauler und Heinrich Seuse. Sie erreichten für die damalige Zeit ungeheure Auflagen; sie verdrängten sowohl die Schriften Luthers als auch teilweise die Hl. Schrift selbst. Ihr Kernproblem war nicht mehr Luthers Frage nach der Rechtfertigung des Sünders, sondern die Heiligung des Lebens und die Wiedergeburt in Christus. Insofern bildet Arndt eine Brücke von der spätmittelalterlichen Mystik zum Pietismus. Er nahm aber auch mystische Einflüsse der Romania und der Gegenreformation auf. So zeigt sich hier nicht nur das Gegenteil der verwissenschaftlichten Theologie der Orthodoxie, sondern auch eine Gegenbewegung zur konfessionellen Abgrenzung. Der Dreißigjährige Krieg wirkte bewußtseinsverändernd: Wenn die Konfessionsspaltung zum Bürgerkrieg führte, mußte sie fragwürdig werden. Die Theologie selbst sah Tendenzen zur Aufweichung der Orthodoxie und zur Überwindung der Konfessionsgegensätze. Während Wittenberg° ein Hort der Orthodoxie blieb, entwickelte sich die Universität Helmstedt zu flexibleren Vorstellungen weiter. Nach der Meinung Georg Calixts waren die christlichen Hauptkonfessionen in allen wesentlichen Punkten einig und nur in den neueren Lehrentwicklungen verschieden. Er proklamierte deshalb, daß sich alle zu den unstrittigen Wahrheiten des apostolischen Glaubensbekenntnisses halten und die kirchlichen Lehrvon

Orthodoxie:

D°gmat,k

Frömmigkeit:

M>'stlk

Heiligung statt Recmfert|gung

Überwindung der

prth?doide und

der Konfessions-

gegensätze

Georg Calixt

8

I.

Enzyklopädischer Überblick

entscheidungen der ersten fünf Jahrhunderte übernehmen sollten (Conquin- sensus quinquesaecularis), um diese gegenwärtig noch unsichtbare gequesaeculans samtkirchliche Einheit zu einer sichtbaren zu machen. Calixt vertrat diese Meinung auch aktiv bei Religionsverhandlungen, etwa beim Thorner Religionsgespräch von 1645, wobei ihn allerdings die Lutheraner aus ihrer Delegation ausschlössen, worauf er sich den Calvinisten zugesellte. Calixts Unionsplänen war zwar kein Erfolg beschieden, aber seine Initiative steht doch für einen Neuansatz des 17. Jahrhunderts, für einen möglichen Ausweg aus dem Konfessionshader und -krieg. Trotz starker BestrebunSynkretismus gen zu seiner Unterdrückung blieb dieser „Synkretismus" infolge der Haltung der Universität Jena als Teilströmung des Luthertums erhalten. Aber in gewisser Hinsicht konkretisierte sich erst jetzt, im Kampf gegen den Synkretismus Calixts, ein eigentliches Luthertum, im Gegensatz zu den anderen Kirchen der Reformation, die sich auf Calvin beriefen.

Consensus

4. Christen Reformation: allgemeines Pnestertum

Konfessionalisierung: von

Verfolgung

Abweichlern

Spirituaiisten

außerhalb des reichsrechtlichen

Konsenses

Mit der Reformation, die ja ursprünglich von der Idee eines allgemeinen prjestertums aller Gläubigen beseelt gewesen war, hatte sich ein Pluralismus religiösen Denkens abgezeichnet, der durch die Etablierung der Konfessionen und ihre rechtliche Absicherung nur mühsam eingedämmt werden konnte. Aus der Vielzahl religiöser Bewegungen seit den 1520er Jahren mußten vor allem die Täufer erfahren, daß die Freiheit eines Christenmenschen in den vom Luthertum beherrschten Gebieten sowenig wie im Bereich der alten Kirche als politische und soziale Freiheit aufzufassen war. Aber auch die Zwinglianer wurden im Reich aufs schärfste verfolgt. Das System der Konfessionen beruhte geradezu darauf, Abweichungen zu stigmatisieren und möglichst auszurotten. Trotzdem war das 16. Jahrhundert noch eine Zeit mächtiger Selbstdenker, vor allem einzelner Spirituaiisten und Antitrinitarier, die sich unter Einsatz von Hab und Gut, von Leib und Leben zu abweichenden Auffassungen bekannten und nicht selten auf der Suche nach temporären Lebensmöglichkeiten Europa durchzogen: Sebastian Franck, Caspar von Schwenckfeld, Valentin Weigel, Paracelsus. Durch persönliches Wirken und gedruckte Schriften gaben sie ihre Auffassungen an das 17. Jahrhundert weiter (Jakob Böhme, Johann Georg Gichtel). Seit Gottfried Arnold sind sie nicht mehr in Vergessenheit geraten. Der gemeinsame Nenner dieser religiösen Individualisten ist ihr Spiritualismus die Vorstellung, Gottes Geist wehe, wo er wolle, und sei nicht auf die „Mauerkirchen" beschränkt. Sie alle entwickelten religiöse Auffassungen ohne einen positiven Begriff von Kirche und Priesteramt. -

B. Das 17. Jahrhundert

9

Konfessionalisierung wurden sie an den Rand Eu- Marginalisierung Siebenbürgen, Ungarn). Im Laufe des 17. und ins(Polen, verdrängt ropas besondere des 18. Jahrhunderts jedoch boten sich Lebensmöglichkeiten Entwicklung im Rcidl für religiöse Individualisten und Gruppen außerhalb der etablierten Konfessionen auch im Reich selbst. Ausschlaggebend war dafür (abgesehen von den religiösen und geistigen Entwicklungen) vor allem die politische Zersplitterung, nebst Ansätzen zur Peuplierung dünnbesiedelter oder durch Krieg verwüsterer Gebiete. Durch den Prozeß der

B. Das 17. Jahrhundert 1. Das Scheitern des

verr echtlichten

Konfessionssystems

Seit dem Augsburgischen Religionsfrieden standen Institutionen und Verzwischen beiden Konfessionen in rechtlichen fahren bereit, Streitigkeiten b Formen geregelt auszutragen. Doch in dem halben Jahrhundert nach 1555 faßte die alte Kirche wieder Tritt und konnte ihre Position ausbauen. Das Kaisertum, das der Konzeption von 1555 entsprechend so etwas wie eine neutrale Schiedsinstanz oberhalb der Konfessionskonflikte hätte sein sollen, akzentuierte seinen Katholizismus, war also in Religionssachen parteiisch. Andererseits entstand im Reich eine Bewegungspartei der Calvinisten unter Führung der Kurpfalz, welche reichsrechtlich noch nicht abgesichert war und stattdessen Anlehnung an westeuropäische Mächte suchte. Eine der dornigsten und schon 1555 umstrittensten Fragen im Reich das Verbot, weiterhin geistliche Herrwar der „Geistliche Vorbehalt" Schäften zu säkularisieren. Die bis 1552 erfolgten Säkularisationen waren jedoch 1555 nachträglich legalisiert worden, zugleich hatten die Fürsten die volle Religionshoheit in ihren Territorien erlangt. Wann immer sich die Gelegenheit ergab, griffen protestantische Territorialfürsten gern nach Klöstern und geistlichen Herrschaften Ja, mehr noch: Man hatte quasi-rechtliche Formen gefunden, die solchen Rechtsbruch deckten; so ließen sich Angehörige fürstlicher Häuser von den Domkapiteln zu Administratoren wählen. Der Kaiser sah sich, da er gleichzeitig innere Schwierigkeiten in seinen Erblanden hatte und im Osten von den Türken bedroht wurde, mehrfach genötigt, solche Administratoren durch „Lehensindult" quasi anzuerkennen, durch eine „vorläufige Belehnung" also, die ausgesprochen wurde, obwohl alle Beteiligten wußten, daß der Papst nie zu einer endgültigen schreiten würde. Reichsrechtlich blieb die Stellung° solcher Administratoren zunächst ungeklärt. In Magdeburg herrschte damals Joachim Friedrich, der spätere '

1555: verrechtBlkcmfess'°llc!ltel nalismus

res ervatutn

ecclesia-

-

Säkularisationen

Administratoren

Lehensindult

....

Magdeburg als, Speerspitze

10

Folgen für das Reichskammergericht

Folgen für den Deputationstag

Folgen für den Reichstag

Streit

um

Donauworth

Neutralität des Kaisers in Zweifel

Reichstag gesprengt

I.

Enzyklopädischer Überblick

Kurfürst von Brandenburg, und dieser versuchte eine Klärung zu erzwingen, indem er auf dem Augsburger Reichstag des Jahres 1582 den Sitz Magdeburgs einnahm. Die katholischen Stände drohten, den Reichstag zu sprengen, so daß der Magdeburger verzichten mußte. Daraus ergaben sich jedoch weitere Folgen für die Reichsverfassung. Das Reichskammergericht wurde durch eine Visitationskommission kontrolliert, deren Mitglieder periodisch rotierten. Als 1588 Magdeburg an der Reihe gewesen wäre, blockierten die katholischen Reichsstände den Zusammentritt. Vier südwestdeutsche Klöster, die nach 1552 säkularisiert worden waren, strengten einen Musterprozeß an; das Reichskammergericht entschied zu ihren Gunsten. Die Territorialherren legten Widerspruch ein. An dieser Stelle wäre der Fall an die erwähnte Visitationskommission gekommen, die aber seit 1588 nicht mehr zusammentreten konnte. Ersatzweise beauftragte der Reichstag von 1594 mit diesen Aufgaben den sogenannten Deputationstag, also einen Ausschuß, der üblicherweise diejenigen Geschäfte aufzuarbeiten jlatte, dje am schluß eines Reichstages unerledigt geblieben waren. Als dieser im Jahre 1600 den Vierklösterstreit entscheiden sollte, erklärte ihn die Kurpfalz für unzuständig und verließ ihn. Damit war auch diese Institution blockiert; das Drängen auf militärische Lösungen wurde stärker. In der Folge versuchte die Kurpfalz gar. den Reichstag lahmzulegen. jndem sje ]gQ3 ^as Mehrheitsprinzip für die Steuerfestlegung bestritt. Solange Kursachsen kaisertreu blieb, konnte sich die Kurpfalz jedoch nicht durchsetzen. Den Umschlagspunkt zwischen dem Vertrauen in die rechtlichen Institutionen und der Zuflucht zu militärischer Gewalt kann man im Streit um Donauwörth sehen. Diese Reichsstadt grenzte unmittelbar an Bayern, war jedoch überwiegend protestantisch. Freilich beherbergte sie in ihren Mauern noch das katholisch gebliebene Heilig-Kreuz-Kloster. Als der Rat 1605 Prozessionen verbot, rief das Kloster die Hilfe des Reiches an, und dieses gab ihm recht. Daraufhin kam es 1606 zu gewalttätigen Ausschreitungen von Protestanten. Herzog Maximilian I. von Bayern ließ sich mit der Reichsexekution beauftragen, besetzte die Stadt militärisch, nahm sie in Pfandbesitz, rekatholisierte sie und inkorporierte sie schließlich widerrechtlich dem Herzogtum Bayern. Über diesem Konflikt verloren die lutherischen Reichsstände das Vertrauen in die Neutralität des Kaisers; sie fühlten sich kollektiv bedroht und solidarisierten sich mit der radikalen Kurpfalz. Das erwies sich auf dem nächsten Reichstag 1608 in Regensburg, als sich keine Einigkeit und kein Kompromiß mehr erzielen ließ. Neben der Kurpfalz zogen nun auch Kurbrandenburg und andere evangelische Stände aus; erneut war ein Ver-

fassungSOrgan blockiert.

I I

B. Das 17. Jahrhundert

Bei diesem Stand der Dinge sähe 1 die Protestanten keine rechtlichinstitutionellen Möglichkeiten zur Vertretung ihrer Interessen mehr. Sie schlössen sich deshalb, wenn auch defensiv, zu einem militärischen Bündnis zusammen. 1608 gründeten sie in Auhausen bei Nördlingen die Union": Kurpfalz, Hessen-Kassel und Brandenburg-Ansbach hatten als Calvinisten (Angehörige einer reichsrechtlich nicht geschützten Konfession) besonderen Grund, sich zu verbünden. Es traten jedoch auch gemäßigtere lutherische Stände bei (nicht aber Kursachsen). Die Gegenseite reagierte prompt: 1609 schlössen sich in München Bayern und die süddeutschen Fürstbischöfe zur Liga" zusammen, der im Jahr darauf dann auch die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier sowie zwei Habsburger Erzherzöge beitraten. Die Liga wurde wesentlich von Bayern finanziert und war schlagkräftiger. Ein Beispiel dafür, wie in diesen Jahren jeder Konflikt in die Konfessionszwistigkeiten hineingezogen wurde, bietet auch die Auseinandersetzung um das Herzogtum Jülich-Kleve-Berg. Geringe staatliche Verdichtung hatte eine religiöse Gemengelage entstehen lassen. Als das angestammte Haus 1609 im Mannesstamm ausstarb, vier Töchter erben wollten und der Erbgang außerdem noch durch diverse Absprachen und nicht allseits anerkannte Verträge kompliziert war, griffen zwei der nächsten Prätendenten, Kurfürst Johann Sigismund von Brandenburg und Pfalzgraf Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg, militärisch ein, grenzten ihre Interessensphären ab und schufen einen fait accompli. Die unvermeidliche Einwirkung der konfessionellen Polarisierung erhellt daraus, daß die beiden „Possedierenden", bis dahin Lutheraner, während des Konfliktes fast gleichzeitig konträre Konversionsentscheidungen trafen: Ende 1613 wurde der Brandenburger Calvinist, suchte also das Bündnis mit Frankreich, England, Holland und der Union, der Pfalz-Neuburger Katholik, erstrebte also Anlehnung an Bayern, den Kaiser, die geistlichen Fürsten und die Liga. Beide Entscheidungen waren nicht im Hinblick auf die Untertanenschaft des besetzten Landes gefällt worden. Nach einigen Feldzügen ergab sich die zufällige Länderteilung der „Possedierenden" (per Losentscheid!) als Dauerlösung: Brandenburg behielt Kleve, Mark und Ravensberg; Pfalz-Neuburg Jülich und Berg (Vertrag von Xanten, 1614). Die Stände waren beteiligt und erreichten religiöse Garantien. Die Zeichen der Zeit erkennt man auch im „Bruderzwist im Hause Habsburg". Der Herrschaftskomplex war ohnehin schon durch Teilungen zersplittert, noch mehr jedoch dadurch gefährdet, daß Rudolf IL, schwach, unentschieden und psychisch krank, zwar zum Kaiser gewählt worden war, sich seine Brüder aber hinter Matthias stellten, den starken und ehrgeizigen Jüngeren. 1605 wählten die Stände von Ungarn und Sie-

Gründung von

Ml"tfrbundmssen

Union



Liga



Kampf im Kleve Jüllcn-Ber8

.

Bruderzwist im Hause Misburg

-

12

I.

Enzyklopädischer Überblick

benbürgen nicht Rudolf IL, den sie wegen seiner gegenreformatorischen Tendenzen ablehnten, sondern einen aus ihrer Mitte, Stephan Bocskai, zum Großfürsten von Siebenbürgen und König von Ungarn. Dieser vermochte sich mithilfe der Türken gegen Habsburg zu behaupten. Matthias versprach dagegen weitgehende Religionsfreiheit und verbündete sich mit den ungarischen, mährischen und österreichischen Ständen gegen Rudolf. Matthias führte sogar ein Heer gegen seinen Bruder, doch bot Rudolf seinerseits den böhmischen Ständen weitgehende ReligionskonzesBöhmischer sionen („Böhmischer Majestätsbrief", 1609). Doch 1611 erklärten die Majestatsbnef böhmischen Stände Rudolf für abgesetzt. Er blieb noch Kaiser, starb aber im Jahr darauf. Matthias konnte zwar die habsburgischen Ansprüche wiederum bündeln. Doch als man sich nach seinem Tode 1619 auf die Nachfolge des wegen seiner harten gegenreformatorischen Haltung bekannten Ferdinand IL aus der innerösterreichischen Linie einigte, versagten sich die böhmischen Stände. Im „Majestätsbrief" hatten die böhmischen Stände Rudolf II. das Äußerste

ständisch-religiösen Freiheiten abgetrotzt: freie Religionsund sogar die Erlaubnis, protestantische Kirchen und Schulen neu zu bauen. Doch entstand Streit, als angesichts divergierender Auslegung dieses Rechtes in Braunau und Klostergrab zunächst protestantische Kirchen auf katholischen Gütern gebaut, dann von der Gegenseite wieder niedergerissen wurden. Der „Böhmische Majestätsbrief" hatte auch ein Vermittlungsorgan festgesetzt, „Defensorcn", die von den Ständen gewählt wurden, um ihre Rechte sicherzustellen und als Mittelsmänner dem Kaiser gegenüber aufzutreten. Als die Defensoren 1618 eine Versammlung der protestantischen Stände nach Prag einberiefen, eskalierte die Prager Fenstersturz Stimmung; der „Prager Fenstersturz" war das Zeichen zum Aufstand. Die Böhmen konstituierten einen Landtag, wählten 30 Direktoren und stellten eine Armee auf. Die Rebellion drohte auf Mähren und auch auf die Erblande überzugreifen. Die Stände wählten 1619 Friedrich V. von der Pfalz zum König von Böhmen. Dabei hatten die böhmischen Stände allerdings nicht mit der Festigkeit und Härte des neuen Kaisers Ferdinand gerechnet, der aus religiösen wie auch aus machtpolitischen Gründen den Kampf aufnahm, unterstützt von der Liga. Die Union verhandelte zwar, griff aber nicht aktiv ein. Desgleichen nahm der englische König, der Schwiergervater Friedrichs V. von der Pfalz, von einer Unterstützung Abstand. Kaiser und Liga marschierdie böhmischen Stände am 8. November 1620 ten auf Prag° und besiegten b Schlacht am Weißen Berge in der Schlacht am Weißen Berge. Der Pfälzer floh; die böhmische Regierung löste sich auf. Die Anführer des Aufruhrs wurden hingerichtet; ein Rekathohsierung Böhmens großer Teil des Adels wurde durch Konfiskationen bestraft und mußte ins ausübung



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an

B. Das 17. Jahrhundert

L3

Exil. Der siegreiche Kaiser schuf sich planmäßig eine loyale Oberschicht durch Landvergabe an Auswärtige. Der Katholizismus wurde gewaltsam wieder durchgesetzt, was zur Emigration vieler Protestanten führte. Der Krieg weitete sich schnell aus, weil nun das Heer der Liga unter Tilly und spanische Truppen aus den Niederlanden unter Spinola das Stammland Friedrichs V. von der Pfalz einnahmen. Maximilian von Bayern erhielt die angestrebte Kurwürde und die Oberpfalz als Pfandbesitz. Doch gerade dieser eindeutige Erfolg der katholischen Seite setzte die Gegenseite in Bewegung. Der Machtausdehnung der Habsburger wollte man keineswegs tatenlos zusehen. Indem der Kaiser die nach Norddeutschland ausgewichenen Verteidiger der Pfalz verfolgte, wurde auch der Kampf um die säkularisierten geistlichen Fürstentümer eröffnet (die Erzbistümer Magdeburg und Bremen, die Bistümer Halberstadt, Minden, Osnabrück, Verden, Lübeck, Ratzeburg und Schwerin). Die Protestanten gewannen König Christian IV. von Dänemark für ihre Sache. Doch im Verlauf mehrerer Jahre und komplizierter Feldzüge setzten sich Kaiser und Liga im größten Teil Norddeutschlands durch. Das führte zum Restitutionsedikt von 1629, einem der letzten großen Gesetzgebungsakte eines Kaisers überhaupt, die dieser aus eigener Machtvollkommenheit wagte. Denn ein Reichstag wurde dabei nicht hinzugezogen; der Form nach bestätigte der Kaiser nur geltendes Reichsrecht. De facto machte er aber die weitreichenden Säkularisationen der protestantischen Territorialfürsten seit 1552 rückgängig und zwang ihnen seine katholische Interpretation des Augsburgischen Religionsfriedens auf. Damit stand der Kaiser auf der Höhe seiner Macht. Das Restitutionsedikt blieb Episode. Denn gerade die kaiserliche Machtfülle weckte alle Gegner, nicht nur die konfessionellen und die ständischen im Reich, sondern die Gegner des Hauses Habsburg überall in Europa. So kam es im Zusammenspiel von Frankreich und Schweden zur Invasion in Deutschland. 1630 erschloß sich Gustav Adolf von der Oder aus allmählich Deutschland. Doch ebenso wie die Dominanz des Kaisers im Norden Deutschlands auf einige wenige Jahre beschränkt war, ließen sich auch die militärischen Erfolge des Schwedenkönigs nicht in eine dauerhafte Ordnung umsetzen. Allerdings zeigen die wenigen Jahre, in denen Schweden in Deutschland die Oberhand hatte, politisch und konfessionell interessante Ansätze. Die Übertragungen eroberter geistlicher Territorien an Parteigänger Schwedens griffen tief in die Reichsverfassung und in das kirchliche Gefüge Deutschlands ein. Das Hochstift Paderborn sowie die Reichsabteien Fulda und Corvey kamen 1632 an Hessen-Kassel, das Hochstift Hildesheim an Braunschweig-Wolfenbüttel, das Hochstift Min-

Eroberung der P{3U

Kaiser in Norddeutscnland

Restitutionsedikt 1629

Schweden in Deutschlancl

I.

14

Enzyklopädischer Überblick

Braunschweig-Lüneburg. In den Hochstiften Würzburg und Bamsowie im Erzstift Mainz versuchte Schweden gar, gestützt auf die berg protestantische Reichsritterschaft, die Konstituierung neuer Staatsgebilde. Aus Würzburg und Bamberg wurde ein Herzogtum Franken mit einer eigenen Landesregierung gebildet, das 1633 an Herzog Bernhard von Weimar übertragen wurde. Mainz, von Dezember 1631 bis Januar 1636 unter schwedischer Herrschaft, regierten die Schweden selbst, wenn auch mit Hilfe protestantischer Deutscher. Zwar förderten die Schweden das Luthertum, doch gaben sie, wo sie auf Widerstand gegen die Einsetzung protestantischer Pfarrer oder die Wiedereinführung des Julianischen Kalenders trafen, häufig nach. In dem von Mainz aus regierten Gebiet blieb den Katholiken freie Religionsausübung gestattet. Die schwedische Herrschaft in Deutschland erhielt den entscheidenden Stoß im Herbst 1634. als die kaiserlichen Truppen die Schweden in der Schlacht von Nördlingen besiegten, worauf der „Heilbronner Bund" der protestantischen Stände, die Schweden unterstützten, zerfiel. Kursachsen ließ die Schweden im Stich und schloß mit dem Kaiser 1635 den Frieden Präger Prager Frieden. Wenn dieser auch noch nicht das Ende des Dreißigjähri1635 gen Krieges brachte, bedeutete er doch einen gewissen Interessenausgleich und mithin einen Schritt auf dem Weg zum endgültigen Frieden. Die Maximalposition der Schweden von 1634 war genauso zerfallen wie die Maximalposition des Kaisers von 1629. Die Frage, wie weit es sich beim Dreißigjährigen Krieg um einen Religionskrieg? „Religionskrieg" handelte, blieb in den Jahrhunderten seither umstritten. Dies konnte nicht anders sein, da die Religion auf kaiserlicher wie auch auf schwedische Seite für die Kriegspropaganda in Anspruch genommen wurde und die Motive sich vermischten. Deshalb spiegelt sich auch heute noch in der Stellungnahme zu dieser Frage die Deutungsperspektive des Historikers. Doch läßt sich als relativ sichere Erkenntnis festhalten, daß die konfessionelle Frage bei Ausbruch des Krieges 1618 eine prominente Rolle spielte, ja, in gewisser Hinsicht als ausschlaggebend angesehen werden kann, indem nämlich die Ständekämpfe und die Hegemonialauseinandersetzungen in die Konfessionsauseinandersetzung eingeflochten waren. Da die Konfessionsfrage die juristischen Regelungen von 1555 gesprengt und die Reichsorgane blockiert hatte, blieb nur noch der Krieg. Ebenso sicher läßt sich festhalten, daß in der letzten Phase vor 1648 diejenigen Kräfte stärker wurden, die angesichts der ideologisch verzerrten Konfessionspropaganda auf der einen und der realen Kriegsgl euel auf der anderen Seite Lösungen jenseits des Konfessionskonfliktes suchten und auch erneut zu einer Stabilisierung der Reichsverfassung und Wiederbelebung der Reichsorgane bereit waren, selbst um den Preis von Konzessioden

an

B. Das 17. Jahrhundert

15

die gegnerische Konfession. Das aussagekräftigste einzelne Fakist wohl die Unterstützung des in Frankreich selbst antiprotestantischen Richelieu für das sich als Vormacht des Protestantismus gebärdende Schweden und schließlich, nach dessen Rückzug, der Kriegseintritt Frankreichs selbst. Damit konnte die Rede vom „Religionskrieg" nicht mehr aufrechterhalten werden; die blanke Interessenpolitik der Mächte, der Gegensatz Bourbon/Habsburg, das schwedische Hegemonialstreben lagen für jedermann zutage. Was als ständische und internationale Auseinandersetzung mit dominierendem Konfessionsmotiv begonnen hatte, war offenbar kein Religionskrieg mehr, nachdem Millionen ihr Leben gelassen und die Überlebenden bereit waren, die Konfessionsfrage zurückzustellen. nen an

tum

2. Der

Westfälische Frieden: Trikonfessionalismus im Reich

Der in Münster und Osnabrück unterzeichnete Frieden enthielt Elemente Konfessionsbestimeines völkerrechtlichen Vertrages, eines Reichsgrundgesetzes und Kon- munsen 1648 fessionsbestimmungen. Die letzteren lassen sich wie folgt zusammenfassen: Dem mehrfachen Konfessionswechsel verschiedener Territorien wurde ein Ende gemacht durch die Bestimmung des „Normaljahres": Der religiöse und rechtliche Besitzstand der Konfessionen sollte nach dem Stand vom 1. Januar 1624 wiederhergestellt werden. Damit verzichtete der Kaiser auf das Optimum des für die Katholiken im Restitutionsedikt Erreichten. Insbesondere war damit aber eine Entscheidung über die lange umstrittenen geistlichen Fürstentümer gefallen: Nachträglich wurde nun ihre Säkularisierung, sofern sie vor 1624 stattgefunden hatte, sanktioniert. Gleichzeitig wurde aber das Prinzip fortgeführt: Weitere Säkularisationen sollten nicht stattfinden dürfen. Doch während dieses Prinzip 1555 die Funktion gehabt hatte, weitere Verluste der katholischen Seite zu verhindern, sollte es nun für beide Seiten den Status quo sichern. Man kann also in der deutschen Geschichte drei Säkularisationswel- Säkularisationen len unterscheiden: Zwischen der ersten, die unmittelbar in die Reformationszeit fällt, und der dritten, die 1803 das Ende der geistlichen Territorien überhaupt herbeiführte, liegt der Dreißigjährige Krieg mit dem Westfälischen Frieden, in dem geistliche Territorien zur Kompensation anderweitiger Verluste eingesetzt wurden. Zum Ausgleich von territorialen Besitzverlusten sollten die Territorien geistlicher Fürsten herhalten, die bei dieser Gelegenheit säkularisiert wurden: Mecklenburg wurde mit den Bistümern Ratzeburg und Schwerin entschädigt, Brandenburg erhielt Cammin, Halberstadt und Minden sowie die Anwartschaft auf Magdeburg (1680 realisiert). Schweden ließ sich für seinen Angriffskrieg (u. a.) durch

16

[.

Enzyklopädischer Überblick

die Hochstifte von Bremen und Verden entschädigen. Hessen, Württemberg und andere Territorien bereicherten sich durch säkularisierte AbOsnabrücker teien. Im Bistum Osnabrück sollte jeweils auf einen katholischen Bischof Alternat ßjn protestantischer Administrator aus dem weifischen Hause folgen (und Ausnahme: habsburgischc Erblande

Sonderbestimmungen fur Schlesien

Trikonfessionalismus: Calvinismus reichsrechtlich anerkannt

umgekehrt). Das Normaljahr 1624 galt nicht für die habsburgischen Erblande, wo sjch die Habsburger das Recht zur Rekatholisierung vorbehielten. Die Einheitlichkeit des Bekenntnisses erschien nach wie vor als wichtige Stütze der Landesherrschaft, wenn sie sich auch auf Reichsebene nicht mehr herstellen ließ. Andererseits mußte Habsburg Ausnahmen von diesem Prinzip zulassen. Insbesondere erhielten in Schlesien mehrere Fürsten Religionsfreiheit (Liegnitz-Brieg-Wohlau und Münsterberg-Oels sowie die Stadt Breslau); des weiteren wurden vor den Mauern von Glogau, Jauer und Schweidnitz ersatzweise neue protestantische Kirchen errichtet, die man „Friedenskirchen" nannte. Der Calvinismus wurde als dritte Konfession reichsrechtlich anerkannt (Trikonfessionalismus). Seit dem Augsburgischen Religionsfrieden waren ja wichtige Reichsfürsten Calvinisten geworden, insbesondere die Kurfürsten von der Pfalz, von Brandenburg und der Landgraf von Hessen-Kassel. Vor allem letzterer hatte durch sein starkes Heer und mit Hilfe des Bündnispartners Schweden eine Machtstellung aufgebaut. Die neue Lage mußte auch in der Reichsverfassung berücksichtigt werden. Man fand die Lösung, die Calvinisten unter die „Augsburgischen Konfessionsverwandten" zu rechnen (Trikonfessionalismus erweiterter Bikonfessionalismus), wogegen die Fürsten nichts einzuwenden hatten, so sehr sich auch ihre Theologen sträuben mochten. Die Untertanen jedes Fürsten sollten, auch wenn der Herr die Konfessjon wechselte, bei ihrem bisherigen Bekenntnis bleiben dürfen. Dies bedeutete ein Ende des revoltierenden Zustandes früherer Jahrzehnte, in denen das Konfessionsprinzip auf die Spitze und zugleich ad absurdum getrieben worden war. Das Glaubensbekenntnis einer Untertanenschaft war nun soweit eingeschliffen und verfestigt, daß ein neuerlich aufgenötigter Wechsel für die Gewissen unzumutbar schien. Damit wurde aber der Konfessionsstand von 1624 zum Konfessionsstand des deutschen Volkes, an dem sich bis zu den Bevölkerungsverschiebungen des mittleren 20. Jahrhunderts nur wenig änderte. Nun entstanden jene bekannten konfessionellen Milieus mit all ihren Folgen: von der Sozialethik und Arbeitsmoral bis zu landsmannschaftlichen Kollektiveigenschaften. Die Geschäftsordnung für den Reichstag bestimmte, daß in Religionsfragen die beiden Seiten (Corpus Catholicorum und Corpus Evangelicorum) getrennt beraten und sodann eine Einigung suchen sollten, so =

Verfestigung des

Konfessionsstandes

Reichstag: Konfessionscorpora

B. Das 17. Jahrhundert

17

daß keine Seite die andere majorisieren konnte (itioin partes). Auch die Uio in partes Besetzung der Stellen am Reichskammergericht und bei anderen Behörden wurde nach Konfessionsproporz festgeschrieben. Dies entsprach dem Grundsatz des Westfälischen Friedens, daß zwischen Katholiken und Protestanten eine „genaue und gegenseitige Gleichheit" herrschen solle

(„aequalitas exacta mutuaque"). Insgesamt bedeutete die konsequente Verrechtlichung der Konfessionsdifferenz eine Entkonfessionalisierung der Politik. Der Staat stabilisierte sich über den Konfessionen. Der Religionskrieg hatte die älteren Vorstellungen einer durch die Religion bestimmten Politik ad absurdum geführt; im Westfälischen Frieden wurden daraus die Konsequenzen gezo-

Tendenz zum saklllaien Sta

gen, die zum säkularen Staat der Neuzeit hinführen sollten. Der Westfälische Frieden enthielt ein zukunftsweisendes Modell des Westfälischer Frieden: Modell für Zusammenlebens der Konfessionen. Dies wurde zwar nicht philosophisch das Zusammenoder theologisch befriedigend statuiert, aber lebenspraktisch ausgeformt leben verschiedeund juristisch abgesichert. Zu einer Zeit, als es in England noch utopisch ner KonfesS!one" schien, verschiedene Konfessionen in einem Staat nebeneinander zu dulden, ließ sich das im Reich verwirklichen. Als die Hugenotten 1685 aus Frankreich flohen, war für viele von ihnen das gemischt-konfessionelle Reich der verfassungsmäßige Rahmen, in dem sie Lebensmöglichkeiten und Religionsfreiheit finden konnten. Andererseits besteht kein Anlaß, die Verhältnisse zu idealisieren. Vertreibung der Pr°teNoch 1732 vertrieb der Erzbischof von Salzburg° die Protestanten zu stallten 1732 Zehntausenden aus seinem Land. Freilich fanden sie und das spricht eben doch für die funktionierende Reichsverfassung Unterstützung beim Corpus Evangelicorum des Regensburger Reichstages, Sympathie in der deutschen Öffentlichkeit und schließlich dauerhafte Niederlassungsmöglichkeiten größtenteils in (Ost-)Preußen, also unter einem anderen deutschen Fürsten. Die Epoche der religiösen Verfolgungen und konfessionellen Auseinandersetzungen war damals eigentlich schon vorüber. Wenn auch Nachhutgefechte geliefert wurden, insbesondere in Schlesien, bedeutete doch der Westfälische Frieden in Religionsfragen eine entscheidende Zäsur, die auch bewußtseinsmäßig auf lange Sicht Bedeutung hatte.

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-

-

3. Die dritte Konfession: Zur

Spezifik des deutschen

Calvinismus

Dogmatisch unterschied sich die Lehre Calvins von der Luthers vor allem dogmatische in zwei Punkten: in der Betonung der strengen Vorherbestimmtheit des Dlffe,enzei1 Menschen zum Heil und in der abweichenden Auffassung vom Abendmahl. Reichsrechtlich bestand vor 1648 die Schwierigkeit, daß jedes Be-

18

Eindringen

des

Calvinismusin

Randgebieten des Reiches

.Zweite Reformation"

Calvinismus

aufgrund von landesherrliche

Entscheidung SynodalVerfassung

Ohne

I.

kenntnis, das über die CA hinausging, Sanktionen gewärtigen mußte. Ein frühes Eindringen calvinistischer Gedanken findet sich nur in Randgebieten ^es j^ejciles vor aiiem in Ostfriesland und am Niederrhein. Hier wirkte sich die Einwanderung der niederländischen Reformierten in drei Schüben aus (1544, 1553, 1567). Doch wandte sich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine ganze Reihe von mittleren und kleineren Landesherren dem Calvinismus zu. So zeigt die teilweise als „Zweite Reformation" bezeichnete Bewegung des Übergangs vom Luthertum zum Calvinismus in deutschen Territorialstaaten eigene Züge. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist dabei, daß der Übergang zum Calvinismus, wie er seit 1560 in der Kurund Wittgenstein, 1596 in Anhalt (u. a.) fg] ]57g in Nassau-Dillenburgod ' eine landesherrliche Reformation darstellte, keine Gevollzogen wurde, meindereformation. Dementsprechend bestand auch das wesentliche Kennzeichen des Calvinismus, die Synodalverfassung, in diesen Ländern mcilt won] at,er jn einem Teil der niederrheinischen Gebiete, die stärker von den Niederlanden her beeinflußt waren. Auch die Bestimmungen der Synode von Dordrecht (1618/19), die in Westeuropa weithin die Bedeutung eines calvinistischen Konzils hatte, wurden von den Reformierten in Deutschland nicht rezipiert. Der Heidelberger Katechismus, Bestandteil der reformierten Kirchenordnung der Kurpfalz (1563), erwies sich als erfolgreiche, über Deutschland hinaus wirkende Arbeit der Vermittlung zwischen calvinischem und lutherischem Gedankengut. Während die Lutheraner den Calvinismus als Bedrohung empfanden und bekämpften, entfaltete sich von sehen der deutschen Calvinisten, schon aufgrund der reichsrechtlichen Lage, keine Kontroverstheologie gegen die Lutheraner. Stein des Anstoßes war allerdings oft, was schon Calvin gegen Melanchthon angeführt hatte: der „papistische Restbestand" im Luthertum, der sich etwa darin ausdrückte, daß sich dessen Gottesdienst (trotz Betonung der Predigt und der Muttersprache) an der Messe orientierte, daß die Pfarrer nach wie vor priesterliche Gewänder trugen, daß die Ohrenbeichte in traditioneller Weise abgenommen wurde oder daß man den Exorzismus in der Taufe beibehielt. Unter dem Ansturm der Gegenreformation schien es deshalb manchen Landesherren geraten, die Reformation Luthers in ihren Staaten weiterzuführen, womit sie sich dann im calvinistischen Lager befanden. Diese Prozesse sind freilich wiederum auch in ihren politischen und sozialen Aspekten zu sehen: Sie führten zu einer Intensivierung territorialer Herrschaft und verlangten einen spürbaren Wandel der Lebensformen von allen Untertanen. Insofern waren sie vielerorts höchst umstritten und gaben Anlaß zu ständischen Kämpfen. Beispielsweise entstanden aus der \

_

Heidelberger Katechismus

Luthertum und

Calvinismus

Enzyklopädischer Überblick

B. Das 17. Jahrhundert

19

Einführung des Calvinismus in der Grafschaft Lippe langwierige Kämpfe, Lippe: Lemgo wobei sich der Fürst fast überall durchsetzte, aber die größte Stadt, Lemgo, beim Luthertum verblieb. Dagegen drängte in Ostfriesland ein lutherischer Fürst allmählich den Calvinismus zurück, mußte aber vor seiner wichtigsten Stadt kapitulieren: Emden blieb calvinistisch. Der deutsche Calvinismus legte besonderen Wert auf Bildung, auf den Ausbau von Schulen und Hochschulen. Die erste und wirkungsmäch- Schulen und Hochdes Caivireformierte Universität war Heidelberg, die kurpfälzische Landes- schulen tigste ° or nismus Universität (seit 1560). In der Grafschaft Nassau-Dillenburg wurde 1584 die Hohe Schule zu Herborn gegründet, in der westfälischen Grafschaft Steinfurt 1591 die Hohe Schule zu Burgsteinfurt. Marburg wurde 1605 calvinistisch, nachdem auch der Landgraf von Hessen-Kassel sich diesem Lager angeschlossen hatte. Hanau erhielt eine Hohe Schule (1607). Bremen ein Akademisches Gymnasium (1610) calvinistischer Ausrichtung. Nachdem der Kurfürst von Brandenburg zum Calvinismus übergetreten war und 1614 Kleve, Mark und Ravensberg erworben hatte, wurde in Duisburg eine calvinistische Universität gegründet (1655). Die calvinistischen Landesherren wollten nicht nur die eigenen Beamten und Prediger innerhalb ihres Landes ausbilden, sondern kümmerten sich auch um den Aufbau des niederen Schulwesens in besonderem Maße, wobei sich wohl religiöse Motive mit dem Interesse an Sozialdisziplinierung verbanden. Der Zwang zur Einigung mit anderen Protestanten dürfte stets ein Stachel für eine eher irenische Auffassung gewesen sein, eine Aufmunterung zur Toleranz. Auch bewirkte die Calvinisierung einzelner Städte und Territorien den Aufbau eines weiteren Kommunikalionsnetzes: Bremen wurde mit Heidelberg und den Schweizer Städten verbunden; Emden mit Internationales KommunikationsEngland, Schottland und den Niederlanden; Berlin mit Holland; Kassel netz des Calvinismit Sedan und Saumur. Dieser Aspekt hatte für die geistesgeschichtliche mus Entwicklung Europas Bedeutung.

4. Reunionsv ersuche und Konversionen Der Dreißigjährige Krieg hatte zu dem Ergebnis geführt, daß an eine militärische Verschiebung des Gleichgewichts zwischen den Konfessionen im Reich auf längere Sicht nicht mehr zu denken war. Trotzdem blieb bei vielen Fürsten und Privatpersonen das Bewußtsein der Einheit des christlichen Glaubens wach; nicht wenigen schien die Uneinigkeit der Konfessio° nen gegen das Christentum zu zeugen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entfaltete sich eine vielseitige Diplomatie, die auf einen Ausgleich zwischen den Konfessionen hinarbeitete. °

Bewußtsein deiE,n'leit dos Cmi slcnlums

20

).

Enzyklopädischer Überblick

Freilich bedeutete der Verweis der Konfessionsangelegenheiten an die Fürsten und Diplomaten auch die Vermengung mit politischen Absichten. Während einigen der aktivsten Projektemacher und Unterhändler die genuin religiöse Motivation nicht abzusprechen ist, wurden doch ihre Bemühungen immer wieder in Zweifel gezogen durch ein zynisches Reunionsprojekte Kalkül mancher Herren, die Reunionsprojekte ventilieren ließen, um sich damit Positionsvorteile im zeitüblichen Länderschacher zu verschaffen. Aber auch unter den Fürsten gab es religiöse Persönlichkeiten. Besonders traten der Mainzer Erzbischof und Primas Germaniae Johann Philipp von Schönborn sowie Landgraf Ernst von Hessen-Rheinfels mit Unionsplänen hervor. Seit 1673 bereiste der Titularbischof von Tina (der spätere BiRojas y Spinola schof von Wiener Neustadt) Cristoforo de Rojas y Spinola die europäischen Höfe, um Protestantismus und Katholizismus wiederzuvereinigen. Er handelte in kaiserlichem Auftrag als Diplomat, der auch die Türkenabwehr organisieren sollte. Herzog Johann Friedrich von Hannover war zum katholischen Glauben übergetreten. Doch sein Nachfolger, der jüngere Bruder Ernst August, stellte seine Konversion in Aussicht, wenn dafür die Bistümer Hildesheim und Osnabrück säkularisiert und den Weifen zugeschlagen würden. Aus Theologengesprächen unter Zuziehung des lutherischen Abtes von Loccum. Gerhard Wolter Molanus, Georg Calixts und Theodor Mayers ging 1683 ein ausformulierter Programmentwurf hervor, in welchem die Protestanten den Zölibat der Priester (unter Beibehaltung der bereits geschlossenen Ehen) und die Anerkennung des Papstes als sichtbares Oberhaupt der Kirche zugestanden; Konzilien sollten als unfehlbar anerkannt werden, und die Protestanten würden sich einem künftigen Universalkonzil unterwerfen. Doch solche Absprachen blieben prekär; nach ihrem Bekanntwerden schob Molanus neue Forderungen nach, und die katholische Seite distanzierte sich infolge einer Intervention der französischen Diplomatie beim Papst. Wie die Reunionsbestrebungen durch fürstliche Interessen ermöglicht wurden, wurden sie durch diese auch wieder durchkreuzt. So stehen in diesem Zeitalter neben kühnen Vorstößen zur ReliPolitische Vereinna mungendei Vereinnaho o immer wieder Rückzieher und politische gjongSVereinigung ö r Reunionsidee t> mungen. Nach der Eroberung Straßburgs durch den französischen König predigte dort der Jesuit Jean Dez, daß CA und Tridentinum nicht unvereinbar seien; die protestantischen Elsässer könnten ohne weiteres in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehren. Der Königsberger Professor Matthäus Praetorius veröffentlichte einen Unionsplan in seiner Schrift Tuba pads (1685); da er jedoch im Vorwort die Anerkennung des päpstlichen Primates empfahl und zum Katholizismus übertrat, verlor er seinen Lehrstuhl. Als Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüt-

B. Das 17. Jahrhundert

21

tel anläßlich ihrer Heirat mit dem Erzherzog Karl katholisch wurde, rechtfertigte die Helmstedter Theologische Fakultät diesen Schritt 1707 in einem Gutachten. Der Theologe Johann Fabricius, den man dafür verantwortlich machte, wurde nach Bekanntwerden seines Amtes enthoben. Als (lutherischer) Abt von Königslutter verfolgte er seine Reunionsbestrebungen weiter. Gottfried Wilhelm Leibniz, der eine universale Kirchenkonzeption entwarf, in welcher die Konfessionsverschiedenheiten aufgehen sollten, trat 1678 in Korrespondenz mit Jacques-Benigne Bossuet (als Bischof von Meaux und Erzieher des Dauphin die gewichtigste Stimme innerhalb der französischen Kirche). Während man seit der Reformation stets versucht hatte, die dogmatischen Differenzen zu klären, um sodann der Möglichkeit einer Vereinigung näher zu treten, schlug Leibniz den umgekehrten Weg vor: Zuerst Vereinigung der Konfessionen, dann ein Universalkonzil zur Lösung der dogmatischen Fragen. Die Differenzen zwischen den Konfessionen seien erst unüberbrückbar geworden durch das Konzil von Trient, das kein wirklich ökumenisches gewesen und auch von Katharina von Medici und Heinrich IV. nicht anerkannt worden sei. Doch dieser Versuch, in Bossuet den Gallikaner und Franzosen gegen den orthodoxen Kirchenmann auszuspielen, verfing nicht. Bossuet blieb beim Tridentinum, das er als objektiven Bekenntnistext verstand; wenn man ihn aufgäbe, wären auch frühere Lehrentscheidungen wieder zur Überprüfung freigegeben. So war eine Verständigung schließlich unmöglich. Mag auch manches an den Reunionsversuchen der Jahrzehnte nach dem Westfälischen Frieden fragwürdig erscheinen; die Alternative bestand in einem Rückfall in militärisch-konfessionelle Auseinandersetzungen älteren Stils, wie sie tatsächlich um 1700 in manchen Ländern wieder auflebten (Frankreich, Schlesien). 5. Katholische

Gottfried Wilhelm l c n'tz

Reunionsprojekte a

Religionskrieg

Barockfrömmigkeit

Die katholische Kirche entwickelte als Volkskirche eine neu akzentuierte, spezifisch barocke Frömmigkeit, für die romanische Impulse ausschlaggebend wurden. Sie zeigte ein von Magie und altem Brauchtum nicht klar abzugrenzendes Bedürfnis nach kollektiver Erfahrung des Außerordentlichen. Der Himmel wurde in barocken Kirchen möglichst plastisch und irdisch dargestellt (Illusionsmalerei, Stukkatur, Anthropomorphismus). Das Altarsakrament, das ein Teil der Reformatoren (vor allem Zwingli) rein symbolisch als Gedächtnismahl aufgefaßt und damit rationalisiert hatte, wurde nun sakralisiert: In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts markierten in Versailles, Reims und Wien Böllerschüsse die Wandlung; -

-

Nähe

zur

Magie

Altarsakrament

22

Letzte

Ölung

Firmung Herz Jesu

Territorialisierung der Wallfahiten

Sinnliche

Fromnug

I.

Enzyklopädischer Überblick

auch an kleineren Kirchen legte man besonderen Wert auf das Wunder der Substanzumwandlung von Brot und Wein in Christi Fleisch und Blut (Glockenläuten, Klingelzeichen). Man war bereit zu harten Bußübungen und asketischen Kasteiungen; man war aber auch in hohem Maße empfänglich für außerordentliche Wirkungen und Zeichen göttlicher Gnade. Das Papsttum leistete dem Vorschub, doch entstand vieles „aus dem Volke", aus Aberglauben wie auch aus mystischer Versenkung, aus aufopferungsvoller Hingabe wie auch aus exorbitanter Geltungssucht. Der Drang nach Kommunikation mit dem Heiligen war nicht aufzuhalten allenfalls zu lenken und zu kanalisieren. Die Letzte Ölung, zuvor weitgehend in Vergessenheit geraten, wurde nun wieder allgemein üblich, verbunden mit einer Aufwertung des Bußsakraments und der Kommunion. Auch die lange vernachlässigte Firmung wurde vielerorts erst jetzt verbindlich. Eine zeittypische, neue Form religiöser Begeisterung richtete sich auf das Herz Jesu. Maria wurde zum Zentrum der Heiligenfrömmigkeit. Obrigkeiten konnten nicht widerstehen, solche Ansätze der Volksfrömmigkeit in politische Meinungsbildung und Identitätsstiftung umzulenken. In Österreich fand die Marienverehrung große Verbreitung; Adel und Ritterschaften Innerösterreichs unterstellten sich insgesamt in feierlichem Gelöbnis dieser Schutzpatronin. Die Befreiung Wiens von den Türken 1683 wurde speziell der „Erzstrategin" Maria zugeschrieben und mit einem „Dankfest des Namens Mariae" begangen. Obrigkeiten stifteten, organisierten und instrumentalisierten Wallfahrten: Anstelle der universalen Wallfahrtsorte der Christenheit wurden nun, im Zeitalter des Territörialismus und Absolutismus, Wallfahrten von regionaler Bedeutung innerhalb des eigenen Territoriums gefördert (Maria in Österreich: Mariazell; Maria in Bayern: Altötting usw.). Insgesamt ist die katholische Frömmigkeit des Barock, weil das bürgerlich-städtische Element dieser Kirche in Deutschland so schwach ausgeprägt war, sinnlich, farbenfroh, zeichenhaft, magisch und rauschhaft. Die Religion war nicht nur Bestandteil des Alltagslebens und seiner Akzentuierung durch Feste; die Kirche war zuständig für das schlechthin Außerordentliche. -

6. Die

Sonderstellung der geistlichen

Staaten

Während in bezug auf Hofhaltung und Kulturförderung zwischen weltlichen und geistlichen Herren kaum ein Unterschied bestand, lag ein entKein stehendes scheidendes Element der Differenz im Verzicht auf ein stehendes Heer. 5rge Deshalb war die Steuerbelastung in geistlichen Staaten für die Bevölkesagten rung geringer. Wenn man bedenkt, welche Bedeutung das gesamte Heer-

23

B. Das 17. Jahrhundert

das Soldatenpressen und Soldatenverkaufen, die Rekrutierung und Dienstpflicht, die Einquartierung und Ausstaffierung von Militär in den absolutistischen Staaten vor allem des 18. Jahrhunderts gewann, namentlich in Brandenburg-Preußen und Hessen-Kassel, wird man das Fehlen dieses Elementes in geistlichen Herrschaften zu schätzen wissen. Damit hängt wohl das volkstümliche Sprichwort „Unterm Krummstab ist gut leben" zusammen. Im Zeitalter der Aufklärung, als die öffentliche Meinung eher gegen das mittelalterliche Relikt der geistlichen Staaten eingestellt war, finden sich bemerkenswerte Würdigungen ihrer Bedeutung, etwa bei Friedrich Carl von Moser, einem führenden Reichsjuristen. Moser pries die geistlichen Staaten als Bollwerke gegen den Despotismus und hob hervor, daß sie oft besser verwaltet würden als weltliche, weil die Bischöfe ja nichts zu vererben hätten und die Domkapitel ihre Amtsführung überwachten. Angesichts des wohlgefüllten Pfründenpools wird man sich nicht wundern, daß vor allem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts im Hochadel eine Reihe spektakulärer Konversionen zur katholischen Kirche vorkamen. Diese stellte auch soziale Aufstiegsmöglichkeiten für fähige Individuen geringer Herkunft bereit ohne Gefahr für das Privilegiensystem insgesamt, da sie ja nichts vererben konnten und ihre Stellen nach ihrem Tode wieder frei wurden. Die katholische Kirche bot damit gewissermaßen eine Prämie für zölibatäres Leben übrigens auch für Frauen, die in den Damenstiften gesellschaftlich herausragende Positionen bekleideten. Martin Gerbert, ein Bürgersohn aus Rottenburg am Neckar, stieg als Abt von St. Blasien im Schwarzwald sogar in den Reichsfürstenstand auf. Gerade in ihrer mittelalterlichen Prägung und irregulären Struktur hatte die Reichskirche interessante Aspekte und Auswirkungen auf das Verhältnis von Staat, Kirche und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit. Einerseits verkörperte sie ein tradiertes, aber obsoletes Privilegiensystem; andererseits ergaben sich gerade in diesem (absolutistisch betrachtet) dysfunktionalen System überraschende Freiheiten. Während sich sonst überall der moderne Staat ausbildete, blieben die geistlichen Territorien in dieser Hinsicht zurück. Doch Fürstäbte und Fürstbischöfe bestärkten im 17. und 18. Jahrhundert keineswegs nur die beharrenden Tendenzen, sondern öffneten sich nicht selten den vorwärtsweisenden geistigen Strömungen. Vor allem die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch aufgeklärte Reformer, welche Gewerbe und Handel, Volksaufklärung und Bildung jeder Art in bemerkenswerter Weise förderten. In gewisser Hinsicht war das Weiterbestehen geistlicher Wahlstaaten inmitten absolutistischer Fürstenstaaten eine Anomalie. Um die Mitte wesen,

Pfründenpool

Chancen für sozialen Allfsties

-

-

Mangel

an

Staat,,c1 elt

Öffnung für

Refo'mtendenzen

24

I.

Enzyklopädischer Überblick

des 18. Jahrhunderts kursierten weitgespannte Projekte zur Säkularisation geistlicher Staaten. Doch die Rivalität der dynastischen Fürstenstaaprojekte ten untereinander formte das gemeinsame Interesse an der Aufrechterhaltung des alten Zustandes. Wie sehr die Reichskirche jedoch wirklich Säkularisation eine Kirche des Reiches war, erwies sich um 1800, als beide gleichzeitig zusammenbrachen.

Säkularisations-

7. Die Definition

„Pietrsmus

1.

Erneuerung Fiömnugkeit der

2.

Sammlung der Fiommen

Geographischer

Einzugsbererch:

etabherte Landeskirchen

Anfänge des Pietismus

Der Pietismus ist eine

religiöse Erneuerungsbewegung innerhalb des deut-

Protestantismus, die sich in mancher Hinsicht mit katholischen Erneuerungsbewegungen berührt, die aber vor allem in engem Zusammen-

scnen

hang mit ähnlichen Strömungen in England und in den Niederlanden gesehen werden muß. Zur Erneuerung der Frömmigkeit (praxis pietatis, AkzevA auf Leben statt auf Lehre) kommt ein bestimmtes Verhältnis zur Kirche hinzu, nämlich das Streben nach einer „Kirche der Frommen", einer Freiwilligenkirche. Spener intendiert sie als „ecclesiola in ecclesia", als j£ern „wahren Christen" innerhalb der jeweiligen Landeskirche; im radikalen Pietismus dagegen führt dieser Kirchenbegriff zur Separation. Während, schon vom Wort her, Pietismus von Theologen meist als bloße Frömmigkeitsbewegung gesehen wird, soll hier Pietismus über den Kirchenbegriff gefaßt werden. Damit ergibt sich sogleich sein geographischer Pietismus entstand dort, wo Protestantismus als LandesEinzugsbereich: ° kirche bzw. Staatskirche etabliert war zunächst als „Puritanismus" unter den Sonderbedingungen der Anglicana Ecclesia in England (in den Niederlanden ebenfalls in Auseinandersetzung mit der „publieke kerk" des Calvinismus); in Deutschland innerhalb der Landeskirchen zumeist lutherischer Prägung, ausstrahlend dann auf die skandinavischen und baltischen Länder. Ob pietistische Erneuerung zu engeren Zellen innerhalb der jeweiligen Kirche führte oder zur Abspaltung von derselben, hing wesentlich von der Reaktion der jeweiligen Landeskirche auf die Provokation ab. Der Tendenz nach suchten sich orthodoxe Kirchenwesen gegen das aufkommende Neue zu wehren; Sachsen. Württemberg und andere Staaten erließen Edikte gegen das Konventikelwesen. Dagegen boten höfische Personennetzwerke schon früh Aufnahmemöglichkeiten in HessenDarmstadt, bei den wetterauischen Grafen und in Brandenburg-Preußen. Die beiden Definitionsmerkmale des Pietismus treffen zuerst zusammen m frrankfurt am Main, wo unter dem Einfluß Philipp rr Jacob Speners r seit 1670 Konventikel tagten und seit 1675 mit Speners Pia Desideria ein Reformprogramm für die Kirche vorlag. Hier findet sich eine direkte Anknüpfung an Johann Arndt, an seinen Begriff eines erneuerten, „Wahren -

Integration oder Separation

Anfänge des Pietis-

mus: Frankfurt am Main unter Spener seit 1670

B. Das 17. Jahrhundert

25

Christentums"; Spener kanonisierte Arndt gewissermaßen und hob ihn Rechten Luthers. In diesem Zweigestirn ist das Provon innen her erneuern zu wollen. Zweitens bedeutet die Anknüpfung an Arndt eine Akzentverlagerung von der Lehre auf das Leben (oder, wie es Johann Konrad Dippel predigte: von der Orthodoxie auf die Orthopraxie), verbunden mit der Orthopraxie statt Aufnahme mystischen Gedankengutes (Tauler, Böhme, spanische Mystik), mithin Tendenzen zu einem allgemeinen Christentum jenseits der der Mystik konfessionellen Begrenzung. Zunächst ist jede Spielart des Pietismus durch die Stellungnahme zur Kennzeichen Wiedergeburt zu kennzeichnen: Nach Luther verstand man „Wiederge- Wleclergebur' burt" als Taufgnade; andere Deutungen galten als heterodox. Spener bewältigte das Problem durch das Postulat der Wiederholbarkeit der Wiedergeburt, die damit ihren Charakter eines singulären Durchbruches im Leben eines Menschen verlor. August Hermann Francke dagegen vermochte seine Schilderung von Bußkampf und (einmaliger, datierbarer) Wiedergeburt später für weite Teile der Bewegung verbindlich zu machen. Kennzeichnend für jeden Pietismus ist sodann ein prononcierter Bi- Kennzeichen blizismus. Man wollte nicht nur „sola scriptum", sondern „tota scriptum' Biblizisnius Spener forderte, „das Wort Gottes reichlicher unter uns zu bringen"; die Canstein'schen Bibelanstalten in Halle stellten sich später dieser Aufgabe auch drucktechnisch und verlegerisch. Die Apokalypse insbesondere spielte eine große Rolle für pietistisches Weltverständnis und Geschichtsbewußtsein. Die Endzeitspekulation trieb teilweise abstruse Blüten, reizte aber auch zu vielfältigen Studien an. Die Erforschung und Lehre der orientalischen Sprachen wurde grundlegend für biblische Exegese; im Pietismus drängte man über Luthers bis dahin unantastbare Bibelübersetzung hinaus. Spener predigte die „Hoffnung besserer Zeiten"; er erwartete eine Kennzeichen Chiliasmus neue Welt noch hier auf Erden. Bei manchen Pietisten enthielt dieser erneuerte und zugleich erweiterte Begriff des Christentums nicht nur die eschatologische Vorstellung vom Fall des päpstlichen Rom und der Bekehrung der Juden, sondern auch die Möglichkeit der Einbeziehung katholischer Christen und selbst (einzelner) Juden in religiöse Gemeinschaften, welche damit gewissermaßen die Endzeit vorbereiten sollten. Ein Teil des Pietismus war an der Vorstellung eines kommenden „Tausendjährigen Reiches" Jesu Christi hier auf Erden (nach Apok. 20) orientiert. Dieser Chiliasmus, der dem älteren Luthertum fremd und durch die CA lehrmäßig ausgeschlossen war, kam nun auch im deutschen Protestantismus zur auf den Platz

zur

gramm beschlossen, die Kirche

r^'^,"*'6

Geltung.

26 Wandel lutherischer Sozialethik

Reichsstadt und Pietismus

Spener in Dresden und Berl

I.

Enzyklopädischer Überblick

Sozialethisch ergab sich daraus ein fundamentaler Wandel: Wo bis fafofa jjg Rechtfertigungslehre und die Prädestination ausschlaggebend gewesen waren, entstand nun eine stärker diesseitige Orientierung; die Welt wurde wichtiger als früher, mithin auch die Reform der Verhältnisse. Daß der Pietismus von Frankfurt am Main ausging, liegt daran, daß Spener die Möglichkeiten erkannte, die der Mittelpunkt des deutschen Verlagswesens für Korrespondenz und Publizistik bot. Durch seine persönlichen Beziehungen breitete sich die Bewegung früh auf andere Reichsstädte aus (Rothenburg ob der Tauber, Wertheim am Main, Augsburg), doch in großen Städten wie Hamburg und Leipzig wehrte sich die Orthodoxie erfolgreich gegen das Eindringen des Pietismus. Spener setzte seine Karriere als Oberhofprediger in Dresden fort (1686-1691), wo er jedoch keine Konventikel mehr gründete und am Hofe scheiterte. Er erlebte eine fruchtbare Tätigkeit danach als Propst von St. Nikolai und Konsistorialrat in Berlin (1691-1705), wo er dem Pietismus Eingang verschaffte und Entscheidendes zur Förderung Franckes in Halle

beitrug.

C. Das 18. Jahrhundert /. Der Pietismus als

staatstragende Religion: Preußen

und

Württemberg

Die erneuerte Religiosität wirkte aktivierend: Francke machte Speners Hoffnung besserer Zeiten" produktiv durch tätiges Wirken. In Halle wurde der Pietismus pädagogisch; hier wurde tatsächlich die Welt umgestaltet, nicht nur die Seele des einzelnen. Und den Erfolg propagierte Franckes Anstalten Francke als neuen, praktischen Gottesbeweis. Bei seinem Tod 1727 bein Halle stancj jn Halle eine Schulstadt, die mehrere tausend Schüler und mehrere hundert Lehrer umfaßte ein dreigliedriges Schulsystem (deutsche Schule, lateinische Schule, Paedagogium Regium) nebst Lehrerbildungsanstalt -, von der Universität Halle ganz zu schweigen. Seit Francke war der Pietismus eingebunden in die Entwicklung des absolutistischen TerriPreußentum und torialstaates Brandenburg-Preußen. Im halleschen Pietismus fanden die letismus Hohenzollern ein Konzept der Reform: Staatsideologie, Formierung der Untertanenschaft, SozialdiszipUnierung verbunden mit Staatsausbau, Peuplierung, Zurückdrängung der Stände und der lutherischen Landeskirche. Halle im HerzogMehr, als dies Theologen geläufig ist, war der Erfolg des Pietismus an tum Magdeburg ^e Strukturbedingung des Territorialismus geknüpft: Das Herzogtum Magdeburg, ein im Westfälischen Frieden als Kompensation zugeständeReform, Aktivierung,

Pädagogik

-

-

-

C. Das 18. Jahrhundert

27

Säkularisationsgewinn für Brandenburg, Her jedoch erst 1680 reali siert werden konnte, wurde planmäßig gefördert, nicht zuletzt durch Bil dungsinstitutionen. Eine Ritterakademie wurde zur Universität ausgebaut (1694). Diese war wie Frankfurt an der Oder für Brandenburg, Königsberg für die östlichen und Duisburg für die westlichen Landesteile eine Landesuniversität; sie war aber auch ganz spezifisch eine Universität der Hohenzollern, welche den Ständen und der Kirche weitgehend entzogen war. Der aus Leipzig und Erfurt vertriebene Francke konnte hier als Theologieprofessor und gleichzeitig als Pfarrer in der Vorstadt Glaucha (eine kurfürstliche Patronatspfarrei) ansetzen, ohne von vornherein durch die Orthodoxie erstickt zu werden. Das Schulsystem, obwohl zeitadäquat ständisch aufgebaut, war sozial durchlässig: Die höheren Schulen galten zwar den höheren Ständen, doch saßen immer auch befähigte Waisen und Arme mit auf den Schulbänken. Kaum der betreffenden Klasse entwachsen, konnten junge Leute schon wieder noch jüngere unterrichten; Studenten als Hilfslehrer gab es auf allen Stufen der Bildung. Damit machte sich das System zu einem gewissen Teil selbst bezahlt: Wer unterrichtete, erhielt zwar wenig Geld, aber immerhin Kost und Logis. Freitische ermöglichten auch armen Schülern und Studenten eine Bildung, die sie unter den üblichen Voraussetzungen kaum hätten erwerben können. Der pietistische Enthusiasmus war in pädagogischen Enthusiasmus umsetzbar. Die halleschen Anstalten bildeten auch ein Wirtschaftsimperium (Druck und Verlag, Arzneimittelherstellung und -versand). Halle begann erstmals im Luthertum (mithilfe des dänischen Königs) die Mission in Übersee. Halle erzog dem preußischen Staat zuverlässige Diener auf allen Stufen insbesondere Beamte und Soldaten. Halle war eine königlich privilegierte Institution, die vor allem nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. planmäßig gefördert und ausgebaut wurde. In Württemberg dagegen verbanden sich Pietismus und ständischer Widerstand gegen das zum Absolutismus und Katholizismus neigende Herzoghaus. Die Landesuniversität Tübingen war zunächst ein Hort der Orthodoxie; nicht wenige pietistische Pfarrer wurden ihres Amtes enthoben und mußten ins Exil. Allmählich setzte sich jedoch in Württemberg der Pietismus stärker als in anderen Territorien durch. Teilweise lag das an bedeutenden Einzelpersönlichkeiten wie Johann Albrecht Bengel, Friedrieh Christoph Oetinger und Philipp Matthäus Hahn, die chiliastische Spekulation mit mystischem Gedankengut aus der Tradition Böhmes zu verbinden wußten. Die ständische Bewegung gewann über bedeutende Vertreter wie Johann Jakob Moser allmählich auf die Regierungsgeschäfte Einfluß. 1743 wurde (während einer Regierungsadministration aus Grünner

Universität der Hohenzollern

-

-

-

Dreigliedriges Schulsystem, sozial durchlässig

Halle als Wirt-

schafls»"Penum Mission in

Übersee

Beamte und Soldaten für den preußischen Staat

Württemberg

Pietismus und ständische Bewegung

„Schwabenväter"

Generalreskript von

1743: Ver-

kirchlichung des Pletlsmus

28

I.

Enzyklopädischer Überblick

den der Minderjährigkeit des Herzogs) ein Generalreskript erlassen, mit dem die pietistischen Konventikel unter bestimmten Bedingungen zugelassen und in die Landeskirche einbezogen wurden. Württemberg ist deshalb das einzige Land, in dem es eine Kontinuität des Pietismus vom 18. bis zum 20. Jahrhundert gibt; nirgendwo hat der Pietismus so stark auf Mentalität und Sozialverhalten der Bevölkerung eingewirkt wie hier. 2, Radikaler Pietismus.

Publizistische

Bedeutung

Johann Jakob Schutz

Johanna Eleonora UIK'Jollann Wilhelm Petersen

des radikalen Pietismus

Davon ist der radikale Pietismus zu unterscheiden, also jene Individuen Qruppen, die aus den Gemeinden und Kirchen austraten und in die Separation gingen. Mag es sich dabei auch oft um Einzelgänger mit abstrusen Meinungen handeln; daß und unter welchen Bedingungen sie ihren Lebensentwurf verwirklichen konnten, kennzeichnet den im 18. Jahrhundert erreichten Stand des Individualismus und bildet ein wichtiges Symptom für das Verhältnis von Staat, Kirche und Gesellschaft. Schließlich traten nicht wenige von ihnen als Publizisten hervor; da es in Deutschland nicht zu Kirchen- oder Sektenbildungen kommen konnte, bestand ihre Bedeutung wesentlich in ihrem Einfluß auf dem literarischen Markt. Das Collegium pietatis, das 1670 in Frankfurt gegründet wurde, hatte neben Spener auch noch Johann Jakob Schütz, einen reichen Rechtsanwajt uncj prankfurtex Bürger württembergischer Herkunft, zum Initiator. Schütz jedoch, stärker von mystisch-spiritualistischem Gedankengut beeinflußt, zog nach einigen Jahren der Kooperation die Konsequenz, nicht mehr am Abendmahl und Gottesdienst mit so vielen Sündern teilnehmen zu können. Ebenfalls aus dem Kreis um Spener spalteten sich Johanna Eleonora von und zu Merlau, ein adliges Hoffräulein, und der Prediger ° ° Johann Wilhelm Petersen ab, die schließlich miteinander die Ehe schlössen. Ihr Konventikel, der „Saalhofkreis" um Maria Juliana Baur von Eyseneck, empfing auch William Penn, der hier für sein Kolonisationsprojekt Warb. Das Ehepaar Petersen beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit der Apokalypse. Anknüpfend an Böhme und seine englischen Fortsetzer entwickelten die Petersens die Lehre von der Apokatastasis panton, von der Wiederbringung aller Dinge, nach der am Ende der Zeiten Gottes Schöpfungswerk vollendet werde durch die Versöhnung alles Geschaffenen mit dem Schöpfer. Damit wurde ein Trennungsstrich zur lutherischen Orthodoxie, aber auch zu Spener gezogen. Petersen machte zunächst Karriere durch höfische Protektion, wurde aber schließlich unhaltbar infolge der Lehrdifferenz und zog sich in ein Leben als freier Schriftsteller auf ein Gut bei Magdeburg zurück, das ihm der preußische König zur Verfügung stellte.

Separatismus un(j

individualismus

......

Systemsprengende Tendenzen

29

C. Das 18. Jahrhundert

Ein Schüler Speners aus dessen Zeit als Oberholprediger in Dresden Gottfried Arnold Gottfried Arnold, ein scharfer Kritiker des landesherrlichen Kirchenregiments, der Skrupel hatte, ein geistliches Amt zu übernehmen. Aufgrund einer Schrift zum Urchristentum wurde er als Professor für Geschichte nach Gießen berufen, legte das Amt aber schon nach einem Jahr nieder aus „Ekel vor dem hochtrabenden, ruhmsüchtigen Vernunftwesen des akademischen Lebens". Kurz darauf erschien das Werk, mit dem Arnold berühmt wurde: die Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/ 1700). „Unparteiisch" hieß: jenseits der konfessionellen Trennungen. Die im Laufe der Kirchengeschichte als Ketzer Gebrandmarkten galten ihm als Zeugen der Wahrheit. Er konstruierte die Geschichte der Kirche, gut lutherisch, als Verfallsgeschichte; aber diesen Verfall ließ er nicht erst mit dem mittelalterlichen Papsttum einsetzen, sondern schon in den ersten Jahrhunderten der Kirche; er sei durch die Reformation kaum aufgehalten worden, sondern schon beim alten Luther und Melanchthon sah Arnold erneut Verfall, definitiv dann mit Konkordienbuch und Bekenntniszwang. Zur Überraschung seiner Freunde entschloß sich Arnold 1701 zu Ehestand und geistlichem Amt. Doch als Prediger in Allstedt in Thüringen wurde er binnen kurzem wieder entlassen, weil er den Eid auf das Konkordienbuch verweigerte. Durch Spener fand er Zuflucht in Brandenburg und entwickelte sich zu einem eifrigen Seelsorger, Prediger, Erbauungsschriftsteller und Schulinspektor innerhalb der Kirche. Johann Konrad Dippel, ein hessischer Pfarrersohn, war seit seiner Johann Konrad Begegnung mit Arnold in Gießen radikaler Pietist. Als junger Mann ver- DlPPe! darb er sich seine Karriere durch Schriften gegen die Orthodoxie; später wurde er Arzt und Goldmacher, zunächst in Berlin. In der Schrift Ein Hirt und eine Herde oder Unfehlbare Methode, alle Secten und Religionen zur einigen wahren Kirche und Religion zu bringen (1706) entwickelte Dippel ein ökumenisches Reformprogramm mit dem preußischen König an der Spitze: Er projektierte eine überkonfessionelle Kircheneinheit unter Instrumentalisierung des landesherrlichen Kirchenregiments, indem nämlich der König als summits episcopus mittels Berufungspolitik Kirche und Schule säubern könne; wahre Herzensfrömmigkeit und konfessionelle Indifferenz sollten zum Maßstab gemacht werden. Dippel wurde in einem abenteuerlichen Leben weit umhergetrieben (Niederlande. Altona, Schweden; erstarb in Berleburg); als radikaler Pietist strebte er keine Gemeindebildung an. Den Lutheranern warf er insgesamt „Bibliolatrie" vor; er machte einen Unterschied zwischen „Wort Gottes" und „Heiliger Schrift"; das Alte Testament wollte er nicht als Offenbarung anerkennen. Als Spiritualist in der Nachfolge Böhmes vertrat er die Lehre von der Universalität des Wortes Gottes, das auch bei NichtChristen wirke. war

-

-

30

ErnstChristpoph Hochmannvon

Hoehenau

Die „Stillen im Lande

Philadelphlscher Gedanke

.Kirchenrevolution in Laubach"

YsenburgBudmgen

Erste

pietistische Zeitschrift

ßerleburger Bibel

Zi

Enzyklopädischer Überblick

Im Gegensatz zu eifrigen Publizisten wie Petersen. Arnold und Dip|jeß , Ernst Christoph Hochmann von Hochenau absichtlich nichts 1 r drucken und zog als Erweckungsprediger durch die Lande. Immer wieder wurde er inhaftiert und ausgewiesen, weil er den Eid und die Todesstrafe ablehnte und durch seinen ausgeprägten Pazifismus ein Stachel im Fleisch der Fürsten des Absolutismus war. Ritus und Liturgie interessierten ihn nicht. Er lehnte auch den rationalen Diskurs über religiöse Fragen ab, weil es allein auf die religiöse Erfahrung ankomme; jeder Wortstreit darüber sei überflüssig und fruchtlos. Im Zeitalter des Pietismus entstanden allenthalben Kreise Erweckdie sich gerne die „Stillen im Lande" nannten (nach Psalm 35, 20) und ter. sich in Frömmigkeit, Demut, unauffälligem Wohltun und einfachem Glauben übten. Teilweise hielten sie sich von den offiziellen Kirchen fern und beschränkten sich auf private häusliche Religionsausübung. In diesen Kreisen wirkte der philadelphische Gedanke (nach ^pok. 3). jm Vorgriff auf das erwartete „Tausendjährige Reich" bildeten sich spiritualistische Gemeinschaften der „Bruderliebe", die auch Konfessionen überschreiten konnten. In Erwartung des Anbruches des „Tausen(jjährigen Reiches" zur Jahrhundertwende kam es 1699/1700 am Hof von Solms-Laubach zu einem Versuch, die Landeskirche abzuschaffen und eine überkonfessionelle Geistkirche ohne festes Predigtamt einzuführen, doch zerstreuten sich die Spiritualisten wieder, als das Jahr 1700 ohne einschneidende Ereignisse vorüberging. Beträchtliche Gruppen verschiedener radikalpietistischer Richtungen sammelten sich in der Grafschaft Ysenbuig-Büdingen und in den beiden Grafschaften Sayn-Wittgenstem um die Höfe Berleburg und Laasphe. An manchen Orten in diesen Grafschaften übertraf die Zahl der Zuwanderer die der Einheimischen. 1712 erließ Graf Ernst Casimir von Ysenbuig-Büdingen ein zukunftsweisendes Toleranzedikt, in dem er vollkommene Gewissensfreiheit garantierte. Sein Land wurde zu einem Sammelpunkt des radikalen Pietismus. 1722 verlegte Johann Jacob Haug seinen Verlag nach Berlebürg. Hier gab Johann Samuel Carl 1730-1744 die erstepietistische Zeitschrift heraus („Geistliche Fama"). Hier erschien 1726-1742 die „BerleVorreden und Kommentar als entburger Bibel", die durch scheidendes Zeugnis radikalpietistischer Theologie gilt.

Übersetzung,

3. Nikolaus

I.

Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine

Ludwig Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, Nachkomme von aus Österreich nacn Sachsen geflohenen Protestanten, war in Halle im Paedagogium Reend gium ausgebildet worden, bevor er zum juristischen Brotstudium überge-

°rf

C. Das 18. Jahrhundert

31

hen mußte. Was er seiner Großmutter zuschrieb, galt ebenso für ihn selbst: „Sie wußte keinen Unterschied zwischen der catholischen, lutherischen und reformierten Religion, sondern was Herz hatte und an sie kam, war ihr Nächster." Frömmigkeit des Herzens, praktische Nächstenliebe und konfessionsübergreifende Tendenz das kennzeichnet sein Lebenswerk mehr als verschiedene später entwickelte Sonderbarkeiten (Stiftung neuer Riten und Feste, Blut- und Wundenmystik, Ehelehre). Zinzendorf trennte scharf zwischen Wissen und Glauben. „Wer Gott im Kopfe hat, der wird ein Atheist", spitzte er seine Religion des Herzens zu. Entscheidend wurde die Gründung einer eigenen Gemeinde. Auf seinein Gut Berthelsdorf bei Zittau in der Oberlausitz hatte Zinzendorf die Ansiedlung von Glaubensflüchtlingen aus den habsburgischen Ländern zugelassen. Die ersten kamen aus Mähren und waren Nachkommen der hussitischen Brüderunität, die dort bis zum Dreißigjährigen Krieg bestanden hatte. Hinzu kamen Schwenckfelder aus Schlesien, Pietisten. Separatisten, Lutheraner und Reformierte aus verschiedenen Teilen des Reiches. 1722 wurde auf Zinzendorfs Gut eine Handwerkerkolonie gegründet, die bald 300 Personen umfaßte und den Namen „Herrnhut" erhielt. Zinzendorf gab dieser Kolonie eine Dorfordnung mit weitgehender Selbstverwaltung. Fast alle schlössen sich durch freiwillige Unterschrift zu einem „Brüderlichen Verein" zusammen letztlich einer Freiwilligenkirche jenseits der Konfessionen. Zinzendorf war bemüht, diese über den vorhandenen Dorfpfarrer in die lutherische Landeskirche zu integrieren, doch bestand hier von Anfang an ein Konfliktfeld. Herrnhut zeigte fast von Anfang an eine Expansionslendenz, da im neuen Geiste christlicher Liebe überall gleichgesinnte Menschen miteinander in Verbindung treten sollten. Diese wurde 1736 existentiell, als Kursachsen Visitatoren nach Herrnhut schickte; einer Ausweisung kam Zinzendorf durch die Flucht zuvor. Die wandernde „Pilgergemeinde" errichtete überall auf ihrem Weg Stützpunkte: Neue Kolonien entstanden vor allem in der Grafschaft Ysenburg-Büdingen. wo Herrenhaag 1750 schon tausend Mitglieder hatte sogar Juden. Während ein Teil der pietistischen Bewegung quietistisch orientiert war, predigte Zinzendorf, ganz im Gegenteil, ein aktiv-missionarisches „Streitertum". Er war ein großer Kommunikator. John Wesley kam nach Herrnhut; die Anfänge der methodistischen Bewegung stehen in klarer Verbindung mit Zinzendorf. 1732 begann die Heidenmission der Herrnhuter mit Expeditionen in die Karibik und nach Grönland. Zinzendorf hatte ein einzigartiges Bewußtsein für die Einheit der Welt; der Schwerpunkt der Herrnhuter verschob sich binnen kurzem nach Über-

Gründung von

Herrnhut 1722

-

Konfliktfeld Landeskllche

„Pilgergemeinde"

-

see.

Missionsreisen

32

I.

Enzyklopädischer Überblick

Zinzendorf wollte die Herrnhuter Brüdergemeine als „ecclesiola in ecc[esia" innerhalb der lutherischen Kirche; dies gelang ihm nicht. 1734 legte er in Stralsund ein theologisches Examen ab und trat im selben Jahr in Tübingen in den geistlichen Stand. Die Kirchenbildung wurde mit Ordination und apostolischer Sukzession möglich durch die Kooperation von Daniel Ernst Jablonski in Berlin, welcher als Bischof der nach Polen emigrierten Böhmischen Brüder fungierte und sowohl Zinzendorf als auch einen seiner Mitarbeiter zu Bischöfen weihte. Zinzendorf entwikkelte, Gedanken des Tübinger Theologen Christoph Matthäus Pfaff aufgreifend, die Vorstellung, es gebe innerhalb der Kirche Jesu Christi vertmpoipaidaias" scfiiedene Erziehungsweisen (,tropoi paidaias'),deren sich Gott bediene, (C. M. Pfaff) um die Menschen zur Seligkeit zu führen. Die großen christlichen Konfessionskirchen mit ihren Bekenntnissen seien solche Tropen'. Die Bürgergemeine dagegen sei ein Abbild der ökumenischen Kirche Jesu Christi und nicht an ein bestimmtes Bekenntnis gebunden. Deshalb könne man zugleich einer Konfession zugehören und der Brüdergemeine. Im radikalen Pietismus und in der Herrnhuter Brüdergemeine wurVerhältnis des radikalen Pietismus den aus dem pietistischen Reformprogramm (Orthopraxie, Sammlung zu Staat und Kirche der Frommen) divergierende Konsequenzen gezogen. Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment war allen radikalen Pietisten gemeinsam; die meisten entschlossen sich zur Separation, wenn auch einige den Weg zurück in ihre Kirche fanden (Arnold, Oetinger). Während Spener und der hallesche Pietismus staatstragend und kirchlich waren, zogen die Radikalen, meist Spiritualisten, ein Leben im Konflikt mit Staat und Kirche aus Gewissensgründen vor. Doch besteht ihr Anteil an der historischen Entwicklung keineswegs nur im Religiösen; indem sie einzelne Fürsten, Grafen und Herren für ihre Ideen zu gewinnen vermochten, lockerten sie zuAuflockerung der gleich die deutsche Konfessionslandschaft merklich auf. Sie schufen sich für Druck und Vertrieb von Schriften. Insofern gibt es hier sionslandschaft Möglichkeiten einen Zusammenhang mit der entstehenden Aufklärung, die ebenfalls auf die Freiheit des Wortes und auf die Entfaltung des literarischen Marktes setzte. Johann Christian Edelmann, Mitarbeiter an der „Berleburger Bibel", übersetzte den Anfang des Johannesevangeliums schließlich mit aufklärerischer Kühnheit: „Am Anfang war die Vernunft". Bischofsamt: eigene Knche

"

4. Der Protestantismus im Zeichen der

Aufklärung als Epoche

Aufklärung

dient als Bezeichnung für eine Epoche, die vom späten 17. gpgj-gn is Jahrhundert reichte (sich teilweise aber auch ins

„Aufklärung" zum

19. Jahrhundert fortsetzte). In dieser Epoche wandelte sich der Protestantismus tiefgreifend, während im Katholizismus zunächst die beharrenden

C. Das 18. Jahrhundert

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Kräfte die Oberhand behielten und erst in der Spätaufklärung neues Denken auch das katholische Deutschland umgestaltete. Den Wandel des Protestantismus hat man mit verschiedenen Begriffspaaren zu erfassen versucht: vom Supranaturalismus zum Naturalismus; vom Jenseitsglauben zu innerweltlichem Heilsstreben; vom Altprotestantismus zum Neuprotestantismus (E. Troeltsch). Man geht in der Kirchengeschichtsschreibung allgemein davon aus, die „Orthodoxie" sei im Zuge einer Übergangstheologie" (J. E Buddeus, S. J. Baumgarten, C.M. Pfaff) abgelöst worden durch die „Neologie" (A.F.W. Sack, J. J. Spalding, J. F. W. Jerusalem, J. S. Semler, W. A. Teller usw.); diese „Neologie" wird auf die Jahrzehnte 1740-1770 datiert und als eigentliche Periode der Aufklärung in der protestantischen deutschen Theologie angesehen, bevor diese schließlich zum „Rationalismus" übergegangen sei. Problematisch ist dabei dreierlei: 1. die Stellung des Pietismus in diesem Entwicklungsschema, 2. die wenig diskutierte Frage nach der Beharrungskraft der Orthodoxie, 3. das Verhältnis von Luthertum und Calvinismus, von denen man gemeinhin annimmt, sie hätten sich einander angeglichen, indem sie beide dem Einfluß der Aufklärung unterworfen waren. Nach allgemeinem Konsens entstand die Aufklärung früher als in Deutschland in Westeuropa, namentlich in England. Dafür wird gewöhnlich in erster Linie der Deismus angeführt (seit E. Lord Herbert of Cherbury). Man kann es auch so fassen: Die „theologia naturalis" (welche eine allen Menschen gemeinsame Religiosität, vor aller Offenbarung, postuliert), mit tiefen Wurzeln in der christlichen Tradition (Raimund von Sabunde, Nikolaus von Kues), wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts umge„

Konzeptionaiisle,uns

Orthodoxie

Übergangs-

tl,eolosie

Neologie Rationalismus

Deismus

theobgia naturalis

Religionsphilosophie (K. Feiereis). Demgegenüber soll hier ein modifizierter Erklärungsversuch vorgestellt werden. Wenn es darum geht, „Aufklärung" inhaltlich zu definieren, fällt im allgemeinen zuerst das Stichwort „Vernunft": Der Mensch habe Vernunftprinzip sich in dieser Phase seiner Entwicklung in besonderem Maße auf die Vernunft gestellt und Mündigkeit proklamiert. Dieser standen Tradition, prägt

zur

Scholastik

und eben auch Orthodoxie entgegen. Vernunft erscheint als dynamisches Prinzip, mit dessen Hilfe die überkommene Lebenswelt in Frage gestellt, aber auch neu legitimiert werden konnte. Vernunft verwirklichte sich in zwei gegensätzlichen, aber letztlich komplementären Erscheinungsweisen: 1. Kritik, 2. Systemdenken. 1. Kritik: „Prüfet aber alles, und das Gute behaltet." Dieses Pauluswort (1. Thess. 5, 21) pflegte man in der Übergangszeit gern anzuführen, um den Impuls der Kritik zu legitimieren. Die Instanz dieser Prüfung war freilich nicht die Schrift oder das Glaubensbekenntnis, sondern die Vernunft; auf diese Weise konnte man gegen festgefügte Institutionen und -

I. Kritik

34

I.

Enzyklopädischer Überblick

dogmatisch-juristisch abgesicherte Lehrmeinungen argumentieren. Das Prinzip der Kritik wird in einem frühen Stadium im späten 17. JahrhunPierre Bayle: Über- dert am deutlichsten anhand des Lebens und der Leistung Pierre Bayles, lieferungskritik eines französischen Protestanten, der in seiner Jugend vorübergehend katholischen Glauben konvertiert war, bei den Jesuiten in Toulouse und bei den Calvinisten in Genf geschult wurde und ein akademisches Lehramt an der Hugenottenakademie in Sedan ausfüllte (bis diese 1681 von Ludwig XIV. aufgehoben wurde), dann in Rotterdam, bevor er auch dort diesmal hugenottischen Eiferern weichen mußte. Als Journalist organisierte Bayle seine Nouvelles de le republique des lettres; Epoche machte er durch sein Dictionnaire historique et critique (1695/96), in dem er Fakten und Meinungen anderer Gelehrter berichtigte. Bot schon die alphabetische Reihung ein Zufallsprinzip, ging Bayle noch weiter, indem er seine wesentlichen Einsichten und Argumente in Fußnoten und Digressionen versteckte. Er wollte die gesamte abendländische Tradition historisch-kritisch überprüfen, mithin auch und nicht zuletzt die christliche Überlieferung. Er war ein subversiver Sammler, der im Wust der Informationen mit dem Skalpell der Kritik arbeitete, um Vernunft und Wahrheit festzustellen. Dabei erschienen ihm die Vertreter aller Konfessionen und Religionen allmählich als „Religionäre", denen er als „Rationalist" gegenübertrat. Sein Skeptizismustendierte zur Toleranz: Gerade weil Wahrheit und Irrtum bunt gemischt und auf alle Parteien verteilt seien, müsse sich der Staat des Gewissenszwanges enthalten: auch irrende Gewissen verdienten Schutz. Der katholische Theologe Richard Simon (aus Dieppe in der Bretagne, wo es eine starke Gruppe von Hugenotten gab bis 1685!) dem Orden der Oratorianer zugehörig, bis man ihn aus politischen Gründen verstieß wandte das Prinzip der Überlieferungskritik auf die Bibel an. Wenn auch seine Histoire critique du Vieux Testament (1678) in Paris verbrannt wurde, etablierte er doch einige Grundeinsichten in die Überlieferung der Heiligen Schrift, die in der deutschen Aufklärung mit Eifer aufgegriffen wurden (so etwa von Semler, der das Werk ein Jahrhundert später übersetzte, und von J. D. Michaelis): Die Verbalinspiration sei eine Irrlehre; die Bibel habe eine menschliche Überlieferungsgeschichte; der Kanon der biblischen Bücher habe sich historisch zufällig herausgebildet; selbst innerhalb biblischer Bücher ließen sich heterogene Kultureinflüsse feststellen. Moses sei nicht der Verfasser des Pentateuch gewesen; nur die Zehn Gebote seien direkt von Gott, der Rest sei durch verschiedene Schreiber des Moses redigiert worden. Die Bibel sei kein Geschichtsbuch und biete keine zuverlässige Chronologie. Der Katholizismus hatte nie auf Verbalinspiration gesetzt, sondern auf die römische Kirche als Instituzum

-

Skeptizismus: Forderung nach

Gewissensfreiheit

Richard Simon: Bibelkritik

-

-

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C. Das 18. Jahrhundert

tion; im Protestantismus dagegen mußte die Bibelkritik, zumal sie sich im 18. Jahrhundert zunehmend wissenschaftlich entwickelte (Michaelis, Sem- Entstehung der Bibelwissenschaft ler, J. J. Griesbach. J. G. Eichhorn), grundstürzend wirken. 2. Systemdenken: Als komplementäres Prinzip erscheint das System- 2. Sysiemdenken: Wilhelm denken, wie es Gottfried Wilhelm Leibniz, mit °größerer Breitenwirkung° Leibniz, Christian aber Christian Wolff ausformte. Aus dessen Lebensrückblick geht klar Wolff hervor, daß er. 1679 als Lutheraner in Breslau in gemischtkonfessionellen Verhältnissen geboren und gebildet, seine Philosophie explizit auf der Suche nach einer sicheren Theologie, d. h. einer Theologie oberhalb der Konfessionen, entfaltete. Dazu verwendete er die mathematisch-logischdemonstrative Methode, mit der er nach und nach alle Wirklichkeitsbereiche durchdrang, von der Naturlehre bis zu Religion und Recht. Wolff lehrte, alle Phänomene als Bestandteile einer universalen Ordnung aufzufassen; mit Hilfe sicherer Schlußverfahren (Syllogismus) konnte man die

pottfned

Überlieferung

soweit vernunftgemäß ableiten. hinreichend scholastisch fundiert, um im ka- Stellung und Metaphysik tholischen Bereich gleichfalls Anklang zu finden (Österreich. Italien). wirkunüWülffs Sein systematischer Entwurf wurde aber auch in seinen aufklärerischen Qualitäten erkannt (so von Voltaire und Friedrich dem Großen), indem er nämlich der theologia naturalis und dem Deismus Vorschub leistete. Die „Große Ordnung" Wolffs bedurfte letztlich keines personalen Gottes; die Vorstellung von Gott konnte auf die eines Schöpfers der Well, einer metaphysischen Letztursache reduziert werden. Die Physikotheologie (verbreitet vor allem durch Barthold Hinrich Bl ockes' Irdisches Vergnügen in Physikotheologie Gott, 9 Bände, 1721-48) bemühte sich (mit Hilfe von Mikroskop und Teleskop) um Naturerkenntnis durch Naturbetrachtung und um den „Beweis" Gottes aufgrund der sinnvoll geordneten Erscheinungen in der Welt: „Man soll sich, durchs Geschöpf, den Weg zum Schöpfer bahnen." (J. C.

gesamte

Wolffs

-

-

war

Edelmann). Die für die englische und deutsche Aufklärung so typische Physikotheologie konnte apologetisch gemeint sein und dazu dienen, das Christentum gegen Atheisten und Freigeister zu verteidigen. Insofern konnte sie mit der Orthodoxie Hand in Hand gehen. Physikotheologie war aber fraktisch oft auch ein Modus der Kritik an überlieferter Offenbarungsreligion. Man studierte das „zweite Buch", das „Buch der Natur"; das Stu- „Buch der Natur" dium der Hl. Schrift trat zurück. So erwies sich die Physikotheologie oft als Zwischenstufe auf dem Weg zum Naturalismus oder Pantheismus oder auch zu einem neuen Heidentum. Charakteristisch für die deutsche Entwicklung ist die schon von Wolff und seinen Schülern (A. G. Baumgarten, G. F. Meier) vorbereitete Aufwertung der „unteren Seelenkräfte", die Betonung von „Rührung" Rührung, Gefühl

36

Histonsierungdes

Chnstentums

Akkommodation

I,

Enzyklopädischer Überblick

und „Gefühl", kurz: das Insistieren auf sinnlicher Erfahrung von Religion. Hier ergab sich eine Brücke zwischen Pietismus und Aufklärung, ebenso wie in der starken Betonung der „Früchte des Glaubens", mithin einer durchgreifenden Moralisierung des Christentums. Gleichzeitig wurde sich das Christentum selbst historisch; die Einsjcnt m ^ Geschichtlichkeit erhielt nun eine revolutionäre Qualität, die sie in früheren Epochen nicht besessen hatte. Seit Semler faßte man die Offenbarung des Alten Testamentes als adäquates Sprechen Gottes mit den damaligen Juden auf; Differenzen innerhalb der Schrift wurden als Akkommodalion"interpretiert, nämlich als Anpassung an Zeit, Ort und Kulturstufe. Das Neue Testament galt als neue Phase der Offenbarung auf dem Stand der damaligen Menschheit. Diesen Gedanken baute G. E. Lessing in seiner Erziehung des Menschengeschlechtes (1780) zu einem geschichtstheologischen Modell aus, in dem, als dritte Stufe nach Gesetz und Vorbild, die Menschen das Gute um des Guten willen tun würden, rein aus Vernunft, unabhängig von einer spezifischen Offenbarung. Dieser Gedanke übersprang nicht nur die Differenz der Konfessionen, sondern selbst die der positiven Religionen. Die Wahrheit des Judentums, Christentums und Islams sollte sich empirisch aus der Tugend ihrer Anhänger ergeben (vgl. die Ringparabel des Dramas Nathan der Weise). Hier sieht man am deutlichsten, wie weit der Einfluß der Aufklärung den deutschen Protestantismus gebracht hatte. Das abstrahierte Prinzip der Perfektibilitat wurde vom einzelnen auf die Menschheit übertragen; der für die deutsche Aufklärung so wichtige Grundgedanke der Erziehung konnte geschichtsphilosophisch fruchtbar gemacht werden. Der Einfluß der Aufklärung auf die Entwicklung des deutschen Protestantismus läßt sich insgesamt dadurch kennzeichnen, daß die mit der Vernunft nicht in Einklang zu bringenden Lehren des Christentums ausgeschieden wurden (Trinität. Unbefleckte Empfängnis Mariens, Auferstehung und Himmelfahrt Christi, Existenz des Teu„

-

„Erziehung des Menschen-

geschlechtes"

-

Perfektibilität

Vernunftprinzip

-

fels), Optimistische Anthropoiogie

-

Christus-

frommigkeit

-

-

Moralprinzip

daß sich über die Betonung der Güte Gottes eine optimistische Anthropologie durchsetzte (der „gut" geschaffene Mensch mußte sich auf Erden zwar vervollkommnen, doch von „Erbsünde" und dergleichen orthodoxen Lehren war kaum noch die Rede), daß Christus in den Mittelpunkt der Religiosität rückte, und zwar nicht a]s qo11 un(j Mensch zugleich", sondern als reiner Mensch, als Lehrer einer gesunden Moral, als „Sokrates von Jerusalem" (J. A. Eberhard), daß die christozentrische Frömmigkeit praktisch werden sollte durch ein moralisches Leben, durch Tätigkeit für die Mitmenschen, durch

C. Das 18. Jahrhundert

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Vervollkommnung der Persönlichkeit und Verbesserung der Gesellschaft zugleich. Protestantische Religionsausübung entwickelte sich von einer öffentliehen Angelegenheit mehr und mehr zur „Privatreligion" (Semler): Dem Staat bestritt man teilweise die Kompetenz zur Religionsanordnung. (Gleichwohl blieb auch in protestantischen Staaten die Bekenntnisverpflichtung für Amtsinhaber weitgehend erhalten.) Teilweise wurde die Agende (bis dahin Bestandteil Staatskirchenrechtlicher Regelungen) freigegeben; der jeweilige Pfarrer erhielt Freiheit bei der Gottesdienstgestaltung. Den Gemeindegottesdienst am Sonntag besuchte man nur noch gelegentlich bzw. selektiv (ein Mitglied für die ganze Familie; bevorzugt an den hohen Feiertagen). An die Stelle des Gemeindegottesdienstes rückten private Andacht, Naturbetrachtung und Lektüre von Erbauungsliteratur. Predigten wurden auf das Nützliche abgestellt (Sozialethik, FruchtWechsel, Blitzableiterbau usw.). Die rituelle Komponente trat allgemein zurück. Man spricht von der „Auflösung der alten gottesdienstlichen Formen" (P. Graff). Das Liedgut wurde „gereinigt" und dem Zeitgeschmack angepaßt (reformiertes Gesangbuch von J. G. Zollikofer 1767; Berliner Gesangbuch

Privatreligion Religionsfreiheit

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Agende

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-

Sonntas-

g°ttesd,enst Erbauung

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Predigt

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Entritualisierung

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Kirchenlied

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1780). -

Luthers Katechismus und der Heidelberger (bei den Calvinisten) wur- Katechismus den aus dem Unterricht verdrängt durch zeitgemäße Bearbeitungen (Hannoverscher Katechismus 1790, auch in Braunschweig und Würt-

temberg übernommen). Die Privatbeichte wurde abgeschafft (Brandenburg-Preußen 1733/38, Beichte Braunschweig 1775, Frankfurt am Main 1783, Hessen-Kassel, Nürnberg, Mecklenburg 1790, Hannover 1791). Diese Umwandlung christlicher Religion im Zuge der Aufklärung Predigerais Volkslell,el verlangte auch eine Neudefinition der Rolle des Predigers. Schon durch die Reformation mitten in die Gemeinde und in die Gesellschaft hineingestellt, wurde er weiter desakralisiert und entwickelte sich, als Bürger auf dem Lande zumal, zum prototypischen Volksaufklärer. Spalding definierte ihn (Über die Nutzbarkeit des Predigtamts und deren Beförderung, 1772) als „Volkslehrer", womit er auf den entschiedenen Widerspruch J. G. Herders stieß. Forcierte Zuspitzungen der Neologie in der Dogmatik, in der Gottes- Kulmination der dienstgestaltung und Neudefinition des Predigtamtes ereigneten sich nicht zufällig° in Preußen, namentlich in Berlin. Seit dem Regierungsantritt r Bedeutung FriedFriedrichs des Großen 1740 (programmatisch begonnen durch eine Rück- richs des Großen -

p"'^*lunSln

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38

I.

Enzyklopädischer Überblick

berufung des von seinem Vater unter pietistischem Einfluß aus Halle vertriebenen Wolff!) ergab sich aus der religiös indifferenten Besetzung der Schlüsselposition im Staate die Freiheit zu gesellschaftlicher Meinungsbildung, so daß man in der Folge nirgends so klar wie in Preußen erkennen konnte, wie sich der Protestantismus unter dem Einfluß der Aufklärung entwickelte, ja revolutionierte. 5.

Jansenismus, Reformkatholizismus, Josephinismus

Aufklärung und Die Behauptung einer Inkompatibilität von Katholizismus und AufkläKatholuismus rung ]gßt sich nur dann aufrechterhalten, wenn man einen zugespitzt-einseitigen Aufklärungsbegriff zugrundelegt. Bei dem hier vertretenen weiteren ist jedoch evident, daß die Sysiera-Komponente (theologia naturalis, Physikotheologie) Bestandteil auch der katholischen Überlieferung war. Die Wolff-Rezeption schlug Brücken. Dabei brauchte die Komponente der Kritik keineswegs zu verschwinden. So scheint es adäquater, analog zur sukzessiven Durchsetzung aufklärerischer Gedanken im protestantischen Bereich (gegen Widerstände der Orthodoxie) auch im katholischen Bereich von Öffnungen und Konflikten auszugehen (gegen Papsttum und Jesuiten). Wie sich auf protestantischer Seite erst allmählich zu erkennen gab, daß das lutherische Verständnis von Rechtfertigung ebenso geschwunden war wie die streng calvinische Auslegung der Prädestination, erwiesen sich auch auf katholischer Seite Akzentverlagerungen als möglich, deren letzte Konsequenzen für Zeitgenossen nicht immer absehbar waren. Insbesondere zeigte sich, daß die optimistische Anthropologie Anklang gefunden hatte: Das MenNeues schenbild der Epoche hatte sich gewandelt; nicht der erlösungsbedürftige Menschenbild

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