Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung

Dieses Buch analysiert den grundrechtlichen Schutzbereich der Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit in den Grundrechtskatalogen der EMRK, des Grundgesetzes und der Grundrechtecharta der EU. Das Werk untersucht, inwieweit Hassreden und vergleichbare demokratiefeindliche Äußerungen vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit umfasst sind. Die Autorin setzt sich mit der zu diesen Äußerungen ergangenen Rechtsprechung der zuständigen Gerichte auseinander. Sie kommt über ausführliche Auslegungserwägungen zu den relevanten Bestimmungen zum Ergebnis, dass die Äußerungen, auch wenn sie einen Grundrechtsmissbrauch darstellen, im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegen und ihr Verbot einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in das Grundrecht darstellt. Diese Schlussfolgerung wird mit der Feststellung verbunden, dass die Anforderungen an die Rechtfertigung eines solchen Eingriffs wegen der in diesen Fällen typischerweise vorliegenden Interessenlage regelmäßig erfüllt werden können.

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Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht

Begründet von Viktor Bruns

Herausgegeben von Armin von Bogdandy · Anne Peters

Band 278

Anna Katharina Struth

Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung Der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, dem Grundgesetz und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

Hate Speech and Freedom of Expression. The Scope of Protection in Cases of Anti-Democratic Speech under the European Convention on Human Rights, the Basic Law for the Federal Republic of Germany and the Charter of Fundamental Rights of the European Union (English Summary)

ISSN 0172-4770          ISSN 2197-7135 (electronic) Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht ISBN 978-3-662-58152-0    ISBN 978-3-662-58153-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-58153-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-PlanckInstitut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2017 an der Wirtschaftsuniversität Wien als Dissertation angenommen und ist im Rahmen meiner Beschäftigung als Universitätsassistentin am Institut für Europarecht und Internationales Recht der Wirtschaftsuniversität Wien entstanden. Sie befindet sich auf dem Stand von Sommer 2018. Herrn Prof. Dr. Dr. Christoph Grabenwarter gebührt mein größter Dank. Er beteiligte mich an zahlreichen spannenden wissenschaftlichen Projekten, die immer im treffenden Maße herausfordernd und lehrreich zugleich waren und lehrte mich auf diese Weise das wissenschaftliche Arbeiten und Schreiben mit dem ihm stets eigenen höchsten Anspruch und in der von ihm geschaffenen so angenehmen Umgebung seines Lehrstuhls. Gleichzeitig gewährte er mir den notwendigen Freiraum zum Verfassen dieser Arbeit und er steht mir immer in hohem Maße mit konstruktiver Kritik, Rat, Tat und Gespräch unterstützend zur Seite. Ich bin sehr froh, von ihm lernen zu dürfen. Herrn Prof. Dr. Dr. Rainer Hofmann danke ich für seine Unterstützung während und zum Ende meines rechtswissenschaftlichen Studiums in Frankfurt am Main, ohne die ich keine Dissertation in Wien geschrieben hätte. Die Tätigkeit als studentische Hilfskraft an seinem Lehrstuhl an der Goethe-Universität weckte mein Interesse für den Grund- und Menschenrechtsschutz, bereitete mich auf die Tätigkeit als Universitätsassistentin vor und gab mir den notwendigen Anstoß zur Arbeit an einer Dissertation. Für die Bereitschaft, meine Doktorarbeit in Wien von Frankfurt aus zu beurteilen, und seine Mühen bei Entstehung und Abschluss dieser Arbeit möchte ich mich herzlich bedanken. Frau Prof. Dr. Katharina Pabel und Herrn Prof. Dr. Harald Eberhard danke ich für die Begleitung meines Dissertationsprojekts als Mitglieder des Doktoratskomitees. Dem Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg gebührt Dank für die Möglichkeit eines dreimonatigen Forschungsaufenthalts im Sommer 2015, der für diese Arbeit von sehr großem Wert war. Den Direktoren des Instituts, Frau Prof. Dr. iur. Anne Peters, LL.M. (Harvard) und Herrn Prof. Dr. Armin von Bogdandy, danke ich zudem für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe der „Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht“. V

VIVorwort

Mein Dank gilt auch allen aktuellen und ehemaligen Mitarbeitern und Angehörigen des Instituts für Europarecht und Internationales Recht der Wirtschaftsuniversität Wien. Ihre Kollegialität und ihre Anregungen waren für mich von ebenso unschätzbarer Bedeutung wie die gemeinsame Zerstreuung im Arbeitsalltag. Von besonderer Wichtigkeit waren für mich die stets mit Freude geführten fachlichen Gespräche mit Dr. Markus Vašek im Entstehungsprozess dieser Arbeit. Dr. Christina Hochhauser, Mag. Marie-Therese Störck und Dr. Maria-Theresia Rappersberger danke ich für ihre Freundschaft und ihre kollegiale und fachliche Hilfe in jeder Hinsicht. Dr. Franziska Paefgen danke ich insbesondere für die Starthilfen am Institut. Meinen Eltern, Annette Ries-Struth und Burkhard Struth, und meinem Bruder, Lennart Struth, möchte ich für ihre stetige moralische und tatkräftige Unterstützung danken. Meiner Mutter danke ich zudem für den Einsatz ihres grammatikalischen und orthographischen Könnens bei der Korrektur dieser Arbeit. Meinem Lebensgefährten, Dr. Felix Schörghofer, ist diese Arbeit mit meinem größten Dank für immerwährende Unterstützung und Begleitung gewidmet. Wien, im August 2018

Anna Katharina Struth

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Fragestellung und Problembeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Untersuchte Grundrechtsordnungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Mehrwert einer rechtsvergleichenden Betrachtung der drei Grundrechtsordnungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Relevante Regelungen für die Garantie der Meinungsfreiheit im europäischen Grundrechtsschutz. . . . . . . . . . . IV. Untersuchte Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Abgrenzung zu anderen Themenbereichen und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Erläuterung der Begriffsverwendungen in der vorliegenden Untersuchung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Art und Gang der Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  1   1   5   9  10  10  17  21  26  30  33

Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  37 A. Das Spannungsverhältnis zwischen der Sicherungder Demokratie und der Meinungsfreiheit in der Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  39 I. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit und seine Rolle in der Demokratie��������������������������������������������������������������������������������������  39 II. Das „demokratische Dilemma“ im Fall des Gebrauchs der Meinungsfreiheit gegen die Demokratie������������������������������������  42 B. Ansätze zur Auflösung des „demokratischen Dilemmas“ . . . . . . . . . . . .  45 I. Der Ansatz des Werterelativismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  46 II. Der Ansatz der „streitbaren Demokratie“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  50 C. Die Position der Grundrechtskataloge zum Verhältnis zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und dem Schutz demokratischer Mindeststandards. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  57 VII

VIIIInhaltsverzeichnis

I.

„Streitbare Demokratie“ in der Europäischen Menschenrechtskonvention��������������������������������������������������������������  58 II. „Streitbare Demokratie“ im Grundgesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  62 III. „Streitbare Demokratie“ im Unionsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 D. Zwischenergebnis zur prinzipiellen Möglichkeit des Verbots demokratiefeindlicher Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  72 Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen������������  75 A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur Betroffenheit des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit in Fällen ­demokratiefeindlicher Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  77 I. „Hate Speech“ („Hassrede“). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  78 1. Die Rechtsprechung des EGMR und die Praxis der EKMR zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei „Hassreden“ . . . . .  78 a) Zulässigkeit der Individualbeschwerde in Fällen von „Hassreden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  79 b) Begründetheit der Individualbeschwerde in Fällen von „Hassreden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  91 c) „Hassrede“ in Form von kollektiven Äußerungen als ­Sonderfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  99 d) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  105 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum ­Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei „Hassreden“ . . . . . . . . .  105 a) Die Rechtsprechung zur Auslegung des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  106 b) Anträge auf Ausspruch der Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  108 3. Die Rechtsprechung des EuGH zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei „Hassreden“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109 a) Das Urteil Feryn des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  110 b) Das Urteil Mesopotamia Broadcast des EuGH . . . . . . . . . . . .  111 c) Äußerungsrechtliche Konstellationen im Bereich des europäischen Dienstrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  113 d) Sonstige Anwendungsfälle zu Art. 54 GRC in der ­ Rechtsprechung des EuGH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  113 e) Übertragung der Rechtsprechung des EGMR zu ­ „Hassreden“ auf die Garantien der GRC. . . . . . . . . . . . . . . . .  113 II. Im Besonderen: Revisionistische bzw. negationistische Äußerungen��������������������������������������������������������������������������������������  114 1. Die Rechtsprechung des EGMR und die Praxis der EKMR zum Schutzbereich der ­Meinungsfreiheit bei ­revisionistischen bzw. negationistischen Äußerungen . . . . . . . . .  114 a) Zulässigkeit der Individualbeschwerde in Fällen ­ revisionistischer bzw. negationistischer Äußerungen. . . . . . .  115

InhaltsverzeichnisIX

b) Begründetheit der Individualbeschwerde in Fällen ­ revisionistischer bzw. negationistischer Äußerungen . . . . . .  127 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum ­Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei revisionistischen bzw. negationistischen Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  129 a) Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs der ­ Meinungsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  129 b) Äußerungen im Schutzbereich der Meinungsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  131 3. Die Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  134 III. Im Besonderen: Äußerungen in Form des Tragens von Symbolen��������������������������������������������������������������������������������  134 1. Die Rechtsprechung des EGMR zu symbolischen Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  134 a) Art. 17 EMRK als Kriterium des Schutzbereichs auf Ebene der Zulässigkeit der Individualbeschwerde . . . . . . . .  134 b) Art. 17 EMRK nach Prüfung des Art. 10 II EMRK . . . . . . .  136 c) Prüfung des Art. 10 II EMRK ohne Art. 17 EMRK . . . . . . .  138 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. . . . . . . . .  139 3. Die Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  140 B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen ­demokratiefeindlicher Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  140 I. Die ausschließliche Maßgeblichkeit der „Missbrauchsklausel“ für die Zulässigkeit der Beschwerde����������������������������������������������  141 II. Der Einfluss der Geltendmachung des Art. 17 EMRK durch den beklagten Staat��������������������������������������������������������������  143 III. Die Urheberschaft in Bezug auf die Äußerungen. . . . . . . . . . . . . .  146 1. Die Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  146 2. Die Rechtsprechung der deutschen Gerichte. . . . . . . . . . . . . . .  150 IV. Der Inhalt und die inhaltlich-politische Tendenz der Äußerung����������������������������������������������������������������������������������������  151 1. Die Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  152 a) Der Inhalt der Äußerung als Kriterium des Schutzbereichs.  152 b) Inhalte außerhalb des Schutzbereichs. . . . . . . . . . . . . . . . . .  156 c) Im Besonderen: Nationalsozialistische Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  157 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. . . . . . . . .  164 V. Die Wahrheit der Äußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  166 1. Die Rechtsprechung des EGMR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  166 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. . . . . . . . .  175 VI. Die „Schädlichkeit“ der Äußerung in der Rechtsprechung des EGMR��������������������������������������������������������������������������������������  179

XInhaltsverzeichnis

VII. Das Verhältnis der Äußerung zu potenziellen oder tatsächlichen Gewalt- und Hasshandlungen����������������������������������  182 1. Die Rechtsprechung des EGMR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  182 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. . . . . . . . .  186 C. Zwischenergebnis zur Rechtsprechungsanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . .  187 D. Vergleich und Wechselwirkungen zwischen der Rechtsprechung von EGMR und Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  193 Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen ­demokratiefeindlicher Äußerungen – Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . .  203 A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der ­Meinungsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  205 I. Der Grundrechtsmissbrauch und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen������������������������������������������������������������������������������������  205 1. Die „Missbrauchsklauseln“ in den Grundrechtskatalogen. . . . .  206 a) Die „Missbrauchsklausel“ der Europäischen ­Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  206 b) Die „Missbrauchsklausel“ der Charta der Grundrechte der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . .  209 c) Die „Missbrauchsklausel“ des Grundgesetzes. . . . . . . . . . . .  210 d) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  212 2. Der Anwendungsbereich der „Missbrauchsklauseln“. . . . . . . . .  212 a) Der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK. . . . . . . . . . . . .  213 b) Der Anwendungsbereich des Art. 54 GRC. . . . . . . . . . . . . . .  237 c) Der Anwendungsbereich des Art. 18 GG. . . . . . . . . . . . . . . .  239 d) Zwischenergebnis zum Anwendungsbereich der ­„Missbrauchsklauseln“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  256 3. Die Rechtsfolge der „Missbrauchsklauseln“. . . . . . . . . . . . . . . .  257 a) Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK in Fällen der Anwendung des Art. 17 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  258 b) Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 11 GRC in Fällen der Anwendung des Art. 54 GRC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  282 c) Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 Alt. 1 GG in Fällen der Anwendung des Art. 18 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  284 d) Zwischenergebnis zur Rechtsfolge der ­„Grundrechtsmissbrauchsklauseln“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  307 II. Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit unabhängig vom Grundrechtsmissbrauch������������������������������������������������������������������  312 1. „Hassreden“ als „opinion“ bzw. „information“ oder „idées“ bzw. „ideas“ im Sinne des Art. 10 I EMRK. . . . . . . . . .  313 a) Wortlautauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  313

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b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Historische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Teleologische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis zur Auslegung des Art. 10 I EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Hassreden“ als „Meinung“ im Sinne des Art. 11 I GRC . . . . . 3. „Hassreden“ als „Meinung“ im Sinne des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wortlautauslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Systematische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Historische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Teleologische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis zur Auslegung des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die (Un)wahrheit der Äußerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Schutz von Tatsachenbehauptungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Schutz von Tatsachenbehauptungen gemäß Art. 10 I EMRK und Art. 11 I GRC. . . . . . . . . . . . . . b) Der Schutz von Tatsachenbehauptungen gemäß Art. 5 I 1 Alt. 1 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Schutz unwahrer Tatsachenbehauptungen. . . . . . . . . . . . . . a) Der Schutz unwahrer Tatsachenbehauptungen gemäß Art. 10 I EMRK und Art. 11 I GRC. . . . . . . . . . . . . . b) Der Schutz unwahrer Tatsachenbehauptungen gemäß Art. 5 I 1 Alt. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Im Besonderen: Die Leugnung historischer Tatsachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Im Besonderen: Die Holocaustleugnung. . . . . . . . . . . . . . . . e) Ergebnis zur Leugnung historischer Tatsachen. . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der (demokratiefeindliche) Inhalt der Äußerung. . . . . . . . . . . . . . 1. Geltungsgrund der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien. . . . . a) Freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen . . . . . . . . b) Demokratische Willensbildung in der Gesellschaft. . . . . . . . 2. Rechtsstaatliche Sicherungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gleichheitsgarantien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Im Besonderen: Kein Vorbehalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Grundgesetz. . . . . . . . . . . . 5. Im Besonderen: Nationalsozialistische Äußerungen im ­ Schutzbereich des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 314  316  317  323  323  324  324  325  331  333  351  352  352  354  354  354  355  357  357  358  362  366  368  369  371  372  372  373  375  376  378  380

XIIInhaltsverzeichnis

6. Im Besonderen: Differenzierung nach dem Inhalt der Äußerung im Schutzbereich des Art. 10 EMRK unter Rückgriff auf Art. 17 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Inhalt der Äußerung bei Auslegung und Anwendung des Art. 5 II GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Inhalt der Äußerung bei Auslegung und Anwendung des Art. 10 II EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Inhalt der Äußerung bei Auslegung und Anwendung des Art. 52 III GRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Rechtfertigungsebene als systemgerechter Ort zur Berücksichtigung des Inhalts der Äußerung. . . . . . . . . . IV. Das „Gewaltpotenzial“ der Äußerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kein Schutz von Gewalthandlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kein ausdrücklicher Friedlichkeitsvorbehalt für den Schutzbereich der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das „Gewaltpotenzial“ bei demokratiefeindlichen Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Gewaltsame Äußerungen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Vermittlung des „Gewaltpotenzials“ der Äußerung über deren Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Spezialvorschrift im Grundgesetz: Art. 26 I GG. . . . . . . . . . . . . . VI. Kollidierende Grundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Zwischenergebnis zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 5: Schlussbetrachtung – Hassreden im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Zusammenfassung der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Abschließende Würdigung der Rechtsprechung vor dem Hintergrund der Auslegungsergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . C. Schlussbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 386  386  387  395  396  396  398  398  401  402  403  404  412  417  420  425  429  429  431  436

Summary. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  439 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  441

Abkürzungsverzeichnis

A. A./a. A. andere Ansicht Abl. Amtsblatt der Europäischen Union AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union a. F. alte Fassung Alt. Alternative AöR Archiv des öffentlichen Rechts Art. Artikel BayVBl. Bayerische Verwaltungsblätter Bd. Band BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BGHZ Entscheidungen des Bundesgerichtshofs BRD Bundesrepublik Deutschland BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGG Bundesverfassungsgerichtsgesetz bzw. beziehungsweise d. h. das heißt DÖV Die Öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) DVBl. Deutsches Verwaltungsblatt EG Europäische Gemeinschaften EGMR Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EHRLR European Human Rights Law Review Einl. Einleitung EJIL European Journal of International Law EKMR Europäische Kommission für Menschenrechte EMRK Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten etc. et cetera EU Europäische Union EuGH Europäischer Gerichtshof XIII

XIVAbkürzungsverzeichnis

EuGRZ Europäische Grundrechtezeitschrift EuR Europarecht (Zeitschrift) EUV Vertrag über die Europäische Union EuZW Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht evtl. eventuell FDGO freiheitliche demokratische Grundordnung f./ff. folgende/fortfolgende Fn. Fußnote frz. französisch FS Festschrift GA Generalanwalt GG Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland GK Große Kammer GRC Charta der Grundrechte der Europäischen Union GS Gedenkschrift HFR Humboldt Forum Recht (Zeitschrift) HRLJ Human Rights Law Journal Hrsg. Herausgeber ICERD International Convention on the Elimination of All Forms of Racial Discrimination ICLJ International Constitutional Law Journal ICLQ International and Comparative Law Quarterly i. e. S. im engeren Sinn insb. insbesondere IPBPR Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte i. S. d. im Sinne des/der i. V. m. in Verbindung mit JA Juristische Ausbildung (Zeitschrift) JöR Jahrbuch des öffentlichen Rechts JRP Journal für Rechtspolitik JuS Juristische Schulung (Zeitschrift) JZ Juristenzeitung K&R Kommunikation und Recht (Zeitschrift) Kap. Kapitel KJ Kritische Justiz (Zeitschrift) KPD Kommunistische Partei Deutschlands KritV Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft lit. litera MDR Monatsschrift für Deutsches Recht MMR MultiMedia und Recht (Zeitschrift) m. w. Nw. mit weiteren Nachweisen n. F. neue Fassung NJ Neue Justiz (Zeitschrift) NJW Neue Juristische Wochenschrift NQHR Netherlands Quarterly Human Rights

AbkürzungsverzeichnisXV

Nr. Nummer NSDAP Nationalsozialistische Partei Deutschlands NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht OLG Oberlandesgericht OVG Oberverwaltungsgericht ÖZÖRV Zeitschrift für öffentliches Recht (ältere Jahrgänge) RabelsZ Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht RDP Revue du droit public Rn. Randnummer Rs. Rechtssache Rspr. Rechtsprechung RTDH Revue trimestrielle des droits de l’homme RUDH Revue universelle des droits de l’homme S. Seite sog. sogenannte/r st. Rspr. ständige Rechtsprechung StGB deutsches Strafgesetzbuch StPO deutsche Strafprozessordnung StudZR Studentische Zeitschrift für Rechtswissenschaft ThürVBl. Thüringischer Verwaltungsblätter u. a. und andere Uabs. Unterabsatz USA Vereinigte Staaten von Amerika usw. und so weiter v. a. vor allem VerwArch Verwaltungsarchiv (Zeitschrift) Vgl./vgl. Vergleiche/vergleiche Vol. Volume VVDStRL Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VwGO Verwaltungsgerichtsordnung WRV Weimarer Reichsverfassung Z. Ziffer ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht z. B. zum Beispiel ZEuS Zeitschrift für Europarechtliche Studien zit. zitiert ZJS Zeitschrift für das juristische Studium ZÖR Zeitschrift für öffentliches Recht ZP Zusatzprotokoll ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft ZUM Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht

Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

Inhaltsverzeichnis A. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    1 B. Fragestellung und Problembeschreibung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    5 C. Untersuchungsgegenstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    9 I. Untersuchte Grundrechtsordnungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  10 II. Mehrwert einer rechtsvergleichenden Betrachtung der drei Grundrechtsordnungen . . .  10 III. Relevante Regelungen für die Garantie der Meinungsfreiheit im europäischen Grundrechtsschutz���������������������������������������������������������������������������������������������������������� 17 IV. Untersuchte Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  21 V. Abgrenzung zu anderen Themenbereichen und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .  26 D. Erläuterung der Begriffsverwendungen in der vorliegenden Untersuchung. . . . . . . . . . . . .  30 E. Art und Gang der Darstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  33

A. Einleitung „Hassreden“, fremdenfeindliche Kommentare in Internetforen, rassistische Beschimpfungen in der Öffentlichkeit und revisionistische oder antisemitische Äußerungen sind Phänomene, die sowohl in der tagespolitischen als auch in der rechtswissenschaftlichen Diskussion seit langer Zeit eine Rolle spielen. In der politischen und rechtswissenschaftlichen Diskussion ist insbesondere die Frage relevant, wie mit Hassreden im Internet umzugehen ist.1 In den vergangenen Jahren ist ein deutlicher Anstieg hassmotivierter Äußerungen in der öffentlichen Auseinandersetzung festzustellen. Dies trägt

Siehe hierzu etwa Süddeutsche Zeitung, „Bundesjustizminister Heiko Maas fordert Löschung rechtsextremer Facebook-Einträge“ (Süddeutsche.de Online, 27. August 2015, abrufbar unter http://www.sueddeutsche.de/politik/justizminister-maas-fordert-loeschung-rechtsextremer-facebook-eintraege-1.2623396); ZEIT, „Die schweigende Mehrheit darf nicht länger schweigen“, Wer sich für Recht und Gesetz im Netz einsetzt, betreibt keine Zensur: Vorabdruck aus dem neuen Buch von Justizminister Heiko Maas, Printausgabe 18. Mai 2017, S. 6; vgl. hierzu Härting, K&R 2016, 8; vgl. auch Knechtle, Penn State Law Review 2006, 539; Künast, K&R 2016, 9; Maas/Härting, ZRP

1

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2019 A. K. Struth, Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58153-7_1

1

2

Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

zu einer alltäglichen Konfrontation von Opfern und Allgemeinheit mit Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Diskriminierung bei.2 Jüngere politische Entwicklungen, das Erstarken populistischer Strömungen und zunehmende Polarisierungen in der Gesellschaft führen in Kombination mit dem niedrigschwelligen Zugang zu öffentlicher Kommunikation – insbesondere im Internet – zu einem verstärkten Aufkommen und einer gesteigerten Wahrnehmbarkeit der genannten Äußerungen. Kommentarfelder zu journalistischen Texten im Internet, soziale Medien wie Facebook oder Twitter oder Demonstrationen und Kundgebungen zu bestimmten Themen und Fragen der Flüchtlingspolitik und Zuwanderung sind nur einige Beispiele für Foren, in denen in jüngerer Zeit vermehrt Äußerungen getätigt werden, die fundamentale demokratische Werte wie Toleranz, Gleichheit und Würde aller Menschen, offene Geisteshaltung und Pluralismus ablehnen, verächtlich machen oder verhöhnen.3 Eine neue Bedrohung eigener Art bildet zudem der religiöse Fundamentalismus.4 Teilweise finden auch direkte Aufrufe zu hassmotivierten Gewaltstraftaten im Zuge von Äußerungen im Internet statt, denen dann gefolgt wird. Rassistische Verbalangriffe sind Bestandteil und Konsequenz weitergehender gesellschaftlicher Prozesse, die wiederum zu tätlichen Übergriffen führen können.5 Dies belegen aktuelle Beispiele wie die Morde des NSU, denen eine fremdenfeindliche Gesinnung zugrunde lag sowie Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte, die in den Zusammenhang stark zunehmender fremdenfeindlicher Äußerungen im Internet und in der gesamten öffentlichen Diskussion zu stellen sind.6 Berichte der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte zeigten schon 2012 einen deutlichen Anstieg von Hassverbrechen, die durch Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz ausgelöst wurden.7 Die Zahl der politisch motivierten Straftaten steigt in Deutschland an. Rechtsextremistische Straf- und Gewalttaten nehmen stetig zu.8 Im Jahr 2016 setzte sich die seit Jahren steigende Anzahl der Körperverletzungen im Bereich rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten mit fremdenfeindlichem Hintergrund fort.9 Die Zahl der Straftaten im Bereich „Politisch motivierte Ausländerkriminalität“ mit

2015, 222; zur rechtswissenschaftlichen Diskussion vgl. Gersdorf, MMR 2017, 439; Wimmers/ Heymann, AfP 2017, 93; Ladeur/Gostomzyk, K&R 2017, 390; Guggenberger, ZRP 2017, 98. 2 Siehe European Commission against Racism and Intolerance, Bericht über Österreich 2015, Z. 33 ff.; vgl. auch Cremer, in: Wissen schafft Demokratie, S. 139 f.

Vgl. Abdi-Herrle, ZEIT-Online, Wie Rechtsextremisten sich auf Facebook tarnen, 26. August 2015.

3

4

Schliesky, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 277 Rn. 46.

5

Vgl. Cremer, in: Wissen schafft Demokratie, S. 139, 141.

Schmahl, Rechtsgutachten, S.  67  f.; siehe hierzu Bundesministerium des Innern, Deutschland, Verfassungsschutzbericht 2016, S. 26. 6

European Union Agency for Fundamental Rights, Making Hate Crime Visible in the European Union: acknowledging victims’ rights (2012), S. 3. 7

8

Bundesministerium des Innern, Deutschland, Verfassungsschutzbericht 2016, S. 23.

9

Bundesministerium des Innern, Deutschland, Verfassungsschutzbericht 2016, S. 25.

A. Einleitung3

extremistischem Hintergrund stieg um 68,4 %, die der Gewalttaten um 81,7 %.10 Propagandadelikte spielen dabei die größte Rolle.11 Staaten reagieren auf derartige Eskalationen in der öffentlichen Auseinandersetzung häufig – und aus nachvollziehbaren Gründen – mit gesetzlichen Verboten von Rassenhetze, Xenophobie und schwerer Diskriminierung. Da Hassreden im Internet in sozialen Netzwerken und auf sonstigen Plattformen eine besonders weite Verbreitung finden, versuchen die Staaten vermehrt spezifische Regelungen gegen Online-Hassreden zu entwickeln.12 In Anbetracht einer derartigen Entwicklung der öffentlichen Diskussion und der vermehrten staatlichen Regulierungstätigkeit in diesem Bereich ist aus grundrechtlicher Sicht zu fragen, welche Rolle die Meinungsäußerungsfreiheit in diesen Fällen spielt. Können sich antisemitische, rassistische, xenophobe oder intolerante Redner grundsätzlich auf die grundrechtlichen Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit berufen? Müssen Staaten bei der Regulierung solcher Hassreden darauf achten, ob sie das Grundrecht der Meinungsfreiheit zu weitgehend beeinträchtigen? Die vorliegende Arbeit ist der Frage gewidmet, ob die Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit für derartige Äußerungen überhaupt eingreift. Intuitiv möchte man diese Frage verneinen, weil man Äußerungen der beschriebenen Art aus einer außerrechtlichen Perspektive ablehnen möchte. Menschenverachtende und diskriminierende Äußerungen bereiten Unbehagen.13 Zu Recht wird auch darauf hingewiesen, dass es eine verbreitete Strategie zum Beispiel der extremen Rechten ist, ihre antidemokratische Haltung als eine demokratische Meinung darzustellen.14 Der Übergang von der laienhaften Ablehnung einer „Hassrede“ zur Annahme ihrer grundrechtlichen Schutzlosigkeit bedarf aber einiger Vorsicht und zumindest einiger ausführlicher Erwägungen. Die Demokratie – so formulierte es Gustav Heinemann – ist „eine Rechtsordnung des politischen Kampfes“,15 in der die Meinungsäußerungsfreiheit als grundrechtliche Garantie jedenfalls ebenso wie Toleranz, Pluralismus, Gleichheit und Diskriminierungsfreiheit von hoher Bedeutung ist. Daher scheint es auf den ersten Blick nicht ohne Weiteres zwingend, das eine demokratische Gut – die Meinungsäußerungsfreiheit – für das andere demokratische Gut – die Achtung demokratischer Grundwerte wie Pluralismus, Gleichheit, Würde aller Menschen und Toleranz – aufzugeben.

10

Bundesministerium des Innern, Deutschland, Verfassungsschutzbericht 2016, S. 34.

Bundesministerium des Innern, Deutschland, Verfassungsschutzbericht 2015, S. 24; vgl. hierzu auch European Commission against Racism and Intolerance, Bericht über Deutschland 2014, Z. 28; siehe hierzu auch European Commission against Racism and Intolerance, Bericht über Österreich 2015, Z. 30.

11

12 Siehe hierzu etwa das in Deutschland erlassene Netzwerkdurchsetzungsgesetz vom 1. September 2017 (BGBl. I S. 3352). 13

Brugger, Der Staat 42 (2003), 77, 78.

Haarscher, RTDH 2010, 445, 447; vgl. hierzu European Commission against Racism and Intolerance, Bericht über Deutschland 2014; European Commission against Racism and Intolerance, Bericht über Österreich 2015, Z. 34. 14

15

Heinemann, NJW 1982, 889.

4

Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

Es entsteht zumindest ein Spannungsverhältnis zwischen zwei Gütern, denen die Demokratie eine gleichermaßen hohe Bedeutung für den eigenen Bestand zumisst. Man muss fragen, ob es vertretbar ist, bestimmte Meinungen, die zum Beispiel demokratische Fundamente wie Gleichheit oder Würde aller Menschen angreifen, aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantie auszuschließen und ihnen dadurch den grundrechtlichen Schutz per se zu versagen. Dies würde dazu führen, dass ihre Behandlung überhaupt nicht am Maßstab des Grundrechts überprüft würde. Ein solches Vorgehen zu Lasten einer Äußerung, die fundamentale demokratische Prinzipien verneint, muss zumindest ausführlich begründet werden. Da die Äußerungen in einer großen Zahl der Fälle im Internet getätigt werden und so über Staatsgrenzen hinweg ungehinderte Verbreitung finden,16 ist die Beantwortung der äußerungsrechtlichen Frage der Behandlung von „Hassreden“ aus einer rechtsvergleichenden und insbesondere europäischen Perspektive besonders relevant.17 Damit eine konsistente Antwort gefunden werden kann, müssen die Vorgaben und Anforderungen der unterschiedlichen relevanten Grundrechtsordnungen zunächst im Einzelnen gegenübergestellt und verglichen werden. Die Globalisierung der Kommunikation führt dazu, dass im Äußerungsrecht rechtsvergleichende Untersuchungen immer wichtiger werden.18 Die Frage nach der Meinungsäußerungsfreiheit der Redner, die einen friedlichen, demokratischen Dialog selbst ablehnen und fundamentale demokratische Grundpositionen wie die Gleichheit aller Menschen negieren, beschäftigt in jüngerer Zeit auch innerstaatliche wie internationale Gerichte.19 In Bezug auf die Frage der Meinungsäußerungsfreiheit in Fällen der „Hassrede“ hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte noch keine endgültige Lösung gefunden.20 Zahlreiche Sondervoten zu Urteilen im Bereich der „Hassreden“ lassen vermuten, dass in diesem Bereich einige Fragen ungeklärt und von hoher Kontroversialität sind.21 In der sonstigen Rechtsprechung und im Schrifttum wird die Frage ebenfalls diskutiert.22

16

Siehe hierzu Bailer, juridikum 2015, 199, 205.

17

Vgl. Schliesky, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 277 Rn. 47.

Vgl. hierzu Delmas-Marty, La mondialisation du droit, S.  47; Pech, La liberté d’expression, S. 27.

18

19

Eiffler, KJ 2003, 218.

Hervieu, in: Lettre « Actualités Droits-Libertés » du CREDOF; vgl. Krenc, RTDH 2016, 311, 348.

20

21 So etwa Sondervoten zu EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07; EGMR, 9. 2. 2012, Vejdeland u.  a. ./. Schweden, Nr. 1813/07; EGMR (GK), 16. 6. 2015, Delfi AS ./. Estland, Nr. 64569/09; EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08.

Vgl. hierzu statt vieler Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54; Maaß/Härting, ZRP 2015, 222; Cohen, Chicago Journal of International Law 2014/2015, 229; Fohrbeck, Wunsiedel; Mensching, Hassrede im Internet; Kirchner, Brazilian Journal of International Law 2015, 416; Lobba, EJIL 26 (2015), 237; Wieruszewski, ZEuS 1/2015, 65.

22

B. Fragestellung und Problembeschreibung5

B. Fragestellung und Problembeschreibung In der Untersuchung wird der Frage nachgegangen, ob und inwieweit sich für die Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien der Europäischen Menschenrechtskonvention, des Grundgesetzes und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ein Ausschluss demokratiefeindlicher Äußerungen – insbesondere sog. „Hassreden“ – aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit begründen lassen. Damit wird darauf abgezielt, Antworten auf folgende Fragen zu geben: Besteht in den betrachteten Grundrechtsgarantien die prinzipielle Möglichkeit der Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit zum Schutz demokratischer Werte oder ist es grundsätzlich ausgeschlossen, dass die Meinungsäußerungsfreiheit Beschränkungen erfährt, um fundamentale demokratische Strukturen und Werte zu verteidigen bzw. zu schützen? Lässt sich der Rechtsprechung des EGMR (und evtl. des EuGH) und/ oder des Bundesverfassungsgerichts ein bestimmtes Konzept in Bezug auf einen Ausschluss demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit entnehmen? Inwiefern lässt sich ein Ausschluss der Äußerungen aus dem Schutzbereich unter Rückgriff auf die sog. „Missbrauchsklauseln“ der Grundrechtskataloge begründen? Kann einer Auslegung der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien entnommen werden, dass die Äußerungen nicht in deren Schutzbereich fallen? Die Forschungsfrage lautet so zusammengefasst: Ob und inwieweit kann für die Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien der Europäischen Menschenrechtskonvention, des Grundgesetzes und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union begründet werden, dass demokratiefeindliche Äußerungen – insbesondere sog. „Hassreden“ – nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen? Damit geht es nicht darum zu untersuchen, wann und unter welchen Umständen ein grundrechtlicher Abwehranspruch gegen eine staatliche Beschränkung, zum Beispiel ein strafrechtliches Äußerungsverbot, besteht. Die Fragestellung beschränkt sich darauf zu erörtern, ob es sich um „Meinungen“ bzw. „Ideen“ im Sinne der Grundrechtsgarantie im jeweiligen Grundrechtskatalog handelt, denen zumindest insofern Schutz zukommt, als die staatliche Maßnahme den Anforderungen der jeweiligen Schrankenvorbehalte gerecht werden muss. Hassreden stellen grundlegende Standards und Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft in Frage. Sie sind verbale oder non-verbale Äußerungen eines Individuums oder einer Gruppe von Individuen und richten sich regelmäßig gegen die Rechte und Freiheiten anderer, indem sie zum Beispiel einigen Mitgliedern der Gesellschaft ein gleiches Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Prozess absprechen, die Würde einiger Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Religion oder ihrer politischen Überzeugung verneinen oder Lebens-, Existenz- und Aufenthaltsrechte anderer unter Missachtung der Gleichheit abstreiten.23 In anderen Fällen negieren sie historische Verbrechen wie Völkermord und Kriegsverbrechen. Diese Art von „Negationismus“24 hat ebenso zum Ziel und zur

23

Gusy, Jahrbuch Menschenrechte, S. 120 ff.; Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 17.

24

Siehe zur Wortbedeutung unten, Kapitel 1, D.

6

Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

Folge, die Würde und den Respekt anderer Menschen zu verneinen. Zudem strebt er häufig danach, betroffene Gesellschaftsgruppierungen aus dem gesellschaftlichen Leben auszugrenzen.25 Solche Äußerungen betreffen nach verbreiteter Ansicht nicht nur die Rechte und Interessen Einzelner, sondern beeinträchtigten das Interesse der Allgemeinheit bzw. der demokratischen Gesellschaft an der Sicherung grundlegender demokratischer Mindeststandards.26 Sie schwächen die gesamte Gesellschaft, weil Intoleranz und Gespaltenheit die gleiche Teilhabe aller am gesellschaftlichen Prozess verhindern.27 Sie sind danach nicht bloßer Angriff auf individuelle Rechte der Opfer, sondern sie sind ebenso gegen die Grundlagen des demokratischen und liberalen Staats und der Gesellschaft, den öffentlichen und sozialen Frieden, den sozialen Zusammenhalt sowie die öffentliche Ordnung und Sicherheit, gerichtet.28 Gleichzeitig liegen die Äußerungen aber – auf den ersten Blick – im Anwendungsbereich der grundrechtlichen Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit. Die drei untersuchten Grundrechtsordnungen enthalten mit Art. 10 EMRK, Art. 11 GRC und Art. 5 I 1 GG je eine Bestimmung, die das Grundrecht der Meinungsfreiheit garantiert. Die beschriebenen Äußerungen sind, weil sie Kommunikationsakte sind, menschliche Verhaltensweisen, die zumindest die Frage nach einem Schutz durch diese Grundrechte aufwerfen. Allerdings könnte man die Frage stellen, ob die Äußerungen nicht bereits aus dem Schutzbereich der grundrechtlichen Garantien auszuschließen sind, weil sie einen „Missbrauch“ der Meinungsäußerungsfreiheit darstellen. Die grundrechtliche Garantie wird dazu herangezogen, anderen Rechte und Freiheiten abzusprechen oder grundlegende Standards des demokratischen Gemeinwesens zu verneinen, in deren Kontext auch gerade die Meinungsäußerungsfreiheit steht. Ein solcher „Missbrauch“ des Grundrechts könnte bereits nicht vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst sein. Die Beantwortung der Frage, ob demokratiefeindliche Äußerungen nicht bereits als solche wegen ihres spezifischen Charakters aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien auszuschließen sind, wirft zunächst die Problematik auf, ob die Grundrechtsordnungen der EMRK, des Unionsrechts und des Grundgesetzes überhaupt vorsehen, dass das Bedürfnis der Sicherung grundlegender demokratischer Standards den Schutz der individuellen Freiheit der Meinungsäußerung überwiegen kann. Die Meinungsäußerungsfreiheit ist ihrerseits von fundamentaler Bedeutung für eine demokratische Gesellschaft. Ihre Einschränkung zum Schutz demokratischer Prinzipien würde eine Einschränkung eines in

Cohen-Jonathan, RTDH 1999, 366, 370. Brems, Journal of Human Rights 2002, 481, 495; Tretter, in: FS Berka, S. 237. 27 Bakircioglu, Tulsa Journal of Comparative and International Law 2008, 1, 5. 28 EGMR, 18. 1. 2001 (GK), Chapman ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 27238/95, Z. 93; EGMR, 6. 7. 2005 (GK), Nachova u. a. ./. Bulgarien, Nr. 43577/98 43579/98, Z. 145; EGMR, 2. 10. 2012, Virabyan ./. Armenien, Nr. 40094/05, Z. 21; Cohen-Jonathan, RTDH 2001, 665, 671; Gusy, Jahrbuch Menschenrechte, S. 121 ff.; Masing, JZ 2012, 585; Massias, RTDH 1993, 183, 191; Tomuschat, in: Böckenförde/Tomuschat/Umbach (Hrsg.), S. 647, 648 f.; Brems, Journal of Human Rights 2002, 481, 494 f. 25 26

B. Fragestellung und Problembeschreibung7

der Demokratie besonders bedeutsamen Prinzips zum Schutz eines anderen in der Demokratie ebenfalls besonders bedeutsamen Prinzips bedeuten. Die in der Demokratie mit besonderer Bedeutung ausgestattete Meinungsäußerungsfreiheit wird in Fällen der Hassrede von einem Individuum oder einer Gruppe gebraucht, um eben jene demokratische Gesellschaft, deren Verwirklichung die Äußerungsfreiheit gerade selbst dienen soll, zu negieren bzw. anzugreifen. Die meisten rechtlichen Maßnahmen, die in dieser Situation ergriffen werden, sind grundrechtsbeschränkend, d.  h., dass Grundrechte aus Gründen des Demokratieschutzes eingeschränkt werden. Grundrechte werden letztlich aus Gründen des Grundrechtsschutzes eingeschränkt.29 Daraus entsteht das sog. „demokratische Dilemma“, das die vorliegende Fragestellung berührt. Einerseits ist die Meinungsfreiheit in der Demokratie besonders bedeutsam und deshalb besonders zu schützen,30 andererseits bedrohen die hier betrachteten Äußerungen die Demokratie, weil sie Grundlagen der Demokratie verneinen.31 Das „Dilemma“ liegt darin, dass sowohl eine zu weite als auch eine zu enge Äußerungsfreiheit einen Verlust demokratischer Werte bedeutet.32 Selbst wenn man aber annimmt, dass die Meinungsfreiheit in diesen Fällen nicht uneingeschränkt gelten kann, muss gefragt werden, ob und inwiefern hieraus resultiert, dass Hassreden schon nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheitsgarantien liegen. Aus der Bedrohung demokratischer Werte folgt nicht ohne Weiteres, dass die Äußerungen nicht vom grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit erfasst wären. Vielmehr treten die Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien auf der einen und das Interesse am Schutz der Rechte anderer und demokratischer Prinzipien – bzw. der Demokratie als solcher – zunächst einmal nur in einen potenziellen Widerspruch zueinander. Eine mögliche Konsequenz daraus kann der Ausschluss der Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien sein. Dann läge schon kein Widerspruch vor, weil die grundrechtliche Garantie gar nicht anwendbar wäre. Eine andere Möglichkeit liegt jedoch darin, eine Rechtfertigung eines Eingriffs in den Schutzbereich über das legitime staatliche Anliegen, demokratische Mindeststandards und die Rechte anderer Menschen zu sichern, anzunehmen. Der Ausschluss der Äußerungen aus dem Schutzbereich könnte hingegen – aus einer rechtspolitischen Perspektive – ein Mittel sein, in einer demokratischen Gesellschaft effektiv und klar gegen Angriffe auf ihre grundlegenden Werte und Prinzipien vorzugehen. Gesetzliche Verbote, die auf entsprechende Äußerungen gerichtet sind, könnten dann ohne Rücksicht auf die Meinungsäußerungsfreiheitsgarantie erlassen werden. Die demokratische Gesellschaft könnte sich verbaler Angriffe auf ihre Grundlagen auf diese Weise ohne Rücksicht auf die Meinungsäußerungsfreiheit erwehren. Fraglich bleibt aber, ob dies durch Auslegung der Bestimmungen begründet werden kann.

Brems, Journal of Human Rights 2002, 481, 482. Gusy, Jahrbuch Menschenrechte, S. 117; Tulkens, in: FS Bratza, S. 279, 287; Voorhoof, InterAmerican and European Human Rights Journal 2 (2009), 3, 47. 31 Brüning, Der Staat 41 (2002), 213, 217. 32 Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 184; siehe hierzu auch Bakircioglu, Tulsa Journal of Comparative and International Law 2008, 1, 47. 29 30

8

Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

In der vorliegenden Arbeit wird danach gefragt, ob begründet werden kann, dass Hassreden nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien der betrachteten Grundrechtskataloge liegen. Hierzu werden die Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien der EMRK, des Grundgesetzes und der Charta der Grundrechte der EU einer vergleichenden Betrachtung unterzogen. Das Modell der „streitbaren Demokratie“ hat zunehmend eine europäische Dimension. Die Globalisierung aller staatlichen und gesellschaftlichen Systeme sowie die internationale Zusammenarbeit der Gegner der Demokratie, insbesondere im Internet, erfordert eine Internationalisierung bzw. zumindest eine Europäisierung der Antwort auf Fragen der „streitbaren Demokratie“.33 Von Bedeutung sind in diesem Zusammenhang die sog. „Missbrauchsklauseln“ der Grundrechtskataloge. In der vorliegenden Arbeit muss erörtert werden, ob und inwiefern Hassreden in den Anwendungsbereich dieser „Missbrauchsklauseln“ fallen und welche Wirkungen dies für den Schutz der Äußerungen durch die Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien hat.34 So ist zum Beispiel insbesondere fraglich, welche Bedeutung die Verwirkung von Grundrechten im europäischen Mehrebenensystem hat, in dem die innerstaatliche, deutsche Grundrechtsordnung eine Vorschrift wie Art. 18 GG kennt, eine entsprechende Bestimmung in den europäischen Grundrechtskatalogen aber fehlt.35 Daneben ist zu fragen, ob die Äußerungen aus einem anderen Grund als einem etwaigen Grundrechtsmissbrauch eventuell nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen. Ziel der Untersuchung ist die Erörterung der Frage, ob und inwieweit Hassreden im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen. Die Frage, die zu stellen ist, ist nicht a priori jene, welche konkreten Äußerungen dem Schutzbereich der Äußerungsfreiheit unterfallen und welche nicht. Es soll auch keine Aussage darüber getroffen werden, welche Äußerungen konkret verboten werden können oder dürfen. Vielmehr geht es darum zu fragen, ob und auf welchem Weg bereits der grundrechtliche Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien Grenzen aufweist, sodass die Meinungsfreiheit bei einem Äußerungsverbot gar nicht relevant wird. Die Frage, ob eine Äußerung im Schutzbereich der Meinungsfreiheitsgarantie liegt oder nicht, wird zum Beispiel im Fall eines mehrpoligen Grundrechtsverhältnisses besonders deutlich.36 Der Umfang der Freiheit eines „Pols“ steht in unmittelbarem Zusammenhang mit jenem der Freiheit des anderen „Pols“.37 Die ­Einbeziehung eines Verhaltens in den Schutzbereich führt dazu, dass ein grundrechtlich geschütztes Interesse in die Abwägung einzustellen und dem Gegeninteresse gegenüberzustellen ist. Das Abwägungsgewicht eines grundrechtlichen ­Interesses ist tendenziell höher als jenes eines einfachrechtlichen. Fällt eine „Hassrede“ in den Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie, ist das Interesse des Äußernden mit seinem grundrechtlichen Gewicht in die Abwägung einzustellen und den Interessen der Opfer entgegenzuhalten. Andernfalls steht

Vgl. Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340, 369. Vgl. hierzu Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 31. 35 Vgl. Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340, 369. 36 Siehe hierzu auch Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u. a., Haben wir wirklich Recht?, S. 53, 54 f., 76. 37 Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 56 Rn. 72. 33 34

C. Untersuchungsgegenstand9

den – eventuell nach Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG geschützten – Interessen der Opfer nur ein einfaches Interesse des „Hassredners“ entgegen, das geringer zu gewichten sein wird. Daran wird deutlich, welche Konsequenz es hat, wenn eine Äußerung außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit liegt. Der Ausgangspunkt der Verhältnismäßigkeitsprüfung in mehrpoligen Grundrechtsverhältnis ist wesentlich davon abhängig, ob eine „Hassrede“ im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegt oder nicht.38 In Rechtsprechung und Literatur werden zahlreiche Thesen zum Umfang des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit bei Hassreden vertreten. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diese Thesen zu prüfen und im Wege einer Auslegung der Bestimmungen der Grundrechtskataloge die dogmatische Begründbarkeit des Ausschlusses der Äußerungen aus dem Schutzbereich zu untersuchen. Mit der Arbeit wird auch das Anliegen verfolgt, die aufgeworfenen Fragen im System des europäischen Grundrechtsschutzes zu beantworten. Aus diesem Grund erfolgt eine Erörterung der Frage nach dem Ausschluss demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht isoliert für die einzelnen Grundrechtskataloge, sondern vergleichend zu einzelnen Aspekten, die in den Rechtsordnungen miteinander korrespondieren. Dabei wird zu prüfen sein, ob es gemeinsame Linien des europäischen Grundrechtsschutzes gibt.39 Zahlreiche Stimmen gehen davon aus, dass der Schutz des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG weiter reiche als jener des Art. 10 I EMRK.40 Dies soll in der vorliegenden Arbeit – jedenfalls in Bezug auf die grundrechtlichen Schutzbereiche – im Einzelnen durch einen Vergleich der Gewährleistungen in EMRK, GG und GRC erörtert werden. Die Bearbeitung soll auf diese Weise auch der Identifizierung der zwischen den europäischen und den grundgesetzlichen Gewährleistungen bestehenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede dienen.

C. Untersuchungsgegenstand Den Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit bilden demokratiefeindliche Äußerungen, insbesondere Hassreden, und deren grundrechtliche Behandlung in den europäischen und in der deutschen Grundrechtsordnung. Im Fokus der Arbeit steht insbesondere die Frage, ob die Äußerungen vom grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit erfasst sind. Um den Untersuchungsgegenstand zu präzisieren, sind zunächst die betrachteten Grundrechtsebenen zu nennen (I.). Sodann ist im folgenden Abschnitt darzulegen, welchen Mehrwert der hier verfolgte Ansatz, eine vergleichende Betrachtung der drei Grundrechtsordnungen vorzunehmen, 38 So im Ergebnis auch Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 200 Rn. 19; vgl. auch De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 293; Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 476. 39 Vgl. zu der auch hier nicht verkannten Schwierigkeit einer Harmonisierung im vorliegend betrachteten Bereich Zimmermann, ZIS 2009, 1, 8. 40 Hong, ZaöRV 2010, 73, 125; Klamt, Streitbare Demokratie, S.  240; Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 229; Sottiaux, European Constitutional Law Review, 7 (2011), 40, 43 ff.; Weiler, Der Tatbestand „Volksverhetzung“ im europäischen Vergleich, S. 123.

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Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

hat (II.). In einem weiteren Schritt sind die relevanten Regelungen, die betroffenen grundrechtlichen Garantien in den jeweiligen Grundrechtskatalogen, darzustellen, um den Untersuchungsgegenstand insofern einzugrenzen (III.). Neben den Grundrechtsgarantien gehören bei der Bearbeitung der Frage nach dem grundrechtlichen Schutz einer bestimmten Kategorie von Äußerungen auch die Äußerungen selbst zum Untersuchungsgegenstand. Daher ist in einem nächsten Abschnitt zu erläutern, welche Äußerungen genau untersucht werden (IV.). In einem letzten Schritt ist der Untersuchungsgegenstand durch eine Abgrenzung von anderen Themenbereichen zu konkretisieren (V.).

I. Untersuchte Grundrechtsordnungen Die Grundrechtsordnungen, die hier untersucht werden, sind jene der Europäischen Menschenrechtskonvention, des deutschen Grundgesetzes und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Letztere wird jedoch nur insoweit herangezogen, als sie Besonderheiten gegenüber der EMRK aufweist und spezifische Erwägungen notwendig macht oder neue, gänzlich andere Aspekte aufwirft. In der Untersuchung wird eine Analyse der materiell-rechtlichen Gewährleistungen der EMRK in der Entscheidungspraxis des EGMR und deren systematisches Inbeziehungsetzen zu den entsprechenden Gewährleistungen des GG und ihrer Konkretisierung durch die Rechtsprechung des BVerfG angestrebt. Einschlägige Gewährleistungsgehalte des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes werden an ausgewählten Stellen in die Betrachtung einbezogen.

II. Mehrwert einer rechtsvergleichenden Betrachtung der drei Grundrechtsordnungen Eine vergleichende Betrachtung der drei Grundrechtsordnungen und insbesondere ihres Umgangs mit einem Ausschluss demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit soll angestellt werden, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu identifizieren. Ein Ansatz, der konkrete Problemlösungen nach vergleichbaren Bestimmungen untersucht, hat aus mehreren Gründen erheblichen Wert für die Grundrechtsdogmatik. Zum einen sind Grundrechtsgarantien in allen Grundrechtskatalogen offen, abstrakt und konkretisierungsbedürftig formuliert, sodass außerhalb des Wortlauts liegende Anhaltspunkte für die Auslegung hier von besonderer Relevanz sind.41 Solche können in anderen Grundrechtsordnungen liegen. Eine Orientierung an einem

41

Mahlmann, EuR 2011, 469, 475; Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 65.

C. Untersuchungsgegenstand11

anderen Grundrechtskatalog, an dessen Regelungstechnik und an der zu dessen Bestimmungen vom zuständigen Gericht ergangenen Rechtsprechung, erscheint in diesem Zusammenhang sinnvoll. Der Vergleich mit der entsprechenden Garantie in einem anderen Grundrechtskatalog kann zu einem vertieften Verständnis der Bestimmungen beitragen. Im konkreten Fall dieser Arbeit, in der die Bestimmungen der Art. 18 GG, Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC relevant werden, wird dies dort besonders deutlich, wo aus der Gegenüberstellung der europäischen Bestimmungen und Art. 18 GG Erkenntnisse über die Natur und die Wirkungsweise der europäischen Bestimmungen gewonnen werden kann. Der Vergleich der Grundrechtsordnungen aus der Perspektive einer konkreten Rechtsfrage dient einem Gewinn an Verständnis für die einzelnen verglichenen Regelungen.42 Hinzu tritt, dass Grundrechte auf internationale Vorbilder zurückgehen und historisch begründete Gemeinsamkeiten aufweisen.43 Bei der Auslegung der Grundrechtsbestimmung ist es deshalb geboten, auf die Regelungen und die Rechtsprechung vergleichbarer Grundrechtsordnungen rechtsvergleichend zurückzugreifen.44 Aus der allgemeinen Natur von Grundrechtsregelungen erwächst die Notwendigkeit, aber zumindest die Sinnhaftigkeit, einer gemeinsamen Lösung einer grundrechtlichen Fragestellung nach den Vorgaben unterschiedlicher Grundrechtsordnungen, um wechselseitig Auslegungshilfen leisten und aus dem Vergleich Erkenntnisse für die einzelnen Grundrechtsbestimmungen gewinnen zu können. Andererseits ist ein institutioneller Grund für die Rechtsvergleichung im vorliegend relevanten Bereich vorhanden. Die Grundrechtsordnungen des GG, der EMRK und der GRC konvergieren, sind eng miteinander verzahnt und sie treten in Kontakt miteinander.45 Die Gerichte haben hierzu jeweils eine spezifische Rechtsprechung entwickelt. Das Bundesverfassungsgericht zieht die Rechte der EMRK und deren Interpretation durch den EGMR maßgeblich für die Auslegung der Grundrechte und der rechtsstaatlichen Grundsätze des GG heran.46 Es stützt diese Vorgehensweise auf eine „völkerrechtsfreundliche Tendenz“ des GG.47 Das Gericht fordert die Berücksichtigung der Garantien der EMRK im Rahmen „methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung“.48 So entsteht die Pflicht zu einer völkerrechts- und insbesondere konventionsrechtsfreundlichen Auslegung der Regelungen des Grundgesetzes.49

Vgl. hierzu Kischel, Rechtsvergleichung, S. 56. Kischel, Rechtsvergleichung, S. 41 ff. 44 Hufen, Staatsrecht II, § 3 Rn. 13. 45 Kischel, Rechtsvergleichung, S. 54. 46 BVerfGE 74, 358, 370; BVerfGE 82, 106, 120; BVerfGE 128, 326, 366 ff. 47 BVerfGE 75, 1, 17; BVerfGE 111, 307, 319; BVerfGE 128, 326, 367 f.; kritisch hierzu Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 268 Rn. 70. 48 BVerfGE 111, 307, 317. 49 BVerfGE 111, 307, 329 mit Hinweis auf Art. 1 II GG; siehe hierzu Grabenwarter, in: Maunz/ Dürig, GG, Art.  5 Rn.  15  f.; Mayer, EuGRZ 2011, 234, 236; Tomuschat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XI, § 226 Rn. 37. 42 43

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Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

Mit anderen Worten unterliegt die Auslegung der Bestimmungen des Grundgesetzes dem Gebot der völkerrechtskonformen Interpretation.50 Umgekehrt zieht der EGMR bei der Auslegung der Grundrechte der EMRK das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten heran. Im Rahmen der systematischen Interpretation der Bestimmungen der EMRK bedient sich der Gerichtshof einer sog. „wertendenden Rechtsvergleichung“, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede verschiedener Rechtsordnungen zu ermitteln.51 Der EGMR geht auch selbst davon aus, bei Auslegung der Konventionsbegriffe sei das innerstaatliche Recht zu berücksichtigen.52 Voraussetzung sowohl der konventionsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht als auch der „wertenden Rechtsvergleichung“ bei der Auslegung der Begriffe der EMRK durch den EGMR ist zum einen die Kenntnis der Grundrechtsgarantien in der jeweils anderen Grundrechtsordnung in ihren Einzelheiten und konkreten Gewährleistungen in Bezug auf ein zu behandelndes Problem und zum anderen das Wissen und das Verständnis in Bezug auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den europäischen und den deutschen Grundrechtsgarantien. In der vorliegenden Arbeit sollen diese Voraussetzungen für den konkreten Bereich der „Hassreden“ und ihres Schutzes durch die Meinungsfreiheit herausgearbeitet werden. Die vergleichende Betrachtung dient als Voraussetzung einer wechselseitigen Orientierung bei der Auslegung der eigenen Bestimmungen. Auch die Einbeziehung der Charta der Grundrechte der EU ist begründbar. Zwar legt Art. 51 I 1 GRC eine eindeutige Trennung zwischen den Anwendungsbereichen der Grundrechte der Grundrechtecharta einerseits und des Grundgesetzes andererseits nahe,53 es verbleiben dennoch Überschneidungsbereiche, in denen eine kumulative Anwendbarkeit und Zuständigkeit besteht.54 Außerdem geht das Bundesverfassungsgericht unter bestimmten Umständen auch bereits von einer „Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes“ aus.55 Daraus entsteht das verfassungsrechtliche Gebot einer „unionsrechtsfreundlichen“ Auslegung des Grundgesetzes.56

Vgl. dazu Tomuschat, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XI, § 226 Rn. 44. Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 23; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 5 Rn. 11; Ganshof van der Meersch, EuGRZ 1981, 481, 488. 52 Vgl. etwa EGMR, 28. 6. 1978, König ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 6232/73, Z. 89. 53 Siehe zur teilweise umstrittenen Auslegung des Begriffs „Durchführung“ in Art.  51 I 1  GRC EuGH, 6. 3. 2014, Siragusa, C-206/13, Z. 21 f.; EuGH, 30. 4. 2014, Pfleger, C-390/12, Z. 33 f.; EuGH, 11. 6. 2015, Berlingtin, C-94/14, Z. 113; BVerfGE 133, 277, 316; statt vieler Jarass, in: Jarass (Hrsg.), Charta der Grundrechte der EU, Art. 51 Rn. 19 f. 54 Siehe statt vieler Grabenwarter, in: Schumann (Hrsg.), Hierarchie, Kooperation und Integration, S. 129, 142. 55 BVerfGE 123, 267, 354; BVerfGE 129, 124, 172. 56 Vgl. hierzu Jestaedt, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 264 Rn. 85. 50

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C. Untersuchungsgegenstand13

Zum Verhältnis zwischen dem Grundrechtsschutz nach der Grundrechtecharta GRC einerseits und der EMRK andererseits stellte der EGMR eine widerlegliche Vermutung der Gleichwertigkeit des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes zu jenem der EMRK auf, die er in ständiger Rechtsprechung verfolgt.57 Die europäischen Grundrechtskataloge enthalten außerdem Bestimmungen, die eine Wechselwirkung zwischen EMRK und GRC bewirken. So regeln Art. 53 EMRK sowie Art. 53 GRC gleichermaßen als Günstigkeitsvorbehalte,58 dass keine ihrer jeweiligen Bestimmungen als Beschränkung oder Minderung einer grundrechtlichen Garantie einer nationalen Verfassung oder der – im Verhältnis zwischen EMRK und GRC – jeweils anderen Grundrechtsordnung ausgelegt werden darf. Art. 52 III GRC nimmt unmittelbar Bezug auf die EMRK, Art. 52 IV GRC ordnet eine Auslegung in Konformität mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten an und Art. 6 III EUV nimmt für die unionsrechtlichen Grundrechte als allgemeine Grundsätze ebenfalls auf die EMRK und auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten Bezug. Da die Meinungsfreiheit des Art. 11 I GRC der Garantie des Art. 10 I EMRK entspricht,59 folgt aus Art. 52 III GRC eine Heranziehung der EMRK. Art. 52 III GRC stellt eine dynamische Verweisung dar, weshalb auch die sich fortentwickelnde Rechtsprechung des EGMR von Bedeutung ist.60 Diese Beispiele zeigen bereits, dass zahlreiche Wechselwirkungen zwischen den „Grundrechtsgerichten“ EGMR, BVerfG und EuGH zum einen und zwischen den jeweiligen Grundrechtskatalogen zum anderen bestehen,61 die eine vergleichende Betrachtung zumindest sinnvoll, wenn nicht sogar zwingend notwendig machen. Jedes Gericht, das zu Auslegung und Anwendung der Grundrechte eines der Grundrechtskataloge aufgerufen ist, hat diese Wechselwirkungen und Verzahnungen zu berücksichtigen und die Grundrechtsbestimmungen unter Beachtung dieser anzuwenden. Die Kohärenz zwischen den Grundrechtsebenen ist vor diesem Hintergrund auch aus Sicht der Rechtsschutzsuchenden ein berechtigtes Anliegen.62

EGMR, 30. 6. 2005 (GK), Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Şirketi ./. Irland, Nr. 45036/98; EGMR, 6. 12. 2012, Michaud ./. Frankreich, Nr. 12323/11; EGMR (GK), 23. 5. 2016, Avotiņš ./. Lettland, Nr. 17502/07. 58 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 21. 59 Erläuterungen des Präsidiums zur Charta der Grundrechte, Amtsblatt Nr. C 303  vom 14. 12. 2007, S. 17. 60 Rumler-Korinek/Vranes, in: Holoubek/Lienbacher (Hrsg.), GRC, Art. 52 Rn. 34; Von Danwitz, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), GRC, Art. 52 Rn. 57. 61 Siehe hierzu ausführlich etwa Grabenwarter, in: Schumann (Hrsg.), Hierarchie, Kooperation und Integration, S. 129; Grabenwarter, in: Grabenwarter/Vranes (Hrsg.), Kooperation der Gerichte im europäischen Verfassungsverbund, S. 35; Kingreen, JZ 2013, 801; Merli, VVDStRL 66 (2007), 392, 418; Voßkuhle, NVwZ 2010, 1, 8. 62 Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 206; Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473. 57

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Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

In der Literatur wird ebenso formuliert „die dogmatische Durchdringung des gesamteuropäischen Grundrechtsraums“ bedürfe „einer Analyse, die von der Vorstellung und den Begriffen einer durch wechselseitige Beeinflussung erzeugten europaweiten Konvergenz bei gleichzeitiger nationaler Divergenz auszugehen hat.“63 Es entstehe im europäischen Grundrechtsraum nämlich eine „Grundrechtsgemengelage“,64 die die Vernetzung von grundgesetzlicher, unionsrechtlicher und völkerrechtlicher Ebene notwendig mache.65 Aus alledem folgt, dass eine vergleichende Betrachtung für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen notwendig und sinnvoll ist und die gemeinsame Untersuchung der unterschiedlichen Ebenen des europäischen Grundrechtsschutzes unumgänglich ist, um die Wechselwirkungen nicht zu übersehen. Sie sind für die Auslegung der relevanten Grundrechtsbestimmungen von Bedeutung. Die rechtsvergleichende Betrachtung dient dazu, vergleichbare Strukturen herauszuarbeiten und aus der einen Rechtsordnung Anhaltspunkte für die Auslegung der analogen Bestimmung der anderen Rechtsordnung zu gewinnen.66 Die unterschiedlichen Lösungen für die aufgeworfene Frage werden einander gegenübergestellt, um daraus Erkenntnisse für die Auslegung der Bestimmungen auf allen drei Ebenen zu gewinnen. Dabei geht es nicht vorrangig um die Frage, welche Regelung eine andere verdrängt und letztlich entscheidungsrelevant ist, sondern um die Beantwortung der Frage, wie die Lösung einer Rechtsfrage nach der jeweiligen Grundrechtsordnung ausfällt, was daraus für die Auslegung der Bestimmungen der anderen Grundrechtsordnungen gewonnen werden kann und bzw. oder wie eine Lösung in Beachtung aller sich überlappender, relevanter Grundrechtsgarantien der unterschiedlichen Ebenen im Einzelfall zu erfolgen hat. Das Ziel muss sein, ein möglichst harmonisches Verständnis von Freiheitsrechten, die einerseits auf der Ebene des Europarechts und andererseits auf der Ebene des Grundgesetzes gewährt werden, herzustellen.67 Die grundrechtsvergleichende Betrachtung kann helfen, zu erfassen, wo bisher Erklärungsdefizite liegen, weil der Perspektivenwechsel zum Erkenntnisgewinn beiträgt.68 Der Grundrechtsvergleich dient so der Bildung von Grundlagen für eine Schärfung der allgemeinen Grundrechtsdogmatik, der Vervollständigung von Argumenten bei der Grundrechtsinterpretation und der Feststellung allgemeiner Rechtsgrundsätze.69

Kahl, AöR 131 (2006), 579, 589. Klein, AfP 1994, 9, 17 f.; Klein, in: FS Stern, S. 389. 65 Vgl. Hofmann, in: Emmenegger/Wiedemann (Hrsg.), Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 573; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 16. 66 Vgl. hierzu Krüger, in: FS Kriele, S. 1393, 1403; Weber, Europäische Verfassungsvergleichung, S. 7 f. 67 Hoffmann-Riem, AöR 130 (2005), 5, 61 ff.; Hoffmann-Riem, NJW 2009, 20, 26. 68 Von Arnauld, VVDStRL 74 (2015), 39, 55. 69 Sommermann, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR I, § 16 Rn. 26. 63 64

C. Untersuchungsgegenstand15

Der Rechtsanwender kann bei Anwendung der klassischen Auslegungsmethoden durch einschlägige Gesichtspunkte, die er einer entsprechenden Gewährleistung entnehmen kann, die Argumentation in Bezug auf eine Bestimmung vervollständigen.70 Die Identifizierung ebenenübergreifender „allgemeiner Strukturen“ im europäischen Grundrechtssystem kann wichtiger Baustein für die Entstehung eines europäischen Grundrechtsverständnisses sein und Voraussetzungen für das Zusammenwirkungen zwischen innerstaatlicher und europäischer Ebene schaffen.71 Die rechtsvergleichende Betrachtung und Heranziehung bei der Lösung von grundrechtlichen Fragestellungen eröffnet die Chance für den Grundrechtsschutz insgesamt, dass innovative Lösungsmodelle erst aus und im Zuge der rechtsvergleichenden Betrachtung erkannt werden. Mit dieser Methode wird der Rechtsanwender in die Lage versetzt, die argumentativen Möglichkeiten entscheidend zu bereichern und die Plausibilität von Auslegungsergebnissen zu verstärken.72 Über diese Orientierung an den anderen entsprechenden Grundrechtsgarantien zur Auslegung der im konkreten Fall anwendbaren Bestimmung hinaus kann es auch tatsächliche Mehrfachbindungen geben. Auf einen konkreten Sachverhalt können in bestimmten Fällen mehrere Grundrechtsgarantien anwendbar sein. Die Anwendungsbereiche der Grundrechte überschneiden sich und es kommt zu Mehrfachbindungen auf verschiedenen Ebenen in einem Fall.73 Dabei geht es dann nicht um eine Auflösung von Kollisionslagen, sondern um eine Harmonisierung der Anforderungen und die Lösung der konkreten Problematik im Einklang mit allen anwendbaren Grundrechtsgarantien. Dies unterstreicht, dass im sog. „gesamteuropäischen Grundrechtsraum“74 eine grundrechtliche Fragestellung stets aus der Perspektive der unterschiedlichen Grundrechtskataloge vergleichend betrachtet werden muss, um Widersprüchlichkeiten zu vermeiden.75 Die Verschränkung des Grundrechtsschutzes im Mehrebenensystem ist dabei kein einseitiger Prozess in einer Hierarchie. Der Grundrechtsschutz im europäischen Grundrechtsraum ist als dynamischer, wechselseitiger Integrationsprozess zu begreifen.76 Konkret und praktisch werden die Ergebnisse aus einer Analyse mit einem solchen Ansatz unter anderem für die Arbeit der deutschen Fachgerichte relevant. Sie müssen zunehmend mit einer Überprüfung ihrer Entscheidungen durch den EGMR rechnen. Für die Fachgerichte besteht eine Bindung an die EMRK und die

Sommermann, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR I, § 16 Rn. 39. Dörr/Grote/Marauhn, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Einleitung Rn. 7. 72 Ossenbühl, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR I, § 15 Rn. 31 ff. 73 Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 88. 74 Kahl, AöR 131 (2006), 579, 587; „Grundrechtsgemeinschaft“ (Von Bogdandy, JZ 2001, 157); „Grundrechteraum“ (Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 206); „Grundrechtsverbund“ (Pernice, VVDStRL 60 (2001), 148, 163 ff.; Huber, VVDStRL 60 (2001), 194, 199 ff.); siehe hierzu auch Walter, ZaöRV 1999, 961, 971. 75 Hoffmann-Riem, NJW 2009, 20, 21; Papier, DVBl. 2009, 473, 480. 76 Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 117. 70 71

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Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

Rechtsprechung des EGMR.77 Zur Bindung an Gesetz und Recht gehört – so auch das Bundesverfassungsgericht – auch die Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EGMR im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung.78 Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des EGMR als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische „Vollstreckung“ können deshalb gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen.79 Dies sollte die Fachgerichte veranlassen, sich mit den Vorgaben des europäischen Grundrechtsschutzes in EMRK und GRC argumentativ auseinanderzusetzen.80 Gerade im Äußerungsrecht eröffnen Auslegungs- und Abwägungsspielräume die Möglichkeit die europäischen Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit und die dazu ergangene Rechtsprechung heranzuziehen. Die Gewährleistungen von GG, EMRK und GRC, die auf diese Weise allesamt Relevanz in einer fachgerichtlichen Entscheidung erlangen können, sind nicht im Verhältnis abstrakter Höher- und Niederrangigkeit zu sehen, sondern fallbezogen miteinander in Einklang zu bringen.81 Dasselbe gilt für alle staatlichen Behörden, die grundrechtsrelevante Entscheidungen treffen. Nicht unbeachtet bleiben darf auch die Legitimation, die die Berufung auf internationale und ausländische Regelungen und Rechtsprechung für die Entscheidung eines Gerichts bedeuten kann.82 Die Herstellung von Kohärenz zwischen EMRK, GG und GRC im Grundrechtsschutz insgesamt und auch auf dem Gebiet des Umgangs mit „Hassrede“ und Extremismus ist notwendig.83 Damit kann begründet werden, warum es sinnvoll und notwendig ist, die Frage nach dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen von „Hassreden“ rechtsvergleichend für die deutsche Rechtsordnung einerseits und für die konventionsrechtliche und die unionsrechtliche Ebene andererseits zu untersuchen. Jedenfalls kann die rechtsvergleichende Analyse leisten, dass zur hier gestellten konkreten Rechtsfrage alle Aspekte im europäischen Grundrechtsschutz gemeinsam dargestellt werden und im Ergebnis gebündelt vorliegen. Da sich die rechtsvergleichende Untersuchung aber nicht in einer nebeneinanderstehenden jeweils isolierten Darstellung erschöpft, sondern neben der gemeinsamen Darstellung auch Querverbindungen und Wechselbezüglichkeiten thematisiert, Unterschiede aufdeckt und darüber gleichzeitig einem vertieftes Verständnis von den einzelnen Bestimmungen dient, ergibt sich aus der Analyse schließlich sämtliches relevantes Material, um die grundrechtliche Frage nach dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit im Fall von „Hassreden“ im Mehrebenensystem des europäischen Grundrechtsschutzes umfassend zu beantworten und die relevanten Regelungen der Grundrechtskataloge auslegen zu können. Hierzu ist die vergleichende Betrachtung,

BVerfGE 111, 307, 323. BVerfGE 111, 307, 323. 79 BVerfGE 111, 307, 323. 80 Giegerich, RabelsZ 63 (1999), 471, 503. 81 Degenhart, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar GG, Art. 5 Rn. 78. 82 Bryde, Der Staat 42 (2003), 61, 71. 83 Vgl. Payandeh, JuS 2016, 690. 77 78

C. Untersuchungsgegenstand17

die aus Querverbindungen zwischen den Regelungen oder aus Gegenüberstellungen der Grundrechte Schlüsse für die einzelnen Bestimmungen zieht, notwendig und hilfreich. Hierzu soll in der vorliegenden Arbeit ein Beitrag geleistet werden. Der spezifische Ansatz liegt darin, die Betrachtung aus der Perspektive der EMRK zu beginnen und die Gewährleistungen und Regelungen des Grundgesetzes hierzu vergleichend zu untersuchen. Die Bestimmungen der GRC sowie die Rechtsprechung des EuGH werden punktuell, wenn und soweit dies notwendig und sinnvoll erscheint, zusätzlich angeführt. Die Gewährleistung der grundrechtlichen Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit in der EMRK soll im Hinblick auf einen Ausschluss demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit analysiert werden. Hierzu sollen dann die entsprechenden Bestimmungen des Grundgesetzes systematisch in Beziehung gesetzt werden. Einschlägige Gewährleistungsgehalte des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes werden in die Betrachtung mit einbezogen. Dies muss freilich stets unter Beachtung der jeweiligen Systematik und des jeweils zugrundeliegenden Grundrechtsverständnisses erfolgen.84 In der Arbeit wird nicht der Anspruch erhoben, eine vollumfängliche Betrachtung der unionsrechtlichen Rechtslage zu leisten. Da die Äußerungsfreiheit des Art. 11 I GRC der Garantie des Art. 10 I EMRK entspricht,85 folgt aus Art. 52 III GRC eine Heranziehung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR für die vorliegende Problematik. Aus der GRC ergeben sich aus diesem Grund keine bedeutenden abweichenden Ergebnisse gegenüber der EMRK. Eine spezifische und gesonderte Betrachtung des Regimes der GRC neben jenem der EMRK ist stärker notwendig, wo es um die „neuen“ Grundrechte, wie die sozialen Grundrechte, geht, die die GRC regelt, die die EMRK jedoch nicht kennt. Dies ist hier nicht der Fall. Vorliegend genügt eine punktuelle Untersuchung der GRC, wenn und soweit sich besondere Aspekte ergeben, die gleichzeitig für die Behandlung der Problematik im Gesamten dienlich sind.

III. Relevante Regelungen für die Garantie der Meinungsfreiheit im europäischen Grundrechtsschutz Die hier relevante Garantie der Meinungsfreiheit ist in den drei betrachteten Grundrechtsordnungen in unterschiedlichen Bestimmungen geregelt. In der EMRK gewährleistet Art. 10 EMRK die „liberté d’expression“ bzw. die „freedom of expression“. Art. 10 EMRK umfasst dabei auch wissenschaftliche86 und künst-

Sommermann, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR I, § 16 Rn. 58 f. Erläuterungen des Präsidiums zur Charta der Grundrechte, Amtsblatt Nr. C 303  vom 14. 12. 2007, S. 17. 86 EGMR, 29. 6. 2004, Chauvy u. a. ./. Frankreich, Nr. 64915/01, Z. 69; EGMR, 22. 4. 2010, Fatullayev ./. Aserbaidschan, Nr. 40984/07, Z. 87; vgl. hierzu Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 28. 84 85

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Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

lerische87 Äußerungen. Zu den erfassten Äußerungen werden auch non-verbale Äußerungsformen gezählt.88 Art.  10 EMRK ist ebenfalls in den Fällen relevante Bestimmung, in denen es um medienvermittelte Äußerungen geht. So zog der EGMR Art. 10 EMRK zum Beispiel auch zur Beurteilung der Vermittlung nutzergenerierter Hassreden durch ein Nachrichtenportal im Internet heran.89 Art. 10 EMRK ist auch anwendbar, wenn Äußerungen kollektiv auf einer Versammlung getätigt werden. Art. 11 EMRK greift aber zumindest dann als lex specialis, wenn es um versammlungsspezifische Eingriffe, etwa um die Auflösung der Zusammenkunft oder die Genehmigung der Versammlung, geht.90 In den Fällen, in denen aber die Beschränkung inhaltlicher Aussagen der Versammlungsteilnehmer in Rede steht, lässt der Gerichtshof offen, ob Art. 10 EMRK eingreift.91 Teilweise nimmt er an, in diesen Fällen sei Art. 11 EMRK auch lex specialis.92 Meist geht der EGMR aber davon aus, Art. 11 EMRK müsse in diesen Fällen im Lichte des Art. 10 EMRK ausgelegt werden.93 Aus einer Anwendung des Art. 11 EMRK ergeben sich in der Regel keine abweichenden Erwägungen, sodass für die vorliegende Arbeit hierauf kein großes Gewicht zu legen ist. In den hier betrachteten Fällen zu kollektiven Äußerungen wendete der EGMR stets Art. 10 EMRK an. Art. 10 EMRK ist die für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit ganz überwiegend relevante grundrechtliche Garantie in der EMRK. In der Grundrechtecharta gewährleistet Art. 11 GRC als zentrale Vorschrift die Kommunikationsfreiheiten. Zu den Kommunikationsgrundrechten im weiteren Sinne zählen jedoch auch Art. 10 GRC (Gedanken-, Gewissens-, und Religionsfreiheit), der im Falle religiöser Äußerungen, die nicht in einem speziellen Medium geäußert werden,94 lex specialis zu Art. 11 GRC ist,95 Art. 12 GRC (Versammlungs- und

87 EGMR, 24. 5. 1988, Müller u. a. ./. Schweiz, Nr. 10737/84, Z. 27; EGMR, 3. 5. 2007, Ulusoy u. a. ./. Türkei, Nr. 34797/03, Z. 28 f.; EGMR, 22. 10. 2007 (GK), Lindon, Otchakovsky-Laurens u. July ./. Frankreich, Nr. 21279/02, Z. 51; EGMR, 21. 10. 2014, Murat Vural ./. Türkei, Nr. 9540/07, Z. 44 f., 56; vgl. hierzu Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 28. 88 EGMR, 21. 10. 2014, Murat Vural ./. Türkei, Nr. 9540/07, Z. 46 ff. 89 EGMR (GK), 16. 6. 2015, Delfi AS ./. Estland, Nr. 64569/09, Z. 110. 90 Siehe hierzu EGMR, 25.1.2011, Donaldson ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 56975/09, Z. 20; EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08, Z. 19, 36, 48 ff.; EGMR, 6. 10. 2015, Müdür Duman ./. Türkei, Nr. 15450/03, Z. 29. 91 Bröhmer in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 19 Rn. 122; Daiber, in: Meyer-Ladewig/ Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, Art. 11 Rn. 66 (die von einer Anwendbarkeit des Art. 10 EMRK ausgeht, wenn und soweit Eingriffsmaßnahmen gezielt mit Meinungsäußerungen auf Versammlungen begründet werden). 92 EGMR, 26. 4. 1991, Ezelin ./. Frankreich, Nr. 11800/85, Z. 35. 93 EGMR, 26. 4. 1991, Ezelin ./. Frankreich, Nr. 11800/85, Z. 37; EGMR, 8. 12. 1999, Partei der Freiheit und Demokratie (ÖZDEP) ./. Türkei, Nr. 23885/94, Z. 37; EGMR, 9. 4. 2002, Yazar u. a. ./. Türkei, Nr. 22723/93 Z. 46; EGMR, 30. 6. 2009, Herri Batasuna und Batasuna ./. Spanien, Nr. 25803/04 Z. 74. 94 Knecht, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 10 GRC Rn. 10. 95 Bezemek/Blauensteiner in: Holoubek/Lienbacher (Hrsg.), GRC, Art. 10 Rn. 10; Gaitanides in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), EuGR, § 29 Rn. 37; Muckel, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), GRC, Art. 10 Rn. 33.

C. Untersuchungsgegenstand19

Vereinigungsfreiheit), der im Falle kollektiver Äußerungen und versammlungsspezifischer,96 nicht jedoch meinungsspezifischer Eingriffe,97 Art. 11 GRC als lex specialis vorgeht,98 bzw. gemeinsam mit Art. 11 GRC zur Prüfung gelangt,99 sowie Art.  13  GRC (Freiheit der Kunst und der Wissenschaft), der ebenfalls eine spezielle Form der Äußerungsfreiheit darstellt.100 Zur Abgrenzung ist auf den jeweiligen Schwerpunkt der Grundrechtsbetätigung abzustellen.101 Da sich die Einordnung einer Äußerung in diese Spezialgarantien wegen der einheitlichen Schrankenregelung in der Grundrechtecharta für alle Garantien nicht auf das Ergebnis auswirkt, kann eine detaillierte Abgrenzung meist dahinstehen. Häufig wird eine kumulative Prüfung vorgenommen.102 Die Fälle, die für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit relevant sind, liegen im Wesentlichen im Anwendungsbereich des Art.  11  GRC. Wenn und soweit sich aus einem der genannten leges speciales dennoch eine besondere Erwägung ergeben sollte, wird darauf im Rahmen dieser Untersuchung an entsprechender Stelle ausdrücklich hingewiesen. Somit ist im unionsrechtlichen Grundrechtsschutz Art. 11 GRC die weit überwiegend relevante Bestimmung, die es in Bezug auf die Frage nach einem Ausschluss demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit auszulegen gilt. Im System des Grundgesetzes regelt Art. 5 I 1 Alt. 1 GG die Meinungsfreiheit und ist die hier vorrangig relevante Grundrechtsbestimmung. Sie umfasst, ebenso wie Art.  10 EMRK, auch non-verbale Übermittlungen von Meinungen.103 Bei Äußerungen, die auf oder im Rahmen von Versammlungen getätigt werden, greift Art. 8 GG nur für versammlungsspezifische,104 Art. 5 I 1 Alt. 1 GG aber für meinungsbezogene Beschränkungen, ein.105 In Fällen, in denen Versammlungen aus inhaltlichen Gründen verboten werden, ist zwar auch die Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 GG betroffen, ihr Schutz entfaltet aber keine eigenständige Bedeutung neben Art.  5 I 1 Alt.  1  GG.106 Da es hier nur um die Äußerungen – die auf

Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 12 Rn. 5. Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 12 Rn. 5. 98 Pünder, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 17 Rn. 37. 99 Dorssemont, in: Peers/Hervey u.  a. (Hrsg.), The EU Charter, Art.  12 Rn.  12(1).12; Heindl/ Kalteis, in: Holoubek/Lienbacher (Hrsg.), GRC, Art. 12 Rn. 9 („Auslegung im Lichte”). 100 Pünder, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 18 Rn. 1. 101 Kühling, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), EuGR, § 23 Rn. 18; Walter, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 12 Rn. 9. 102 EuGH, 12.6.2003, Schmidberger, RS. C-112/00, Z. 77 ff. 103 Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 40. 104 Kloepfer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 164 Rn. 120. 105 BVerfGE 86, 122, 128; BVerfGE 90, 241, 246; BVerfGE 95, 28, 34; BVerfGE 97, 391, 400; BVerfGE 111, 147, 154 f.; BVerwGE 131, 216, Rn. 18; Bröhmer, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap.  19 Rn.  123; Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, Ein Grundrecht bürgerschaftlicher Selbstbestimmung, S. 45; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 8 Rn. 84; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 8 Rn. 2. 106 Michael, ZJS 2010, 155, 159; Fohrbeck, Wunsiedel, S. 26. 96 97

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Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

einer Versammlung geäußerten kommunikativen Inhalte – geht, spielt Art. 8 GG für die vorliegende Fragestellung keine Rolle. Satirische Äußerungen, die im Rahmen dieser Untersuchung eine Rolle spielen, sind in den Anwendungsbereich des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG einzuordnen.107 Art. 5 I 1 Alt. 1 GG ist auch ungeachtet des Verbreitungsmediums anwendbar, wenn es um Beschränkungen bestimmter Äußerungen geht.108 In Fällen, in denen es sich um Äußerungen von Presseangehörigen handelt, greift nicht die Garantie der Pressefreiheit nach Art. 5 I 2 Alt. 1 GG ein, sondern die Meinungsfreiheit nach Art.  5 I 1 Alt.  1  GG ist einschlägig. Der Schutzbereich der Pressefreiheit ist nur berührt, wenn es um die im Pressewesen tätigen Personen in Ausübung ihrer Funktion, um ein Presseerzeugnis selbst, um seine institutionell-organisatorischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen sowie um die Institution einer freien Presse überhaupt geht. Dies spielt für die vorliegende Fragestellung aber keine Rolle. Art. 5 I 2 GG wird nicht relevant. Art.  5 III GG ist in Fällen wissenschaftlicher oder künstlerischer Äußerungen lex specialis zu Art. 5 I 1 Alt. 1 GG.109 Wenn und soweit sich daraus abweichende Erwägungen im Rahmen der Erörterung der vorliegend aufgeworfenen Fragestellung ergeben, wird hierauf an den entsprechenden Stellen ausdrücklich hingewiesen. Für die Äußerungen, die im Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit liegen, ist dies aber nicht von hoher Relevanz. Wenn eine Äußerung nicht als wissenschaftlich qualifiziert werden kann – was im Fall einer Holocaustleugnung häufig der Fall sein wird –, fällt sie aus dem Schutzbereich des Art. 5 III ohnehin heraus. Dann greift Art. 5 I 1 Alt. 1 GG wieder ein.110 Art. 9 III GG ist lex specialis zu Art. 5 I 1 Alt. 1 GG hinsichtlich solcher Äußerungen, die in die Tätigkeit einer Koalition fallen.111 Art. 4 GG ist in Bezug auf religiöse Äußerungen spezielle Bestimmung zu Art. 5 I 1 Alt. 1 GG.112 Kritische Wertungen von Glaube und Religion fallen allerdings in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 Alt. 1 GG.113 Soweit diese genannten spezielleren Grundrechtsgarantien für die hier aufgeworfene Frage eines Ausschlusses demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit relevant werden sollten, wird darauf entsprechend hingewiesen. Für die speziellen Äußerungskategorien, die

107

Gärtner, Satire, S. 47; offen gelassen in BVerfGE 86, 1, 9.

108

Hierzu und zum Folgenden BVerfGE 85, 1, 12 f.; BVerfGE 86, 122, 127 f.

Hufen, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 101 Rn. 65; Hufen, Staatsrecht II, § 34 Rn. 19; Scholz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 III Rn. 34, 180; Starck/Paulus, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 5 Rn. 77; Von Arnauld, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 54; BVerfGE 81, 278, 291. 109

110

Hochmann, Le négationnisme, S. 176.

111

Hufen, Staatsrecht II, § 37 Rn. 17.

Epping, Grundrechte, Rn. 267; Mager, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 4 GG Rn. 87; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 92, S. 1403; a. A. Von Campenhausen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 157 Rn. 119. 112

113

Schulze-Fielitz in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 62.

C. Untersuchungsgegenstand21

hier untersucht werden – „Hassreden“, revisionistische Äußerungen sowie kollektive Äußerungen – wird dies aber keine wesentliche Bedeutung erlangen. Art. 5 I 1 Alt. 1 GG ist für die Ebene des Grundgesetzes die wesentliche hier zu analysierende Bestimmung.

IV. Untersuchte Äußerungen Zur eindeutigen Klärung des Ausgangspunkts dieser Untersuchung bedarf es einer materiellen Bestimmung jener Äußerungen, deren rechtliche Behandlung in der Arbeit analysiert werden soll.114 Eine Erläuterung des Begriffsverständnisses und der Verwendung der Begriffe in dieser Untersuchung folgt sodann im weiteren Verlauf dieses Einführungskapitels.115 Mit der Untersuchung wird eine Betrachtung jener Äußerungen angestrebt, die im Schrifttum meist als „Hassrede“ oder „Hate Speech“116 bezeichnet werden. In Deutschland und Österreich kommen die gesetzlichen Begriffe der „Hetze“ bzw. „Verhetzung“ dessen nahe, was als „Hassrede“ bezeichnet werden kann.117 „Hassrede“ ist ein fest verankerter Begriff der grundrechtlichen Diskussion, der in dieser aber ein ganzes Spektrum an Äußerungen von Hass und Aufstachelung zu Hass, Missbrauch, Beleidigungen und Herabwürdigungen erfasst.118 Der EGMR spricht in einigen Fällen ausdrücklich von „Hate Speech“ bzw. „discours de haine“,119 in anderen Entscheidungen formuliert er seine inhaltlich identischen Erwägungen ohne terminologischen Rückgriff auf diesen Begriff. Eine einheitliche Definition jener Äußerungen, die er auf diese Weise behandelt, entwickelte der Gerichtshof bisher nicht.120 Bislang fehlt auch ansonsten eine allgemein anerkannte Definition des Begriffs der „Hassrede“.121 Erste Anhaltspunkte können einer Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten über „Hassrede“ aus dem Jahr 1997 entnommen werden, welche „jegliche Ausdrucksformen, die Rassenhass, Zum Begriff der „Hate Speech“ in der grundrechtsdogmatischen Diskussion siehe Struth, in: Grafl/Klob/Reindl-Krauskopf (Hrsg.), 6. ALES-Tagung, S. 91, 93 ff.

114

115

Siehe hierzu Kapitel 1, D.

Siehe zur Begriffsverwendung statt vieler nur etwa Kiska, Regent University Law Review 2013, 107, 110; Rosenfeld, Cardozo Law Review 24 (2003), 1523.

116

117

Vgl. § 130 Strafgesetzbuch Deutschland und § 283 Strafgesetzbuch Österreich.

118

Vgl. hierzu McGonagle, European Yearbook of Minority Issues 9 (2010), 419, 420.

EGMR (GK), 8. 7. 1999, Sürek Nr.  1 ./. Türkei, Nr. 26682/95, Z. 62; EGMR, 13. 11. 2003, Müslum Gündüz ./. Türkei, Nr. 59745/00; EGMR (GK), 16. 6. 2015, Delfi AS ./. Estland, Nr. 64569/09, Z. 153; EGMR, 13. 10. 2015, Bremner ./. Türkei, Nr. 37428/06, Z. 75; EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14, Z. 34.

119

120

A. A. wohl Mensching, Hassrede im Internet, S. 112.

Vgl. McGonagle, European Yearbook of Minority Issues 9 (2010), 419; Brown, Law and Philosophy 36 (2017), 419.

121

22

Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus oder andere Formen von Hass, die auf Intoleranz gründen, propagieren, dazu anstiften, sie fördern oder rechtfertigen, einschließlich der Intoleranz, die sich in Form eines aggressiven Nationalismus und Ethnozentrismus, einer Diskriminierung und Feindseligkeit gegenüber Minderheiten, Einwanderern und der Einwanderung entstammenden Personen ausdrücken“ der „Hassrede“ zuordnet.122 Im internationalen Völkerrecht finden sich einige Definitionsansätze, die ebenfalls Indizien zur Beschreibung der Natur der Äußerungen, die Gegenstand dieser Untersuchung sind, bereithalten. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPBPR)123 definiert „Hassrede“ in seinem Art. 20 II als „any advocacy of national, racial or religious hatred that constitutes incitement to discrimination, hostility or violence“.124 Art. 4 des Internationalen Rassendiskriminierungsübereinkommens (ICERD)125 formuliert „all propaganda (…) which are based on ideas or theories of superiority of one race or group of persons of one colour or ethnic origin, or which attempt to justify or promote racial hatred and discrimination in any form“. In der grundrechtlichen Diskussion werden mit dem Begriff der „Hassrede“ Äußerungen bezeichnet, die als extremistisch, rassistisch oder antisemitisch charakterisiert werden können und zu Hass und Gewalt aufrufen.126 Auch homophobe Äußerungen werden als „Hassreden“ bezeichnet,127 obwohl sie in der Definition des Ministerkomitees128 noch fehlen.129 Alle Äußerungen, die moralische oder ethische Grundsätze, rechtliche Werte oder soziale Überzeugungen, die eine demokratische, tolerante und pluralistische Gesellschaft prägen, radikal missachten oder persönliche, kulturelle oder ethnische Eigenschaften von Menschen verhöhnen,

Europarat, Ministerkomitee, Empfehlung Nr. R (97) 20 des Ministerkomitees an die Mitgliedstaaten über die „Hassrede“ vom 30. 10. 1997; der EGMR beruft sich im Urteil Gündüz (EGMR, 4. 12. 2003, Gündüz ./. Türkei, Nr. 35071/97, Z. 22) sowie im Urteil Féret (EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 64) auf diese Definition, übernimmt sie jedoch nicht, sondern verfolgt, wie in allen anderen Fällen der Begriffsverwendung auch, eine autonome Auslegung des Begriffs (Weber, Handbuch zur Frage der Hassrede, S. 4; Oetheimer, Cardozo Journal of International and Comparative Law 2009, 427, 428; Oetheimer, RTDH 2007, 63, 65; Brown, Law and Philosophy 36 (2017), 419, 435). 123 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, 999 UNTS 171. 124 Siehe hierzu die Erläuterungen des Human Rights Committee: „By 'advocacy' is meant public forms of expression that are intended to elicit action or response. By 'hatred' is meant intense emotions of opprobrium, enmity and detestation towards a target group. 'Incitement' refers to the need for the advocacy to be likely to trigger imminent acts of discrimination, hostility or violence. It would be sufficient that the incitement relate to any one of the three outcomes: discrimination, hostility or violence” (General Comment Nr. 34, CCPR/C/GC/34, Z. 51). 125 Internationales Übereinkommen über die Beseitigung aller Formen rassischer Diskriminierung vom 7. März 1966, 660 UNTS 195. 126 Pabel, in: Jahrbuch Menschenrechte, 2012/2013, S. 68. 127 Weber, Handbuch zur Frage der Hassrede, S. 4. 128 Siehe oben in diesem Abschnitt. 129 McGonagle, European Yearbook on Minority Issues 2010, 419, 422. 122

C. Untersuchungsgegenstand23

verunglimpfen oder herabwürdigen, werden gemeint, wenn von „Hassreden“ gesprochen und geschrieben wird.130 Da es nicht Ziel dieser Arbeit ist, eine Definition des Begriffs der „Hassrede“ zu entwickeln, kann diese hier nicht gegeben werden. Es gibt allerdings zwei charakteristische Merkmale, die alle Äußerungen aufweisen, die gemeinhin als „Hassreden“ bezeichnet werden. Diese unterscheiden sie von anderen Äußerungen. Erstens sind „Hassreden“ Herabsetzungen oder Diskriminierungen von Menschen oder Gruppen von Menschen, die an ein gruppenbezogenes Merkmal anknüpfen. Beschimpfungen, Verächtlichmachungen oder Verleumdungen Einzelner zählen also nicht dazu, es sei denn der Anknüpfungspunkt der Herabsetzung ergibt sich aus der Gruppenzugehörigkeit des Einzelnen. Dies ist deshalb der Fall, weil die Qualifizierung einer Äußerung als „Hassrede“ erfordert, dass es nicht nur um den Schutz Betroffener als Individuen geht. „Hassreden“ richten sich zwar unter Umständen gegen Einzelne, die Person wird aber wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe anvisiert, um die ganze Gruppe implizit zu treffen. „Hassreden“ liegen deshalb dann vor, wenn ein gemeinsames inneres oder äußeres Merkmal in Bezug genommen wird, das eine Gruppierung von der übrigen Bevölkerung unterscheidet und die Gruppe individuell nicht mehr überschaubar ist. Dies wäre zum Beispiel bei einer homophoben Äußerung ebenso der Fall wie bei einer Äußerung gegen Arbeitslose, im Inland ansässige Ausländer, Menschen einer bestimmten Hautfarbe oder die Volksgruppe der Sinti und Roma.131 Charakteristisch für die hier untersuchten Äußerungen und gleichzeitig solche, die in der juristischen Diskussion als „Hassreden“ bezeichnet werden, ist damit, dass sie nicht nur individuelle Rechtspositionen, etwa die Menschenwürde,132 betreffen, sondern auch öffentliche Interessen beeinträchtigen. Sie greifen in das Interesse der Allgemeinheit an der Aufrechterhaltung und Achtung der grundlegenden demokratischen Werte ein.133 Charakteristisch für „Hassreden“ ist auch die Fundamentalopposition zu grundlegenden demokratischen Werten aus einer bestimmten ideologischen Richtung. Religiöser Fundamentalismus kann solche Äußerungen aber ebenso hervorbringen wie Rechtsextremismus.134 Das zweite Merkmal aller Äußerungen, die als „Hassreden“ bezeichnet werden, liegt darin, dass sie auf den Ausschluss der anvisierten Bevölkerungsgruppe aus der Gesellschaft abzielen. Sie sind auf soziale Exklusion gerichtet. Der Grund der Diskriminierung oder Herabsetzung ist grundsätzlich nicht von Bedeutung. Typischerweise handelt es sich dabei, wenn von „Hassreden“ gesprochen wird, aber um Kriterien wie Rasse, Religion, Geschlecht oder sexuelle Orientierung.135 Tretter, in: FS Berka, S. 237, 237 f. So für die innerstaatliche Volksverhetzungsvorschrift Gusy, in: Jahrbuch Menschenrechte, 2012/2013, S. 114 f. 132 Vgl. hierzu ausführlich Groß, JöR n. F. 66 (2018), 187, 197 ff. 133 Vgl. hierzu Bernard, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 381, 383. 134 Brüning, Der Staat 41 (2002), 213, 214. 135 Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S.  17; Brugger, Gesammelte Aufsätze, S.  165, 166; Brown, Law and Philosophy 36 (2017), 419, 437. 130 131

24

Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

Diese Merkmale erfüllen rechtsextremistische und neonazistische Äußerungen in der Regel,136 weil sie die Orientierung an der ethnischen Zugehörigkeit, die Leugnung der rechtlichen Gleichheit der Menschen sowie ein antipluralistisches, antidemokratisches und autoritär geprägtes Gesellschaftsverständnis vertreten.137 Neonazistische Äußerungen sind solche, in denen das Streben nach einem totalitären Führerstaat orientiert am historischen Nationalsozialismus, konkreter an programmatischen Forderungen der NSDAP, die zur Errichtung eines „großdeutschen“, „Vierten Reiches“ dienen sollen, transportiert wird. Dabei werden in der Regel antisemitische oder ausländerfeindliche Anschauungen vertreten und das Ziel einer „Reinigung“ bzw. „Befreiung“ der „Volksgemeinschaft“ verfolgt.138 Rechtsextremistische Äußerungen sind im Allgemeinen solche, die eine bestimmte Ideologie und politische Zielsetzung über Volk und Volksgemeinschaft, Ethnozentrismus, Ethnopluralismus und die Ausgrenzung des Fremden, antidemokratische Haltungen, Antiliberalismus, Antipluralismus, Autoritarismus und Antisozialismus ­transportieren und diese mit politischen Methoden wie einer Feindbildkonstruktion, dem Auffinden von Sündenböcken und einer autoritären Organisationsstruktur verwirklichen wollen.139 Rechtsextremismus wird als Sammelbezeichnung für politische Auffassungen und Bestrebungen gebraucht, die im Namen der Forderung nach einer von sozialer Ungleichheit geprägten Gesellschaftsordnung die Regeln eines modernen demokratischen Verfassungsstaats ablehnen und diesen mit Gewalt bekämpfen wollen. Die Befürwortung einer Diktatur, Islam- und Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Chauvinismus, Sozialdarwinismus, Rassismus sowie die Verharmlosung und Relativierung des Nationalsozialismus (Revisionismus), prägen das Weltbild rechtsextremer Ideologen, Netzwerke, Szenen und Milieus. Charakteristisch für rechtsextremistische Einstellungen ist auch die Verherrlichung eines „völkischen Nationalismus“ mit deutschnationalen bzw. nationalistisch-konservativen Konzepten. Zentrale Wesensmerkmale rechtsextremistischer Ideologie sind antidemokratische und antipluralistische Gesellschaftsauffassungen bei gleichzeitiger Ablehnung des vorherrschenden (d. h. demokratischen) politischen Systems.140 Weiter werden meist auch revisionistische bzw. negationistische141 Äußerungen als Unterfall in den Begriff der „Hassrede“ einbezogen.142 Aus diesem Grund werden sie auch in der vorliegenden Arbeit untersucht. Hierunter sind Aussagen Schaefer, Grundlagen einer ordoliberalen Verfassungstheorie, S. 162. Vgl. Berlit, Rechtsextremismus und Recht, S. 2. 138 Fohrbeck, Wunsiedel, S. 23. 139 Müller, Das Verbotsgesetz, S. 152. 140 Bundesministerium für Inneres, Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), Österreich, Verfassungsschutzbericht 2015, S.  11, abrufbar unter: http://www.bmi.gv.at/ cms/BMi_Verfassungsschutz/Verfassungsschutzbericht_2015.pdf. 141 Siehe zur Verwendung der Begriffe „Hassrede“ und „revisionistische/negationistische Äußerungen“ isoliert und im Verhältnis zueinander in der vorliegenden Arbeit unten Kapitel 1, D. 142 Schiedermair, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 10 Rn. 30; Oetheimer, Cardozo Journal of International and Comparative Law 2009, 427, 429; Kahn, in: Hennebel/Hochmann (Hrsg.), S. 77, 86; Haupt, Boston University International Law Journal 2005, 299, 328. 136 137

C. Untersuchungsgegenstand25

zu verstehen, die historische Realitäten, die von Überlebenden bezeugt und von Gerichten in konstanter Weise anerkannt wurden, als ungenau oder nicht bewiesen darstellen. Die Äußerungen intendieren häufig, den Eindruck der Wissenschaftlichkeit zu vermitteln und die Opfer historischer Verbrechen als Lügner zu diffamieren und der Wahrheitsfälschung zu beschuldigen.143 Darin liegt dann wiederum eine Stigmatisierung und Ausgrenzung von bestimmten Gruppen der Gesellschaft oder von einzelnen Menschen in Anknüpfung an deren Zugehörigkeit zu einer Opfergruppe. Revisionistischen oder negationistischen Rednern geht es meist nicht darum, eine Neuinterpretation der Geschichte auf im wesentlichen unangetasteter Tatsachengrundlage zu leisten, sondern sie zielen auf eine grundsätzliche Erschütterung des mehrheitlich vertretenen Geschichtsverständnisses ab.144 Die Äußerungen reichen im Allgemeinen von einer bloßen Leugnung der historischen Wahrheit, ohne dass daraus eine Schlussfolgerung hinsichtlich der Entstehung des angeblich gefälschten Geschichtsbilds und der Motive seiner Aufrechterhaltung besteht, bis zur Vermittlung des Vorwurfs der Geschichtsfälschung durch die Opfer der Verbrechen oder andere Teile der Gesellschaft, die sich um die Aufklärung über historische Zusammenhänge bemühen.145 Im letzten Fall wird die historische Diskussion meist nur benutzt, um persönlichkeitsbezogene Angriffe zu transportieren, indem der Vorwurf erhoben wird, eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe – im Fall der Auschwitzlüge meist die in Deutschland lebenden Juden – hätten zu eigennützigen Zwecken eine falsche Geschichtsschreibung kreiert und verbreitet.146 Die Aussagen können so weit gehen, dass durch systematische Stigmatisierung und Ausgrenzung von Bevölkerungsgruppen, die aus der etablierten Vorstellung über den Verlauf der Geschichte angeblich ungerechtfertigte Vorteile zögen, versucht wird, eine gegenüber dieser Gruppierung negative Stimmung in der Gesellschaft zu erzeugen. Im Einzelfall kann durch die Schaffung einer kollektiven Angst oder jedenfalls negativen Stimmung gegenüber der Gruppe eine ernsthafte Gefahr für die Mitglieder dieser Gruppe der Gesellschaft entstehen.147 Die Leugnung eines Völkermordes, aber auch das Bestreiten der Einordnung eines historischen Verbrechens als Völkermord, fällt in diese Kategorie. Die Äußerungen können als Verharmlosungen oder Minimalisierungen historischer Realitäten bzw. Verbrechen, als Rechtfertigung, Approbation oder Glorifizierung dieser oder schlicht als Leugnung von Tatsachen („Es hat keine Gaskammern gegeben“) auftreten. In Deutschland wird häufig von der sog. „Auschwitzlüge“ gesprochen. Damit wird in der Regel eine Aussage bezeichnet, die die Realität des unter anderem in Auschwitz begangenen Völkermords während des Zweiten Weltkriegs, für den Auschwitz als plakative Bezeichnung steht, in Existenz, Umfang oder Begehungsweise in Frage stellt.148

Wachsmann, RTDH 2001, 585, 589. Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, S. 83. 145 Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, S. 97. 146 Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, S. 98. 147 Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, S. 98 f. 148 Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, S. 21. 143

144

26

Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

Die vorangegangenen Ausführungen sollen nur deutlich machen, welche Art von Äußerungen hier untersucht werden. Im nächsten Abschnitt wird sodann erläutert, welche Äußerungen begrifflich gemeint sind, wenn in dieser Untersuchung von „Hassreden“ in Abgrenzung zu revisionistischen bzw. negationistischen Äußerungen gesprochen wird.

V. Abgrenzung zu anderen Themenbereichen und Fragestellungen In der vorliegenden Arbeit werden nur die konventions- und chartarechtlichen Bestimmungen und die grundgesetzlichen Regelungen behandelt. Die Frage nach dem Ausschluss bestimmter Äußerungen aus dem Schutzbereich der grundrechtlichen Meinungsfreiheitsgarantie macht es nicht notwendig, einfachgesetzliche Bestimmungen zu untersuchen. Im Bereich von „Hassreden“ werden meist strafrechtliche Bestimmungen, die Äußerungsverbote enthalten, erlassen. Deren Effektivität und auch ihre Vereinbarkeit mit den Vorgaben von EMRK, GRC und GG sind nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Hier geht es nur um die Herausarbeitung der grundrechtlichen Vorgaben. Die Auslegung und Bewertung einfachgesetzlicher Bestimmungen liegt außerhalb der vorliegenden Fragestellung und bleibt hier deshalb außer Betracht. In der vorliegenden Arbeit wird beantwortet, ob „Hassreden“ im Schutzbereich der grundrechtlichen Meinungsfreiheitsgarantie liegen. Im Ergebnis sollte eine Antwort auf die Frage gegeben werden können, ob eine Bestrafung oder ein Verbot bestimmter Äußerungen ohne Rücksicht auf die Meinungsfreiheit vorgenommen werden kann. Die grundrechtskonforme Auslegung und Anwendung des Strafrechts – die dann relevant wird, wenn die Äußerung in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien fällt – wird nicht behandelt. In der vorliegenden Arbeit soll es auch nicht darum gehen, eine abschließende Definition für den Begriff der „Hassreden“ zu finden, die dann dazu dient, alle davon erfassten Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien auszuschließen. Die Begriffe werden in einer bestimmten Bedeutung gebraucht,149 darüber hinaus ist aus der Sicht der Verfasserin eine abschließende Begriffsdefinition zur Beantwortung der hier gestellten grundrechtsdogmatischen nicht notwendig. Sie wird daher nicht unternommen. Die Frage, die hier zu stellen ist, ist ebenso wenig jene, welche konkreten Äußerungen dem Schutzbereich der Äußerungsfreiheit (nicht) unterfallen. Es soll daher auch keine Aussage darüber getroffen werden, welche Äußerungen konkret verboten werden können oder dürfen. Vielmehr geht es darum zu fragen, ob grundrechtliche Erwägungen bei staatlichem Handeln gegen „Hassreden“ überhaupt relevant werden. Eine konkrete Benennung von Äußerungen oder Äußerungsinhalten, die aus dem Schutzbereich herausfallen bzw. ohne Rücksicht auf die Garantie der Äußerungsfreiheit verboten werden können ist zur Erreichung des Ziels dieser Arbeit nicht notwendig.

149

Siehe unten Kapitel 1, D.

C. Untersuchungsgegenstand27

Damit steht in unmittelbarem Zusammenhang, dass in dieser Untersuchung nicht das Ziel verfolgt wird, den Begriff der Demokratie bzw. jenen der „Demokratiefeindlichkeit“ zu definieren. Der Demokratiebegriff der Grundrechtsordnungen wird zwar inzident relevant und er wird, insoweit er für die Beantwortung der vorliegend aufgeworfenen Fragestellung wichtig ist, auch untersucht. Eine eigenständige Antwort auf die Frage nach dem Demokratiebegriff der jeweiligen Grundrechtsordnungen liegt aber außerhalb des Untersuchungsgegenstands dieser Arbeit. „Hassreden“ und Hassverbrechen sind zu unterscheiden.150 In der vorliegenden Untersuchung geht es gemäß der dargelegten Fragestellung nur um Äußerungen, nicht um Gewaltstraftaten, die durch Hass motiviert sind. Hassverbrechen spielen folglich keine Rolle in dieser Arbeit. In der vorliegenden Arbeit werden weiter die philosophischen, politischen, politikwissenschaftlichen, soziologischen, historischen, psychologischen und moralischen Aspekte, die die Problematik um „Hassreden“ zweifelsfrei aufwirft, ausgeklammert und es findet eine Beschränkung auf eine rechtsdogmatische Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit und den betrachteten Äußerungen statt. Wenn dennoch ausnahmsweise auf rechtspolitische oder sonstige Argumente, die den genannten fremden Disziplinen zugeordnet werden können, eingegangen wird, so wird dies explizit gekennzeichnet. Bei genereller Ausklammerung der Fragen, die den anderen Disziplinen überlassen werden müssen, kann es nämlich dennoch in seltenen Fällen notwendig werden, teilweise auf diese Aspekte zu rekurrieren, wenn und soweit es für die juristische Argumentation von Bedeutung ist. Außerhalb des Untersuchungsgegenstandes liegen auch Fragen der grenzüberschreitenden Regelung des Umgangs mit „Hassreden“, die die Äußerungen insbesondere dann aufwerfen, wenn sie im Internet kundgetan und verbreitet werden. Nationale Regelungsansätze sind in diesen Situationen nur bedingt zielführend und effektiv. Das internationale Privatrecht und insbesondere das internationale Strafrecht sind aufgerufen, Lösungen zur grenzüberschreitenden Bekämpfung von „Hassreden“ im Internet zu entwickeln. Dies zieht ohne Zweifel auch nach sich, dass man über den grundrechtlichen Maßstab für die Beschränkung von Äußerungen nachdenken muss, die in einem Land entsendet, aber in zahlreichen anderen Staaten und Kontinenten empfangen werden können. Unterschiede in der Konzeption der Äußerungsfreiheit in verschiedenen Staaten werden in diesem Zusammenhang relevant und lassen die Frage nach einer Harmonisierung aufkommen. Dies wirft außerdem zahlreiche Problemstellungen und offene Fragen im Bereich der internationalen Kooperation, der internationalen Kollisionsregelungen und Regelungsansätze auf, die nicht Gegenstand dieser Arbeit sind und außer Betracht bleiben. Äußerungen, die nur dadurch gekennzeichnet sind, dass sie religiöse Gefühle anderer Personen verletzen, sind nicht als „Hassrede“ zu qualifizieren und liegen außerhalb des Untersuchungsgegenstands dieser Arbeit.151 Auch der EGMR nimmt

Vgl. Heinze, Hate Speech, S. 19. Vgl. zu diesem Themenkomplex Kolonovits, in: Grabenwarter/Thienel (Hrsg.), Kontinuität und Wandel der EMRK, S. 169; vgl. zu dieser Trennung auch Lester, in: FS Bratza, S. 297, 302. 150 151

28

Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

diese Unterscheidung vor, wenn er zum Beispiel im Urteil Wingrove (wegen blasphemischer Inhalte erhielt der Film Visions of Ecstasy, den der Beschwerdeführer geschrieben und produziert hatte, von der zuständigen nationalen Behörde keine Vertriebsgenehmigung), dem Mitgliedstaat einen weiteren Beurteilungsspielraum eröffnet.152 Bei „Hassreden“ einerseits und blasphemischen Äußerungen andererseits handelt es sich um unterschiedliche Äußerungen, die nur vordergründig ähnlich erscheinen, grundsätzlich aber verschieden ausgestaltet sind. Der Gerichtshof gebraucht in den Fällen blasphemischer Äußerungen eine andere Argumentation als in den Fällen zu „Hassreden“.153 In dieser Kategorie der Äußerungen, die religiöse Gefühle verletzen, aber keinen Aufruf zu Hass enthalten, liegen die Blasphemiegesetze der Mitgliedstaaten, deren Abschaffung bzw. Nichteinführung die Venedig Kommission des Europarats empfiehlt.154 Auch die parlamentarische Versammlung des Europarats trennt zwischen beiden Äußerungsformen und schlägt die Strafbarkeit nur der religiösen „Hassrede“ in der hier verwendeten Bedeutung des Begriffs vor.155 Diese blasphemischen Äußerungen spielen in dieser Arbeit keine Rolle.156 Religiöse „Hassrede“ fällt hingegen in den Untersuchungsgegenstand.157 Damit sind Äußerungen gemeint, die die Existenz einer Gruppierung, die sich durch ihre religiöse Zugehörigkeit charakterisiert, verneinen oder angreifen. Sie können unter die Definition der Empfehlung des Ministerkommitees subsumiert werden.158

Vgl. hierzu: Luis López Guerra, in: FS Bratza, S. 307, 317 f.; EGMR, 25. 11. 2006, Wingrove ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 17419/90, Z. 58. 153 Oetheimer, RTDH 2007, 63, 65. 154 Venedig Kommission des Europarats, Report on the relationship between freedom of expression and freedom of religion: the issue of regulation and prosecution of blasphemy, religious insult and incitement to religious hatred. 155 Parlamentarische Versammlung des Europarats, Empfehlung 1805 (2007), Blasphemy, religious insults and hate speech against persons on grounds of their religion. 156 Vgl. Oetheimer, Cardozo Journal of International and Comparative Law 2009, 427, 428. 157 Vgl. Begriffsverständnis in European Commission against Racism and Intolerance (ECRI), General Policy Recommendation No. 7: National legislation to combat racism and racial discrimination, angenommen am 13. 12. 2002 (a) “racism” shall mean the belief that a ground such as race1, colour, language, religion, nationality or national or ethnic origin justifies contempt for a person or a group of persons, or the notion of superiority of a person or a group of persons, b) “direct racial discrimination” shall mean any differential treatment based on a ground such as race, colour, language, religion, nationality or national or ethnic origin, which has no objective and reasonable justification. Differential treatment has no objective and reasonable justification if it does not pursue a legitimate aim or if there is not a reasonable relationship of proportionality between the means employed and the aim sought to be realised, c) “indirect racial discrimination” shall mean cases where an apparently neutral factor such as a provision, criterion or practice cannot be as easily complied with by, or disadvantages, persons belonging to a group designated by a ground such as race, colour, language, religion, nationality or national or ethnic origin, unless this factor has an objective and reasonable justification. This latter would be the case if it pursues a legitimate aim and if there is a reasonable relationship of proportionality between the means employed and the aim sought to be realised.). 158 Vgl. Luis López Guerra, in: FS Bratza, S. 307, 308. 152

C. Untersuchungsgegenstand29

Neben den blasphemischen Äußerungen sind aus den gleichen Erwägungen auch reine Beleidigungsfälle ausgenommen, in denen Diffamierungen, Unterstellungen und Vorurteile gegenüber bestimmten einzelnen Menschen zum Ausdruck kommen und von denen nur Individualinteressen betroffen sind.159 Die individuelle Beschimpfung, Verächtlichmachung oder Verleumdung Einzelner fällt auch im deutschen und österreichischen Recht nicht unter den Tatbestand der Volksverhetzung bzw. der Verhetzung.160 Der EGMR unterscheidet die Fälle individueller Beleidigung ebenfalls von „Hassreden“.161 Damit ist nicht ausgeschlossen, dass Äußerungen, die als „Hassrede“ oder sonstige hier betrachtete Äußerungen definiert werden können, auch Individualinteressen betreffen. Außer Betracht bleiben aber Beleidigungen und Ehrverletzungen, die nicht an gruppenbezogene Merkmale anknüpfen. In den Untersuchungsgegenstand fallen auch solche Fallkonstellationen nicht, in denen eine Person zivil- oder strafrechtlich verurteilt oder verfolgt wird, weil sie eine andere Person des Rassismus bzw. der rassistischen Einstellung oder der antisemitischen Haltung bezichtigt hat.162 Zwar geht es in solchen Fällen um Rassismus, eine „Hassrede“ im Sinne dieser Arbeit liegt aber nicht vor. Die Konstellationen betreffen allein individuelle Beleidigungen, deren Inhalt der Vorwurf des Rassismus gegenüber einer Person ist. Vereinigungs- und Parteiverbote bleiben außer Betracht. Einschränkungen der Äußerungs- und solche der Vereinigungsfreiheit sind getrennt voneinander zu betrachten, weil sie sich in einigen Bereichen unterscheiden.163 Sofern Mitglieder einer Vereinigung Äußerungen tätigen, ist hierfür die Meinungsfreiheit einschlägig. Diese (kollektiven) Äußerungen und ihr grundrechtlicher Schutz liegen innerhalb des Untersuchungsgegenstands und werden erörtert. Das Verbot der Vereinigung, das eventuell unter anderem unter Rückgriff auf dieselben Äußerungen begründet wird, ist aber am Maßstab der Vereinigungsfreiheitsgarantien zu prüfen und liegt außerhalb der Fragestellung dieser Arbeit, die nur Grenzen des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit erörtert. In der vorliegenden Arbeit soll eine thematische Beschränkung auf das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit vorgenommen werden. Andere, in Fällen von „Hassreden“ relevante, Grundrechtsgarantien bleiben außer Betracht. Dies könnten die Garantien der Art. 3, 8 und 14 EMRK, der Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I, Art. 2 II 1 oder 3 GG und der Art. 3, 7 und 21 GRC sein. Sie werden aus Gründen der thematischen Eingrenzung nicht bearbeitet. Die genannten Diskriminierungsverbote

Tretter, in: FS Berka, S. 237, 238. Gusy, in: Jahrbuch Menschenrechte, 2012/2013, S. 114. 161 EGMR, 31. 1. 2006, Giniewski ./. Frankreich, Nr. 64016/00, Z. 52; vgl. hierzu Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 36. 162 Vgl. EGMR, 17. 4. 2014, Brosa ./. Deutschland, Nr. 5709/09; EGMR, 7. 6. 2016, CICAD ./. Schweiz, Nr. 17676/09. 163 Sadurski, European Constitutional Identity. 159 160

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Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

werden allerdings am Rande erwähnt, weil sie im Zuge der Argumentation zu den Meinungsfreiheitsgarantien relevant werden. Eine vollumfängliche Bearbeitung gleichheitsrechtlicher Aspekte ist aber nicht Gegenstand dieser Untersuchung.

D. Erläuterung der Begriffsverwendungen in der vorliegenden Untersuchung Zunächst ist eine begriffliche Präzisierung vorzunehmen. Der Schutzbereich bezeichnet den Tatbestand des Grundrechts, also den Gegenstand des grundrechtlichen Schutzes, das Schutzgut.164 Man könnte im Zusammenhang mit den Fragen, die diese Arbeit diskutiert von „Schutzbereichsbegrenzungen“ sprechen, um die untersuchten Reduzierungen der Gewährleistung im jeweiligen Tatbestand der Grundrechte zu bezeichnen.165 In dieser Arbeit geht es nur um die dem einzelnen Grundrecht von vornherein innewohnenden Limitierungen.166 Damit sind Grenzen des Grundrechtstatbestands gemeint, die in den Grundrechtsbestimmungen angelegt sind und durch Auslegung der Grundrechte gewonnen werden können.167 Der Grundrechtskatalog bzw. die einzelne Grundrechtsbestimmung nimmt die Begrenzung selbst vor.168 Die Äußerungen liegen in diesem Schutzbereich oder sie sind nicht geschützt. Zu unterscheiden sind diese Grenzen von Schranken, die einen Eingriff in den Schutzbereich rechtfertigen können. Eine strafrechtliche Verurteilung wegen Hassreden beschränkt die grundrechtliche Freiheit der Meinungsäußerung nur dann, wenn die Hassrede, wegen der verurteilt wird, im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegt. Umfang und Ausmaß des Schutzbereichs legt das Grundrecht bereits selbst fest, hierzu bedarf es keiner staatlichen Maßnahme. Allerdings muss eine Auslegung der relevanten Bestimmungen erfolgen, um zu erkennen, was vom Schutzbereich des Grundrechts umfasst ist und was nicht geschützt ist. Diese Interpretationsleistung wird häufig von Verfassungs- bzw. Konventionsrichtern erbracht. Darin liegt aber keine staatliche Beschränkungsmaßnahme, sondern ein Interpretationsvorgang, der mit dem Ziel vorgenommen wird, den Gehalt des Grundrechts zu erkennen. Nutzt man hierfür nun den Begriff der „Schutzbereichsbegrenzung“, kann dies irreführend sein. Der Begriff der „Schutzbereichsbegrenzung“ deutet nach allgemeinem Sprachgebrauch auf einen aktiven staatlichen Vorgang hin, bei dem eine staatliche Stelle handelt und eine geschützte Verhaltensweise beschränkt. Hier soll aber untersucht werden, ob Hassreden im Schutzbereich der Meinungsäuße-

Alexy, Der Staat 52 (2013), 87, 89. Kapries, Die Schranken der Grundrechte, S. 84. 166 Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 60 Rn. 10. 167 Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 60 Rn. 5, 10. 168 Jarass, AöR 120 (1995), 345, 370. 164 165

D. Erläuterung der Begriffsverwendungen in der vorliegenden Untersuchung31

rungsfreiheitsgarantien liegen bzw. ob begründet werden kann, dass sie nicht Teil dieses Schutzbereichs sind. Hierfür ist der Begriff der „Schutzbereichsbegrenzung“ nicht ohne Einschränkung geeignet, weil er den Eindruck eines aktiven staatlichen Begrenzungsvorgangs transportiert, der nicht gemeint ist. Inhaltlich geht es um die auch in der oben genannten Literatur beschriebenen Grenzen des Schutzbereichs, die dem Grundrecht bereits innewohnen. Hierfür sollen die Begriffe der „Schutzbereichsbegrenzung“ oder der „Schutzbereichseinschränkung“ vermieden werden, weil sie in der beschriebenen Art und Weise irreführend bzw. jedenfalls unpräzise sein könnten. In der vorliegenden Arbeit soll daher stets von einem Ausschluss der Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit gesprochen werden, womit dann gemeint ist, dass die Interpretation der relevanten Bestimmungen ergibt, dass eine Äußerung nicht im Schutzbereich des Grundrechts liegt. Wie im Abschnitt zum Untersuchungsgegenstand bereits angedeutet, umfassen die in dieser Arbeit betrachteten Äußerungen unterschiedliche Kategorien. Um ein einheitliches Verständnis dieser Kategorien und ihrer begrifflichen Zuordnung im weiteren Verlauf dieser Untersuchung herzustellen, ist es notwendig, das hier vertretene Begriffsverständnis zu erläutern. Um eine möglichst präzise rechtliche Beurteilung der Äußerungen im Einzelnen zu erreichen, wird hier leicht von dem oben erläuterten herkömmlichen Begriffsverständnis abgewichen. Zunächst ist der für diese Arbeit entwickelte Begriff der „demokratiefeindlichen“169 bzw. der „demokratiegefährdenden“ Äußerungen zu erläutern. Von der Wortbedeutung dieses Begriffs sind zunächst einmal alle Äußerungen erfasst, die in irgendeiner Art und Weise den Werten und Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft widersprechen. Hierunter könnten sowohl Äußerungen, die Prinzipien eines formellen bzw. staatsorganisationsrechtlichen Demokratieverständnisses ablehnen, als auch solche Äußerungen, die sich gegen fundamentale Prinzipien und Grundlagen eines substanziellen Demokratieverständnisses170 wenden, fallen.171 Die vorliegende Arbeit konzentriert sich aber auf letztgenannte Art demokratiefeindlicher Äußerungen. Sie beschäftigt sich nur mit jenen Äußerungen, die sich gegen Prinzipien eines substanziellen Demokratieverständnisses wenden (gegen Toleranz, Menschenwürde, Gleichheit usw.). Diese Äußerungen werden für die Zwecke der vorliegenden Arbeit als „demokratiefeindliche Äußerungen“ bezeichnet. Im Einzelnen werden von diesem Begriffsverständnis alle Äußerungen erfasst, die unter die terminologischen Ausführungen in der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats an die Mitgliedstaaten über die „Hassrede“ aus dem Jahr 1997172 subsumiert werden können. Wenn in der vorliegenden Arbeit der Begriff

Andere gebrauchen an dieser Stelle auch die Begriffe „subversive Rede“ oder „antidemokratische Rede“; vgl. hierzu Sottiaux, NQHR 2004, 858, 586. 170 Zu den Begriffen der formellen und der substantiellen Demokratie siehe unten Kapitel 2, B., I. (formelle Demokratie) bzw. II. (substantielle Demokratie). 171 Siehe hierzu Keller, Human Rights Law Journal 2016, 1 f. 172 Siehe hierzu oben Kapitel 1, C., IV. 169

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Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

der „demokratiefeindlichen Äußerungen“ gebraucht wird, so sind zum Zweck der Vereinfachung nur eben diese Äußerungen gemeint. Sind ausnahmsweise Äußerungen angesprochen, die gegen staatsorganisationsrechtliche Aspekte der Demokratie gerichtet sind, wird dies ausdrücklich klargestellt. Diese Äußerungen, die formelle Aspekte der Staatsform der Demokratie (repräsentatives oder direktes System; System der parlamentarischen Kammern usw.), kritisieren oder jedenfalls betreffen, bleiben aber grundsätzlich außer Betracht und sie sind in dieser Untersuchung nicht gemeint, wenn der Begriff der „demokratiefeindlichen Äußerungen“ verwendet wird. Der Begriff der „Hassrede“ hingegen soll für alle Äußerungen gebraucht werden, die inhaltlich diesem Verständnis unterfallen, aber nicht einem der in dieser Untersuchung isolierten Sonderfälle zuzuordnen sind. Die Begriffsverwendung unterscheidet sich in der vorliegenden Untersuchung leicht von jener in der Empfehlung des Ministerkomitees des Europarats. Dies gilt insoweit, als hier der Begriff der „Hassrede“ für die Äußerungen verwendet wird, die nicht einen der isoliert betrachteten Spezialfälle der revisionistischen, der kollektiven oder der symbolischen Äußerung darstellen. Alle Äußerungen stellen nach vorliegend vertretenem Begriffsverständnis demokratiefeindliche Äußerungen dar, der Begriff der „Hassrede“ fungiert dabei als Auffangbegriff für alle Äußerungen, die nicht einem der Sonderfälle zuzuordnen sind. Der Begriff der „Hassrede“ wird aber auch als Auffangbegriff verwendet, wenn und soweit es auf das Vorliegen eines Sonderfalls, zum Beispiel einer revisionistischen Rede, nicht ankommt. In diesen Fällen werden die Begriffe der „demokratiefeindlichen Äußerungen“ und der „Hassreden“ dann synonym gebraucht. Dies entspricht dem Begriffsverständnis, weil revisionistische Äußerungen nach hier vertretener Auffassung Spezialfälle der „Hassreden“ sind. Die Begriffe der „wehrhaften“ bzw. der „streitbaren“ Demokratie werden in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet.173 Die Begriffe „Revisionismus“ und „Negationismus“ bzw. „revionistisch“ und „negationistisch“ werden zur Beschreibung der oben inhaltlich konkretisierten Äußerungen verwendet. In Anlehnung an einen vor allem in der französischen Sprache gebrauchten Begriff („négationnisme“) kann man auch im Deutschen von Negationismus sprechen. Der Begriff des Negationismus wird in dieser Untersuchung für eine Äußerung gebraucht, die eine historische Tatsache leugnet bzw. abstreitet. Der Terminus des „Revisionismus“ wird hierzu synonym verwendet, geht aber auch darüber hinaus und wird vorliegend auch zur Beschreibung einer Äußerung gebraucht, die historische Tatsachen bzw. Verbrechen rechtfertigt, gutheißt, verharmlost usw. Eine negationistische Äußerung ist nach hier gebrauchtem Begriffsverständnis zugleich revisionistisch, eine revisionistische Äußerung kann auch negationistisch sein, sie kann aber auch von einer Leugnung der historischen Tatsache absehen, diese aber schmälern, rechtfertigen, gutheißen oder verharmlosen. Dann ist sie zwar revisionistisch, aber nicht negationistisch.

173 Siehe hierzu m. w. Nw. Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 153; zur Erläuterung des Begriffsinhalts siehe Kapitel 2, B., II.

E. Art und Gang der Darstellung33

Wenn der Begriff „Äußerung“ in der vorliegenden Arbeit verwendet wird, dann sind stets alle Äußerungsformen erfasst. Dies können schriftliche Äußerungen oder Äußerungen durch Bilder, Lieder, Filme, Flaggen, Kleidungsstile, Badges, Theateraufführungen, religiöse Riten, Symbole oder Hungerstreiks und alle anderen Ausdrucksformen sein. Nur dann, wenn explizit auf die Form der Äußerung Bezug genommen wird, ist nur diese gemeint.

E. Art und Gang der Darstellung Nach einer Einführung in die Problematik (Kap. 1) ist in einem ersten Schritt das sog. „demokratische Dilemma“ als theoretischer Ausgangspunkt der Problemstellung der Arbeit darzulegen (Kap.  2). Hierzu ist zunächst das sich in der Demokratie spezifisch ergebende Spannungsverhältnis zwischen der Äußerungsfreiheit und dem Schutz von Toleranz, Pluralismus und Offenheit darzustellen, um sodann unterschiedliche hierzu vertretene Lösungsansätze zu diskutieren. Im Anschluss soll dann festgestellt werden, welche Ansätze in den hier betrachteten Grundrechtskatalogen des europäischen Grundrechtsschutzsystems angelegt sind und Ausgangspunkt einer rechtswissenschaftlichen Bearbeitung sein müssen. Die Frage, ob die jeweilige Grundrechtsordnung „streitbar“ bzw. „wehrhaft“ ist, beeinflusst die Auslegung der relevanten Bestimmungen. Aus diesem Grund ist hier darzustellen, was das „demokratische Dilemma“ ist, welchen Lösungsweg der Wertrelativismus einerseits und der Ansatz von der „streitbaren Demokratie“ andererseits vorschlagen und welcher der beiden Ansätze in GG, GRC und EMRK jeweils zugrunde liegt. Sodann ist zum Schwerpunkt der Untersuchung überzugehen. Zunächst ist im Wege einer Analyse der relevanten Rechtsprechung der jeweiligen Gerichte zu untersuchen, ob und inwieweit diese „Hassreden“ aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausschließt (Kap.  3). Für die Rechtsprechung des EGMR, dem für die Ebene der EMRK zuständigen Rechtsprechungsorgan, ist zu untersuchen, wie die Beschränkung der Meinungsfreiheit aus Gründen der Sicherung demokratischer Werte erfolgt und welche Rolle Art.  17 EMRK dabei einnimmt. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie jene des EuGH ist, soweit vorhanden, hierzu analog in die genannten Kategorien einzuordnen und vergleichend darzustellen. Aus einer gegenüberstellenden Analyse sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf den Umgang mit „Hassreden“ in der Rechtsprechung gewonnen werden. Vor diesem Hintergrund ist sodann zu überprüfen, ob die in der Literatur vertretenen Thesen zu den Kriterien der Rechtsprechung für einen Ausschluss der Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit vor dem Hintergrund des hier ermittelten Befunds aus der Rechtsprechungsanalyse bestätigt werden können. Auf diese Weise soll die Rechtsprechungsanalyse gleichzeitig in allgemeine Aussagen über das Vorgehen der Rechtsprechung überführt und zusammengefasst werden.

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Kapitel 1: Einführung – Hassreden und die Freiheit der Meinungsäußerung

In der Arbeit werden die Äußerungen für die Rechtsprechungsanalyse in verschiedene Kategorien unterteilt. Die Gruppe der „Hassreden“ bildet dabei die Auffangkategorie für alle Äußerungen, die nicht einem der Sonderfälle zuzuordnen sind. Die hier wegen spezifischer tatsächlicher Eigenarten in der Rechtsprechungsanalyse getrennt zu betrachtenden Sonderfälle sollen jene der revisionistischen Rede, der kollektiven Äußerungen und der symbolischen Äußerungen sein. Diese zur getrennten Betrachtung herangezogenen Sonderfälle demokratiefeindlicher Äußerungen stellen eine Auswahl dar und sind nicht abschließend. Daneben könnten etwa eine Kategorie wissenschaftlicher Äußerungen oder eine solche der Äußerungen von Amtsinhabern gebildet werden. Mit dem Ziel einer thematischen Konzentration findet jedoch eine Beschränkung auf die genannten Äußerungen statt. Spezifische einzelne Erwägungen, die Äußerungen gerade wegen ihres wissenschaftlichen Charakters betreffen, werden an relevanter Stelle zwar berücksichtigt. Sie werden aber nicht in Form einer eigenen Äußerungskategorie in der Rechtsprechungsanalyse sichtbar. Außerhalb der Rechtsprechungsanalyse gelten Erwägungen für alle Kategorien der demokratiefeindlichen Äußerungen, es sei denn es wird ausdrücklich etwas anderes angegeben. Sollten einzelne Argumente nur für bestimmte Arten von demokratiefeindlichen Äußerungen gelten, wird hierauf ausdrücklich hingewiesen. Nachdem der Umgang der Rechtsprechung mit demokratiefeindlichen Äußerungen analysiert und kategorisiert wurde, folgen sodann Ausführungen zur Auslegung der für die Frage nach dem Ausschluss von „Hassreden“ aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit relevanten Bestimmungen der Grundrechtskataloge, um einen eigenen Ansatz zu entwickeln (Kap. 4). Im Rahmen allgemeiner Auslegungserwägungen sind im Einzelnen zwei Kategorien von Bestimmungen in den Blick zu nehmen. Zunächst muss betrachtet werden, welche Rolle sog. „Missbrauchsklauseln“ für den Schutzbereich der Meinungsfreiheitsgarantien spielen. Als „Missbrauchsklausel“ wird im Grundgesetz Art. 18 GG, in der EMRK Art. 17 EMRK und in der Grundrechtecharta Art. 54 GRC bezeichnet.174 In einem zweiten Schritt ist zu fragen, inwieweit die Auslegung der Grundrechtsgarantien der Meinungsäußerungsfreiheit, Art.  10 I EMRK, Art.  11 I GRC

Für Art. 17 EMRK siehe Berka, ÖZÖRV 1986, 71, 80; Beširević, in: Benedek/Benoit-Rohmer/ Karl/Nowak (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights (2012), S. 243, 248; Buyse, in: Brems/ Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 184; Cooper/Marshall Williams, EHRLR 1999, 593, 605; Harris/O‘Boyle/Warbrick, ECHR, S.  852  f.; Kugelmann, EuGRZ 2003, 533, 535; Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 317; Kučs, Journal of Ethnic and Migration Studies 2014, 301, 311; Marauhn/Merhof, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 7 Rn. 20; McGonagle, European Yearbook on Minority Issues 2010, 419, 426; Pech, La liberté d’expression, S. 82. Für Art. 54 GRC siehe Bezemek, in: Holoubek/Lienbacher (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 6; Streinz/Michl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 54 Rn. 2 f.; Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 1; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 54 Rn. 4. Für Art. 18 GG siehe Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 171; Kutscha, Verfassung und „streitbare Demokratie“, S. 121 f.; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 180; Arnold, BayVBl. 1978, 520, 522; Hönsch, Die Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG, S. 27; Schmitt Glaeser, AöR 95 (1970), 320, 321 f.

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E. Art und Gang der Darstellung35

und Art. 5 I 1 Alt. 1 GG, einen Ausschluss demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit begründen kann. Hierbei werden die Wechselbeziehungen zwischen den Grundrechtsgewährleistungsebenen des europäischen Grundrechtsschutzes berücksichtigt. Nach dieser allgemeinen Betrachtung der Begründung des Ausschlusses demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus einer Auslegung der Bestimmungen, muss dann eine Erörterung ausgewählter konkreter Begründungsansätze für die Ausgrenzung demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich erfolgen.175 Auf diese Weise sollen alle möglichen Ansatzpunkte zur Begründung des Ausschlusses demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit in den drei Grundrechtsordnungen erörtert und bewertet werden. Auf Basis dieser Erwägungen wird in einem Schlussteil (Kap. 5) eine Zusammenfassung des Ergebnisses der Untersuchung formuliert. Zudem wird in einer abschließenden Würdigung der Rechtsprechung eine Gegenüberstellung von Auslegungsbefund und Ergebnis der Rechtsprechungsanalyse vorgenommen. Abschließende Überlegungen runden die Thematik ab.

175 Es sind weit mehr Begründungen für den Ausschluss einer „Hassrede“ aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit denkbar als sie hier Erwähnung finden. Die vorliegende Untersuchung soll sich auf einige Ansätze beschränken, die häufig vorgebracht werden und deren Plausibilität nicht ohne Weiteres verworfen werden kann.

Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

Inhaltsverzeichnis A. Das Spannungsverhältnis zwischen der Sicherungder Demokratie und der Meinungsfreiheit in der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  39 I. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit und seine Rolle in der Demokratie . . . . . . . . . .  39 II.   Das „demokratische Dilemma“ im Fall des Gebrauchs der Meinungsfreiheit gegen die Demokratie���������������������������������������������������������������������������������������������������  42 B. Ansätze zur Auflösung des „demokratischen Dilemmas“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  45 I. Der Ansatz des Werterelativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  46 II. Der Ansatz der „streitbaren Demokratie“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  50 C. Die Position der Grundrechtskataloge zum Verhältniszwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und dem Schutz demokratischer Mindeststandards. . . . . . . . . . . . . . .  57  I. „Streitbare Demokratie“ in der Europäischen Menschenrechtskonvention. . . . . . . . . . .  58  II. „Streitbare Demokratie“ im Grundgesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  62 III. „Streitbare Demokratie“ im Unionsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  65 D. Zwischenergebnis zur prinzipiellen Möglichkeitdes Verbots demokratiefeindlicher Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  72

Will man die Frage des grundrechtlichen Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen erörtern, stößt man zunächst auf eine grundlegende Problematik. Die Äußerungen sind Angriffe auf die Grundlagen der demokratischen Gesellschaft. Das Problem, das sich daraus ergibt, wird häufig als sog. „demokratisches Dilemma“1 bezeichnet. Damit wird der einer Demokratie eigene Zielkonflikt zwischen dem Schutz demokratischer Grundwerte wie Toleranz und Diskriminierungsfreiheit einerseits und jenem der Meinungsfreiheit, der in einer Demokratie ebenso besondere Bedeutung zukommt, andererseits bezeichnet. Wenn Toleranz und Diskriminierungsfreiheit durch Meinungsäußerungen gefährdet werden, muss erörtert werden, ob Beschränkungen der selbst

1

Vgl. zur Terminologie etwa Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340, 363.

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2019 A. K. Struth, Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58153-7_2

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

demokratisch bedeutsamen Meinungsfreiheit zum Schutz der demokratischen Mindeststandards überhaupt begründbar sind. Ein demokratisches Gut wird zugunsten des anderen beschnitten. Ohne eine Auseinandersetzung mit diesem „Dilemma“ und den Möglichkeiten, wie damit umgegangen werden kann, erscheint eine Befassung mit den Einzelheiten des grundrechtskonformen Umgangs mit demokratiefeindlichen Äußerungen unvollkommen. Hierzu ist zunächst das sich in der Demokratie spezifisch ergebende Spannungsverhältnis zwischen der Meinungsäußerungsfreiheit und dem Schutz von Toleranz, Pluralismus und Offenheit darzustellen. Danach sind zwei unterschiedliche Ansätze zur Auflösung dessen zu diskutieren. Im Anschluss soll dann erörtert werden, ob und bejahendenfalls welcher der dargestellten Ansätze in den hier betrachteten Grundrechtskatalogen des europäischen Grundrechtsschutzsystems zu finden ist. Dieses Vorgehen dient dem Zweck, zunächst zu erörtern, ob der grundrechtlichen Freiheit prinzipiell gerade aus dem Grund Grenzen gesetzt sind, dass demokratische Mindeststandards und die demokratische Ordnung geschützt werden. Es ist zu fragen, ob grundrechtliche Freiheit allgemein und in den konkreten Grundrechtsordnungen durch den Schutz demokratischer Mindeststandards eingeschränkt ist. Dies ist Voraussetzung für die weitere Erörterung der Frage nach dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen. Die in dieser Arbeit untersuchten – für den Schutzbereich der Meinungsfreiheitsgarantien relevanten – Grundrechtsbestimmungen sind außerdem Teil des jeweiligen Systems und in diesem Licht auch auszulegen. Die Frage, ob sich der Ansatz der „streitbaren Demokratie“ in den jeweiligen Grundrechtsordnungen nachweisen lässt, ist für diese Auslegung relevant und aus diesem Grund notwendige Vorfrage zu den in weiterer Folge angestellten Auslegungserwägungen zur Frage des Ausschlusses demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Auf diese Weise wird deutlich, warum hier eine Auseinandersetzung mit den Konzepten des Werterelativismus und der „streitbaren Demokratie“ vorgenommen werden muss und warum nicht dahinstehen kann, ob der Ansatz der „streitbaren Demokratie“ in den Grundrechtsordnungen der EMRK, der Grundrechtecharta und des Grundgesetzes zu finden ist.2

Die Frage nach der „Streitbarkeit“ der Grundrechtsordnungen, insbesondere jene nach der „Streitbarkeit“ der EMRK, kann an dieser Stelle keine vollumfängliche Erörterung erfahren. Hierin liegt eine separate Fragestellung, die nicht Gegenstand dieser Untersuchung ist. Dieses Kapitel dient nur dazu, zu zeigen, dass es in allen betrachteten Grundrechtsordnungen prinzipiell zulässig ist, die Einschränkung der Meinungsfreiheit, und damit auch den Ausschluss der Äußerungen aus dem Schutzbereich des Grundrechts, mit dem Schutz grundlegender demokratischer Mindeststandards zu begründen. Dies geht aber damit einher, festzustellen, ob zumindest ein „streitbarer“ Ansatz in den Grundrechtsordnungen nachgewiesen werden kann.

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A. Das Spannungsverhältnis zwischen der Sicherung …39

A. Das Spannungsverhältnis zwischen der Sicherungder Demokratie und der Meinungsfreiheit in der Demokratie Das sog. „demokratische Dilemma“ ergibt sich aus dem Aufeinandertreffen der ­spezifischen Bedeutung des Grundrechts der Meinungsfreiheit in der Demokratie und dem Bedürfnis nach Sicherung der demokratischen Ordnung.

I. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit und seine Rolle in der  Demokratie Die Meinungsäußerungsfreiheit ist zunächst ein individuelles Freiheits- und Menschenrecht, das dem Einzelnen Selbstbestimmung und Selbstentfaltung ermöglicht und garantiert und in der Autonomie der Person seinen Ursprung findet.3 Die Äußerung einer Meinung ist unmittelbarer Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit, der grundrechtlich gesichert ist.4 Zudem, und das ist hier entscheidend, wird die Meinungsäußerungsfreiheit im europäischen Grundrechtsschutz auch als ein Grundrecht betrachtet, das für die demokratische Ordnung von herausgehobener Bedeutung ist.5 Die ständige geistige Auseinandersetzung auf dem „Marktplatz der Ideen“,6 der „Kampf der Meinungen“, wird als konstituierender Bestandteil der Demokratie angesehen.7 Der freiheitliche Staat benötigt zur Verwirklichung der demokratischen Ordnung eine

Baker, Human Liberty and Freedom of Speech, S. 59. Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 33 Rn. 38; Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, S. 20. 5 Vgl. hierzu der frühere Bundespräsident Heinemann, NJW 1962, 889 ff.: „Rechtsordnung des politischen Meinungskampfes in der verfassungsstaatlichen Demokratie“; vgl. zur Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie Kloepfer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 42 Rn. 50; Streinz in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 21 Rn. 20. 6 Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, S. 20 (der Begriff geht nach MüllerFranken auf John Stuart Mill zurück, obwohl dieser den Begriff nicht wörtlich benutzt hat; wörtlich ist der Begriff bei Oliver Wendell Holmes Jr. im Fall Abrams v. United States, 250, U. S. 616, 630 (1919) und in der zustimmenden Stellungnahme des Richters William J. Brennan im Fall Lamont v. Postmaster General, 381 U. S. 301, 308 (1965) zu finden); vgl. John Stuart Mill, Of Liberty. 7 Vgl. etwa BVerfGE 7, 198, 208 unter Hinweis auf BVerfGE 8, 85, 205 („schlechthin konstituierend“, „Lebenselement“); Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Einl. Rn.  244; Masing, JZ 2012, 585, 591  f.; Schulze-Fielitz in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 42; Wendt, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 1; das Bundesverfassungsgericht weitet diese spezifisch „konstituierende“ Bedeutung auch auf die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG aus (BVerfGE 69, 315, 344 ff.; siehe hierzu auch Müller-Franken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Art. 8 Rn. 4; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 8 Rn. 16; Gusy, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 8 Rn. 11). 3 4

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

öffentliche Meinungsbildung und – auseinandersetzung.8 Die Demokratie setzt die Meinungsfreiheit zwingend voraus, weil die demokratische Freiheit einen politischen Prozess benötigt, der ohne grundrechtliche Freiheit nicht denkbar ist;9 nur in dem Ausmaß, in dem die grundrechtliche Garantie gewährleistet wird, liegt eine demokratische Struktur vor, denn nur dort findet die für die Demokratie wesentliche politische Auseinandersetzung statt.10 Damit konstituiert der Gebrauch der Meinungsfreiheit, der Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung, die freiheitliche Demokratie zumindest mit.11 Die Eigenart der Demokratie ist nicht Harmonie und Identität, sondern Pluralismus, Konflikt und Meinungsverschiedenheit.12 Besondere Bedeutung kommt der Meinungsfreiheit bei der Gewährleistung von Minderheitenrechten, die für demokratische Strukturen wesentlich sind, zu. Minderheiten sind auf eine grundrechtlich gewährleistete Redefreiheit angewiesen, um ihre von der Mehrheit abweichende Ansicht zum Ausdruck bringen zu können.13 Die Demokratie wird dadurch gekennzeichnet, dass es grundsätzlich keine unabänderlichen Elemente in der Gesellschaft gibt und eine Revisibilität einmal getroffener Entscheidung der Mehrheit stets gegeben sein muss, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse ändern. Damit sich Mehrheitsverhältnisse aber ändern können, muss es den freien Austausch von Ideen geben, in dem sich die pluralistische Vielfalt und der Dissens entfalten können.14 In den Bestimmungen des Grundgesetzes kommt ein grundsätzliches Vertrauen des Verfassungsgesetzgebers auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung und den Meinungspluralismus als Voraussetzung der freiheitlichen Demokratie zum Ausdruck.15 Der Wesensgehalt der politischen Grundrechte, somit u. a. der

8 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 34 Rn. 19; Wendt, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 1; Tinnefeld/Knieper, MMR 2016, 156. 9 Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, S.  162  f., 167; Schulze-Fielitz in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 43. 10 Siehe hierzu BVerfG, 17. 1. 2017, 2 BvB 1/13 Rn. 524; Schulze-Fielitz in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 40; Frowein, EuGRZ 2008, 117; Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, S. 26; Bull, in: FS BVerfG, S. 163, 164. 11 BVerfGE 42, 54, 60, 61, 62; Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, S. 27; Frowein in: Karl/Berka (Hrsg.), Medienfreiheit, Medienmacht und Persönlichkeitsschutz, S. 17 ff.; Frowein, AöR 105 (1980), 169, 171. 12 Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S.  77; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD I, S. 619; Schulze-Fielitz in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 47. 13 BVerfGE 33, 1, 15; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920), in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), S. 1, 9; Schuppert, EuGRZ 1985, 525, 526; Zippelius, NJW 1998, 1528, 1529; Brugger, JA 2006, 687; Bezemek, JRP 2012, 253, 254; Müller, EuGRZ 1983, 337, 342; Brugger, VVDStRL 63 (2004), 103, 134; Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 3. 14 Dreier, in: Walter/Zeleny (Hrsg.), S. 13, 30; vgl. hierzu das Zitat, welches Voltaire zugeschrieben wird: „Ich lehne ab, was Sie sagen, aber ich werde Ihr Recht, Ihre Meinung zu äußern, bis zum letzten verteidigen“. Es handelt sich dabei aber wohl nicht um ein wörtliches Zitat (siehe hierzu Lee, The Cost of Free Speech, S. 3). 15 Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 173; Fohrbeck, Wunsiedel, S. 19.

A. Das Spannungsverhältnis zwischen der Sicherung …41

Meinungs- und Versammlungsfreiheit, gehört nach herrschender Auffassung zum Kern des Demokratieprinzips.16 Auch der EGMR erkennt in ständiger Rechtsprechung an, dass die Meinungsfreiheit eine der essenziellen Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft sowie grundlegende Bedingung für ihren Fortschritt und für die Entwicklung des Einzelnen sei.17 Teilweise wird diese Aussage des Gerichtshofs als Grundannahme der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK angesehen.18 Art.  10 EMRK wird auch als „Europe‘s First Amendment“ bezeichnet.19 Für die Unionsrechtsordnung gilt dies in ähnlicher Weise.20 Die Meinungsäußerungsfreiheit ist eines der bedeutendsten Schutzgüter demokratischer Systeme. Gleichzeitig kann sie aber auch zur größten Gefahr für ein demokratisches System werden, wenn politische oder gesellschaftliche Agitation im Rahmen der Grundrechtsausübung gegen die Fundamente dieses Systems gerichtet werden.21 Die Beschränkung der so gearteten Ausübung des Grundrechts der Meinungsfreiheit zum Schutz anderer Schutzgüter demokratischer Systeme führt zu einer Situation, in der bedeutende Schutzgüter der Demokratie für andere bedeutende Schutzgüter der Demokratie zurücktreten sollen. Dies führt in das sog. „demokratische Dilemma“: Wenn die Meinungsfreiheit in der Demokratie notwendig ist, wie kann es dann zugleich auch ihre Einschränkung sein? Kann man die Notwendigkeit der Beschränkung einer Freiheitsgewährleistung zum Schutz der Demokratie rechtfertigen, obwohl Wesen der Demokratie gerade diese Freiheitsgewährleistung ist? Wie kann der Gebrauch der Meinungsäußerungsfreiheit zugleich Grundlage und Gefahr für die demokratische Ordnung sein?22 Daraus entsteht ein Zielkonflikt, weil in der Demokratie eigentlich sowohl demokratische Mindeststandards wie Toleranz und Diskriminierungsfreiheit als auch die Meinungsfreiheit geschützt werden müssten. Dieses „Dilemma“ soll im Folgenden erläutert werden.

Haratsch, in: Sodan (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 79 Rn. 39. EGMR, 7. 12. 1976, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5493/72, Z. 49: „(…) The Court's supervisory functions oblige it to pay the utmost attention to the principles characterising a "democratic society". Freedom of expression constitutes one of the essential foundations of such a society, one of the basic conditions for its progress and for the development of every man. (…)“. 18 Oetheimer, L’harmonisation de la liberté d’expression en Europe, S. 60. 19 Voorhoof, Inter-American and European Human Rights Journal 2 (2009), 3, 5. 20 Von Coelln, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 11 Rn. 6. 21 Schneider, Güterabwägung, S. 139. 22 Vgl. hierzu Mazor, in: Sajó (Hrsg.), Abuse, S. 295, 308: „Rights exist to protect people from abuse. Rights are one of the sources of abuse.“; Dyzenhaus, in: Sajó (Hrsg.), Militant Democracy, S. 15: „How far can democracy go in protecting itself without compromising its democratic nature?“. 16 17

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

II. Das „demokratische Dilemma“ im Fall des Gebrauchs der Meinungsfreiheit gegen die Demokratie Das sog. „demokratische Dilemma“ wird auf drastische Weise jedem unzweifelhaft vor Augen geführt, wenn man sich ein Zitat ins Gedächtnis ruft. Joseph Goebbels gebrauchte in der Zeit des Nationalsozialismus folgenden Satz: „Es wird immer einer der besten Witze der Demokratie bleiben, dass sie ihren Todfeinden die Mittel selber stellte, durch die sie vernichtet wurde“.23 Der tragische Umstand, der darin zum Ausdruck kommt, ist, dass „die Feinde der Demokratie (…) frühzeitig erkannt [hatten], dass sich ihnen unter dem schützenden Dach von Grundrechten und rechtsstaatlichen Verfahren die Möglichkeit bot, die Demokratie und demokratische Toleranz legal zu beseitigen“.24 Häufig wird das „demokratische Dilemma“ auch mit einem pointierten Satz zweifelhafter Herkunft25 beschrieben, der den Konflikt, dem man hier begegnet – zumindest für den ersten Zugriff – illustriert: „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit!“26 Teilweise wird dieser Zielkonflikt auch mit dem Ausdruck „Paradox der Freiheit“ bezeichnet.27 Bei der Frage nach dem Verbot oder der Einschränkung demokratiefeindlicher Äußerungen werden wie in kaum einem anderen Bereich die Wechselbezüglichkeiten zwischen Freiheit und Demokratie sichtbar.28 Zugespitzt formuliert Böckenförde der freiheitliche Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne, ohne seine Freiheitlichkeit in Frage zu stellen.29

Josef Goebbels, Der Angriff, in: Aufsätze aus der Kampfzeit, München (1935), S. 61 zitiert nach Fox/Nolte, Intolerant Democracies, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1; ebenso in: Bracher/Funke/Jacobsen (Hrsg.), Nationalsozialistische Diktatur, S. 16. 24 Becker, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167, S. 312; vgl. Schambeck, in: FS Schmitt Glaeser, S. 75, 97. 25 Der Satz wird Louis-Antoine-Léon de Saint-Just de Richebourg zugeschrieben, einem fanatischen Jakobiner sowie Kopf und Mitglied des Wohlfahrtskomitees der französischen Revolution (Mandt, in: FS Sternberger, S. 233, 240). Er soll den Satz auf dem Höhepunkt des jakobinischen Terrors Anfang der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts geäußert haben (Hoffmann-Riem, NJW 2004, 2777, 2781). Daher wird häufig zu Vorsicht im Umgang mit diesem Satz gemahnt (Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 92). Aus rechtsstaatlicher Perspektive wird zu Recht zur Vorsicht aufgerufen (so etwa Hoffmann-Riem, NJW 2004, 2777, 2782). 26 Siehe hierzu Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 3 mwN; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 10. 27 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1977), S. 358 f. 28 Vgl. hierzu Bauer, Der völkerrechtliche Anspruch auf Demokratie, S. 43 f.; vgl. auch zu den Diskussionen bei Entstehung des Art. 20 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, der Möglichkeiten zur Einschränkung der Meinungsfreiheit in Fällen von Kriegspropaganda, Hass und Aufstachelungen zu Diskriminierungen regelt, Nowak, CCPR, Art. 20 Rn. 8.; so auch EGMR, 16. 3. 2006 (GK), Ždanoka ./. Lettland, Nr. 58278/00, Z. 100; EGMR, 2. 10. 2008, Leroy ./. Frankreich, Nr. 36109/03, Z. 37. 29 Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat (1978), S. 37. 23

A. Das Spannungsverhältnis zwischen der Sicherung …43

Bei dem Versuch, totalitärer Bedrohung entgegenzutreten, sieht sich der demokratische Staat vor dem angedeuteten „demokratischen Dilemma“: verwehrt er dem sich äußernden Individuum den Gebrauch der demokratischen Freiheitsrechte zur Zerstörung der Freiheit, stellt er sich selbst in Widerspruch zu den Grundsätzen, auf denen das eigene System beruht; gewährt er der sich äußernden Person die Freiheitsrechte wie jedem anderen, gefährdet er die eigene Existenz.30 Der demokratische Staat, der sich gegen einen Gebrauch demokratischer Freiheit zum Ziel der Zerstörung der Freiheit zur Wehr setzt, indem er der antidemokratischen Agitation Grundrechte aberkennt, verstößt – so könnte man jedenfalls prima facie annehmen  – gegen die fundamentalen Grundsätze der Freiheit und Gleichheit.31 Gleichermaßen verletzt er aber grundlegende Prinzipien der demokratischen Ordnung, wenn er seine eigene Existenz dadurch gefährdet, dass er antidemokratische Kräfte wirken lässt. Auf diese Weise gefährdet er die Freiheit aller anderen.32 Zum Schutz der Demokratie werden Grundsätze der Demokratie preisgegeben.33 Die Freiheit wird um der Freiheit willen eingeschränkt,34 und zwar unabhängig davon, wie die demokratische Ordnung sich entscheidet – verbietet sie die Äußerung, schränkt sie die Meinungsfreiheit des Einzelnen um der Freiheit aller anderen willen ein, verbietet sie die Äußerung nicht, schränkt sie die Freiheit aller zugunsten der Freiheit des Äußernden ein. Die Entscheidung gegen antidemokratische Äußerungen gerade wegen ihres antidemokratischen Charakters vorzugehen, betrifft grundsätzliche Schwierigkeiten der Begrenzung politischer Grundrechte zum Selbstschutz der demokratischen

Loewenstein, Verfassungslehre (2000), S. 348 f.: „Bei dem Versuch, der totalitären Bedrohung ihrer eigenen Werte und ihrer Existenz schlechthin zu begegnen, sieht sich der konstitutionelldemokratische Staat vor das größte Dilemma seit seiner Entstehung gestellt. Entschließt er sich, Feuer mit Feuer zu bekämpfen und den totalitären Angreifern den Gebrauch der demokratischen Freiheiten zur letztlichen Zerstörung aller Freiheiten zu verwehren, handelt er gerade den Grundsätzen der Freiheit und Gleichheit zuwider, auf denen er selbst beruht. Hält er aber an den demokratischen Grundwahrheiten auch zugunsten ihrer geschworenen Feinde fest, setzt er seine eigene Existenz aufs Spiel.”; Gusy, AöR 105 (1980), 279, 280 f.; Brems, Journal of Human Rights 2002, 481, 482. 31 Vgl. Ridder, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, S. 243, 286; Brems, Journal of Human Rights 2002, 481, 482. 32 Boventer, Grenzen politischer Freiheit, S. 18; Wassermann, NJW 2000, 3760, 3761; Schambeck, in: FS Schmitt Glaeser, S. 75, 101; Sichert, DÖV 2001, 671, 672; Loewer, in: Hillgruber/Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre GG, S. 65, 76; Morlok, NJW 2001, 2931 ff.; Morlok, Jura 2013, 317 f. 33 Vgl. BVerfGE 1, 46; siehe auch Morlok, NJW 2001, 2931, 2932: „das mag wie Suizid aus Angst vor dem Tod erscheinen“; vgl. hierzu ähnlich Von Simons, VVDStRL 29 (1971), 3, 19; Pfersmann, in: Sajó (Hrsg.), Militant Democracy, S. 47, 68; Rühl, NVwZ 2003, 531, 534; Volkmann, DÖV 2007, 577, 579; Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S.  631; vgl. hierzu Sondervotum Simon zu BVerfGE 63, 298, 310; siehe hierzu Alexiou, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 145, 146: „Wenn aber die Liebe zur Demokratie dazu führt, die Bürger von der Ausübung ihrer Grundrechte abzuhalten, weil sonst die Gefahr besteht, dass sie als Feinde der Demokratie qualifiziert werden, dann sollten wir den Gegenstand der Liebe neu definieren und ihm einen weniger täuschenden Namen geben“. 34 Dreier, JZ 1994, 741; Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340, 363 ff.; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 3; Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 267. 30

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

Ordnung.35 Letztlich handelt es sich um die Beschränkung der grundrechtlichen Freiheit wegen ihrer Inhalte.36 Zugespitzt wird die demokratische Dimension der Problematik dann, wenn man davon ausgeht, dass die antidemokratische Haltung, die in einer Äußerung zum Ausdruck kommt, einstimmige Zustimmung in der Bevölkerung und unter den Repräsentanten dieser erlangt. Teilweise wird die Beschränkung eines solchen Äußerungsinhalts als absolutistisch bezeichnet.37 In der Konsequenz muss gefragt werden, wer die Maßstäbe definiert, nach denen „Freunde“ von „Feinden“ der Demokratie unterschieden werden.38 Wie bereits angedeutet, ist es zentrales Anliegen der Demokratie, und insbesondere der Meinungsfreiheit, Minderheiten zu schützen. Zu den Minderheiten zählen aber auch jene, die unpopuläre politische Meinungen, und seien es rassistische, fremdenfeindliche oder diskriminierende Meinungen, vertreten. Gibt die Demokratie den Schutz dieser Minderheiten auf, gibt sie ein zentrales demokratisches Prinzip auf.39 Andererseits besteht in einem System, in dem grundrechtliche Freiheiten nicht zum Schutz grundlegender demokratischer Werte eingeschränkt werden, die Gefahr, dass das System selbst zur Errichtung einer anderen Ordnung genutzt wird. Wenn grundrechtliche Freiheiten zur Verteidigung der Demokratie eingeschränkt werden, besteht aber die Gefahr, dass das System seinen demokratischen Charakter verliert.40 Das demokratische Prinzip und die Grundrechte gefährden sich potenziell gegenseitig.41 Die Demokratie gerät in den Zwiespalt zwischen der Verbürgung politischer Grundrechte und der Sicherung der eigenen Existenz oder zumindest grundlegender demokratischer Standards.42 Alle Entscheidungen, die zwischen diesen beiden Polen stattfinden  – letztlich alle Maßnahmen, die demokratiefeindliche Äußerungen einschränken oder verbieten43  – liegen in einem Grenzbereich freiheitlicher Demokratie und stellen selbst einen Grenzfall dar.44 35 Boventer, Grenzen politischer Freiheit, S.  44; Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 9, 11. 36 Dreier, JZ 1994, 741, 742. 37 Dreier, JZ 1994, 741, 742. 38 Denninger, JZ 1975, 545, 548; Denninger, Staatsrecht, S. 84. 39 Loewenstein, Verfassungslehre (2000), S.  351; Selmer, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Missbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S.  21, 34  f.; Efstratiadis, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S.  163, 164; Aláez Corral, ICL Journal 2013, 275. 40 Pfersmann, in: Sajó (Hrsg.), Militant Democracy, S. 48. 41 Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 33, S. 15; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 41; Selmer, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Missbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 21, 34 f.; Müller, Grundrechte in der Demokratie, EuGRZ 1983, 337, 339. 42 Scheuner, in: FS Kaufmann, S. 323, 315; Brüning, Der Staat 41 (2002), 213, 215. 43 Etwa auch die Frage nach dem Verbot einer rechtsextremistischer Versammlung (vgl. hierzu Brüning, Der Staat 41 (2002), 213, 217). 44 Ähnlich Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S.  267: „schmaler Grat“.

B. Ansätze zur Auflösung des „demokratischen Dilemmas“45

Weil es sich bei demokratiefeindlichen Äußerungen meist um diskriminierende, fremdenfeindliche, rassistische oder ähnliche Stellungnahmen handelt, denen allen das Merkmal der Intoleranz gemein ist, entsteht neben dem sog. „Paradox der Freiheit“ noch ein anderer Konflikt in der demokratischen Ordnung, in der Toleranz ebenso fundamentaler Wert ist,45 das sog. „Paradox der Toleranz“.46 Es ist Konsequenz aus der Toleranz gegenüber dem Intoleranten; in einer toleranten Gesellschaft kann der Intolerante einen Vorteil aus der breiten Akzeptanz der freien Rede ziehen und extremistische Rede verbreiten; und wenn diese Ansichten für eine breite Zuhörerschaft überzeugend sind, kann der Intolerante die Macht ergreifen und die Toleranz abschaffen. Daher ist die entscheidende Frage: kann eine Gesellschaft, die tolerant bleiben will, tolerant gegenüber allem sein? Oder muss sie, um sich selbst zu schützen, intolerant gegenüber dem Intoleranten sein?47 Jedenfalls muss beantwortet werden, wo die Grenzen der Toleranz gegenüber Ideen sind, die die Toleranz selbst als grundlegendes Prinzip der demokratischen Ordnung angreifen.48 Neben der Toleranz kann das „Dilemma“ auch für den Pluralismus als einzelnen demokratischen Wert beschrieben werden. Demokratie verlangt Pluralismus. Gleichzeitig kann Pluralismus aber zu Friktionen zwischen den einzelnen demokratisch Agierenden führen und diese können die Demokratie wiederum bedrohen.49 Zum Umgang mit diesem sog. „Dilemma“ sollen im Folgenden zwei Ansätze dargestellt werden.

B. Ansätze zur Auflösung des „demokratischen Dilemmas“ Zum Umgang mit dem sog. „demokratischen Dilemma“ sind zwei Ansätze ­vorgeschlagen worden. Das Spannungsverhältnis könnte entweder mit Hilfe des Konzepts des Werterelativismus oder anhand des Ansatzes von der „Wert- und Streithaftigkeit“ der Demokratie aufgelöst werden.

Die demokratische Theorie geht davon aus, dass der freie Wettbewerb unterschiedlicher Meinungen in der Gesellschaft notwendig ist. Die Ethik der Toleranz macht erst alle anderen Charakteristika der Demokratie möglich, wie Meinungsfreiheit, Opposition, friedliche Machtübergaben usw. So wird die Ethik der Toleranz primäre Forderung demokratischer Systeme (Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 14); vgl. hierzu auch EGMR, 7. 12. 1976, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5493/72, Z. 49. 46 „paradox of tolerance“ (Popper, The Open Society and its Enemies (1966), S. 265); Rawls, A Theory of Justice, S. 190 ff.; Schauer, Free Speech, S. 160 ff.; Rosenfeld, Harvard Law Review 100 (1987), 1457. 47 Rosenfeld, Cardozo Law Review 18 (1996), 97, 137; Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 14. 48 Pech, La liberté d’expression, S. 253. 49 Dinstein, Israel Yearbook on Human Rights 26 (1996), 1, 14. 45

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

I. Der Ansatz des Werterelativismus Nach Hans Kelsen ist die Demokratie eine relativistische Staatsform.50 Der Relativismus bzw. Werterelativismus sei notwendige Weltanschauung der Demokratie.51 Von einigen wird der Relativismus als logische Voraussetzung des demokratischen Systems und des demokratischen Gedankens betrachtet.52 Der Relativismus beschreibt eine Weltanschauung, die den politischen Willen jedermanns gleich einschätzt, egal welchen politischen Glaubens oder welcher politischen Meinung die Person ist.53 Der Wert der Demokratie liege in ihren Widersprüchen, der einzige Schutz der Demokratie sei ihre vollumfängliche Anwendung ohne Grenzen und absolute Werte.54 Kelsen führt aus, gerade gegenüber der Diktatur enthülle die Demokratie ihr tiefstes Wesen und zeige sie ihren höchsten Wert. Sie schätze den politischen Willen jedermanns gleich ein und müsse deshalb jede politische Meinung gleichermaßen achten.55 Die gegenteilige Meinung müsse man für möglich halten, wenn man auf die Erkenntnis eines absoluten Werts verzichte. Der Relativismus gebe jeder politischen Überzeugung die gleiche Möglichkeit, sich zu äußern und im freien Wettbewerb um die „Gemüter der Menschen“ zu kämpfen.56 Der politische Absolutismus sei abzulehnen.57 Die Minderheit müsse jederzeit zur Mehrheit werden können und mit Rechten ausgestattet sein.58 Absolute Werte eines Systems ließen sich nur mit einer religiös-metaphysischen These begründen, der zufolge das Volk auf eine übernatürliche Weise in den Besitz der Wahrheit gelangt sei. Eine solche Vorstellung sei jedoch unmöglich.59 Eine derartige metaphysisch-absolutistische Weltanschauung sei einer Autokratie, nicht aber einer Demokratie zuzuordnen, der eine kritisch-relativistische Haltung zugrunde liege.60 Gehe man davon aus, dass

Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie, S.  101; so auch Calligas, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 151, 152. 51 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 101 f.; vgl. ähnlich auch bereits Jellinek, Revolution und Reichsverfassung, JöR 9 (1929), 108. 52 Radbruch, in: Wolf/Schneider (Hrsg.), Gustav Radbruch – Rechtsphilosophie, S. 79, 82; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 101 f. 53 Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie, S. 101. 54 Calligas, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 151, 152. 55 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 101. 56 Vgl. Schambeck, in: FS Schmitt Glaeser, S. 75, 86. 57 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920), in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, S. 1, 31. 58 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (1920), in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, S. 1, 32. 59 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (1929), in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, S. 149, 224. 60 Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie (1929), in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, S. 149, 225. 50

B. Ansätze zur Auflösung des „demokratischen Dilemmas“47

menschlicher Erkenntnis nur relative Werte zugänglich seien, könne der zur Verwirklichung dieser Werte notwendige Zwang nur dadurch gerechtfertigt werden, dass er die Zustimmung der Mehrheit jener habe, für die die Zwangsordnung Geltungsanspruch erhebe.61 In der Konsequenz sei nach wertrelativistischem Ansatz Toleranz selbst gegenüber solchen Bewegungen zu üben, die sich offen als antidemokratische Gruppierung erkennen ließen. Gerade in dieser Offenheit liege die Garantie der demokratischen Ordnung.62 Das wertrelativistische Modell laufe darauf hinaus, absolute demokratische Toleranz zu akzeptieren.63 Die absolute Offenheit des Systems bedeute dabei nicht bloß, dass jedes politische Anliegen geäußert und verfolgt werden dürfe, sondern auch, dass fundamentale Prinzipien abgeschafft werden dürften, wenn eine Mehrheitsentscheidung dies vorgebe. Allein Mittel der Gewalt dürften nicht eingesetzt werden, um das Ziel zu erreichen.64 Alle Freiheiten würden nach dieser Auffassung auch für die der Demokratie feindliche Partei gelten, da die radikale Opposition ein Bedürfnis der so verstandenen Demokratie sei.65 Das Konzept des Werterelativismus wird teilweise mit einem formellen Demokratieverständnis verbunden. Die Demokratie sei inhaltlich nicht gebunden, sondern der Begriff der Demokratie sei neutral und beinhalte nur die formelle Gewährleistung bestimmter Verfahrensweisen.66 Konsens bestehe nur über die Methoden der Entscheidungsfindung, nicht jedoch über eine inhaltliche Ausrichtung irgendeiner Art. 67 Auch der Toleranzbegriff sei formaler Natur.68 Toleranzgrenzen würden lediglich durch formelle, verfahrensmäßige Regeln ersetzt, sodass die alleinige Verpflichtung darin bestehe, die formellen Spielregeln des demokratischen Willensbildungsund Entscheidungsprozesses zu respektieren und die Verfahrensordnungen zur Änderung oder Beseitigung bestehenden Rechts einzuhalten.69 Umgekehrt bedeute dies, dass jedes beliebige Ziel angestrebt werden dürfte, so auch die Beseitigung der demokratischen Ordnung und die Errichtung eines totalitären Systems.70 Dabei müssten nur die Verfahrensregeln eingehalten werden, die insbesondere gewaltsame Mittel ausschlössen.71 Die Gewaltgrenze trete als wertneutrales Kriterium der Toleranzgrenze auf, das sich jeder inhaltlichen Bewertung von Ideen und Betätigungen

Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932), in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, S. 229, 236. 62 Vgl. Sinzheimer, Die Justiz 4 (1928/29), 517. 63 Boventer, Grenzen politischer Freiheit, S. 58. 64 Emek, Parteiverbote, S. 92. 65 Sinzheimer, Die Justiz 4 (1928/29), 517. 66 Fox/Nolte, in: Fox/Roth (Hrsg.), Democratic Governance and International Law, S. 389, 400 f.; Brems, Journal of Human Rights 2002, 481, 482. 67 Boventer, Grenzen politischer Freiheit, S.  55; Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 211 f. 68 Mandt, in: FS Sternberger, S. 233, 238. 69 Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 207 f. 70 Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 207 f. 71 Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 207 f. 61

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

enthalte.72 Die Demokratie gebe ein Verfahren und einen Rahmen für die Entscheidungsfindung, schreibe aber die Entscheidung selbst nicht vor.73 Der einzige Weg, legitime Autorität zu erlangen, sei ein prozessualer Mechanismus, der jeder individuellen Meinung Effektivität verleihe, wie das Mehrheitsprinzip als bestes, realistisch einsetzbares Verfahren. Eine solche formelle Demokratie kenne die Möglichkeit, sich selbst abzuschaffen, wenn das Verfahren geachtet werde.74 Derartige politische Strukturen hätten in Zeiten einer Krise begrenzte Möglichkeiten, die Demokratie zu schützen und zu verteidigen. Ungeachtet dessen könne der politische Wille zur Unterstützung der Demokratie gestärkt werden, wenn Alternativen verstanden und diskutiert würden.75 Der Werterelativismus sei bereit, der Mehrheit im Staat stets die Führung und Herrschaft zu überlassen, gleich welcher politischen Auffassung diese sei.76 Die Demokratie sei nach wertrelativistischem Ansatz, so führt es Kelsen aus, diejenige Staatsform, „die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehrt“.77 Es sei ihr tragisches Schicksal, so Kelsen weiter, dass sie auch „ihren ärgsten Feind an ihrer eigenen Brust nähren“ müsse, denn bleibe sie sich treu, müsse sie auch eine auf Vernichtung der Demokratie gerichtete Bewegung dulden und dieser wie jeder anderen politischen Überzeugung die gleiche Entwicklungsmöglichkeit gewähren. Eine Demokratie hingegen, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten versuche oder sich gar mit Gewalt zu verteidigen versuche, habe aufgehört Demokratie zu sein. Eine Volksherrschaft könne, so Kelsen, nicht gegen das Volk bestehen bleiben. Wer für die Demokratie sei, dürfe sich nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken lassen und zur Diktatur greifen, um die Demokratie zu retten. Man müsse „seiner Fahne treu bleiben, auch wenn das Schiff sinkt“. Es bleibe nur die Hoffnung, dass das „Ideal der Freiheit unzerstörbar ist“ und dass es, „je tiefer es gesunken ist, um so leidenschaftlicher wieder aufleben wird“. Kelsen geht davon aus, die Grenzen der Demokratie seien überschritten, wenn man Intoleranten keine Toleranz und antidemokratischen Bewegungen keine demokratischen Partizipationsrechte einräume.78 Das Konzept des Werterelativismus gründet auf der Einsicht, es sei unmöglich, bestimmte Grundwerte des Zusammenlebens in der Gemeinschaft wissenschaftlich zu ermitteln; die Wahl der Grundwerte wäre dann allein individueller Beliebigkeit

Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 211 f., der die Wertneutralität des Kriteriums der Gewalt und der Friedlichkeit jedoch bestreitet. 73 Hierzu und zum Folgenden Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 14 f. 74 Hierzu und zum Folgenden Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 16. 75 Siehe hierzu auch Bofill, in: Liber Amicorum Häberle, S. 389, 390 f. 76 Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 84; Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, S. 53 ff., 98 ff.; Schliesky, in: HStR XII, § 277 Rn. 9. 77 Hierzu und zum Folgenden Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932), in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, S. 229, 237. 78 Vašek, in: Förster/Lemke (Hrsg.), Die Grenzen der Demokratie, S. 141. 72

B. Ansätze zur Auflösung des „demokratischen Dilemmas“49

überantwortet. Diese Sichtweise hat Auswirkungen auf das Verständnis von einem Staat. Das unbeschränkte Entscheidungsrecht der Mehrheit ist einzige Größe in einer solchen demokratischen Ordnung. Was wahr und richtig ist, stellt sich erst im demokratischen Prozess heraus und steht nicht bereits im Vorhinein als Ergebnis fest.79 Der Werterelativismus ist dabei jedoch nicht mit einem Wertnihilismus zu verwechseln, denn der Einzelne soll nach diesem Ansatz nicht daran gehindert sein, nach seinen eigenen grundlegenden Überzeugungen zu handeln.80 Der Ansatz des Werterelativismus ist eng verbunden mit der Idee des free marketplace of ideas.81 Die verschiedenen Ansichten sollen sich danach im freien Spiel der Kräfte begegnen.82 Aus der Auseinandersetzung aller verschiedenen Ansichten in diesem freien Austausch könne sich das Richtige ergeben. Die Fähigkeit zur Diskussion mit jeder Ansicht, auch abseitigem Gedankengut, müsse erhalten bleiben. Als historischer Anwendungsfall einer wertrelativistischen demokratischen Ordnung wird die Weimarer Republik genannt.83 Nach Kelsen war die Weimarer Verfassung die „demokratischste Verfassung der Welt“.84 Die Vorstellung inhaltlicher Verfassungswidrigkeit politischer Ziele war der Weimarer Verfassung ihrem Wortlaut nach fremd.85 Prominenter Gegner dieser Sichtweise allgemein und in Bezug auf die Auslegung der Weimarer Verfassung war Carl Schmitt.86 Schon in den späten 1920er Jahren wandte er sich gegen dieses Verständnis von der relativistischen Natur der

Volkmann, DÖV 2007, 577, 578. Dreier, in: Walter/Zeleny (Hrsg.), S. 13, 21. 81 Baker, Human Liberty and Freedom of Speech, S. 6 ff. 82 Hierzu und zum Folgenden Lasson, Columbia Human Rights Law Review 17 (1985), 11, 42. 83 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 25; Dürig/Klein in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 6; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Einl. Rn. 241; Wittreck in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 26; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD I, § 16, S. 558, Schliesky, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 277 Rn. 10; Schindler, in: FS Schneider, S. 487, 490; Von Arnim, Staatslehre, S. 112; Dreier, JZ 1994, 741, 747; teilweise wird die Behauptung, dass die Weimarer Reichsverfassung kein Streitbarkeitsprinzip kannte und neutral „bis zur Selbstaufgabe“ gewesen sei, jedoch relativiert (Gusy, Weimar – die wehrlose Republik?, S. 27 ff., 45 f., 92 ff., der mit Nachweisen die These vertritt, dass die Verfassung Regelungen zum Schutz der Republik und damit der Verteidigung kannte, diese jedoch aus politischen Gründen nicht angewendet wurden; ähnlich Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 143; siehe auch ähnlich Mandt, in: FS Sternberger, S. 233, 239). 84 Kelsen, Verteidigung der Demokratie (1932), in: Jestaedt/Lepsius (Hrsg.), Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, S. 229. 85 Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340, 343. 86 In Bezug auf die Rolle der Thesen Carl Schmitts ist zu berücksichtigen, dass seine Theorie nicht auf demokratische Verfassungen beschränkt war. Schmitt war nach seiner Tätigkeit für die Wahrung der demokratischen Institutionen unter Hindenburg und nach der Machtergreifung Hitlers juristischer Verteidiger des Regimes der Nationalsozialisten. Die Validität seiner theoretischen Argumentation ist vor dem Hintergrund dieses Lebenslaufes zu beurteilen (vgl. Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 20). 79 80

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

Demokratie.87 Die relativistische Auslegung der Weimarer Verfassung bedeute eine „Neutralität bis zum Selbstmord“, jede Verfassung kenne „grundlegende Prinzipien“, die als ein „unveränderliches Verfassungssystem“ nicht legal beseitigt werden könnten.88 Die Weimarer Verfassung habe die Abschaffung von Demokratie und Rechtsstaat nicht durch einfache Mehrheit, sondern allein durch einen „neuen Akt der verfassungsgebenden Gewalt des deutschen Volkes“ zugelassen.89 Auch andere Stimmen lehnten den Relativismus als Weltanschauung der Demokratie ab, eine Bindung der Bürger an bestimmte Werte sei als Gegengewicht zu der in der Demokratie verwirklichten Freiheit und Gleichheit notwendig.90 Möglicherweise habe nicht jede Meinung die gleiche Berechtigung, auf dem freien Markt der Ideen geäußert und diskutiert zu werden.91

II. Der Ansatz der „streitbaren Demokratie“ Der zweite Ansatz ist das Konzept der sog. „streitbaren Demokratie“92 bzw. der „militant democracy“.93 Aus der Erfahrung der Bedrohung der Demokratie in Europa während des Nationalsozialismus entstand eine Diskussion darüber, ob und inwieweit Freiheitsbegrenzungen zum Schutz des demokratischen Systems legitimiert werden könnten.94 Vor dem Hintergrund der Eindrücke der Machtergreifung der Nationalsozialisten entwickelte sich die Idee des Schutzes der Substanz der demokratischen Ordnung durch gesetzliche Maßnahmen.95 Die Erschütterung des liberalen Glaubens, das freie Spiel der Kräfte auf dem Markt der Meinungen gewährleiste automatisch die Demokratie, führte zu dieser Neuausrichtung.96 Gustav Radbruch,

Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 113. Schmitt, Verfassungslehre, S. 163; Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 16. 89 Schmitt, Verfassungslehre, S. 163. 90 Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, S. 135 ff., 141. 91 Kretzmer, Cardozo Law Review 8 (1987), 445, 475; vgl. die Konzeption des „free marketplace of ideas“ der US-amerikanischen Verfassung, die mit der Theorie des Werterelativismus zumindest einige Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten hat, als aktuelles Anwendungsbeispiel (siehe hierzu Pech, La liberté d’expression, S. 404 ff.; Michael/Morlok, Grundrechte Rn. 641). 92 Begriff nach Mannheim, Diagnose unserer Zeit, S. 13 ff., 17 f, 88 ff.; teilweise wird auch der Begriff der „wehrhaften Demokratie“ synonym verwendet (vgl. etwa Jahrreiß, in: FS Thoma, S. 71, 91; BVerfGE 63, 266, 286 ff.; Bulla, AöR 98 (1973), 340, 341 f.; Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, S. 8 f.); teilweise wird auch der Begriff der “abwehrbereiten Demokratie” verwendet (Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 490). 93 Loewenstein, American Political Science Review 1937, 417, 638; später Loewenstein, Verfassungslehre (1969), S. 348 ff. 94 Vgl. Schefold/Tsatsos/Morlok, in: Tsatsos/Schefold/Schneider (Hrsg.), Parteienrecht, S. 752. 95 Loewenstein, Columbia Law Review 38 (1938), 591; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 87, S. 939. 96 Wassermann, NJW 2000, 3760, 3761; Scherb, Präventiver Demokratieschutz, S. 21. 87 88

B. Ansätze zur Auflösung des „demokratischen Dilemmas“51

der vorher ein Vertreter des Werterelativismus gewesen war,97 vollzog unter dem Eindruck des Nationalsozialismus eine bewusste Abkehr von diesem Ansatz und entwickelte seine Ideen von der Rolle übergesetzlichen Rechts.98 Zugespitzt wurde die These von der Ablehnung der vollkommenen Neutralität des Staats gegenüber seinen ideellen Grundlagen als „absurde Ausgeburt einer sinnentleerten Emanzipationspädagogik“99 bezeichnet. Der Ansatz der „streitbaren Demokratie“ kann als Reaktion auf die historisch gewonnene Erkenntnis betrachtet werden, dass es sich bei der Demokratie um eine der anspruchsvollsten, aber auch der gefährdetsten Staats- und Herrschaftsformen handelt, in der es Instrumente des Selbstschutzes bedarf, um langfristig bestehen zu können.100 Später trat die Idee eines präventiven Charakters dieser Schutzmaßnahmen und damit eine Verbindung zum Konzept des Verfassungsschutzes hinzu.101 Loewenstein entwickelte das Konzept von der Selbstverteidigung der demokratischen Ordnung und Freiheit.102 Er entwarf als erster den Gedanken einer „streitbaren Demokratie“, die Techniken zur Sicherung und zum Erhalt ihrer Macht entwickeln müsse.103 Der Faschismus nutze die Demokratie, um deren Funktionen lahm zu legen und sie zum Stillstand zu bringen.104 Der übersteigerte Formalismus von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und die strikte Beachtung der formalen Gleichheit hätten dazu geführt, dass die Demokratie nicht in der Lage gewesen sei, jene vom demokratischen Prozess auszuschließen, die die Existenz seiner eigenen Regeln missachteten.105 Grundrechte, das freie Spiel aller Meinungen, freie Rede, Versammlung und Presse seien nach demokratischem Ideal auch den faschistischen Rednern gewährt worden, denn man habe keine Möglichkeit gesehen, diese zu beschneiden, ohne die Basis der eigenen Existenz und Rechtfertigung zu zerstören.106 Die Demokratie sei vor diesem Hintergrund aber gezwungen, davon abzurücken und „streitbar“ zu werden.107 Wo Grundrechte instrumentalisiert würden, sei ihre

Siehe hierzu oben Kapitel 2, B., I. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht (1946), in: Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 347 ff. 99 Klein, VVDStRL 37 (1979), 53, 106. 100 Schliesky, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 277 Rn. 1. 101 Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340, 346; Klein, VVDStRL 37 (1979), 100; Dreier, JZ 1994, 741, 742;101 Staatsrecht der BRD, Bd. I, S. 182; Scheuner, in: FS Kaufmann, S. 313, 316; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 87, S. 940 f.; Schliesky, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 277 Rn. 8. 102 Loewenstein, VVDStRL 7 (1932), 192, 193; Loewenstein, American Political Science Review 24 (1935), 571 u. 755; Loewenstein, American Political Science Review 31 (1937), 417 u. 638; Loewenstein, Columbia Law Review 38 (1938), 591 u. 724. 103 Loewenstein, American Political Science Review 31 (1937), 417, 423, 430 ff. 104 Loewenstein, American Political Science Review 31 (1937), 417, 423. 105 Loewenstein, American Political Science Review 31 (1937), 417, 424. 106 Loewenstein, American Political Science Review 31 (1937), 417, 430 f. 107 Loewenstein, American Political Science Review 31 (1937), 417, 431. 97

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

temporäre Suspendierung gerechtfertigt.108 Der Umgang mit dem Grundrecht der Meinungsfreiheit, die für revolutionäre und subversive Propaganda herangezogen wird, war bereits für Loewenstein eines des schwierigsten Probleme im Bereich der Verteidigung der Demokratie. Der Angriff auf die Demokratie präsentiere sich hier in der Verkleidung des legalen politischen Aktivismus, der kritisch gegenüber bestehenden Verhältnissen sei.109 Wenn Aufrufe der Gewalt vorkämen, könnten diese noch leichter unterbunden werden. Die Waffe faschistischer Technik liege aber in Äußerungen, die gerade keinen Aufruf zu Gewalt darstellten, die Demokratie und ihre Institutionen und Personen aber lächerlich machten. Die wichtigste Eigenschaft der „streitbaren Demokratie“ sei der Überlebenswille von Regierung und Volk in einer Demokratie.110 Mannheim ging gleichermaßen davon aus, dass die Demokratie, um zu überleben, eine „streitbare Demokratie“ werden müsse.111 Zwischen dem Kampfgeist der Diktatoren und dem der „streitbaren Demokratie“ bestehe ein grundlegender Unterschied. Das Ziel der Diktatoren sei, ihren Untertanen ein starres Wertsystem aufzuerlegen und sie in eine Ordnung zu drängen, die auf Gewalt gegründet werde. Die Demokratie hingegen sei nur „streitbar“, wenn es gelte, vereinbarte, rechtlich festgelegte Strukturen sozialer Gestaltung und Werte wie Brüderlichkeit, gegenseitige Hilfe, soziale Gerechtigkeit, Freiheit, Anständigkeit und Menschenwürde als Grundlage einer friedlichen sozialen Ordnung zu verteidigen. Die „streitbare Demokratie“ müsse sich von der relativistischen Gesellschaft unterscheiden und über gewisse grundlegende Wertbegriffe Einigkeit erzielen, die jeder vertrete, der an der Tradition westlicher Zivilisation teilhabe. Aus der historischen Erfahrung heraus sei es nicht allzu schwer, die grundlegenden Werte begrifflich klar zu formulieren und als allgemein verbindlich darzustellen. Die komplizierteren Fragen würden offen gelassen, um sich vor den Folgen des Fanatismus zu schützen. Hierin wird die Beschränkung der Wert- und auch der Wehrhaftigkeit auf die grundlegenden Werte der demokratischen Ordnung deutlich, die den Ansatz der „streitbaren Demokratie“ charakterisiert. Begrifflich könnte man auch von einer „streitbaren Freiheit“ oder einem „streitbaren Rechtsstaat“ sprechen, weil das Schutzobjekt der Streitbarkeit über das demokratische Prinzip hinausgeht.112 Wichtigstes Element des Konzepts, wie es in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde, ist die Grundentscheidung zu einem Selbsterhaltungsrecht der demokratischen Ordnung.113 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Freiheit

Loewenstein, American Political Science Review 31 (1937), 417, 432. Hierzu und zum Folgenden Loewenstein, American Political Science Review 31 (1937), 638, 652. 110 Loewenstein, Columbia Law Review 38 (1938), 725, 774. 111 Hierzu und zum Folgenden Mannheim, Diagnose unserer Zeit, S. 9 ff., 17 f. 112 Schneider, Die parlamentarische Opposition, S. 590 ff. 113 Boventer, Grenzen politischer Freiheit, S.  82; vgl. Fohrbeck, Wunsiedel, S.  19; Morlok, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 142; Kloepfer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 42 Rn. 46; Thiel, Einführung, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 1, 2; Tomuschat, in: Böckenförde/ Tomuschat/Umbach (Hrsg.), S. 647, 648 f. 108 109

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im Staat nur optimiert, aber nicht radikalisiert werden kann; die Freiheit muss Grenzen haben, wenn dauerhaft möglichst viel Freiheit für möglichst viele Menschen gewährleistet werden soll.114 Bezogen auf die Grundrechte will die „streitbare Demokratie“ den Missbrauch grundrechtlich geschützter Freiheiten zur Abschaffung der Freiheit verhindern.115 Die „streitbare Demokratie“ ist jenes Konzept, das darauf gerichtet ist, die Demokratie vor jenen zu bewahren, die sie mit den Mitteln der Demokratie und mit der Unterstützung der Bevölkerung von außen oder innen zerstören bzw. umstürzen wollen.116 Die „streitbare Demokratie“ will den für die Demokratie unentbehrlichen Grundkonsens erhalten und dem Missbrauch demokratischer Rechte zur Zerstörung der Demokratie entgegentreten.117 Hierzu ergreifen die Staaten Maßnahmen, um die Grundrechte antidemokratisch handelnder Personen zu beschränken und zu verhindern, dass die Demokratie ein „trojanisches Pferd wird, mit dem die Feinde die Stadt einnehmen“.118 Die Mehrheitsregel ist zwar auch nach diesem Ansatz Entscheidungstechnik der Demokratie, sie darf aber nicht gegen die demokratische Ordnung in Stellung gebracht werden; das demokratische Prinzip steht nicht zur Disposition der Mehrheit.119 Das Ergebnis der demokratischen Willensbildung darf nicht in Widerspruch zu den wesentlichen Bedingungen der Demokratie geraten, denn langfristig kann die Demokratie nicht bestehen, wenn sie ihre Fundamente, wie die grundrechtlichen Gewährleistungen, abschafft.120 Eine Mehrheitsentscheidung zu einem bestimmten Zeitpunkt sei keine hinreichende Rechtfertigung, zukünftigen Generationen im Wege der Errichtung einer totalitären Ordnung die Möglichkeit der politischen Selbstbestimmung zu nehmen.121 Zweifel am geltenden System seien in der

Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 187; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 490; vgl. hierzu Dreier, JZ 1994, 741, 751. 115 BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 579. 116 Pfersmann, in: Sajó (Hrsg.), Militant Democracy, S.  47; Definition des Begriffs “Streitbare Demokratie” nach Herbert L. A. Hart, der denselben Gedanken für einen absoluten Monarchen formuliert: „(…) at each moment of the monarch’s existence he has a continuing power to legislate as he pleases on any topic except the limitation of his powers, the of course he cannot irrevocably limit his powers. But it is quite possible to give a „self-embracing“ interpretation, to „absolute power“ so that the monarch has power to legislate on all topics including the irrevocable limitation of his powers. These two alternative forms of absolute power, continuing and self-embracing, are both intelligible as constitutional arrangements (…).“(Hart, Self-referring Laws (1964), in: Hart, Jurisprudence and Philosophy, S. 177). 117 Schindler, in: FS Schneider, S. 487, 493. 118 Harvey, European Law Review 29 (2004), 407, 408. 119 Dreier, JZ 1994, 741, 751. 120 Müller, EuGRZ 1983, 337, 339; Warg, VerArch 2011, 570, 573. 121 Dreier, JZ 1994, 741, 751; Fox/Nolte, in: Fox/Roth (Hrsg.), Democratic Governance and International Law, S.  401; Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, §  74 Rn.  10; vgl. hierzu Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 18 Rn. 4. 114

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

demokratischen Ordnung zulässig und gewollt, es dürfe aber nicht darauf abgezielt werden, die demokratische Ordnung vollständig abzuschaffen.122 Die Maßnahmen zur Verteidigung der demokratischen Ordnung dürfen nach dem Ansatz der „streitbaren Demokratie“ grundsätzlich nur in Ausnahmefällen und unter restriktiven Bedingungen angewendet werden, um staatliche Willkür auszuschließen.123 Nur in den Fällen, in denen der Staat vor dem „demokratischen Dilemma“ steht, können Maßnahmen „streitbarer Demokratie“, die das demokratische Ideal relativieren, legitimiert werden, weil ein Kompromiss notwendig ist. Denn nur in diesen Fällen ist es gerechtfertigt, eine Lösung zu ergreifen, die das Ideal schmälert, angesichts des „demokratischen Dilemmas“ aber einen legitimen Kompromiss darstellt und dadurch gerechtfertigt werden kann. In diesen Grenzfällen, in denen das „demokratische Dilemma“ auftaucht, gibt es keine demokratisch friktionsfreie Lösung, weshalb zwischen zwei freiheitsbeschränkenden Wegen das „kleinere Übel“ gewählt werden muss. Außerhalb dieser Grenzfälle gilt dies nicht, hier würde die Demokratie Gefahr laufen, sich selbst preiszugeben. Die restriktiven Anwendungsbedingungen dienen dazu, dies zu vermeiden. Die „streitbare Demokratie“ steht in einer Wechselbeziehung mit der „werthaften Demokratie“, die konzeptionell bestimmte Grundwerte mit absolutem Charakter ausstattet.124 Nach diesem Ansatz ist ein Minimalkonsens an Werten Voraussetzung für die Existenz des Staats, weil davon ausgegangen wird, dass die soziale Ordnung ohne eine Werteordnung nicht gelingen kann.125 Freiheit und Würde des Einzelnen müssten zum Beispiel einer Abschaffung durch Mehrheitsentscheidung entzogen sein.126 Aus der Werteverabsolutierung erklärt sich, dass ihre Sicherung und Verteidigung und damit die „Streitbarkeit“ notwendig wird.127 Dies ist deshalb der Fall, weil eine aktive Verteidigung gerade bei einer wertgebundenen Ordnung Sinn macht. Die vordefinierten Werte der demokratischen Ordnung sollen über die „Streitbarkeit“ geschützt werden.128 Einzuräumen ist allerdings, dass auch eine Verteidigung prozessualer Regeln Inhalt der „streitbaren Demokratie“ sein könnte. Dann läge eine „streitbare“, aber keine „werthafte“ Demokratie vor. Umgekehrt wäre auch eine Bindung an materiell-rechtliche Grundsätze denkbar, deren aktive Verteidigung nicht vorgesehen ist; eine „werthafte Demokratie“ wäre dann ohne eine „streitbare Demokratie“ gegeben.129 Pech, La liberté d’expression, S. 247. Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 50; vgl. hierzu Hoffmann-Riem, NJW 2004, 2777, 2782; Emek, Parteiverbote, S. 108. 124 Lameyer, Streitbare Demokratie, S.  40; Brüning, Der Staat 41 (2002), 213, 217; Zippelius/ Wür tenberger, Deutsches Staatsrecht, § 19 Rn. 94. 125 Schmitt Glaeser, Missbrauch und Verwirkung von Grundrechten, S.  39; Schambeck, in: FS  Schmitt Glaeser, S. 75, 98. 126 Schambeck, in: FS Schmitt Glaeser, S.  75, 101; Krüger, Allgemeine Staatslehre, S.  546  f.; Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und Aufsätze, S. 89, 92 f. 127 Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 167; Volkmann, Der Staat 39 (2000), 325, 330. 128 Harvey, European Law Review 29 (2004), 407, 408. 129 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Rn. 57. 122

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B. Ansätze zur Auflösung des „demokratischen Dilemmas“55

Für die Toleranz bedeutet die Idee der „streitbaren Demokratie“ im Gegensatz zu jener der relativen Demokratie, dass man den Feinden der Toleranz keine Toleranz schuldet.130 Das langfristige Überleben der demokratischen Ordnung rechtfertigt nach dieser Konzeption, die Toleranz gegenüber den Rechten antidemokratischer Akteure kurzfristig zu beschränken.131 Daher wird in der Literatur der Begriff der „intoleranten Demokratie“ für einen demokratischen Staat eingeführt, der beschränkende Maßnahmen ergreift, um seine eigenen demokratischen Institutionen vor einer Veränderung durch die Wahl einer antidemokratischen Partei zu schützen.132 Dies stimmt mit der Vorstellung überein, dass Toleranz ein Prinzip ist, das beide Seiten akzeptieren müssen.133 Hierzu passt die These John Rawls', eine intolerante Gruppierung habe keinen Anspruch sich darüber zu beschweren, nicht toleriert zu werden, denn das Recht einer Person sich zu beschweren sei auf Verletzungen solcher Prinzipien beschränkt, die sie selbst anerkenne.134 Die tolerante Gruppierung dürfe der intoleranten Gruppe jedoch nur dann ihrerseits mit Intoleranz begegnen, wenn in einem Ausnahmefall tatsächlich ernst zu nehmende Risiken für die eigenen Interessen und insbesondere den Kernbereich der eigenen Freiheit bestünden.135 Während das Konzept des Werterelativismus mit einer formellen Konzeption der Demokratie einhergeht, ist der Ansatz der „streitbaren“ und „werthaften“ Demokratie mit jener der „substanziellen Demokratie“136 verknüpft. Dahinter liegt die Idee, den Begriff der Demokratie über die Verfahrens- und Prozessregeln hinaus zu definieren und bestimmte materielle Grenzen zu bestimmen, die auch unter strenger Beachtung der Verfahrensregeln nicht überschritten werden dürfen.137 Diese Grenze kann in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen erreicht sein.138 Das demokratische Verfahren ist nach dieser Konzeption nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Schaffung einer Gesellschaft, in der Bürger gewisse wesentliche Rechte genießen. Keines dieser Rechte ist danach aber absolut in dem Sinne, dass es genutzt werden könnte, um das Recht selbst oder andere fundamentale Rechte abzuschaffen.139

Rosenfeld, Harvard Law Review 100 (1987), 1457 f. Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 2. 132 Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 6. 133 Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 18. 134 Rawls, A Theory of Justice (1971), S. 217. 135 Rawls, A Theory of Justice (1971), S. 219 f. 136 Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 20; in der Literatur wird – teilweise kritisch konnotiert – davon ausgegangen, dass die internationale Staatengemeinschaft insgesamt betrachtet einem substantiellen Demokratieverständnis folge (Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 69; kritisch beurteilt etwa von Koskenniemi, Harvard International Law Journal 37 (1996), 199, 231 ff. und Roth, Harvard International Law Journal 37 (1996), 235 ff.). 137 Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 16; vgl. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, S. 90. 138 Heinze, Hate Speech, S. 4. 139 Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 16. 130 131

56

Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

Die „streitbare Demokratie“ ist nach alledem im Gegensatz zur wertrelativistischen Demokratie ein Konzept, in dem es zulässig sein kann, demokratische Rechte und Institute zum Schutz fundamentaler demokratischer Rechte und Institute unter bestimmten Umständen und in Ausnahmefällen einzuschränken. In einer „streitbaren Demokratie“ sind Instrumente zugelassen, die Sicherungen dagegen darstellen, dass Gegner der fundamentalen demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen, Prinzipien und Werte unter dem Schutz der politischen Freiheiten darauf hinarbeiten, die Ordnung zu beseitigen. Nach dem Konzept der „streitbaren Demokratie“ wird es für prinzipiell möglich gehalten, grundrechtliche Freiheiten zum Schutz der elementaren Grundlagen von Demokratie und Rechtsstaat einzuschränken. Es wird anerkannt, dass es notwendig und demokratisch zulässig ist, dass gegen Einzelne oder Gruppen, die demokratische Werte wesentlich beeinträchtigen oder zerstören wollen, bestimmte Maßnahmen ergriffen werden. Im Sinne des Ansatzes der „streitbaren Demokratie“ ist dies auch dann möglich, wenn diese Maßnahmen freiheitsbeschränkend sind. An dem Ansatz der „streitbaren Demokratie“ wird zahlreiche Kritik geübt.140 Teilweise wird vorgebracht, die dem Konzept immanente Risikoaversion sei in einer Demokratie störend, die für Freiheit stehe, da ein gewisses Risiko hierfür notwendig sei.141 Zugleich sei das Konzept der „streitbaren Demokratie“ stark ideologieanfällig.142 Der Grat zwischen legitimen Maßnahmen „streitbarer Demokratie“ und staatlichem „Gesinnungsrichtertum“ sei so schmal, dass stets die Gefahr bestehe, dass das Mandat aus der „Streitbarkeit“ überdehnt werde.143 Werde der schmale Grat verlassen und übersteigert von den Instrumenten der „streitbaren Demokratie“ Gebrauch gemacht, führe dies in ein autoritäres oder gar totalitäres Staatsverständnis.144 Der mit dem Konzept der „wehrhaften Demokratie“ verbundene Ansatz der „werthaften Demokratie“ werfe notwendigerweise die Frage auf, wer die Werte nach welchem Verfahren bestimmen solle.145 Bei extensiver Auslegung absoluter Werte drohe eine Tabuisierung und ein Ausschluss bestimmter Auffassungen aus der öffentlichen Diskussion. Dies könne letztlich dazu führen, dass Meinungen nach ihrer Systemkonformität selektioniert würden.146 Zahlreiche Autoren im Schrifttum sehen die Gefahr einer slippery slope bzw. einer pente glissante, insbesondere im amerikanischen Schrifttum ist dies ein weit verbreitetes Argument gegen sog. memory laws.147 Es wird auch im Hinblick auf die

Siehe hierzu Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 205; Sichert, DÖV 2001, 671, 673. Sajó, in: Sajó (Hrsg.), Militant Democracy, S. 209, 214. 142 Bulla, AöR 98 (1973), 340, 359. 143 Löwer, in: Hillgruber/Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre GG, S. 65, 68, 70; Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 206. 144 Bulla, AöR 98 (1973), 340, 360; vgl. hierzu Heinze, Hate Speech, S. 3. 145 Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 27; Harvey, European Law Review 29 (2004), 407, 409. 146 Boventer, Grenzen politischer Freiheit, S. 51; Emek, Parteiverbote, S. 106. 147 Vgl. hierzu Hochmann, Le négationnisme, S. 133 ff.; Giordano, North Carolina Central Law Journal 26 (2004), 71, 72; Kretzmer, Cardozo Law Review 8 (1987), 445, 473; Volokh, Harvard Law Review 116 (2003), 1026, 1028. 140 141

C. Die Position der Grundrechtskataloge zum Verhältnis …57

„loi Gayssot“, ein französisches Gesetz, verwendet und als „Büchse der Pandora“, die geöffnet wird, bezeichnet.148 Das Argument lautet im Wesentlichen: Wenn man dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen erlaubt, eine Äußerung zu verbieten, dann wird eine Tür zu weiteren Verboten aufgestoßen. Letztlich führt dies dazu, dass der Gesetzgeber darüber bestimmt, welche Meinungen zulässig sind. Man könnte im Deutschen die Vorstellung des „Dammbruchs“ als Äquivalent bezeichnen. Mit dem Konzept des Werterelativismus und jenem der „streitbaren Demokratie“ sind die beiden Ansätze genannt, die herangezogen werden könnten, um mit dem „demokratischen Dilemma“ umzugehen. Eine Entscheidung kann für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung dahinstehen. Hier ist nicht relevant, welche der beiden Lösungen vorzugswürdig ist. Vielmehr ist wichtig, wie sich die hier betrachteten Grundrechtsordnungen zu den beiden Ansätzen verhalten. Für die Auslegung der in ihnen jeweils gewährleisteten Meinungsäußerungsfreiheit und insbesondere deren Schutzbereich in Bezug auf den Schutz demokratiefeindlicher Äußerungen ist es wichtig, ob das Konzept der „Streitbarkeit“ den Grundrechtsordnungen fremd ist oder ob sie vielmehr von einer solchen ausgehen. Daher ist im Folgenden auf die Frage einzugehen, ob und bejahendenfalls welchen der beiden Ansätze man in EMRK, Grundgesetz und GRC wiederfinden kann.

C. Die Position der Grundrechtskataloge zum Verhältnis zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und dem Schutz  demokratischer Mindeststandards Liegt den Grundrechtskatalogen das Konzept der „streitbaren Demokratie“ zugrunde, so ist es zumindest denkbar, dass der Ausschluss der demokratiefeindlichen Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheitsgarantien mit dem Schutz demokratischer Mindeststandards begründet werden kann. Die Frage, ob die Idee der „Streitbarkeit“ in den Grundrechtskatalogen grundsätzlich angelegt ist, ist für die vorliegende Arbeit wesentlich. Die rechtsdogmatische Erörterung der hier gestellten Frage nach einem Ausschluss der Äußerungen aus dem Schutzbereich des Grundrechts wäre von vornherein ziellos, wenn nicht festgestellt werden könnte, dass die betrachteten Grundrechtskataloge die Beschränkung der Meinungsfreiheit zum Schutz demokratischer Werte grundsätzlich zuließen. Die Grundlegung einer „Streitbarkeit“ in den betrachteten Grundrechtsordnungen muss zwar dargestellt werden, bedarf für die Zwecke der vorliegenden Untersuchung aber keiner ausführlichen Erörterung. Hier genügt es festzustellen, ob alle drei Grundrechtskataloge das Prinzip der „Streitbarkeit der Demokratie“ anerkennen und deshalb einer Begründung des Ausschlusses bestimmter Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit wegen ihres demokratiefeindlichen

148

Vgl. etwa Mathieu, RDP 2007, 256.

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

Charakters nicht grundsätzlich entgegenstehen. Dies wäre der Fall, verfolgten sie einen streng wertrelativistischen Ansatz. Im Folgenden also muss ausgeschlossen werden, dass die Grundrechtskataloge von einem wertrelativistischen Verständnis des Staats ausgehen, das per se ausschließt, dass die grundrechtliche Freiheit zum Schutz der Demokratie beschränkt wird.

I. „Streitbare Demokratie“ in der Europäischen Menschenrechtskonvention In einer Rede vor der Beratenden Versammlung des Europarats im September 1949 erklärte Pierre-Henri Teitgen: „Democracies do not become Nazi countries in one day. Evil progresses cunningly, with a minority operating, as it were, to remove the levers of control … it is necessary to intervene before it is too late. A conscience must exist somewhere which will sound alarm to the minds of a nation, menaced by this progressive corruption, to war(n) them of the peril and to show them that they are progressing down a long road which leads far, sometimes even to Buchenwald or Dachau“.149 Diese Aussage reflektiert das nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Kontext der Entstehung der EMRK vorhandene Bewusstsein, eine Demokratie müsse sich selbst verteidigen können, um der Bedrohung des Totalitarismus standzuhalten.150 Dabei wurden die Gefahr einer Zerstörung der Demokratie durch zu extensiven Schutz und der damit verbundene schmale Grat der legitimen Grundrechtseinschränkung zur Verteidigung demokratischer Werte durchaus bereits gesehen.151 Diese Entstehungsgeschichte der EMRK zeigt, dass der Ansatz einer „streitbaren Demokratie“ in der Grundrechtsordnung der EMRK eine Rolle spielt.152 Den Materialien lässt sich dies zweifellos entnehmen.153 Man erwartete eine Steigerung politischer Stabilität von den Maßnahmen zum Schutz der Demokratie. Die Sicherung der pluralistisch verfassten Demokratie war erstes und höchstes Ziel der Konventionsschöpfung.154 Die EMRK entsprang wie andere internationale Menschenrechtsübereinkommen der Motivation, neben der Verhütung von Menschenrechtsverletzungen die

Zitiert nach: Bates, The Evolution of the European Convention on Human Rights, S. 44. Buyse, in: Brems/Gerards, Shaping Rights, S. 183. 151 Travaux Préparatoires, Vol. I, S. 276 f.; vgl. hierzu Müller, Das Verbotsgesetz, S. 187. 152 Klamt, Streitbare Demokratie, S. 294 ff.; Beširević, in: Benedek/Benoit-Rohmer/Karl/Nowak (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights (2012), S. 243, 247. 153 Travaux Préparatoires, Vol. I, S. 30: Lord Layton während der Ersten Sitzung der Beratenden Versammlung 1949: „(…) as a means of strengthening the resistance in all our countries against insidious attempts to undermine our democratic way of life from within or without, and thus to give to Western Europe as a whole greater political stability (…)“. 154 Travaux Préparatoires, Vol. I, S. 37 ff., 41; Travaux Préparatoires, Vol. II, S. 15 ff. 149 150

C. Die Position der Grundrechtskataloge zum Verhältnis …59

Grundvoraussetzungen einer demokratischen, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ordnung sicherzustellen.155 Die Präambel der EMRK,156 jene der Satzung des Europarats157 sowie Art. 3 der Satzung des Europarats158 sind mit ihrem Bekenntnis zur Demokratie und dem Vorrang des Rechts Ausdruck dessen. Dies ist Indiz dafür, dass das Konzept der „streitbaren Demokratie“, wenn auch nicht von der EMRK selbst verlangt, so doch jedenfalls mit ihr vereinbar ist.159 Art.  17 EMRK regelt, dass „die Konvention (…) nicht so auszulegen [ist], als begründe sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist.“ Nicht die staats- aber die individualbezogene Stoßrichtung wird im Schrifttum als Ausdruck des Prinzips der „wehrhaften Demokratie“ gedeutet.160 Teilweise wird Art. 17 EMRK in diesem Zusammenhang auch dahingehend interpretiert, er normiere nicht nur das Recht der Mitgliedstaaten, demokratische Werte und Ideale gegen Grundrechtsträger zu schützen, sondern

Schindler, in: FS Schneider, S. 487, 490. „(…) in Bekräftigung ihres tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten, welche die Grundlage von Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bilden und die am besten durch eine wahrhaft demokratische politische Ordnung sowie durch ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Achtung der diesen Grundfreiheiten zugrunde liegenden Menschenrechte gesichert werden (…)“. 157 Die Präambel der Satzung des Europarats (5. 5. 1949, 87 UNTS 103, 604 UNTS 296, 777 UNTS 322, 793 UNTS 350) lautet auszugsweise: „(…) in unerschütterlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechtes zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht.“ 158 Art. 3 der Satzung des Europarats (5. 5. 1949, 87 UNTS 103, 604 UNTS 296, 777 UNTS 322, 793 UNTS 350) lautet: „Jedes Mitglied des Europarates erkennt den Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts und den Grundsatz an, daß jeder, der seiner Hoheitsgewalt unterliegt, der Menschenrechte und Grundfreiheiten teilhaftig werden soll. Es verpflichtet sich, bei der Erfüllung der in Kapitel I bestimmten Aufgaben aufrichtig und tatkräftig mitzuarbeiten.“ 159 Zum engen Zusammenhang zwischen der Satzung des Europarats und der EMRK sowie zu der daraus resultierenden Relevanz der Satzung des Europarats für eine systematische Auslegung der EMRK siehe Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 17. 160 Siehe zu Art. 17 EMRK ausführlich Kapitel 4, A., I., 2., a) und 3., b); vgl. zu Art. 17 EMRK und dessen Charakter als Ausdruck einer streitbaren Demokratie Mensching, Hassrede im I­ nternet, S.  71; Hoffmeister, HFR 1999, 1, 6; Sajó, Cardozo Law Review 27 (2005/2006), 2255, 2262; Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 151; Tretter, in: FS Berka, S. 237, 255 f.; Tretter, in: Jahrbuch Menschenrechte 2012/2013, S.  38  f.; Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 107; Andriantsimbazovina, in: Mélanges en hommage Cohen-Jonathan, S. 57, 75; Bezemek, Von Bildern und Symbolen, S. 137, 141; Hailbronner, in: FS Mosler, S. 359, 373; Walter, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, §  12 Rn.  53; Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 1; Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 2; Tulkens, in: FS Bratza, S. 279, 283; Sajó, in: Sajó (Hrsg.), Abuse, S. 29, 53; Pabel, ZaöRV 2003, 921, 935; Wachsmann in: Flauss/Da Salvia (Hrsg,), La CEDH, S. 101, 107; Spielmann, in: Mélanges Pettiti, S. 673, 681; Nowak, RUDH, 1992, 405 f. 155 156

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

erlege den Staaten sogar eine positive Pflicht hierzu auf.161 Einige gehen davon aus, damit erwachse aus Art.  17 EMRK die positive Verpflichtung der Staaten, gegen demokratiefeindliche Äußerungen – zum Beispiel „Hassreden“ – vorzugehen.162 Neben Art. 17 EMRK deuten auch die Vorbehalte der einzelnen Grundrechtsgarantien, insbesondere die Art. 8 II, 9 II, 10 II sowie 11 II EMRK darauf hin, dass die EMRK von einem „streitbaren“ Element in der ihr zugrunde liegenden Konzeption der demokratischen Ordnung ausgeht. Die Schrankenvorbehalte normieren allesamt die Möglichkeit, bei einer Bedrohung der demokratischen Ordnung die Grundrechte staatlich einzuschränken. Hierin liegt zumindest auch ein Indiz für den Ansatz der „streitbaren Demokratie“ im konventionsrechtlichen Verständnis von Demokratie.163 Auch der EGMR zeigt in seiner Rechtsprechung, dass er sich des „demokratischen Dilemmas“ bewusst ist und, dass er es für zulässig hält, „streitbar“ gegen Grundrechtsträger vorzugehen, die demokratische Mindeststandards gefährden.164 Der EGMR lässt in den Begründungen seiner Entscheidungen erkennen, dass er von einer „Streitbarkeit“ der Konvention ausgeht und in Verbindung mit Art. 17 EMRK annimmt, grundrechtliche Freiheit nach der EMRK sei unter bestimmten Voraussetzungen durch den Schutz der demokratischen Ordnung begrenzt.165 Im Urteil Klass 161 Van Drooghenbroeck, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 150; a. A. Jaqué, in : Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 169, 172 f.; vgl. dazu Garibaldi, in: FS Sohn, S. 23, 27. 162 Die Frage kann hier nicht abschließend diskutiert werden, vgl. aber Sondervotum Carrillo Salcedo zu EGMR, 23.4.1992, Castells ./. Spanien, Nr. 11798/85, das davon ausgeht, dass es positive Verpflichtungen der Staaten geben muss, Äußerungen dieser Art zu verhindern bzw. zu bestrafen; offen bleibt jedoch, ob diese Pflichten aus Art. 10 II EMRK oder aus Art. 17 EMRK (isoliert oder in Verbindung miteinander) folgen sollen; siehe auch EGMR, 16. 3. 2006 (GK), Ždanoka ./. Lettland, Nr. 58278/00, Z. 100; Befürwortung positiver Pflichten auch bei Kneihs, in: Kneihs/ Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 8; Kučs, Journal of Ethnic and Migration Studies 2014, 301, 314; Cohen, Chicago Journal of International Law 2014/15, 229, 239 f.; kritisch dazu: Tulkens, in: FS Bratza, S. 279, 284; Buyse, in: Brems/Gerards, Shaping Rights, S. 183 (190); Harris/O’Boyle/ Warbrick, ECHR, S. 652; Schmahl, Rechtsgutachten, S. 24; Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S.  286  ff. (Diskussion positiver Pflichten zum Verbot rassendiskriminierender Äußerungen aus Art. 3, 14 und 8 EMRK); Fohrbeck, Wunsiedel, S. 170; vgl. zur selben Frage im Zusammenhang mit der entsprechenden Vorschrift des IPBPR, Art. 20 II IPBPR, Schmahl, Rechtsgutachten, S. 23; Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 286. 163 Klamt, Streitbare Demokratie, S.  298; Blanke, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR VI/1, §  142 Rn. 1 f.; kritisch hierzu Garibaldi, in: FS Sohn, S. 23, 27. 164 EGMR, 26. 9. 1995, Vogt ./. Deutschland, Nr. 17851/91, Z. 51; EGMR, 24. 11. 2005, Otto ./. Deutschland, Nr. 27574/02; EGMR, 29. 5. 2007, Kern ./. Deutschland, Nr. 26870/04, (EGMR erkennt in diesen Fällen das Interesse des Staats an besonderer Loyalität seiner Beamten als legitimes Ziel gemäß Art. 10 II EMRK an; darin kann die Anerkennung des Prinzips der „streitbaren Demokratie“ gesehen werden); EGMR (GK), 13. 2. 2003, Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. ./. Türkei, Nr. 41340/98 u. a., Z. 96 („impératifs de la défense de la société démocratique“), Z. 103 (der Gerichtshof erkennt hier eine positive Verpflichtung der Staaten an, die Demokratie zu schützen); EGMR, 30. 1. 1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei ./. Türkei, Nr. 19392/92, Z. 45; siehe hierzu Harvey, European Law Review 29 (2004), 407, 412; Beširević, in: Benedek/Benoit-Rohmer/Karl/Nowak (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights (2012), S. 243, 257; Pech, La liberté d’expression, S. 95.

EGMR, 2. 10. 2008, Leroy ./. Frankreich, Nr. 36109/03, Z. 37; EGMR, 16. 3. 2006 (GK), Ždanoka ./. Lettland, Nr. 58278/00, Z. 99.

165

C. Die Position der Grundrechtskataloge zum Verhältnis …61

gegen Deutschland betont der EGMR, dass es zwar einerseits eine symbiotische Beziehung zwischen Demokratie und Menschenrechten gebe, dem Konventionssystem andererseits aber auch ein Kompromiss zwischen den Anforderungen an die Verteidigung der Demokratie und jenen der individuellen Rechte inhärent sei.166 Die Argumentation des EGMR im Urteil Lehideux und Isorni167 zeigt, dass der Gerichtshof davon ausgeht, es gebe eine europäische demokratische Gesellschaft, die einerseits – wegen ihrer Reife – in Konfrontation mit schockierenden Meinungen und Äußerungen treten müsse, die sich andererseits aber auch das Recht vorbehalte, als letztes Mittel Bestimmungen wie Art. 17 EMRK anzuwenden, die bewirkten, dass die europäische demokratische Gesellschaft sich selbst erhalten könne.168 Der Gerichtshof gibt dabei zu erkennen, die Mitgliedstaaten seien Garanten demokratischer Werte und Eingriffe zum Schutz dieser demokratischen Mindeststandards könnten mit den Anforderungen des Art. 10 II EMRK an die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen vereinbar sein.169 Es sei wegen der klaren Verbindung zwischen Konvention und Demokratie nicht hinzunehmen, wenn sich Individuen der Garantien der Konvention bedienten, um die Ideale und Werte einer demokratischen Gesellschaft zu schwächen oder zu zerstören.170 Die Staaten seien aufgerufen, die Kommunikationsgrundrechte zu beschränken, wenn und soweit dies notwendig werde, um das Funktionieren der Demokratie zu sichern.171 Voraussetzung für diese Aussage ist die Annahme eines „streitbaren“ Charakters der EMRK. Daher belegt sie, dass der Gerichtshof von letzterem ausgeht. In der Grundrechtsordnung der EMRK kann der Ansatz der „streitbaren Demokratie“ erkannt werden.172 Der Begründung eines Ausschlusses demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit steht in der EMRK grundsätzlich nichts entgegen.

EGMR, 6. 9. 1978 (GK), Klass u. a. ./. Deutschland, Nr. 5029/71, Z. 59: „some compromise between the requirements for defending democratic society and individual rights is inherent in the system of the Convention“. 167 EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045. 168 Vgl. Oetheimer, L’harmonisation de la liberté d’expression en Europe, S. 129. 169 EGMR, 30. 1. 1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei ./. Türkei, Nr. 19392/92, Z. 32; Eiffler, KJ 2003, 218, 219. 170 EGMR (GK), 13. 2. 2003, Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. ./. Türkei, Nr. 41340/98 u. a., Z. 99. 171 EGMR, 9. 7. 2013, Vona ./. Ungarn, Nr. 35943/10, Z. 69. 172 Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, S.  230; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 31, 98 ff.; Emek, Parteiverbote, S. 176; Harvey, European Law Review 29 (2004), 407, 411 ff.; Sajó, Cardozo Law Review 27 (2005/2006), 2255, 2262; Eiffler, KJ 2003, 218; Kontopodi, Verbot politischer Parteien, S. 32; distanzierter Theuerkauf, Parteiverbote, S. 278; Schindler, in: FS Schneider, S. 487, 490; Kugelmann, EuGRZ 2003, 533, 535; Kühling, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), EuGR, § 23 Rn. 70; Thienel, JRP 2005, 163, 172. Damit soll nicht behauptet werden, dass die EMRK eine „streitbare Demokratie“ oder eine „streitbare Rechtsordnung“ ist. Eine solche These begegnete zumindest deshalb Bedenken, weil der EMRK ein staatsorganisationsrechtlicher Teil fehlt. Es müsste gefragt werden, ob ein solcher nicht Voraussetzung für die Bezeichnung als „streitbare Demokratie“ wäre. Dies soll hier aber dahingestellt bleiben, weil es nicht Gegenstand der vorliegend aufgeworfenen Fragestellung ist. 166

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

II. „Streitbare Demokratie“ im Grundgesetz Durch die Fixierung der Werte aus Art.  1  GG und 20  GG über die Ewigkeitsgarantie des Art.  79 III GG hat das Grundgesetz eine „werthafte“ Demokratie geschaffen.173 Das Grundgesetz wird als „werthaft“ bezeichnet, weil bestimmte materielle Werte, zum Beispiel die Menschenwürde, der Entscheidung der Mehrheit entzogen und damit auch für den demokratischen Gesetzgeber unverfügbar gemacht werden.174 Dies bedeutet aber nicht nur, dass sich überhaupt an Werten orientiert wird, sondern dass ein Rangverhältnis gegeben ist. Bestimmte Verfassungswerte werden der formalen Mehrheitsentscheidung übergeordnet und damit wird der relativen Demokratie und dem Werterelativismus widersprochen.175 Die Demokratie des Grundgesetzes verhält sich nicht neutral zu jeder Art von politischer Auffassung.176 Der Grundsatz der „streitbaren Demokratie“ findet seine Grundlegung jedenfalls in den Bestimmungen der Art. 9 II, 18 und 21 II GG.177 Sie schützen die demokratischen Mindeststandards, indem sie unter bestimmten Bedingungen einen Freiheitsgebrauch unterbinden, der Zielsetzungen verfolgt, die von jenen des GG so fundamental abweichen, dass sie nicht toleriert werden können. Art. 18 GG und Art. 21 II GG werden als Ausdruck „des bewussten verfassungspolitischen Willens zur Lösung eines Grenzproblems der freiheitlichen demokratischen Staatsordnung“178 bezeichnet.

Vgl. Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Art. 79 Rn. 3. 174 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und ­Aufsätze, S.  89, 265; siehe hierzu auch Brüning, Der Staat 41 (2002), 213, 216; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Einl. Rn. 240 („materieller Verfassungsstaat“). 175 Von Arnim, Staatslehre, S. 112. 176 Schliesky, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 277 Rn. 10. 177 Dreier, JZ 1994, 741; Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 1995, 1, 19 f.; Bergmann, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG, Art. 9 Rn. 6; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 9 Rn. 119; Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG, Art.  18 Rn.  1; Birkenmaier, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Art. 18 Rn. 3; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 154; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 3; Stern, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Einl. Rn. 174; Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 18 Rn. 4; Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340, 349; Schmitt Glaeser, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 3; Bauer, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 9 Rn. 55; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 26. 178 BVerfGE 5, 85, 139; BVerfGE 10, 118, 123; vgl. Sichert, DÖV 2001, 671, 673; siehe hierzu Klein, VVDStRL 37 (1979), 53, 65. 173

C. Die Position der Grundrechtskataloge zum Verhältnis …63

In der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG kommt der Selbstschutz der Verfassung ebenfalls zum Ausdruck.179 Darin werden Verfassungsgrundsätze zum Schutz der Demokratie verabsolutiert und das Konzept der „streitbaren Demokratie“ erhält einen Rückhalt in den Bestimmungen des Grundgesetzes.180 Das Grundgesetz weist daneben weitere zahlreiche Bestimmungen zum Schutz der FDGO (freiheitliche demokratische Grundordnung) – wie Art. 5 III 2, Art. 10 II, Art. 11 II, Art. 20 IV GG, Art. 33 V, Art. 98 II, Art. 73 Nr. 10b, Art. 87 I, Art. 87a IV und Art. 91 I GG – auf. Die Bestimmungen machen in ihrer Gesamtschau deutlich, dass die Charakterisierung des Grundgesetzes als „streitbare Demokratie“ im Text der Verfassung angelegt ist.181 Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes stützt diesen Befund.182 Historisch findet die Verwirklichung des Ansatzes der „streitbaren Demokratie“ im Grundgesetz ihren Ursprung in einer Reaktion auf die Erfahrungen aus der Weimarer Republik und aus der faschistischen Diktatur des Nationalsozialismus sowie aus den zwischen diesen beiden historischen Phänomenen bestehenden Zusammenhängen.183 Die Materialien lassen dies erkennen.184 Es wurde davon ausgegangen, die 179 Im Parlamentarischen Rat wurde zu Art. 79 III GG ausgeführt: „Diese Bestimmung soll zum Ausdruck bringen, dass dieses Grundgesetz nicht die Hand bieten darf zu seiner eigenen Totalbeseitigung oder - vernichtung, insbesondere dazu, dass ggf. eine revolutionäre antidemokratische Bewegung mit demokratischen Mitteln auf scheinbar 'legalem' Wege die hier normierte demokratisch-rechtsstaatliche Grundordnung ins Gegenteil verkehrt“ (JöR n. F. 1 (1951), S. 586); siehe zu Art. 79 III GG in diesem Zusammenhang auch Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 115. 180 Becker, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 16; Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 18 Rn. 7; Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 4. 181 Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Einl. Rn. 327; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Rn. 58; Gröschner, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 IV Rn. 8, Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 7 f.; Denninger, Staatsrecht, S. 86. 182 Vgl. Schliesky, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 277 Rn. 5. 183 Frankenberg, in: Sajó (Hrsg.), Militant Democracy, S. 113, 124; Von Arnim, Staatslehre, S. 111; Ridder, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, S. 286; Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 81; Sichert, DÖV 2001, 671, 672; Becker, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 4, 12; Dürig, AöR 106 (1981), 117; Mannheim, Diagnose unserer Zeit, S. 9; Kloepfer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, §  42 Rn.  46; Bulla, AöR 98 (1973), 340, 344; Schmitt Glaeser, AöR 107 (1982), 337, 380; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Einl. Rn. 326; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 26; Streinz, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 21 Rn. 212; Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 491; Schuster, JZ 1968, 152, 154; Schliesky, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 277 Rn. 10; Jellinek, VVDStRL 8 (1950), 3, 5; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, S. 151. 184 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948 und die Beratungen des Parlamentarischen Rates, JöR n. F. 1 (1951). Man war von den Schwächen der Weimarer Verfassung überzeugt (siehe hierzu insbesondere Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, JöR n. F. 1 (1951), S. 21, 22); vgl. hierzu Papier/ Durner, AöR 128 (2003), 340, 347; Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 20; Selmer, in: IliopoulosStrangas (Hrsg.), Missbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 21; Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 292; vgl. Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, Art. 18 Rn. 6 ff.; vgl. auch BVerfGE 5, 85, 138.

64

Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

Weimarer Republik sei gerade wegen des streng verstandenen Relativismus und weil „streitbare“ Instrumente, die dies hätten verhindern können, gefehlt hätten, untergegangen.185 Insbesondere Art. 79 III GG wird als Reaktion auf die wertrelativistische186 Radikalität der Weimarer Verfassung gedeutet.187 Schon sehr früh ging auch das Bundesverfassungsgericht davon aus, dass die Grundsatzentscheidung des Verfassungsgebers für eine Bekämpfung der aktiven Feinde der demokratischen Wertordnung in den Art.  9 II, 18 und 21 II GG zum Ausdruck kommt.188 Die Bundesrepublik Deutschland sei eine Demokratie, die von ihren Bürgern eine Verteidigung der freiheitlichen Ordnung erwarte und einen Missbrauch der Grundrechte zum Kampf gegen diese Ordnung nicht hinnehme.189 Verfassungsfeinde sollten die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staats nicht unter Berufung auf Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, gefährden, beeinträchtigen oder zerstören dürfen. Deshalb können Freiheitsrechte grundsätzlich zum Schutz der FDGO eingeschränkt werden.190 In ständiger Rechtsprechung geht das Gericht auch heute von der Entscheidung des Grundgesetzes für eine „streitbare Demokratie“ aus.191 Der Nationalsozialismus wird von Seiten des

Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 25; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Einl. Rn.  326; Becker, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, §  167 Rn.  4; Isensee, in: FS Graßhof, S.  289, 292. Die Behauptung, die Weimarer Republik sei wegen des Mangels an Wehrhaftigkeit der Weimarer Reichsverfassung untergegangen ist umstritten; heute ist diese These soweit ersichtlich nicht mehr allgemein anerkannt; man geht davon aus, dass eine Vielzahl von Faktoren zum Ende der Weimarer Republik geführt haben (vgl. Jahrreiß, in: FS Thoma, S. 71, 90; Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, S. 181; Becker, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 8). Auf diese Kontroverse soll hier, weil sie eine historische Debatte und keine juristische Diskussion ist, nicht eingegangen werden. Trotz der Unklarheiten und eventuell vorhandenen Streitbarkeitsnormen in der Weimarer Reichsverfassung bleibt nämlich der Umstand bestehen, der für die historische Auslegung des GG allein entscheidend ist: Die Väter des GG waren vom relativen Charakter der Weimarer Verfassung und den daraus resultierenden Gefahren überzeugt und handelten subjektiv in Abkehr von der Weimarer Reichsverfassung. Dies kann aus den Materialien belegt werden kann. Ob diese subjektive Wahrnehmung jener, die an der Entstehung des GG mitgewirkt haben berechtigt war oder nicht, spielt hier keine Rolle, solange sie vorhanden war (vgl. hierzu Becker, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 12); vgl. zur Weimarer Reichsverfassung diesbezüglich zuletzt ausführlich Gusy, Der Staat 55 (2016), 291. 186 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 25; Schmitt Glaeser, AöR 107 (1982), 337, 380; Schindler, in: FS Schneider, S. 487, 490; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 7; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 26; Schliesky, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 277 Rn. 10; Von Arnim, Staatslehre, S. 112; Dreier, JZ 1994, 741, 747. 187 Dreier, JZ 1994, 741, 747; vgl. Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Einl. Rn. 241. 188 BVerfGE 13, 46, 50. 189 BVerfGE 28, 36, 48. 190 BVerfGE 30, 1, 19 f.; BVerfGE 134, 141, 179. 191 BVerfGE 5, 85, 139; BVerfGE 10, 118, 123; BVerfGE 13, 46, 49  f.; BVerfGE 25, 44, 58; BVerfGE 28, 36, 48 f.; BVerfGE 28, 51, 55; BVerfGE 30, 1, 21; BVerfGE 39, 334, 383; BVerfGE 46, 43, 39; BVerfGE 80, 244, 253; BVerfGE 124, 300, 328 ff. 185

C. Die Position der Grundrechtskataloge zum Verhältnis …65

Bundesverfassungsgerichts in jüngerer Rechtsprechung als hauptsächlicher Adressat und prototypischer Anwendungsfall der „streitbaren Demokratie“ betrachtet.192 Im Ergebnis ist davon auszugehen, dass das Grundgesetz eine „streitbare“ demokratische Ordnung konstituiert.193 Die „werthafte Demokratie“ geht im Grundgesetz mit der „streitbaren Demokratie“ einher.194 Die Bestimmungen des Grundgesetzes verfolgen ein Konzept, das in Ansätzen bereits in der demokratietheoretischen Konzeption nach Loewenstein und Mannheim angelegt war.195 Die Rechtsnatur des Prinzips der „streitbaren Demokratie“ ist umstritten,196 teilweise wird es für eine Grundentscheidung der Verfassung mit eigener rechtlicher Bedeutung,197 teilweise für eine bloße Sammelbezeichnung, deren Gehalt nicht über jenen der einzelnen Bestimmungen hinausgeht,198 gehalten. Die grundsätzliche Verankerung des Konzepts im Grundgesetz ist aber allgemein anerkannt und hier hinreichend.

III. „Streitbare Demokratie“ im Unionsrecht Auch für die Grundrechtsordnung des Unionsrechts ist zu fragen, ob es g­ rundsätzlich zulässig ist, den Ausschluss prinzipiell grundrechtlich geschützter Verhaltensweisen vom Schutz der Meinungsfreiheit mit dem Schutz demokratischer Mindeststandards im Sinne einer „streitbaren Demokratie“ zu begründen.199

BVerfGE 124, 300, 328 ff. Dreier, JZ 1994, 741, 747 ff.; Boventer, Grenzen politischer Freiheit, S. 25; Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 86; Di Fabio, Staatsrechtslehre und der Staat, S. 42; BVerfGE 5, 85, 135 ff.; Löwer, in: Hillgruber/Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre GG, S. 65, 86; Lameyer, JöR n. F. 30 (1981), 147, 150; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Rn. 56 f.; Pech, La liberté d’expression, S. 422 f.; Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, S. 62; Klein, VVDStRL 37 (1979), 67  ff.; Quaritsch, VVDStRL 37 (1979), 142; Jesse, Streitbare Demokratie, S.  22; Thiel, Einführung, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 1, 13; Becker, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 39; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 85; Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Einl. Rn. 327; siehe zur hier nicht näher behandelten Frage einer Pflicht des Staats zum Schutz der FDGO Klein, VVDStRL 37 (1979), 53, 72; insbesondere zur Begründung einer solchen Pflicht aus dem Völkerrecht Andriantsimbazovina, in: Mélanges en hommage Cohen-Jonathan, S. 57, 68 f.; Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 60 ff.; Massias, RTDH 2003, 183, 193. 194 Tillmanns, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 25, 40; Streinz, in: V. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 21 Rn. 213; Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 Rn. 56. 195 Boventer, Grenzen politischer Freiheit, S. 82; vgl. hierzu oben Kapitel 2, B., II. 196 Schliesky, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 277 Rn. 11; Bulla, AöR 98 (1973), 340, 352 f. 197 Vgl. hierzu Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, S. 31 ff.; Klein, VVDStRL 37 (1979), 53, 67 f.; Krebs, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 3; Schliesky, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 277 Rn. 11. 198 Schlink, Der Staat 15 (1976), 335, 360 ff.; Bulla, AöR 98 (1973), 340, 352 f. 199 Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 8. 192 193

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

Die Rechtsprechung des EuGH war bisher nicht mit derartigen Fragen des Schutzes demokratischer Mindeststandards gegen Angriffe von Seiten eines Grundrechtsträgers befasst. Das Urteil Deckmyn und Vrijheidsfonds200 des EuGH und insbesondere die zu dieser Rechtssache verfassten Schlussanträge des Generalanwalts201 deuten aber darauf hin, dass auch in der Unionsgerichtsbarkeit zukünftig vergleichbare Fragen auftreten könnten. Generalanwalt Cruz Villalón entwirft in seinen Schlussanträgen eine Argumentation, die Indizien für die Annahme eines „streitbaren Ansatzes“ der Grundrechtsordnung des Unionsrechts enthält. Die Rechtssache C-01/13 vor dem EuGH betraf ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, das vom Hof van beroep te Brussel, einem belgischen Gericht, vorgelegt wurde. Auf der Vorderseite eines vom Kläger herausgegebenen Kalenders war eine Zeichnung abgebildet. Diese ähnelte einer Zeichnung auf dem Deckblatt eines 1961  von Vandersteen geschaffenen Comics. Die ursprüngliche Zeichnung stellte eine mit einer weißen Tunika bekleidete Person dar, die Personen Münzen zuwirft, die versuchen, sie aufzusammeln. In der Zeichnung des Klägers wurden die werfende Person durch den Bürgermeister der Stadt Gent und die die Münzen aufsammelnden Personen durch verschleierte und farbige Personen ersetzt.202 In der Ansicht, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zeichnung und deren öffentliche Wiedergabe ihre jeweiligen Urheberrechte verletzten, erhoben Vandersteen u.  a. Klage vor einem erstinstanzlichen Gericht in Brüssel, welches die Kläger unter Androhung eines Zwangsgelds dazu verurteilte, die Verwendung dieser Zeichnung in jedweder Form zu unterlassen.203 Die Kläger machten vor dem vorlegenden zweitinstanzlichen Gericht dann insbesondere geltend, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Zeichnung sei eine politische Karikatur, die eine zulässige Parodie im Sinne von Art. 22 § 1 Nr. 6 des Gesetzes vom 30. Juni 1994 über das Urheberrecht und verwandte Rechte sei.204 Die Beklagten traten dieser Auslegung jedoch entgegen, da ihrer Auffassung nach eine Parodie bestimmten Voraussetzungen genügen müsse, die im vorliegenden Fall nicht erfüllt gewesen seien. Die Beklagten warfen der Zeichnung auch vor, eine diskriminierende Aussage zu beinhalten, weil die Figuren durch verschleierte und farbige Menschen ersetzt worden seien.205 Das vorlegende Gericht wollte im Verfahren nach Art. 267 AEUV wissen, ob der Begriff der „Parodie“ ein autonomer unionsrechtlicher Begriff sei und falls ja, welche Kriterien bzw. Voraussetzungen dieser Begriff erfüllen müsse, um nach unionsrechtlichem Verständnis als Parodie angesehen zu werden.206 Generalanwalt Cruz Villalón legte am 22. 5. 2014 seine Schlussanträge vor. Darin führt er zur relevanten Frage aus, eine Parodie habe ein „strukturelles Merkmal“,

EuGH, 3. 9. 2014, Deckmyn u. Vrijheidsfonds, RS. C-201/13. EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 34 ff. 202 EuGH, 3. 9. 2014, Deckmyn u. Vrijheidsfonds, RS. C-201/13, Z. 7 ff. 203 EuGH, 3. 9. 2014, Deckmyn u. Vrijheidsfonds, RS. C-201/13, Z. 10. 204 EuGH, 3. 9. 2014, Deckmyn u. Vrijheidsfonds, RS. C-201/13, Z. 11. 205 EuGH, 3. 9. 2014, Deckmyn u. Vrijheidsfonds, RS. C-201/13, Z. 12. 206 EuGH, 3. 9. 2014, Deckmyn u. Vrijheidsfonds, RS. C-201/13, Z. 13. 200 201

C. Die Position der Grundrechtskataloge zum Verhältnis …67

weil sie die Kopie eines Werkes darstelle.207 Daneben habe sie eine „funktionelle Dimension“, die in der Absicht der Belustigung und Verspottung gesehen werden könne.208 Es sei dabei nicht notwendig, dass die Parodie sich mit dem Originalwerk inhaltlich auseinandersetze.209 Der Generalanwalt gelangt zu der Feststellung, die Parodie sei wegen ihrer genannten „funktionellen Dimension“ Ausdruck der Meinungs- bzw. Kunstfreiheit.210 Er behandelt sodann die Frage, ob und inwieweit die Grundrechte für die vom Zivilgericht vorzunehmende Auslegung der Tragweite der Ausnahme, die die Parodien bildeten, bestimmend seien.211 Die Grundrechte seien, entwickelt aus der Rechtsprechung des EuGH zu „allgemeinen Grundsätzen“, allgemeines Kriterium der Auslegung des gesamten Unionsrechts. Art. 6 III a. E. EUV nehme darauf auch in geltendem Recht noch Bezug.212 Das abgeleitete Unionsrecht sei chartakonform auszulegen und dies gelte unter Verweis auf die Rs. Alemo Herron213 und Werhof214 auch dann, wenn es um eine Vorschrift des abgeleiteten Unionsrecht gehe, die zwischen Einzelnen anwendbar sei. Es müsse ein angemessener Ausgleich zwischen im Einzelfall kollidierenden Interessen gefunden werden.215 Vorliegend sei der erste Wert aus der GRC, den das Zivilgericht zu beachten habe, die Meinungsfreiheit nach Art. 11 I GRC in Auslegung unter Beachtung der Rechtsprechung des EGMR zur herausragenden Bedeutung der Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft sowie zur weiten Konzeption des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK.216 Als problematisch betrachtet der Generalanwalt den Inhalt der Aussage, die grundsätzlich von der Meinungsfreiheit geschützt sei. Die Meinungsfreiheit sei durch andere Werte der GRC einschränkbar, die mit der Meinungsfreiheit kollidieren könnten.217 Die Grenzen der Meinungsfreiheit gingen letztlich auf die „in der europäischen Gesellschaft verwurzelten Überzeugungen“ zurück. Für den vorliegenden Fall hätten diese Überzeugungen Ausdruck im Rahmenbeschluss zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gefunden.218 Das Zivilgericht sei mit diesen strafrechtlichen Grenzen freilich nicht vorrangig befasst, dürfe aber nicht außer Acht lassen, dass die GRC auch in einem zivilgerichtlichen Verfahren Wirkungen entfalte.219 Die Grundrechte seien als in der Rechtsordnung insgesamt „präsent“

EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 49 ff. EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 59 ff. 209 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 65. 210 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 70. 211 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 76. 212 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 77. 213 EuGH, 18. 7. 2013, Alemo-Herron u. a., RS. C-426/11, Z. 30. 214 EuGH, 9. 3. 2006, Werhof, RS. C-499/04, Z. 31 ff. 215 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 79. 216 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 80. 217 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 81 f. 218 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 83. 219 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 84. 207 208

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

anzusehen. Eine bestimmte Abbildung könne nicht vom Begriff der „Parodie“ ausgenommen werden, weil die Aussage vom Urheber oder einem großen Teil der Bevölkerung oder Öffentlichkeit abgelehnt würde. Dennoch seien Reden, die formal und inhaltlich eine Aussage verbreiteten, die zu den „tiefsten Überzeugungen der Gesellschaft“, auf denen der europäische öffentliche Raum beruhe und letztlich existiere, in Widerspruch stünde, nicht als Parodie zuzulassen. Die Urheber des Originals könnten dies geltend machen.220 Es sei klar, dass der europäische öffentliche Raum, wenn auch nur teilweise, aus der Summe der nationalen öffentlichen Räume bestehe, die nicht völlig austauschbar seien (Verweis auf Rs. Omega221).222 Die konkrete Abwägungsentscheidung zwischen der Meinungsfreiheit und den Überzeugungen der europäischen Gesellschaft sei Sache des vorlegenden Gerichts.223 Dieses müsse sich dabei jedoch von den in der GRC verankerten Grundrechten leiten lassen.224 Diese Argumentation des Generalanwalts lässt den Gedanken erkennen, dass es bestimmte grundlegende Werte und Überzeugungen gibt, die die grundrechtliche Freiheit der Meinungsäußerung unter bestimmten Voraussetzungen beschränken. Diese Annahme deutet zumindest darauf hin, dass von einem „streitbaren“ Charakter der Grundrechtsordnung im Unionsrecht ausgegangen wird. Der EuGH entschied in der Rs. Deckmyn und Vrijheidsfonds am 3. September 2014. Zur entscheidenden Frage führte er aus, Art. 5 Richtlinie 2001/29 diene der Sicherung eines angemessenen Ausgleichs zwischen den widerstreitenden Rechten und Interessen.225 Es müsse bei Anwendung der Ausnahme für Parodien im Einzelfall ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen und Rechten der Inhaber der Urheberrechte einerseits und der Meinungsfreiheit des Parodierenden, der sich auf Art. 5 III lit. k der Richtlinie berufe, andererseits, gefunden werden.226 Wenn das geschützte Werk aufgrund der Parodie mit diskriminierenden Inhalten in Verbindung gebracht werde, seien die Antidiskriminierungs-Richtlinie (2000/43/EG) und Art.  21  GRC zu beachten.227 Es bestehe ein berechtigtes Interesse des Inhabers der Urheberrechte, nicht mit diesen diskriminierenden Inhalten identifiziert zu werden.228 Folglich sei es Aufgabe des vorlegenden Gerichts zu beurteilen, ob bei der Anwendung der Ausnahme im Sinne des Art. 5 III lit. k der Richtlinie ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen gewahrt werde.229

EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 85. EuGH, 14. 10. 2004, Omega, RS. C-36/02, Z. 34. 222 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 86. 223 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 87. 224 EuGH, Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Villalón vom 22. 5. 2014, C- 201/13, Z. 88. 225 EuGH, 3. 9. 2014, Deckmyn und Vrijheidsfonds, RS. C-201/13, Z. 26. 226 EuGH, 3. 9. 2014, Deckmyn und Vrijheidsfonds, RS. C-201/13, Z. 27 f. 227 EuGH, 3. 9. 2014, Deckmyn und Vrijheidsfonds, RS. C-201/13, Z. 30. 228 EuGH, 3. 9. 2014, Deckmyn und Vrijheidsfonds, RS. C-201/13, Z. 31. 229 EuGH, 3. 9. 2014, Deckmyn und Vrijheidsfonds, RS. C-201/13, Z. 32. 220 221

C. Die Position der Grundrechtskataloge zum Verhältnis …69

Der EuGH griff die Erwägungen des Generalanwalts in Bezug auf die grundlegenden Werte und deren Einfluss auf die Gewährleistung der Meinungsfreiheit nicht in einer Art und Weise auf, die Rückschlüsse auf die Sichtweise des Gerichtshofs zur Frage des Ansatzes der „Streitbarkeit“ in der Unionsrechtsordnung zuließe. Der Rechtsprechung des EuGH kann bisher keine Aussage diesbezüglich entnommen werden. Die Schlussanträge des Generalanwalts werfen Fragen auf, die offen bleiben. Die Rechtsprechung des EuGH verneint den „streitbaren Charakter“ für die unionale Grundrechtsordnung aber zumindest nicht. Die Annahme der „Streitbarkeit“ findet hingegen eine Stütze in den Bestimmungen der Unionsrechtsordnung. Im Einzelnen ist zunächst die Präambel der GRC zu nennen, die in ihren Erwägungsgründen durch den Begriff der „Werte“ die Qualität der Union als Rechts- und Wertegemeinschaft230 bestätigt.231 Sie weist der EU die Aufgabe zu, die gemeinsamen Werte zu erhalten und zu entwickeln.232 Der Rechtscharakter der Präambel ist umstritten.233 Sie ist aber jedenfalls Auslegungshilfe für den Text der GRC und als solche hier relevant.234 Die Grundsätze der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden in den Titeln V und VI der Charta ausformuliert und bestätigt.235 Art.  14 III GRC enthält mit der Verpflichtung auf „demokratische Grundsätze“ ein weiteres Indiz für eine Verpflichtung auf demokratische Mindeststandards.236 Art. 52 I GRC deutet mit seiner Formulierung von den „von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“ darauf hin, dass Grundrechte unter bestimmten Voraussetzungen zugunsten grundlegender Prinzipien eingeschränkt werden können. Eine autonome Zielfestsetzung durch die Mitgliedstaaten ist nicht möglich; erst die unionsrechtliche Anerkennung verleiht den Zielen die Qualität eines schützenswerten Guts im Rahmen des Schrankenvorbehalts.237 Diese unionsrechtliche Anerkennung drückt sich in den Wertebezügen der Charta und des sonstigen Primärrechts, insbesondere

Häberle, Europäische Verfassungslehre, S.  161; Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/ AEUV, Art. 2 Rn. 3; vgl. Ruffert, DVBl. 2006, 1294. 231 Stern/Tettinger, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), GRC, Präambel Rn. 25. 232 „Die Union trägt zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene bei. Sie ist bestrebt, eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung zu fördern und stellt den freien Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit sicher.“ 233 Siehe hierzu Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Präambel Rn. 1; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, §  14 Rn.  53; Meyer, in: Meyer (Hrsg.), GRC, ­Präambel Rn. 2. 234 Meyer, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Präambel Rn. 6. 235 Meyer, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Präambel Rn. 34. 236 Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S.  379, 408; Klamt, Streitbare Demokratie, S. 367. 237 Gärditz, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, § 5 Rn. 97, 99: vgl. auch Stern, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Art. 11 Rn. 53; zweifelnd: Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 5. 230

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

in Art. 2 EUV, aus.238 Sie ist nicht auf jene Ziele beschränkt ist, die die Union nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung selbst verwirklichen kann.239 Die Schutzgüter, die in ein Spannungsverhältnis mit der Meinungsfreiheit treten können, gehen darüber hinaus.240 Auch das primärrechtskonforme Sekundärrecht kann Anhaltspunkte liefern.241 Art. 54 GRC ist als Missbrauchsverbot242 Ausdruck einer Idee „wehrhafter Demokratie“.243 Das Missbrauchsverbot des Art. 54 GRC ist Art. 17 EMRK nachgebildet. Die Erwägungen, die angestellt wurden, um zu begründen, warum Art. 17 EMRK ein Indiz für den Ansatz der „streitbaren Demokratie“ ist, gelten für Art. 54 GRC gleichermaßen.244 Im Primärrecht außerhalb der GRC nennt die Präambel des EUV in Absatz 2 und 4 die Grundsätze, die die Union als Rechts- und Wertegemeinschaft auszeichnen und bestätigt das Bekenntnis zu Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Menschenrechten und Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit.245 Weiter ist Art.  7 EUV Ausdruck des Ansatzes der „streitbaren Demokratie“.246 Indem er die nachhaltige Verletzung der grundlegenden Werte der Union mit Sanktionen belegt,247 ist er Indiz dafür, dass die Unionsrechtsordnung für diese Standards eintritt und sie schützt.248

238 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 52 Rn. 23b; Gärditz, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, § 5 Rn. 100. 239 Gärditz, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, §  5 Rn.  100; Hilf, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HbGR VI/1 § 164 Rn. 21; a. A. Mager, EuR 2004, Beiheft 3, 41, 51 f.; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 134; kritisch auch: Von Danwitz, in: Tettinger/ Stern (Hrsg.), GRC, Art. 52 Rn. 37. 240 Die weiteren offenen dogmatischen Fragen um die Ermittlung der Gemeinwohlziele können hier jedoch nicht abschließend geklärt werden (vgl. hierzu Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, nach Art. 6 EUV Rn. 72). 241 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 31. 242 Siehe hierzu näher unten Kapitel 4, A., I., 1., b). 243 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 1, 11; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 54 Rn. 1; Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 23; Mazor, in: Sajó (Hrsg.), Abuse, S. 295, 303. 244 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 1; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 54 Rn. 1; Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 23; Bezemek, in: Holoubek/Lienbacher (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 4; Streinz/Michl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 54 Rn. 1 ff. 245 Heintschel von Heinegg, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Präambel EUV Rn. 6; Geiger, in: Geiger/Khan/Kotzur (Hrsg.), EUV/AEUV, Präambel EUV Rn. 19. 246 Schorkopf, Maßnahmen, S. 119; Rensmann, German Law Journal 2003, 1117, 1135 f.; Yamato/ Stephan, DÖV 2014, 58, 63; vgl. hierzu auch Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 7 EUV Rn. 12; Graf Vitzthum, EuR 2002, 1, 10; Von Bogdandy/Ioannidis, ZaöRV 2014, 283, 292; Herdegen, Europarecht, § 6 Rn. 10; zu Art. 7 EUV ausführlich Serini, Sanktionen der Europäischen Union bei Verstoß eines Mitgliedstaats gegen das Demokratie- oder Rechtsstaatsprinzip. 247 Herdegen, Europarecht, § 6 Rn. 12. 248 Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 7 EUV Rn. 1; Bitterlich, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 7 Rn. 1; vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 7 EUV Rn. 1; Calliess, JZ 2004, 1033.

C. Die Position der Grundrechtskataloge zum Verhältnis …71

Art. 2 EUV belegt ebenfalls, dass das Konzept der „streitbaren Demokratie“ in der Unionsrechtsordnung angelegt ist.249 Die Bestimmung ist Ausdruck der Verfassungsprinzipien der EU sowie ihrer Wertegebundenheit.250 Allerdings könnte man annehmen, Art. 2 EUV sei bloßes politisches bzw. deklaratorisches Bekenntnis zu abstrakten Werten.251 Hiergegen spricht die Möglichkeit eines Vertragsverletzungsverfahrens bei Verletzung einzelner Werte,252 aber vor allem das Zusammenspiel mit Art. 7 EUV sowie Art. 49 EUV, die ausdrücklich auf Art. 2 EUV verweisen und dessen Nichtbeachtung mit rechtlich bindenden Sanktionen belegen.253 Da auch mitgliedstaatliches Unterlassen die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 7 EUV erfüllen kann,254 kann man aus der Bestimmung eine Pflicht der Mitgliedstaaten begründen, gegen Gefährdungen der Werte des Art. 2 EUV vorzugehen.255 Diese Pflicht ist aber nicht notwendig, um den Ansatz der „streitbaren Demokratie“ in der Grundrechtsordnung der GRC nachzuweisen.256 Auch Art. 3 I i. V. m. Art. 2 EUV kann angeführt werden, weil er die Europäische Union verpflichtet, die Werte zu schützen.257 Daraus kann abgeleitet werden, dass

Vgl. weiter zu den Funktionen der Werte des Art.  2 EUV (Ordnungsfunktion, Untermauerung rechtlicher Argumente, Korrektionsfunktion) Von Bogdandy, in: v. Bogdandy/Bast (Hrsg.), ­Europäisches Verfassungsrecht, S. 17 ff. 250 Bitterlich, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU-Verträge, Art. 2 EUV Rn. 2; Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 1; vgl. hierzu Ohler, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XI, § 238 Rn. 33. 251 Vgl. hierzu Murswieck, NVwZ 2009, 481, 482. 252 Yamato/Stephan, DÖV 2014, 58, 65; Von Bogdandy u. a., ZaöRV 2012, 45, 46; allerdings ist interessant, dass die Europäische Kommission und die Mitgliedstaaten bis jetzt eine strenge Zurückhaltung bezüglich der Initiierung von Vertragsverletzungsverfahren aufgrund Art.  2 EUV gezeigt haben; es ist nämlich noch nicht klar, wie weit die Zuständigkeit des EuGH reicht, wenn keine grenzüberschreitenden Elemente vorliegen (Ladenburger, FIDE-Bericht, S. 11 ff.). 253 Schwarze, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art.  2 EUV Rn.  2; Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art.  7 Rn.  2; Láncos, Das Problem der Durchsetzung und Bestimmung, S. 4 f.; Terhechte, EuR 2008, 143, 151. 254 Klamt, Streitbare Demokratie, S. 332 f. 255 Schorkopf, Maßnahmen, S.  119  ff.; Klamt, Streitbare Demokratie, S.  333; Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S.  379, 411  f.; vgl. hierzu: Ahtisaari/Frowein/Oreja, EuGRZ 2000, 404 Z. 3. 256 Die ausführliche Betrachtung des Umfangs einer Pflicht der Mitgliedstaaten zur Wert- und Wehrhaftigkeit kann für die vorliegende Bearbeitung unterbleiben. Hierzu Klamt, Streitbare Demokratie, S. 345 ff. (Klamt führt zusätzlich Art. 2 S. 2 EUV, Art. 49 und die praktische Wirksamkeit sowie den Anwendungsvorrang des Unionsrechts zur Begründung einer solchen Pflicht an, allerdings lehnt er eine Pflicht zur Einrichtung spezieller Instrumente „streitbarer Demokratie“ ab; es sei nur die Pflicht zur Umsetzung des Gedankens „streitbarer Demokratie“ aus dem Unionsrecht zu begründen); weiter hierzu Schorkopf, Maßnahmen, S. 73, 130 ff.; Hatje, DVBl. 2005, 261, 266; Rensmann, in: Blumenwitz/Gornig/Murswieck (Hrsg.), Die Europäische Union als Wertegemeinschaft, S. 49, 69. 257 Obwexer, in: Mayer/Stöger (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 2 Rn. 49. 249

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

sie diese gegebenenfalls auch gegen Grundrechtsträger verteidigen muss.258 Weiter bekräftigt Art. 21 EUV (iVm Art. 3 V EUV) die vertragliche Verpflichtung der EU, grundlegende Werte ihres Systems in allen Bereichen, so auch in den Außenbeziehungen, zu wahren.259 Auch die Regelungen der Art. 67 ff. AEUV zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts können, insbesondere unter Betrachtung des Art. 67 III AEUV (Prävention und Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit) sowie der Art. 82 ff., 87 ff. AEUV, Anhaltspunkte für eine streitbare Konzeption der Unionsrechtsordnung liefern.260 Auch Art. 4 III EUV kann Anknüpfungspunkt für eine unionsrechtliche Pflicht der Mitgliedstaaten zum Einschreiten gegen demokratiefeindliche Äußerungen sein, wenn und soweit gemeinsame Werte der Union bedroht sind.261 Diese Nachweise belegen, dass auch die Grundrechtsordnung des Unionsrechts den Ansatz der „streitbaren Demokratie“ kennt und keine wertrelativistische Konzeption verfolgt.262 Einschränkungen der Meinungsfreiheit zum Schutz demokratischer Werte können prinzipiell auch in der Grundrechtecharta zulässig sein.

D. Zwischenergebnis zur prinzipiellen Möglichkeitdes Verbots demokratiefeindlicher Äußerungen Der Garantie des Grundrechts der Meinungsfreiheit kommt in der Demokratie eine herausragende Bedeutung zur Gewährleistung des freien Austauschs von Meinungen und der öffentlichen Willensbildung zu. Gleichzeitig entwächst dieser Garantie aber die Gefahr, dass sie gebraucht wird, um die Demokratie zu gefährden. Äußerungen können demokratische Grundwerte verneinen und sich gegen die Fundamente der demokratischen Ordnung wenden, wodurch die Demokratie im Einzelfall nachhaltig gefährdet werden kann. Behörden und Gerichte stehen in Anbetracht dessen vor einer Situation, die als „demokratisches Dilemma“ bezeichnet wird. Die Gewährleistung der Meinungsäußerungsfreiheit ist eine demokratische Notwendigkeit, ihre Einschränkung kann jedoch unter bestimmten Umständen ebenso wichtig für das demokratische System sein. Die Gewährleistung der demokratischen Freiheit kann

Terhechte, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Art. 3 EUV Rn. 3: Aus Art. 3 I EUV folgt eine „unbedingte Berücksichtigungspflicht“ des Art. 2 EUV und damit eine „gesteigerte Normativität“ auch der Unionswerte. 259 Klamt, Streitbare Demokratie, S. 401. 260 Klamt, Streitbare Demokratie, S. 387. 261 Siehe hierzu ausführlich Hatje, DVBl. 2005, 261, 266 f.; Yamato/Stephan, DÖV 2014, 58, 63; Klamt, Streitbare Demokratie, S. 354 ff. 262 Klamt, Streitbare Demokratie; Streinz/Michl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 54 Rn. 1, 2; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art.  54 Rn.  1; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art.  54 Rn.  2 („Rechtsgedanke des wehrhaften Grundrechtsschutzes“); Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art.  54 Rn.  1; Ohler, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR XI, § 238 Rn. 33; Zuleeg, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 41, 51; Schorkopf, Maßnahmen, S. 123. 258

D. Zwischenergebnis zur prinzipiellen Möglichkeit …73

zu einer Gefährdung der gleichen Freiheit führen. Dies kann die staatliche Intervention in diese Freiheit einiger notwendig machen kann, um sie für andere garantieren zu können. Daraus entsteht ein Zielkonflikt in der demokratischen Ordnung. Zur Auflösung dieses „demokratischen Dilemmas“ konnte einerseits der wertrelativistische Ansatz genannt werden. Dieser geht letztlich von einer vollkommenen Werteneutralität der demokratischen Ordnung aus und würde in letzter Konsequenz die Abschaffung demokratischer Fundamente mit demokratischen Mitteln dulden. Andererseits konnte das Konzept der „streitbaren Demokratie“ dargestellt werden. Nach letztgenanntem Ansatz können bestimmte Grenzen der grundrechtlichen Freiheit legitimiert werden, damit die Demokratie in die Lage versetzt wird, sich selbst zu verteidigen. Gleichzeitig konnte dargelegt werden, dass mit dem Ansatz einer „streitbaren Demokratie“ das Konzept einer „werthaften Demokratie“ einhergeht und insgesamt ein bestimmter Kreis an Werten definiert wird, deren Abschaffung nicht geduldet wird und zu deren Verteidigung bestimmte Instrumente im Rechtssystem vorgesehen werden. Für die drei Grundrechtskataloge, EMRK, GRC und GG, konnte sodann dargelegt werden, dass sie allesamt Mechanismen zur Verteidigung grundlegender demokratischer Werte enthalten und den Ansatz der „streitbaren Demokratie“ erkennen lassen. Für die EMRK und das Grundgesetz lässt sich gleichermaßen historisch belegen, dass sie eine spezifische Entstehungsgeschichte haben und gerade vor dem Hintergrund der Erfahrung des Nationalsozialismus und seiner Entwicklung sowie unter dem Eindruck der Weimarer Republik in dem Bewusstsein geschaffen wurden, die demokratische Ordnung dagegen verteidigen können zu müssen, erneut in eine totalitäre Ordnung umzuschlagen. Diese Intention findet sich dann auch in den Rechtsgrundlagen. Sowohl das Grundgesetz als auch die EMRK zeigen zahlreiche Belege für den Ansatz der „streitbaren Demokratie“ in ihren Bestimmungen. Die Grundrechtsordnung der Grundrechtecharta und insbesondere die Unionsrechtsordnung insgesamt weisen auch Regelungen auf, die den Ansatz der „streitbaren Demokratie“ belegen. Sowohl in der EMRK als auch im Grundgesetz und in der Grundrechtecharta ist es somit nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass der grundrechtlichen Freiheit gerade aus dem Grund Grenzen gesetzt sind, weil demokratische Mindeststandards und die demokratische Ordnung geschützt werden. Dieses Ergebnis dient als Ausgangspunkt und Voraussetzung für die weiteren Überlegungen in den folgenden Kapiteln.263

Die Frage nach den Einzelheiten des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen macht nur nach der Feststellung Sinn, dass der grundrechtlichen Freiheit Grenzen gesetzt sind, weil demokratische Mindeststandards und die demokratische Ordnung geschützt werden. Kapitel 2 diente dazu, die in den folgenden Kapiteln enthaltenen schwerpunktmäßigen Ausführungen vorzubereiten. Mit dieser Arbeit wird nicht der Anspruch erhoben, zu beantworten, ob die drei Grundrechtsordnungen „streitbare Demokratien“ sind. Hierin läge eine separate Frage, die einer Erörterung über die hier getätigten Ausführungen hinaus bedürfte und zu deren Beantwortung die in der vorliegenden Arbeit angestellten Erwägungen in den folgenden Kapiteln Voraussetzung, nicht aber Konsequenz wären. 263

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Kapitel 2: Das sogenannte „demokratische Dilemma“ als Ausgangspunkt

Insbesondere ist zu untersuchen, ob und bejahendenfalls inwieweit angenommen werden muss, dass die demokratiefeindlichen Äußerungen wegen des Ansatzes der „streitbaren Demokratie“ schon nicht in den Schutzbereich des Grundrechts fallen. Während im vorangegangenen Kapitel die grundsätzliche Einschränkbarkeit grundrechtlicher Freiheit zum Schutz demokratischer Mindeststandards in den Grundrechtsordnungen festgestellt wurde, werden die folgenden Ausführungen der Art und Weise der Einschränkung gewidmet sein und danach fragen, ob die „Streitbarkeit“ bereits dazu führen muss, dass man davon auszugehen hat, dass demokratiefeindliche Äußerungen nicht im Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie der Meinungsfreiheit liegen.

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen

Inhaltsverzeichnis A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zurBetroffenheit des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . .   77 I. „Hate Speech“ („Hassrede“). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   78 1. Die Rechtsprechung des EGMR und die Praxis der EKMR zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei „Hassreden“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    78 a) Zulässigkeit der Individualbeschwerde in Fällen von „Hassreden“ . . . . . . . . . .    79 b) Begründetheit der Individualbeschwerde in Fällen von „Hassreden“. . . . . . . . .    91 c) „Hassrede“ in Form von kollektiven Äußerungen als Sonderfall. . . . . . . . . . . .    99 d) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  105 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei „Hassreden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  105 a) Die Rechtsprechung zur Auslegung des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG. . . . . . . . . . . . . . .  106 b) Anträge auf Ausspruch der Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG. . .  108 3. Die Rechtsprechung des EuGH zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei „Hassreden“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109 a) Das Urteil Feryn des EuGH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  110 b) Das Urteil Mesopotamia Broadcast des EuGH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  111 c) Äußerungsrechtliche Konstellationen im Bereich des europäischen Dienstrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  113 d) Sonstige Anwendungsfälle zu Art. 54 GRC in der Rechtsprechung des EuGH. 113 e) Übertragung der Rechtsprechung des EGMR zu „Hassreden“ auf die Garantien der GRC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  113 II. Im Besonderen: Revisionistische bzw. negationistische Äußerungen. . . . . . . . . . . . .  114 1. Die Rechtsprechung des EGMR und die Praxis der EKMR zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei revisionistischen bzw. negationistischen Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  114 a) Zulässigkeit der Individualbeschwerde in Fällen revisionistischer bzw. negationistischer Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  115 b) Begründetheit der Individualbeschwerde in Fällen revisionistischer bzw. negationistischer Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  127 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei revisionistischen bzw. negationistischen Äußerungen . . . . .  129 a) Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . .  129 b) Äußerungen im Schutzbereich der Meinungsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  131 © Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2019 A. K. Struth, Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58153-7_3

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Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

3. Die Rechtsprechung des EuGH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  134 III. Im Besonderen: Äußerungen in Form des Tragens von Symbolen. . . . . . . . . . . . . .   134 1. Die Rechtsprechung des EGMR zu symbolischen Äußerungen. . . . . . . . . . . . . .   134 a) Art. 17 EMRK als Kriterium des Schutzbereichs auf Ebene der ­Zulässigkeit der Individualbeschwerde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   134 b) Art. 17 EMRK nach Prüfung des Art. 10 II EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   136 c) Prüfung des Art. 10 II EMRK ohne Art. 17 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   138 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   139 3. Die Rechtsprechung des EuGH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   140 B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit dem ­Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen. . . . .   140 I. Die ausschließliche Maßgeblichkeit der „Missbrauchsklausel“ für die ­Zulässigkeit der Beschwerde������������������������������������������������������������������������������������  141 II. Der Einfluss der Geltendmachung des Art. 17 EMRK durch den beklagten Staat����������������������������������������������������������������������������������������������������������  143 III. Die Urheberschaft in Bezug auf die Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   146 1. Die Rechtsprechung des EGMR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   146 2. Die Rechtsprechung der deutschen Gerichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   150 IV. Der Inhalt und die inhaltlich-politische Tendenz der Äußerung. . . . . . . . . . . . . . . .   151 1. Die Rechtsprechung des EGMR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   152 a) Der Inhalt der Äußerung als Kriterium des Schutzbereichs . . . . . . . . . . . . . . .   152 b) Inhalte außerhalb des Schutzbereichs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   156 c) Im Besonderen: Nationalsozialistische Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   157 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    164 V. Die Wahrheit der Äußerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   166 1. Die Rechtsprechung des EGMR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    166 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    175 VI. Die „Schädlichkeit“ der Äußerung in der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . .    179 VII. Das Verhältnis der Äußerung zu potenziellen oder tatsächlichen Gewalt- und Hasshandlungen��������������������������������������������������������������������������������������������������������   182 1. Die Rechtsprechung des EGMR. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    182 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    186 C. Zwischenergebnis zur Rechtsprechungsanalyse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    187 D. Vergleich und Wechselwirkungen zwischen der Rechtsprechung von EGMR und Bundesverfassungsgericht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    193

Zunächst ist die Rechtsprechung der zur Auslegung der grundrechtlichen Garantien der drei untersuchten Grundrechtskataloge berufenen Gerichte (EGMR, BVerfG, EuGH) dahingehend auszuwerten, ob und inwieweit sie demokratiefeindliche Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit ausschließt. Hierzu ist zunächst die Rechtsprechung des jeweiligen Gerichts im Einzelnen zu analysieren und zu kategorisieren (A.). Vor diesem Hintergrund ist dann zu überprüfen, inwiefern den in der Literatur vertretenen Thesen dazu, ob und in welchen Fällen die Rechtsprechung Hassreden und andere demokratiefeindliche Äußerungen aus dem Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie der freien Meinungsäußerung im jeweiligen Grundrechtskatalog ausschließt, zugestimmt werden kann (B.).

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …77

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur Betroffenheit des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen Für die Rechtsprechung des EGMR, dem für die Ebene der EMRK gemäß Art. 19 EMRK zur verbindlichen Letztentscheidung zuständigen Rechtsprechungsorgan, ist zu untersuchen, inwieweit sie den Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen für nicht betroffen hält und welche Rolle Art. 17 EMRK dabei einnimmt. Art. 17 EMRK wird als „Missbrauchsklausel“ der EMRK bezeichnet.1 Er sieht vor, dass die Konvention nicht so auszulegen ist, „als begründe sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist“. In manchen Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen nimmt der EGMR an, dass die Äußerung  – teilweise gemäß Art.  17 EMRK  – nicht im Schutzbereich des Grundrechts der Meinungsäußerungsfreiheit liegt und dass der Betroffene sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen kann.2 Bei einem Rekurs auf Art. 17 EMRK in diesem Sinne endet die Prüfung mit der Feststellung, dass ein Grundrechtsmissbrauch vorliegt.3 In anderen Fällen geht der Gerichtshof davon aus, dass die ­staatliche Maßnahme einen Eingriff in den Schutzbereich darstellt, dessen Rechtfertigung – teilweise unter Heranziehung des Art. 17 EMRK – nach Art. 10 II EMRK geprüft werden muss.4 In einigen Fällen entscheidet der EGMR auch über 1

Siehe hierzu ausführlich unten Kapitel 4, A., I., 1., a).

Terminologie unterschiedlich: „Nichtanwendungsmodell“ (Hong, ZaöRV 2010, 73 ff.); „direct application“ (Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 192; „application directe“ (Le Mire, in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg.), CEDH, Art.  17 S.  517  ff.); „direct approach“ (Villiger, in: FS Bratza, S.  321, 324.); „effet guillotine“ (Flauss, RUDH 1992, 461, 464; Cohen-Jonathan, in: Mélanges Dubouis, S. 527); „kategorischer Ausschlussgrund“ (Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 113); „broader approach“ (Tulkens, in: FS Bratza, S.  279, 280); „Tatbestandslösung“ (Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 4; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  5 Rn.  70); „Tötung der Beschwerde durch sofortige und unmittelbare Sanktionierung des Rechtsmissbrauchs“ (Cohen-Jonathan, in: Mélanges Dubouis, S. 527); „déchéance pure et simple“ (Van Drooghenbroeck, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 188); “Kategorisierungsmethode” (Christou, Die Hassrede in der verfassungsrechtlichen Diskussion, S. 51 ff.); „präventive Anwendung“ (Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 154). 2

3

Cohen-Jonathan, in: Mélanges Dubouis, S. 527.

Terminologie unterschiedlich: „Rechtfertigungsmodell“ (Hong, ZaöRV 2010, 73  ff.); „indirect application“ (Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 192); „application indirecte“ oder „réserve d’interprétation“ (Le Mire, in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg.), CEDH, Art. 17 S. 517 ff.); „indirect approach“ (Villiger, in: FS Bratza, S. 321, 324); „Indiz der Verhältnismäßigkeit“ (Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 113); „narrower approach“ (Tulkens, in: FS Bratza, S. 279, 280); „version soft“ oder „arrière-fond interprétatif“ oder „renfort interprétatif“ (Van Drooghenbroeck, in: Dumont u.  a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, 4

78

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

den Schutz einer demokratiefeindlichen Äußerung ohne Art. 17 EMRK anzuwenden oder zu erwähnen.5 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie des EuGH wird, soweit vorhanden, in der Folge entsprechend in die genannten Kategorien eingeordnet und dargestellt. Aus einer gegenüberstellenden Analyse sollen Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf einen Ausschluss der untersuchten Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit gewonnen werden. Für eine detaillierte Analyse der Rechtsprechung sind innerhalb der demokratiefeindlichen Äußerungen „Hassreden“ (I.), revisionistische Äußerungen (II.) und Äußerungen in Form des Tragens von Symbolen (III.) zu trennen, um eventuell bestehende Unterschiede sichtbar machen zu können.

I. „Hate Speech“ („Hassrede“) In einem ersten Schritt sollen Äußerungen betrachtet werden, die hier als „Hassrede“ bezeichnet werden.6 1. Die Rechtsprechung des EGMR und die Praxis der EKMR zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei „Hassreden“ Im Hinblick auf den grundrechtlichen Schutz demokratiefeindlicher Äußerungen in der EMRK werden für die Rechtsprechung insbesondere zwei Bestimmungen der Konvention relevant. Art. 10 EMRK gewährleistet, dass „jede Person (…) das Recht auf freie Meinungsäußerung“ hat. Art. 17 EMRK bestimmt, dass „diese Konvention nicht so auszulegen [ist], als begründe sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist“. Ausgangspunkt der Betrachtung der Rechtsprechung des EGMR im Bereich von „Hassreden“ im Einzelnen muss die sog. „Handysideformel“ sein. Der EGMR geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass der Schutzbereich der Meinungsfreiheit S.  139, 180, 184, 186, 192); „clause d’interprétation“ (Flauss, RUDH 1992, 461, 464); „règle d’interprétation“ oder „principe d’interprétation“ (Droin, Les limitations à la liberté d'expression dans la loi sur la presse du 29 juillet 1881, S. 205, 207; Cohen-Jonathan, RUDH 1995, 1, 4); „instrument de mesure de la nécessité, dans une société démocratique, des restrictions“ (Wachsmann in: Flauss/Da Salvia (Hrsg,), La CEDH, S. 101, 107); „Auslegungsregel“ (Partsch, in: Bettermann/ Neumann/Nipperdey, Bd. 1, 1. Halbband, Die Grundrechte in der Welt, S. 243, 316); „affirmative Anwendung“ (Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 153). Ansatz, die Rechtfertigung anhand eines Konventionsrechts ohne Art. 17 zu prüfen und allein auf das Ergebnis dieser Prüfung abzustellen („absorption approach“ (Terminologie nach Arai, in: Van Dijk/Van Hoof/Van Rijn/Zwaak (Hrsg.), Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 1086 ff.)).

5

6

Zur Verwendung des Begriffs „Hassrede“ siehe oben Kapitel 1, D.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …79

auch Informationen oder Ideen umfasst, die „den Staat oder irgendeinen Teil der Bevölkerung verletzen, schockieren oder beunruhigen.“7 Trotz dieser prinzipiell sehr weiten Konzeption des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit lassen sich in einigen Entscheidungen der Konventionsorgane zu „Hassreden“ enge Grenzen des Schutzbereichs erkennen, wohingegen andere Urteile und Entscheidungen der weiten Schutzbereichskonzeption folgen und die Äußerungen in den Schutzbereich einschließen. Im Folgenden soll die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art.  10 EMRK in Fällen von „Hassreden“ systematisch dargestellt werden. a) Zulässigkeit der Individualbeschwerde in Fällen von „Hassreden“ Nach Art. 35 III EMRK erklärt der Gerichtshof eine nach Art. 34 EMRK erhobene Beschwerde für unzulässig, wenn er sie für unvereinbar mit der Konvention oder den Protokollen dazu, für offensichtlich unbegründet oder für missbräuchlich hält oder wenn er der Ansicht ist, dass dem Beschwerdeführer kein erheblicher Nachteil entstanden ist, es sei denn, die Achtung der Menschenrechte, wie sie in dieser Konvention und den Protokollen dazu anerkannt sind, erfordert eine Prüfung der Begründetheit der Beschwerde, und vorausgesetzt, es wird aus diesem Grund nicht eine Rechtssache zurückgewiesen, die noch von keinem innerstaatlichen Gericht gebührend geprüft worden ist. Die Beschwerden in den vorliegend zu betrachtenden Fällen werden im Wesentlichen aus zwei Gründen für unzulässig erklärt. Zum einen kann eine Beschwerde gemäß Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK ratione materiae mit der Konvention unvereinbar sein. Hierbei ist entscheidend, ob das vom Beschwerdeführer geltend gemachte Recht für den Einzelfall von der Konvention garantiert wird. Daran fehlt es zum Beispiel dann, wenn ein geltend gemachtes Recht von der EMRK überhaupt nicht gewährleistet wird, ein Sachverhalt im Einzelfall nicht vom Schutzbereich der einschlägigen Grundrechte umfasst wird oder der beklagte Staat einen gültigen Vorbehalt nach Art. 57 EMRK erklärt hat.8 Die Unvereinbarkeit der Beschwerde

EGMR, 7. 12. 1976, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5493/72, Z. 49 („Freedom of expression constitutes one of the essential foundations of such a society, one of the basic conditions for its progress and for the development of every man. Subject to paragraph 2 of Article 10 (Art. 10-2), it is applicable not only to "information" or "ideas" that are favourably received or regarded as inoffensive or as a matter of indifference, but also to those that offend, shock or disturb the State or any sector of the population. Such are the demands of that pluralism, tolerance and broadmindedness without which there is no "democratic society"“). Diese Urteilspassage und deren Aussage, der Schutzbereich des Art. 10 EMRK sei grundsätzlich weit zu interpretieren und schließe auch verletzende, schockierende und beunruhigende Äußerungen ein, wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit als „Handysideformel“ bezeichnet. Vgl. zur weiten Schutzbereichskonzeption des EGMR bei Art. 10 EMRK im Allgemeinen Möller, Der grundrechtliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit, S. 174.

7

8

Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13 Rn. 58 m. w. Nw.

80

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

mit der Konvention muss dabei offensichtlich sein.9 Für den vorliegenden Zusammenhang bedeutet dies, dass der Unzulässigkeitsgrund der Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae nach Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK anwendbar ist, wenn und soweit der Sachverhalt nicht vom Schutzbereich der Konventionsgarantie erfasst ist.10 Andererseits kann der Unzulässigkeitsgrund der offensichtlichen Unbegründetheit der Beschwerde gemäß Art.  35 III lit. a) Alt.  2 EMRK eingreifen. Der Begriff der „Offensichtlichkeit“ meint nicht, dass „dem ersten Anschein nach“ kein Beschwerdegrund vorliegt. Die Beschwerde darf vielmehr keine „schwerwiegenden Fragen tatsächlicher und rechtlicher Natur“ aufwerfen.11 Eine solche „offensichtliche“12 Unbegründetheit liegt vor, wenn und soweit die Beschwerde nicht ausreichend substantiiert ist, der Tatsachenvortrag nicht zutrifft, die unrichtige Anwendung innerstaatlichen Rechts gerügt wird oder offensichtlich keine Verletzung der EMRK stattgefunden hat, weil es bereits an einem Eingriff in das geltend gemacht Recht fehlt bzw. der Eingriff gerechtfertigt war.13 Für den vorliegenden Zusammenhang ist entscheidend, dass die offensichtliche Unbegründetheit einer Beschwerde dann zutreffender Unzulässigkeitsgrund ist, wenn offensichtlich keine Verletzung der EMRK vorliegt, weil der Eingriff in die grundrechtliche Garantie gerechtfertigt war.14 Damit müsste bei zutreffender Verwendung der Unzulässigkeitsgründe immer dann, wenn von einem Ausschluss der fraglichen Äußerung aus dem Schutzbereich des Art. 10 EMRK, ausgegangen wird, auf Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK – Unvereinbarkeit der Beschwerde ratione materiae mit der Konvention  – zurückgegriffen werden. In den Fällen, in denen durch ein Äußerungsverbot ein Eingriff in den Schutzbereich angenommen, aber von einer evidenten Rechtfertigung dieses Eingriffs ausgegangen wird, müsste Art. 35 III lit. a) Alt. 2 EMRK, die offensichtliche Unbegründetheit, angewendet werden. Dies ist bei Betrachtung jener Entscheidungen, die Erwägungen zur grundrechtlichen Behandlung demokratiefeindlicher Äußerungen auf Zulässigkeitsebene enthalten, zu beachten.

9

Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13 Rn. 59.

Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13 Rn. 58 unter Hinweis auf EGMR, 25. 11. 1999, Ocic ./. Kroatien, Nr. 46306/99, Z. 2; EGMR, 28. 10. 1999, Cierva Osorio de Moscoso u.  a. ./. Spanien, Nr. 41127/98 u. a., Z. 1; EGMR, 7. 9. 1999, Hilbe ./. Liechtenstein, Nr. 31981/96; Peters/Altwicker, in: Leible/Terhechte (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, Bd. 3, § 13 Rn. 12. 10

11

Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13 Rn. 60.

Hier darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der EGMR sich häufig an dieser Stelle ausführlich mit den im Einzelfall aufgeworfenen Fragen auseinandersetzt, bevor er eine „offensichtliche“ Unbegründetheit und damit eine Unzulässigkeit der Beschwerde annimmt. Eine „offensichtliche“ Unbegründetheit wird in den meisten Fällen erst nach eingehender Prüfung des Falls angenommen.

12

13

Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13 Rn. 61.

Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13 Rn. 61 unter Hinweis auf EGMR, 8. 1. 2002, Schultz ./. Polen, Nr. 50510/99, Z. 1; EGMR, 10. 7. 2012, Dennis Grainger u. a. ./. Großbritannien, Nr. 34940/10, Z. 39 ff. 14

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …81

i. Äußerungen gemäß Art. 17 EMRK außerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK In einigen Fällen wurde auf Ebene der Zulässigkeit der Beschwerde angenommen, die Äußerungen lägen gemäß Art.  17 EMRK nicht im Schutzbereich des Art.  10 EMRK und die Beschwerde wurde gemäß Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK als unzulässig abgewiesen. Die Annahme, die Äußerung liege nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit bzw. eine Unanwendbarkeit des Art. 10 I EMRK unter Heranziehung des Art. 17 EMRK auf Ebene der Zulässigkeit mit dem Ergebnis der Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae vertrat die EKMR in einem Fall fremdenfeindlicher und rassistischer Äußerungen.15 Die Beschwerdeführer hatten Flugblätter an das von ihnen so bezeichnete „weiße holländische Volk“ verteilt, auf denen sie die Anwesenheit von „Surinamern, Türken und anderen sogenannten Gastarbeitern“ beklagten. Die Beschwerdeführer kündigten in den Flugblättern an, nach einer Machtübernahme durch die politische Partei, deren Präsident und Vizepräsident die Beschwerdeführer waren, würden sie den Kampf für das „weiße Volk“ fortführen und für die Ausweisung der bezeichneten Gruppen eintreten. Die Beschwerdeführer wurden wegen Rassenhetze verurteilt und weiter wurde ihnen verboten, von ihrem passiven Wahlrecht bei einer Kommunalwahl Gebrauch zu machen.16 Der EGMR folgt einem ähnlichen Begründungsweg mit dem gleichen Ergebnis in einem Fall eines Plakats mit islamfeindlichem Inhalt17 sowie bei der Entscheidung über einen Sachverhalt, in dem es um eine Publikation mit antisemitischen Parolen ging.18 Im Fall Norwood führte der EGMR aus, es handle sich bei dem Plakat mit der Aufschrift „Islam out of Britain – Protect the British People“ – weil die gesamte Gruppe mit einem terroristischen Akt in Verbindung gebracht wurde – um einen so vehementen, generellen Angriff auf eine religiöse Gruppierung, dass davon ausgegangen werden müsse, dass die Äußerungen mit den Werten der Konvention unvereinbar sei. Der Beschwerdeführer, ein Mitglied der rechtsextremen British National Party (BNP), war wegen eines unter seiner Verantwortlichkeit im Fenster seiner Wohnung aufgehängten Plakats, das ein Foto der brennenden Türme des World Trade Centers in New York zeigte und den genannten Spruch darunter sowie ein Symbol eines Sichelmondes und eines Sterns in einem Verbotszeichen

15

EKMR, 11. 10. 1979, Glimmerveen u. Hagenbeek ./. Niederlande, Nr. 8348/78 u. 8406/78.

16

EKMR, 11. 10. 1979, Glimmerveen u. Hagenbeek ./. Niederlande, Nr. 8348/78 u. 8406/78.

EGMR, 16. 11. 2004, Norwood ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 23131/03 („Such a general, vehement attack against a religious group, linking the group as a whole with a grave act of terrorism, is incompatible with the values proclaimed and guaranteed by the Convention, notably tolerance, social peace and non-discrimination. The applicant's display of the poster in his window constituted an act within the meaning of Article 17, which did not, therefore, enjoy the protection of Articles 10 or 14“).

17

EGMR, 20. 2. 2007, Pavel Ivanov ./. Russland, Nr. 35222/04 („Consequently, the Court finds that, by reason of Article 17 of the Convention, the applicant may not benefit from the protection afforded by Article 10 of the Convention“).

18

82

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

enthielt, strafrechtlich verurteilt worden. Der EGMR erklärte die Beschwerde unter Anwendung des Art. 17 EMRK gemäß Art. 35 III lit. a) Alt. 1, IV EMRK für mit der Konvention unvereinbar ratione materiae und für unzulässig. Den Umstand, dass kein Muslim das Plakat gesehen hatte und keine akuten Spannungen zwischen Religionen vorhanden waren, ließ der EGMR außer Betracht. Es ist anzunehmen, dass der EGMR davon ausging, Rechtsfolge der Anwendung des Art. 17 EMRK sei, dass die betreffende Äußerung nicht vom Schutzbereich des Art. 10 EMRK umfasst ist. Im Fall Pavel Ivanov argumentierte der EGMR in ähnlicher Weise für den vehementen Angriff gegen eine ethnische Gruppierung, der ebenfalls mit den Werten der Konvention unvereinbar sei. Der Beschwerdeführer, Eigentümer und Herausgeber einer Zeitung, hatte eine Reihe von Artikeln, die Juden als Quelle des Bösen in Russland darstellten und ihren Ausschluss aus dem sozialen Leben forderten, verfasst und veröffentlicht. Er hatte die gesamte Gruppierung eines konspirativen Vorgehens gegen die russische Bevölkerung beschuldigt und er hatte der jüdischen Führung eine faschistische Ideologie zugeschrieben. Er hatte das Recht der Juden auf nationale Würde immer wieder verneint und behauptet, sie bildeten keine Nation. Er war daraufhin wegen öffentlicher Aufstachelung zu ethnischem, rassischem und religiösem Hass durch die Massenmedien verurteilt worden. Auch hier erklärte der EGMR die Beschwerde entsprechend der Annahme, die Äußerung falle nicht in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit, weil Art. 17 EMRK anwendbar sei, nach Art. 35 III lit. a) Alt. 1, IV EMRK für unzulässig, weil sie mit der Konvention ratione materiae unvereinbar sei. Gleichermaßen entschied der EGMR auch in einem Fall, in dem es um eine Person ging, die in Youtube-Videos zu Hass und Gewalt gegen alle Nicht-Muslime in Europa aufgerufen hatte, einen „Dominanzanspruch“ der Muslime in der Welt behauptet und darauf verwiesen hatte, „Allah legitimiere jede Form der Verteidigung“, man solle die „Konfrontation suchen“ und „Ehre wiege schwerer als das Leben“. Er hatte zudem im Zuge seiner Äußerung Namen konkreter Personen genannt, die die „Strafe Allahs“ getroffen hätte oder seiner Auffassung nach treffen würde.19 Hierfür war er in Belgien strafrechtlich sanktioniert worden, wogegen er Individualbeschwerde einlegte. Der EGMR ging hier wiederum davon aus, der Beschwerdeführer könne sich von vornherein nicht auf die Meinungsfreiheit berufen. Er führte aus, Art. 17 EMRK werde nur in Ausnahmefällen und unter extremen Bedingungen angewendet. Wenn er angewendet würde, hindere er allerdings die betroffene Person an der Geltendmachung der Konventionsrechte. Art.  17 EMRK sei nur anzuwenden, wenn es außer Zweifel stehe, dass die Äußerungen darauf gerichtet seien, die grundrechtliche Freiheit ihrem Zweck widersprechend zu gebrauchen, in dem die Meinungsfreiheit genutzt werde, um die Werte der Konvention zu konterkarrieren. Entscheidend sei, ob der Betroffene darauf abziele, zu Gewalt oder Hass aufzurufen und ob er versuche, die Konventionsrechte zu gebrauchen, um sie abzuschaffen.20

19

EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14.

20

EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14, Z. 31.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …83

Im vorliegenden Fall gebe es keinen Zweifel, dass die Äußerungen von Hass geprägt gewesen seien und der Beschwerdeführer zu Hass, Diskriminierung und Gewalt gegenüber allen Menschen, die nicht islamischen Glaubens sind, aufgestachelt habe. Ein solcher allgemeiner und vehementer Angriff stehe im Widerspruch zu den Werten der Toleranz, des sozialen Friedens und der Nicht-Diskriminierung, die der Konvention zugrunde lägen.21 Daher ging der Gerichtshof davon aus, der Beschwerdeführer habe versucht, Art.  10 EMRK seines Zweckes zu berauben, indem er die Meinungsfreiheit zu Zielen gebraucht habe, die dem Geist der Konvention widersprächen. Unter Verweis auf die Entscheidung im Fall M’Bala M’Bala kam er zu dem Schluss, gemäß Art. 17 EMRK könne der Beschwerdeführer den Schutz des Art. 10 EMRK nicht genießen. Die Beschwerde sei als unzulässig ratione materiae zurückzuweisen.22 In gleicher Art und Weise ging der Gerichtshof im Fall ROJ TV A/S gegen Dänemark vor.23 Ein Rundfunkunternehmen hatte wiederholt in gesendeten Beiträgen zur Förderung und Unterstützung der PKK, zur Teilnahme an Kämpfen und Aktionen der Organisation aufgerufen und dazu aufgestachelt, der Organisation beizutreten. Mitglieder der Organisation wurden in Rundfunkbeiträgen als Helden porträtiert und es wurde propagandistisch für die PKK geworben. Der Gerichtshof entschied, nach Darstellung der bisherigen Rechtsprechung zu Hassreden und der Anwendung von Art. 17 EMRK auf diese, die Äußerungen des Rundfunkunternehmens würden kraft Art. 17 EMRK den Schutz des Art. 10 EMRK aus drei Gründen nicht genießen: die Rundfunkbeiträge im zu entscheidenden Fall enthielten Aufstachelungen zu Gewalt und Äußerungen zur Unterstützung terroristischer Aktivitäten; die Äußerungen seien als Rundfunksendungen einem breiten Publikum zugesandt worden; und sie bezögen sich unmittelbar auf ein Thema, das in der modernen europäischen Gesellschaft von höchster Bedeutung sei, nämlich die Verhinderung von Terrorismus und terrorismusbezogenen Äußerungen, die die Anwendung von Gewalt propagierten.24 Das bf. Rundfunkunternehmen versuche, Art. 10 EMRK seines Zwecks zu berauben. Es könne sich daher nicht auf den Schutz dieser Garantie berufen.25 Die Beschwerde sei als unzulässig ratione materiae zurückzuweisen.26 Die Begründung der Unzulässigkeit der beiden Beschwerden deutet gleichermaßen darauf hin, dass der Gerichtshof davon ausging, dass die Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK liegen. Zum einen spricht hierfür, dass der Gerichtshof die Schrankenklausel des Art. 10 II EMRK in beiden Fällen nicht erwähnte und zum anderen wurde auf vorangegangene Rechtsprechung zurückgegriffen, bei der immer angenommen worden war, dass der Schutzbereich nicht betroffen war. Auch für die beiden jüngsten Entscheidung ist davon

21

EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14, Z. 33.

22

EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14, Z. 36 f.

EGMR, 17. 4. 2018, Roj TV A/S ./. Dänemark, Nr. 24683/14; siehe zur Entscheidung des EuGH in derselben Sache unten Kapitel 3, A., I., 3., b). 23

24

EGMR, 17. 4. 2018, Roj TV A/S ./. Dänemark, Nr. 24683/14, Z. 47.

25

EGMR, 17. 4. 2018, Roj TV A/S ./. Dänemark, Nr. 24683/14, Z. 48.

26

EGMR, 17. 4. 2018, Roj TV A/S ./. Dänemark, Nr. 24683/14, Z. 49.

84

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

auszugehen, dass der Gerichtshof Art. 17 EMRK als Bestimmung anwendet, die es ausschließt, dass der Schutzbereich des Art. 10 EMRK eröffnet ist. Ein Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegt danach nicht vor, wenn eine Äußerung verboten wird, auf die Art. 17 EMRK anwendbar ist. In dieser Art sind die Ausführungen des Gerichtshofs hier zu deuten. ii. Art. 17 EMRK als Kriterium der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 10 II EMRK In einigen Fällen von „Hassrede“ zogen die Rechtsprechungsorgane Art. 17 EMRK auf Ebene der Zulässigkeit zur Begründung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs nach Art. 10 II EMRK heran und erklärten die Beschwerde gemäß Art. 35 III lit. a) Alt. 2 EMRK für unzulässig. Die EKMR prüfte Art.  17 EMRK als Abwägungskriterium im Rahmen des Art. 10 II EMRK auf Ebene der Zulässigkeit der Beschwerde in einem Fall, der das Verbot von Interviews mit Mitgliedern verbotener terroristischer Organisationen betroffen hatte.27 Die Formulierung in dieser Entscheidung ist bemerkenswert, weil sie Art. 17 EMRK bei der Prüfung des legitimen Ziels anführt und nicht, wie sonst üblich, im Rahmen der Prüfung der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft. Der von der EKMR festgestellte Unzulässigkeitsgrund der offensichtlichen Unbegründetheit nach Art. 35 III lit. a) Alt. 2, IV EMRK entspricht der Annahme eines Grundrechtseingriffs. In zwei weiteren Entscheidungen zog die EKMR Art. 17 EMRK als Abwägungskriterium in einer Unzulässigkeitsentscheidung heran. In beiden Fällen stellte die EKMR eine offensichtliche Unbegründetheit und damit den zur Annahme eines Grundrechtseingriffs passenden Unzulässigkeitsgrund fest. Im Fall Hennicke28 hatte der Beschwerdeführer in einem öffentlichen Park Broschüren verteilt, in denen er Gedichte zur Überlegenheit von bestimmten Rassen und zur Unterlegenheit von Ausländern, die er mit Blutegeln verglich, veröffentlicht hatte. Zudem fand sich in der verteilten Broschüre die Aussage des Beschwerdeführers, Frieden sei nicht möglich, solange Juden Macht in der Welt hätten. Weiter hatte er andere Faltblätter verteilt, in denen er sich über seine Bestrafung für die Leugnung der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Auschwitz beklagte und die Ansicht vertrat, Deutschland werde in jüdischer und ausländischer Sklaverei gehalten und sei dazu verdammt, Israel zu dienen. Der zweite Fall betraf die Veröffentlichung von Artikeln in dem Druckwerk „Sieg-AJ-Pressedienst“, das in Österreich periodisch erschienen war, mit Inhalten, die in Österreich dem verfassungsgesetzlichen Verbot nationalsozialistischer Wiederbetätigung unterfielen.29 Die Artikel hatten Aufstachelungen zu rassistischem Hass, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sowie eine Glorifizierung der „germanischen Rasse“ und eine Leugnung der Souveränität Österreichs enthalten.

27

EKMR, 16. 4. 1991, Purcell ./. Irland Nr. 15404/89.

28

EKMR, 21. 5. 1997, Hennicke ./. Deutschland, Nr. 34889/97.

29

EKMR, 2. 9. 1994, Ochensberger ./. Österreich, Nr. 21318/93.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …85

Weiter hatten sich darin Rechtfertigungen für die Errichtung von Konzentrationslagern und Schuldzuweisungen an die alliierten Mächte befunden, bei denen es sich um eine Kombination aus „Hassreden“ und revisionistischen Äußerungen in der hier verwendeten Terminologie gehandelt hatte. In zwei Entscheidungen des EGMR, den Fällen Molnar und Leroy, deutet die Wahl des angewendeten Unzulässigkeitsgrundes darauf hin, dass der Gerichtshof die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs auf Zulässigkeitsebene prüfte.30 Im Unterschied zu den Entscheidungen Noorwood und Pavel Ivanov wurde nicht der Unzulässigkeitsgrund der Unvereinbarkeit der Beschwerde mit der Konvention, sondern jener der offensichtlichen Unbegründetheit gemäß Art. 35 III lit. a) Alt. 2, IV EMRK angewendet. Im Fall Molnar, dem eine Verurteilung wegen nationalistischer Propaganda gegen Angehörige der Ethnie der Sinti und Roma in Rumänien zugrunde lag, prüfte der EGMR Art. 17 EMRK im Rahmen der Zulässigkeit; er legte sich dann aber in der Begründung der Zulässigkeit nicht fest, ob dieser als Kriterium zur Einschränkung des Schutzbereichs oder als Aspekt der Abwägung herangezogen werden müsse.31 Die Formulierung deutet zunächst darauf hin, dass er die Äußerungen aus dem Schutzbereich ausschließt,32 allerdings führte der EGMR dann aus, selbst wenn man davon ausgehe, dass es sich um einen Eingriff in den Schutzbereich handle, dieser jedenfalls gerechtfertigt sei.33 Damit ließ der Gerichtshof schlussendlich die Entscheidung für oder gegen eines der Modelle im Rahmen der Zulässigkeit offen. Die Vorgehensweise im Fall Molnar kann aber auch als Beleg dafür interpretiert werden, dass die unterschiedlichen Ansätze sich nicht ausschließen.34 Es könnte miteinander vereinbar sein, einerseits eine Einschränkung des Schutzbereichs über Art. 17 EMRK anzunehmen und andererseits Art. 17 EMRK auf Ebene der Prüfung des Art.  10 II EMRK als entscheidendes Argument für die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs heranzuziehen. Der Rekurs auf den Unzulässigkeitsgrund der offensichtlichen Unbegründetheit in diesem Fall macht deutlich, dass der EGMR diesen nicht konsequent anwendet. Daher kann daraus auch in anderen Fällen kein zwingendes Argument gegen die Annahme eines Ausschlusses der Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit in der jeweiligen Entscheidung gewonnen werden.

30 EGMR, 2. 10. 2008, Leroy ./. Frankreich, Nr. 36109/03; EGMR, 23. 10. 2012, Molnar ./. Rumänien, Nr. 16637/06. 31

EGMR, 23. 10. 2012, Molnar ./. Rumänien, Nr. 16637/06, Z. 22 ff.

EGMR, 23. 10. 2012, Molnar ./. Rumänien, Nr. 16637/06, Z. 23 („Portant atteinte aux droits d’autrui, de tels actes sont incompatibles avec la démocratie et les droits de l’homme de sorte qu’en vertu des dispositions de l’article 17 de la Convention, le requérant ne puisse pas se prévaloir des dispositions de l’article 10 de la Convention.“).

32

EGMR, 23. 10. 2012, Molnar ./. Rumänien, Nr. 16637/06, Z. 24 („Cela dit, à supposer même que la condamnation pénale du requérant pour propagande nationaliste chauviniste constitue une ingérence … … “).

33

34 Sondervotum des Richters Silvis, dem sich die Richter Casadevall, Berro und Kuris angeschlossen haben zu EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08.

86

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Ähnlich ging der EGMR im Fall Leroy vor, in dem es um eine Karikatur ging, die zu einer Verurteilung führte.35 Die französische Regierung hatte Art. 17 EMRK mit der Begründung ins Treffen geführt, die Zeichnung sei mit einer Handlung gleichzusetzen, die auf die Zerstörung der Rechte und Freiheiten der Konvention gerichtet sei. Die Karikatur war in der baskischen links-nationalistischen Wochenzeitung „Ekaitza“ unmittelbar nach dem 11. September 2001 veröffentlicht worden. Sie hatte ein Bild des brennenden World Trade Centers und die Überschrift „Nous en avions tous rêvé … le Hamas l’a fait“ (Wir haben alle darüber nachgedacht, die Hamas hat es getan) gezeigt. In der nächsten Ausgabe hatte die Zeitung Post- und Emaileinsendungen publiziert, die sie in Reaktion auf die Karikatur erhalten hatte. Zudem hatte die Zeitung eine Unterstützungsbekundung der Chefredaktion gegenüber dem Zeichner sowie einen Brief des Karikaturisten selbst, der seine Motivation für die Zeichnung darlegte, gedruckt. Der Karikaturist hatte darin erklärt, er habe schlicht einen Anti-Amerikanismus ausdrücken wollen. Keineswegs sei eine Aufstachelung zu Hass oder eine Rechtfertigung der terroristischen Akte intendiert gewesen. Die innerstaatlichen Gerichte hatten sowohl den Karikaturisten als auch den Verleger der Wochenzeitung wegen Verherrlichung des Terrorismus, die sich insbesondere im Gebrauch des Begriffes „nous“ in der Überschrift ausdrücke, verurteilt. Art. 17 EMRK wird in diesem Fall nicht angewendet, zumindest aber als Grund für einen Ausschluss der Äußerungen aus dem Schutzbereich erwogen, wenn man die Formulierung des Gerichtshofs dahingehend deutet.36 Andererseits kann sie aber ebenso als Ausdruck einer Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs interpretiert werden; sie ist insofern ambivalent und kann nicht eindeutig interpretiert werden. In diesem Fall jedoch gelangt man – mit den oben genannten Einschränkungen – wegen der Kombination aus der ambivalenten Formulierung und der Anwendung des Unzulässigkeitsgrundes der offensichtlichen Unbegründetheit zu einer Tendenz des EGMR Äußerungen in den Schutzbereich einzubeziehen. Deshalb ist der Fall hier einzuordnen. Der Gerichtshof greift auf die offensichtliche Unbegründetheit jedoch regelmäßig im Sinne eines Auffangtatbestands zu.37 Die Aussagekraft der Wahl des Unzulässigkeitsgrundes ist dadurch wiederum gemindert. Im Urteil Féret prüfte der EGMR im Rahmen der Zulässigkeit eine Anwendung des von der Regierung vorgebrachten Missbrauchsverbots nach Art. 17 EMRK, kam dann aber zu dem Ergebnis, dass die Argumente, die die Regierung vorgebracht hatte, eng mit dem materiellen Vorbringen des Beschwerdeführers im Rahmen des Art. 10 EMRK und mit der Frage der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft verbunden seien. Eine offensichtliche Unbegründetheit im Sinne des Art. 35 III lit a) Alt. 2, IV EMRK liege nicht vor. Er erklärte die Beschwerde für zulässig.38

35

EGMR, 2. 10. 2008, Leroy ./. Frankreich, Nr. 36109/03, Z. 27 f.

EGMR, 2. 10. 2008, Leroy ./. Frankreich, Nr. 36109/03, Z. 27 („La Cour est d’avis que l’expression litigieuse ne rentre pas dans le champ d’application des publications qui se verraient soustraites par l’article 17 de la Convention à la protection de l’article 10" (…) “échapper à la protection garantie par l’article 10“).

36

37

Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 13 Rn. 60.

38

EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 53.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …87

Die Formulierung, die der EGMR hier gebraucht („les arguments avancés par le Gouvernement concernant l'article 17 de la Convention et, en conséquence, l'applicabilité de l'article 10“),39 deutet auf die Annahme hin, bereits im Rahmen der Zulässigkeit sei im Fall der Anwendbarkeit des Art. 17 EMRK festzustellen, dass die Äußerungen nicht in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit fielen. Allerdings stellte der EGMR dann im Rahmen der Begründetheit für den konkreten Fall einen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK fest und er prüfte die Rechtfertigung anhand der Kriterien des Art. 10 II EMRK.40 Der EGMR erwähnte Art. 17 EMRK im Zusammenhang mit dem Schutzbereich in der Prüfung der Begründetheit nicht und er prüfte die Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft auch ohne Rücksicht auf Art. 17 EMRK. Er stellte fest, der Eingriff sei in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. Im Anschluss an die ausführliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs kam der Gerichtshof zu dem Schluss, eine Anwendung des Art.  17 EMRK sei wegen der Inhalte der Flugblätter nicht gerechtfertigt gewesen.41 Die Formulierung des Gerichtshofs an dieser Stelle enthält keinen Hinweis, welche Wirkung der Gerichtshof Art. 17 EMRK zugemessen hätte, hätte er ihn im konkreten Fall für anwendbar gehalten. Allerdings findet sich in Z. 61 des Urteils die sog. „Handysideformel“,42 welche stets ein Indiz für die Vorstellung des EGMR von einer Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs,

39 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass der EGMR im Jahr 2013 in einem Urteil zur Verletzung von Verfahrensrechten in einem spanischen Prozess wegen Verbreitung und Tätigung revisionistischer Äußerungen diese Formulierung nahezu identisch im Rahmen der Begründung der Zulässigkeit der Beschwerde wiederholte und das Urteil Féret in der entsprechenden Randziffer auch zitierte, die Passage „et, en conséquence, l’applicabilité de l’article 10“ aber wegließ. Im Urteil Varela Geis (EGMR, 5. 3. 2013, Varela Geis ./. Spanien, Nr. 61005/09) kam der EGMR im Rahmen der Zulässigkeit einer Beschwerde wegen Verletzung von Art. 6 EMRK bezüglich einer Anwendung des von der Regierung vorgebrachten Missbrauchsverbots nach Art. 17 EMRK, zu dem Ergebnis, dass die Argumente, die die Regierung betreffend Art. 17 EMRK vorgebracht hatte, eng mit dem materiellen Vorbringen des Beschwerdeführers verbunden seien. Sodann erklärte er Art. 35 III lit. a) EMRK sei nicht einschlägig und die Beschwerde damit zulässig (EGMR, 5. 3. 2013, Varela Geis :/. Spanien, Nr. 61005/09, Z. 31 f.). Im Rahmen der Begründetheit lehnte der EGMR eine Anwendbarkeit des Art. 17 EMRK auf Art. 6 EMRK dann gemäß eigener ständiger Rechtsprechung ab (EGMR, 5. 3. 2013, Varela Geis ./. Spanien, Nr. 61005/09, Z. 40). Hierin könnte möglicherweise eine Rücknahme der Formulierung, die auf einen Ausschluss des von Art.  17 EMRK erfassten Verhaltens aus dem Schutzbereich des Grundrechts hindeuten könnte, gesehen werden. Der Umstand, dass es hier vorrangig darum ging, Verfahrensrechte geltend zu machen und somit eine potentielle Verletzung von Art. 6 EMRK in Rede stand, relativiert diese Annahme hingegen maßgeblich. Auf Art. 6 EMRK ist Art. 17 EMRK nach ständiger Rechtsprechung nicht anwendbar. Dies könnte den EGMR auch zu der im Vergleich mit dem Urteil Féret unterschiedlichen Formulierung bewegt haben. 40

EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 60 ff.

41

EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 82.

EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 61: „La liberté d'expression constitue l'un des fondements essentiels de toute société démocratique, l'une des conditions primordiales de son progrès et de l'épanouissement de chacun. Sous réserve du paragraphe 2 de l'article 10, elle vaut non seulement pour les « informations » ou « idées » accueillies avec faveur ou considérées comme inoffensives ou indifférentes, mais aussi pour celles qui heurtent, choquent ou inquiètent (Handyside c. Royaume-Uni, 7 décembre 1976, § 49, série A no 24)“.

42

88

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

d. h. zumindest einer Prüfung der Kriterien des Gesetzesvorbehalts nach Art. 10 II EMRK mit oder ohne Heranziehung des Art. 17 EMRK, darstellt.43 Die Gesamtbetrachtung der Erwägungen des EGMR im Fall Féret ergibt folgendes Bild: Der EGMR ist, so lassen es die Ausführungen im Rahmen der Zulässigkeit vermuten, bereit, in bestimmten Fällen, Art. 10 EMRK wegen Art. 17 EMRK per se nicht anzuwenden. Andererseits deuten die Erwägungen im Rahmen der Begründetheit darauf hin, dass der EGMR hier von dem Verständnis ausging, es müsse jedenfalls von einem Eingriff ausgegangen werden, dessen Rechtfertigung zu prüfen ist. Art. 17 EMRK wäre dann, wenn nach den konkreten Umständen anwendbar, als Abwägungskriterium heranzuziehen gewesen. Dies wurde aber für den zugrunde liegenden Sachverhalt abgelehnt. Daraus ist ableitbar, dass der EGMR Art.  17 EMRK im Urteil Féret als Abwägungskriterium qualifizierte und damit einen Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit bereits auf Ebene der Zulässigkeit annahm. Daher wird die Entscheidung in die Kategorie der Fälle eingeordnet, in denen die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs geprüft und Art.  17 EMRK im Zuge dessen im Rahmen der Zulässigkeit der Beschwerde herangezogen wird. iii. Prüfung des Art. 10 II EMRK ohne Art. 17 EMRK In anderen Fällen wird die Rechtfertigung eines Eingriffs in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantie gemäß Art. 10 II EMRK geprüft, ohne Art. 17 EMRK auf Ebene der Zulässigkeit zu erwähnen. Diesen Begründungsweg wählte der EGMR in inhaltlich verschiedenen Fällen. Der jüngste Sachverhalt betraf islamfeindliche Äußerungen des französischen Politikers Jean Marie Le Pen,44 ein weiterer behandelte von einem Journalisten wiedergegebene Äußerungen Öcalans zur kurdischen Frage,45 einem anderen türkischen Sachverhalt lag eine Radiosendung, die die kurdische Frage thematisierte, zugrunde46 und im Jahre 2003 hatte der EGMR auf gleiche Weise in einem Fall der Bestellung rassistischer und gewaltpropagierender Materialien durch den Beschwerdeführer entschieden.47 Der EGMR verfuhr in dieser Art noch in einem weiteren Fall,48 in dem es um eine Äußerung ging, die die Anschläge auf das World Trade Center im September 2001 mit dem Verhalten der Vereinigten Staaten in der Welt rechtfertigte. Der Äußernde handelte als führendes

Siehe hierzu auch Beširević, in: Benedek/Benoit-Rohmer/Karl/Nowak (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights (2012), S. 243, 248 f.; auch die Formulierung der „Handysideformel“ („ne perdent pas, ent tant que telles, le bénéfice de la liberté d’expression“) ist eher ambivalent. Dies zeigt etwa das Urteil EGMR, 10. 2. 2009, Güçlü ./. Türkei, Nr. 27690/03, in dem der EGMR die Formulierung in der Prüfung der Notwendigkeit des Eingriffs in der demokratischen Gesellschaft gebraucht. 44 EGMR, 10. 5. 2001, Le Pen ./. Frankreich, Nr. 55173/00. 43

45 46

EGMR, 7. 2. 2006, Halis Doğan ./. Türkei, Nr. 75946/01, Z. 31. EGMR, 14. 11. 2006, Medya FM Reha Dayo, Nr. 32842/02.

47

EGMR, 25. 11. 2003, R. L. ./. Schweiz, Nr. 43874/98.

48

EGMR, 29. 5. 2007, Kern ./. Deutschland, Nr. 26870/04.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …89

Mitglied im Namen einer rechtsextremistischen Gruppierung in Deutschland. In allen Fällen erklärte der EGMR die Beschwerden wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art. 35 III lit. a) Alt. 2 EMRK für unzulässig. Die Wahl dieses Zulässigkeitsgrundes entspricht der Annahme eines Eingriffs in den Schutzbereich. Einer besonderen Erwähnung bedarf der Fall Seurot,49 in dem der EGMR in Betracht zog, die ausländerfeindlichen Äußerungen eines Historikers über Art. 17 EMRK im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit auszuschließen. Er hielt es letztlich aber nicht mehr für notwendig, Art. 17 EMRK zu prüfen, weil er ohnehin schon über Art. 10 II EMRK zu dem Ergebnis gelangte, dass der Eingriff gerechtfertigt war. Der Gerichtshof prüfte daher Art. 10 II EMRK im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung und verwarf die Frage, ob Art. 17 EMRK anwendbar sein könnte, da der Eingriff ohnehin über Art.  10 II EMRK gerechtfertigt war. Im Ergebnis erklärt er die Beschwerde wegen offensichtlicher Unbegründetheit nach Art. 35 III lit. a) Alt. 2 EMRK für unzulässig. iv. Implizite Anwendung des Art. 17 EMRK bei der Prüfung des Art. 10 II EMRK In einigen Entscheidungen kann man erkennen, dass der Gerichtshof den Missbrauchsgedankens implizit anwendet. Art.  17 EMRK wird nicht ausdrücklich herangezogen, im Zuge der Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs nach Art. 10 II EMRK ist aber erkennbar, dass der Gedanke, der Art. 17 EMRK zugrunde liegt, dennoch angewendet wird (Art. 10 II EMRK im Lichte des Missbrauchsgedankens ohne expliziten Verweis auf Art. 17 EMRK, Art. 35 III lit. a) Alt. 2 EMRK). Die Einordnung der Entscheidung Halis Doğan in die vorangegangene Kategorie muss in diesem Sinne relativiert bzw. präzisiert werden. In dieser Entscheidung stellte der EGMR fest, die rechtsextremistischen Inhalte in den bestellten CDs seien gegen die der Konvention zugrunde liegenden Werte gerichtet. Darin liegt, obwohl Art.  17 EMRK nicht genannt wird, dasselbe Argument, welches ansonsten im Zusammenhang mit Art. 17 EMRK verwendet wird. Mit dem Verweis auf das Urteil der Großen Kammer Lehideux und Isorni wird auch vorangegangene Rechtsprechung herangezogen, die auf Art. 17 EMRK verweist. Insofern ist es vordergründig zutreffend, dass Art. 17 EMRK nicht genannt wird. Inhaltlich ist die Argumentation aber an den Missbrauchsgedanken und Art. 17 EMRK angelehnt. Da dies im Rahmen der Erwägungen zur Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs geschieht, ist die Entscheidung in die vorliegende Kategorie einzuordnen. Im Fall Müslum Gündüz, in dem es um Äußerungen eines Sektenführers ging, in denen zu Gewalt gegen türkische säkulare und moderate Muslime aufgestachelt worden war, verfuhr der EGMR ebenfalls in dieser Art. Er führte aus, die Äußerungen könnten als „Hassrede“, Aufstachelung zu und Verherrlichung von Gewalt qualifiziert werden; sie seien nicht mit dem Geist der Toleranz vereinbar und liefen fundamentalen Werten von Gerechtigkeit und Frieden, wie sie die Präambel der

49

EGMR, 18. 5. 2004, Seurot ./. Frankreich, Nr. 57383/00.

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Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Konvention zum Ausdruck bringe, zuwider.50 Auch aus diesen Ausführungen wird deutlich, dass der Gedanke des Grundrechtsmissbrauchs angewendet wurde, wenn auch Art. 17 EMRK nicht ausdrücklich genannt wurde. Die Erklärung der offensichtlichen Unbegründet als Unzulässigkeitsgrund korrespondiert damit, dass eine offensichtliche Rechtfertigung des Eingriffs nach Art. 10 II EMRK auf Zulässigkeitsebene geprüft und festgestellt wurde. In diesen beiden Entscheidungen wird argumentiert, die Äußerungen lehnten grundlegende Werte der Konvention ab, wenn auch die Bestimmung des Art.  17 EMRK nicht explizit herangezogen wird. Das Anliegen der „Missbrauchsklausel“ wird zur Begründung der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs angeführt. Die Urteile stehen insoweit zwischen jenen, in denen Art. 17 EMRK angewendet wird und jenen, in denen der Grundrechtsmissbrauch in Form der Ablehnung der fundamentalen Werte der Konvention überhaupt keine Rolle spielt. Ähnlich war die EKMR schon im Fall X gegen Österreich51 vorgegangen, in dem es um nationalsozialistische Wiederbetätigung ging. Die Kommission stellte im Rahmen der Prüfung des negativen Zulässigkeitskriteriums der offensichtlichen Unbegründetheit eine Rechtfertigung des Eingriffs gemäß Art.  10 II EMRK fest und statuierte sodann, eine Prüfung der „Missbrauchsklausel“ des Art. 17 EMRK sei nicht mehr notwendig. Allerdings kann diesen Erwägungen – abgesehen von der Wahl des Unzulässigkeitsgrundes –52 kein Hinweis darauf entnommen werden, ob Art. 17 EMRK dazu führt, dass die betroffenen Äußerungen gar nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen. Art. 17 EMRK wird allerdings im Anschluss an die Rechtfertigungsprüfung geprüft. Dies zumindest lässt darauf schließen, dass die EKMR die Missbrauchsklausel eher als Argument der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs, nicht als Begründung für einen Ausschluss der Äußerungen aus dem Schutzbereich des Grundrechts betrachtete. Ein ähnlich gelagerter Fall, der jedoch eine seltene Konstellation betrifft und deshalb hier genannt werden soll, lag dem Urteil Lowes gegen das Vereinigte Königreich der EKMR zugrunde.53 Der EGMR erklärte die Beschwerde eines Häftlings in einem britischen Gefängnis für unzulässig, der sich in seinem Recht auf Informationsfreiheit aus Art.  10 EMRK durch den Umstand verletzt sah, dass er eine Monatsausgabe einer Zeitschrift mit antisemitischen Inhalten nicht erhalten hatte, weil die Gefängnisleitung dies wegen der Inhalte verweigerte. Die EKMR stellte fest, die Beschwerde sei offensichtlich unbegründet, da es sich um eine Publikation handle, die zu Antisemitismus ermutige und rassistische Vorurteile sowie Waffengebrauch verherrliche. Auch hier spricht der Umstand, dass der EGMR die

50

EGMR, 13. 11. 2003, Müslum Gündüz ./. Türkei, Nr. 59745/00.

51

EGMR, 13. 12. 1963, X ./. Österreich, Nr. 1747/62.

Art. 35 III lit. a) Alt. 2 EMRK wird in der Praxis der Konventionsorgane bei Annahme eines offensichtlich gerechtfertigten Eingriffs angenommen. Eine Einschränkung des Schutzbereichs würde bei korrekter Anwendung der Unzulässigkeitsgründe die Unvereinbarkeit mit der Konvention gemäß Art. 35 III lit. a) Alt. 2 auslösen.

52

53

EKMR, 9. 12. 1988, Lowes ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 13214/87.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …91

Zurückweisung auf den Unzulässigkeitsgrund der offensichtlichen Unbegründetheit und nicht auf jenen der Unvereinbarkeit mit der Konvention stützt, dafür dass angenommen wird, der Eingriff in die Informationsfreiheit des Beschwerdeführers sei offensichtlich gerechtfertigt.

b) Begründetheit der Individualbeschwerde in Fällen von „Hassreden“ i. Äußerungen gemäß Art. 17 EMRK außerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK In einigen Fällen, die für zulässig befunden wurden, aber mit der Feststellung enden, es liege keine Verletzung vor, finden sich Formulierungen, die darauf hindeuten, dass der Gerichtshof annimmt, Äußerungen könnten  – wenn und soweit Art. 17 EMRK auf diese anwendbar ist – nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheitsgarantie liegen. Hier ist zunächst der Fall Jersild zu erwähnen. Das Urteil aus dem Jahr 1994 betraf ein Interview, das ein Fernsehjournalist mit Mitgliedern einer rechtsradikalen Gruppe, den sogenannten Greenjackets, geführt, aufgezeichnet und ausgestrahlt hatte. Die rechtsradikalen Interviewten verneinten im Gespräch mit dem Journalisten die Zugehörigkeit dunkelhäutiger Menschen zur „menschlichen Art“ und bezeichneten sie wegen ihrer äußeren Erscheinung als Tiere und als Affen. Ebenso äußerten sie sich in Bezug auf Menschen mit türkischer und anderer ausländischer Herkunft und sprachen sich dafür aus, diese aus Dänemark auszuweisen.54 Der Beschwerdeführer ließ die Gruppe rechtsradikaler Jugendlicher im Interview zu Wort kommen, ohne dies selbst zu kommentieren. Er wollte damit nach eigenen Angaben auf die Gefahr des Rassismus aufmerksam machen. Der Journalist wurde daraufhin in Dänemark wegen Unterstützung der Verbreitung rassendiskriminierender Äußerungen verurteilt. Die dänische Regierung brachte vor, der große Einfluss des Mediums Fernsehen und die Sensationsorientierung des Journalisten, der auf

EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89, Z. 11 ff.; vgl. die Übersetzung NStZ 1995, 237, 238: „Die amerikanischen Nordstaaten wollten, daß die Niggers freie Menschen sein sollten. Oh Mann, das sind keine Menschen, das sind Tiere“; „Du brauchst nur ein Bild von einem Gorilla zu nehmen, Mann, und dann einen Nigger anzuschauen – derselbe Körperbau, alles gleich, flache Stirn und so weiter. “; „Ein Nigger ist kein Mensch, er ist ein Tier, das gilt für alle anderen ausländischen Arbeiter genauso, für Türken, Jugoslawen und wie sie alle heißen.“; „Es ist nun einmal so, daß die ‚Perkere’ (dänisches Schimpfwort für ausländische Arbeiter) sind, und eben das wollen wir nicht, klar, und wir wollen auch nicht ihre Mentalität […] Was wir nicht schätzen, ist, daß sie überall in dieser Zimbabwe-Kleidung herumlaufen und diese Hula-hula-Sprache auf der Straße sprechen. “; „Es sind Drogen, die sie verkaufen, oh Mann, die Hälfte der Insassen des Vestre-Gefängnisses sitzt da wegen Drogen. Das sind Leute, die ihre Zeit mit Drogenhandel verbringen. “; „Alle diese ‚Perkere’ sitzen dort wegen Drogen. “ 54

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Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

die Darstellung von Gegenargumenten verzichtet hatte, rechtfertige die strafrechtliche Sanktionierung des Interviewers.55 Hier ging der Gerichtshof in Bezug auf den beschwerdeführenden Journalisten von einem Eingriff in dessen Meinungsäußerungsfreiheit aus und er prüfte die Rechtfertigung dieses Eingriffs ohne Berücksichtigung des Art. 17 EMRK.56 Er sah den Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK als betroffen an. Der Formulierung in einem hinzugefügten obiter dictum zum Umgang mit den wiedergegebenen Äußerungen der Interviewten57 (die hier nicht als Beschwerdeführer auftraten und deren Äußerungen daher nicht Gegenstand der Betrachtung waren) wird vielfach entnommen, der Gerichtshof sei davon ausgegangen, dass Art.  10 EMRK für bestimmte Äußerungen schlicht nicht anwendbar sei.58 Die Formulierung im Urteil scheint dafür zu sprechen, dass der EGMR bei bestimmten Äußerungen davon ausgeht, der Schutzbereich der Meinungsfreiheit sei nicht betroffen.59 In der Literatur ist der Aussage des Gerichtshofs sogar teilweise entnommen worden, der EGMR gehe für die Äußerungen der Interviewten ausdrücklich davon aus, sie lägen außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK.60 Diese Schlussfolgerung ist aber nicht zwingend. Die Formulierung „did not enjoy the protection of Article 10“ bzw. „ne bénéficiaient pas de la protection de l’article 10“ kann auch im Sinne eines gerechtfertigten Eingriffs in die Rechte aus Art. 10 I EMRK gedeutet werden. Die Aussage, die Äußerungen erhielten keinen „Schutz“ bedeutet nicht zwingend, dass sie nicht im Schutzbereich des Grundrechts liegen.

55

EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89, Z. 29.

56

EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89, Z. 27.

EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89, Z. 35 („There can be no doubt that the remarks in respect of which the Greenjackets were convicted (see paragraph 14 above) were more than insulting to members of the targeted groups and did not enjoy the protection of Article 10“; „Nul doute que les remarques qui ont valu leur condamnation aux blousons verts (paragraphe 14 ci-dessus) étaient plus qu’insultantes pour les membres des groupes visés et ne bénéficiaient pas de la protection de l’article 10“).

57

Cohen-Jonathan, RUDH 1995, 1, 4; Beširević, in: Benedek/Benoit-Rohmer/Karl/Nowak (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights (2012), S.  243, 250; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 194; Kontopodi, Verbot politischer Parteien, S. 30; Oetheimer, RTDH 2007, 63, 66; Domahidi, EuR 2009, 410, 419; Cohen-Jonathan, in: Mélanges Dubouis, S. 517, 527; vgl. hierzu Von Coelln, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 11 Rn. 12, der Pünder, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 17 Rn. 10 widerspricht und ausführt, der Gerichtshof stufe in Wahrheit die Bestrafung des Beschwerdeführers als Eingriff in die Meinungsfreiheit ein, was begrifflich die Eröffnung des Schutzbereichs voraussetze. Allerdings ist davon auszugehen, dass hier ein Missverständnis vorliegt. Die Aussage Pünders bezieht sich auf die Rn. 35 des Urteils EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89, in der das obiter dictum des EGMR die Greenjackets betrifft, wohingegen Von Coelln sich offensichtlich auf den Beschwerdeführer im Fall Jersild bezieht. Beide Aussagen entsprechen daher der hier vertretenen Aussage und widersprechen sich nicht, weil sie die grundrechtliche Position unterschiedlicher Grundrechtsträger betreffen. 59 Siehe hierzu auch EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14, Z. 30; EGMR, 17. 4. 2018, Roj TV A/S ./. Dänemark, Nr. 24683/14, Z. 47 f. 58

Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 4; Kontopodi, Verbot politischer Parteien, S. 30.

60

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …93

Ein anderer Aspekt der Argumentation des Gerichtshofs vermag überzeugender zu belegen, dass der EGMR davon ausging, dass die Äußerungen der Interviewten nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK liegen. Der Gerichtshof unterschied zwischen den Äußerungen der Interviewten, die fremdenfeindliche Inhalte enthielten und der Wiedergabe dieser Äußerungen durch den Journalisten und Beschwerdeführer. Dies spricht dafür, dass der Gerichtshof die Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs sah, entfiele doch sonst der Grund für eine ausdrückliche Differenzierung zwischen den Äußerungen des Journalisten und jenen der Greenjackets gerade an dieser Stelle des Urteils, in der es darum geht zu prüfen, ob Art.  10 I EMRK anwendbar ist. Der Gerichtshof setzte sich ohnehin noch einmal im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit der Verbreitungsabsicht des Beschwerdeführers im Hinblick auf die Äußerungen Dritter, um die es hier ging, auseinander.61 Der ausdrücklichen Erwähnung des Umgangs mit den Äußerungen der Interviewten an dieser Stelle kann daher ein darüber hinausgehender Sinn unterstellt werden, da sie ansonsten überflüssig wäre. Die Hinweise auf die Entscheidungen Kühnen62 und Glimmerveen und Hagenbeek63 der EKMR allein vermögen diese Annahme nicht zu widerlegen. Der Gerichtshof verwies in Bezug auf die Äußerungen der Interviewten auf die beiden Entscheidungen der EKMR, um zu belegen, dass sie den Schutz des Art. 10 EMRK nicht genießen. Die Erwägungen enthalten keinen Hinweis darauf, dass der EGMR hier eine über die Art der Äußerung bzw. den Inhalt der Äußerung hinausgehende Gemeinsamkeit der Fälle ausdrücken wollte. Außerdem lassen auch die Formulierungen in den zitierten Kommissionsentscheidungen keine zwingenden Schlüsse zu. Im Fall Kühnen lag zwar deutlich eine „indirekte Anwendung“ des Art.  17 EMRK (Heranziehung Art. 17 EMRK als Kriterium der Abwägung auf Ebene der Prüfung der Rechtfertigung des Eingriffs) vor. Im Fall Glimmerveen und Hagenbeek ist aber von einer „direkten Anwendung“ des Art.  17 EMRK auszugehen.64 Dem bloßen Verweis auf die beiden Entscheidungen kann, über die stillschweigend in den Zitaten transportierte Betonung des Art. 17 EMRK hinaus (Verweis auf Entscheidungen, in denen Art. 17 EMRK herangezogen wird, deutet auf Relevanz des Art. 17 EMRK auch im vorliegenden Urteil hin),65 keine zwingende Aussage darüber entnommen werden, wie der Gerichtshof Art. 17 EMRK im Fall Jersild angewendet hat.66 Mit dem überwiegenden Teil der Literatur ist trotz offener Formulierung im

61

EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89, Z. 33.

62

EKMR, 12. 5. 1988, Kühnen ./. Deutschland, Nr. 12194/86.

EKMR, 11. 10. 1979, Glimmerveen u. Hagenbeek ./. Niederlande, Nr. 8348/78 u. 8406/78; vgl. zum Hinweis auf die beiden Entscheidungen Cohen-Jonathan, in: Mélanges Dubouis, S. 517, 526. 63

64 Siehe oben Kapitel 3, A., I., 1., a), i.; ebenso Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 212 (Fn. 1156); Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 194; Van Drooghenbroeck, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 189. 65

So auch Hong, ZaöRV 2010, 73, 80.

A. A. Keane, NQHR 2007, 641, 654, der wegen der Hinweise auf die Entscheidungen Kühnen (EKMR, 12. 5. 1988, Kühnen ./. Deutschland, Nr. 12194/86) und Glimmverveen (EKMR, 11. 10. 1979, Glimmerveen u. Hagenbeek ./. Niederlande, Nr. 8348/78 u. 8406/78) im Urteil Jersild

66

94

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Wortlaut des Gerichtshofs eher anzunehmen, dass der EGMR davon ausging, dass die Äußerungen der Greenjackets nicht im Schutzbereich der Äußerungsfreiheit gelegen hätten. Das obiter dictum nannte Art. 17 EMRK dabei zwar nicht ausdrücklich, die Bestimmung ist in den Erwägungen dennoch implizit präsent.67 Der EGMR zitierte zudem mit den genannten Entscheidungen der EKMR zwei Entscheidungen, die Art. 17 EMRK explizit herangezogen und angewendet haben.68 Im Ergebnis ist anzunehmen, dass der EGMR die Äußerungen der Greenjackets, hätte er sie unmittelbar zu prüfen gehabt, nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit gesehen hätte. Weiter fällt ein Urteil der Großen Kammer aus dem Jahr 2015 in die vorliegende Kategorie.69 Das Urteil im Fall Delfi AS schließt an das Urteil Jersild insofern an, als es ebenfalls um „Hassreden“ Dritter geht, für deren Veröffentlichung ein Vermittler innerstaatlich verurteilt wird. Die bf. Gesellschaft, eine Gesellschaft, betreibt das Internet-Newsportals Delfi, eines der größten Online-Newsportale in Estland. Auf diesem Portal bestand für Nutzer die Möglichkeit, Artikel des Portals an deren Ende zu kommentieren. Im Januar 2006 publizierte die bf. Gesellschaft auf diesem Portal einen Beitrag über die Zerstörung geplanter Eisstraßen durch das Unternehmen SLK, ein Fährunternehmen. Der Artikel erhielt zahlreiche Kommentare, in denen persönliche Drohungen und Beleidigungen gegenüber dem Hauptaktionär und Aufsichtsratsmitglied L. ausgesprochen wurden. Für die konkret vorliegende Fallkonstellation, in der die bf. Gesellschaft für Drittäußerungen verantwortlich gemacht worden war, nahm der EGMR einen Eingriff in Art. 10 EMRK an und er prüfte sodann die Notwendigkeit der Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft; er nahm an, dass der Schutzbereich der Meinungsfreiheit betroffen sei, und kam zu dem Ergebnis, dass ein gerechtfertigter Eingriff und keine Verletzung der grundrechtlichen Garantie vorlag.70 Interessanter für die vorliegende Problematik sind jedoch wie im Fall Jersild die Erwägungen des EGMR in einem obiter dictum zu den Äußerungen der Nutzer in den Kommentaren, für die das Portal verantwortlich gemacht worden war. Da die Nutzer nicht selbst Beschwerdeführer waren, hatte der EGMR über diese nicht unmittelbar zu entscheiden. Er beschäftigte sich dennoch mit der Frage, wie mit (EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89, Z. 35) davon ausgeht, auch die Äußerungen der Greenjackets (interviewte Personen) müssten nach dieser Rechtsprechung einer Rechtfertigungsprüfung unterzogen werden; ebenso Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 173, die annimmt, die EKMR habe in den Entscheidungen Kühnen und Glimmerveen ausdrücklich festgestellt, dass die jeweiligen Maßnahmen einen Eingriff in Art. 10 EMRK darstellten und eine Verletzung erst aufgrund der Auslegungsregel des Art. 17 EMRK ausgeschlossen würden; so auch Cohen-Jonathan, RUDH 1995, 1, 4; Wachsmann in: Flauss/Da Salvia (Hrsg,), La CEDH, S. 101, 107; vgl. aber Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 195 Fn. 287, der, wie hier vertreten, annimmt, es werde in Z. 35 der Entscheidung Jersild (EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89) nicht deutlich, ob eine Einschränkung des Schutzbereichs oder eine gerechtfertigte Beschränkung entsprechender Aussagen gemeint sei. 67

Vgl. Cohen-Jonathan, RUDH 1995, 1, 4.

Van Drooghenbroeck, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 189. 68

69

EGMR (GK), 16. 6. 2015, Delfi AS ./. Estland, Nr. 64569/09.

70

EGMR (GK), 16. 6. 2015, Delfi AS ./. Estland, Nr. 64569/09, Z. 118, 162.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …95

diesen umzugehen gewesen wäre. Er führte aus, Äußerungen, die unvereinbar mit den Werten der Konvention seien, seien wegen Art.  17 EMRK nicht von Art.  10 EMRK geschützt.71 Im Unterschied zum obiter dictum im Fall Jersild nannte der Gerichtshof Art. 17 EMRK ausdrücklich. Als Beispiele solcher Reden nannte er unter Hinweis auf die eigene bisherige Rechtsprechung Holocaustleugnungen, Rechtfertigungen einer nationalsozialistischen Politik, Äußerungen, die alle Muslime mit terroristischen Akten in Verbindung brächten und solche, die Juden als Quelle des Bösen darstellten.72 Die Formulierung, die der Gerichtshof gebraucht, kann rein sprachlich betrachtet sowohl bedeuten, dass er die Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs sieht, als auch ausdrücken, dass ein Grundrechtseingriff anzunehmen ist, dessen Rechtfertigung geprüft werden muss. Die genannten Beispiele sprechen jedoch dafür, dass der EGMR davon ausgeht, dass Art. 17 EMRK anwendbar ist und infolge dessen nicht davon auszugehen ist, dass die Äußerungen im Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie liegen. In allen genannten Entscheidungen hatte der EGMR entschieden, die Äußerungen lägen außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit. Allerdings muss relativierend beachtet werden, dass die Aufzählung der vorangegangenen Rechtsprechung beispielhaft ist. Eine daraus gezogene Schlussfolgerung, Art. 17 EMRK bewirke, wenn und soweit er anwendbar ist, dass die Äußerung nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK liegt, ist vor diesem Hintergrund nicht zwingend, hat aber dennoch starke Indizkraft. In einer späteren Passage stellte der Gerichtshof klar, dass den Äußerungen der Dritten der Schutz des Art. 10 EMRK nicht zukomme.73 Die Äußerungen seien als „Hassreden“ oder Aufrufe zu Gewalt zu qualifizieren und würden den Schutz des Art.  10 EMRK nicht genießen. Sie seien in der vorliegenden Konstellation aber nicht Gegenstand der Prüfung durch den Gerichtshof. Die Formulierung ist ebenso ambivalent wie jene im Urteil Jersild.74 Allerdings schloss der Gerichtshof hier einen Verweis auf die vorangegangene Passage an, in der frühere Rechtsprechung zitiert wurde, die sämtlich davon ausging, dass die Äußerungen als Rechtsfolge des Art. 17 EMRK nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit lägen. Trotz des beispielhaften Charakters der Aufzählung der Urteile, deutet die Kombination der Formulierung mit den zitierten Entscheidungen aus der bisherigen Rechtsprechung und der Vergleichbarkeit in Konstellation und Formulierung zum Urteil Jersild darauf hin, dass der Gerichtshof die Äußerungen der Kommentatoren selbst aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausschließen würde. Auch hier gilt, dass die gesonderte Erwähnung der Nutzer in einem obiter dictum darauf schließen lässt, dass der EGMR die Kommentare der Nutzer und die Verantwortlichkeit der Vermittler für die Drittinhalte unterscheiden möchte, um daraus ein Argument zu gewinnen. Wie bereits im Urteil Jersild gilt auch hier, dass aus der Gegenüberstellung zwischen den Vermittlern, für die der EGMR die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs prüft,

71

EGMR (GK), 16. 6. 2015, Delfi AS ./. Estland, Nr. 64569/09, Z. 136 („is not protected“).

72

EGMR (GK), 16. 6. 2015, Delfi AS ./. Estland, Nr. 64569/09, Z. 136.

73

EGMR (GK), 16. 6. 2015, Delfi AS ./. Estland, Nr. 64569/09, Z. 140.

EGMR (GK), 16. 6. 2015, Delfi AS ./. Estland, Nr. 64569/09, Z. 140 („as such did not enjoy the protection of Article 10 (see paragraph 136 above)“). 74

96

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

und den Nutzern mit ihren Äußerungen geschlossen werden kann, dass der EGMR die Nutzerkommentare außerhalb des Schutzbereichs sehen würde. Der Gerichtshof wiederholte so den Begründungsweg aus dem Urteil Jersild in der vergleichbaren Konstellation im Fall Delfi AS und erneuerte und bestätigte diesen gleichzeitig. Auch einige Formulierungen in den Erwägungen im Urteil Gündüz, in dem der EGMR zum Ergebnis kam, dass ein ungerechtfertigter Eingriff in Art. 10 I EMRK und eine Verletzung der Meinungsfreiheit vorlag, sprechen dafür, dass der Gerichtshof davon ausging, dass es Äußerungen gibt, die nicht in den Schutzbereich Art. 10 EMRK fallen.75 Der Beschwerdeführer behauptete in einer Debatte im türkischen Fernsehen, ein Demokrat sei ein Mensch ohne Religion, der Kemalismus selbst stelle eine Religion dar und im Islam sei eine Trennung zwischen staatlicher Verwaltung und dem Glauben des Einzelnen nicht möglich. Darüber hinaus stimmte der Beschwerdeführer der Behauptung, seine Gruppe wolle die Demokratie zerstören und durch ein auf der Scharia basierendes Regime ersetzen, zu. Er lehnte Mittel der Gewalt aber ausdrücklich ab.76 Die Formulierung des EGMR ist ebenso ambivalent wie im Fall Jersild und anderen vergleichbaren Fällen.77 Der Prüfungsort hingegen spricht gegen die Annahme, die Äußerungen lägen nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Es ist deshalb davon auszugehen, dass der Missbrauchsgedanke im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs zum Tragen kommt.78 ii. Art. 17 EMRK als Kriterium der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 10 II EMRK Art. 17 EMRK könnte auch im Rahmen der Begründung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs nach Art. 10 II EMRK herangezogen werden und als Argument für die Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft dienen. Diesen Begründungsweg wählte der EGMR aber in keinem der von ihm entschiedenen Fälle. Nur in einem später vom Gerichtshof gestrichenen Fall macht die

75 EGMR, 4. 12. 2003, Gündüz ./. Türkei, Nr. 35071/97, Z. 51 („Certes, il ne fait aucun doute qu'à l'égal de tout autre propos dirigé contre les valeurs qui sous-tendent la Convention, des expressions visant à propager, inciter à ou justifier la haine fondée sur l'intolérance, y compris l'intolérance religieuse, ne bénéficient pas de la protection de l'article 10 de la Convention.“, Z. 51); der Ansicht von Duarte-Herrera (Duarte-Herrera, juridikum 2015, 309, 315), die davon ausgeht, dass hier ein Schutzbereichsausschluss vom EGMR angenommen worden wäre, wenn das Element der Gewalt gegeben gewesen wäre, ist insoweit nicht zuzustimmen, als die Formulierung zwar hierauf hindeutet, der Prüfungsort innerhalb der Kriterien des Art. 10 II EMRK jedoch dagegen spricht; zum Umstand, dass hiermit nicht alle Ausprägungen von Hassrede gemeint sein können vgl. Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 219. 76

EGMR, 4. 12. 2003, Gündüz ./. Türkei, Nr. 35071/97, Z. 41, 50.

EGMR, 4. 12. 2003, Gündüz ./. Türkei, Nr. 35071/97, Z. 51 („do not enjoy the protection afforded by Article 10 of the Convention“). 77

78 Im Fall Erbakan ist eine vergleichbare Formulierung des Gerichtshofs zu finden (EGMR, 6. 7. 2006, Erbakan ./. Türkei, Nr. 59405/00, Z. 57).

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …97

EKMR in ihrem Bericht79 eine Andeutung, die so interpretiert werden kann, dass Art. 17 EMRK als Kriterium der Abwägung herangezogen werden sollte.80 Da die Formulierung aber nie wiederholt wurde und der Bericht der EKMR später vom Gerichtshof gestrichen wurde,81 kommt dem keine Relevanz zu.82 iii. Art. 17 EMRK nach Prüfung des Art. 10 II EMRK In einigen Fällen prüfte der EGMR in Fällen einer „Hassrede“ Art. 17 EMRK, nachdem er die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs nach Maßgabe der Anforderungen des Art. 10 II EMRK ausführlich geprüft hatte und festgestellt hatte, dass der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig war und nicht gerechtfertigt werden konnte. Er lehnte es in diesen Fällen aber ab, Art. 17 EMRK anzuwenden. Einen solchen Begründungsweg für eine Verletzung des Art.  10 EMRK nahm der EGMR in einem Fall faschistischer Äußerungen über die Herkunft mazedonischer Minderheiten an.83 Eine Anwendung des Art. 17 EMRK, so der EGMR nach Prüfung des Art. 10 II EMRK, sei nicht mehr notwendig, da nichts darauf hinweise, dass die Voraussetzungen dieser Bestimmung gegeben sein könnten.84 Er nahm eine Verletzung des Art. 10 EMRK an. Ein ähnliches Vorgehen verfolgte der Gerichtshof im bereits erwähnten Fall Féret sowie in einem Fall zu islam- und fremdenfeindlichen Äußerungen in einem Buch zur französischen Immigrations- und Integrationspolitik.85 Allerdings verneinte er in beiden Urteilen die Verletzung der Meinungsfreiheit im Ergebnis. Die Autoren

Hierbei handelt es sich um ein Instrument, das bis zum Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls 1998 existierte. Nach einer Individualbeschwerde konnte die EKMR, wenn sie die Beschwerde für zulässig hielt, einen Bericht nach Art. 31 EMRK a. F. erstellen, der an das Ministerkomitee des Europarats übermittelt wurde. Innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten ab Vorlage an das Ministerkomitee konnte die EKMR, der betroffene Staat oder der Heimatstaat des Beschwerdeführers nach Art. 48 EMRK a. F. den EGMR anrufen. Seit Inkrafttreten des 9. Zusatzprotokolls konnte auch der Beschwerdeführer selbst innerhalb der Frist von drei Monaten nach Erstellung des Berichts der EKMR den EGMR anrufen. Mit dieser Anrufung entfiel eine Entscheidung des Ministerkomitees. Dieses hatte jedoch gemäß Art. 32 EMRK a. F. selbst mit Zweidrittelmehrheit zu entscheiden, wenn innerhalb von drei Monaten nach Erstellung des Berichts durch die EKMR der EGMR nicht angerufen wurde.

79

80

EKMR, Bericht vom 8. 1. 1960, De Becker ./. Belgien, Nr. 214/56.

81

EGMR, 27. 3. 1962, De Becker ./. Belgien, Nr. 214/56.

Vgl. hierzu ausführlich Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art.  17 Rn.  63, der feststellt, dass die Formulierung nie wiederholt wurde, wofür er Zustimmung ausdrückt. Es gebe keine Anhaltspunkte für einen gesonderten Verhältnismäßigkeitstest, dem die Anwendung des Art. 17 EMRK zu unterziehen wäre; vgl. zum Bericht der EKMR Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, S. 274; Klamt, Streitbare Demokratie, S. 257.

82

83 EGMR, 15. 1. 2009, Association of citizens “Radko” and Paunkovski ./. “Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien”, Nr. 74651/01. 84 EGMR, 15. 1. 2009, Association of citizens “Radko” and Paunkovski ./. “Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien”, Nr. 74651/01, Z. 77. 85

EGMR, 10. 7. 2008, Soulas u. a. ./. Frankreich, Nr. 15948/03.

98

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

des Buches mit dem Titel „La colonisation de l’Europe. Discours vrai sur l‘immigration et l’islam“ verfolgten nach eigenen Angaben das Ziel, ihre Auffassung über die Unvereinbarkeit zwischen der europäischen und der islamischen Zivilisation darzulegen. Man habe niemanden beleidigen oder karikieren, sondern das Recht der Europäer auf Wahrung ihrer Identität verteidigen wollen. Die französischen Gerichte verurteilten die Autoren wegen Aufstachelung zu Diskriminierung, Hass oder Gewalt gegen eine Person oder Personengruppe aufgrund ihrer Rasse, Nationalität, Ethnie oder Religion. Nachdem der Gerichtshof es auf Ebene der Zulässigkeit der Beschwerde abgelehnt hatte, die Äußerungen in Anwendung des Art. 17 EMRK außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit zu sehen, und stattdessen auf die Prüfung der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft auf Ebene der Begründetheit verwiesen hatte,86 nahm er im Fall Soulas dann einen Eingriff in Art. 10 EMRK an. Folglich kann nicht angenommen werden, dass Art.  17 EMRK angewendet wurde und die Äußerungen infolgedessen außerhalb des Schutzbereichs gesehen wurden.87 Schließlich prüfte der EGMR Art. 17 EMRK im Anschluss an die Prüfung des Art. 10 II EMRK. Er kam aber für den konkreten Fall dazu, dass Art. 17 EMRK nicht anwendbar sei, weil die erforderliche Schwere fehle.88 Diese Vorgehensweise, Art. 17 EMRK nach vollendeter Prüfung des Art.  10 II EMRK wie einen „Nachgedanken“89 zu erwähnen, wird teilweise kritisch betrachtet, da der Gerichtshof den zweiten Schritt vor dem ersten gehe.90 Die Widersprüchlichkeit, die man zwischen den Erwägungen zu Art. 17 EMRK in der Zulässigkeit und jenen in der Begründetheit sehen kann, wird dadurch erklärt, dass der Gerichtshof in diesem Urteil im Rahmen der Zulässigkeit auf das Vorbringen der Regierung reagierte und eher kein eigenes dogmatisches Verständnis ausdrückte. iv. Prüfung des Art. 10 II EMRK ohne Art. 17 EMRK In mehreren Fällen kann auch festgestellt werden, dass die Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 10 EMRK nach Maßgabe des Art. 10 II EMRK festgestellt wird und dies ohne Einfluss oder Erwähnung der „Missbrauchsklausel“ des Art.  17 EMRK geschieht. Auf diese Weise ging der EGMR sowohl in Fällen zu Äußerungen im Rahmen der Kritik an der türkischen Regierung zur kurdischen Frage91 sowie im bereits erwähnten Fall Leroy und in einem Fall zu Flugblättern mit

86

EGMR, 10. 7. 2008, Soulas u. a. ./. Frankreich, Nr. 15948/03, Z. 23.

87

EGMR, 10. 7. 2008, Soulas u. a. ./. Frankreich, Nr. 15948/03, Z. 28.

88

EGMR, 10. 7. 2008, Soulas u. a. ./. Frankreich, Nr. 15948/03, Z. 48.

Sondervotum des Richters Silvis, dem sich die Richter Casadevall, Berro und Kuris angeschlossen haben zu EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08. 89

90 Sondervotum des Richters Silvis, dem sich die Richter Casadevall, Berro und Kuris angeschlossen haben zu EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08.

EGMR (GK), 8. 7. 1999, Sürek Nr.  1 ./. Türkei, Nr. 26682/95; EGMR (GK), 25. 11. 1997, Zana ./. Türkei, Nr. 18954/91; EGMR, 7. 3. 2006, Hocaoğullari ./. Türkei, Nr. 77109/01.

91

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …99

homosexuellenfeindlichen Äußerungen92 vor. In allen Fällen kam er zu dem Ergebnis, der Eingriff sei gerechtfertigt. Der letztgenannte Fall betrifft das Urteil Vejdeland aus dem Jahr 2012.93 Eine rechtsradikale schwedische Organisation verteilte homophobe Flugblätter auf mehreren Schulgeländen in Schweden, um für eine Änderung der Bildungspolitik im Hinblick auf den Umgang mit homosexuellen Beziehungen im Unterrichtsstoff einzutreten. Die Flugblätter enthielten Äußerungen, die Homosexuellen den Willen zur Verharmlosung von Pädophilie und die Verbreitung von HIV und AIDS vorwarfen. Die schwedischen Gerichte verurteilten die Mitglieder der Organisation wegen Aufstachelung zu homophobem Hass. Schließlich stellte der EGMR in zahlreichen Fällen betreffend unterschiedliche Sachverhalte, darunter zahlreiche Fälle zu Äußerungen in der Türkei im Zusammenhang mit der kurdischen Frage, fest, Art. 10 EMRK sei verletzt, ohne dass er Art. 17 EMRK prüfte.94 Die Prüfung der Begründetheit führte in diesen Konstellationen, dazu, dass die Kriterien des Art. 10 II EMRK geprüft wurden und eine Verletzung der Meinungsfreiheit festgestellt wurde, ohne dass die „Missbrauchsklausel“ des Art. 17 EMRK erwähnt wurde. c) „Hassrede“ in Form von kollektiven Äußerungen als Sonderfall In den Bereich der „Hassrede“ fallen in der Rechtsprechung des EGMR häufig neben den dargestellten individuellen Meinungsäußerungen auch kollektive Äußerungsformen. Dies können zum Beispiel Äußerungen sein, die von Parteien getätigt werden. Politische Parteien können sich nämlich, wenn und soweit sie kollektive Äußerungen tätigen, auf Art.  10 EMRK berufen, dessen Schutzbereich hierauf

92

EGMR, 9. 2. 2012, Vejdeland u. a. ./. Schweden, Nr. 1813/07.

93

EGMR, 9. 2. 2012, Vejdeland u. a. ./. Schweden, Nr. 1813/07.

EGMR, 3. 5. 2007, Ulusoy u. a. ./. Türkei, Nr. 34797/03; EKMR, 13. 1. 1998, Baskaya u. Okcuoglu ./. Türkei, Nr. 23536/94 u. 24408/94; EGMR, 6. 7. 2006, Erbakan ./. Türkei, Nr. 59405/00; EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89; EGMR, 10. 2. 2015, Yoslun ./. Türkei, Nr. 2336/05; EGMR, 14. 9. 2010, Dink ./. Türkei, Nr. 2668/07; EGMR, 4. 12. 2003, Gündüz ./. Türkei, Nr. 35071/97; EGMR, 1. 2. 2011, Faruk Temel ./. Türkei, Nr. 16853/05; EGMR, 15. 3. 2011, Otegi Mondragon ./. Spanien, Nr. 2034/07; EGMR, 21. 10. 2014, Murat Vural ./. Türkei, Nr. 9540/07; EGMR, 23. 4. 1992, Castells ./. Spanien, Nr. 11798/85; EGMR (GK), 8. 7. 1999, Arslan ./. Türkei, Nr. 23462/94; EGMR, 8. 7. 1999, Ceylan ./. Türkei, Nr. 23556/94; EGMR, 8. 7. 1999, Erdogdu u. Ince ./. Türkei, Nr. 25067/94 u. 25068/94; EGMR, 8. 7. 1999, Karatas  ./. Türkei, Nr. 23168/94; EGMR (GK), 8. 7. 1999, Gerger ./. Türkei, Nr. 24919/94; EGMR, 7. 2. 2002, E. K. ./. Türkei, Nr. 28496/95; EGMR, 25. 6. 2000, Erdogdu ./. Türkei, Nr. 25723/94; EGMR, 2. 5. 2006, Aydin Tatlav ./. Türkei, Nr. 50692/99; EGMR, 1. 3. 2005, Birol ./. Türkei, Nr. 44104/98; EGMR, 17. 7. 2001, Association Ekin ./. Frankreich, Nr. 39288/98; EKMR, 21. 10. 1997, Sener ./. Türkei, Nr. 26689/95; EGMR (GK), 28. 9. 1999, Öztürk ./. Türkei, Nr. 22479/93; EGMR, 29. 3. 2005, Alinak ./. Türkei, Nr. 40287/98; EGMR, 2. 10. 2003, Kizilyaprak ./. Türkei, Nr. 27528/95; EGMR, 16. 7. 2009, Willem ./. Frankreich, Nr. 10883/05; EGMR, 4. 11. 2008, Balsyte-Lideikiene ./. Litauen, Nr. 72596/01; EGMR, 8. 7. 1999, Sürek und Özdemir ./. Türkei, Nr. 23927/94 u. 24277/94, Z. 42; EGMR, 11. 4. 2006, Dicle ./. Türkei, Nr. 46733/99, Z. 27 ff.; EGMR, 31. 3. 2015, Öner und Türk ./. Türkei, Nr. 51962/12, Z. 21. 94

100

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

anwendbar ist.95 Insofern es aber um die Auflösung bzw. das Verbot einer politischen Partei geht, liegt der Eingriff außerhalb der hier untersuchten Rechtsprechung. i. Schutzbereichsausschluss gemäß Art. 17 EMRK in der Zulässigkeit der Individualbeschwerde Teilweise wird bei „Hassreden“ in Form kollektiver Äußerungen bereits auf Ebene der Zulässigkeit unter Rückgriff auf Art. 17 EMRK angenommen, die Äußerungen lägen außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit (Art. 10 I EMRK, Art. 17 EMRK, Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK). In der Entscheidung Hizb Ut-Tahrir aus dem Jahre 2012 nahm der Gerichtshof bei Prüfung der Zulässigkeit der Beschwerde bereits an, die Äußerungen lägen nicht im Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie des Art. 10 EMRK. Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die bf. Vereinigung beschrieb sich selbst als „globale islamische politische Partei bzw. Religionsgesellschaft“. Sie plädierte für einen Sturz der Regierungen in der gesamten muslimischen Welt und deren Ersetzung durch einen islamischen Staat in Form eines wiederhergestellten Kalifats. Die Vereinigung propagierte zudem die Zerstörung Israels und das Töten der jüdischen Bevölkerung durch Selbstmordanschläge. Das deutsche Innenministerium verbot die Aktivitäten der Vereinigung in Deutschland mit der Begründung, die Tätigkeit der Vereinigung verstoße gegen den Gedanken der Völkerverständigung und die bf. Vereinigung befürworte Gewaltanwendung als Mittel zur politischen Auseinandersetzung. Unter Rekurs auf die eigene vorangegangene Rechtsprechung zu Art. 17 EMRK stellte der Gerichtshof fest, die bf. Vereinigung versuche sich zu einem Zweck auf Art. 11 EMRK zu berufen, der den Werten der Konvention, insbesondere der friedlichen Beilegung internationaler Konflikte und der Unantastbarkeit menschlichen Lebens, zuwiderlaufe. Folglich sei aus Gründen des Art. 17 EMRK davon auszugehen, dass die Vereinigung den Schutz des Art.  11  EMRK nicht genießen könne.96 Der EGMR prüfte Art.  17 EMRK auf Ebene der Zulässigkeit und kam zu dem Schluss, die Voraussetzungen der Bestimmung seien erfüllt. Infolgedessen ging der Gerichtshof davon aus, die Äußerungen lägen nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit. Zu Recht erklärte der Gerichtshof die Beschwerde für unvereinbar mit der Konvention ratione materiae und für nach Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK unzulässig.97 Die Wahl des Unzulässigkeitsgrundes bestätigt, dass die Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs gesehen werden. Die Formulierung („(…) by reason of Article 17 (…), may not benefit from the protection afforded

EGMR (GK), 13. 2. 2003, Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. ./. Türkei, Nr. 41340/98 u. a., Z. 89; Harvey, European Law Review 29 (2004), 407, 413. 95

96

EGMR, 12. 6. 2012, Hizb Ut-Tahrir u. a. ./. Deutschland, Nr. 31098/08, Z. 74.

97

EGMR, 12. 6. 2012, Hizb Ut-Tahrir u. a. ./. Deutschland, Nr. 31098/08, Z. 75.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …101

by Article 11 (…)“98) ließe dies allein nicht zwingend erkennen. Es ist im Ergebnis davon auszugehen, dass der EGMR hier bereits auf Ebene der Zulässigkeit davon ausging, dass der Schutzbereich nicht betroffen war. Für Art. 10 EMRK kam er zu einem identischen Ergebnis.99 Ebenso verfuhr der Gerichtshof in einem Fall zum Verbot der Gründung einer Vereinigung, der antisemitische Zielsetzungen vorgeworfen wurden.100 Die Formulierung der Erwägungen lässt erkennen, dass der Gerichtshof davon ausging, dass es bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 17 EMRK ausgeschlossen sei, sich auf Art. 11 EMRK zu berufen. Die antisemitischen Ideen der Vereinigungen rechtfertigten eine Anwendung des Art. 17 EMRK.101 Die Beschwerdeführer versuchten von dem Recht aus Art. 11 EMRK Gebrauch zu machen, um Tätigkeiten vorzunehmen, die gegen Text und Geist der Konvention gerichtet seien und dies würde, ließe man sie zu, zur Zerstörung der Rechte und Freiheiten der Konvention beitragen. Wegen Art. 17 EMRK könnten die Beschwerdeführer sich nicht auf Art. 11 EMRK berufen, um gegen das Verbot der Gründung der Vereinigung vorzugehen.102 Interessant ist, dass der Gerichtshof hier keinen Unzulässigkeitsgrund des Art. 35 III EMRK nannte. Er schwieg diesbezüglich vielmehr. Die Formulierung des Gerichtshofs ist, wie in den meisten anderen Fällen auch, ambivalent. Aus den Erwägungen des EGMR kann – wenn auch vieles darauf hindeutet – nicht zwingend geschlossen werden, dass er die Äußerungen als Rechtsfolge des Art. 17 EMRK außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit sah.103 Im Fall Kasymakhunov und Saybatalov verneinte der EGMR, dass der Schutzbereich in Bezug auf Mitgliedschaften in der radikal-islamischen Gruppierung Hizb Ut-Tahrir betroffen ist.104 Dies begründete er damit, dass die Organisation zu Gewalt aufrufe und es als wahrscheinlich anzusehen sei, dass sie im Rahmen ihrer Tätigkeit auf gewaltsame Mittel zurückgreifen würde. Es sei nicht zu erwarten, dass die Organisation ausschließlich mit legalen und demokratischen Mitteln agieren würde. Eine Berufung auf Art. 9, 10 und 11 EMRK sei ausgeschlossen.105 Die Verbreitung der politischen Ideen falle eindeutig in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK. Die Beschwerdeführer versuchten, die Garantien der Konvention zu Zwecken zu nutzen, die Text und Geist der Konvention zuwiderliefen. Die Beschwerde sei unzulässig wegen Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae und müsse gemäß Art. 35 III lit. a) Alt. 1 zurückgewiesen werden.106 98

EGMR, 12. 6. 2012, Hizb Ut-Tahrir u. a. ./. Deutschland, Nr. 31098/08, Z. 74.

99

EGMR, 12. 6. 2012, Hizb Ut-Tahrir u. a. ./. Deutschland, Nr. 31098/08, Z. 78.

100

EGMR, 2. 9. 2004, W. P. u. a. ./. Polen, Nr. 42264/98.

101

EGMR, 2. 9. 2004, W. P. u. a. ./. Polen, Nr. 42264/98.

102

EGMR, 2. 9. 2004, W. P. u. a. ./. Polen, Nr. 42264/98.

103

So auch Hochmann, Le négationnisme, S. 281.

104

EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06.

EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06, Z. 106 ff.

105

EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06, Z. 113 f.

106

102

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Der EGMR nahm auch hier das Verhalten der Grundrechtsträger aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus und begründete dies auf Ebene der Zulässigkeit mit Art. 17 EMRK, insbesondere wegen der in Aussicht genommenen Systemmerkmale des Staats, den die Organisation errichten wollte sowie des erkennbar möglichen Rückgriffs auf gewaltsame Mittel zur Errichtung dieses Staats und des Aufrufs zu Gewalt an die Anhänger. Diese Merkmale seien mit der EMRK unvereinbar. Im Fall Vona107 ging der Gerichtshof im Ergebnis einen anderen Weg; er sah aber die Möglichkeit, dass Äußerungen nicht im Schutzbereich liegen könnten und dies mit Art.  17 EMRK bereits auf Ebene der Zulässigkeit begründet werden könnte. Der Beschwerdeführer war Vorsitzender einer ungarischen Vereinigung mit dem Namen „Ungarische Garde“, die den Schutz der ungarischen Tradition und Kultur zum Ziel hatte. Später gründete die Vereinigung eine Bewegung, deren Ziel es sein sollte, „Ungarn physisch, spirituell und intellektuell zu verteidigen“. Sie trainierten ihre Mitglieder physisch und mental und regten einen öffentlichen Dialog zu Katastrophenhilfe und Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit an. Mitglieder der Vereinigung führten in Uniformen Kundgebungen und Demonstrationen durch und riefen zur Verteidigung der „ungarischen Rasse“ gegen die sog. „Zigeuner-Kriminalität“ auf. Die ungarischen Behörden lösten die Vereinigung auf. Bezüglich Art. 17 EMRK und dessen Wirkung auf den Schutzbereich der Meinungsfreiheit führte der Gerichtshof aus, er sehe sich nur nach ausführlicher Untersuchung aller Umstände des Einzelfalls in der Lage, zu beurteilen, ob Art. 17 EMRK auf die vorliegenden Handlungen anzuwenden sei.108 Die Beschwerde stelle keinen Missbrauch des Beschwerderechts zu den Zwecken des Art. 17 EMRK dar. Daher sei sie nicht unvereinbar mit der Konvention ratione materiae im Sinne des Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK.109 Diese Formulierung war zumindest ungewöhnlich, denn der Gerichtshof sprach von einem Missbrauch des Beschwerderechts. Da er aber die Begründung für die Ablehnung der Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen der Konvention ratione materiae lieferte, ist dem keine weitere Bedeutung zuzumessen. Im Rahmen der Zulässigkeit wurde ein Missbrauch nach Art. 17 EMRK angeprüft, dann aber abgelehnt. Der EGMR erkannte so die Möglichkeit einer Unzulässigkeit wegen Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae für den Fall an, dass Art. 17 EMRK angewendet wird. Er schloss dies für den konkreten Fall aber aus. Damit brachte er zum Ausdruck, Art. 17 EMRK führe dazu, dass Äußerungen, auf die er anwendbar ist, nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen. Im konkreten Fall hielt er die Regelung nicht für anwendbar. Dies ändert aber nichts an seiner Annahme zur Rechtsfolge des Art. 17 EMRK. Auf Ebene der Begründetheit ging der Gerichtshof dann von einem Eingriff in Art. 11 EMRK durch die Auflösung der Vereinigung aus.110 Er führte zudem aus, im Kontext des Art. 10 EMRK könnte Ideen oder Verhaltensweisen nicht deshalb

107

EGMR, 9. 7. 2013, Vona ./. Ungarn, Nr. 35943/10.

108

EGMR, 9. 7. 2013, Vona ./. Ungarn, Nr. 35943/10, Z. 38.

109

EGMR, 9. 7. 2013, Vona ./. Ungarn, Nr. 35943/10, Z. 39.

110

EGMR, 9. 7. 2013, Vona ./. Ungarn, Nr. 35943/10, Z. 49.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …103

der Schutz der Konvention von vornherein versagt werden, weil sie geeignet seien, Gefühle von Unbehagen in Teilen der Bevölkerung hervorzurufen oder respektlos zu wirken. Dasselbe müsse für die Vereinigungsfreiheit gelten. Obwohl die Vereinigung Gewalt provoziere und demokratische Prinzipien negiere, seien schwerwiegende Maßnahmen wie die Auflösung einer Vereinigung nur unter strengen Bedingungen mit der Konvention vereinbar. Dies gelte selbst dann, wenn sie die gesellschaftliche Ordnung in Frage stellten.111 Damit lehnte er eine Grenze des Schutzbereichs für diese Äußerungen jedenfalls ab.112 Interessant ist dabei, dass der Gerichtshof in diesem Fall Art. 17 EMRK entgegen der Auffassung der Regierung nicht heranzog, weil keine direkte Verbindung zwischen der Handlung und einer totalitären Unterdrückung bestanden habe bzw. eine solche von der Regierung nicht habe nachgewiesen werden können, wohingegen er die „Missbrauchsklausel“ im Fall Hizb Ut-Tahrir anwendete, dabei pauschal auf die Werte der Konvention zurückgriff und die Äußerung infolge der Anwendung des Art.  17 EMRK aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausschloss.113 Auch die Formulierungen der EKMR zu Art.  17 EMRK und dessen Verhältnis zu den Garantien der Kommunikationsgrundrechte in der Entscheidung KPD gegen Deutschland ließen bereits auf die Annahme schließen, im Falle einer Anwendung des Art. 17 EMRK sehe der Gerichtshof die Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit.114 Hier führte die Kommission aus, es sei nicht notwendig Art. 9, 10 und 11 zu prüfen, wenn Art. 17 EMRK als allgemeinere Vorschrift greife. ii. Art. 17 EMRK nach Prüfung des Art. 10 II EMRK In anderen Fällen kollektiver Äußerungen wird Art.  17 EMRK erst erwähnt, nachdem eine vollständige Rechtfertigungsprüfung am Maßstab des Art.  10 II EMRK durchgeführt wurde. Unabhängig davon, dass es sich bei dem dem Urteil Refah Partisi115 zugrunde liegenden Sachverhalt um ein außerhalb des Untersuchungsgegenstands dieser Arbeit liegendes Parteiverbot handelte, muss hier Erwähnung finden, dass der EGMR allgemeine Ausführungen zum Verhältnis der Garantien aus Art. 9, 10 und 11 EMRK

111

EGMR, 9. 7. 2013, Vona ./. Ungarn, Nr. 35943/10, Z. 63.

Ebenso in EGMR, 2. 10. 2001, Stankov and the United Macedonian Organisation Ilinden ./. Bulgarien, Nr. 29221/95, 29225/95.

112

113

Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 855 f.

EKMR, 20. 7. 1957, KPD ./. Deutschland, Nr. 250/57 „cannot rest upon any provision“ und “no need to consider the application of the second paragraphs of Articles 9, 10 and 11, since Article 17 of the Convention contains the following more general provision.“; so auch Klein, ZRP 2001, 397, 399. 114

115

EGMR (GK), 13. 2. 2003, Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. ./. Türkei, Nr. 41340/98 u. a.

104

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

zur „Missbrauchsklausel“ des Art. 17 EMRK machte.116 Er legte dar, die Freiheiten des Art. 11 EMRK ebenso wie jene der Art. 9 EMRK und Art. 10 EMRK hielten den Staat nicht grundsätzlich davon ab, ihre Institutionen gegen Vereinigungen zu schützen, die diese in Gefahr brächten. Unter Rekurs auf die eigene vorangegangene Rechtsprechung führte er weiter aus, er habe bereits festgestellt, dass der Konvention eine gewisse Form des Kompromisses zwischen den Anforderungen der Verteidigung der demokratischen Gesellschaft und jenen des Schutzes der individuellen Rechte innewohne. Daher sei es notwendig, dass die Voraussetzungen der Eingriffsvorbehalte, zum Beispiel des Art. 11 II EMRK, eingehalten würden. Erst nach einer Prüfung dieser Voraussetzungen könne der Gerichtshof im Lichte aller Umstände des Einzelfalls entscheiden, ob eine Anwendung des Art. 17 EMRK notwendig sei.117 Die Formulierung des EGMR deutet hier in Bezug auf Art.  17 EMRK in Richtung einer Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs, weil der Gerichtshof davon ausging, dass er nur nach einer Prüfung des Art. 11 II EMRK unter Betrachtung aller relevanten Umstände des Einzelfalls über die Anwendung des Art. 17 EMRK entscheiden könne. Das bedeutete, dass die Rechtfertigung des Eingriffs nach den Kriterien des Eingriffsvorbehalts geprüft werden muss, bevor Art. 17 EMRK angewendet werden kann. Ansonsten könnte über eine Anwendung des Art. 17 EMRK nicht entschieden werden. Der Gerichtshof entwarf zudem einen strikten Test aus drei Kriterien, anhand derer die Verhältnismäßigkeit eines Parteiverbots geprüft werden müsse.118 Darin liegt ein Indiz für eine „indirekte Anwendung“ der „Missbrauchsklausel“.119 Der Gerichtshof plädiert hier der Sache nach für eine Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs auf Ebene der Begründetheit.

116 Vgl. hierzu Boyle, Essex Human Rights Review 2004, 1, 10, der entgegen der hier vertretenen Ansicht davon ausgeht, das Urteil enthalte keinerlei Aussagen zur Anwendbarkeit des Art. 17 EMRK; wie hier Mensching, Hassrede im Internet, S. 67.

EGMR (GK), 13. 2. 2003, Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. ./. Türkei, Nr. 41340/98 u. a., Z. 96; vgl. ebenso in anderen Parteiverbotsfällen EGMR, 8. 12. 1999, Partei der Freiheit und Demokratie (ÖZDEP) ./. Türkei, Nr. 23885/94, Z. 47 (Art. 17 EMRK wird im Anschluss an Art. 11 II EMRK erwogen, dann aber in seiner Anwendung abgelehnt); vgl. ähnlich EGMR, 25. 5. 1998, Sozialistische Partei u. a. ./. Türkei, Nr. 21237/93, Z. 29 f. (Anwendung Art. 17 EMRK auf Zulässigkeitsebene wird unter Verweis auf die Begründetheit abgelehnt); EGMR, 30. 1. 1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei ./. Türkei, Nr. 19392/92, Z. 32, 36, 60 (Art. 17 EMRK wird im Anschluss an Art. 11 II EMRK erwogen, dann nicht angewendet, weil die Voraussetzungen anders als im Fall der Kommunistischen Partei Deutschlands nicht vorlägen), vgl. hierzu Klein, ZRP 2001, 397, 400. 117

118 EGMR (GK), 13. 2. 2003, Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. ./. Türkei, Nr. 41340/98 u. a., Z. 104 („(…) (i) whether there was plausible evidence that the risk to democracy, supposing it had been proved to exist, was sufficiently imminent; (ii) whether the acts and speeches of the leaders and members of the political party concerned were imputable to the party as a whole; and (iii) whether the acts and speeches imputable to the political party formed a whole which gave a clear picture of a model of society conceived and advocated by the party which was incompatible with the concept of a “democratic society“.). 119

Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 202.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …105

d) Zwischenergebnis Die vorangegangenen Erwägungen lassen kein einheitliches Gesamtbild in der Rechtsprechung des EGMR zu „Hassreden“ erkennen. Die Analyse der Rechtsprechung in diesem Bereich zeigt, dass zur Anwendung des Art. 17 EMRK oder zur Betroffenheit des Schutzbereichs im Bereich von „Hassreden“ keinem System gefolgt wird. Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit bleibt teilweise von Art. 17 EMRK unberührt, in anderen Fällen führt die Anwendung der Bestimmung aber auch dazu, dass Äußerungen der Schutz der Meinungsfreiheit bereits im Stadium des Schutzbereichs versagt wird. Inhaltliche oder sonstige Kriterien, wann davon auszugehen ist, dass die Rechtsprechung einer Äußerung bereits den Schutz, den der Schutzbereich gewährt, versagt, können nicht festgestellt werden. Die Rechtsprechung des EGMR im Bereich der Hassrede lässt kein deutliches System erkennen, nach dem sie „Hassreden“ in Bezug auf den Schutzbereich der Meinungsfreiheit behandeln würde. 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei „Hassreden“ Im Gegensatz zum EGMR vertritt das Bundesverfassungsgericht in Bezug auf jene Äußerungen, die hier als „Hassreden“ bezeichnet werden, eine einheitliche Linie zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Die Meinungsfreiheit wird im Grundgesetz von Art. 5 I 1 Alt. 1 GG gewährleistet. Dieser regelt, dass „jeder (…) das Recht [hat], seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“. Im Zusammenhang mit Hassreden ist zudem Art.  18  GG als zu Art.  17 EMRK vergleichbare Bestimmung des Grundgesetzes vorliegend relevant.120 Art.  18  GG lautet: „Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs.  1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs.  3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen.“. „Hassreden“ sind nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stets und ohne Ausnahmen vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit umfasst.121 Den Fall, dass „Hassreden“ nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen, kennt das Bundesverfassungsgericht nicht. In der Rechtsprechung wird stets davon ausgegangen, dass die Äußerungen, seien sie auch in der hier vertretenen Definition als „Hassreden“ zu qualifizieren, innerhalb des von Art. 5 I 1 Alt. 1 GG gewährleisteten Schutzbereichs liegen. In allen Fällen, deren Sachverhaltskonstellation in

120

Zur Vergleichbarkeit von Art. 17 EMRK und Art. 18 GG siehe unten ausführlich Kapitel 4, A., I.

121

So auch Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Art. 5 GG Rn. 68.

106

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

den Bereich der „Hassreden“ fällt – das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff der „Hassrede“ bisher nie gebraucht,122 es entscheidet aber dennoch ohne Gebrauch der terminologischen Bezeichnung über Äußerungen, die hier unter den Begriff der „Hassrede“ gefasst werden – prüfte das Gericht im Rahmen der Begründetheit des Rechtsbehelfs im verfassungsgerichtlichen Verfahren die Rechtfertigung eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG. a) Die Rechtsprechung zur Auslegung des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG Das Bundesverfassungsgericht geht in ständiger Rechtsprechung von dem Grundsatz aus, Meinungen fielen stets in den Schutzbereich von Art.  5 I 1  GG, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als „wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos, nützlich oder schädlich“ eingeschätzt würden.123 Ähnlich der „Handysideformel“ des EGMR nimmt auch das Bundesverfassungsgericht einen weiten Schutzbereich an, der auch nicht-nachweisbare, verletzende und schockierende Werturteile umfasst. Scharfe und überzogene Äußerungen verlieren den Schutz des Art. 5 I 1 GG ebenso wenig.124 Die in einer Meinung geäußerte subjektive Position soll ohne Rücksicht auf den Gehalt der Meinung oder den gegenständlichen Bezug geschützt werden.125 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts sind auch Meinungen, die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielen, unabhängig davon, ob und wie weit sie im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchsetzbar sind, Gegenstand des Grundrechtstatbestands.126 Eine Grenze des Schutzbereichs sei erst bei einer sog. Schmähkritik, bei der es primär um eine Verunglimpfung einer Person oder einer Sache gehe und eine Auseinandersetzung in der Sache nicht vorhanden sei, anzunehmen.127 Das Bundesverfassungsgericht ging in einem Urteil zu rechtsextremistischen und nationalsozialistischen Äußerungen in diversen Publikationen im Verlag „Deutsche Stimme“, die mit einem Publikationsverbot belegt worden waren, davon aus, dass auch die Verbreitung rechtsextremistischer Meinungen vom Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG umfasst sei.128 Der Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts enthält eine interessante Formulierung im Zusammenhang mit der Bestimmung des Art. 18 GG. Art. 18 GG regelt die Verwirkung der Grundrechte. Danach verwirkt

122

Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, Art. 5 GG Rn. 68.

BVerfGE 90, 241, 247; BVerfGE 124, 300, 320; BVerfGE 93, 266, 289; BVerfGE 61, 1, 7; BVerfGE 33, 1, 14; BVerfGE 30, 336, 347. 123

124 BVerfGE 61, 1, 7 f.; BVerfGE 90, 241, 247; BVerfGE 93, 266, 289, 294; BVerfGE 54, 129, 137; BVerfGE 82, 272, 284; BVerfG, 1 BvR 917/09, Rn. 18; BVerfGE 85, 1, 15. 125

BVerfGE 30, 336, 347; BVerfGE 93, 266, 289.

126

BVerfGE 124, 320; BVerfG, 1 BvR 461/08.

127

BVerfGE 82, 272, 283 f.; BVerfGE 85, 1, 6; siehe hierzu Nolte, Beleidigungsschutz, S. 66 ff.

128

BVerfG, 1 BvR 1106/08, Z. 11.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …107

derjenige, der die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit, die Lehrfreiheit, die Versammlungsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, das Eigentum oder das Asylrecht zum Kampfe gegen die FDGO missbraucht, diese Grundrechte.129 Das Gericht führte im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung aus, unverhältnismäßig seien jedenfalls an Meinungsinhalte anknüpfende präventive Maßnahmen, die den Bürger für eine gewisse Zeit praktisch vollständig wegen seiner politischen Überzeugungen von der – die FDGO konstituierenden  – Teilhabe am Prozess der öffentlichen Meinungsbildung ausschließen würden; dies komme einer Aberkennung der Meinungsfreiheit beinahe gleich, die nur unter den Voraussetzungen des Art. 18 GG zulässig sei.130 Art. 18 GG wird im Rahmen der Abwägung genannt und markiert die äußerste Grenze einer gerade noch verhältnismäßigen Beschränkung der Meinungsfreiheit. Die Bestimmung fungiert gewissermaßen als Negativkriterium der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme, denn nach den Erwägungen des Gerichts an dieser Stelle ist die Verhältnismäßigkeit jedenfalls dann nicht mehr gegeben, wenn eine der Rechtsfolge des Art. 18 GG vergleichbare Grundrechtsbeschränkung eintritt. In einem weiteren Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, in dem es darum ging, dass die Verwendung von Wahlplakaten untersagt wurde, auf denen die Aufschrift „Polen-Invasion stoppen!“ zu finden war und die mit einer grafischen Darstellung von drei Krähen im Zusammenhang mit einem Bündel Geldscheinen, nach dem eine der Krähen mit dem Schnabel schnappt, versehen waren, lehnte das Bundesverfassungsgericht die Annahme der Verfassungsbeschwerde zwar ab, das Gericht schloss die Äußerung aber nicht aus dem Schutzbereich aus. Die textliche und bildliche Aussage auf den Plakaten stelle ungeachtet ihres möglichen ehrverletzenden Inhalts ein vom Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG erfasstes Werturteil dar. Diese Verfassungsbestimmung gebe jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Jedermann habe in der öffentlichen Auseinandersetzung und insbesondere im politischen Meinungskampf das Recht, auch in überspitzter und polemischer Form Kritik zu äußern. Dass eine Aussage scharf und übersteigert formuliert sei, entziehe sie nicht schon dem Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 5 I 1 Alt. 1 GG;131 der Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit sei aber gerechtfertigt gewesen.132 Auch eine Äußerung der Unterstützung der PKK sowie Öcalans und Meinungsäußerungen zur Rolle der Frauen im Kampf der PKK und zum Verbot kurdischer Vereine in Deutschland unterfielen  – so das Bundesverfassungsgericht  – dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 I 1 GG.133

129

Hierzu ausführlich in Kapitel 4, A., I.

130

BVerfG, 1 BvR 1106/08, Z. 24.

131

BVerfG, 2 BvR 2179/09, Z. 3.

132

BVerfG, 2 BvR 2179/09, Z. 16.

133

BVerfG, 1 BvR 98/97, Rn. 16, BVerfG, 1 BvR 2180/98, Z. 16.

108

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Das Bundesverfassungsgericht lehnte es noch einmal ausdrücklich ab, eine Äußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit auszuschließen. Gegenstand der Prüfung war ein Plakat mit der Aufschrift „Aktion Ausländerrückführung  – Für ein lebenswertes deutsches Augsburg“. Das Bundesverfassungsgericht führte unter Rückgriff auf die eigene Rechtsprechung aus, die Aussagen auf dem Plakat fielen in den Schutzbereich des Art.  5 I 1 Alt.  1  GG. Meinungen genössen den Schutz der Meinungsfreiheit, ohne dass es dabei auf deren „Begründetheit, Werthaltigkeit oder Richtigkeit“ ankäme. Sie verlören diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie „scharf und überzogen“ geäußert würden. Auch rechtsextremistische Meinungen seien geschützt. Die Bestrafung einer solchen Aussage stelle einen Eingriff dar.134 b) Anträge auf Ausspruch der Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG Das Bundesverfassungsgericht hatte insgesamt nur über vier Anträge nach Art. 18 GG zu entscheiden, die stets von der Bundesregierung gestellt wurden.135 In allen Verfahren erklärte das Bundesverfassungsgericht bereits im Vorprüfungsverfahren eine Zurückweisung gemäß § 37 BVerfGG wegen nicht hinreichender Begründetheit der Anträge. Der erste Antrag aus dem Jahr 1960 betraf Äußerungen des zweiten Vorsitzenden der Sozialistischen Reichspartei in öffentlichen Propagandareden.136 In einem zweiten Antrag im Jahr 1974 ging es um einen Gesellschafter und Chefredakteur einer Zeitschrift mit dem Namen „Deutsche National-Zeitung“ und dessen nationalistische, antisemitische und rassistische Veröffentlichungen im In- und Ausland.137 Auch zwei weitere Verfahren im Jahr 1996 betrafen Antragsgegner, die der rechtsextremistischen, neonazistischen Szene angehörten und in diesem Zusammenhang politische Äußerungen getätigt hatten.138 Die letztgenannten Entscheidungen ergingen gemäß § 24 S. 2 BVerfGG ohne Begründung. Das Gericht erläuterte, Art.  18  GG diene der Abwehr von Gefahren, die der FDGO durch individuelle Betätigung drohen könnten. Er richte sich gegen den Einzelnen, der kraft seiner Fähigkeiten und der ihm zur Verfügung stehenden Mittel eine „um der Erhaltung der Verfassung willen zu bekämpfende Gefahr“ schaffe. Für Art. 18 GG sei die Gefährlichkeit des Antragsgegners im Blick auf die Zukunft entscheidend. Bestehe sie während des Verwirkungsverfahrens, so sei in der Regel anzunehmen, dass von dem Antragsgegner auch in Zukunft eine Gefahr für die FDGO ausgehen werde. Eine Gefährlichkeit in diesem Sinne darzutun, sei zunächst Sache des Antragstellers.139

134

BVerfG, 1 BvR 369/04, 1 BvR 370/04, 1 BvR 371/04, Z. 25.

135

BVerfGE 11, 282; BVerfGE 38, 23.

136

BVerfGE 11, 282.

137

BVerfGE 38, 23.

138

BVerfG, 2 BvA 1/92, 2 BvA 2/92.

139

BVerfGE 38, 23, 25.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …109

Eine solche ernsthafte Gefahr für den Bestand der FDGO in der Zukunft wurde in keinem Fall angenommen, weshalb die Anträge zurückgewiesen wurden. Zur Begründung einer Verwirkung wäre es notwendig gewesen, dass die staatsfeindliche Betätigung fortgesetzt worden wäre. In den beiden Fällen, die eine Begründung enthalten, war jedoch in Gegenwart und Zukunft wegen des völligen Rückzugs der Betroffenen aus dem politischen Leben keinerlei politische Betätigung der Antragsgegner mehr nachweisbar, weshalb die Voraussetzungen einer Verwirkung nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts offensichtlich nicht vorlagen.140 Für die Frage nach Begrenzungen im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liefern die Beschlüsse keinerlei Anhaltspunkte, weil die Argumentation zur offensichtlichen Unbegründetheit der Beschwerde bereits die Voraussetzungen des Art. 18 GG verneint. Die Rechtsfolge der Bestimmung des Art. 18 GG spielt daher keine Rolle. Für die Frage, ob Äußerungen, auf die Art.  18  GG anwendbar ist, im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantie liegen, kann daraus nichts gewonnen werden. Relevant ist allein, dass das Bundesverfassungsgericht die zukünftige bzw. gegenwärtige Gefahr als notwendige Voraussetzung einer Verwirkungsentscheidung betrachtet. Bloß vergangenes Verhalten, mag es auch klar als Kampf gegen die FDGO zu qualifizieren sein, genügt den Anforderungen der Anwendung des Art.  18  GG nicht. Dies präzisierte das Bundesverfassungsgericht in den Zurückweisungsbeschlüssen zu Verfahren nach Art. 18 GG. 3. Die Rechtsprechung des EuGH zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei „Hassreden“ Auf unionsrechtlicher Ebene sind Art. 11 GRC und Art. 54 GRC die entscheidenden Bestimmungen, deren Auslegung durch die Rechtsprechung untersucht werden muss, wenn die Frage nach dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen von „Hassreden“ analysiert werden soll. Art. 11 GRC gewährleistet, dass „jede Person (…) das Recht auf freie Meinungsäußerung [hat]“. Art. 54 GRC erinnert an Art. 17 EMRK und regelt, „keine Bestimmung dieser Charta [sei] (…) so auszulegen, als begründe sie das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als dies in der Charta vorgesehen ist.“ Wegen des begrenzten Anwendungsbereichs der GRC nach Art. 51 I GRC und des Umstandes, dass Art. 54 GRC, als Äquivalent zu Art. 17 EMRK, wie die gesamte GRC erst seit dem Jahr 2009 rechtsverbindliches Primärrecht ist, ist die Rechtsprechung des EuGH zu Fällen der „Hassrede“ nur begrenzt entwickelt. Zudem werden in der kasuistischen Rechtsprechung des EuGH der Schutzbereich und die Grenzen der Meinungsfreiheit wenig klar bestimmt. Regelmäßig stellt der EuGH nur knapp fest, der Schutzbereich sei betroffen, um dann einen Eingriff bzw. eine

140

BVerfGE 11, 282, 283.

110

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Beschränkung anzunehmen. Erst im Rahmen der Rechtfertigung des Eingriffs setzt sich das Gericht mit den Umständen des Falls auseinander.141 Dennoch lassen sich einige Hinweise auf die hier gestellte Frage finden. Allgemein kann festgestellt werden, dass der EuGH schon in seiner Rechtsprechung zu den Grundrechten als ungeschriebenen Rechtsgrundsätzen des Unionsrechts die Meinungsäußerungsfreiheit ausdrücklich anerkannt hatte.142 Anlassfälle waren dabei vor allem dienstrechtliche Streitigkeiten143 sowie solche zur Einschränkung der Grundfreiheiten des Binnenmarkts, insbesondere der Dienstleistungsfreiheit. Die Meinungsfreiheit fungiert dort einerseits als Rechtfertigungsgrund für die Einschränkung einer Grundfreiheit,144 andererseits sind die Beschränkungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten in bestimmten Fällen neben den Grundfreiheiten auch am Grundrecht der Meinungsfreiheit zu messen.145 Die Konturen blieben aber stets eher unscharf.146 a) Das Urteil Feryn des EuGH Eine erste Entscheidung im weiteren Kontext der „Hassrede“ kann in der Rs. Feryn147 gesehen werden.148 Das Urteil betraf eine diskriminierende Einstellungspolitik eines belgischen Unternehmens. Der Direktor des Unternehmers hatte öffentlich geäußert, sein Betrieb habe Bedarf an Monteuren, stelle aber keine Menschen fremder Herkunft ein, da die Kunden Bedenken hätten, ihnen für die Dauer der Arbeiten Zugang zu ihren Privatwohnungen zu gewähren. In der Entscheidung geht es grundsätzlich um Antidiskriminierungsrecht. Die Antidiskriminierungsrichtlinie war anzuwenden und sie erfasst Äußerungen und Propagandatätigkeiten zwar nicht ausdrücklich, ihr Geltungsbereich wird jedoch sowohl persönlich als auch materiell weit verstanden. Dies zeigt die Entscheidung des EuGH im Fall Feryn.149 Die öffentliche Äußerung des Arbeitgebers zur Einstellungspolitik seines Unternehmens stellte nach Auffassung des EuGH eine unmittelbare Diskriminierung dar,

141

Vgl. hierzu Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 11 Rn. 1.

EuGH, 18. 6. 1991, ERT, Rs. 260/89, Z. 44 f.; EuGH, Collectieve Antennevoorziening Gouda, 25. 7. 1991, Rs. C-288/89, Z. 23; EuGH, 12. 6. 2003, Schmidberger, Rs. C-112/00, Z. 79; EuGH, 23. 10. 2003, RTL Television, Rs. C-245/01, Z. 40; EuGH, 12. 9. 2006, Laserdisken, Rs. C-479/04, Z. 62; vgl. dazu Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 11 Rn. 5. 142

143 EuGH, 26. 11. 1991, Rs. T-146/89, Wiliams, Z. 71 f., EuGH, 13. 12. 1989, Oyowe u. Traore, Rs. C-100/88, Z. 16; EuGH, 16. 12. 1999, WSA, Rs. C-150/98, Z. 12; EuGH, Connolly, 6. 3. 2001, Rs. C-274/99, Z. 129; EuGH, 13. 12. 2001, Cwik, Rs. C-340/00, Z. 18 f. 144

EuGH, 12. 6. 2003, Schmidberger, Rs. C-112/00, Z. 79.

145

EuGH, 26. 6. 1997, Familiapress, Rs. 368/95, Z. 26.

146

Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 61 Rn. 169.

147

EuGH, 10. 7. 2008, Feryn, Rs. C-54/07.

148

Belavusau, Fighting Hate Speech through EU Law, AmsterdamLawForum 2012, 20, 30.

149

EuGH, 10. 7. 2008, Feryn, Rs. C-54/07, Z. 28.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …111

obwohl keine identifizierbare Person benachteiligt worden war.150 Die Äußerung sei eine abstrakte Diskriminierung gewesen, der die Mitgliedstaaten mit Sanktionen begegnen müssten.151 Im Hintergrund der diskriminierungsrechtlichen Fragestellung lag ein typisches Problem der Äußerungsfreiheit: die Frage danach, ob eine bloße Äußerung eine diskriminierende Handlung sein kann.152 Ein Anhaltspunkt zur Frage, ob die Äußerungen im Schutzbereich der Meinungsfreiheit gesehen wurden, kann dem Urteil jedoch nicht entnommen werden. b) Das Urteil Mesopotamia Broadcast des EuGH Ein Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union liegt zumindest im Themenbereich der „Hassrede“. Das Urteil Mesopotamia Broadcast153 betraf die Auslegung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates vom 3. Oktober 1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit154 in der durch die Richtlinie 97/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. Juni 1997155 geänderten Fassung. Der Mesopotamia Broadcast, einer Holdinggesellschaft dänischen Rechts mit Sitz in Dänemark, wurde vorgeworfen, ihre teilweise in Deutschland produzierten Sendungen beinhalteten rassistische und zu Hass aufstachelnde Äußerungen. Es erging in Deutschland eine Verbotsverfügung gegen die Sendungen, die vom deutschen Bundesministerium des Innern erlassen wurde und damit begründet wurde, die Sendungen verstießen gegen den „Gedanken der Völkerverständigung“ im Sinne des Vereinsgesetzes in Verbindung mit dem Grundgesetz. Der Mesopotamia Broadcast wurde verboten, sich im Geltungsbereich des deutschen Vereinsgesetzes in bestimmtem Umfang zu betätigen. Hiergegen erhob die Mesopotamia Broadcast Anfechtungsklage beim Bundesverwaltungsgericht. Dieses legte dem EuGH eine Frage hinsichtlich des Anwendungsbereichs der Richtlinie vor. Für diesen war entscheidend, ob es sich bei den fraglichen Äußerungen in den Fernsehsendungen um Aufstachelungen zu Hass aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion oder Nationalität gehandelt hatte. Art. 22a der RL verpflichtet die Mitgliedstaaten nämlich dafür Sorge zu tragen, dass die Sendungen nicht zu Hass aufgrund von Rasse, Geschlecht, Religion oder Nationalität aufstacheln. Im Zuge der Beantwortung dieser Vorlagefrage führte der EuGH aus, aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 89/552 ergebe sich, dass das für die Ausstrahlung und

150

EuGH, 10. 7. 2008, Feryn, Rs. C-54/07, Z. 24 ff.

151

EuGH, 10. 7. 2008, Feryn, Rs. C-54/07, Z. 38 ff.

152

Belavusau, Freedom of Speech, S. 79.

EuGH, 22. 9. 2011, Mesopotamia Broadcast A/S METV und Roj TV A/S gegen Bundesrepublik Deutschland, C-244/10 und C-245/10. 153

154

ABl. L 298, S. 23.

155

ABl. L 202, S. 60.

112

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Verbreitung von Fernsehsendungen geltende Recht eine spezifische Ausprägung eines allgemeineren Prinzips sei, nämlich der Freiheit der Meinungsäußerung, wie sie in Art. 10 I EMRK verankert sei. Des Weiteren gehe aus dem 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 97/36 hervor, dass die Europäische Union nach Art. 6 II EUV die in der GRC niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze achte, sodass jede Maßnahme zur Beschränkung des Empfangs und/oder zur Aussetzung der Weiterverbreitung von Fernsehsendungen mit diesen Grundsätzen vereinbar sein müsse.156 Zur Definition einer Aufstachelung zu Hass stellte der Gerichtshof fest, zu den Wörtern „aufstacheln“ und „Hass“ sei anzumerken, dass sie zum einen eine Handlung bezeichneten, die dazu diene, ein bestimmtes Verhalten zu steuern, und zum anderen ein feindliches oder ablehnendes Gefühl gegenüber einer Gesamtheit von Personen transportiere.157 Die Richtlinie verfolge mit dieser Regelung den Zweck jegliche menschenverachtende Ideologie und insbesondere Bestrebungen, Gewalt zu verherrlichen, zu verhindern.158 Diese Erwägungen führten letztlich dazu, dass der Sachverhalt im zugrunde liegenden Fall in den Anwendungsbereich der Richtlinie fiel. Darüber hinaus enthält das Urteil des EuGH aber keine Erwägungen in Bezug auf grundrechtsdogmatische Fragen. Der EuGH diskutierte nicht, ob die Äußerungen des Fernsehsenders in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit fallen. Allein aus der Erwähnung des Art. 10 EMRK und der GRC im Allgemeinen kann nicht geschlossen werden, dass der Gerichtshof davon ausgehe, die Richtlinie stelle einen Eingriff in das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit dar und er nehme deshalb stillschweigend an, die Äußerungen lägen im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit. Hierin läge eine zu weitgehende Deutung der gerichtlichen Erwägungen.159 Zu erwähnen ist aber, dass die Erwägungen des Generalanwalts Bot in der Rs. Mesopotamia Broadcast davon auszugehen scheinen, dass Äußerungen, auf die Art. 54 GRC anwendbar ist, nicht im Schutzbereich des Grundrechts liegen.160 Der Generalanwalt führte aus, die in Art. 11 GRC garantierte Freiheit der Meinungsäußerung sei, wie sich aus Art. 54 GRC ergebe, dann nicht mehr anwendbar, wenn die Botschaft andere von der Charta anerkannte Grundsätze und Grundrechte, wie

156 EuGH, 22. 9. 2011, Mesopotamia Broadcast A/S METV und RoJ TV A/S gegen Bundesrepublik Deutschland, Rs. C-244/10 und C-245/10, Z. 33. 157 EuGH, 22. 9. 2011, Mesopotamia Broadcast A/S METV und RoJ TV A/S gegen Bundesrepublik Deutschland, Rs. C-244/10 und C-245/10, Z. 41. 158 EuGH, 22. 9. 2011, Mesopotamia Broadcast A/S METV und RoJ TV A/S gegen Bundesrepublik Deutschland, Rs. C-244/10 und C-245/10, Z. 42.

In der Literatur wird teilweise davon ausgegangen dieses Urteil des EuGH deute darauf hin, dass „Hassrede“ als Missbrauch von Grundrechten gesehen werden müsse (Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 11 EMRK, Rn. 11.49) bzw. müsse in den Erwägungen eine Hinwendung zu einer Einschränkung des Schutzbereichs über Art. 54 GRC gesehen werden (Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 11 Rn. 11.38). Dem kann nicht gefolgt werden.

159

160

So auch Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 7.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …113

die Menschenwürde und das Diskriminierungsverbot, beeinträchtige.161 Dem Missbrauchsverbot des Art. 54 GRC wurde hier implizit die Rechtsfolge zugeschrieben, dass Äußerungen, auf die es anwendbar ist, aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit herausfallen. Der EuGH greift diese Erwägung jedoch nicht auf. c) Äußerungsrechtliche Konstellationen im Bereich des europäischen Dienstrechts Häufiger entschied der EuGH in äußerungsrechtlichen Konstellationen im Bereich des europäischen Dienstrechts. In der Rs. Connolly, in der es um die Veröffentlichung eines Buches über die Tätigkeit der Europäischen Gemeinschaften durch einen Bediensteten ging, machte der EuGH deutlich, dass die Meinungsfreiheit nicht nur „für Informationen und Ideen gilt, die Zustimmung erfahren oder die als harmlos oder unerheblich betrachtet werden, sondern auch für sämtliche Informationen und Ideen, die den Staat oder einen Bereich der Bevölkerung beleidigen, aus der Fassung bringen oder stören. Dies erfordern nämlich die pluralistische Gesellschaft, die Toleranz und die Weite des Geistes, ohne die eine 'demokratische Gesellschaft' nicht zu haben ist“.162 Aus dieser Formulierung kann zumindest abgeleitet werden, dass ein weites Schutzbereichsverständnis vertreten wird.163 d) Sonstige Anwendungsfälle zu Art. 54 GRC in der Rechtsprechung des EuGH Die sonstigen Anwendungsfälle zu Art.  54  GRC liegen sämtlich außerhalb des Äußerungsrechts und können für den vorliegenden Kontext keine Erkenntnisse liefern.164 e) Übertragung der Rechtsprechung des EGMR zu „Hassreden“ auf die Garantien der GRC Da die Meinungsäußerungsfreiheit des Art.  11 I GRC der Garantie des Art.  10 I EMRK entspricht,165 folgt aus Art.  52 III GRC, dass die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR für die vorliegende Problematik heranzuziehen sind.166

161 Schlussanträge GA Bot, 5. 5. 2011, Mesopotamia Broadcast A/S METV und RoJ TV A/S gegen Bundesrepublik Deutschland, Rs. C-244/10 und C-245/10, Z. 68. 162

EuGH, 6. 1. 2001, Connolly, Rs. C-274/99 P, Z. 39.

163

So auch: Kühling, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), EuGR, § 23 Rn. 15.

EuGH, 23. 3. 2000, Diamantis, Rs. C-373/97; EuGH, 14. 12. 2000, Emsland-Stärke GmbH, Rs. C-110/99. 164

165 Erläuterungen des Präsidiums zur Charta der Grundrechte, Amtsblatt Nr. C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17. 166

Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 11 GRC Rn. 3.

114

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Art. 52 III GRC stellt eine dynamische Verweisung dar, weshalb die sich fortentwickelnde Rechtsprechung des EGMR von Bedeutung ist.167 Die Straßburger Rechtsprechung weist, wie gesehen, einen größeren Bestand an Anwendungsfällen im Bereich der „Hassrede“ auf. Da die existierenden Bestimmungen im Unionsrecht selbst keine hinreichenden Angaben machen und einschlägige Rechtsprechung des EuGH fehlt, erlangen die Entscheidungen des EGMR über den beschriebenen Weg für das Unionsrecht Bedeutung. Daher ist an dieser Stelle auf die oben dargestellte systematische Analyse der Rechtsprechung des EGMR zu verweisen.

II. Im Besonderen: Revisionistische bzw. negationistische Äußerungen 1. Die Rechtsprechung des EGMR und die Praxis der EKMR zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei revisionistischen bzw. negationistischen Äußerungen Auch für den Bereich der revisionistischen Äußerungen, die hier als Sonderfall der demokratiefeindlichen Äußerungen untersucht werden sollen, wird die Rechtsprechung und Praxis der Konventionsorgane entlang der folgenden Fragestellung systematisiert: Ziehen die Konventionsorgane bei der Beurteilung staatlicher Maßnahmen gegen revisionistische Äußerungen Art. 17 EMRK dazu heran, zu begründen, dass die Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK liegen und es deshalb nicht möglich ist, sich auf die Meinungsfreiheit zu berufen? Oder gehen sie davon aus, dass in den Schutzbereich eingegriffen wird, wenn revisionistische Äußerungen verboten oder beschränkt werden? Ziehen sie Art.  17 EMRK als Maßstab für die Auslegung des Art. 10 II EMRK und insbesondere im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung heran? Schließlich werden jene Entscheidungen, in denen der EGMR bzw. die EKMR das Missbrauchsverbot des Art.  17 EMRK ganz außer Betracht lassen,168 und jene, in denen eine Prüfung auf Ebene der Zulässigkeit bzw. in denen eine Prüfung in der Begründetheit stattfindet, gesondert dargestellt. Auch in Urteilen, die sich mit der Beschränkung revisionistischer Äußerungen befassen, geht der EGMR davon aus, dass der Schutzbereich der Meinungsfreiheit grundsätzlich weit zu interpretieren ist. Die Meinungsäußerungsfreiheit sei, so der EGMR, nicht nur auf Informationen und Ideen anwendbar, die zustimmend aufgenommen oder als harmlos oder neutral eingestuft würden, sondern auch auf Rumler-Korinek/Vranes, in: Holoubek/Lienbacher (Hrsg.), GRC, Art. 52 Rn. 34; Von Danwitz, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), GRC, Art. 52 Rn. 57.

167

Ansatz, die Rechtfertigung anhand eines Konventionsrechts ohne Art. 17 zu prüfen und allein auf das Ergebnis dieser Prüfung abzustellen („absorption approach“ (Terminologie nach Arai, in: Van Dijk/Van Hoof/Van Rijn/Zwaak (Hrsg.), Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 1086 ff.)).

168

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …115

solche, die schockierten, beunruhigten oder verletzten. Dies sei, so der Gerichtshof im Besonderen für den Zusammenhang der revisionistischen Aussagen, auch auf historische Debatten anwendbar, in denen Gewissheit noch nicht erlangt sei und der Streit zwischen unterschiedlichen Positionen noch andauere.169 Diese Beobachtung dient als Ausgangspunkt der folgenden Darstellung der bisherigen Rechtsprechung.

a) Zulässigkeit der Individualbeschwerde in Fällen revisionistischer bzw. negationistischer Äußerungen i. Äußerungen gemäß Art. 17 EMRK außerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK In einigen Fällen revisionistischer Äußerungen gingen die Konventionsorgane auf Ebene der Zulässigkeit davon aus, der Schutzbereich des Art.  10 EMRK werde durch Art. 17 EMRK begrenzt (Art. 10 I EMRK, Art. 17 EMRK, Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK). (1) Eindeutige Fälle In der Entscheidung Garaudy170 sowie im Fall Witzsch Nr.  2171 ging der EGMR eindeutig davon aus, dass die jeweiligen Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK lagen. Er nahm dies bereits auf der Ebene der Zulässigkeit an und bezog sich darauf, Art. 17 EMRK sei anzuwenden. Er kam so zu dem Ergebnis einer Unzulässigkeit der Beschwerden. Die Fälle betrafen eine Holocaust-Leugnung und eine Äußerung, die die Verantwortlichkeit, die intentionale Vorgehensweise der NSDAP und Hitlers in Bezug auf den Holocaust und die rassische Motivation Hitlers abgestritten hatte. Die Entscheidung Garaudy betraf eine strafrechtliche Verurteilung für die Veröffentlichung des Buches mit dem Titel „Les mythes fondateurs de la politique israélienne“ (Die Gründungsmythen der israelischen Politik). Der Gerichtshof differenzierte für die Beurteilung zwischen Äußerungen der Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit einerseits, die er wie oben dargelegt behandelte und einer Kritik am Staat Israel und der jüdischen Gemeinschaft andererseits. Für die erstgenannten Äußerungen nahm der Gerichtshof eine Unvereinbarkeit mit der Konvention gemäß Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK an und zog damit den Unzulässigkeitsgrund heran, der einschlägig ist, wenn kein Schutzbereich eines Konventionsrechts von der staatlichen Maßnahme betroffen ist.

169

EGMR, 21. 9. 2006, Monnat ./. Schweiz, Nr. 73604/01, Z. 63.

170

EGMR, 24. 6. 2003, Garaudy ./. Frankreich, Nr. 65831/01.

171

EGMR, 13. 12. 2005, Witzsch Nr. 2 ./. Deutschland, Nr. 7485/03.

116

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Der Entscheidung Witzsch Nr. 2 lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem ein bekannter Historiker in einem Zeitungsartikel u.  a. ausgeführt hatte, Hitler habe zwar keinen schriftlichen Befehl für die Vernichtung der Juden gegeben, es gebe aber Nachweise, dass er mehrere mündliche Befehle gegeben habe. Witzsch schrieb daraufhin einen Brief an den Historiker, in dem er nach den Feststellungen des innerstaatlichen Gerichts zwar nicht den Holocaust als solchen, aber die Verantwortung Hitlers und der NSDAP für diesen abstritt und es als ahistorisch darstellte, dass Hitler und die NSDAP den Massenmord an den Juden „geplant, initiiert und organisiert“ hätten. Er wurde für diesen Brief wegen Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener strafrechtlich verurteilt. Der EGMR zog aufgrund der Feststellungen der deutschen Gerichte in Bezug auf den Inhalt der Äußerungen die Bestimmung des Art. 17 EMRK heran. Zweck des Art. 17 EMRK sei, dem Individuum die Möglichkeit zu nehmen, ein Recht der Konvention in Anspruch zu nehmen, um Werte zu vertreten, die Text und Geist der Konvention widersprächen. Im Einklang mit der vorherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs172 sei davon auszugehen, dass Art. 10 EMRK, insbesondere in Fällen von Holocaustleugnungen und verwandten Äußerungen, nicht im Widerspruch zu Art. 17 EMRK ausgelegt werden dürfe. Der Missbrauch der Meinungsfreiheit sei mit Demokratie und Menschenrechten unvereinbar und verletze die Rechte und Freiheiten anderer. Der Beschwerdeführer könne sich gemäß Art. 17 EMRK nicht auf Art. 10 EMRK berufen. Obwohl der EGMR den Sachverhalt nicht klar in die Kategorien von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung einordnete, lässt die Struktur der Argumentation des EGMR erkennen, dass der Gerichtshof hier annahm, die Äußerungen lägen nicht im Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 10 EMRK. Er stellte weder ausdrücklich noch implizit einen Eingriff fest und nannte weder die Voraussetzungen der Rechtfertigung eines Eingriffs in das Grundrecht noch Art. 10 II EMRK als Bestimmung selbst. In anderen Entscheidungen nannten die Konventionsorgane, sofern sie von einem Eingriff in den Schutzbereich ausgingen, Art. 10 II EMRK zumindest. Daraus wird ersichtlich, dass es sich um eine Prüfung der Rechtfertigung eines angenommenen Eingriffs in Art. 10 EMRK handelte.173 Hier war dies nicht der Fall. Daraus kann e contrario geschlossen werden, dass davon ausgegangen wurde, dass der Schutzbereich nicht betroffen ist. Die konkrete Formulierung hingegen lässt wie in den meisten anderen Fällen keinen zwingenden Schluss zu. Das kann aber wegen der eindeutigen Abwesenheit der Prüfung von Rechtfertigungskriterien außer Acht gelassen werden. Die Anwendung des Unzulässigkeitsgrunds des Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK stützt die Annahme, dass hier davon ausgegangen wurde, die Äußerungen lägen nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit. 172 Vgl. hierzu Hong, ZaöRV 2010, 73, der zu Recht bemerkt, der EGMR zitiere hier die Urteile der Großen Kammer EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89 und EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045 nicht und gebrauche die dort verwendete Formulierung auch nicht, sondern greife stattdessen auf eine sehr weite Auslegung des Art. 17 EMRK nach Wortlaut und Geist der Konvention zurück. Die Entscheidung stelle ein Beispiel für einen besonders restriktiven Umgang mit der Meinungsäußerungsfreiheit dar. 173

Vgl. etwa EKMR, 12. 10. 1989, H., W. und K. ./. Österreich, Nr. 12774/87.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …117

Die Zulässigkeitsentscheidung im Fall M’Bala M’Bala aus dem Jahr 2015 stellte eine aktuelle Wiederholung dieser Vorgehensweise dar. Die Entscheidung betraf den Beschwerdeführer, Dieudonné M’Bala M’Bala, einen französischen Humoristen, der im Rahmen einer Veranstaltung vor einem großen Publikum den verurteilten Negationisten und Revisionisten Robert Faurisson, der damals bereits wiederholt die Existenz von Gaskammern in Konzentrationslagern geleugnet hatte, auf der Bühne begrüßte. Der Beschwerdeführer inszenierte, dass an Faurisson auf der Bühne der Preis der Ächtung und der Respektlosigkeit verliehen wurde. Der Preis wurde von einem Schauspieler in einem Schlafanzug mit aufgedrucktem Davidstern überreicht. Hierfür wurde M’Bala M’Bala in Frankreich strafrechtlich verurteilt. Zunächst sprach der EGMR von einem Eingriff in Art. 10 EMRK. Dies würde für die Annahme eines Eingriffs in den Schutzbereich sprechen. Allerdings handelt es sich hierbei um eine formelhafte Passage, die der EGMR aus der vorangegangenen Rechtsprechung übernahm. Diese Passage allein vermag die Annahme einer Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs nicht zu begründen.174 Weiter erwog der EGMR unter Verweis auf seine Rechtsprechung in der Vergangenheit, eine Äußerung, die gegen die Werte der EMRK gerichtet sei, werde gemäß Art.  17 EMRK dem Schutz des Art.  10 EMRK entzogen. Er gebrauchte hier jene im Hinblick auf die Frage nach einer Betroffenheit des Schutzbereichs als ambivalent zu beurteilende Formulierung aus dem Urteil Lehideux und Isorni, auf das er auch verweist. Die Formulierung wird durch die darauffolgend zitierte Rechtsprechung aber präzisiert, da die zitierten Entscheidungen mehrheitlich davon ausgegangen waren, dass die betreffenden Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit lagen.175 Der Umstand, dass gleichzeitig Entscheidungen zitiert werden, die einen Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit annehmen, relativiert diesen Befund. Sodann führte der Gerichtshof aus, Inhalt, Grundstimmung und Ziel der Äußerungen des Beschwerdeführers wiesen einen negationistischen und antisemitischen Charakter auf. Der Beschwerdeführer versuche, Art.  10 EMRK zweckwidrig zu gebrauchen, indem er sein Recht auf Meinungsfreiheit zur Verfolgung von Zielen verwende, die Text und Geist der Konvention widersprächen und die, wenn sie zugelassen würden, an der Zerstörung der Rechte und Freiheiten der EMRK teilhätten.176 Infolgedessen könne der Beschwerdeführer gemäß Art.  17 EMRK den

174

EGMR, 20. 10. 2015, M’Bala M’Bala ./. Frankreich, Nr. 25239/13, Z. 31.

EGMR, 20. 10. 2015, M’Bala M’Bala ./. Frankreich, Nr. 25239/13, Z. 33 (EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, wie unten noch darzustellen, ist ebenfalls uneindeutig bezüglich der hier relevanten Frage; EGMR, 24. 6. 2003, Garaudy ./. Frankreich, Nr. 65831/01 und EGMR, 13. 12. 2005 Witzsch Nr. 2 ./. Deutschland, Nr. 7485/03 sowie EGMR, 20. 2. 2007, Pavel Ivanov ./. Russland, Nr. 35222/04 und EGMR, 16. 11. 2004, Norwood ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 23131/03 hingegen sehen Schutzbereich begrenzt; die Entscheidung Marais der EKMR (EKMR, 24. 6. 1996, Marais ./. Frankreich, Nr. 31159/96) steht dem jedoch entgegen, hier wurde eine Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs durchgeführt). 175

176

EGMR, 20. 10. 2015, M’Bala M’Bala ./. Frankreich, Nr. 25239/13, Z. 41.

118

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Schutz des Art. 10 EMRK nicht genießen. Die Beschwerde sei offensichtlich unbegründet und unzulässig.177 Der EGMR nahm in diesem Fall an, die Äußerungen lägen nicht im Schutzbereich des Art.  10 EMRK und begründete dies mit Art.  17 EMRK, der wegen des negationistischen und antisemitischen Charakters der Äußerungen anwendbar sei. Gegen die Annahme, der EGMR sei hier davon ausgegangen, Art. 17 EMRK bewirke, dass die Äußerungen außerhalb des grundrechtlichen Schutzbereichs liegen, könnte angeführt werden, dass er eigene Rechtsprechung zitiert hat, die einen Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit vertreten hatte. Die Argumentationsstruktur im vorliegenden Fall, die weder ausdrücklich noch implizit einen Eingriff in Art. 10 EMRK feststellte und Art. 10 II EMRK nicht nannte, deutet jedoch darauf hin, dass angenommen wurde, Art. 17 EMRK sei auf die Äußerungen anwendbar und infolgedessen sei der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht betroffen. Einzuräumen ist, dass Ausführlichkeit und Inhalt der Erwägungen des EGMR an eine Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs erinnern. Die Rechtsprechung, die zitiert wurde, führte die konkret zitierten Argumente auch auf Ebene der Rechtfertigung ein. Daran wird deutlich, dass der Einwand, es mache keinen Unterschied, ob die ausführliche Prüfung der Umstände des Einzelfalls auf Ebene der Rechtfertigung oder auf Ebene des Schutzbereichs stattfindet, nicht völlig außer Acht zu lassen ist. Zu berücksichtigen ist, dass der Gerichtshof auf Ebene der Zulässigkeit argumentierte. Grundsätzlich müsste die Begründung einer offensichtlichen Unbegründetheit der Beschwerde die Kategorien von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung achten und anwenden. Praktisch ist dies oft, aber nicht immer der Fall. Dieser Umstand führt dazu, dass die Argumentation mit dem Mangel der Feststellung eines Eingriffs als nicht zwingend angesehen werden muss. Trotz dieser berechtigten Einwände sprechen im Ergebnis die wichtigeren Indizien in dieser Entscheidung dafür, dass der EGMR davon ausging, die Äußerungen fielen nicht in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK, weil Art. 17 EMRK anwendbar war. Die Tatsache, dass der EGMR die Beschwerde wegen Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae für unzulässig erklärte, deutet darauf hin, dass diese Deutung der Erwägungen zutrifft.178 Auch im Fall Orban u. a.,179 der Äußerungen zur Legitimation, Rechtfertigung und Rechtmäßigkeit von Kriegsverbrechen wie Folter und Massenerschießungen im Algerienkrieg und zur Verantwortlichkeit des französischen Generals Aussaresses in diesem Zusammenhang betraf, wird deutlich, dass der EGMR Art. 17 EMRK die Rechtsfolge des Ausschlusses der betroffenen Äußerungen aus dem Schutzbereich des Art. 10 EMRK zuschreibt. Die Beschwerdeführer waren Autoren eines Buches, das die Folterungen und Gruppenerschießungen als Teil der Aufgaben beschrieb, zu deren Erfüllung Aussaresses verpflichtet gewesen sei.

177

EGMR, 20. 10. 2015, M’Bala M’Bala ./. Frankreich, Nr. 25239/13, Z. 42.

178

Siehe hierzu oben Kapitel 3, A., I., 1., a).

179

EGMR, 15. 1. 2009, Orban ./. Frankreich, Nr. 20985/05.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …119

Der EGMR prüfte im Rahmen des Art.  35 III EMRK die Anwendbarkeit des Art. 17 EMRK ausdrücklich, lehnte diese aber für den konkreten Fall ab, weil der Sachverhalt sich sehr von jenen, in denen er Art. 17 EMRK in der vorangegangenen Rechtsprechung angewendet hatte, unterscheide.180 Eine Rechtfertigung solcher Kriegsverbrechen widerspreche im Allgemeinen Sinn und Zweck des Art.  10 EMRK, so der Gerichtshof. Im konkreten Fall sei die Rechtfertigung aber nicht Ziel des Werks der Beschwerdeführer gewesen. Es habe sich um eine Darstellung eines historischen Zeugnisses zu Ereignissen, die Gegenstand einer laufenden historischen Debatte gewesen seien, gehandelt. Daher sei ein allgemeines Interesse an der Veröffentlichung der Darstellungen gegeben; die Frage nach dem Gebrauch von Folter und Massenexekutionen durch die französischen Behörden während des Algerienkrieges bedienten ein historisches Interesse der Allgemeinheit. Ein solcher Gebrauch der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK widerspreche der Konvention sowie Sinn und Zweck des Art. 10 EMRK nicht; Art. 17 EMRK sei nicht anwendbar.181 Der EGMR lehnte in weiterer Folge eine offensichtliche Unbegründetheit und die Anwendung des Art. 35 III lit. a) Alt. 2 EMRK ab.182 Dies begründete er im konkreten Fall aber nicht damit, dass Art. 17 EMRK nicht anwendbar sei. Der Fall Orban zeigt, dass der Gerichtshof Äußerungen, die eindeutig darauf gerichtet sind, Kriegsverbrechen wie Folter zu rechtfertigen, als solche qualifiziert, die der Konvention sowie Sinn und Zweck des Art. 10 EMRK widersprechen. Der Aussage des EGMR, im gegebenen Sachverhalt habe die Äußerung dieses Ziel nicht verfolgt und Art. 17 EMRK sei nicht anwendbar, lässt sich e contrario entnehmen, dass eine Rechtfertigung von Kriegsverbrechen zu einer Anwendung des Art.  17 EMRK und infolgedessen zu einem Ausschluss der Äußerung aus dem Schutzbereich des Art. 10 EMRK führen würde.183 Einen Sonderfall stellte das Urteil Varela Geis184 dar. Hier kam der EGMR im Rahmen der Zulässigkeit einer Beschwerde wegen Verletzung von Art.  6 EMRK bezüglich der Anwendung des von der Regierung vorgebrachten Missbrauchsverbots nach Art.  17 EMRK zu dem Ergebnis, dass die Argumente, die die Regierung zu Art.  17 EMRK vorgebracht hatte, eng mit dem materiellen Vorbringen des Beschwerdeführers verbunden seien. Sodann erklärte er, Art.  35 III lit. a) Alt.  2 EMRK sei nicht einschlägig und die Beschwerde zulässig.185 Das Urteil betraf jedoch Verfahrensrechte im spanischen Strafprozess, deren Verletzung der Beschwerdeführer als der Leugnung bzw. Rechtfertigung des Holocaust Angeklagter geltend gemacht hatte. Zwar brachte der Beschwerdeführer auch die Garantie des Art. 10 EMRK vor, er unternahm dies aber nicht in Bezug auf seine Verurteilung wegen der getätigten Äußerungen, sondern wegen der Beschränkung seines Rechts

180

EGMR, 15. 1. 2009, Orban ./. Frankreich, Nr. 20985/05, Z. 33 ff.

181

EGMR, 15. 1. 2009, Orban ./. Frankreich, Nr. 20985/05, Z. 35.

182

EGMR, 15. 1. 2009, Orban ./. Frankreich, Nr. 20985/05, Z. 37.

183

Vgl. hierzu Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 197.

184

EGMR, 5. 3. 2013, Varela Geis ./. Spanien, Nr. 61005/09.

185

EGMR, 5. 3. 2013, Varela Geis :/. Spanien, Nr. 61005/09, Z. 31 f.

120

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

auf effektive Verteidigung im Strafprozess. Hierzu erklärte der EGMR, eine gesonderte Behandlung des Art. 10 EMRK sei neben jener zu Art. 6 EMRK nicht mehr notwendig, da letztere alle wesentlichen Aspekte bereits erfasse und darüber hinausgehende spezielle Erwägungen zu Art. 10 EMRK nicht notwendig seien. Daher kann das Urteil für die vorliegende Fragestellung keine Anhaltspunkte liefern. (2) Der Fall Perinçek als Zweifelsfall Der Fall Perinçek betraf Äußerungen des Beschwerdeführers Dogru Perinçek in türkischer Sprache auf einer Pressekonferenz in der Schweiz. Er hatte kundgetan, die Behauptung eines „Armenian genocide“ sei eine internationale Lüge der imperialistischen Kräfte in den USA und der EU. Historiker seien von den amerikanischen und deutschen Geheimdiensten beauftragt worden, die Lüge vom Völkermord am armenischen Volk zu verbreiten. Zudem hatte der Beschwerdeführer, türkischer promovierter Jurist und Präsident der türkischen Arbeiterpartei, geäußert, es existiere weder ein kurdisches noch ein armenisches Problem. Im Anschluss an diese Äußerungen veröffentlichte der Beschwerdeführer einen Text, in dem er leugnete, dass die Ereignisse 1915 und in den darauffolgenden Jahren einen Genozid dargestellt hätten. In einem weiteren Statement äußerte er noch einmal, es habe keinen Genozid an den Armeniern 1915 gegeben. Es sei ein Krieg zwischen Völkern gewesen, bei dem es zahlreiche Todesfälle gegeben habe. Die armenischen Truppen hätten Massaker an Türken und Muslimen verübt. Die Kammer des EGMR hatte den gleichen Ansatz wie im Fall Orban – ebenfalls mit dem Ergebnis der Zulässigkeit – verfolgt, weil sie Art. 17 EMRK im konkreten Fall für nicht anwendbar gehalten hatte.186 Auch die Große Kammer des EGMR ging in ihrem Urteil auf die „Missbrauchsklausel“ des Art.  17 EMRK ein.187 Sie führte aus, Art. 17 EMRK sei nur ausnahmsweise und unter extremen Bedingungen anzuwenden.188 Bei einer Anwendung aber habe die „Missbrauchsklausel“ die Wirkung, dass die Möglichkeit der Ausübung des Konventionsrechts entfalle.189 Die Formulierung, Art. 17 EMRK bewirke, dass die Ausübungsmöglichkeit eines Rechts wegfalle, ist zwar eine andere als jene in vorherigen Urteilen, eine eindeutige dogmatische Einordnung der Rechtsfolge des Art. 17 EMRK kann daraus aber nicht entnommen werden. Die Formulierung ist ebenso ambivalent wie die bisherigen. Allerdings verwies der EGMR im Rahmen der Prüfung der „Missbrauchsklausel“

186

EGMR, 17. 12. 2013, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08.

187

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 114.

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 114; EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14, Z. 31.

188

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 114 („Il a pour effet de faire échec à l’exercice d’un droit conventionnel que le requérant cherche à faire valoir en saisissant la Cour“; „its effect is to negate the exercise of the Convention right that the applicant seeks to vindicate in the proceedings before the Court“); siehe ebenso später zu Hassreden EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14, Z. 31; EGMR, 17. 4. 2018, Roj TV A/S ./. Dänemark, Nr. 24683/14, Z. 46.

189

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …121

auf zwei Entscheidungen aus der eigenen Rechtsprechung,190 in denen er davon ausgegangen war, dass die Äußerungen wegen Art. 17 EMRK nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK lagen und die Zulässigkeit der Beschwerden verneint hatte. Der Umstand, dass der Gerichtshof die beiden Entscheidungen zitierte, könnte ein Indiz dafür sein, dass er die Äußerungen außerhalb des Schutzbereiches sah. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass die vorangegangene Rechtsprechung im Zusammenhang mit einem Satz zitiert wurde, der sich eher mit den Voraussetzungen der Anwendbarkeit des Art. 17 EMRK, denn mit seiner Rechtsfolge bzw. Wirkung beschäftigte. Möglicherweise wollte der Gerichtshof nur auf die Voraussetzungen der Anwendbarkeit des Art. 17 EMRK in der vorangegangenen Rechtsprechung und nicht auf die Rechtsfolge der Bestimmung hinweisen. Eine weitere Erwägung des Gerichtshofs spricht zusätzlich dafür, dass der EGMR Art. 17 EMRK als Abwägungskriterium prüfte.191 Zunächst legt er nämlich dar, Art.  17 EMRK sei nur in extremen Fällen überhaupt anwendbar,192 sodann erwägt er aber, die entscheidende Frage im Rahmen des Art. 17 EMRK, jene nach dem Vorliegen einer Aufstachelung zu Hass und Gewalt, sei gemeinsam mit der Frage nach der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft zu stellen.193 Im Zusammenhang zwischen den beiden Aussagen des Urteils könnte man davon ausgehen, der EGMR wolle Art.  17 EMRK in extremen Fällen mit der Rechtsfolge anwenden, dass die Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen. In weniger extremen Fällen wolle er Art. 17 EMRK aber als Abwägungskriterium einsetzen. Auch die zweitgenannte Aussage belegte die Große Kammer mit einigen Stellen aus der vorangegangenen Rechtsprechung. Diese Zitate beziehen sich alle auf Entscheidungen, in denen Art. 17 EMRK im Zusammenhang mit Art. 10 II EMRK und der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs relevant wird.194 Die Erwägungen des EGMR sind nicht eindeutig; es deutet aber einiges darauf hin, dass der Gerichtshof davon ausgeht, dass Art. 17 EMRK für die Auslegung des Art. 10 II EMRK und damit für die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs eine Rolle spielt. Für diese Annahme spricht auch der weitere Argumentationsverlauf des Urteils. An späterer Stelle, auf Ebene der Begründetheit, ging der EGMR ohne Weiteres von einem Eingriff in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK aus.195 Die Große Kammer zog hier nicht mehr in Zweifel, dass die Äußerung in den Schutzbereich

EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06, Z. 106-113; EGMR, 12. 6. 2012, Hizb Ut-Tahrir u. a. ./. Deutschland, Nr. 31098/08, Z. 73 f., 78.

190

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 115 („ne se prêtant pas à une solution immédiate et se recoupant avec celle de savoir si l’ingérence dans l’exercice par lui du droit à la liberté d’expression était « nécessaire dans une société démocratique », la Cour estime que la question de l’application de l’article 17 doit être jointe au fond du grief soulevé par le requérant sous l’angle de l’article 10“); vgl. hierzu Payandeh, JuS 2016, 690, 692.

191

192

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 114.

193

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 115.

194

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 115.

195

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 117.

122

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

der Meinungsfreiheit fiel. Im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des Art. 10 II EMRK betonte der EGMR, die Schranken der Meinungsfreiheit bedürften einer engen Auslegung und Beschränkungen müssten hinreichend begründet werden.196 Im Ergebnis begründete der EGMR eine Verletzung von Art. 10 EMRK nach den Kriterien des Art. 10 II EMRK und gelangte zu der Feststellung, eine Anwendung des Art. 17 EMRK sei nicht mehr notwendig; es gebe keinen Grund, Art. 17 EMRK anzuwenden.197 Art. 17 EMRK wurde in der Entscheidung der Großen Kammer auf Ebene der Zulässigkeit angesprochen, seine Anwendbarkeit wurde aber offen gelassen und es wurde diesbezüglich auf die Ebene der Begründetheit verwiesen. Auf Ebene der Begründetheit wurde eine Anwendung dann aber als unnötig abgelehnt, nachdem die Voraussetzungen des Art. 10 II EMRK geprüft und als gegeben angenommen wurden. Die Entscheidung, Art. 17 EMRK nicht anzuwenden, erging mit dreizehn zu vier Stimmen. Eine Begründung hierfür fehlt. Der Gesamtzusammenhang der Entscheidung deutet eher darauf hin, dass Art. 17 EMRK als Abwägungskriterium verstanden wird und die betroffenen Äußerungen nicht aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgeschlossen sind.198 Widersprüchlich bleibt jedoch, dass die Große Kammer zunächst ankündigte, die Fragen nach Art.  17 EMRK auf Ebene der Prüfung der „Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ zu stellen, diese Fragen dort aber nicht – jedenfalls nicht ausdrücklich unter Bezugnahme auf Art. 17 EMRK – thematisierte. In einem Sondervotum zum Urteil der Großen Kammer wurde dementsprechend auch kritisiert, man hätte eine grundlegende Prüfung des Art. 17 EMRK vornehmen müssen, bevor man überhaupt in die Prüfung des Art. 10 EMRK eingetreten sei. Auf diese Weise hätte Art. 17 EMRK dann subsidiär als Leitprinzip in die Prüfung der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft gemäß Art. 10 II EMRK eingestellt werden können.199 Anhaltspunkte zur Bestimmung der Rechtsfolge des Art.  17 EMRK sind aus der Entscheidung der Großen Kammer im Ergebnis nur wenige zu gewinnen. Die „Missbrauchsklausel“ findet letztlich keine Anwendung. Die Ausführungen zu Art. 17 EMRK lassen vermuten, dass der Gerichtshof, wenn überhaupt, nur in sehr engen Grenzen annimmt, dass Äußerungen, auf die Art. 17 EMRK anwendbar ist, aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit herausfallen.200 Nimmt man diese Erwägungen aber ernst, liefe das darauf hinaus, dass Art. 17 EMRK als Instrumentarium zu verstehen ist, dessen sich der Gerichtshof in der einen oder anderen Weise

196

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 196.

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 281 f.; in einem Sondervotum des Richters Silvis, dem sich die Richter Casadevall, Berro und Kuris angeschlossen haben, wird der Mehrheit vorgeworfen, damit den zweiten Schritt vor dem ersten zu gehen („à mettre la charrue avant les bœufs“); vgl. hierzu Gonzalez, RTDH 2016, 1019, 1025 f. 197

198

Vgl. hierzu Giannopoulos, La Revue des Droits de L’Homme 2015, Rn. 32 ff.

Sondervotum des Richters Silvis, dem sich die Richter Casadevall, Berro und Kuris angeschlossen haben zu EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08. 199

200

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 114, 115.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …123

(mit der einen oder der anderen Rechtsfolge) in jedem Einzelfall je nach Sachverhaltskonstellation bedienen kann. Im Ergebnis bedeutete dies, dass die Rechtsfolge des Art.  17 EMRK davon abhängig ist, ob eine extreme Ausnahmesituation vorliegt (in extremen Fällen Einschränkung des Schutzbereichs, in weniger extremen Fällen Wirkung als Leitprinzip der Abwägung). Abgesehen von der schwierigen und jedenfalls ungeklärten Frage, was die Rechtsprechung mit dem Begriff der „extremen Ausnahmesituation“ meint, ist fraglich, ob dies mit der Bestimmung des Art. 17 EMRK vereinbar ist. ii. Art. 17 EMRK als Kriterium der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art. 10 II EMRK In anderen Fällen wurde Art. 17 EMRK auf Ebene der Zulässigkeit ergänzend im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen auf Ebene der Rechtfertigung des Eingriffs nach dem Maßstab des Art. 10 II EMRK herangezogen (Art. 10 II EMRK, Art. 17 EMRK, Art. 35 III lit. a) Alt. 2, IV EMRK). Eine solche Prüfung des Art.  17 EMRK als Kriterium der Abwägung der widerstreitenden Interessen201 auf der Ebene der Prüfung der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs mit dem Ergebnis der Unzulässigkeit wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß Art.  35 III lit. a) Alt.  2  nahm der EGMR in einem Fall der Leugnung der Existenz von Gaskammern und Massenvernichtungen im Fall Witzsch Nr.  1202 an. Der Beschwerdeführer war als Lehrer wegen Holocaustleugnung und anderer revisionistischer Äußerungen verurteilt worden. Der Gerichtshof nannte Art. 17 EMRK im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung und führte an, die vorangegangene Rechtsprechung ergebe, dass die Leugnung oder Revision klar etablierter historischer Tatsachen – wie des Holocaust – vom Schutz des Art. 10 EMRK durch Art. 17 EMRK ausgeschlossen würde. Vor diesem Hintergrund sei festzustellen, dass die öffentlichen Interessen an der Verhütung von Straftaten und am Schutz der Interessen der Opfer des NS-Regimes in einer demokratischen Gesellschaft die Äußerungsfreiheit des Beschwerdeführers überwiegen müssten. Der Eingriff sei in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und Art.  10 EMRK sei nicht verletzt.203 Inkohärent ist, dass der EGMR im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung mit dem Urteil Lehideux und Isorni vorherige Rechtsprechung zitierte, die davon ausgeht, dass die Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs liegen, er gleichzeitig aber in eine Abwägung der Interessen eintrat.204 Die Wahl des Unzulässigkeitsgrundes der offensichtlichen Unbegründetheit bestätigt jedoch die Annahme, dass der Gerichtshof die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs prüfte. Zumindest die Wahl der zitierten Rechtsprechung sowie die Prüfung der Kategorie der klar etablierten historischen Tatsachen fügen sich aber

Terminologisch kann hier auch von einer Auslegung des Art. 10 II EMRK „im Lichte des Art. 17 EMRK“ gesprochen werden. 201

202

EGMR, 20. 4. 1999, Witzsch ./. Deutschland, Nr. 41448/98.

203

EGMR, 20. 4. 1999, Witzsch ./. Deutschland, Nr. 41448/98.

204

Vgl. Mensching, Hassrede im Internet, S. 83.

124

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

nicht friktionsfrei in die Erwägungen ein. Die Entscheidung zeugt von einiger Unsicherheit des EGMR im Umgang mit Art. 17 EMRK und seiner Rechtsfolge. Den gleichen Ansatz vertrat der EGMR in einem Fall, in dem zu einer Leugnung der systematischen Massenvernichtungen durch Einsatz von Gas im Nationalsozialismus weitere nach innerstaatlichem Recht verbotene Wiederbetätigungshandlungen hinzutraten.205 Die EKMR verfolgte diesen Ansatz in zahlreichen Fällen, in denen der Holocaust geleugnet oder extrem verharmlost wurde oder bezweifelt wurde, dass die Massenvernichtungen des Holocaust technisch realisierbar waren.206 Im Fall Remer hatte der Beschwerdeführer die Ereignisse des Holocaust als zionistische Lüge bezeichnet, die erfunden worden sei, um die deutsche Regierung zu Zahlungen zu nötigen.207 Im Fall Rebhandl stellte die Kommission unter Rückgriff auf Art. 17 EMRK fest, der Schutz des guten Rufes und der Rechte anderer überwiege in einer demokratischen Gesellschaft immer dann, wenn es insbesondere um die Leugnung der Existenz der Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung durch Einsatz von Gas in Konzentrationslagern im Nationalsozialismus gehe und andere nationalsozialistische strafbare Äußerungen getätigt würden.208 In diesem sowie im Fall F. P. gegen Deutschland betonte die EKMR zur Begründung des Abwägungsergebnisses, bei der sie Art. 17 EMRK heranzog, in der Leugnung der historischen Fakten des Holocaust liege eine rassistische Diskriminierung gegenüber der jüdischen Bevölkerung.209 Die EKMR unterstrich, die Äußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK könne nicht in einem Art. 17 EMRK widersprechenden Sinn geltend gemacht werden. Äußerungen, die nationalsozialistische Verbrechen leugneten oder verharmlosten bzw. in irgendeiner Weise nationalsozialistische Ideologie beinhalteten, seien mit Demokratie und Menschenrechten unvereinbar und lösten daher die Anwendung des Art.  17 EMRK aus.210 Eine ausführliche Begründung der Abwägungsentscheidung fehlte aber meist, wenn Art. 17 EMRK im Rahmen dieser genannt wurde. Unter Verweis darauf, dass die „Missbrauchsklausel“ anwendbar sei, kam die EKMR überwiegend ohne weitere Erwägungen zu dem Ergebnis einer Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 10 EMRK. Im Fall D. I., in dem der Beschwerdeführer geleugnet hatte, dass es in Auschwitz jemals Gaskammern gegeben habe, dass die dort auffindbaren Gaskammern Fälschungen seien, die in den ersten Nachkriegsjahren aufgebaut worden seien und 205 EGMR, 1. 2. 2000, Schimanek ./. Österreich, Nr. 32307/96; ebenso EGMR, 25. 11. 2003, R. L. ./. Schweiz, Nr. 43874/98 (Verteilung von Materialien, die Gewalt und Rassismus propagierten). 206 EKMR, 6. 9. 1995, Remer ./. Deutschland, Nr. 25096/94; EKMR, 27. 2. 1997, Honsik ./. Österreich, Nr. 25062/94; EKMR, 24. 6. 1996, Marais ./. Frankreich, Nr. 31159/96; EKMR, 16. 1. 1996, Rebhandel ./. Österreich, Nr. 24398/94; EKMR, 12. 10. 1989, B. H., M. W., H. P., G. K. ./. Österreich, Nr. 12774/87; EKMR, 29. 3. 1993, F. P. ./. Deutschland, Nr. 19459/92; EKMR, 9. 6. 1998, Nachtmann ./. Österreich, Nr. 36773/97; EKMR, 26. 6. 1996, D. I. ./. Deutschland, Nr. 26551/95; vgl. hierzu Cohen-Jonathan, RTDH 1997, 571, 573; Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 60. 207

EKMR, 6. 9. 1995, Remer ./. Deutschland, Nr. 25096/94.

208

EKMR, 16. 1. 1996, Rebhandel ./. Österreich, Nr. 24398/94.

EKMR, 16. 1. 1996, Rebhandel ./. Österreich, Nr. 24398/94; EKMR, 29. 3. 1993, F. P. ./. Deutschland, Nr. 19459/92. 209

210

EKMR, 9. 6. 1998, Nachtmann, Nr. 36773/97.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …125

der deutsche Steuerzahler daher rund 16 Billionen Deutsche Mark für Fälschungen gezahlt habe, fügte die EKMR der Heranziehung des Art. 17 EMRK im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen ausnahmsweise eine kurze Begründung bei.211 Die genannten Äußerungen des Beschwerdeführers widersprächen einer der grundlegenden Ideen der Konvention wie sie in der Präambel deutlich würden, nämlich Gerechtigkeit und Frieden, und seien Ausdruck rassistischer und religiöser Diskriminierung. Ebenso ging die EKMR auch in Fallkonstellationen vor, in denen es nicht um eine unmittelbare Leugnung des Holocaust oder der Existenz von Konzentrationslagern zur Vernichtung der europäischen Juden, sondern um andersartige Äußerungen mit nationalsozialistischem Bezug, wie dem ausgedrückten Willen zur Wiedererrichtung der NSDAP, ging.212 Letztgenannte Äußerung war Gegenstand in der Entscheidung Kühnen der EKMR. Die Kommission stellte fest, die Äußerung des Willens zur Wiedererrichtung der NSDAP und des Nationalsozialismus sei geeignet, antisemitische Gefühle wiederzubeleben. Der Beschwerdeführer habe sich gegen fundamentale Werte der Konvention gerichtet und er habe die Rechte aus der Konvention genutzt, um Handlungen zu begehen, die gegen Geist und Text der Konvention gerichtet seien und die, ließe man sie zu, zur Zerstörung der Rechte und Freiheiten der Konvention geeignet wären. Daher sei der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig. Zur Stärkung ihres Arguments für eine Rechtfertigung nach Art. 10 II EMRK, zieht die EKMR dann Art. 17 EMRK heran. Die Äußerung des Beschwerdeführers widerspreche der Präambel der EMRK insofern, als hier die effektive politische Demokratie genannt werde. Zudem enthielte die vom Beschwerdeführer geäußerte Ansicht Elemente rassistischer und religiöser Diskriminierung. Derart ging die EKMR auch in einer Sachverhaltskonstellation der Wiedergabe revisionistischer Äußerungen eines Dritten durch den Autor einer periodisch erscheinenden Zeitschrift vor, der über die Aussagen des Dritten in einem Editorial Bericht erstattete.213 Der Beschwerdeführer hatte in seinem Text Zweifel des Dritten an der Existenz von Gaskammern und der Realisierbarkeit von Massenvernichtungen in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern wiedergegeben. Zur Begründung der Rechtfertigung des angenommenen Eingriffs in Art. 10 I EMRK zog die EKMR Art. 17 EMRK heran. Auch im Fall der Einladung eines bekannten revisionistischen Redners zu einer Parteiveranstaltung durch einen Bezirksverband der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands zog die EKMR Art. 17 EMRK als Kriterium der Abwägung im Rahmen der Prüfung der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft heran. Sie nahm eine hinreichende Wahrscheinlichkeit negationistischer Äußerungen durch den Gastredner an, sodass sie zum Ergebnis der Rechtfertigung des

211 EKMR, 26. 6. 1996, D. I. ./. Deutschland, Nr. 26551/95; ebenso EKMR, 6. 9. 1995, Remer ./. Deutschland, Nr. 25096/94. 212 EKMR, 12. 5. 1988, Kühnen ./. Deutschland, Nr. 12194/86; vgl. hierzu Cohen-Jonathan, RTDH 1997, 571, 574. 213

EKMR, 11. 1. 1995, Walendy ./. Deutschland, Nr. 21128/93.

126

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Eingriffs in Art. 10 EMRK und der Unzulässigkeit der Beschwerde kam.214 Art. 17 EMRK sei gerade deshalb relevant, weil es um die Sicherung des friedlichen Zusammenlebens der Bevölkerung in Deutschland gehe. Die Kommission argumentierte, Äußerungen, in denen die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung unter dem nationalsozialistischen Regime geleugnet oder in Zweifel gezogen würde, stünden den fundamentalen Ideen der Konvention von Gerechtigkeit und Frieden entgegen. iii. Prüfung des Art. 10 II EMRK ohne Art. 17 EMRK Teilweise wurde die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs in die Rechte aus Art. 10 EMRK auch auf Ebene der Zulässigkeit ohne Berücksichtigung des Art. 17 EMRK geprüft, wenn es um revisionistische Äußerungen ging (Art. 10 II EMRK ohne Art. 17 EMRK, Art. 35 III lit. a) Alt. 2 EMRK). Eine Prüfung des Art. 10 II EMRK im Rahmen der Zulässigkeit ohne, dass auf Art. 17 EMRK zurückgegriffen wird, verfolgte der EGMR im Fall Garaudy betreffend eine kritische Äußerung zum Vorgehen und Verhalten des Staats Israel. Er kam zu dem Ergebnis der Unzulässigkeit der Beschwerde wegen Rechtfertigung des Eingriffs. Die EKMR hatte denselben Ansatz 1982 in einer Entscheidung zu einer Äußerung in Form eines Plakats am Gartenzaun des Beschwerdeführers, auf dem dieser den Mord an der jüdischen Bevölkerung als zionistische Lüge bezeichnet hatte, gewählt.215 Der EGMR zog den Unzulässigkeitsgrund der offensichtlichen Unbegründetheit heran. Dies lässt, wie bereits mehrfach ausgeführt, vermuten, dass der Gerichtshof einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK annahm. Für die zweite Aussage des Beschwerdeführers zur Leugnung der Existenz von Gaskammern, griff er auf die Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae zurück.216 Die differenzierte Begründung des EGMR für die Unzulässigkeit der Beschwerde in Bezug auf die unterschiedlichen Äußerungsarten macht deutlich, dass der EGMR davon ausging, dass Äußerungen, auf die Art. 17 EMRK angewendet wird, außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK lägen. Im Fall der antisemitischen Äußerungen zu Israel und der jüdischen Gemeinschaft wendete der EGMR Art.  17 EMRK gerade nicht an und nahm auch nicht an, dass die Äußerung aus dem Schutzbereich des Art. 10 EMRK ausgeschlossen werden müsse. Er prüfte die Rechtfertigung des Eingriffs ohne Art. 17 EMRK heranzuziehen. Hierbei kam er nicht zu dem Ergebnis einer Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae, sondern zu einer offensichtlichen Unbegründetheit der Beschwerde, weil der Eingriff offensichtlich gerechtfertigt werden konnte.217 Ebenso verfuhr die Kommission in einem sehr frühen Fall, in dem die Beschwerdeführerin Co-Autorin eines Zeitungsartikels war, in dem die Massenvernichtungen in

214 EKMR, 29. 11. 1995, Nationaldemokratische Partei Deutschlands, Bezirksverband MünchenOberbayern ./. Deutschland, Nr. 25992/94. 215

EKMR, 16. 7. 1982, X. ./. Deutschland, Nr. 9235/81; vgl. hierzu BGHZ 75, 160.

216

Siehe hierzu oben Kapitel 3, A., II., 1., a), i., (1).

217

Vgl. hierzu Gundel, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR VI/1, § 147 Rn. 71.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …127

Auschwitz in Zweifel gezogen und andere Kriegsverbrechen des nationalsozialistischen Regimes relativiert wurden.218 iv. Art. 17 EMRK nach Prüfung des Art. 10 II EMRK In einer Entscheidung prüfte der EGMR Art. 17 EMRK auf Ebene der Zulässigkeit, nachdem er die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs nach Art.  10 II EMRK bereits festgestellt hatte und er unterließ die Anwendung der Bestimmung mit dem Hinweis, das Ergebnis sei über Art. 10 II EMRK hinreichend begründet (Art. 17 EMRK nach Art. 10 II EMRK, Art. 35 III lit. a) Alt. 2 EMRK). In der Entscheidung Gollnisch,219 in der der Beschwerdeführer, ein Universitätsprofessor der Universität Lyon III, neben der rassistischen Beleidigung eines anderen Wissenschaftlers äußerte, er negiere die Existenz von Gaskammern nicht, sie sei jedoch von Historikern zu diskutieren, prüfte der EGMR auf diese Weise eine Rechtfertigung des Eingriffs nach Art.  10 II EMRK mit positivem Ergebnis und lehnte sodann die Notwendigkeit der weitergehenden Prüfung des Art. 17 EMRK ab. Gleichzeitig erkannte er die Möglichkeit an, dass die Äußerung nicht im Schutzbereich des Art.  10 EMRK läge, wenn Art.  17 EMRK angewendet würde.220 Er unterließ es aber, Art. 17 EMRK im konkreten Fall anzuwenden. Dies begründete er damit, dass die Rechtfertigung des Eingriffs und Unzulässigkeit der Beschwerde wegen offensichtlicher Unbegründetheit nach Art. 35 III lit. a) Alt. 2 ohnehin bereits über Art. 10 II EMRK begründet werden könne.221 Der gewählte Unzulässigkeitsgrund bestätigt, dass der EGMR davon ausging, der Schutzbereich der Meinungsfreiheit sei betroffen, der Eingriff könne allerdings offensichtlich gemäß Art. 10 II EMRK gerechtfertigt werden.

b) Begründetheit der Individualbeschwerde in Fällen revisionistischer bzw. negationistischer Äußerungen i. Äußerungen gemäß Art. 17 EMRK außerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK (Hinweise) In manchen Entscheidungen der Straßburger Konventionspraxis finden sich Hinweise, dass die Anwendung des Art. 17 EMRK nach Auffassung des EGMR bzw. der EKMR dazu führt, dass bestimmte Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit 218

EKMR, 14. 7. 1983, T. ./. Belgien, Nr. 9777/82.

219

EGMR, 7. 6. 2011, Gollnisch./. Frankreich, Nr. 48135/08.

Im Fall Gollnisch (EGMR, 7. 6. 2011, Gollnisch ./. Frankreich, Nr. 48135/08) spricht, im Gegensatz zum Fall Witzsch Nr. 1 (EGMR, 20. 4. 1999, Witzsch ./. Deutschland, Nr. 41448/98) die Abfolge der Argumentation in der Entscheidung für eine Einschränkung des Schutzbereichs als Rechtsfolge des Art. 17 EMRK, da der EGMR erst im Anschluss an die Feststellung, dass eine Prüfung der Anwendung des Art. 17 EMRK nicht notwendig ist, einen Eingriff in Art. 10 EMRK feststellt.

220

221

Siehe hierzu Kapitel 3, A., I., 1., a).

128

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

nach Art. 10 EMRK liegen, wenngleich in der konkreten Entscheidung nicht immer in dieser Weise entschieden wurde. Im Urteil der Großen Kammer im Fall Lehideux und Isorni222 prüfte der EGMR im Rahmen der Begründetheit, ob die Voraussetzungen des Art.  17 EMRK vorlagen und lehnte die Anwendung der Vorschrift ab, weil im gegebenen Sachverhalt keine Leugnung klar etablierter historischer Tatsachen anzunehmen sei.223 Die Beschwerdeführer hatten eine Gedenkanzeige zu Ehren von Maréchal Pétain, der als Kollaborateur mit dem NS-Regime bekannt war und ist, in einer französischen Tageszeitung veröffentlicht. Sie würdigten Pétain als Bewahrer vor der Übermacht Deutschlands und Retter des Vaterlandes im Sinne der „Doppelspiel-Theorie“. Der EGMR war bemüht, den Fall von Situationen der Holocaustleugnung zu unterscheiden, in denen Art.  17 EMRK direkt angewendet werden würde. Hierzu führte er aus, die Rolle Pétains würde noch immer kontrovers diskutiert, die Beschwerdeführer hätten sich kritisch gegenüber nationalsozialistischen Verbrechen geäußert und hätten allein die Rolle Pétains kritisch hinterfragen wollen. Der EGMR wendete Art. 17 EMRK zwar im konkreten Fall nicht an, erläuterte aber, die Rechtfertigung einer „Pro-Nazi-Politik“ genieße den Schutz des Art. 10 EMRK nicht. Hierin wird teilweise, trotz des entgegenstehenden Prüfungsorts innerhalb der Ausführungen zur Rechtfertigung eines ausdrücklich angenommenen Eingriffs in Art. 10 EMRK,224 die Andeutung einer direkten Anwendung des Art. 17 EMRK gesehen.225 Letztlich wurde Art. 17 EMRK aber nicht angewendet.226 In gleicher Weise ging der EGMR in einem Fall vor, in dem es um revisionistische Aussagen über die Rolle Klaus Barbies am Ende des Zweiten Weltkriegs und die Rolle der Résistance in dieser Zeit227 ging. Der Gerichtshof verwies darauf, es handle sich nicht um klar etablierte historische Tatsache, die geleugnet würden. Deshalb wendete er Art. 17 EMRK ausdrücklich nicht an. Ebenso entschied der EGMR in einer anderen Entscheidung zu Äußerungen zu umstrittenen Umständen des Massakers von Chodschali durch einen Journalisten und Herausgeber in

222

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045.

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 37, 47, 53, 58; das Sondervotum kritisiert hier, dass ein Offenlassen der Entscheidung über die Anwendung des Art.  17 EMRK mit dessen engen und strengen Voraussetzungen nicht vereinbar sei; Kritik auch bei Cohen-Jonathan, RTDH 1999, 351, 372; Cohen-Jonathan, RTDH 1997, 571, 589 (in der konkreten Fallkonstellation hätte Art.  17 EMRK angewendet werden müssen, weil es sich um einen Missbrauch des Rechts der Meinungsäußerungsfreiheit gehandelt habe, da die Beschwerdeführer gewusst hätten, dass sie unwahre Fakten aussprechen). 223

Siehe hierzu unten zur Kategorie der klar etablierten historischen Tatsachen und deren eventueller Rechtsfolge einer Einschränkung des Schutzbereichs (Kapitel 3, B., V., 1.).

224

Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 194; aber zur Ambivalenz der Formulierung „the justification of a pro-Nazi policy could not be allowed to enjoy the protection afforded by Article 10“ siehe bereits oben zu EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89.

225

226

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 58.

227

EGMR, 29. 6. 2004, Chauvy ./. Frankreich, Nr. 64915/01.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …129

Aserbaidschan.228 Im letztgenannten Urteil stellte der EGMR fest, es handle sich nicht um eine Situation, die mit jenen Situationen vergleichbar sei, in denen der Schutz des Art. 10 EMRK über Art. 17 EMRK entzogen werde, weil es um die Leugnung oder Revision klar etablierter historischer Tatsachen wie den Holocaust gehe.229 In diesen Entscheidungen wurde Art. 17 EMRK nicht angewendet. Der Gerichtshof deutete aber an, dass Art.  17 EMRK  – wenn er zur Anwendung kommen würde – bewirken würde, dass die Äußerungen keinen Schutz der Meinungsfreiheit genössen. Hierin liegt ein Hinweis darauf, dass der Gerichtshof in den genannten Entscheidungen davon ausging, es gebe Äußerungen, die in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK fielen und infolgedessen außerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK zu sehen seien. In den konkret zu entscheidenden Fällen, war dies nur nie der Fall gewesen. ii. Prüfung des Art. 10 II EMRK ohne Art. 17 EMRK Teilweise wurde in Fällen revisionistischer Äußerungen eine Grundrechtsprüfung durchgeführt, die ohne jeglichen Verweis auf Art. 17 EMRK und dessen Wirkung auf den Schutzbereich der Meinungsfreiheit oder die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs auskommt. Eine solche Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs ohne Art. 17 EMRK heranzuziehen, nahm der Gerichtshof auf der Ebene der Begründetheit mit dem Ergebnis der Verletzung des Art. 10 EMRK in einem Fall, in dem es im Rahmen einer Sendung im öffentlich-rechtlichen Fernsehen um Äußerungen zum Verhältnis zwischen der Schweiz und Deutschland bzw. zwischen Repräsentanten der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und der deutschen Reichsführung ging, an.230 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit bei revisionistischen bzw. negationistischen Äußerungen Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu revisionistischen Äußerungen lässt sich ebenfalls nach der dogmatischen Vorgehensweise kategorisieren. a) Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit Das Bundesverfassungsgericht nahm für eine hier relevante Fallkonstellation, die sog. Auschwitzlüge, eine a-limine-Abweisung wegen offensichtlicher Unbegründetheit gemäß § 24 BVerfGG an. In dem Beschluss, in dem es um eine Leugnung der Judenverfolgung im Dritten Reich ging, ließ das Gericht die Zulässigkeit der

228

EGMR, 22. 4. 2010, Fatullayev ./. Aserbaidschan, Nr. 40984/07, Z. 81 ff.

229

EGMR, 22. 4. 2010, Fatullayev ./. Aserbaidschan, Nr. 40984/07, Z. 81.

230

EGMR, 21. 9. 2006, Monnat ./. Schweiz, Nr. 73604/01, Z. 56 ff.

130

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Verfassungsbeschwerde mit der Begründung dahinstehen, die Beschwerde sei ohnehin offensichtlich unbegründet.231 Ein Bezirksverband der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), hatte zu einer Veranstaltung mit dem Thema „Deutschlands Zukunft im Schatten politischer Erpressung?“ eingeladen. Auf der Einladung stand als Überschrift: „David Irving kommt nach München!“ Der Einladungstext lautete weiter, der bekannte „revisionistische“ Historiker werde zu der Frage Stellung beziehen, ob die „Zeitgeschichte als politisches Erpressungsinstrument“ geduldet werden könne. Die zuständige Behörde verpflichtete den Bezirksverband als Veranstalter, dafür Sorge zu tragen, dass in der Versammlung keine Leugnung oder Verharmlosung des Holocaust geäußert werde. Die NPD reichte im Anschluss an das innerstaatliche Verfahren Beschwerde bei der EKMR ein.232 Bei einer revisionistischen Äußerung, die den Holocaust bezweifle, handle es sich, so führte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zu dem Fall aus, um eine „Tatsachenbehauptung, die nach ungezählten Augenzeugenberichten und Dokumenten, den Feststellungen der Gerichte in zahlreichen Strafverfahren und den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft erwiesen unwahr“ sei.233 Das Gericht argumentierte, an sich genieße eine solche Behauptung „nicht den Schutz der Meinungsfreiheit“. Unter Bezugnahme auf die vorherige Rechtsprechung234 führte das Bundesverfassungsgericht aus, zwischen der Leugnung des Holocaust und der Leugnung der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg liege ein entscheidender Unterschied. Bei Äußerungen zu Schuld und Verantwortlichkeit für historische Verbrechen und Ereignisse handle es sich immer um Beurteilungen, die nicht auf eine Tatsachenbehauptung reduziert werden könnten, während die Leugnung eines Ereignisses der Geschichte selbst regelmäßig eine Tatsachenbehauptung sei.235 Das Bundesverfassungsgericht schloss die Aussage, „es habe im Dritten Reich keine Judenverfolgung gegeben“, als erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung aus dem Schutzbereich des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG aus.236 Diese Entscheidung traf das Bundesverfassungsgericht, obwohl es grundsätzlich davon ausging und ausgeht, dass der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach dem Grundgesetz tendenziell weit zu verstehen ist. Wie in anderen Bereichen der Meinungsäußerung statuierte es auch im Zusammenhang mit revisionistischen Äußerungen, Meinungen genössen den Schutz des Grundrechts, ohne dass es darauf ankomme, „ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt“ werde. Eine Meinungsäußerung verliere „den grundrechtlichen Schutz nicht dadurch, dass sie scharf oder verletzend formuliert“ sei.

231

BVerfGE 90, 241, 246.

Vgl. hierzu EKMR, 29. 11. 1995, Nationaldemokratische Partei Deutschlands, Bezirksverband München-Oberbayern ./. Deutschland, Nr. 25992/94.

232

233

BVerfGE 90, 241, 249.

234

BVerfG, 1 BvR 434/87.

235

BVerfGE 90, 241, 249.

236

Vgl. hierzu auch BGHZ 75, 160.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …131

In dieser Hinsicht könne die Frage nur sein, ob und inwieweit sich nach Maßgabe von Art. 5 II GG Grenzen der Meinungsfreiheit ergäben.237 Das Bundesverfassungsgericht nahm hier aber an, die allgemeine Grenze der Behauptung erwiesen unwahrer Tatsachen sei überschritten.238 Dies sei damit zu begründen, dass eine solche Äußerung nicht zum Meinungsbildungsprozess beitragen könne und daher nicht schutzwürdig sei.239 Gleichermaßen entschied das Gericht in einem Fall der Äußerung von Zweifeln an der Möglichkeit der Durchführung des Holocaust durch Gaskammern im Rahmen einer wissenschaftlichen Aussage.240 b) Äußerungen im Schutzbereich der Meinungsfreiheit Einen anderen Weg ging das Bundesverfassungsgericht in weiteren Fällen revisionistischer Äußerungen. So vertrat das Bundesverfassungsgericht im Fall eines Autors, dessen Buch mit dem Titel „Wahrheit für Deutschland – Die Schuldfrage des Zweiten Weltkrieges“ in die Liste jugendgefährdender Schriften aufgenommen wurde, die Annahme, es liege ein Eingriff in das Grundrecht der Meinungsfreiheit vor.241 Die Aufnahme auf die Liste qualifizierte das Bundesverfassungsgericht als Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit, da sie das Verbot der Verbreitung an Jugendliche zur Folge habe und darüber hinaus zu Werbe- und Verbreitungsbeschränkungen führe.242 Einen Ausschluss der Äußerungen aus dem Schutzbereich wegen des Vorliegens erwiesen unwahrer Tatsachenbehauptungen nahm das Bundesverfassungsgericht für diese Äußerungen von Zweifeln an der Kriegsschuld Hitlers nicht an. Die Äußerung von Zweifeln an der Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg betreffe einen komplizierten historischen Zusammenhang und lasse sich nicht auf eine Tatsachenbehauptung reduzieren; deshalb könne sie nicht aus dem Schutzbereich ausgeschlossen werden.243 Zwischen der Leugnung des Holocaust und der Leugnung der deutschen Verantwortlichkeit für den Zweiten Weltkrieg liege ein wesentlicher Unterschied. Das Gericht zog ausdrücklich eine Grenze und sah einen wesentlichen Unterschied zwischen erwiesen unwahren Tatsachenbehauptungen und Äußerungen, die Elemente der Stellungnahme enthalten, weil sie nicht die Tatsache des Zweiten Weltkrieges oder der Judenverfolgung bestreiten, sondern die Schuld Deutschlands am Ausbruch des Krieges bezweifeln.

237

BVerfGE 90, 241, 247.

238

BVerfGE 90, 241, 247; siehe hierzu unten Kapitel 3, B., V., 2.

Vgl. BVerfGE 54, 208, 219; BVerfGE 61, 1, 8; BVerfGE 66, 116, 149; BVerfGE 82, 43, 51; BVerfGE 85, 1, 15; BVerfGE 90, 241, 249; BVerfGE 99, 185, 197; a. A. Wendt, in: Von Münch/ Kunig (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 10.

239

240

BVerfG, 1 BvR 824/90.

241

BVerfGE 90, 1.

242

BVerfGE 90, 1, 16.

243

BVerfGE 90, 1, 16.

132

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Letztere lägen im Schutzbereich des Grundrechts. Nach dieser Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts können so auch erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen durch Kombination mit Elementen der Stellungnahme zu Werturteilen werden und in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit fallen.244 Denselben Ansatz verfolgte das Bundesverfassungsgericht auch in einem Beschluss zu einer Versammlung unter dem Motto „Gegen einseitige Vergangenheitsbewältigung! Gedenkt der deutschen Opfer!“, die an einem 8. November in Aachen stattfinden sollte.245 Das Gericht führte hier aus, zwar möge eine solche Aufforderung „im zeitlichen Zusammenhang mit dem 9. November als nicht veranlasst und unangemessen“ angesehen werden sowie aus „Sicht einer in der Öffentlichkeit lange errungenen Geschichtsdeutung als moralisch verwerflich gelten“. Hierdurch verliere sie aber nicht den Schutz der Meinungsfreiheit. Die grundrechtliche Garantie erfasse Meinungsäußerungen unabhängig von ihrer inhaltlichen „Richtigkeit“ oder ihrem „ethischen Wert“ und auch rechtsextreme Äußerungen seien vom Schutzbereich umfasst.246 Schließlich sah das Gericht auch die Äußerungen im Wunsiedel-Beschluss247 nicht außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit. In diesem Fall meldete der Beschwerdeführer jährlich wiederkehrend eine Veranstaltung mit dem Thema „Gedenken an Rudolf Heß“ in der Stadt Wunsiedel an; in Wunsiedel befindet sich das Grab von Rudolf Heß. Die geplante Veranstaltung sollte nun in dem betreffenden Jahr zusätzlich unter dem Motto „Seine Ehre galt ihm mehr als die Freiheit“ stattfinden. Die Veranstaltung wurde von der zuständigen Behörde verboten. Das Gericht führte zunächst aus, die Bürger seien „rechtlich nicht verpflichtet, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen“ zu teilen. Das Grundgesetz baue zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung akzeptierten und verwirklichten, erzwinge deren Loyalität aber nicht.248 Auch Meinungen, die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung zielten, seien unabhängig davon, ob und wie weit sie im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchsetzbar seien, von Art. 5 I Alt. 1 GG geschützt. Das GG vertraue auf die „Kraft der freien Auseinandersetzung als Mittel gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien.“ Dementsprechend falle sogar die „Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung“ nicht von vornherein aus dem Schutzbereich des Grundrechts heraus.249 Ein strafrechtliches Verbot einer solchen Äußerung stelle einen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit nach Art.  5 I 1 Alt.  1  GG dar.250 Das

244

Vgl. Hong, ZaöRV 2010, 73, 73, 79.

245

BVerfG, 1 BvQ 43/08.

246

BVerfG, 1 BvQ 43/08.

247

BVerfGE 124, 300.

248

BVerfGE 124, 300, 320.

249

BVerfGE 124, 300, 320.

250

BVerfGE 124, 300, 321.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …133

Bundesverfassungsgericht lehnte es auf diese Weise ab, die Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit zu sehen.251 Einen Grenzfall stellte eine Sachverhaltskonstellation dar, in der eine Person eine andere in ein Gespräch über die Geschehnisse in Deutschland während des „Dritten Reichs“ verwickelte.252 Im Zuge dessen wurden zwei Redemanuskripte mit den Titeln „Trauermarsch anlässlich des 60. Jahrestages der Bombardierung Magdeburgs“ und „Trauermarsch anlässlich des 60. Jahrestages der Zerstörung Würzburgs“ und Kopien zweier Aufsätze des „Kampfbundes gegen Unterdrückung der Wahrheit in Deutschland“ mit den Titeln „Die Geschichtslüge des angeblichen Überfalls auf Polen im Jahre 1939“ und „Über die verantwortlichen Staatsmänner, die den Zweiten Weltkrieg verursachten und die ihn zu verhindern suchten“ übergeben. Der erste Aufsatz stellte unter anderem die Behauptung auf, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass es keine Gaskammern zur Tötung von Menschen gegeben habe. Ein anderer Aufsatz bezeichnete den Holocaust als „Zwecklüge“. Unter Verweis auf den Wunsiedel-Beschluss führte das Gericht erneut aus, selbst die Verbreitung nationalsozialistischen Gedankenguts als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung falle nicht von vornherein aus dem Schutzbereich des Art. 5 I GG heraus.253 Nicht mehr in den Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG fielen hingegen „bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen“, da sie nichts zur verfassungsrechtlich gewährleisteten Meinungsbildung beitragen könnten.254 Die Aufsätze und Manuskripte im konkreten Fall unterfielen aber dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Zwar leugneten sie den Holocaust, der eine geschichtlich erwiesene Tatsache sei; im Gesamtkontext der jeweiligen Aufsätze betrachtet seien die den Holocaust leugnenden Äußerungen aber untrennbar mit Meinungsäußerungen verbunden. Die Äußerungen bestritten vorrangig die Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg und stellten die Behauptung auf, es handle sich hierbei um eine „Lüge der Nachkriegsgeneration“. Die erste, den Holocaust leugnende Äußerung benutze der Beschwerdeführer aber nur als „Teil eines einleitenden Begründungsversuchs“, warum die Nachkriegsgeneration Deutschland die alleinige Kriegsschuld zugesprochen hatte. Auch die zweite, den Holocaust leugnende Äußerung der Aufsätze, stehe zu den Grundthesen der Ablehnung der Kriegsschuld Deutschlands und der diesbezüglichen „Lügen der Nachkriegsgeneration“ in unmittelbarem Zusammenhang. Diese Thesen seien selbst aber als wertende Äußerungen vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit umfasst.255 Das Bundesverfassungsgericht erwog, die Äußerungen nicht in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit einzubeziehen, letztlich lehnte es dies aber mit der Begründung, die Tatsachenbehauptungen stünden hier nicht allein und

251

Vgl. hierzu Ulbricht, Volksverhetzung und das Prinzip der Meinungsfreiheit, S. 339.

252

BVerfG, 1 BvR 461/08.

253

BVerfG, 1 BvR 461/08, Z. 17.

254

BVerfG, 1 BvR 461/08, Z. 18.

255

BVerfG, 1 BvR 461/08, Z. 22.

134

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

seien untrennbar mit Werturteilen verbunden, ab. Das Bundesverfassungsgericht kam folgerichtig und in konsistenter Fortschreibung seiner Rechtsprechung zu der Annahme eines Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit durch Verbot und Beschränkung der genannten Äußerungen. 3. Die Rechtsprechung des EuGH Für den Bereich der revisionistischen Äußerungen ergeben sich aus der Rechtsprechung des EuGH, soweit ersichtlich, keine eigenständigen Aspekte.

III. Im Besonderen: Äußerungen in Form des Tragens von Symbolen Besondere Erwägungen sind in Fällen notwendig, in denen Äußerungen in Form von Symbolen erfolgen, die die betroffenen Personen in der Öffentlichkeit tragen oder auf sonstige Art und Weise für andere sichtbar machen. Diese Sachverhaltskonstellationen werfen Spezialfragen auf, die besonders betrachtet werden müssen. 1. Die Rechtsprechung des EGMR zu symbolischen Äußerungen Der EGMR ging in mehreren Urteilen davon aus, dass das Tragen politischer Symbole eine Äußerung im Sinne der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK ist.256 a) Art. 17 EMRK als Kriterium des Schutzbereichs auf Ebene der Zulässigkeit der Individualbeschwerde Der EGMR erwog teilweise bereits in der Zulässigkeitsprüfung, ob die Äußerungen im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit lägen oder ob sie gemäß Art. 17 EMRK aus diesem herausfielen (Art. 10 I EMRK, Art. 17 EMRK, Art. 35 III lit. a) Alt. 1, IV EMRK). Im Fall Vajnai 257 hielt der Beschwerdeführer als Vizepräsident der staatlich anerkannten ungarischen Arbeiterpartei in Budapest eine Rede im Rahmen einer Demonstration. An seiner Jacke trug er dabei den fünfzackigen roten Stern als Symbol der internationalen Arbeiterbewegung. Der Beschwerdeführer wurde daraufhin von einem Polizisten aufgefordert, den Stern abzulegen und er folgte der Aufforderung. Später wurde ein Strafverfahren wegen des Tragens eines

256

Vgl. statt aller ausdrücklich in EGMR, 3. 11. 2011, Fratanolo ./ Ungarn, Nr. 29459/10, Z. 24.

257

EGMR, 8. 7. 2008, Vajnai ./. Ungarn, Nr. 33629/06.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …135

totalitären Symbols in der Öffentlichkeit gegen ihn eingeleitet. Er wurde gerichtlich für schuldig befunden, das Gericht verzichtete jedoch unter Festsetzung einer einjährigen Probezeit darauf, eine Strafe zu verhängen. Im Rahmen der Zulässigkeit führte der Gerichtshof aus, der Fall unterscheide sich von jenen Konstellationen der vorangegangenen Rechtsprechung, in denen die Rechtfertigung von nationalsozialistischen politischen Ideen in Rede gestanden hatte. Der Missbrauch nach Art. 17 EMRK habe in diesen Fällen darin bestanden, dass Art. 10 EMRK von Gruppierungen mit totalitären Zielen herangezogen worden sei.258 Vorliegend sei, im Gegensatz zur Entscheidung Witzsch Nr. 1, aber keine Verachtung für die Opfer totalitärer Regime ausgesprochen worden und der Beschwerdeführer gehöre auch keiner Gruppierung mit totalitären Bestrebungen an. Das Tragen des Symbols sei hier nicht dazu gebraucht worden, totalitäre Unterdrückung zu rechtfertigen oder zu propagieren. Das Symbol sei einer rechtmäßigen linksgerichteten Gruppierung zuzuordnen. Im Gegensatz zu den Fällen der vorangegangenen Rechtsprechung sei die Äußerung nicht mit rassistischer Propaganda in Verbindung zu bringen.259 Ein Missbrauch im Sinne des Art. 17 EMRK liege nicht vor, und eine Unzulässigkeit wegen Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae nach Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK sei abzulehnen.260 Mit der Wahl dieses Unzulässigkeitsgrundes machte der EGMR deutlich, dass er davon ausgeht, dass Äußerungen, auf die Art. 17 EMRK Anwendung findet, außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit liegen. Der Gerichtshof wendete Art.  17 EMRK im konkreten Fall aber nicht an, weil die Sachverhaltskonstellation dem Anwendungsbereich nicht unterfiel. Hierzu steht im Widerspruch, dass er aus der vorangegangenen Rechtsprechung die Entscheidung Witzsch Nr. 1 zitiert, die einen Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK annahm. Auf der Ebene der Begründetheit ging der EGMR davon aus, es handle sich bei der strafrechtlichen Sanktion um einen Eingriff in Art. 10 EMRK.261 Dessen Rechtfertigung prüfte er anhand der Voraussetzungen des Art. 10 II EMRK. Im Rahmen dieser Rechtfertigungsprüfung gebrauchte der EGMR Formulierungen, die sprachlich darauf hindeuten könnten, dass er die Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs sieht. Aus dem Kontext müssen sie aber als Erwägungen der Rechtfertigung bzw. der Interessenabwägung gesehen werden.262 Der Gerichtshof machte damit deutlich, dass er grundsätzlich annimmt, dass Äußerungen, die die Tatbestandsvoraussetzungen des Art.  17 EMRK erfüllen, außerhalb des Schutzbereichs der

258

EGMR, 8. 7. 2008, Vajnai ./. Ungarn, Nr. 33629/06, Z. 24.

259

EGMR, 8. 7. 2008, Vajnai ./. Ungarn, Nr. 33629/06, Z. 25.

260

EGMR, 8. 7. 2008, Vajnai ./. Ungarn, Nr. 33629/06, Z. 26.

261

EGMR, 8. 7. 2008, Vajnai ./. Ungarn, Nr. 33629/06, Z. 29.

EGMR, 8. 7. 2008, Vajnai ./. Ungarn, Nr. 33629/06, Z. 53 („the Court emphasises that it is only by a careful examination of the context in which the offending words appear that one can draw a meaningful distinction between shocking and offensive language which is protected by Article 10 of the Convention [Hervorhebung nicht im Original] and that which forfeits its right to tolerance in a democratic society.“).

262

136

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Meinungsfreiheit liegen. Im konkreten Fall war Art.  17 EMRK nach Auffassung des Gerichtshofs nicht anwendbar und seine Rechtsfolge griff deshalb nicht ein. Es ist nach dieser Rechtsprechung aber nicht ausgeschlossen, dass eine Äußerung in einem anderen Fall in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK fällt und infolgedessen außerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK liegt. b) Art. 17 EMRK nach Prüfung des Art. 10 II EMRK Im Urteil Fáber nahm der EGMR einen Grundrechtseingriff an.263 Die Sozialistische Partei Ungarns hielt in Budapest eine Demonstration gegen Rassismus und Rassenhass ab. Mitglieder und sonstige Angehörige einer politischen Partei, die dem rechten Flügel angehört, versammelten sich in der Nähe des Versammlungsorts, um ihren Unwillen gegenüber der Demonstration zu verlautbaren. Der Beschwerdeführer hielt sich in dieser Gruppe schweigend auf, während er eine rot-weiß gestreifte „Árpád-Flagge“ in der Hand hielt. Er stand dabei genau an jenen Treppenstufen, auf denen in den Jahren 1944 und 1945 tausende Juden getötet worden waren. Die die Demonstration überwachenden Polizisten waren angewiesen worden, das Tragen der „Árpád-Flagge“ im Umkreis von hundert Metern nicht zu dulden. Sie forderten den Beschwerdeführer auf, die Flagge entweder wegzulegen oder den Platz zu verlassen. Er verweigerte dies jedoch mit der Begründung, bei besagter Flagge handle es sich um ein historisches Symbol und kein Gesetz verbiete ihre Zurschaustellung. Die Polizei belegte ihn daraufhin mit einer Geldstrafe. Der EGMR nahm einen Eingriff in das Recht auf Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers an und prüfte sodann dessen Rechtfertigung nach den Kriterien des Art. 10 II EMRK.264 Einzelne Formulierungen im Rahmen dieser Rechtfertigungsprüfung irritieren, weil sie im Stil der bereits mehrfach beschriebenen ambivalenten Formulierung des Gerichtshofs davon sprechen, es sei ein Unterschied zwischen von Art. 10 EMRK geschützten Äußerungen, die schockierend und verletzend sind, und solchen Äußerungen, die ihr Recht auf Toleranz verwirkten, zu machen.265 Weiter erwog der EGMR, Art.  11 EMRK sei ausnahmsweise auf Versammlungen nicht anwendbar, deren Organisatoren oder Teilnehmer gewalttätige Absichten hätten oder auf andere Weise die Grundlagen einer demokratischen Gesellschaft verneinten.266 Allerdings schloss der Gerichtshof eine Erwägung an, die zwischen unterschiedlichen Maßnahmen unterscheidet, die alle die Gemeinsamkeit haben, dass sie

263

EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08.

264

EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08, Z. 32 ff.

EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08, Z. 36 („meaningful distinction between shocking and offensive language which is protected by Article 10 and that which forfeits its right to tolerance in a democratic society.“).

265

EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08, Z. 37 („The guarantees of Article 11 of the Convention apply to all assemblies except those where the organisers and participants have violent intentions or otherwise deny the foundations of a “democratic society”.“).

266

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …137

in die Meinungsäußerungs- oder Versammlungsfreiheit eingreifen.267 Der Gesamtzusammenhang der Erwägungen deutet aber – wenn die Formulierungen auch nicht vollständig präzise sind  – darauf hin, dass der Gerichtshof einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK annahm. Die „Missbrauchsklausel“ des Art. 17 EMRK wendete der EGMR im Anschluss an die ausführliche Prüfung des Art. 10 II EMRK und die Abwägung der widerstreitenden Interessen an. Eine Äußerung, die Verachtung gegenüber den Opfern eines totalitären Regimes ausdrücke, stelle einen Missbrauch der Konventionsrechte im Sinne des Art. 17 EMRK dar.268 Hierzu verweist der EGMR auf den Fall Witzsch Nr. 1, in dem der EGMR ebenfalls einen Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit annahm. Insofern sind die Erwägungen des EGMR konsistent. Im konkreten Fall sei ein solches missbrauchendes Element nicht gegeben. Art. 17 EMRK wurde somit für den zugrunde liegenden Fall nicht angewendet und eine Rechtfertigung wurde auch insgesamt abgelehnt. Ein Sondervotum äußerte Zweifel daran, dass das Tragen der Flagge in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK fiel. Das Tragen des Symbols könne hier keine andere als eine rassistische und faschistische Aussage transportieren, da das Symbol in der öffentlichen Meinung mit dem 1944/45 herrschenden nationalsozialistischen Regime verbunden sei und an einem Ort getragen worden sei, an dem während des Zweiten Weltkrieges schwere Menschenrechtsverletzungen verübt worden seien. Im Lichte des Art. 17 EMRK hatte das Sondervotum starke Zweifel, ob der Schutzbereich des Art. 10 EMRK betroffen sei. Es nahm an, in Folge einer Anwendung des Art. 17 EMRK lägen Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit und sah im konkreten Sachverhalt auch einen solchen Anwendungsfall des Missbrauchsverbots. Es bestehe ein Unterschied zum Fall Vajnai, der begründe, warum hier im Gegensatz zur dortigen Konstellation Art.  17 EMRK Anwendung finden müsse. Im Fall Vajnai sei es um ein generelles Verbot eines Symbols, das verschiedene Bedeutungen haben könne, gegangen. Das Symbol sei dort zudem von einer Person getragen worden, die nicht zu einer totalitären Gruppe gezählt habe, sondern zu einer rechtlich anerkannten politischen Partei zugehörig gewesen sei. Im Fall Fáber liege zudem kein generelles Verbot der Flagge vor, sondern diese sei nur in einem spezifischen Kontext verboten worden und habe im konkreten Zusammenhang eine eindeutige faschistische Bedeutung gehabt.269 Urteil und Sondervotum zeigten sowohl in Bezug auf den Anwendungsbereich als auch bezüglich der Rechtsfolge des Art. 17 EMRK unterschiedliche Ansätze. In beiden Fragen unterschieden sich Mehrheits- und Sondervotum voneinander. Der

EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08, Z. 37 („Any measures interfering with freedom of assembly and expression other than in cases of incitement to violence or rejection of democratic principles  – however shocking and unacceptable certain views or words used may appear to the authorities – do a disservice to democracy and often even endanger it (…)“).

267

268

EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08, Z. 58.

269

Sondervotum der Richterin Keller zu EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08.

138

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Gerichtshof entschied sich im Bewusstsein der Kontroverse270 um Anwendbarkeit und Wirkung der Bestimmung für den Einsatz des Art. 17 EMRK als Kriterium im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung und verneinte die Anwendung des Art. 17 EMRK im konkreten Fall trotz des nationalsozialistischen Zusammenhangs des Symbols. c) Prüfung des Art. 10 II EMRK ohne Art. 17 EMRK In einem Fall gegen Deutschland, in dem der Bf. auf einem Internetblog ein Bild Heinrich Himmlers in einer Uniform der SS mit aufgedrucktem Hakenkreuz veröffentlicht hatte, entschied der EGMR im Rahmen der Zulässigkeit der Beschwerde, die strafrechtliche Verurteilung des Bf. sei zwar ein Eingriff in dessen Rechte aus Art. 10 EMRK; dieser Eingriff erfülle aber die Anforderungen des Art. 10 II EMRK und sei daher gerechtfertigt.271 Der Gerichtshof erörterte dabei, die historischen Erfahrung Deutschlands mit dem Nationalsozialismus rechtfertigten einen strengen Umgang mit der Veröffentlichung nationalsozialistischer Symbole und die Entscheidung, strafrechtlich gegen den Gebrauch der Symbole vorzugehen müsse jedenfalls vor diesem Hintergrund gesehen werden.272 Eine Ausnahme zum Schutz der Meinungsfreiheit müsse jedoch in Fällen gemacht werden, in denen offensichtlich sei, dass ein Symbol im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit nationalsozialistischem Gedankengut verwendet werde.273 Der Gerichtshof schloss sodann aus, dass das verwendete Bild von Heinrich Himmler eine andere als eine nationalsozialistische Bedeutung haben könnte; er kontrastierte den Fall damit zu jenen Urteilen, in denen ein Symbol mehrdeutig war und dieser Umstand zu berücksichtigen war.274 Zwar habe der Bf. im zugrunde liegenden Fall keine totalitäre Propaganda betreiben oder zu Gewalt oder Hass aufstacheln wollen – der Bf. hatte das Bild auf dem Blog veröffentlicht, um sich über die seiner Auffassung nach diskriminierende Behandlung seiner mit Migrationshintergrund in Deutschland lebenden Tochter durch deutsche Behörden zu beschweren –; der Kontext des Bilds auf dem Internetblog lasse aber nicht erkennen, in welchem Zusammenhang und mit welcher Intention dieses veröffentlicht worden sei. Es gebe keine Hinweise darauf, dass der Bf. eigentlich eine rassistische oder diskriminierende Vorgehensweise der Behörden habe anprangern wollen. Die innerstaatlichen Gerichte seien zu Recht davon ausgegangen, dass die Veröffentlichung des Bilds keinen Hinweis darauf bot, dass der Bf. sich hier eigentlich über Methoden der deutschen Behörden, die er mit jenen des Nationalsozialismus vergleichen und auf diese Weise kritisieren wollte, zu beschweren beabsichtigte.275 Von einem Bewusstsein um die unterschiedlichen Auffassungen in Bezug auf Art. 17 EMRK ist vor dem Hintergrund, dass das Sondervotum explizit zu Anwendbarkeit und Wirkung des Art. 17 EMRK eine andere Lösung vertritt, auszugehen.

270

271

EGMR, 13. 3. 2018, Nix ./. Deutschland, Nr. 35285/16.

272

EGMR, 13. 3. 2018, Nix ./. Deutschland, Nr. 35285/16, Z. 46 f.

273

EGMR, 13. 3. 2018, Nix ./. Deutschland, Nr. 35285/16, Z. 48.

274

EGMR, 13. 3. 2018, Nix ./. Deutschland, Nr. 35285/16, Z. 49.

275

EGMR, 13. 3. 2018, Nix ./. Deutschland, Nr. 35285/16, Z. 53.

A. Analyse und Kategorisierung der Rechtsprechung zur …139

Eine klare und offensichtliche Ablehnung der nationalsozialistischen Ideologie sei nicht erkennbar; dies hätten die innerstaatlichen Gerichte zutreffend erkannt. Es sei legitim, dass der Mitgliedstaat Deutschland gerade diesen sorglosen Umgang mit Symbolen des Nationalsozialismus sanktionieren wolle; eine tatsächliche nationalsozialistische Intention sei nicht notwendig, wenn eine klare und offensichtliche Kritik mit der Verwendung des Symbols nicht verbunden würde. Vor diesem Hintergrund seien die Anforderungen des Art. 10 II EMRK erfüllt und es liege keine Verletzung des Art. 10 EMRK vor; die Beschwerde sei offensichtlich unbegründet und damit unzulässig.276 Art.  17 EMRK findet keine Erwähnung in der Entscheidung des EGMR. 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Im System des Grundgesetzes ist die Äußerungsmodalität des Tragens von Symbolen ebenfalls vom Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie der Meinungsfreiheit umfasst.277 Interessant ist im Zusammenhang mit Einschränkungen des Schutzbereichs der Beschluss zum sog. „Herrnburger Bericht“.278 Die Beschwerdeführer waren Mitglieder einer Theatergruppe, die den sog. „Herrnburger Bericht“ aufführen wollten. Die Aufführung sollte dem Gedenken an ein FDJ-Mitglied dienen, das vor 30 Jahren bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei erschossen worden war. Es wurden Plakate verteilt, die auf die geplante Aufführung hinwiesen. Diese Plakate zeigten einen lachenden Jungen in Jeans und blauem Hemd, auf dessen linkem Hemdärmel deutlich erkennbar ein FDJ-Symbol angebracht war. Diese Verwendung des Symbols hatte das Bundesverfassungsgericht in der Folge zu beurteilen. Das Gericht stellte fest, ein Ausschluss der Äußerung aus dem Schutzbereich der Kunstfreiheit sei dann anzunehmen, wenn das Gericht auf Grundlage der Umstände des Einzelfalls feststellen müsste, dass ein Hinweis auf ein Kunstwerk nicht tatsächlich beabsichtigt gewesen sei, sondern eigentlicher Zweck der Aktion gewesen sei, für die Ziele, die das verwendete Symbol transportiere, und damit für eine verfassungswidrige Organisation, zu werben. Eine solche Handlung fiele gar nicht in den Schutzbereich der Kunstfreiheit, denn sie werde lediglich unter dem Deckmantel dieses Grundrechts vorgenommen.279 Hier wird deutlich, dass ein Verhalten nach Ansicht des Bundesverfassungsgericht bei zweckwidrigem Gebrauch der grundrechtlichen Freiheit  – einem Missbrauch – nicht in den Schutzbereich des Grundrechts fallen soll. Dies soll jedenfalls dann gelten, wenn ein Verhalten als vollständig zweckwidrig qualifiziert werden kann.

276

EGMR, 13. 3. 2018, Nix ./. Deutschland, Nr. 35285/16, Z. 54 ff.

277

BVerfG, 1 BvR 204/03, Z. 13; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 44.

278

BVerfGE 77, 240.

279

BVerfGE 77, 240, 257.

140

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

3. Die Rechtsprechung des EuGH Der EuGH hatte ebenso wie der EGMR über den Fall Vajnai280 und die Frage des roten Sterns als politisches Symbol zu entscheiden. Das befasste innerstaatliche Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob der Grundsatz der Nichtdiskriminierung, Art. 6 EUV, die Richtlinie zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes oder die Art. 10, 11 und 12 der GRC einer innerstaatlichen Bestimmung entgegenstünden, die den Gebrauch des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Symbols in der Öffentlichkeit mit strafrechtlichen Sanktionen belege.281 Es stelle sich die Frage, ob eine Bestimmung diskriminierend sei, die in einem Mitgliedstaat den Gebrauch der Symbole der internationalen Arbeiterbewegung unter Androhung strafrechtlicher Sanktionen verbiete, während in dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaats das Tragen der gleichen Symbole zu keiner Sanktion Anlass gebe.282 Da die Regelung jedoch nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts (heute Unionsrecht) falle und der Gegenstand des Verfahrens keinen Bezug zu einer der von den Bestimmungen der Verträge in Betracht gezogenen Situationen aufweise, so der EuGH, erklärte sich der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen unzuständig.283 Für die Frage der Einschränkungen des Schutzbereichs kann hieraus nichts gewonnen werden.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mitdem Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen Für die Rechtsprechung des EGMR kann festgestellt werden, dass ein einheitlicher Ansatz bezüglich Art. 17 EMRK in Anwendungsbereich und Rechtsfolge jedenfalls nicht offenkundig ist.284 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt klarere Linien. Jene des EuGH ist dagegen in so geringer Zahl vorhanden, dass eine Identifizierung von Linien und Regelmäßigkeiten ohnehin (noch) nicht möglich ist. Trotzdem werden in der Literatur einige verallgemeinernde Aussagen dazu getätigt, nach welchen Kriterien die Rechtsprechung des EGMR demokratiefeindliche

EuGH, 6. 10. 2005, Vajnai, Rs. C-328/04; vgl. EGMR, 8. 7. 2008, Vajnai ./. Ungarn, Nr. 33629/06.

280

281

EuGH, 6. 10. 2005, Vajnai, Rs. C-328/04.

282

EuGH, 6. 10. 2005, Vajnai, Rs. C-328/04, Z. 7.

283

EuGH, 6. 10. 2005, Vajnai, Rs. C-328/04, Z. 14.

Sondervotum des Richters Silvis, dem sich die Richter Casadevall, Berro und Kuris angeschlossen haben zu EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08; zu diesem Ergebnis kommen auch Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 3; Woods, in: Peers/ Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 54.39. 284

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …141

Äußerungen und insbesondere „Hassreden“ innerhalb oder außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit sieht. Ebenso werden unterschiedliche Thesen dazu vertreten, wie der Gerichtshof Anwendungsbereich und Rechtsfolge der „Missbrauchsklausel“ definiert. Im Folgenden sollen diese Thesen der Literatur, die Aussagen über Rechtsprechungslinien und Regelmäßigkeiten in der Rechtsprechung des EGMR machen, anhand der obigen Rechtsprechungsanalyse überprüft werden. So wird diese Analyse gleichzeitig in allgemeine Aussagen über das Vorgehen der Rechtsprechung überführt und zusammengefasst. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird jeweils vergleichend betrachtet, um festzustellen, ob ähnliche Kriterien festgestellt werden können. Die Rechtsprechung des EuGH enthält keinerlei Anhaltspunkte bezüglich der hier überprüften Thesen und spielt deshalb im folgenden Abschnitt keine Rolle.

I. Die ausschließliche Maßgeblichkeit der „Missbrauchsklausel“ für die Zulässigkeit der Beschwerde Zunächst ist eine These zu überprüfen, die allein für die Bestimmung des Art. 17 EMRK und die Ebene der EMRK relevant ist. Teilweise wird in der Literatur angenommen, der Gerichtshof wende Art. 17 EMRK grundsätzlich auf Ebene der Zulässigkeit an.285 Nur in den Fällen, in denen die „Missbrauchsklausel“ des Art. 17 EMRK nicht angewendet werde, begründe der Gerichtshof dies im Rahmen der Begründetheit.286 In den Fällen, in denen er Art. 17 EMRK anwende, führe dies aber stets zur Unzulässigkeit der Beschwerde.287 Die Ergebnisse der Rechtsprechungsanalyse bestätigen diese Annahme. In allen untersuchten Fällen zu „Hassreden“, revisionistischen Äußerungen und auch im Bereich der Sonderkonstellation einer Äußerung über das Tragen von Symbolen, in denen eine Unzulässigkeit wegen Anwendung des Art. 17 EMRK – sei es über einen Ausschluss der Äußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit oder wegen offensichtlicher Rechtfertigung eines Eingriffs in das Grundrecht  – angenommen wird, wird dies auf Ebene der Zulässigkeit bereits begründet. Immer wenn Art. 17 EMRK tatsächlich angewendet wird, zieht dies eine Unvereinbarkeit der Beschwerde mit der Konvention ratione materiae (Art. 35 III lit. a) Alt. 1) bzw. eine offensichtliche Unbegründetheit (Art. 35 III lit. a) Alt. 2) und die sohin Unzulässigkeit der

285

Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 53.

286

Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 53.

287

Nowak, RUDH 1992, 4402, 405.

142

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Beschwerde nach sich.288 Findet Art. 17 EMRK auf Ebene der Begründetheit Erwähnung, so wird stets angenommen, dass die Bestimmung nicht anwendbar ist.289 Zwar irritiert die Prüfung im Rahmen der Begründetheit auch dann, wenn sie letztlich abgelehnt wird, weil man streng genommen davon ausgehen müsste, dass eine solche Ablehnung dann bereits auf Ebene der Zulässigkeitserwägungen hätte stattfinden müssen. Allerdings ist es einsichtig, dass die Fälle, in denen es abgelehnt wird, die „Missbrauchsklausel“ anzuwenden, gerade nicht offensichtlich unbegründet oder offenkundig mit der Konvention ratione materiae unvereinbar sind und die Begründetheit der Beschwerde erörtert werden muss. Wenn Art. 17 EMRK in Frage kommt, aber nicht offensichtlich anwendbar ist, ist die Rechtslage nicht so klar, dass die aufgeworfenen Fragen bereits auf Ebene der Zulässigkeit vollständig abgehandelt werden könnten. Daher erfolgt zu Recht eine Auseinandersetzung mit der Begründetheit. Art. 17 EMRK ist auf jene Fälle anwendbar, in denen die Umstände des Einzelfalls deutlich sichtbar machen, dass kein Grundrecht in seinem Schutzbereich betroffen ist bzw. ein Eingriff in einen Schutzbereich offensichtlich gerechtfertigt werden kann, weil ein Missbrauch der grundrechtlichen Garantie angenommen werden muss. Folgerichtig ist in einem solchen Fall, in dem offensichtlich keine

EKMR, Bericht vom 8. 1. 1960, De Becker ./. Belgien, Nr. 214/56; EKMR, 16. 4. 1991, Purcell  ./. Irland Nr. 15404/89; EKMR, 21. 5. 1997, Hennicke ./. Deutschland, Nr. 34889/97; EKMR, 2. 9. 1994, Ochensberger ./. Österreich, Nr. 21318/93; EKMR, 11. 10. 1979, Glimmerveen u. Hagenbeek  ./. Niederlande, Nr. 8348/78 u. 8406/78; EGMR, 16. 11. 2004, Norwood ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 23131/03; EGMR, 20. 2. 2007, Pavel Ivanov ./. Russland, Nr. 35222/04; EGMR, 2. 10. 2008, Leroy ./. Frankreich, Nr. 36109/03; EGMR, 23. 10. 2012, Molnar ./. Rumänien, Nr. 16637/06; EGMR, 12. 6. 2012, Hizb Ut-Tahrir u.  a. ./. Deutschland, Nr. 31098/08; EGMR, 2.9.2004, W. P. u.  a. ./. Polen, Nr. 42264/98; EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06; EGMR, 24. 06. 2003, Garaudy ./. Frankreich, Nr. 65831/01; EGMR, 13. 12. 2005 Witzsch Nr. 2 ./. Deutschland, Nr. 7485/03; EGMR, 20. 10. 2015, M’Bala M’Bala ./. Frankreich, Nr. 25239/13; EGMR, 20. 4. 1999, Witzsch ./. Deutschland, Nr. 41448/98; EGMR, 1. 2. 2000, Schimanek ./. Österreich, Nr. 32307/96; EGMR, 25. 11. 2003, R. L. ./. Schweiz, Nr. 43874/98; EKMR, 6. 9. 1995, Remer ./. Deutschland, Nr. 25096/94; EKMR, 27. 2. 1997, Honsik ./. Österreich, Nr. 25062/94; EKMR, 24. 6. 1996, Marais ./. Frankreich, Nr. 31159/96; EKMR, 16. 1. 1996, Rebhandel ./. Österreich, Nr. 24398/94; EKMR, 12. 10. 1989, B. H., M. W., H. P., G. K ./. Österreich, Nr. 12774/87; EKMR, 29. 3. 1993, F. P. ./. Deutschland, Nr. 19459/92; EKMR, 9. 6. 1998, Nachtmann, Nr. 36773/97; EKMR, 26. 6. 1996, D. I. ./. Deutschland, Nr. 26551/95; EKMR, 12. 5. 1988, Kühnen ./. Deutschland, Nr. 12194/86; EKMR, 11. 1. 1995, Walendy ./. Deutschland, Nr. 21128/93; EKMR, 29. 11. 1995, Nationaldemokratische Partei Deutschlands, Bezirksverband München-Oberbayern ./. Deutschland, Nr. 25992/94.

288

EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07; EGMR, 10. 7. 2008, Soulas u. a. ./. Frankreich, Nr. 15948/03; EGMR, 15. 1. 2009, Association of citizens “Radko” and Paunkovski ./. “Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien”, Nr. 74651/01; EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89; EGMR (GK), 16. 6. 2015, Delfi AS ./. Estland, Nr. 64569/09; EGMR, 9. 7. 2013, Vona ./. Ungarn, Nr. 35943/10; EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08; EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045; EGMR, 29. 6. 2004, Chauvy ./. Frankreich, Nr. 64915/01; EGMR, 22. 4. 2010, Fatullayev ./. Aserbaidschan, Nr. 40984/07; EGMR, 8. 7. 2008, Vajnai ./. Ungarn, Nr. 33629/06; EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08. 289

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …143

Grundrechtsverletzung vorliegt, bereits von der Unzulässigkeit der Beschwerde nach Art. 35 III lit. a) EMRK auszugehen. Andernfalls würde man die Funktion der Unzulässigkeitsgründe des Art. 35 III lit. a) EMRK verkennen. Zu Recht begründet Art. 17 EMRK in den Fällen, in denen er anwendbar ist, die Unzulässigkeit der Beschwerde und er wird zutreffend in diesem prozessualen Stadium wirksam. Die „Missbrauchsklausel“ betrifft nach der Rechtsprechung Fälle, in denen ganz offenkundig keine Grundrechtsverletzung vorliegt. Dazu passt es, dass sie zur Begründung einer offensichtlichen Unbegründetheit bzw. einer Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae herangezogen wird. Die These ist zu bestätigen. Gleichzeitig ist die Vorgehensweise des Gerichtshofs aus den genannten Gründen nachvollziehbar. Allerdings beschränkt sich diese Feststellung auf die prozessuale Ebene der Wirkung des Art. 17 EMRK. Für die Frage des Umgangs des EGMR mit der Rechtsfolge des Art. 17 EMRK und einem eventuellen Ausschluss demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich des Art.  10 EMRK in Fällen, in denen Art.  17 EMRK angewendet wird, lässt sich hieraus nichts gewinnen. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich hierzu keine Entsprechung finden, weil es bereits an einer vergleichbaren „Missbrauchsklausel“ fehlt, die auf Ebene der Zulässigkeit oder der Begründetheit der Rechtsbehelfe herangezogen werden könnte. Auch aus der Rechtsprechung des EuGH ist in dieser Hinsicht nichts zu entnehmen.

II. Der Einfluss der Geltendmachung des Art. 17 EMRK durch den beklagten Staat Einer weiteren Behauptung, die allein in Bezug auf die Rechtsprechung des EGMR relevant wird, ist nachzugehen. Teilweise wird davon ausgegangen, dass es stark vom Vorbringen des Staats abhängig sei, ob Art.  17 EMRK angewendet werde.290 Dies trifft in vielen Fällen zu291 und mindert zumindest die Aussagekraft der Fälle, in denen Art.  17 EMRK zwar geprüft, seine Anwendbarkeit letztlich aber abgelehnt wird. Allerdings können auch Gegenbeispiele aus der Rechtsprechung angeführt werden. Im Bereich der revisionistischen Äußerungen enthält das Urteil Perinçek hierzu Anhaltspunkte. In der Kammerentscheidung hatte der Gerichtshof im Jahr 2013 von Amts wegen geprüft, ob die Beschwerde wegen einer Anwendung des Art.  17 EMRK auf die Äußerungen des Beschwerdeführers als unzulässig zurückzuweisen

290 Arai, in: Van Dijk/Van Hoof/Van Rijn/Zwaak (Hrsg.), Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 1086. 291 EGMR, 9. 2. 2012, Vejdeland u. a. ./. Schweden, Nr. 1813/07; EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 49; EGMR, 10. 7. 2008, Soulas u. a. ./. Frankreich, Nr. 15948/03, Z. 20; EGMR, 2. 10. 2008, Leroy ./. Frankreich, Nr. 36109/03, Z. 23; EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89.

144

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

war. Sie verneinte dies im Ergebnis.292 Die Große Kammer führte in ihrer Entscheidung aus dem Jahr 2015 sodann aus, weder der Beschwerdeführer noch die beklagte Regierung hätten sich ausdrücklich auf eine Anwendung bzw. eine Nichtanwendung des Art. 17 EMRK auf die fraglichen Äußerungen berufen.293 Die französische Regierung als Drittbeteiligte plädierte hingegen für eine Anwendung des Art.  17 EMRK wegen des offensiven Charakters der Äußerungen gegenüber dem Andenken und der Würde der Opfer der Verbrechen.294 Ebenso äußerten sich andere drittbeteiligte Organisationen.295 Der Fall Perinçek kann (jedenfalls im Hinblick auf die Entscheidung der Kammer) gegen die Annahme angeführt werden, es sei stets von der Geltendmachung durch den beklagten Staat abhängig, ob Art. 17 EMRK vom Gerichtshof geprüft werde oder nicht. In der Rechtsprechung des EGMR gab es zumindest einzelne Fälle, in denen von Amts wegen darauf eingegangen wurde, ob Art. 17 EMRK anwendbar sein könnte. Hierzu zählen im Bereich der Rechtsprechung zu „Hassrede“ die beiden Entscheidungen Norwood und Pavel Ivanov. Hier prüfte der EGMR Art. 17 EMRK als Kriterium zum Ausschluss der Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit, ohne dass es wegen des Verfahrensstadiums296 bereits eine Stellungnahme der Regierung gegeben hätte, die die Bestimmung hätte geltend machen können. Der Gerichtshof muss Art. 17 EMRK autonom, von einer Stellungnahme des beklagten Staats unbeeinflusst, herangezogen haben. Dies widerlegt die Annahme, der Gerichtshof ziehe die „Missbrauchsklausel“ nur heran, wenn die Regierung sie geltend mache. Für jene Fälle der Prüfung des Art. 17 EMRK in Urteilen, die bereits unter dem Einfluss einer staatlichen Stellungnahme verfasst wurden, kann angenommen werden, dass die Vorgehensweise des EGMR nur begrenzt aussagekräftig ist, da es stets sein kann, dass Art. 17 EMRK nur angesprochen wird, weil die Regierung die „Missbrauchsklausel“ geltend gemacht hat; ohne dass damit eine inhaltliche Aussage verbunden wäre. Allerdings ist der Gerichtshof auch nicht verpflichtet, auf die vorgebrachten Bestimmungen einzugehen und er ist umgekehrt ebenso wenig auf das Vorgebrachte beschränkt, d. h. an das Beschwerdevorbringen gebunden, sondern er prüft die Konventionsbestimmungen als „Herr über die rechtliche Beurteilung“.297 Art. 17 EMRK kann wie jede andere Bestimmung der Konvention von Amts wegen durch den Gerichtshof herangezogen werden. Dies gilt auch dann, wenn die Parteien dazu schweigen.298 Eine Beschwerde werde  – so der EGMR 292

EGMR, 17. 12. 2013, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08.

293

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 105.

294

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 108.

295

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 109.

296

Siehe Rule 54.1. Rules of Court, 14.11.2016.

Vgl. so zum Beispiel EGMR ausdrücklich in EGMR (GK), 19. 2. 1998, Guerra u. a. ./. Italien, Nr. 14967/89, Z. 44; EGMR, 22. 1. 2013, Camilleri ./. Malta, Nr. 42931/10, Z. 33 („master of the characterisation to be given in law to the facts of the case“); siehe hierzu auch Meyer-Ladewig/ Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, Einl. Rn. 32. 297

Van Drooghenbroeck, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 182. 298

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …145

selbst – durch die vorgebrachten Tatsachen charakterisiert, nicht durch die rechtlichen Beurteilungen, die in ihr vorgenommen werden. Der Gerichtshof habe volle Jurisdiktion innerhalb des „scope of the case“,299 der von der Entscheidung über die Zulässigkeit der Beschwerde determiniert werde. Aus dieser unbegrenzten Perspektive könne er jede faktische oder rechtliche Frage behandeln, die im Verfahren in Straßburg auftauche.300 Ein gewisser Einfluss des Vorbringens der Parteien darauf, wie der Gerichtshof vorgeht, ist dennoch nicht auszuschließen. Der Zusammenhang zwischen dem Vorbringen der Parteien und den Erwägungen des Gerichtshofs kann aber verschiedener Natur sein. Er unterscheidet sich schon danach, wie das Vorbringen formuliert ist und was thematisiert wird. Der beklagte Staat kann sich in unterschiedlicher Art und Weise auf Art. 17 EMRK beziehen. Er kann in seiner Stellungnahme Art. 17 EMRK als Bestimmung nennen und geltend machen, er kann den aus seiner Sicht vorliegenden Missbrauch der Konventionsrechte wörtlich umschreiben, lediglich Tatsachen schildern, die ein Verhalten beschreiben, welches in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK fällt oder hierzu völlig schweigen. Weiter ist auch zu bedenken, dass Drittbeteiligte über ihre Stellungnahmen in die Erwägungen einbringen können, Art. 17 EMRK anzuwenden.301 Diese unterschiedlichen Situationen können sich graduell unterschiedlich auf die Erwägungen des Gerichtshofs auswirken. Zwar gilt das Prinzip, dass der Gerichtshof über die rechtliche Qualifizierung des Sachverhalts entscheidet, er ist dennoch an das Tatsachenvorbringen gebunden. Zudem ist es kritisch zu sehen, wenn der Gerichtshof sich über ein Beschwerdevorbringen und dessen rechtliche Beurteilung vollständig hinwegsetzt und ausschließlich eine andere Garantie prüft.302 Zudem kann das Vorbringen der Regierungen zu Art. 17 EMRK wiederum durch die Fragen des Berichterstatters an die Parteien beeinflusst sein, die dieser stellt, nachdem die Beschwerde eingebracht wurde, und dadurch letztlich doch auf eine amtswegige Initiative des Gerichtshofs zurückgehen. Fraglich ist, ob daraus abgeleitet werden kann, wie ausschlaggebend das Vorbringen der Regierung dafür ist, dass Art.  17 EMRK vom Gerichtshof geprüft wird. Jedenfalls kann vor dem Hintergrund, dass der Gerichtshof jede Bestimmung der Konvention von Amts wegen prüfen kann, nicht angenommen werden, der Umstand, dass Art.  17 EMRK nicht angewendet werde, gehe nur darauf zurück, dass die jeweilige beklagte Regierung ihn nicht geltend gemacht habe. Der These, Art. 17 EMRK werde nur deshalb nicht herangezogen, weil die beklagte Regierung die Bestimmung nicht geltend macht und es sei nicht von materiellen, sondern von prozessualen Umständen abhängig, ob Art. 17 EMRK angewendet werde, kann aus diesen Gründen nicht gefolgt werden.

299

EGMR (GK), 19. 2. 1998, Guerra u. a. ./. Italien, Nr. 14967/89, Z. 44.

300

EGMR (GK), 19. 2. 1998, Guerra u. a. ./. Italien, Nr. 14967/89, Z. 44.

301

Vgl. hierzu EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 108 f.

302

Vgl. hierzu etwa EGMR, 22. 1 .2013, Camilleri ./. Malta, Nr. 42931/10, Z. 33.

146

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

III. Die Urheberschaft in Bezug auf die Äußerungen Eine andere These in Bezug auf den Umgang der Rechtsprechung mit dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen könnte davon ausgehen, die Rechtsprechung sehe eine Äußerung nur dann außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit, wenn die von der staatlichen Maßnahme betroffene Person unmittelbarer Urheber der Äußerung ist. Umgekehrt formuliert bedeutete dies, dass man davon ausgehen könnte, dass die Rechtsprechung zumindest annimmt, dass die Äußerung im Schutzbereich der Garantie liegt, wenn der Betroffene nicht unmittelbarer und direkter Urheber der Äußerung ist. 1. Die Rechtsprechung des EGMR Für die Rechtsprechung des EGMR könnte es zutreffen, dass der Gerichtshof eine Äußerung  – mit oder ohne Heranziehung des Art.  17 EMRK  – jedenfalls dann im Schutzbereich der Meinungsfreiheit sieht, wenn der Beschwerdeführer nicht Urheber der Äußerung ist bzw. nur dann annimmt, die Äußerung liege schon nicht im Schutzbereich des Grundrechts, wenn der Beschwerdeführer ihr Urheber ist. Zu dieser Frage können im Bereich der „Hassrede“ vor allem der Entscheidung Purcell der EKMR sowie den Urteilen Jersild, Halis Doğan und Delfi AS des EGMR Hinweise entnommen werden. Die EKMR problematisierte im Fall Purcell die „Nähe“ des Beschwerdeführers zur inkriminierten Äußerung nicht, ging jedoch implizit davon aus, dass es einen Unterschied zwischen dem Journalisten und den Äußerungen durch die extremistische Organisation gebe. Dies wird dadurch deutlich, dass die Kommission Art. 17 EMRK nur im Hinblick auf die Äußerungen an sich, nicht jedoch in Bezug auf die Wiedergabe derselben erwähnte und prüfte. Sie nahm letztlich einen Eingriff in die Äußerungsfreiheit des Journalisten an und prüfte die Rechtfertigung dessen ohne Rücksicht auf Art. 17 EMRK.303 Der Gerichtshof führte im Urteil Jersild ausdrücklich aus, ein entscheidender Aspekt des Falls sei, dass der Beschwerdeführer die Aussage nicht selbst getätigt habe, sondern diese nur in seiner Funktion als Journalist präsentiert habe.304 Sodann prüfte er ausführlich die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Meinungsfreiheit des Journalisten und kontrastierte hierzu explizit, wie die Äußerungen der Interviewten selbst zu beurteilen wären.305 Diese fielen aus dem Schutzbereich des Art.  10 EMRK heraus, hier hingegen gehe es nur um die Wiedergabe durch den Journalisten. Die Entscheidung Jersild stützt die These der Differenzierung aus Gründen der Urheberschaft des Beschwerdeführers im Hinblick auf die relevanten

303

EKMR, 16. 4. 1991, Purcell ./. Irland Nr. 15404/89.

304

EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89, Z. 31.

305

EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89, Z. 35.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …147

Äußerungen. Eine bloße Wiedergabe extremistischer Äußerungen Dritter bedarf danach stets einer Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in das Grundrecht. Innerhalb der Rechtfertigungsprüfung werden dann Faktoren wie eine vorliegende Distanzierung, Gutheißung oder Legitimierung bzw. jedwede Positionierung des Grundrechtsträgers zu den fremden Aussagen relevant. Das Urteil der Großen Kammer im Fall Delfi AS bekräftigte diese Rechtsprechung des EGMR. Der Gerichtshof führte auch hier in einem obiter dictum die Äußerungen der Kommentatoren an, die, wären sie Gegenstand der Beschwerde gewesen, den Schutz des Art. 10 EMRK nicht genießen würden.306 Die Äußerungen seien als „Hassreden“ zu qualifizieren, die aus dem Schutzbereich herausfielen, aber im vorliegenden Fall seien sie nicht Gegenstand der Prüfung. Da es in der zu beurteilenden Konstellation um die grundrechtliche Freiheit der Vermittler von Nutzerkommentaren im Internet ging, kontrastierte der EGMR deren Position zu jener der unmittelbaren Autoren der „Hassrede“kommentare, indem er für die Vermittler den Schutz des Art. 10 EMRK eben gerade nicht pauschal verneinte. Die Meinungsfreiheit der Autoren der Kommentare sei nicht zu beurteilen. Im Gegensatz dazu müsse die Haftung der Vermittler auf ihre Vereinbarkeit mit Art. 10 EMRK überprüft werden, weil für sie die pauschale Schutzversagung nicht gelte.307 Aus dieser Gegenüberstellung kann, ebenso wie im Urteil Jersild, geschlossen werden, dass der Gerichtshof im Fall einer Beschwerde der unmittelbaren Autoren der „Hassreden“ davon ausgegangen wäre, die Äußerungen lägen außerhalb des Schutzbereichs des Art.  10 EMRK. Für Personen, die Äußerungen Dritter auf irgendeine Art und Weise wiedergeben, vermitteln, übermitteln oder publizieren, nimmt er dies jedoch nicht ohne weiteres an. Der Gerichtshof prüfte die Vereinbarkeit ihrer Haftung für Äußerungen Dritter mit der grundrechtlichen Garantie der Meinungsfreiheit in allen Fällen ausführlicher und sah den Schutzbereich als betroffen an. Die Entscheidung Halis Doğan kann zur Unterstützung der hier vertretenen These ebenfalls angeführt werden; der EGMR ging auch hier bezüglich eines Journalisten, der Äußerungen Öcalans wiedergegeben hatte, davon aus, es sei notwendig, die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs zu prüfen und tat dies auch.308

306

EGMR (GK), 16. 6. 2015, Delfi AS ./. Estland, Nr. 64569/09, Z. 140.

Zur Inanspruchnahme von Internetportalbetreibern im Bereich von Hassreden siehe auch EGMR, 2. 2. 2016, Magyar Tartalomszolgáltatók Egyesülete and Index.hu Zrt u. a. ./. Ungarn, Nr. 22947/13; EGMR, 7. 2. 2017, Phil ./. Schweden, Nr. 74742/14, in denen jeweils festgestellt wird, dass es sich bei den betreffenden Äußerungen im Gegensatz zum Fall Delfi AS nicht um „Hassreden“ gehandelt habe. Aus diesem Grund nimmt der EGMR dann im Wesentlichen auch an, dass die Inanspruchnahme der Internetportalbetreiber für die Äußerungen nicht verhältnismäßig sei und eine Verletzung des Art. 10 EMRK darstelle; siehe zu einer vergleichbaren Problematik im deutschen Recht – zu dem im Juni 2017 erlassenen Netzwerkdurchsetzungsgesetz (BGBl. I S. 3352), das Betreibern sozialer Netzwerke weitgehende Löschpflichten auferlegt – Gersdorf, MMR 2017, 439; Wimmers/Heymann, AfP 2017, 93; Ladeur/Gostomzyk, K&R 2017, 390.

307

308

EGMR, 7. 2. 2006, Halis Doğan ./. Türkei, Nr. 75946/01, Z. 31.

148

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Für die Annahme, Art. 17 EMRK werde in der Rechtsprechung des EGMR nur dann angewendet, wenn der Beschwerdeführer Urheber der Äußerung ist, spricht auch eine bereits erwähnte einzelne Entscheidung der EKMR, die sich nicht mit der Meinungs- sondern mit der Informationsfreiheit beschäftigte. Hier ging es um antisemitische und rassistische Äußerungen, die der Beschwerdeführer lesen wollte; er wurde hieran durch eine staatliche Maßnahme gehindert. Er war Häftling in einem Gefängnis und die zuständige Stelle verweigerte ihm, die Ausgabe einer Zeitschrift zu bekommen und lesen zu können, weil die Inhalte ihm nicht zugänglich gemacht werden sollten. Die EKMR erklärte die Beschwerde für offensichtlich unzulässig, ohne aber auf Art.  17 EMRK einzugehen. Die nationalen Behörden hätten sorgfältig abgewogen und den Zugang verhältnismäßig beschränkt. Diese Entscheidung der Kommission passt zu der Annahme, Art. 17 EMRK werde in der Straßburger Praxis nur in jenen Fällen, in denen es um den Grundrechtsschutz des unmittelbaren Urhebers der fraglichen Äußerung geht, herangezogen. Für „Hassreden“ kann als Zwischenergebnis bestätigt werden, dass die Konventionsorgane sie nur dann aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausschlossen, wenn der Beschwerdeführer unmittelbarer Urheber war. Der Umgang der Rechtsprechung mit revisionistischen Äußerungen ergibt zunächst ein ähnliches Bild. In der Entscheidung Walendy maß die EKMR dem Umstand, dass es sich um eine bloße Wiedergabe einer Äußerung eines Dritten handelte, keinerlei Bedeutung zu.309 Ohnehin zog die Kommission Art. 17 EMRK hier nicht als Kriterium zur Einschränkung des Schutzbereichs heran, weshalb die Entscheidung für das Kriterium der Urheberschaft nicht aussagekräftig ist. Gleichermaßen ist die Entscheidung Nationaldemokratische Partei Deutschlands, Bezirksverband München-Oberbayern zu beurteilen, in der es um die Einladung eines revisionistischen Redners durch die beschwerdeführende Partei ging.310 Nach alledem könnte man davon ausgehen, ein Ausschluss der Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit komme für die Rechtsprechung nicht in Betracht, wenn die Äußerung nicht unmittelbar vom Betroffenen, sondern von einem Dritten stammt. Als jedenfalls notwendiges, wenn auch nicht hinreichendes Kriterium in der Rechtsprechung des EGMR könnte die Urheberschaft für die Äußerung identifiziert werden. Soweit ersichtlich hatte der EGMR bis dahin in keinem Fall, in dem es um die Freiheit der Verbreitung bzw. Wiedergabe von Drittäußerungen ging, angenommen, dass der Schutzbereich des Art. 10 EMRK nicht betroffen sei. Die Entscheidung M’Bala M’Bala könnte nun jedoch in eine andere Richtung deuten. Die Entscheidung enthält einen Hinweis auf den Gebrauch des Kriteriums der Urheberschaft im Rahmen der Erwägungen zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit, der dieses Kriterium relativiert. Die Entscheidung betraf – wie bereits ausgeführt – den Beschwerdeführer, Dieudonné M’Bala M’Bala, einen französischen Humoristen, der im Rahmen einer Veranstaltung vor einem großen Publikum den verurteilten Negationisten und Revisionisten Robert Faurisson, der damals bereits

309

EKMR, 11. 1. 1995, Walendy ./. Deutschland, Nr. 21128/93.

EKMR, 29. 11. 1995, Nationaldemokratische Partei Deutschlands, Bezirksverband MünchenOberbayern ./. Deutschland, Nr. 25992/94. 310

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …149

wiederholt die Existenz von Gaskammern in Konzentrationslagern geleugnet hatte, auf der Bühne begrüßte. Dieudonné M’Bala M’Bala ehrte Faurisson und überreichte ihm einen Preis. Faurisson sprach zum Publikum und führte aus, er bezeichne Personen, die ihm revisionistische Thesen unterstellten, als „Affirmationisten“. Er forderte das Publikum auf, das Wort „Affirmationisten“ zu buchstabieren, wie es ihnen beliebe.311 Hierfür applaudierte das Publikum. Im Rahmen der Erwägungen zur offensichtlichen Unbegründetheit der Individualbeschwerde, die Dieudonné M’Bala M’Bala wegen Verletzung des Art. 10 EMRK erhob, ging der EGMR davon aus, der Sachverhalt unterfiele nicht der Meinungsäußerungsfreiheit. Im Einzelnen verwies der Gerichtshof darauf, der Humorist habe sich von den Äußerungen Faurissons nicht distanziert. Es sei insofern unbeachtlich, dass weder Faurisson noch der Beschwerdeführer selbst in der konkreten Situation, in die der Humorist eingeladen hatte, revisionistische Thesen äußerten. Es genüge, dass Faurisson auf der Bühne ausgeführt habe, alle Kritiker, die ihn als „Negationisten“ bezeichneten, „Affirmationisten“ zu nennen. Darin liege eine Aufstachelung des Publikums, die einer erneuten Leugnung historischer Tatsachen gleichzuhalten sei. Außerdem sei die Einladung an das Publikum, das Wort „Affirmationisten“ frei zu buchstabieren, im Sinne einer Aufforderung zu verstehen, jenen Personen, die die Leugnung des Holocaust kritisierten, eine zionistische Motivation zu unterstellen. Dies entspreche einem verbreiteten Muster revisionistischer Redner, ihren Kritikern „Zionismus“ vorzuwerfen. Zudem sei es in den Reden des Beschwerdeführers in der Vergangenheit bereits häufig um Antizionismus gegangen. Die Behauptung, der Beschwerdeführer habe nicht gewusst, welche Äußerungen Faurisson auf der Bühne tätigen würde, ließ der Gerichtshof nicht gelten. Aus den Umständen der Inszenierung werde deutlich, dass der Beschwerdeführer die Tendenz Faurissons gekannt und zumindest instrumentalisiert habe. Der Beschwerdeführer habe sich zudem nicht bemüht, den gegenüber der jüdischen Bevölkerung und Holocaustopfern beleidigenden Charakter der Situation zu mildern. Die Auswahl des Kostüms des Schauspielers, der den Preis übergab (Schlafanzug mit Davidstern) sei hinreichender Beleg dafür, dass der Beschwerdeführer von den Aussagen Faurissons nicht überrascht gewesen sei. Der Ablauf der Geschehnisse auf der Bühne und die Vergangenheit des Beschwerdeführers – er war bereits für rassistische Beleidigungen verurteilt worden – ließen nicht erkennen, dass der Beschwerdeführer sich von den Aussagen seines Gastes habe distanzieren wollen oder diese gar habe kritisieren wollen.312 Der Gerichtshof berücksichtigte so das Argument, dass der Beschwerdeführer nicht Urheber der Äußerung war, wies es letztlich aber als unbeachtlich zurück. Im konkreten Fall handelte es sich nicht um eine bloße Wiedergabe und nicht um einen Fall, in dem allein die Distanzierung fehlte. Zu dem Umstand, dass sich der Beschwerdeführer nicht distanzierte, trat hier das gesamte Ambiente der Inszenierung durch den Beschwerdeführer hinzu, aus dem sich in Kombination mit dem Auftritt Faurissons der eindeutig antisemitische und beleidigende Charakter der

311 Hierin liegt eine Anspielung auf den Begriff „Zionist“, den man bei freier Buchstabierung im Wort „Affirmationist“ wiederfinden kann. 312

EGMR, 20. 10. 2015, M’Bala M’Bala ./. Frankreich, Nr. 25239/13, Z. 36 f.

150

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Vorstellung des Beschwerdeführers ergab. In Betrachtung aller Elemente dieser Bühnensituation erachtete es der Gerichtshof als unbeachtlich, dass im konkreten Moment keine revisionistischen Thesen ausdrücklich ausgesprochen worden waren. Die Kombination aus einem verurteilten Holocaustleugner und den vom Beschwerdeführer in die Inszenierung eingebrachten Elementen, begründeten nach Auffassung des Gerichtshofs zweifellos die volle Verantwortlichkeit des Beschwerdeführers für antisemistische und beleidigende Äußerungen, die dem Schutzbereich des Art. 10 EMRK nicht unterfielen. Aus den Umständen der konkreten Situation sei erkennbar geworden, dass der Beschwerdeführer die revisionistischen Thesen unterstützt und instrumentalisiert habe. Der Beschwerdeführer werde durch den Kontext, der ihm zweifellos zurechenbar ist, selbst Äußernder. Er selbst habe sich in Form der Ehrung Faurissons, der Preisverleihung an Faurisson sowie durch die Bitte um Applaus an Faurisson geäußert. Aus dieser Passage wird deutlich, dass das Kriterium der Urheberschaft eines Dritten für die Äußerung zwar berücksichtigt, bei einer Ausgangssituation wie jener im Fall M’Bala M’Bala aber nicht als beachtlich eingestuft wird. Der Beschwerdeführer machte sich die Aussagen hier zu eigen und verstärkte sie durch eigene Handlungen. In einer solchen Konstellation rechnete der Gerichtshof dem Beschwerdeführer die Drittäußerung vollständig zu. Die Urheberschaft eines Dritten streitet mithin zwar grundsätzlich zugunsten des Beschwerdeführers, jedoch nur soweit er sie nicht gutheißt, lobt oder ehrt, sondern sich erkennbar distanziert bzw. sie sich jedenfalls durch seine Handlungen nicht zu eigen macht. Das Kriterium der Urheberschaft ist somit für den EGMR beachtlich, aber  – anders als bisher angenommen werden konnte – für einen Ausschluss der Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht notwendig. Die Umstände des Einzelfalls können die Notwendigkeit der eigenen Urheberschaft überwinden und einem Beschwerdeführer auch in Bezug auf die Wiedergabe von Drittäußerungen die Möglichkeit der Berufung auf die Meinungsfreiheit unmöglich machen, weil der Schutzbereich nicht betroffen ist. Die Urheberschaft ist somit in der Rechtsprechung des EGMR beachtliches, nicht aber hinreichendes und auch nicht notwendiges Kriterium zur Begründung des Ausschlusses einer Äußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK. 2. Die Rechtsprechung der deutschen Gerichte In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spielte das Kriterium der Urheberschaft für die Äußerungen bisher, soweit ersichtlich, keine Rolle. Im Beschluss zur Einladung Irvings durch die Nationaldemokratische Partei Deutschlands ging das Gericht auf den Umstand, dass die beschwerdeführende Partei die fragliche Äußerung nicht selbst tätigt, sondern den Redner nur einlädt und als Verantwortliche für die Veranstaltung fungiert, auf der die revisionistischen Thesen geäußert werden, gar nicht ein.313 Der EGMR thematisierte auch nicht ausdrücklich, dass die

313

BVerfGE 90, 241, 249 f.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …151

Beschwerdeführer nicht Urheber waren, er sah die Äußerungen aber auch innerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit.314 Das Bundesverfassungsgericht hingegen schloss die Aussage als erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung aus dem Schutzbereich des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG aus, ohne auf die Konstellation im konkreten Fall einzugehen und die Verantwortlichkeit der Beschwerdeführer für die Äußerungen des Dritten zu thematisieren. Das Gericht beschränkte seine Ausführungen darauf, dass es sich bei der Leugnung der Judenverfolgung im Dritten Reich um eine Äußerung handle, die den Schutz der grundrechtlichen Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit von vorneherein nicht genösse. Neben der Natur der Äußerung als erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung maß das Bundesverfassungsgericht der Personenverschiedenheit zwischen Äußerndem und Veranstalterin keine Bedeutung zu und berücksichtigte nicht, dass es hier um die grundrechtliche Freiheit der Veranstalterin ging, für die die Holocaustleugnung eine Drittäußerung war. Der Umstand, dass es sich hier um die Verantwortung für eine Drittäußerung handelte, spielte für die Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts keine Rolle. Der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit wurde ungeachtet dessen als nicht betroffen angesehen.

IV. Der Inhalt und die inhaltlich-politische Tendenz der Äußerung Eine weitere Annahme lautet, die Äußerungen würden nach dem Kriterium ihres Inhalts aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgeschlossen. Die inhaltlich-politische Tendenz der Äußerung sei Kriterium des Schutzbereichs in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen. Dies ist jenes Phänomen, das der US Supreme Court als Gefahr der Standardisierung der Ideen durch das Parlament, die Gerichte oder dominante gesellschaftliche Gruppen bezeichnet.315 Hier wird im Gegensatz zum europäischen Ansatz die Inhaltsneutralität sehr stark betont und es werden grundsätzlich Wertungen zugunsten bzw. zulasten einzelner inhaltlicher Ausrichtungen von Äußerungen nicht zugelassen.316 314 EKMR, 29. 11. 1995, Nationaldemokratische Partei Deutschlands, Bezirksverband MünchenOberbayern ./. Deutschland, Nr. 25992/94.

US Supreme Court, Terminiello v. Chicago, 337 U. S. 1 (1949); siehe hierzu Brugger, AöR 128 (2003), 372, 381 f.

315

316 Der amerikanische Supreme Court unterscheidet zwischen einer sog. „content discrimination“, die bei einem allgemeinen Redeverbot über den Nationalsozialismus etwa gegeben wäre, und einer sog. „viewpoint discrimination“, die nur bei einem Redeverbot für einen bestimmten Standpunkt, also etwa im Falle einer Befürwortung des Nationalsozialismus, vorliegen würde. Gesetze, die eine „viewpoint discrimination“ enthalten, werden einer strengen Prüfung (sog. „strict scrutiny“) unterworfen und in diesen Fällen spricht eine starke Vermutung für die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes. Eine Vereinbarkeit mit dem First Amendment zur amerikanischen Verfassung kann nur in besonders engen Ausnahmekonstellationen angenommen werden, wenn ein besonders dringendes Allgemeininteresse die Regelung erfordert und es sich um sog. „low value speech“ handelt, deren Einschränkbarkeit niedrigeren Anforderungen unterliegt (vgl. US Supreme Court, R. A. V. v. St Paul, 505 U. S. 377 (1992)). Siehe hierzu Fohrbeck, Wunsiedel, S. 285 f.; Wachsmann, RTDH 2001, 585, 587 ff.

152

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Auch im europäischen Schrifttum gibt es Stimmen, die unter dem Gesichtspunkt der Standpunktneutralität erhebliche Schwierigkeiten bei der Anwendung besonderer Maßstäbe auf bestimmte Haltungen sehen.317 1. Die Rechtsprechung des EGMR a) Der Inhalt der Äußerung als Kriterium des Schutzbereichs Fraglich ist, ob der Vorwurf der Standpunktdiskriminierung gegen die Rechtsprechung des EGMR im Hinblick auf staatliche Maßnahmen gegen Äußerungen, die als „Hassrede“ qualifiziert werden können, zutreffend ist.318 In der Literatur wird teilweise davon ausgegangen, die Praxis des EGMR, Äußerungen über Art. 17 EMRK aus dem Schutzbereich des Art. 10 EMRK auszuschließen, betone nachdrücklich die Bereitschaft des Gerichtshofs, einer Äußerung allein wegen ihrer politisch-inhaltlichen Kompatibilität mit der EMRK a priori den Schutz der grundrechtlichen Garantie zu versagen. Darin liege eine inhaltsbezogene Definition des grundrechtlichen Schutzbereichs.319 Abgesehen von der aus der oben durchgeführten Analyse der Rechtsprechung entstehenden Skepsis gegenüber der Annahme, Art. 17 EMRK wirke einheitlich auf Ebene des Schutzbereichs, bleibt die Annahme einer inhaltsbezogenen Definition des Schutzbereichs mit oder ohne Beteiligung von Art. 17 EMRK zu prüfen. Die unterschiedliche Behandlung der Urteile Leroy320 einerseits, in dem der EGMR Art.  17 EMRK auf Ebene des Schutzbereichs ausdrücklich nicht heranzog,321 und Pavel Ivanov322 andererseits, in dem angenommen wurde, die Voraussetzungen des Art. 17 EMRK seien erfüllt und Art. 10 EMRK daher nicht anwendbar, spricht für eine Differenzierung nach dem Inhalt der Äußerung in Bezug auf

Unter Hinweis auf die außerhalb der „Hassrede“ liegende Kammerentscheidung Kononov (EGMR, 24. 7. 2008, Kononov ./. Lettland, Nr. 36376/04), die die Schwierigkeiten aber mit bemerkenswerter Deutlichkeit für alle Bereiche zeige Hong, ZaöRV 2010, 73, 103 ff. Der Fall Kononov wurde daraufhin von der Großen Kammer des Gerichtshofs entschieden (EGMR (GK), 17. 5. 2010, Kononov ./. Lettland, Nr. 36376/04). Diese kam zu dem Ergebnis, dass keine Verletzung von Art. 7 EMRK vorliege. Es wurden jedoch keine nennenswerten Aussagen zur Bedeutung der inhaltlichen Ausrichtung der Taten gemacht. Das obiter dictum aus der Kammerentscheidung bezüglich der unterschiedlichen Behandlung pro-nationalsozialistischer und anti-nationalsozialistischer Haltungen wurde nicht kommentiert. Die Entscheidung der Großen Kammer deutet ein Abgehen von der Haltung der Kammer aber bereits durch ihr gegenteiliges Ergebnis an. Vgl. hierzu auch Hochmann, VerfBlog 2015/1/19, der von einem „doppelten Maß“ spricht.

317

318 So Hong, ZaöRV 2010, 73, 75, 107 f.; Mensching, Hassrede im Internet, S. 76, 86; Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 10 Rn. 76; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 9 Rn. 18; Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 58; Hanschmann, KJ 2013, 307, 317. 319

Mensching, Hassrede im Internet, S. 76, 114.

320

EGMR, 2. 10. 2008, Leroy ./. Frankreich, Nr. 36109/03.

Vgl. hierzu Committee of Experts of Terrorism, CODEXTER (2008) 30, Z. 14; Belavusau, Freedom of Speech, S. 69.

321

322

EGMR, 20. 2. 2007, Pavel Ivanov ./. Russland, Nr. 35222/04.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …153

den grundrechtlichen Schutzbereich. Es handelte sich im ersten Fall um einen Sachverhalt politischer Rede ohne rechtsradikalen Hintergrund (Verherrlichung von Terrorismus), im zweiten Urteil hatte der EGMR antisemitische Publikationen zu beurteilen. Die Kommissionsentscheidung Glimmerveen und Hagenbeek 323 stützt die These von der Differenzierung nach dem Inhalt gleichermaßen, denn hier wendete die Kommission Art. 17 EMRK ebenfalls in einem Fall fremdenfeindlicher Äußerungen mit rechtsradikalem Zusammenhang an. Zusätzlich ist die unterschiedliche Behandlung der Fälle Féret und Soulas u. a. einerseits und Vejdeland andererseits zum Beleg der These anzuführen. In den erstgenannten Fällen stellte der EGMR keine Verletzung des Art. 10 EMRK fest, weil die Voraussetzungen der Rechtfertigung nach Art. 10 II EMRK erfüllt seien, und er lehnte sodann eine Anwendung des Art. 17 EMRK ab. Im Urteil Vejdeland ließ der Gerichtshof Art. 17 EMRK unerwähnt und er prüfte lediglich eine Rechtfertigung des Eingriffs in die Meinungsfreiheit mit positivem Ergebnis. Die Fälle betrafen sehr ähnliche Formen der Äußerung und sie sind deshalb geeignet, die unterschiedliche Behandlung der Inhalte aufzuzeigen. Es handelte sich in allen drei Fällen um schriftliche Publikationen (sowohl im Fall Féret als auch im Fall Vejdeland waren Flugblätter betroffen) mit diskriminierenden Aussagen. In den ersten beiden Fällen ging es jedoch um fremdenfeindliche Aussagen mit rechtsradikalem Inhalt, das Urteil Vejdeland betraf aber „Hassreden“ gegen Homosexuelle. Der Unterschied der Sachverhalte betraf den Inhalt der Äußerungen. Art. 17 EMRK wurde – wenn auch ablehnend – in den Fällen betreffend rechtsradikale Äußerungen geprüft und im Hinblick auf homophobe Aussagen außer Acht gelassen. Dies lässt den Schluss zu, dass nach dem Inhalt differenziert wurde. Allerdings ist relativierend anzuführen, dass in den Urteilen Féret und Soulas u. a. die jeweilige Regierung Art. 17 EMRK geltend gemacht hatte.324 Dies hatte die schwedische Regierung im Fall Vejdeland nicht unternommen. Die Auseinandersetzung mit Art. 17 EMRK in den beiden erstgenannten Fällen könnte auch bloß auf diesen Umstand zurückzuführen sein. Auch im Urteil Seurot erwägt der Gerichtshof eine Anwendung des Art. 17 EMRK. Zwar kommt der Gerichtshof diesbezüglich zu keinem Ergebnis, er erwähnt Art. 17 EMRK aber auch hier im Zusammenhang mit ausländerfeindlichen Äußerungen. Betrachtet man jene Urteile zu Fällen der „Hassrede“, in denen der Gerichtshof Art.  17 EMRK gar nicht erwähnt, so fällt auf, dass darunter, soweit ersichtlich, keines ist, in dem es um nationalsozialistische oder rechtsextremistische Äußerungen ging.325 Es finden sich Fälle zu homophoben Äußerungen,326 die überwiegende

323

EKMR, 11. 10. 1979, Glimmerveen u. Hagenbeek ./. Niederlande, Nr. 8348/78 u. 8406/78.

EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 49; EGMR, 10. 7. 2008, Soulas u. a. ./. Frankreich, Nr. 15948/03, Z. 20.

324

Vgl. hierzu Mensching, Hassrede im Internet, S. 111; Belavusau, European Public Law 2010, 373, 384; Keane, NQHR 2007, 641, 642, Hanschmann, KJ 2013, 307, 317; Oetheimer, Cardozo Journal of International and Comparative Law 2009, 427, 430; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 204, Krenc, RTDH 2016, 311, 326.

325

326

EGMR, 9. 2. 2012, Vejdeland u. a. ./. Schweden, Nr. 1813/07.

154

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Zahl der türkischen Fälle mit Bezug zur kurdischen Frage,327  Fälle zu islamkritischen Äußerungen,328 zu politischer „Hassrede“,329 zu religiöser „Hassrede“330 sowie zu verfassungs- bzw. staatsfeindlicher Rede,331 wobei die inhaltlichen Grenzen zwischen diesen Kategorien fließend sind. Auch im Fall Le Pen nimmt der Gerichtshof in Bezug auf islamfeindliche Äußerungen Jean Marie Le Pens zwar die Unzulässigkeit der Beschwerde an. Er kommt zu diesem Schluss aber ohne Art. 17 EMRK zu erwähnen. Hier ging es auch nicht um rassistische Äußerungen mit rechtsradikalem Hintergrund, sondern um religiöse „Hassreden“, obwohl einzuräumen ist, dass eine Abgrenzung zwischen ausländerund religionsfeindlichen Äußerungen in den Fällen islamfeindlicher Äußerungen häufig schwierig ist.332 Die Entscheidung des Gerichtshofs im Fall Kern passt ebenfalls in dieses Bild.333 Der Sachverhalt betraf hier eine Äußerung zur Rechtfertigung der terroristischen Angriffe am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York. Der Beschwerdeführer entstammte zwar einem rechtsextremen Umfeld, die Äußerung war jedoch nicht unmittelbar ausländerfeindlichen oder nationalsozialistischen Inhalts. Der EGMR nahm, dem hier gezeichneten Bild entsprechend, eine offensichtliche Unbegründetheit der Beschwerde wegen offensichtlicher Rechtfertigung des Eingriffs in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers an und rekurrierte nicht auf die „Missbrauchsklausel“ des Art. 17 EMRK. Die Anknüpfung an den Inhalt lässt sich mit weiteren Erwägungen in der hier betrachteten Rechtsprechung des EGMR belegen. Im bereits erwähnten Fall Norwood wird noch auf anderem Wege besonders deutlich, dass der Inhalt der Äußerung nach Ansicht des Gerichtshofs entscheidender Aspekt ist. Der EGMR ließ den Umstand, dass das islamfeindliche Plakat nie von einem Muslimen gesehen worden

327 Vgl. etwa EKMR, 21. 10. 1997, Sener ./. Türkei, Nr. 26689/95; EGMR (GK), 8. 7. 1999, Sürek Nr. 1 ./. Türkei, Nr. 26682/95; EGMR (GK), 25. 11. 1997, Zana ./. Türkei, Nr. 18954/91; EGMR, 7. 3. 2006, Hocaoğullari ./. Türkei, Nr. 77109/01; EGMR, 3. 5. 2007, Ulusoy u.  a. ./. Türkei, Nr. 34797/03; EKMR, 13. 1. 1998, Baskaya u. Okcuoglu ./. Türkei, Nr. 23536/94 u. 24408/94; EGMR (GK), 8. 7. 1999, Arslan ./. Türkei, Nr. 23462/94; EGMR, 8. 7. 1999, Ceylan ./. Türkei, Nr. 23556/94; EGMR, 8. 7. 1999, Erdogdu u. Ince ./. Türkei, Nr. 25067/94 u. 25068/94; EGMR, 8. 7. 1999, Karatas ./. Türkei, Nr. 23168/94; EGMR (GK), 8. 7. 1999, Gerger ./. Türkei, Nr. 24919/94; EGMR, 7. 2. 2002, E. K. ./. Türkei, Nr. 28496/95; EGMR, 25. 6. 2000, Erdogdu ./. Türkei, Nr. 25723/94; EGMR, 2. 10. 2003, Kizilyaprak ./. Türkei, Nr. 27528/95. 328

Vgl. etwa EGMR, 2. 5. 2006, Aydin Tatlav ./. Türkei, Nr. 50692/99.

Vgl. beispielhaft EGMR, 15. 3. 2011, Otegi Mondragon ./. Spanien, Nr. 2034/07; EGMR, 23. 4. 1992, Castells ./. Spanien, Nr. 11798/85; EGMR, 1. 2. 2011, Faruk Temel ./. Türkei, Nr. 16853/05; EGMR, 1. 3. 2005, Birol ./. Türkei, Nr. 44104/98; EGMR (GK), 28. 9. 1999, Öztürk ./. Türkei, Nr. 22479/93; EGMR, 6. 7. 2006, Erbakan ./. Türkei, Nr. 59405/00; EGMR, 10. 2. 2015, Yoslun ./. Türkei, Nr. 2336/05. 329

330

Vgl. beispielhaft EGMR, 29. 4. 2008, Kutlular ./. Türkei, Nr. 73715/01.

Vgl. etwa EGMR, 14. 9. 2010, Dink ./. Türkei, Nr. 2668/07; EGMR, 21. 10. 2014, Murat Vural ./. Türkei, Nr. 9540/07; EGMR, 4. 12. 2003, Gündüz ./. Türkei, Nr. 35071/97.

331

332

Siehe hierzu Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 114.

333

EGMR, 29. 5. 2007, Kern ./. Deutschland, Nr. 26870/04.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …155

war und folgenlos geblieben war, unberücksichtigt. Allein die inhaltliche Bewertung des Plakats, die mit den Werten der Konvention nach Ansicht des Gerichtshofs nicht vereinbart werden konnte, veranlasste den EGMR zur Anwendung des Art. 17 EMRK und zur Ablehnung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit infolgedessen. Hierin liegt ein Indiz dafür, dass der Inhalt der Äußerung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs jedenfalls wichtiges Kriterium ist, mit dem er begründet, warum der Schutzbereich der Meinungsfreiheit für eine Äußerung nicht greift.334 Für „Hassreden“ führt dies dazu, dass eine Tendenz des Gerichtshofs gesehen werden kann, den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK exklusiv in Fällen rechtsextremistischer, pro-nationalsozialistischer bzw. zumindest rassistischer „Hassrede“ zu sehen. Nicht in allen Entscheidungen zu Äußerungen dieser inhaltlichen Richtung nahm der Gerichtshof an, dass Art. 17 EMRK anwendbar ist. Er erwähnte die Bestimmung aber zumindest und setzte sich mit ihr auseinander. Aus der Analyse zu den revisionistischen Äußerungen lässt sich für die These der Differenzierung nach dem Inhalt der Äußerung zunächst aus dem Vergleich der Entscheidung Witzsch Nr. 2 mit dem nicht rechtskräftigen Kammerurteil Perinçek ein stützender Anhaltspunkt gewinnen. In Witzsch Nr. 2 leugnete der Beschwerdeführer die Existenz der Massenvernichtungen an der jüdischen Bevölkerung nicht, sondern verneinte die Verantwortlichkeit Hitlers und der NSDAP für den Holocaust, deren intentionale Vorgehensweise und die rassistische Motivation Hitlers. Der EGMR grenzte diese Äußerung aus dem Schutzbereich des Art. 10 EMRK auf der Ebene der Zulässigkeit aus. Die Leugnung der juristischen Qualifikation der Verbrechen an den Armeniern ab 1915 schloss er hingegen im Fall Perinçek ausdrücklich nicht gemäß Art.  17 EMRK aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus. Nimmt man nun an, dass das Leugnen der juristischen Qualifikation mit der Leugnung der Verantwortlichkeit und Intentionalität Hitlers gleichzustellen ist, weil mit Ersterer meist die Leugnung der Vernichtungsabsicht des Handelnden einhergeht, so geschieht hier eine inhaltliche Differenzierung. Es liegt eine Unterscheidung zwischen dem Holocaust und anderen historischen Verbrechen zumindest nahe.335 Die Entscheidung der Großen Kammer im Fall Perinçek weicht hiervon ab. Im Ergebnis lehnte der EGMR es auch hier auf Ebene der Zulässigkeit ab, die Äußerungen aus dem Schutzbereich auszuschließen, weil keine von ihm verlangte extreme Ausnahmesituation vorliege. Damit folgte die Große Kammer der Kammer in Bezug auf die Rechtsfolge des Art. 17 EMRK im Allgemeinen. Die Formulierungen der Großen Kammer relativieren den Vergleich zum Urteil Witzsch Nr. 2 zwar, sie machen das Argument aber nicht vollständig ungültig. Die Rechtsprechung des EGMR differenziert im Ergebnis auf Ebene des Schutzbereichs nach dem Inhalt der Äußerungen. Der Inhalt der Äußerung wird in mehreren Entscheidungen zum Kriterium für den Ausschluss der Äußerung aus dem

So auch Mensching, Hassrede im Internet, S.  92, 118; vgl. hierzu Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 58.

334

335

Vgl. hierzu Krenc, RTDH 2016, 311, 327.

156

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie nach Art. 10 EMRK. Teilweise kommt Art. 17 EMRK dabei zur Anwendung, teilweise wird er nicht genannt. Festzuhalten ist jedenfalls, dass der Inhalt der Äußerung in den Erwägungen des Gerichtshofs häufig das Kriterium ist, das begründet, warum eine Äußerung nicht in den Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie fällt. Eine Differenzierung zwischen verschiedenen inhaltlichen Tendenzen ist erkennbar. Damit ist aber nicht beantwortet, ob man inhaltliche Kategorien von Äußerungen identifizieren kann, die die Rechtsprechung immer außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit sieht. b) Inhalte außerhalb des Schutzbereichs In der Literatur werden Inhalte genannt, die die Rechtsprechung außerhalb des Schutzbereichs sehe. Die meisten dieser Thesen lassen sich widerlegen und sind hier in aller Kürze unter Hinweis auf gegenteilige Entscheidungen der Konventionsorgane zu verwerfen. Die These, islamophobe Äußerungen fielen stets aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit heraus,336 lässt sich bereits mit der Entscheidung Le Pen des EGMR widerlegen, in der eine offensichtliche Unbegründetheit wegen Rechtfertigung des Eingriffs, nicht aber eine Unvereinbarkeit mit der Konvention wegen einer Einschränkung des Schutzbereichs angenommen wurde. Derselben Behauptung für antisemitische Äußerungen337 widerspricht das Urteil Garaudy des Gerichtshofs, der, wie oben bereits dargestellt, die Kritik am Staat Israel als antisemitische Äußerung charakterisierte, die Äußerung aber im Gegensatz zur Holocaustleugnung innerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK sah. Auch rassistische Äußerungen lagen in der Rechtsprechung des EGMR nicht immer außerhalb des Schutzbereichs.338 So nahm der Gerichtshof im Fall Féret, in dem es um rassistische Flugblätter ging, keine Einschränkung des Schutzbereichs an, sondern prüfte ausführlich die Rechtfertigung eines Eingriffs in die grundrechtliche Freiheit aus Art. 10 EMRK. Hierzu ist anzumerken, dass der EGMR in den meisten Fällen nicht strikt zwischen rassistischen und ausländerfeindlichen Äußerungen trennte. Vielmehr traten beide Begriffe in vielen Entscheidungen nebeneinander, ohne dass eine Differenzierung erfolgte.339 Aus alledem wird deutlich, dass sich kein Inhalt findet, für den man sagen könnte, er werde in der Rechtsprechung des EGMR nie im Schutzbereich der Meinungsfreiheit gesehen. Für einen einzigen Fall könnte allerdings eine Aussage möglich sein.

336

Krenc, RTDH 2016, 311, 328.

337

Krenc, RTDH 2016, 311, 328; McGonagle, European Yearbook on Minority Issues 2010, 419, 426.

338 So aber Krenc, RTDH 2016, 311, 326; Oetheimer, Cardozo Journal of International and Comparative Law 2009, 427, 430; Harvey, European Law Review 29 (2004), 407, 413 f.; McGonagle, European Yearbook on Minority Issues 2010, 419, 426.

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 209; EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89, Z. 28, 29; EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 68. 339

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …157

c) Im Besonderen: Nationalsozialistische Äußerungen Häufig wird festgestellt, die Rechtsprechung des EGMR behandele nationalsozialistische bzw. rechtsextremistische Äußerungen, die im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus stünden, im Verhältnis zu anderen Inhalten stets besonders streng.340 Die Rechtsprechung schließe jedes Plädoyer für den Nationalsozialismus in Anwendung des Art. 17 EMRK aus dem Kreis der von Art. 10 EMRK geschützten Meinungsäußerungen aus.341 Art. 17 EMRK werde hier in allen Fällen angewendet.342 Die Äußerungen würden immer aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgeschlossen.343 Die Prüfung dieser These ist zu differenzieren. Zum einen muss gefragt werden, ob Art.  17 EMRK immer angewendet wird, wenn es um nationalsozialistische bzw. rechtsextremistische Inhalte geht, und zum anderen ist zu untersuchen, ob der Gerichtshof die Äußerungen nie im Schutzbereich der Meinungsfreiheit sieht. Die Annahme einer konstanten Anwendung von Art. 17 EMRK bei nationalsozialistischen Äußerungen lässt sich mit der Mehrheit der Entscheidungen belegen. Die überwiegende Anzahl der, auch aktuellen, Entscheidungen, die sich entweder mit einer Leugnung oder Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen oder mit sonstigen revisionistischen Äußerungen zum Nationalsozialismus auseinanderzusetzen hatten, wendete Art.  17 EMRK an.344 Interessant ist in diesem Zusammenhang das Urteil Schimanek.345 In diesem Fall nahm der EGMR einen Eingriff in die Meinungsfreiheit nach Art.  10 EMRK an, sah dessen Rechtfertigung aber allein über eine Anwendung des Art. 17 EMRK als begründet an. Die nationalsozialistische Wiederbetätigung, aufgrund derer der Beschwerdeführer in 340 Hong, ZaöRV 2010, 73, 108; Keane, NQHR 2007, 641, 642, 662; Belavusau, European Public Law 2010, 373, 384; Pech, The Law of Holocaust Denial in Europe, S.  30  f.; Weiler, Der Tatbestand „Volksverhetzung“ im europäischen Vergleich, S. 123; Mensching, Hassrede im Internet, S. 85 f.; vgl. hierzu ähnlich Bezemek, JRP 2012, 253, 253 f.

Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 109; Oetheimer, Cardozo Journal of International and Comparative Law 2009, 427, 432; Oetheimer, RTDH 2007, 63, 68 f.

341

342 So Belavusau, European Public Law 2010, 373, 384; Belavusau, Freedom of Speech, S. 67; Keane, NQHR 2007, 641, 642. 343 Oetheimer, RTDH 2007, 63, 68 f.; Oetheimer, Cardozo Journal of International and Comparative Law 2009, 427, 430; so auch BVerwGE 131, 216. 344 EGMR, 24. 6. 2003, Garaudy ./. Frankreich, Nr. 65831/01; EGMR, 13. 12. 2005 Witzsch Nr. 2 ./. Deutschland, Nr. 7485/03; EGMR, 20. 10. 2015, M’Bala M’Bala ./. Frankreich, Nr.  25239/13; EGMR, 20. 4. 1999, Witzsch ./. Deutschland, Nr. 41448/98; EGMR, 1. 2. 2000, Schimanek ./. Österreich, Nr. 32307/96; EGMR, 25. 11. 2003, R. L. ./. Schweiz, Nr. 43874/98; EKMR, 6. 9. 1995, Remer ./. Deutschland, Nr. 25096/94; EKMR, 16. 1. 1996, Rebhandel ./. Österreich, Nr. 24398/94; EKMR, 27. 2. 1997, Honsik ./. Österreich, Nr. 25062/94; EKMR, 24. 6. 1996, Marais ./. Frankreich, Nr. 31159/96; EKMR, 12. 10. 1989, B. H., M. W., H. P., G. K ./. Österreich, Nr. 12774/87; EKMR, 29. 3. 1993, F. P. ./. Deutschland, Nr. 19459/92; EKMR, 9. 6. 1998, Nachtmann, Nr. 36773/97; EKMR, 26. 6. 1996, D. I. ./. Deutschland, Nr. 26551/95; EKMR, 12. 5. 1988, Kühnen ./. Deutschland, Nr. 12194/86; EKMR, 11. 1. 1995, Walendy ./. Deutschland, Nr. 21128/93; EKMR,  29. 11. 1995, Nationaldemokratische Partei Deutschlands, Bezirksverband MünchenOberbayern ./. Deutschland, Nr. 25992/94. 345

EGMR, 1. 2. 2000, Schimanek ./. Österreich, Nr. 32307/96.

158

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Österreich verurteilt worden war, widerspreche als ein Vertreten der Ideologie des Nationalsozialismus, und somit einer totalitären Doktrin, Demokratie und Menschenrechten; die Anhänger des Nationalsozialismus verfolgten Ziele, die Art. 17 EMRK erfasse. Daher ergebe sich aus dieser Bestimmung, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers in einer demokratischen Gesellschaft mit Art. 10 II EMRK vereinbar sei. Der Beschwerdeführer hatte als Anführer einer rechtsradikalen Kameradschaft Mitglieder geworben und eine Geschichtsdeutung an neue Teilnehmer vermittelt, welche unter anderem Hitler, die SA und die SS verherrlichte und den Holocaust leugnete. Außerdem hatte er paramilitärische Übungen der Gruppierung „Volkstreue Außerparlamentarische Opposition“ (VAPO) mit dem Ziel organisiert, die Teilnehmer auf gewalttätige Auseinandersetzungen vorzubereiten, mit denen die Ziele der Gruppierung durchgesetzt und die Macht in Österreich ergriffen werden sollte. Der Gerichtshof stellte in diesem Urteil fest, Art.  17 EMRK sei immer anwendbar, wenn nationalsozialistische Ideologien geäußert würden. Der EGMR kam infolge der Anwendung des Art. 17 EMRK aber nicht dazu, dass die Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK gesehen worden wären. Der Grundrechtseingriff, den das österreichische Wiederbetätigungsverbot darstellte, wurde vielmehr ohne weitere Begründung als gerechtfertigt angesehen. Die übrigen Umständen des Einzelfalls und widerstreitende Interessen ließ der Gerichtshof außer Betracht. Er begründete die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs allein mit der Anwendung der „Missbrauchsklausel“. Bereits die Entscheidung der EKMR H., W. und K. gegen Österreich346 hatte diese Tendenz gezeigt. Die Kommission führte ausdrücklich aus, eine nationale Bestimmung, die nationalsozialistische Aktivitäten anders behandle als Aktivitäten anderer politischer Gruppierungen, finde eine objektive und vernünftige Rechtfertigung in der konkreten Geschichte Österreichs während des Nationalsozialismus, in den Verpflichtungen Österreichs sowie in dem Risiko, das Handlungen basierend auf nationalsozialistischer Ideologie für die österreichische Gesellschaft darstellten. Die EKMR rekurrierte hier wiederum ausdrücklich auf Art. 17 EMRK. Der Nationalsozialismus sei eine totalitäre Doktrin, die mit Demokratie und Menschenrechten unvereinbar sei, und seine Anhänger verfolgten unzweifelhaft Ziele, die von Art. 17 EMRK erfasst würden. Die Kommission wendete Art. 17 EMRK auf nationalsozialistische Äußerungen auch bereits an. In Entscheidungen, die revisionistische Äußerungen zu anderen Ereignissen der Vergangenheit betrafen, wurde Art.  17 EMRK entsprechend nicht angewendet.347 Ebenso nahm der EGMR in einer Reihe von Fällen zu Äußerungen zur kurdischen

346

EKMR, 12. 10. 1989, B. H., M. W., H. P., G. K ./. Österreich, Nr. 12774/87.

EGMR, 15. 1. 2009, Orban ./. Frankreich, Nr. 20985/05; EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08; EGMR, 24. 6. 2003, Garaudy ./. Frankreich, Nr. 65831/01 (bezüglich der Äußerung zur Kritik am Staat Israel); EGMR, 22. 4. 2010, Fatullayev ./. Aserbaidschan, Nr. 40984/07; EGMR, 8. 7. 2008, Vajnai ./. Ungarn, Nr. 33629/06, Z. 26; EGMR, 21. 9. 2006, Monnat ./. Schweiz, Nr. 73604/01, Z. 56 ff. 347

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …159

Frage,348 mit islamkritischem Charakter349 sowie zu „Hassreden“ politischer,350 religiöser351 oder verfassungs- bzw. staatsfeindlicher Art352 keinen Bezug auf Art. 17 EMRK. In einem Fall von „Hassreden“ homophober Natur ließ der EGMR Art. 17 EMRK auch außer Betracht.353 In keiner dieser Entscheidungen ging es um nationalsozialistische oder rechtsextremistische Äußerungen. Einzuräumen ist, dass es andere Gründe als den Inhalt geben kann, warum Art. 17 EMRK in diesen Fällen nicht angewendet wurde. Im Fall Perinçek argumentierte die Große Kammer zum Beispiel, es fehlten Umstände einer extremen Ausnahmesituation. Der Inhalt der Äußerungen spielte bei der Begründung, warum Art. 17 EMRK nicht anzuwenden sei, keine entscheidende Rolle.354 Davon abgesehen wird Art.  17 EMRK im Bereich der revisionistischen Äußerungen in den Fällen nicht angewendet, in denen es sich um revisionistische Thesen außerhalb nationalsozialistischer Verbrechen handelt.355 Zwei Entscheidungen, die die Rolle der Résistance in der Zeit des Nationalsozialismus betrafen, wendeten Art.  17 EMRK nicht an.356 Lediglich eine sehr frühe Entscheidung der EKMR verfuhr, die Anwendung des Art. 17 EMRK betreffend, anders. In der Entscheidung T. gegen Belgien wendete die EKMR Art. 17 EMRK an, obwohl es inhaltlich um den Nationalsozialismus ging.357 Im Ergebnis wird Art. 17 EMRK überwiegend in Fällen nationalsozialistischer oder anderer rechtsextremistischer Inhalte angewendet. Besonders augenfällig wird die Differenzierung auch gerade in der Entscheidung Garaudy, in der der EGMR

348 EKMR, 21. 10. 1997, Sener ./. Türkei, Nr. 26689/95; EGMR, 3. 5. 2007, Ulusoy u. a. ./. Türkei, Nr. 34797/03; EKMR, 13. 1. 1998, Baskaya u. Okcuoglu ./. Türkei, Nr. 23536/94 u. 24408/94; EGMR (GK), 8. 7. 1999, Arslan ./. Türkei, Nr. 23462/94; EGMR, 8. 7. 1999, Ceylan ./. Türkei, Nr. 23556/94; EGMR, 8. 7. 1999, Erdogdu u. Ince ./. Türkei, Nr. 25067/94 u. 25068/94; EGMR, 8. 7. 1999, Karatas ./. Türkei, Nr. 23168/94; EGMR (GK), 8. 7. 1999, Gerger ./. Türkei, Nr. 24919/94; EGMR, 7. 2. 2002, E. K. ./. Türkei, Nr. 28496/95; EGMR, 25. 6. 2000, Erdogdu ./. Türkei, Nr. 25723/94; EGMR, 2. 10. 2003, Kizilyaprak ./. Türkei, Nr. 27528/95. 349

EGMR, 2. 5. 2006, Aydin Tatlav ./. Türkei, Nr. 50692/99.

EGMR, 15. 3. 2011, Otegi Mondragon ./. Spanien, Nr. 2034/07; EGMR, 23. 4. 1992, Castells ./. Spanien, Nr. 11798/85; EGMR, 1. 2. 2011, Faruk Temel ./. Türkei, Nr. 16853/05; EGMR, 1. 3. 2005, Birol ./. Türkei, Nr. 44104/98; EGMR (GK), 28. 9. 1999, Öztürk ./. Türkei, Nr. 22479/93; EGMR, 6. 7. 2006, Erbakan ./. Türkei, Nr. 59405/00; EGMR, 10. 2. 2015, Yoslun ./. Türkei, Nr. 2336/05; EGMR, 9. 7. 2013, Vona ./. Ungarn, Nr. 35943/10, Z. 38 f. 350

351

Vgl. beispielhaft EGMR, 29. 4. 2008, Kutlular ./. Türkei, Nr. 73715/01.

EGMR, 14. 9. 2010, Dink ./. Türkei, Nr. 2668/07; EGMR, 21. 10. 2014, Murat Vural ./. Türkei, Nr. 9540/07; EGMR, 4. 12. 2003, Gündüz ./. Türkei, Nr. 35071/97. 352

353

EGMR, 9. 2. 2012, Vejdeland u. a. ./. Schweden, Nr. 1813/07.

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 114; siehe hierzu Lobba, EJIL 26 (2015), 237, 250; vgl. auch EGMR, 10. 7. 2008, Soulas u. a. ./. Frankreich, Nr. 15948/03, Z. 48.

354

355

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08.

EGMR, 29. 6. 2004, Chauvy ./. Frankreich, Nr. 64915/01, Z. 69; EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 47.

356

357

EKMR, 14. 7. 1983, T. ./. Belgien, Nr. 9777/82.

160

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Art. 17 EMRK auf die Leugnung des Holocaust anwendete, die Kritik am Verhalten des Staats Israel jedoch ohne Art. 17 EMRK bewertete.358 In der aktuelleren Rechtsprechung wich die Entscheidung Gollnisch davon ab.359 Hier wurde Art. 10 II EMRK unabhängig von Art. 17 EMRK auf Ebene der Zulässigkeit geprüft. In diesem Fall ging es um die Äußerung von Zweifeln, ob die Existenz von Gaskammern in der Zeit des Nationalsozialismus historisch klar etabliert sei. Die Entscheidung aus dem Jahr 2011 unterscheidet sich von dem ansonsten vertretenen Vorgehen, Art. 17 EMRK in solchen Fällen jedenfalls anzuwenden. Eine weitere Ausnahme stellt das Urteil Fáber dar, in dem Art. 17 EMRK nicht angewendet wurde, obwohl es um das Tragen einer faschistischen Flagge an einem Ort mit einer Vergangenheit im Zusammenhang mit Hinrichtungen von jüdischen Personen im Nationalsozialismus ging.360 Da das Vorgehen dieser Entscheidungen aber keine Fortsetzung erfahren hat und im Gegenteil durch die Entscheidungen M’Bala M’Bala und Perinçek, die zur beschriebenen Linie zurückkehrten, überholt wurde, muss es als Ausnahme qualifiziert werden und vermag die getroffene Aussage nicht zu widerlegen. Man kann für die Rechtsprechung des EGMR feststellen, dass sie in der überwiegenden Zahl der Fälle, in denen sie sich mit nationalsozialistischen oder verwandten rechtsextremistischen Äußerungen auseinandersetzen musste, Art.  17 EMRK anwendete. Dies bedeutet aber nicht, dass der EGMR Art. 17 EMRK vereinzelt nicht auch auf andere Äußerungsinhalte angewendet hätte.361 Einen solchen Fall stellte die Entscheidung Norwood dar, die insoweit einer These der ausschließlichen Anwendung des Art. 17 EMRK auf nationalsozialistische Äußerungen entgegensteht. Hier wurde die „Missbrauchsklausel“ angewendet, obwohl es nicht um nationalsozialistische, sondern um islamophobe Äußerungen ging. Allerdings war der Beschwerdeführer Mitglied einer rechtsextremistischen politischen Partei und seine Äußerung „Islam out of Britain  – Protect the British People“, konnte als rechtsextreme Aussage interpretiert werden.362

358

EGMR, 24. 6. 2003, Garaudy ./. Frankreich, Nr. 65831/01.

359

EGMR, 7. 6. 2011, Gollnisch ./. Frankreich, Nr. 48135/08.

360

EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08, Z. 58.

So etwa EKMR, 11. 10. 1979, Glimmerveen u. Hagenbeek ./. Niederlande, Nr. 8348/78 u.  8406/78 (fremdenfeindliche Äußerungen); EGMR, 20. 2. 2007, Pavel Ivanov ./. Russland, Nr. 35222/04 („Consequently, the Court finds that, by reason of Article 17 of the Convention, the applicant may not benefit from the protection afforded by Article 10 of the Convention.“ (antisemitische Parolen)); EKMR, 21. 5. 1997, Hennicke ./. Deutschland, Nr. 34889/97; EKMR, 2. 9. 1994, Ochensberger ./. Österreich, Nr. 21318/93; EGMR, 23. 10. 2012, Molnar ./. Rumänien, Nr. 16637/06; nicht so jedoch im Urteil EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 82; EGMR (GK), 16. 6. 2015, Delfi AS ./. Estland, Nr. 64569/09, Z. 136 (obiter dictum zu den Äußerungen der Kommentatoren selbst); EGMR, 12. 6. 2012, Hizb Ut-Tahrir u. a. ./. Deutschland, Nr. 31098/08, Z. 74 f.; EGMR, 2. 9. 2004, W. P. u. a. ./. Polen, Nr. 42264/98; EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06, Z. 113 f. 361

Ähnlich EKMR, 16. 4. 1991, Purcell ./. Irland Nr. 15404/89 (EKMR wendete Art. 17 EMRK auf einen Fall von Interviews mit Mitgliedern irischer terroristischer Organisationen an, die in keinem Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus standen.). 362

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …161

Die ausnahmsweise Anwendung auf andere, nicht offensichtlich nationalsozialistische, aber thematisch verwandte Äußerungen, steht der Annahme, dass nationalsozialistische und rechtsextremistische Inhalte streng behandelt werden und Art. 17 EMRK in diesen Fällen fast immer angewendet wird, nicht entgegen. Im Ergebnis ist, von einigen Ausnahmen abgesehen,363 eine eindeutige Tendenz der Rechtsprechung erkennbar. Art. 17 EMRK findet auf nationalsozialistische und damit im Zusammenhang stehende rechtsextremistische Äußerungen in der Regel Anwendung. Die Annahme einer besonderen Behandlung nationalsozialistischer Äußerungen in der Rechtsprechung des EGMR kann belegt werden. Schwieriger gestaltet sich der Beleg der Annahme, nationalsozialistische und rechtsextremistische Äußerungen lägen in der Straßburger Rechtsprechung immer außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit nach Art.  10 EMRK. Einige Entscheidungen nahmen dies an, darunter befindet sich auch die aktuelle Zulässigkeitsentscheidung M’Bala M’Bala.364 Die Rechtsprechung der EKMR verfolgte diesen Ansatz zunächst überhaupt nicht. In allen Entscheidungen zu revisionistischen Äußerungen in Bezug auf den Nationalsozialismus nahm sie einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK an. Auch der EGMR wich in seiner Rechtsprechung immer wieder von diesem Vorgehen ab und prüfte Art. 17 EMRK entweder als Kriterium bei Beurteilung der Rechtfertigung staatlicher Verbote entsprechender Äußerungen365 oder er bezog faschistische Äußerungen ausdrücklich in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit ein.366 Im Urteil Fáber ging es um das Tragen der „Arpad-Flagge“ an einem Ort, an dem in den Jahren 1944 und 1945 tausende Juden ermordet worden waren. Der EGMR wendete Art. 17 EMRK nicht an, bezog die Äußerung in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit ein und begründete dies damit, es liege kein missbrauchendes Element vor.367 Vor der Entscheidung Garaudy des Gerichtshofs wurde Art.  17 EMRK im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung als Abwägungskriterium herangezogen. Die EKMR hatte nur ein einziges Mal einen Ausschluss einer rassistischen und fremdenfeindlichen Äußerung aus dem Schutzbereich über Art.  17 EMRK angenommen.368 In der Regel gingen die Konventionsorgane bis dahin davon aus, die Äußerungen lägen trotz ihres rechtsextremistischen oder nationalsozialistischen Inhalts im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit.369 Nach 2003 kann man

363

Vgl. hierzu Harvey, European Law Review 29 (2004), 407, 414 f.

EGMR, 24. 6. 2003, Garaudy ./. Frankreich, Nr. 65831/01; EGMR, 13. 12. 2005 Witzsch Nr. 2 ./. Deutschland, Nr. 7485/03; EGMR, 20. 10. 2015, M’Bala M’Bala ./. Frankreich, Nr. 25239/13. 364

365 EGMR, 20. 4. 1999, Witzsch ./. Deutschland, Nr. 41448/98; EGMR, 1. 2. 2000, Schimanek ./. Österreich, Nr. 32307/96; EGMR, 25. 11. 2003, R. L. ./. Schweiz, Nr. 43874/98; EGMR, 7. 6. 2011, Gollnisch ./. Frankreich, Nr. 48135/08. 366

EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08.

EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08, Z. 58 (Kritik hieran: Richterin Keller im Sondervotum zu EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08).

367

368

EKMR, 11. 10. 1979, Glimmerveen u. Hagenbeek ./. Niederlande, Nr. 8348/78 u. 8406/78.

Siehe etwa EKMR, 11. 1. 1995, Walendy ./. Deutschland, Nr. 21128/93; EGMR, 20. 4. 1999, Witzsch ./. Deutschland, Nr. 41448/98; EGMR, 1. 2. 2000, Schimanek ./. Österreich, Nr. 32307/96.

369

162

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

allerdings eine Tendenz erkennen, dass die Äußerungen in entsprechenden Fällen über Art.  17 EMRK aus dem Schutzbereich ausgeschlossen wurden.370 Dieser Tendenz stehen die Entscheidungen Gollnisch und Fáber allerdings entgegen. Betrachtet man diese – auch vor dem Hintergrund, dass der EGMR 2015 in der Entscheidung M’Bala M’Bala wieder zur genannten Tendenz zurückgekehrt ist – als Ausreißer, kann davon ausgegangen werden, dass in der aktuellen Rechtsprechung des EGMR bei revisionistischen Äußerungen zur Zeit des Nationalsozialismus davon ausgegangen wird, dass sie außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit liegen, weil Art. 17 EMRK anwendbar ist. Der EGMR knüpfte dabei häufig nicht ausschließlich an die erwiesene Unwahrheit der Tatsachenbehauptung an, sondern betonte den Ausdruck einer politischen Ideologie, die mit den Werten der EMRK unvereinbar sei. Nicht die Unwahrheit, sondern die politische Überzeugung ist in den Entscheidungen der Konventionsorgane entscheidendes Kriterium.371 So wird der Inhalt zum Kriterium des Schutzbereichs. In einigen Fällen, in denen es nicht um nationalsozialistisch-revisionistische Äußerungen ging, schloss es der EGMR ausdrücklich aus, die Äußerung wegen Art.  17 EMRK außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit zu sehen.372 In anderen Urteilen bezog der EGMR die Äußerungen, die andere als nationalsozialistische Inhalte enthielten, in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK ein, ohne dies zu problematisieren.373 Dies bestätigt die These, nationalsozialistische Äußerungen würden besonders behandelt und aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit ausgeschlossen. Im Fall Vajnai führte der Gerichtshof sogar explizit aus, der Fall unterscheide sich von den Konstellationen in der vorherigen Rechtsprechung, in denen die Rechtfertigung von nationalsozialistischen politischen Ideen in Frage gestanden habe.374 Der EGMR schloss auch andere antisemitische Äußerungen über Art.  17 EMRK aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit aus.375 Auch Äußerungen ganz anderen Inhalts wurden außerhalb des Schutzbereichs gesehen. Im Fall Norwood wurde dies mit der Anwendung der „Missbrauchsklausel“ des Art.  17 EMRK auf die betreffenden Äußerungen begründet, obwohl es nicht um 370 EGMR, 24. 6. 2003, Garaudy ./. Frankreich, Nr. 65831/01; EGMR, 13. 12. 2005 Witzsch Nr. 2 ./. Deutschland, Nr. 7485/03 und EGMR, 20. 10. 2015, M’Bala M’Bala ./. Frankreich, Nr. 25239/13 (alle jünger als 2003) einerseits und EGMR, 20. 4. 1999, Witzsch ./. Deutschland, Nr. 41448/98; EGMR, 1. 2. 2000, Schimanek ./. Österreich, Nr. 32307/96; EGMR, 25. 11. 2003, R. L. ./. Schweiz, Nr. 43874/98 (alle älter als 2003) andererseits. 371

Mensching, Hassrede im Internet, S. 86.

EGMR, 9. 7. 2013, Vona ./. Ungarn, Nr. 35943/10; EGMR, 2. 10. 2001, Stankov and the United Macedonian Organisation Ilinden ./. Bulgarien, Nr. 29221/95, 29225/95; EGMR, 10. 7. 2008, Soulas u. a. ./. Frankreich, Nr. 15948/03; EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07.

372

EGMR, 9. 2. 2012, Vejdeland u. a. ./. Schweden, Nr. 1813/07; EGMR (GK), 8. 7. 1999, Sürek Nr. 1 ./. Türkei, Nr. 26682/95; EGMR (GK), 25. 11. 1997, Zana ./. Türkei, Nr. 18954/91; EGMR, 7. 3. 2006, Hocaoğullari ./. Türkei, Nr. 77109/01; EGMR, 2. 10. 2008, Leroy ./. Frankreich, Nr. 36109/03.

373

374

EGMR, 8. 7. 2008, Vajnai ./. Ungarn, Nr. 33629/06, Z. 24 ff.

EGMR, 12. 6. 2012, Hizb Ut-Tahrir u. a. ./. Deutschland, Nr. 31098/08; EGMR, 2. 9. 2004, W. P. u. a. ./. Polen, Nr. 42264/98; EGMR, 20. 2. 2007, Pavel Ivanov ./. Russland, Nr. 35222/04.

375

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …163

nationalsozialistische, sondern um islam- und fremdenfeindliche Äußerungen ging, und in einem anderen Fall zeigte der EGMR dasselbe Vorgehen für Mitgliedschaften in radikal-islamischen Gruppierungen.376 Die besondere Behandlung nationalsozialistischer und rechtsextremistischer Äußerungen in der Rechtsprechung des EGMR kann vor dem Hintergrund des dargestellten Befundes jedenfalls insoweit bestätigt werden, als Äußerungen dieses Inhalts in der Regel wegen Art. 17 EMRK außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheitsgarantie des Art. 10 EMRK gesehen werden. Der EGMR nimmt dies jedoch teilweise auch für Äußerungen eines anderen Inhalts an. Art. 17 EMRK wird nicht ausschließlich auf rechtsextremistische oder nationalsozialistische Äußerungen angewendet. Der Gerichtshof schloss teilweise auch andere Äußerungen wegen ihres grundrechtsmissbräuchlichen Charakters in Anwendung des Art.  17 EMRK aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit aus. Die These von der besonderen Behandlung nationalsozialistischer Äußerungen muss insoweit relativiert werden. Zutreffend ist aber, dass der Gerichtshof revisionistische Äußerungen mit nationalsozialistischer Ausrichtung regelmäßig – von Ausnahmen abgesehen –377 außerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK sieht. Die These von einer im Vergleich zu anderen Äußerungen strengeren Behandlung nationalsozialistischer – und teilweise anderer rechtsextremistischer – Äußerungen trifft insoweit für die bisherige Rechtsprechung zu. Art. 17 EMRK wurde in der Straßburger Rechtsprechung jedenfalls am häufigsten im Zusammenhang mit dieser Art von Äußerungen angewendet und führte hier regelmäßig dazu, dass der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit als nicht betroffen angesehen wurde. In der aktuellen Rechtsprechung des EGMR könnte eine andere Tendenz zu erkennen sein. Nachdem bereits in vorherigen Fällen bei radikal-islamischen Vereinigungen davon ausgegangen wurde, dass deren Äußerungen nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK lägen,378 nahm der Gerichtshof in einer Entscheidung aus dem Jahr 2017 im Fall von islamistischen, zu Gewalt gegen Nicht-Muslime aufstachelnden und gewaltpropagierenden Äußerungen in Internetvideos an, diese lägen nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK. Er begründete dies mit einer Anwendung der „Missbrauchsklausel“ des Art. 17 EMRK.379 Hierbei argumentierte der EGMR weniger mit dem Inhalt der Äußerungen als mit dem Ausnahmecharakter und der besonderen Radikalität der Äußerungen, die der Beschwerdeführer in den Videos getätigt hatte. Hier zeichnet sich ab, dass der EGMR bereit ist, Art. 17 EMRK auch auf extremistische Äußerungen anderer ideologischer Richtung anzuwenden. Der Inhalt der Äußerung tritt in den Hintergrund und entscheidend wird vielmehr, ob die Äußerung zu Gewalt aufstachelt und Hass fördert. Dies würde den Vorwurf der Standpunktdiskriminierung abschwächen. EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06, Z. 113 f.

376

377

Vgl. zum Beispiel EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07.

EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06, Z. 113 f.

378

379

EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14, Z. 30 ff., 37.

164

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Diese Entwicklung wird durch die Entscheidung des EGMR im Fall Roj TV A/S 380 bestätigt. Der EGMR wendete Art. 17 EMRK in diesem Fall auf Äußerungen zur Förderung und Unterstützung der PKK an und sah diese außerhalb des Schutzbereichs des Art.  10 EMRK. Er argumentierte hier ebenfalls damit, die Äußerungen riefen zu Gewalt und Unterstützung terroristischer Aktivitäten auf. Hinzu treten die Argumente, es gehe um ein in der modernen europäischen Gesellschaft virulentes Thema und die Äußerungen seien, weil sie im Rundfunk verbreitet worden waren, von einem sehr großen Personenkreis empfangen worden.381 In diesem Zusammenhang bleibt die weitere Entwicklung der Rechtsprechung des EGMR abzuwarten. 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist gleichermaßen nach Belegen für eine Differenzierung nach dem Inhalt der Äußerungen und für eine besondere Behandlung nationalsozialistischer Äußerungen zu suchen. Die Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in diesem Bereich erfordert eine kurze Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des OVG Münster. Zwischen letztgenanntem und dem Bundesverfassungsgericht bestand um die Jahrtausendwende über einen längeren Zeitraum eine Kontroverse zum Umgang mit Äußerungen, die die nationalsozialistische Gewaltherrschaft verteidigen, gutheißen, legitimieren oder den Nationalsozialismus als Ideologie vertreten. Dieser Rechtsprechungsdialog ist für ein Verständnis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von wesentlicher Bedeutung. Das OVG Münster hatte in zahlreichen Fällen zu Versammlungen, auf denen nationalsozialistische Äußerungen getätigt wurden, Formulierungen gewählt, die darauf hindeuteten, dass das Gericht die Äußerung nationalsozialistischer Meinungsinhalte nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit sah. Die vom OVG Münster in diesem Zusammenhang verwendete Wortwahl der „verfassungsimmanenten Beschränkung“ war jedoch ebenso wie andere vom OVG gebrauchte ambivalente Formulierungen nicht eindeutig. Sie hätte auch eine Beschränkung im Sinne einer Schranke bezeichnen können.382 Das OVG Münster führte jedoch weiter aus, Versammlungen, die nationalsozialistische Meinungsinhalte transportierten, müssten „schon kraft verfassungsimmanenter Schranken“ vom Schutzbereich der Demonstrationsfreiheit nach Art. 5 I, 8 I GG ausgenommen werden.383 Jedenfalls müsse der auf die „Abwehr nationalsozialistischer Bestrebungen gerichteten grundgesetzlichen Werteordnung“ zumindest bei Auslegung und Definition des Anwendungsbereichs der öffentlichen Ordnung im Sinne des §  15 des

380

EGMR, 17. 4. 2018, Roj TV A/S ./. Dänemark, Nr. 24683/14.

381

EGMR, 17. 4. 2018, Roj TV A/S ./. Dänemark, Nr. 24683/14, Z. 47.

OVG Münster, 23. 3. 2001, 5 B 395/01, Z. 10, 26; OVG Münster, 12. 4. 2001, 5 B 492/01, Z. 6; OVG Münster, 30. 4. 2001, 5 B 585/01, Z. 6; OVG Münster, 29. 6. 2001, 5 B 832/01, Z. 2, 4, 7 f.

382

383

OVG Münster, 23. 3. 2001, 5 B 395/01, Z. 12.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …165

deutschen Versammlungsgesetzes die „verfassungsrechtlich gebotene Geltung“ verschafft werden.384 Das OVG Münster verwendete damit eine Formulierung, die im Ergebnis darauf hindeutete, dass angenommen wurde, die Äußerungen seien vom grundrechtlichen Schutzbereich ausgenommen. Zumindest hielt es das OVG Münster für möglich, dass die Frage des grundrechtlichen Schutzes der Äußerungen bereits auf Ebene des Schutzbereichs verneint werden könnte. In einer anderen Entscheidung argumentierte das OVG Münster, es verkenne nicht, dass durch das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit auch und gerade die „politisch missliebige Meinung“ geschützt werde. Bei nationalsozialistischem Gedankengut gehe es jedoch „nicht um eine lediglich ‚politisch missliebige Meinung‘“, sondern um „Anschauungen, denen das Grundgesetz selbst eine klare Absage erteilt“ habe. Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit seien „nicht irgendwelche unliebsamen, politisch unerwünschten Anschauungen“, sondern solche, die „mit grundgesetzlichen Wertvorstellungen schlechterdings unvereinbar“ seien.385 Der Ausschluss gerade dieses Gedankenguts aus dem demokratischen Willensbildungsprozess sei ein „aus der historisch bedingten Werteordnung des Grundgesetzes ableitbarer Verfassungsbelang“, der geeignet sei, die „Freiheit der Meinungsäußerung, bezogen und beschränkt auf dieses Gedankengut, auch jenseits verfassungsrechtlicher Verbots- und Verwirkungsentscheidungen nach Art. 21 II GG und Art. 18 GG inhaltlich zu begrenzen“.386 Das „historische Gedächtnis“ erlaube es nicht, nationalsozialistisches Gedankengut „wie jede andere Meinungsäußerung als Ausübung eines für die Demokratie konstituierenden Freiheitsrechts einzustufen“.387 Das OVG Münster vertrat somit  – zumindest ist eine solche Deutung seiner Erwägungen möglich  – eine tatbestandliche Ausgrenzung nationalsozialistischer Äußerungen aus dem Schutzbereich des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG. Diese Annahme lehnte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich ab und es bezog die Äußerungen in den Schutzbereich ein.388 Die Bürger seien, so das Bundesverfassungsgericht, „rechtlich nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen persönlich zu teilen“. Das Grundgesetz baue „zwar auf der Erwartung auf, dass die Bürger die allgemeinen Werte der Verfassung“ akzeptierten und verwirklichten, erzwinge die Werteloyalität aber nicht.389 Geschützt seien auch Meinungen, die auf eine grundlegende Änderung der politischen Ordnung abzielten, unabhängig davon, ob und wie weit sie im Rahmen der grundgesetzlichen Ordnung durchsetzbar seien. Das Grundgesetz vertraue auf die „Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamste Waffe auch gegen die Verbreitung totalitärer und menschenverachtender Ideologien.“390 So falle „selbst die Verbreitung 384

OVG Münster, 23. 3. 2001, 5 B 395/01, Z. 12.

385

OVG Münster, 30. 4. 2001, 5 B 585/01, Z. 8.

386

OVG Münster, 30. 4. 2001, 5 B 585/01, Z. 8.

387

OVG Münster, 30. 4. 2001, 5 B 585/01, Z. 12; OVG Münster, 29. 6. 2001, 5 B 832/01, Z. 4.

388

BVerfGE 124, 300, 320 f.

389

BVerfGE 124, 300, 320.

390

BVerfGE 124, 300, 320 f.

166

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

nationalsozialistischen Gedankenguts als radikale Infragestellung der geltenden Ordnung“ nicht aus dem Schutzbereich des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG heraus.391 Diesen Risiken entgegenzutreten, sei „primär bürgerschaftlichem Engagement im freien politischen Diskurs sowie der staatlichen Aufklärung und Erziehung in den Schulen gemäß Art.  7  GG“ zuzuweisen.392 Eine Bestrafung der Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft sei als Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit zu werten.393 Das Bundesverfassungsgericht lehnte es ab, die Äußerungen unter Anknüpfung an ihren nationalsozialistischen Inhalt aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit auszunehmen.394 Die Äußerung kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts im Fall von Werturteilen395 nicht unter Rückgriff auf ihren Inhalt aus dem Schutzbereich ausgeschlossen werden; dies gilt auch dann, wenn die Äußerung eine nationalsozialistische Botschaft enthält.

V. Die Wahrheit der Äußerung In Literatur und Lehre finden sich häufig Auseinandersetzungen mit der Frage, ob und inwieweit die Wahrheit einer Äußerung eine Rolle für ihren Schutz durch das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit spielen kann. Zu fragen ist, inwiefern bzw. in welcher Art und Weise die Wahrheit einer Äußerung in der Rechtsprechung der Gerichte auf Ebene des Schutzbereichs relevant wird. 1. Die Rechtsprechung des EGMR Der EGMR bezieht Tatsachenbehauptungen ebenso wie Werturteile in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 10 I EMRK ein und differenziert auf dieser Ebene nicht zwischen diesen beiden Kategorien.396 Wahre und unwahre Tatsachenbehauptungen liegen gleichermaßen im Schutzbereich der Garantie der Freiheit der Meinungsäußerung in der EMRK. Die Wahrheit einer Aussage ist in der Rechtsprechung des EGMR prinzipiell nicht Voraussetzung für die Betroffenheit des 391

BVerfGE 124, 300, 320 f.

392

BVerfGE 124, 300, 320 f.

393

BVerfGE 124, 300, 321.

Das Bundesverfassungsgericht führt im Wunsiedel-Beschluss (BVerfGE 124, 300) zwar eine besondere Behandlung bestimmter nationalsozialistischer Äußerungen ein. Diese liegt aber nicht auf der Ebene des Schutzbereichs, sondern auf jener der Schranken. Die sog. „Wunsiedel-Ausnahme“ ist eine Ausnahme vom Erfordernis der „Allgemeinheit“ des Gesetzes nach Art. 5 II GG. Es handelt sich dabei nicht um eine Einschränkung des Schutzbereichs. Siehe hierzu ausführlich unten Kapitel 4, B., III., 7.

394

395

Zu Tatsachenbehauptungen siehe unten, Kapitel 4, B., II.

396

Vgl. etwa EGMR, 25. 3. 1985, Barthold ./. Deutschland, Nr. 8734/79, Z. 40 ff.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …167

Schutzbereichs des Art. 10 EMRK. Das Kriterium, ob und inwieweit eine Äußerung der objektiven Wahrheit einerseits und der subjektiven Wahrheit andererseits entspricht, spielt in der Rechtsprechung des EGMR grundsätzlich erst auf Ebene der Abwägung der widerstreitenden Interessen im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in das Grundrecht eine Rolle.397 Allerdings ist zu untersuchen, ob hiervon eine Ausnahme für revisionistische Äußerungen gemacht wird und die Wahrheit in einer spezifischen Konstellation doch als Kriterium des Schutzbereichs relevant wird. Eine These zur allgemeinen Vorgehensweise des EGMR lautet, die Leugnung klar etablierter historischer Tatsachen werde in der Rechtsprechung des Gerichtshofs immer unter Rückgriff auf Art. 17 EMRK aus dem Schutzbereich des Art. 10 EMRK ausgenommen.398 Teilweise wird diese Annahme darauf beschränkt, die Leugnung der historischen Tatsache des Holocaust werde immer außerhalb des Schutzbereichs gesehen.399 Die Kategorie der Leugnung klar etablierter historischer Tatsachen wurde in der Rechtsprechung des EGMR entwickelt. Die EKMR war in den Fällen, in denen historische Verbrechen, auch der Holocaust, negiert oder verharmlost wurden, immer davon ausgegangen, Art. 17 EMRK sei im Rahmen der Abwägung der Interessen in der Verhältnismäßigkeitsprüfung anzuwenden und die Äußerung in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK einzubeziehen.400 Teilweise wird angenommen, bereits im Fall Lehideux und Isorni sei der EGMR implizit davon ausgegangen, auf eine Äußerung, die „klar etablierte historische Tatsachen“401 leugne, sei Art. 17 EMRK anzuwenden, der dazu führe, dass die Äußerung nicht in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK falle.402 Obwohl der Gerichtshof formulierte, Art.  10 II EMRK sei „im Lichte“403 des Art.  17 EMRK auszulegen,

397 Vgl. zum Beispiel EGMR, 8. 7. 1986, Lingens ./. Österreich, Nr. 9815/82, Z. 46; EGMR, 23. 5. 1991, Oberschlick ./. Österreich, Nr. 11662/85, Z. 63; EGMR, 22. 4. 2010, Fatullayev ./. Aserbaidschan, Nr. 40984/07; EGMR, Salumäki ./. Finnland, Nr. 23605/09, Z. 47; EGMR, 6. 9. 2005, Salov ./. Ukraine, Nr. 65518/01, Z. 113; siehe hierzu Hochmann, Le négationnisme, S. 104; Von Coelln, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 11 Rn. 13; Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 120; Oppitz, ZÖR 2009, 277, 285; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 9 Rn. 1.

Keane, NQHR 2007, 641, 643 ff., 657; Belavusau, Freedom of Speech, S. 67; Mensching, Hassrede im Internet, S. 86; Flauss, RTDH 2006, 5, 18; Von Coelln, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 11 Rn. 13; Pech, The Law of Holocaust Denial in Europe, S. 29.

398

Krenc, RTDH 2016, 311, 327; Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art.  10 Rn.  77; Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap.  18 Rn.  125; Beširević, in: Benedek/Benoit-Rohmer/Karl/Nowak (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights (2012), S. 243, 249; Oetheimer, RTDH 2007, 63, 68 f.; Oetheimer, Cardozo Journal of International and Comparative Law 2009, 427, 430; Payandeh, JuS 2016, 690, 692; Mensching, in: Karpenstein/ Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 10 Rn. 10.

399

400

Siehe hierzu Kapitel 3, A., II., 1.

401

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 37.

Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 194; Oetheimer, L’harmonisation de la liberté d’expression en Europe, S. 127.

402

403 EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 38; diese Formulierung deutet auf die Wirkung des Art. 17 EMRK als Abwägungskriterium hin.

168

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

und er Art. 17 EMRK zumindest auch im Rahmen der Voraussetzungen der Rechtfertigung eines Eingriffs nach Art. 10 II EMRK erwähnte,404 könnten die übrigen Formulierungen405 dahingehend gedeutet werden, dass davon ausgegangen wurde, Äußerungen, die eine nationalsozialistische Politik befürworteten, seien aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit auszunehmen. Für den konkreten Fall nahm der Gerichtshof aber an, dass die Äußerungen nicht in diese Kategorie fielen.406 Der EGMR unterschied zwischen „klar etablierten historischen Tatsachen“ („clearly established historical facts“) und Tatsachen, die selbst Gegenstand einer noch andauernden Debatte unter Historikern seien und deren Interpretation nicht abgeschlossen sei.407 Die historische Debatte, in die die Äußerungen zur Legitimität des Prozesses gegen Maréchal Pétain und zu dessen Rolle im Rahmen der französischen Kollaboration mit den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg einzuordnen seien, sei unter Historikern noch nicht beendet. Zudem enthielten die Äußerungen keine rassistischen Diskriminierungen.408 Die Beschwerdeführer hätten sich zudem eindeutig von den nationalsozialistischen Gräueltaten distanziert. Die Äußerungen im herausgegebenen Buch hätten nicht eine Politik gelobt, sondern einen Mann geehrt, um diesen zu rehabilitieren.409 Im Ergebnis kam der EGMR zu dem Schluss, die strafrechtliche Verurteilung der Beschwerdeführer sei unverhältnismäßig und in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen. Er sah keine Verletzung des Art. 10 EMRK.410 Art. 17 EMRK wendete er nicht an.411 Die Formulierungen des Gerichtshofs deuten zwar darauf hin, dass er die Leugnung klar etablierter historischer Tatsachen aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit ausklammern wollte, er nahm aber, bevor er überhaupt auf Art. 17 EMRK einging, einen Eingriff in Art. 10 EMRK an.412 Im Anschluss daran prüfte er ausdrücklich, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war. Erst im Rahmen dieser Erwägungen formulierte der EGMR, die Leugnung klar etablierter historischer Tatsachen „se verrait soustraite par l’article 17 à la protection de l’article 10“,413 um dann schließlich festzustellen, die Schlussfolgerung, der Eingriff

404

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 47, 53.

„to the category of clearly established historical facts – such as the Holocaust – whose negation or revision would be removed from the protection of Article 10 by Article 17“ (EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 47); „the justification of a pro-Nazi policy could not be allowed to enjoy the protection afforded by Article 10“ (EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 53).

405

406

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 47.

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 47; vgl. hierzu Fronza, in: Hennebel/Hochmann (Hrsg.), Genocide Denials and the Law, S. 155, 169. 407

408

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 47, 53.

409

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 53.

410

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 58.

411

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 58.

412

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 39.

413

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 47.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …169

in Art. 10 EMRK sei nicht gerechtfertigt gewesen, erlaube es dem Gerichtshof festzustellen, Art. 17 EMRK sei nicht anzuwenden gewesen.414 Vor diesem Hintergrund ist es jedenfalls zweifelhaft, ob der Gerichtshof tatsächlich implizierte, dass eine Leugnung „klar etablierter historischer Tatsachen“ außerhalb des Schutzbereichs gelegen hätte. Eine Kategorie „klar etablierter historischer Tatsachen“ ließ sich in dem Urteil erkennen. Ob der Gerichtshof allerdings annahm, solche Äußerungen seien nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit zu sehen, lässt sich, entgegen der Annahme einiger Stimmen in der Literatur,415 aus dem Urteil der Großen Kammer nicht eindeutig bestimmen, weil die Formulierungen ambivalent sind und die Argumentationsstruktur und  - abfolge mehrdeutig ist.416 Bemerkenswert ist, dass der Gerichtshof die Kategorie der „klar etablierten historischen Tatsachen“ in seinem Urteil implizit für andere historische Ereignisse neben dem Holocaust öffnet, indem er den Holocaust nur als Beispiel nennt („As such, it does not belong to the category of clearly established historical facts – such as the Holocaust – whose negation or revision would be removed from the protection of Article 10 by Article 17.“).417 Das Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs folgte auf den Bericht418 und die Zulässigkeitsentscheidung419 der EKMR. Deutlicher als der EGMR war die EKMR bereits davon ausgegangen, dass Äußerungen, auf die Art.  17 EMRK anwendbar sei, nicht in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK fielen. Sie hielt Art. 17 EMRK im konkreten Fall aber nicht für anwendbar. In ihrer Zulässigkeitsentscheidung zählte die Kommission Fälle auf, in denen Art.  17 EMRK mit der Folge einer Schutzbereichsausnahme angewendet worden war. Sie zeigte auf, warum der vorliegende Fall sich davon unterscheide und nicht davon auszugehen sei, dass die Äußerungen im konkreten Fall über Art. 17 EMRK aus dem Schutzbereich auszunehmen seien. Vorliegend sei keine Diskriminierung aufgrund der Rasse gegeben; auch fehle eine andere Aussage, die auf die Abschaffung der Rechte und Garantien der Konvention gerichtet wäre. Daher lag nach Auffassung der EKMR keine Handlung im Sinne des Art. 17 EMRK vor.420 In der Entscheidung Witzsch Nr. 1 wurde die Kategorie der „klar etablierten historischen Tatsachen“ dann erneut genannt. Bemerkenswert ist, dass der Gerichtshof 414

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 58.

Beširević, in: Benedek/Benoit-Rohmer/Karl/Nowak (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights (2012), S. 243, 249; Lobba, EJIL 26 (2015), 237, 249; Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 10 Rn. 77; Weber, Handbuch Hassrede, S. 41; Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/ Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 125.

415

“would be removed from the protection of Article 10 by Article 17”; “se verrait soustraite par l'article 17 à la protection de l'article 10“ (EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 47); siehe ebenso oben EGMR (GK), 23. 9. 1994, Jersild ./. Dänemark, Nr. 15890/89.

416

417

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 47.

418

EKMR, Bericht, 8. 4. 1997, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 24662/94.

419

EKMR, 24. 6. 1996, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich Nr. 24662/94.

EKMR, 24. 6. 1996, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich Nr. 24662/94; EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 37.

420

170

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

auch hier – in einem Fall, in dem er die Kategorie für erfüllt ansah – im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung nach Art.  10 II EMRK anführte, Art.  17 EMRK sei anzuwenden, weil eine Leugnung „klar etablierter historischer Tatsachen“ vorliege. Während die Formulierung dieselbe ist wie in der vorherigen Rechtsprechung („would be removed from the protection of Article 10 by Art. 17 EMRK“ 421) und dahingehend gedeutet werden kann, der Schutzbereich werde nicht als betroffen gedeutet, spricht der Umstand, dass der Gerichtshof einen Eingriff in Art. 10 EMRK annahm, eher dafür, dass Art.  17 EMRK im Rahmen der Eingriffsrechtfertigung angewendet wurde und die Äußerung nicht außerhalb des Schutzbereichs gesehen wurde. Die Wahl des Unzulässigkeitsgrunds der offensichtlichen Unbegründetheit nach Art. 35 III lit. a) Alt. 2 EMRK stützt die Annahme, dass hier von der Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs ausgegangen wurde, in deren Rahmen die Kategorie der „klar etablierten historischen Tatsachen“ und das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK angeführt wurden, ebenfalls. Jedenfalls wendete der Gerichtshof die Kategorie der „klar etablierten historischen Tatsachen“ in der Entscheidung Witzsch Nr. 1 nicht eindeutig auf Ebene des Schutzbereichs an. Im Fall Garaudy griff der Gerichtshof die Kategorie der „klar etablierten historischen Tatsachen“ in Bezug auf die Leugnung des Holocaust auf und er stellte im Gegensatz zur vorangegangenen Rechtsprechung deren Rechtsfolge klar. Gemäß Art.  17 EMRK könne sich der Beschwerdeführer nicht auf die Bestimmung des Art.  10 EMRK berufen, sofern es um die Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit gehe. Der Gerichtshof erklärte die Beschwerde sodann wegen Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae gemäß Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK für unzulässig. Er nahm an, die Äußerung liege nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit.422 Es gebe keinen Zweifel, so der Gerichtshof, dass, wie im Fall jeder anderen Äußerung, die gegen die Werte, die der Konvention zugrunde liegen, verstoße, eine Rechtfertigung einer nationalsozialistischen Politik den Schutz des Art. 10 EMRK nicht genießen könne. Es existiere eine Kategorie „klar etablierter historischer Tatsachen“  – zu denen der Holocaust gehöre  – deren Leugnung oder Revision über Art. 17 EMRK vom Schutz des Art. 10 EMRK ausgeschlossen werde. Der Gerichtshof zitierte im Wesentlichen wörtlich die Begründung aus der Entscheidung Lehideux und Isorni, in der die genannte Kategorie entwickelt wurde, und wendete eben diese an. Der Beschwerdeführer Garaudy stelle Realität, Umfang und Schwere historischer Ereignisse in Frage, die nicht Gegenstand aktueller historischer Debatten seien, sondern klar etabliert seien. Er beschränke sich nicht auf eine Kritik an Politik und Ideologie der israelischen Führung. Seine Aussagen enthielten auch keine wissenschaftliche Darstellung negationistischer Thesen. Der Beschwerdeführer mache sich die Aussagen zu eigen und stelle die Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes gegenüber der jüdischen Bevölkerung systematisch in Frage. Die Leugnung „klar etablierter historischer Tatsachen“ stelle in keiner Weise einen Beitrag Der EGMR verweist an dieser Stelle ausdrücklich auf EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 47.

421

422 EGMR, 24. 6. 2003, Garaudy ./. Frankreich, Nr. 65831/01; vgl. hierzu Lobba, EJIL 26 (2015), 237, 249.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …171

zu einer historischen Recherche auf der Suche nach der historischen Wahrheit dar. Motiv des Beschwerdeführers sei es, das nationalsozialistische Regime zu rehabilitieren und in der Konsequenz die Opfer selbst der Geschichtsfälschung zu beschuldigen. Hierin liege eine der akutesten Formen der rassistischen Diffamierung gegen Juden und der Aufstachelung zu Hass gegen diese Gruppe. Die Leugnung oder Revision solcher Tatsachen stelle den Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus in Frage und störe die öffentliche Ordnung schwer. In ihr liege ein Angriff auf die Rechte anderer, sie sei unvereinbar mit Demokratie und Menschenrechten und die Äußernden verfolgten Motive, die Art.  17 EMRK verbieten wolle. Die Ziele des Beschwerdeführers stünden den fundamentalen Werten der Konvention entgegen, so zum Beispiel Gerechtigkeit und Frieden. Der Beschwerdeführer versuche, Art. 10 EMRK entgegen seiner Bestimmung in Anspruch zu nehmen, indem er seine Meinungsfreiheit zu Zwecken verwende, die der Konvention zuwider liefen. Solche Ziele führten zu einer Zerstörung der Rechte und Freiheiten der Konvention. Der Beschwerdeführer könne sich, soweit es seine Aussagen zur Leugnung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit betreffe, gemäß Art.  17 EMRK nicht auf die Bestimmung des Art. 10 EMRK berufen. Aus der Abfolge der Argumente in den Erwägungen des EGMR in Kombination mit dem Ergebnis der Unvereinbarkeit ratione materiae mit der Konvention wird deutlich, dass der EGMR davon ausging, die Äußerungen lägen in Folge der Anwendung des Art. 17 EMRK nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantie. Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist zudem, dass der EGMR von Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Allgemeinen sprach, obwohl es konkret nur um die Leugnung des Holocaust ging. Zumindest die Formulierung des Gerichtshofs abstrahierte vom konkret in Rede stehenden historischen Verbrechen des Holocaust und wählte den Begriff des Verbrechens gegen die Menschlichkeit. In der Entscheidung Witzsch Nr. 2 des Gerichtshofs ging der EGMR gleichermaßen davon aus, die Äußerung liege gemäß Art. 17 EMRK wie im Fall Garaudy nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK423 Der EGMR stellte fest, der Beschwerdeführer leugne weder den Holocaust als solchen noch die Existenz von Gaskammern. Dennoch streite er einen gleichermaßen bedeutenden und etablierten Umstand des Holocaust ab, indem er es als falsch und historisch unhaltbar ansehe, dass Hitler und die NSDAP die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung geplant, initiiert und organisiert hätten. Die Aussage, die Darstellungen des Historikers seien Teil der Kriegs- und Nachkriegsgräuelpropaganda in Kombination mit der Leugnung der Verantwortlichkeit Hitlers und der Nationalsozialisten für die Vernichtung der Juden zeigten die Verachtung des Beschwerdeführers für die Opfer des Holocaust. Die Ansichten des Beschwerdeführers liefen Text und Geist der EMRK zuwider. Daher könne er sich gemäß Art. 17 EMRK nicht auf die Bestimmung des Art. 10 EMRK berufen und die Beschwerde sei wegen Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae gemäß Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK unzulässig.424

423

EGMR, 13. 12. 2005 Witzsch Nr. 2 ./. Deutschland, Nr. 7485/03.

424

EGMR, 13. 12. 2005 Witzsch Nr. 2 ./. Deutschland, Nr. 7485/03.

172

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Diese Ausführungen erweitern den Anwendungsbereich der Kategorie „klar etablierter historischer Tatsachen“. Historisch etablierte Umstände im Sinne der entwickelten Kategorie sind demnach über die Verbrechen selbst hinaus auch deren konkrete Bedingungen wie Verantwortlichkeiten für die Durchführung, soweit sie vergleichbar in Bedeutung und Zweifellosigkeit sind. Im Ergebnis fand Art.  17 EMRK Anwendung und führte dazu, dass die Leugnung des Holocaust nicht in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK einbezogen wurde. Im Fall Chauvy folgte der EGMR wiederum der Vorgehensweise der Großen Kammer in der Entscheidung Lehideux und Isorni. Der Gerichtshof nannte die Kategorie der Leugnung „klar etablierter historischer Tatsachen“ und die Bestimmung des Art. 17 EMRK, er subsumierte die Umstände des Einzelfalls (revisionistische Aussagen über die Rolle Klaus Barbies in Frankreich am Ende des Zweiten Weltkrieges und die Résistance) jedoch nicht darunter.425 Der Ausschluss der Anwendung der Kategorie erfolgt jedoch auch hier im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung eines zuvor angenommenen Eingriffs mit der gleichen ambivalenten Formulierung, die auch die Große Kammer im Fall Lehideux und Isorni gebraucht hatte. Auch dem Urteil Chauvy kann kein zwingendes Argument für die Annahme entnommen werden, Art. 17 EMRK führe dazu, dass der Schutzbereich des Art. 10 EMRK nicht betroffen sei, wenn eine Leugnung „klar etablierter historischer Tatsachen“ vorliege. Gleiches gilt für das Urteil Fatullayev.426 Aus den Ausführungen des EGMR in diesem Fall kann e contrario geschlossen werden, der EGMR gehe nur dann von einer Anwendung des Art. 17 EMRK aus, wenn es sich um Aussagen handelt, die eindeutig nicht mehr Teil einer noch offenen historischen Debatte sind. Die Äußerungen des Beschwerdeführers betrafen in diesem Fall das Massaker von Chodschali, welches sich im Zuge des Konflikts zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Bergkarabach im Kaukasus im Jahr 1992 zugetragen hatte. Dem Beschwerdeführer wurde vorgeworfen, er habe ohne Tatsachengrundlage aserbaidschanische Kämpfer beschuldigt, einige Opfer getötet und deren Körper verstümmelt zu haben.427 Der Gerichtshof führte aus, der Beschwerdeführer leugne die Existenz der Massentötungen nicht. Er unterstütze lediglich eine der widerstreitenden Ansichten in der Debatte um die Existenz eines Fluchtkorridors für Flüchtlinge und bringe seine Auffassung zum Ausdruck, aserbaidschanische Kämpfer trügen möglicherweise einen Teil der Verantwortung für die Massaker. Darin liege weder eine Rechtfertigung für die Verbrechen noch eine Gutheißung. Die Äußerungen des Beschwerdeführers verletzten weder den Kern der Werte der Konvention noch seien sie darauf gerichtet, Rechte und Freiheiten der EMRK zu zerstören. Sämtliche Aussagen des Beschwerdeführers seien Gegenstand einer aktuellen Debatte.428 Der Gerichtshof brachte zum Ausdruck, die Suche nach historischer Wahrheit sei integraler Bestandteil der Meinungsäußerungsfreiheit. Er sehe es nicht als seine Aufgabe, über

425

EGMR, 29. 6. 2004, Chauvy ./. Frankreich, Nr. 64915/01, Z. 69.

426

EGMR, 22. 4. 2010, Fatullayev ./. Aserbaidschan, Nr. 40984/07, Z. 87.

427

EGMR, 22. 4. 2010, Fatullayev ./. Aserbaidschan, Nr. 40984/07, Z. 85.

428

EGMR, 22. 4. 2010, Fatullayev ./. Aserbaidschan, Nr. 40984/07, Z. 81.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …173

historische Fragen zu richten, die Gegenstand einer andauernden Debatte seien. So sei hier festzustellen, dass zahlreiche Fragen offen seien und einen Gegenstand andauernder Debatten unter Historikern darstellten. In einer demokratischen Gesellschaft sei es wesentlich, dass eine Diskussion über Ereignisse in der Vergangenheit eines Staats offen geführt werden könne.429 Die Äußerung des Beschwerdeführers könne nicht über eine Anwendung des Art. 17 EMRK aus dem Schutzbereich des Art. 10 EMRK ausgenommen werden.430 Die Argumentation des EGMR stützt die These, die „Missbrauchsklausel“ werde in der Rechtsprechung immer, aber nur dann angewendet, wenn es sich um eine Leugnung „klar etablierter historischer Tatsachen“ handle, über die eine historische Debatte ohne Zweifel nicht mehr geführt werde und nicht mehr geführt zu werden brauche. Die Begründung des EGMR, warum im vorliegenden Fall eine Einordnung in diese Kategorie nicht vertretbar sei, lässt e contrario erkennen, unter welchen Bedingungen eine solche nur gegeben sein kann. Der EGMR nahm eine Verletzung der Meinungsfreiheit an, wenn eine Äußerung verboten wurde, die Teil einer noch laufenden historischen Diskussion war, in der nachweisbar noch offene Fragen existierten und in deren Rahmen sich die Äußerung dann auch bewegte. Der Anwendungsbereich der Kategorie der „klar etablierten historischen Tatsachen“ erhielt durch diese ausführliche Begründung, warum die Debatte als andauernd betrachtet wurde, klarere Konturen. Allerdings kann auch aus dem Urteil Fatullayev nicht eindeutig entnommen werden, ob eine Leugnung „klar etablierter historischer Tatsachen“ im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit gesehen wurde oder nicht. Die Kategorie der „klar etablierten historischen Tatsachen“ wurde auch im Urteil Giniewski431 genannt. In diesem Fall ging es um einen journalistischen Artikel, der die christliche und insbesondere die katholische Glaubensgemeinschaft diffamierte. Der Gerichtshof argumentierte, es handle sich bei den Äußerungen des Beschwerdeführers gerade nicht um die Leugnung „klar etablierter historischer Tatsachen“. Der EGMR schien von einer gesonderten Behandlung dieser Äußerungen auszugehen. Wie diese Behandlung auszusehen hat, kann aus den Formulierungen nicht gewonnen werden. Die Große Kammer lehnte es im Fall Perinçek ab, Art. 17 EMRK anzuwenden oder die Äußerungen aus dem Schutzbereich auszunehmen.432 Darüber hinaus ließ das Urteil der Großen Kammer keine weitergehende Auseinandersetzung mit der Kategorie der „klar etablierten historischen Tatsachen“ aus der vorangegangenen Rechtsprechung erkennen.433 429

EGMR, 22. 4. 2010, Fatullayev ./. Aserbaidschan, Nr. 40984/07, Z. 87.

EGMR, 22. 4. 2010, Fatullayev ./. Aserbaidschan, Nr. 40984/07, Z. 81 (Der EGMR nutzt die gleiche ambivalente Formulierung wie in zahlreichen anderen Urteilen, die oben diskutiert wurde: „be removed from the protection of Article 10 by virtue of Article 17 of the Convention“).

430

431 EGMR, 31. 1. 2006, Giniewski ./. Frankreich, Nr. 64016/00, Z. 52; ebenso EGMR, 3. 10. 2006, Palusinski ./. Polen, Nr. 62414/00, Z. 8 f. 432

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 114 f.

Das Sondervotum der Richterin Nussberger zu EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08 enthält eine Auseinandersetzung mit den Unterschieden zwischen der vorliegenden Konstellation und der Leugnung „klar etablierter historischer Tatsachen“, die die vorangegangene Rechtsprechung in Bezug nimmt; vgl. hierzu auch Vincent, Revue de la Faculté de droit de l’Université de Liège 2016, 343, 346 f. 433

174

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

In manchen Urteilen, die die Kategorie der „klar etablierten historischen Tatsachen“ nicht explizit referieren, kann die Argumentation mit eben dieser dennoch erkannt werden. Im Urteil Orban argumentierte der EGMR im Rahmen der Prüfung des Art. 35 III lit a) Alt. 1 i. V. m. Art. 17 EMRK mit dem historischen Interesse an dem gegenständlichen Werk und begründete damit, warum das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK nicht anzuwenden sei.434 Darin liegt ein Indiz, dass der EGMR davon ausging, dass Leugnungen „klar etablierter historischer Tatsachen“, an deren Aufklärung kein historisches Interesse mehr besteht, im Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK liegen und nicht in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit fallen. Im Fall Gollnisch, in dem der EGMR die Forderung des Beschwerdeführers nach einer fortgeführten Diskussion zur Existenz von Gaskammern unter Historikern zu prüfen hatte, hielt er es ausdrücklich für nicht notwendig, Art. 17 EMRK zu prüfen. Da Zweifel am Abschluss der historischen Diskussion über die Existenz einer Tatsache aber identisch zu Zweifeln an der Existenz eben dieser Tatsache sind, wäre es angezeigt gewesen, die Überlegungen zur Leugnung „klar etablierter historischer Tatsachen“ in diesem Fall zugrundezulegen und die Äußerungen aus dem Schutzbereich auszuschließen. Da der Gerichtshof hier aber damit argumentierte, dass eine Prüfung von Art. 17 EMRK wegen ohnehin gegebener Rechtfertigung über Art. 10 II EMRK nicht notwendig sei, kann zwar keine Bestätigung der Kategorie, aber umgekehrt auch keine Ablehnung bzw. Aufgabe dieser in der Entscheidung gesehen werden. In einer Gesamtbetrachtung der Entscheidungen, die mit der Kategorie „klar etablierter historischer Tatsachen“ operieren, gelangt man zunächst zu folgendem Ergebnis: Wenn die Kategorie der „klar etablierten historischen Tatsachen“ nach Auffassung des EGMR einschlägig war, folgerte er daraus, die Äußerung liege als Folge der Anwendung des Art. 17 EMRK nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK. In den Fällen hingegen, in denen die Kategorie zwar genannt, letztlich aber nicht angewendet wurde, wird sie im Rahmen der Rechtfertigung eines Eingriffs in die Meinungsfreiheit genannt und abgelehnt. Eine Ausnahme stellte das Urteil Witzsch Nr. 1 dar, in dem nach Auffassung des EGMR die Kategorie einschlägig war, er sie aber als Argument im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung gebrauchte. Sieht man in dieser Entscheidung aber einen Ausreißer, so muss man zu dem Schluss kommen, dass eine Leugnung „klar etablierter historischer Tatsachen“ in der Rechtsprechung des Gerichtshofs regelmäßig außerhalb des Schutzbereichs des Art.  10 EMRK gesehen wurde und dies mit der Anwendung des Art. 17 EMRK begründet wurde. Ein zusätzlicher Aspekt bedarf der Klarstellung. Außerhalb der revisionistischen Äußerungen existieren ebenso Fälle, in denen der Gerichtshof davon ausging, dass der Schutzbereich des Art. 10 EMRK nicht einschlägig war, weil Art. 17 EMRK für anwendbar gehalten wurde.435 Die Annahme, dies sei nur in Fällen der Leugnung unbestreitbarer historischer Tatsachen der Fall gewesen, trifft nicht zu.436 434

EGMR, 15. 1. 2009, Orban ./. Frankreich, Nr. 20985/05, Z. 35.

Vgl. etwa EGMR, 20. 2. 2007, Pavel Ivanov ./. Russland, Nr. 35222/04 und EGMR, 16. 11. 2004, Norwood ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 23131/03. 435

436

So aber Belavusau, Freedom of Speech, S. 67; Keane, NQHR 2007, 641, 643 ff.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …175

Der EGMR sah „klar etablierte historische Tatsachen“ in beschriebenen Sinn bisher nur im Holocaust.437 Allerdings schränkte er die Kategorie nie ausdrücklich auf dieses historische Verbrechen ein. Er argumentierte in den anderen Fällen regelmäßig, die Debatte über die jeweils geäußerten Behauptungen sei noch nicht abgeschlossen. Sprachlich ließen die Erwägungen des Gerichtshofs Raum, auch andere historische Tatsachen einzubeziehen.438 Er öffnete die Kategorie, indem er den Holocaust als Beispiel und nicht als einzigen Anwendungsfall für „klar etablierte historische Tatsachen“ nannte.439 Außerdem abstrahierte er vom Verbrechen der Shoa und sprach allgemein von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die geleugnet werden.440 Die Leugnung konnte sich dabei in der bisherigen Rechtsprechung auf die Existenz der Verbrechen, aber auch auf deren konkrete Bedingungen wie die Verantwortlichkeiten und den Umfang oder das Ausmaß beziehen.441 Nach alldem ist die These zu bestätigen, dass der EGMR in Fällen, in denen er – nach eigener Einordnung – eine Leugnung einer „klar etablierten historischen Tatsache“ zu beurteilen hatte, davon ausging, diese falle in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK und liege infolgedessen außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantie des Art. 10 EMRK. 2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts spielte die Wahrheit einer Äußerung auf Ebene des Schutzbereichs ausdrücklich und in unterschiedlichen Kontexten eine Rolle.442 Das Bundesverfassungsgericht vertrat in allen bisherigen Entscheidungen die Auffassung, Gegenstand des grundrechtlichen Schutzes aus Art. 5 I 1 GG seien Meinungen. Auf diese beziehe sich die Freiheit der Äußerung und Verbreitung. Meinungen seien durch die „subjektive Beziehung des Einzelnen zum Inhalt seiner Aussage“ gekennzeichnet und durch Elemente der Stellungnahme und des Dafürhaltens charakterisiert. Insofern ließen sie sich auch nicht als wahr oder unwahr qualifizieren.443 Im Gegensatz dazu nahm das Bundesverfassungsgericht für Tatsachenbehauptungen stets eine differenzierte Sichtweise ein. Tatsachenbehauptungen seien keine Meinungsäußerungen im strengen Sinn.444 Im Unterschied zu diesen stehe bei ihnen die „objektive Beziehung zwischen der Äußerung und der Realität“ im Vordergrund. Insofern sei auch eine Überprüfung ihres Wahrheitsgehalts möglich. Tatsachenbehauptungen fielen deswegen aber nicht von vornherein aus dem Schutzbereich von Art. 5 I 1 GG heraus. Da sich Meinungen 437

Vgl. Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 125.

438

Vgl. Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 114.

439

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045, Z. 47.

440

Vgl. Lobba, EJIL 26 (2015), 237, 249.

441

Flauss, RTDH 2006, 5, 18; Hong, ZaöRV 2010, 73, 95.

442

BVerfG, 1 BvR 824/90, Z. 12.

443

BVerfGE 90, 241, 247; BVerfGE 124, 300, 320.

444

Vgl. hierzu auch BVerfGE 93, 266, 289 f.

176

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

regelmäßig auf tatsächliche Annahmen stützten oder zu tatsächlichen Verhältnissen Stellung nähmen, seien Tatsachenbehauptungen insoweit durch die Meinungsfreiheit geschützt, als sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen seien,445 welche Art. 5 I 1 GG garantiere.446 Daher ende der Schutz einer Tatsachenbehauptung erst, wenn sie „zu der verfassungsrechtlich vorausgesetzten Meinungsbildung nichts beitragen“ könne.447 Unter diesem Gesichtspunkt sei unwahre Information kein schützenswertes Gut.448 Die restriktive Auffassung des Gerichts kam vor allem bei unwahren Tatsachenbehauptungen zum Tragen. Das Bundesverfassungsgericht ging deswegen regelmäßig davon aus, dass die „bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung“ ebenso wie jene, deren „Unwahrheit im Zeitpunkt der Äußerung unzweifelhaft feststeht“, nicht vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst werde.449 Alle übrigen Tatsachenbehauptungen mit Meinungsbezug seien in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit einzubeziehen. Der Schutzbereich sei auch betroffen, wenn sich die Tatsachenbehauptung später als unwahr herausstelle.450 Die Wahrheit der Äußerung war in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts somit unter Umständen Kriterium des Schutzbereichs.451 Die Anforderungen an die Wahrheitspflicht schränkte das Gericht jedoch ein, um zu vermeiden, dass die Funktion der Meinungsfreiheit leide und zulässige Äußerungen aus Angst vor Sanktionen unterlassen würden.452 Die Sorgfaltspflicht habe dort ihre Grenzen, wo sich die „Richtigkeit von Tatsachenbehauptungen, deren Wahrheitsgehalt im Zeitpunkt der Äußerung noch ungewiss ist, nicht binnen kürzester Zeit aufklären“ lasse.453 Komplexe Nachforschungen seien für die Frage einer Einschränkung des Schutzbereichs nicht zu verlangen.454 Wo die Trennung zwischen Meinungsäußerungen und Tatsachenbehauptungen nicht möglich sei, sei die Äußerung insgesamt als Meinungsäußerung anzusehen und in den Schutzbereich einzubeziehen.455 Im Zweifel sei somit eine Meinungsäußerung anzunehmen, die stets in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 I 1 Alt. 1 GG falle.456

445

BVerfGE 61, 1, 8; BVerfGE 90, 241, 247.

446

BVerfGE 90, 241, 247.

447

BVerfG, 1 BvR 461/08, Z. 18; BVerfG, 1 BvR 824/90, Z. 12.

448

BVerfG, 1 BvR 23/94; BVerfGE 90, 241, 247; BVerfGE 54, 208, 219.

449

Vgl. statt vieler BVerfG, 1 BvR 917/09, Z. 18; BVerfGE 85, 1, 15.

450

BVerfGE 99, 185, 197.

451

BVerfG, 1 BvR 824/90, Z. 12.

452

BVerfGE 90, 241, 248.

453

BVerfGE 90, 241, 254; vgl. Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD IV/1, § 108, S. 1473 f.

454

BVerfGE 90, 241, 254.

455

BVerfGE 90, 241, 248; BVerfGE 61, 1, 9; BVerfGE 85, 1, 15; BVerfGE 90, 1, 15.

456

Manssen, Staatsrecht II, Rn. 346.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …177

So nahm das Bundesverfassungsgericht an, die Leugnung des Gesamtgeschehens des Holocaust sei als unwahre Tatsachenbehauptung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 I 1 GG herauszunehmen, wenn und soweit die Tatsachenbehauptung nicht untrennbar mit einer wertenden Äußerung einhergehe.457 Eine solche Tatsachenbehauptung, deren Unwahrheit bereits im Zeitpunkt der Äußerung feststand, sah das Bundesverfassungsgericht in der sog. Auschwitzlüge. In einem vom Bundesverfassungsgericht zu entscheidenden Fall hatte die NPD den bekannten Holocaustleugner David Irving zu einer Veranstaltung eingeladen und die Veranstaltung war von den zuständigen Behörden nur mit der Auflage genehmigt worden, jede Äußerung der Leugnung des Holocaust von Seiten des Redners durch die Veranstalterin zu unterbinden.458 Die Tatsachenbehauptung, es habe im Nationalsozialismus keine Judenverfolgung gegeben, sei „nach ungezählten Augenberichten und Dokumenten, den Feststellungen der Gerichte in zahlreichen Strafverfahren und den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft“ nach zu urteilen „erwiesen unwahr“.459 Diese Aussage der reinen Verneinung der historischen Existenz der Verbrechen sah das Gericht außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit.460 Das Gericht präzisierte dies mit der Erläuterung des wesentlichen Unterschieds zwischen der Leugnung der Judenverfolgung im Dritten Reich und der Leugnung der deutschen Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Bei Aussagen zur Schuld und Verantwortlichkeit für historische Ereignisse handle es sich stets um schwierige Beurteilungen, die nicht auf reine Tatsachenbehauptungen reduziert werden könnten, während die Leugnung eines Ereignisses selbst regelmäßig den Charakter einer Tatsachenbehauptung habe.461 Allerdings sah das Bundesverfassungsgericht im konkreten Fall eine untrennbare Verbindung mit Werturteilen, da die Äußerung im Zusammenhang mit dem Thema der Versammlung betrachtet werden müsse, welches von der „Erpressbarkeit“ der deutschen Politik durch die Vergangenheit handelte.462 Daher nahm es im Ergebnis für den konkreten Fall an, die Äußerung liege im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit. Eine untrennbare Verbindung zwischen einer Leugnung des Holocaust und anderen Meinungsäußerungen sah das Gericht auch in einem Fall, der zwei Aufsätze betraf.463 Der Beschwerdeführer hatte Redemanuskripte sowie Kopien mehrerer Aufsätze des „Kampfbundes gegen Unterdrückung der Wahrheit in Deutschland“ mit den Titeln „Die Geschichtslüge des angeblichen Überfalls auf Polen im

BVerfGE 90, 241, 248; BVerfG, 1 BvR 824/90, Z. 12 (st. Rspr.); siehe auch BGH, NStZ 1994, 140; BGHZ 75, 160, 161; BVerwG, NVwZ 2010, 446, 448; vgl. hierzu Schulze-Fielitz, JZ 1994, 902, 903.

457

458

BVerfGE 90, 241, 242.

459

BVerfGE 90, 241, 249.

460

Vgl. hierzu Rühl, Tatsachen, S. 251 f.

461

BVerfGE 90, 241, 250.

462

BVerfGE 90, 241, 250.

463

BVerfG, 1 BvR 461/08.

178

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Jahre 1939“ und „Über die verantwortlichen Staatsmänner, die den Zweiten Weltkrieg verursachten und die ihn zu verhindern suchten“ verteilt. Im erstgenannten Aufsatz wurde unter anderem im Zusammenhang mit dem Holocaust behauptet, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass es keine Gaskammern für Menschen gegeben habe. Im zweitgenannten Aufsatz wurde der Holocaust als „Zwecklüge“ bezeichnet. Von dem ersten Aufsatz mit dem Titel „Die Geschichtslüge des angeblichen Überfalls auf Polen im Jahre 1939“ nahm das Bundesverfassungsgericht an, dieser bestreite „primär die Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und stelle insofern die Behauptung auf, dass dies eine Lüge der Nachkriegsgeneration“ sei.464 Die Leugnung des Holocaust werde lediglich als „Teil eines einleitenden Begründungsversuchs, warum die Nachkriegsgeneration Deutschland die alleinige Kriegsschuld zugesprochen“ habe, gebraucht. Die Leugnungen stünden allesamt zu den Annahmen der Ablehnung der Kriegsschuld Deutschlands und der diesbezüglichen „Lügen der Nachkriegsgeneration“ in unmittelbarem Zusammenhang. Da diese Thesen ihrerseits aber als wertende Äußerungen vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst seien, sei ein Ausschluss der untrennbar damit verbundenen Leugnungen des Holocaust aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit abzulehnen. In einer weiteren Sachverhaltskonstellation bejahte das Bundesverfassungsgericht die Betroffenheit des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit.465 In diesem Fall ging es um die Äußerung, dass weder das NS-Regime noch Hitler Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs treffe. Verharmlosungen und Billigungen des Holocaust lägen  – so das Bundesverfassungsgericht  – im Schutzbereich der Meinungsfreiheit, weil es sich dabei nach Ansicht des Gerichts nicht um bloße Tatsachenbehauptungen handle.466 Fragen dieser Art seien einer Beantwortung durch Tatsachenbehauptungen nicht zugänglich, sondern erforderten eine wertende Betrachtung. Daher seien sie in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit einzubeziehen.467 Allerdings nahm das Bundesverfassungsgericht in einem Fall, in dem der Redner bezweifelt hatte, dass die Tötung und das spurlose Verschwindenlassen von Millionen von Menschen in den Konzentrationslagern möglich gewesen sein könne, an, die Äußerung liege nicht im Schutzbereich des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG.468 Die „einseitige Gewichtung und Bewertung der Zeugen- und Sachverständigenaussagen, die Hervorhebung der den Holocaust leugnenden Stellungnahmen, die abwertende Beschreibung der Beweismittel der Anklage“ und „die grafische Hervorhebung jener Schlussfolgerungen, die eine Leugnung der systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung beinhalteten“, stellten nach Ansicht des Gerichts Anhaltspunkte

464 Hierzu und zum Folgenden BVerfG, 1 BvR 461/08, Z. 22; kritisch Schemmer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 6.1. 465

BVerfGE 90, 1.

466

Hierzu und zum Folgenden BVerfGE 90, 1, 15 f.; vgl. hierzu Fohrbeck, Wunsiedel, S. 93.

467

Vgl. hierzu auch Huster, NJW 1996, 487.

468

BVerfG, 1 BvR 824/90, Z. 16.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …179

für die Annahme dar, dass es dem Äußernden vordergründig um die Darstellung des Prozesses und eines von der gesicherten historischen Forschung abweichenden Geschichtsverständnisses, „tatsächlich aber um die Leugnung des systematischen Mordes an der jüdischen Bevölkerung“ im „Dritten Reich“ gegangen sei.469 Im Ergebnis nahm das Bundesverfassungsgericht im Bereich der revisionistischen Äußerungen regelmäßig an, direkte Leugnungen des Holocaust sowie verdeckte Äußerungen, die letztlich aber ebenfalls als Leugnungen des systematischen Mords an der jüdischen Bevölkerung interpretiert werden könnten, seien aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgenommen.470 Wenn und soweit es um Schuldfragen, Verantwortlichkeitszweifel und die Rolle einzelner Personen ging, nahm das Bundesverfassungsgericht an, der Schutzbereich sei betroffen. Auch die aus einer Leugnung des Holocaust abgeleiteten politischen Folgerungen für die Gegenwart nahm das Bundesverfassungsgericht nicht aus dem Schutzbereich heraus.471 Damit ging das Bundesverfassungsgericht in allen Entscheidungen davon aus, für die Grenzen des Schutzbereichs komme es darauf an, ob es unter seriösen Historikern noch irgendeinen ernst zu nehmenden Zweifel an der Authentizität des mit der fraglichen Äußerung bestrittenen oder in Frage gestellten geschichtlichen Sachverhalts geben könne.472 Sobald wertende Elemente in einer Äußerung enthalten und/oder untrennbar mit – auch erwiesen oder bewusst – unwahren Tatsachenbehauptungen verbunden seien, sei die Äußerung in den Schutzbereich einzubeziehen.473

VI. Die „Schädlichkeit“ der Äußerung in der Rechtsprechung des EGMR Ein weiteres potentielles Kriterium des Ausschlusses demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit könnte in dem Umstand liegen, dass die Äußerung besonders schwerwiegende Angriffe auf demokratische Mindeststandards enthält. Letztlich läuft dies auf ein Kriterium des Grades der Radikalität bzw. des Ausmaßes der Ablehnung grundlegender demokratischer Werte und damit des Grades der „Schädlichkeit“ der Äußerung für die demokratische Gesellschaft hinaus. Da das Kriterium nur in der Rechtsprechung des EGMR eine Rolle spielte und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bisher nicht erkennen ließ, dass die „Schädlichkeit“ der Äußerung zur Bestimmung der Grenzen des Schutzbereichs herangezogen würde, bleibt letztgenannte im Folgenden außen vor.

469

BVerfG, 1 BvR 824/90, Z. 16.

470

A. A. Hochmann, Le négationnisme, S. 131.

BVerfGE 90, 241, 249 ff.; vgl. hierzu Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 125. 471

472

Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 125.

473

BVerfGE 90, 241, 250.

180

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Für die Rechtsprechung des EGMR wird teilweise vertreten, nur besonders schädliche Äußerungen fielen aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit heraus.474 Die Heranziehung des Art. 17 EMRK mit der Folge, dass die Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantie liegen, würde besonders gravierenden Fällen vorbehalten bleiben.475 Einen konkreten Hinweis auf eine solche Vorgehensweise enthielt das Urteil Soulas u. a.476 Der Gerichtshof zog Art. 17 EMRK in dieser Entscheidung im Anschluss an die Prüfung des Art. 10 II EMRK in Betracht. Für die konkrete Konstellation lehnte er die Anwendbarkeit aber ab. Die strittigen Passagen seien nicht „gravierend“ genug, um die Anwendung des Art. 17 EMRK zu rechtfertigen.477 Die beklagte Regierung hatte Art. 17 EMRK geltend gemacht. Im Fall Paksas gegen Litauen,478 der bezüglich seines Sachverhaltes außerhalb des hier betrachteten Untersuchungsgegenstandes lag, aber dennoch Indizien zum Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK lieferte, äußerte der EGMR ausdrücklich, Art. 17 EMRK sei nur in Ausnahme- und Extremfällen anwendbar.479 Auch andere Entscheidungen enthielten Formulierungen, die dahingehend gedeutet werden können, dass in der Rechtsprechung des Gerichtshofs regelmäßig ein spezifischer Grad der Freiheitsfeindlichkeit gefordert wurde, um die Wirkung des Art. 17 EMRK auf Ebene des Schutzbereichs auszulösen.480 Abgesehen von der Entscheidung Soulas u. a. enthielt die Rechtsprechung des EGMR zu „Hassrede“ jedoch keine Anhaltspunkte, die es tatsächlich möglich machen würden, ein Muster nachzuweisen, nach dem der Gerichtshof eine bestimmte „Schädlichkeit“ für die Anwendbarkeit des Art. 17 EMRK gefordert hätte.481

474 Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 10 Rn. 79; Hochmann, Le négationnisme, S. 283; Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 31, 42; Tretter, in: FS Berka, S. 237 (261); Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 113; Villiger, in: FS Bratza, S. 321, 328. 475 Vgl. hierzu Walter, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, § 12 Rn. 54; Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 6; Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 6; Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 854; Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht, Rn. 533; Villiger, in: FS Bratza, S. 321, 328 f.; vgl. Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 215; Lobba, EJIL 26 (2015), 237, 247; Duarte-Herrera, juridikum 2015, 309, 317 f.; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183 (198); Hong, ZaöRV 2010, 73, 103; Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 148; Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 32. 476

EGMR, 10. 7. 2008, Soulas u. a. ./. Frankreich, Nr. 15948/03; ebenso Hong, ZaöRV 2010, 73, 103.

477

EGMR, 10. 7. 2008, Soulas u. a. ./. Frankreich, Nr. 15948/03, Z. 48.

478

EGMR (GK), 6. 1. 2011, Paksas ./. Litauen, Nr. 34932/04.

EGMR (GK), 6. 1. 2011, Paksas ./. Litauen, Nr. 34932/04, Z. 87; vgl. hierzu Buyse, in: Brems/ Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 198.

479

EGMR, 2. 10. 2008, Leroy ./. Frankreich, Nr. 36109/03, Z. 27; EGMR, 15. 1. 2009, Orban ./. Frankreich, Nr. 20985/05, Z. 34 ff.; EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14, Z. 31 („hypthèses extrêmes“).

480

481 Ebenso Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17  MRK Rn.  6; Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 113.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …181

Gegen eine solche Annahme spricht das Urteil Gündüz. Der Beschwerdeführer behauptete, ein Demokrat sei ein Mensch ohne Religion, der Kemalismus selbst stelle eine Religion dar und im Islam sei eine Trennung zwischen staatlicher Verwaltung und dem Glauben des Einzelnen nicht möglich. Darüber hinaus reagierte der Beschwerdeführer zustimmend auf die Behauptung, seine Gruppe wolle die Demokratie zerstören und durch ein auf der Scharia basierendes Regime ersetzen. Die türkische Regierung wies auf den Umstand hin, dass der Beschwerdeführer sich auf die Vorteile jener Demokratie berufen wolle, deren Ablehnung er ausgedrückt hatte. Der EGMR griff nicht auf Art.  17 EMRK zurück. Vielmehr bezog er sich auf die allgemeinen Grundsätze zu Art. 10 EMRK und verwies unter anderem darauf, dass die Debatte den Eindruck mache, die Öffentlichkeit über eine Angelegenheit von großem Interesse für die türkische Gesellschaft informieren zu wollen. Der EGMR lehnte in der Folge die Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft ab und er stellte eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest. Obwohl die Erwägungen des Gerichtshofs erkennen lassen, dass der Gerichtshof die Äußerungen für besonders gravierend hielt, prüfte er Art. 17 EMRK nicht.482 Selbst wenn man dennoch davon ausgeht, die „Schädlichkeit“ der Äußerung spiele eine Rolle, lassen sich der Rechtsprechung im Bereich der „Hassrede“ keine Anhaltspunkte zur genaueren Bestimmung dieser „Schädlichkeit“, bei der eine Äußerung nicht mehr im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit läge, entnehmen. Das Kriterium bleibt insoweit konturlos. Auch die Rechtsprechung zu revisionistischen Äußerungen ist in diesem Zusammenhang uneindeutig und uneinheitlich. Nur in einzelnen Entscheidungen sind Indizien für ein Kriterium der „Schädlichkeit“ der Äußerung auf Ebene des Schutzbereichs zu finden. Die Ausführungen des Gerichtshofs in der Entscheidung Garaudy483 legen die Annahme eines solchen Kriteriums nahe, da dort davon ausgegangen wurde, Handlungen und Äußerungen einer bestimmten „Schädlichkeit“, beispielsweise die Leugnung des Holocaust, stünden von vorneherein in einem Widerspruch zur EMRK. Ähnlich argumentierte der EGMR im Fall Lehideux und Isorni,484 in dem die Äußerung aber gerade nicht besonders „schädlich“ war. Das Kriterium des Grades der „Schädlichkeit“ wurde auch in der Entscheidung der Großen Kammer im Fall Perinçek deutlich; der EGMR ging davon aus, Art.  17 EMRK sei nur in extremen Fällen anwendbar.485 Der Fall Gollnisch spricht gegen die Annahme eines Kriteriums der „Schädlichkeit“ der Äußerung für den Umfang des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit. Hier wurden revisionistische Äußerungen gerade nicht aus dem Schutzbereich ausgeschlossen, die ansonsten über Art. 17 EMRK außerhalb des Schutzbereichs lagen.

EGMR, 4. 12. 2003, Gündüz ./. Türkei, Nr. 35071/97, Z. 10 ff., 25 ff.; ähnlich zum Kriterium der Schwere im Fall Gündüz: Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 220.

482

483

EGMR, 24. 6. 2003, Garaudy ./. Frankreich, Nr. 65831/01.

484

EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045.

485

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 114.

182

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Trotz einiger Nachweise, dass der Gerichtshof tatsächlich in manchen Entscheidungen fragte, wie „schädlich“ eine Äußerung war, liefert die Rechtsprechung der Konventionsorgane insgesamt keinen hinreichenden Nachweis, dass die „Schädlichkeit“ der Äußerung als Kriterium zur Bestimmung des Schutzbereichs regelmäßig herangezogen würde. In einzelnen Entscheidungen scheint der EGMR darauf abgestellt zu haben, wie stark sich die Äußerung gegen demokratische Mindeststandards wendet; in zahlreichen Entscheidungen fand das Kriterium jedoch weder ausdrückliche noch implizite Berücksichtigung in den Erwägungen.

VII. Das Verhältnis der Äußerung zu potenziellen oder tatsächlichen Gewalt- und Hasshandlungen Die Rechtsprechung der Gerichte ist schließlich weiter dahingehend zu untersuchen, inwieweit die Überschreitung des geistigen Meinungskampfs486 durch eine Äußerung Einfluss auf ihren Schutz durch die Meinungsäußerungsfreiheit hat. 1. Die Rechtsprechung des EGMR Für die Rechtsprechung des EGMR stellt sich die Frage, welche Rolle eine Aufstachelung zu Hass und Gewalt bzw. ein Aufruf zu Gewalt in der zu beurteilenden Äußerung für die Ebene des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit spielt. Eine in der Literatur vertretene These lautet, der EGMR nehme nur dann – mit oder ohne Bezug zu Art. 17 EMRK – einen Ausschluss einer Äußerung aus dem Schutzbereich an, wenn die Äußerung im Sinne einer zwingenden Voraussetzung einen Aufruf zu Gewalt enthalte.487 In Urteilen zu Formen der kollektiven Äußerung demokratiefeindlicher Rede auf Versammlungen oder in Vereinigungen wurde die Intention der Äußernden in Bezug auf Gewaltanwendungen als Kriterium, nach dem entschieden wird, ob eine Äußerung im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegt oder nicht, herangezogen. Die bisherige Rechtsprechung zu kollektiven Äußerungen lehnte es aber immer ab, die Äußerung nach diesem Kriterium aus dem Schutzbereich auszunehmen.488

Terminologie nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die im Kriterium der Aufstachelung oder des Aufrufs zu Gewalt und Hass in der Rechtsprechung des EGMR eine gewisse Entsprechung findet und deshalb hier als Begriff für alle Gerichte gebraucht wird.

486

487 Tretter, in: FS Berka, S. 237, 250, 253 f.; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 203 f.; Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 523.

EGMR, 2. 10. 2001, Stankov and the United Macedonian Organisation Ilinden ./. Bulgarien, Nr. 29221/95 u. 29225/95, Z. 77; EGMR, 20. 10. 2005, United Macedonian Organisation Ilinden and Ivanov ./. Bulgarien, Nr. 44079/98, Z. 99.

488

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …183

Im Urteil Kasymakhunov und Saybatalov zog der EGMR den in den Äußerungen enthaltenen Aufruf zu Gewalt als wesentliche Begründung dafür heran, warum die Äußerungen nicht im Schutzbereich der Art. 11, 10 und 9 EMRK lagen.489 In dem Fall ging es um Äußerungen, die zu Gewalt gegen Juden aufriefen. Die Beschwerdeführer hatten Flugblätter und Broschüren verteilt, die nach Ansicht des Gerichtshofs Aufrufe zu Gewalt enthielten. Die Dokumente würden den sog. Jihad verherrlichen und die Aussage verbreiten, es sei erlaubt, Bürger eines feindlichen Staats zu töten. Als solche feindlichen Staaten wurden unter anderem Israel, Frankreich und Russland bezeichnet. Ein Rekurs auf legale und demokratische Mittel sei von den Beschwerdeführern nicht zu erwarten, daher sei der Schutzbereich der grundrechtlichen Garantien nicht betroffen.490 Die Organisation, in deren Namen die Beschwerdeführer sich äußerten, habe jede Möglichkeit, sich am demokratischen Prozess zu beteiligen, abgelehnt. Die Äußerung und Verbreitung dieser politischen Ideen fielen eindeutig in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK.491 Die Beschwerde wegen Art.  9, 10 und 11 EMRK sei wegen Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae gemäß Art. 35 III lit. a) EMRK als unzulässig zurückzuweisen. Der EGMR schloss die Äußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus und begründete dies mit Art. 17 EMRK.492 Der Aufruf zu Gewalt in den Äußerungen der Organisationsmitglieder, die hier Beschwerdeführer waren, spielte dabei eine entscheidende Rolle. Die Entscheidung im Fall Féret spricht nicht für, aber auch nicht gegen eine solche Annahme. Der Gerichtshof ging hier zunächst davon aus, es liege kein Aufruf zu Gewalt vor und er erklärte Art.  17 EMRK später für unanwendbar.493 Allerdings bestand argumentativ kein direkter Zusammenhang zwischen der Ablehnung des Aufrufs zu Gewalt und jener der Anwendung des Art. 17 EMRK. Aus diesem Grund ist es nicht zwingend, dass der Gerichtshof den Aufruf zu Gewalt mit der Anwendung des Art. 17 EMRK in Verbindung brachte. Die Entscheidungen Norwood und Pavel Ivanov sind gegen die Annahme vorzubringen, ein Aufruf zu Gewalt sei zwingend, damit eine Äußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit ausgeschlossen werden könne. In beiden Fällen ging der EGMR davon aus, es liege kein Aufruf zu Gewalt vor und wendete Art.  17 EMRK trotzdem an, um zu begründen, dass die Äußerung außerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK lag. Dabei ist einzuräumen, dass es alternative Gründe geben kann, die die Anwendung des Art. 17 EMRK auslösen. Der Umstand,

489 EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06; ebenso bereits EGMR, 12. 6. 2012, Hizb Ut-Tahrir u. a. ./. Deutschland, Nr. 31098/08.

EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06, Z. 107.

490

EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06, Z. 113.

491

EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06, Z. 114.

492

493

EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 73 ff., 82.

184

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

dass hier kein Aufruf zu Gewalt vorlag und Art. 17 EMRK trotzdem angewendet wurde, belegt nicht, dass ein solcher nicht Grund für die Anwendung des Art. 17 EMRK sein kann. Die Entscheidungen machen aber deutlich, dass es nicht zwingend eines Aufrufs zu Gewalt bedarf, damit Art. 17 EMRK angewendet werden kann. Im Fall Norwood  – in dem es um ein Plakat mit der Aufschrift „Islam out of Britain – Protect the British People“ im Fenster der Wohnung des Beschwerdeführers ging, das ein Foto der brennenden Türme des World Trade Centers in New York und den genannten Spruch darunter zeigte sowie ein Symbol eines Sichelmondes und eines Sterns in einem Verbotszeichen enthielt – ließ der Gerichtshof die Tatsache, dass keine Gewalt provoziert worden war, weil kein Muslim das Poster je gesehen hatte und nachgewiesen werden konnte, dass keine spezifischen Spannungen diesbezüglich entstanden waren, vollständig außer Betracht. Wäre das Kriterium der Aufstachelung zu Hass und Gewalt auf Ebene des Schutzbereichs relevant gewesen, so hätte der EGMR diesen Umstand dort berücksichtigen müssen. Auch im Fall Soulas u. a. war für die Ablehnung der Anwendbarkeit des Art. 17 EMRK nicht entscheidend, dass ein Aufruf zu Gewalt fehlte, sondern es war maßgeblich, dass die Äußerung die erforderliche „Schädlichkeit“ nicht aufwies („pas suffisamment grave […]“).494 Diese Beispiele zeigen, dass der Aufruf zu Gewalt bzw. die Aufstachelung zu Gewalt jedenfalls nicht notwendige Bedingung für die Anwendung des Art.  17 EMRK ist und überdies in der Rechtsprechung des EGMR auf Ebene des Schutzbereichs meist gar nicht erwähnt wird. Umgekehrt wird das Kriterium des Aufrufs zu Gewalt regelmäßig bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs nach Art. 10 II EMRK berücksichtigt.495 Teilweise wird vertreten, im Fall Kaptan habe der Gerichtshof eine Einschränkung des Schutzbereichs angenommen, die erst im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung thematisiert und festgestellt werde.496 Dem ist nicht zuzustimmen. Die Wortwahl des EGMR „(…) the Court considers that this kind of speech is not covered by Article 10 of the Convention“ vermag nicht zu begründen, dass der Gerichtshof die Äußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausnimmt. Es handelt sich um eine ambivalente Formulierung, die der Gerichtshof in unterschiedlichen Konstellationen immer wieder angewendet hat. Aus dem Zusammenhang der Urteilsbegründung, die ausdrücklich einen Eingriff in Art. 10 EMRK annahm, muss geschlossen werden, dass der Aufruf zu Gewalt im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit des gegebenen Grundrechtseingriffs berücksichtigt wurde. Die Tatsache, dass der EGMR diese Erwägungen im Rahmen der Prüfung des negativen Zulässigkeitskriteriums der „offensichtlichen Unbegründetheit“ nach Art. 35 III lit. a Alt. 2 EMRK – und nicht als Grund für eine Unvereinbarkeit mit der Konvention ratione materiae nach Art. 35 III lit. a) Alt. 1 EMRK – anstellte, bestätigt diese Annahme.

494

EGMR, 10. 7. 2008, Soulas u. a. ./. Frankreich, Nr. 15948/03, Z. 48.

495

Vgl. zum Beispiel EGMR, 12. 4. 2001, Kaptan ./. Schweiz, Nr. 55641/00.

496

Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 199.

B. Überprüfung ausgewählter Thesen zum Umgang der Rechtsprechung mit …185

In seinem Urteil zum Fall Perinçek ging der EGMR davon aus, die zentrale Frage für eine Anwendung des Art. 17 EMRK sei jene, ob die Äußerung des Beschwerdeführers das Ziel einer Aufstachelung zu Hass oder Gewalt verfolge und ob die Meinungsfreiheit in Anspruch genommen werde, um eine Handlung vorzunehmen, die darauf ausgerichtet sei, die Rechte und Freiheiten der Konvention zu zerstören.497 Der EGMR maß dem Kriterium der Aufstachelung zu Hass oder Gewalt damit entscheidende Bedeutung für die Anwendung des Art. 17 EMRK zu.498 Da die Große Kammer Art. 17 EMRK aber nicht eindeutig der Ebene des Schutzbereichs zuordnete, ist dieser Passage keine Aussage dazu zu entnehmen, ob der Gerichtshof eine Aufstachelung zu Gewalt im Rahmen des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK berücksichtigt oder nicht. In einer Entscheidung aus dem Jahr 2017 argumentierte der EGMR im Zusammenhang mit der Anwendung des Art. 17 EMRK mit einer Aufstachelung zu Hass oder Gewalt durch eine islamistische Äußerung in Belgien.499 Der Versuch des Beschwerdeführers, zu Hass, Diskriminierung und Gewalt anzustacheln und aufzurufen, war zentrale Begründung für die Anwendung des Art. 17 EMRK. Allerdings führte der Gerichtshof ebenso aus, die Äußerung richte sich gegen Geist und Zweck der Konvention und der einzelnen Garantien. Die Begründung des EGMR war an dieser Stelle insgesamt knapp. Der Aufruf zu Hass und Gewalt spielte aber jedenfalls eine wichtige Rolle.500 Das Kriterium der Aufstachelung zu Hass und Gewalt wurde im Ergebnis in der Rechtsprechung des EGMR auf Ebene des Schutzbereichs vereinzelt, aber nicht systematisch relevant. In einigen Fällen argumentierte der Gerichtshof mit offenen Aufrufen zu Gewalt und Rechtfertigungen von Gewalt und er zog teilweise in diesem Zusammenhang auch Art. 17 EMRK heran. In anderen Konstellationen wiederum ließ er die Verbindung der Äußerung zu Gewaltanwendungen völlig außer Betracht.501 Ein System, demzufolge es in bestimmten Fällen bzw. stets oder nie als Begründung für den Ausschluss einer Äußerung aus dem Schutzbereich herangezogen würde, lässt sich nicht erkennen.502 Das Kriterium der Aufstachelung zu Hass und Gewalt war in der Rechtsprechung des EGMR regelmäßig nicht auf Ebene des Schutzbereichs maßgeblich. Der Gewaltbezug der Äußerung wurde wesentlich häufiger auf Ebene der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs erörtert.

497

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 115.

„question déterminante sur le terrain de l’article 17“ (EGMR, 15. 10. 2015 (GK), Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 115.

498

499

EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14, Z. 31.

Der EGMR argumentierte sehr ähnlich in EGMR, 17. 4. 2018, Roj TV A/S ./. Dänemark, Nr. 24683/14, Z. 46 ff. 500

501

Vgl. Buyse, International and Comparative Law Quarterly 2014, 491, 496.

502

Vgl. Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 197.

186

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

2. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu demokratiefeindlichen Äußerungen können keine Anhaltspunkte für das Kriterium des Gewaltbezugs in Bezug auf den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit gewonnen werden. Wenn eine Beschränkung der grundrechtlichen Garantie auf geistige Auseinandersetzungen in der Rechtsprechung des Karlsruher Gerichts erwähnt wurde, so erfolgte dies stets auf Ebene der Rechtfertigung eines Eingriffs in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit.503 Allerdings könnten Ansätze der Rechtsprechung aus anderen Bereichen potenziell auch auf „Hassreden“ und revisionistische Äußerungen Anwendung finden. Der Umgang des Bundesverfassungsgerichts mit wirtschaftlichen Boykottaufrufen könnte Aussagen zu Gewalt im Zusammenhang mit Äußerungen enthalten, die allgemeine Geltung beanspruchen und somit als Kriterium auf Ebene des Schutzbereichs bei „Hassreden“ und ähnlichen Äußerungen anzuwenden sein könnten. So nahm das Gericht für einen Aufruf zu wirtschaftlichem Boykott eines Unternehmens an, ein Boykottaufruf werde vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht umfasst, wenn er nicht nur auf geistige Argumente gestützt werde, sondern sich darüber hinaus solcher Mittel bediene, die den Adressaten der Äußerung die Möglichkeit nähmen, ihre „Entscheidung frei und ohne wirtschaftlichen Druck“ zu treffen.504 Dazu gehörten insbesondere die Androhung schwerwiegender Nachteile und die Ausnutzung sozialer oder wirtschaftlicher Abhängigkeiten, wenn dies dem Aufruf zum Boykott besonderen Nachdruck verleihen solle. Die Freiheit der geistigen Auseinandersetzung sei eine unbedingt notwendige Voraussetzung der freiheitlichen Demokratie, weil sie die öffentliche Diskussion über Fragen von allgemeinem Interesse ermögliche. Die Ausübung wirtschaftlichen Drucks, der für den Betroffenen schwerwiegende Nachteile auslöse und das Ziel verfolge, die verfassungsrechtlich gewährleistete Verbreitung von Meinungen und Nachrichten zu verhindern, verletze die Chancengleichheit im Prozess der Meinungsbildung. Sie widerspreche auch „Sinn und Wesen der Meinungsäußerungsfreiheit, die den geistigen Kampf der Meinungen gewährleisten“ solle. Dies unterscheide sich – und insofern ist die Entscheidung äußerungsrechtlich allgemein verwertbar – wesentlich von jenem Sachverhalt, der im sog. Lüth-Urteil505 vorgelegen habe. Die lediglich an die moralische und politische Verantwortung appellierende Äußerung im Fall Lüth habe die Entfaltungsmöglichkeit des Opfers der Äußerung nicht unmittelbar beschränken können, weil der Äußernde nicht über Zwangsmittel verfügt habe, um seiner Äußerung Nachdruck zu verleihen.506 Er habe sich nur an das Verantwortungsbewusstsein 503

Siehe statt vieler BVerfGE 124, 300, 334.

504

Hierzu und zum Folgenden BVerfGE 25, 256, 265.

505

BVerfGE 7, 198 ff.

Im Fall Lüth hatte der Hamburger Senatsdirektor Erich Lüth öffentlich dazu aufgerufen, einen Film mit dem Titel „Unsterbliche Geliebte“ des Regisseurs Veit Harlan zu boykottieren. Veit Harlan war dafür bekannt, zur Zeit des Nationalsozialismus in dem antisemitischen Film „Jud Süß“ Regie geführt zu haben. Die Äußerung Lüths wurde mit einer Unterlassungsverfügung belegt. Gegen diese Entscheidung erhob Lüth Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung seiner Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 I 1 Alt. 1 GG, der stattgegeben wurde. 506

C. Zwischenergebnis zur Rechtsprechungsanalyse187

und die sittliche Haltung der Adressaten seiner Äußerung wenden können und er habe es deren freier Willensentschließung überlassen müssen, wie sie die Aufforderung verwerteten. Dagegen seien die Boykottaufrufe in der Lage gewesen, schwerwiegende Nachteile für die Betroffenen zu verursachen. Sie seien in ihrer Entscheidung nicht mehr frei gewesen.507 Die Grenze des Schutzbereichs sei dort erreicht, wo Empfänger von Meinungsäußerungen nicht mehr aus freiem Willen entscheiden könnten, welche Handlungen sie im Anschluss an die Äußerungen des anderen vornähmen. Das Bundesverfassungsgericht ging regelmäßig davon aus, dass das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 I 1 Alt. 1 GG nur den geistigen Kampf der Meinungen gewährleiste.508 Gewaltakte fielen schon tatbestandlich nicht unter die grundrechtliche Garantie.509 Die politische Auseinandersetzung bleibe im freiheitlich-demokratischen Staat auf den geistigen gewaltfreien Kampf beschränkt. Eine Meinung sei dann nicht vom Schutzbereich umfasst, wenn sie sich solcher Mittel bediene, die ihrem Empfänger die Möglichkeit nähmen, die eigene Entscheidung in innerer Freiheit und ohne Druck zu treffen.510

C. Zwischenergebnis zur Rechtsprechungsanalyse Für die Rechtsprechung des EGMR und jene des Bundesverfassungsgerichts konnte festgestellt werden, dass sie ihren Ausgangspunkt regelmäßig sowohl für „Hassreden“ als auch für revisionistische Reden und symbolhafte Äußerungen in einer prinzipiell weiten Schutzbereichskonzeption fanden. Der EGMR nahm jedoch teilweise Einschränkungen des Schutzbereichs vor. Der Gerichtshof schloss Äußerungen unterschiedlicher Art aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit aus. Hierunter sind Fälle islamfeindlicher Plakate, antisemitischer Parolen, antisemitischer kollektiver Äußerungen, Rechtfertigungen von Kriegsverbrechen511 und bestimmte revisionistische Äußerungen zu finden; sowohl in Fällen direkter Holocaust-Leugnungen als auch bei Leugnung der Verantwortlichkeit Hitlers und der NSDAP für die Judenverfolgung nahm der EGMR an, die Äußerungen lägen außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit. Auch aktuelle Entscheidungen des Gerichtshofs sahen Holocaustleugnungen nicht innerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK und vertraten dies selbst dann, wenn der

507

BVerfGE 25, 256, 264 f.; BVerfGE 62, 230, 244 ff.

508

BVerfGE 25, 256, 264 f.

509

Vgl. BVerfGE 104, 92, 105 f.

510

BVerfGE 25, 256, 264 f.; BVerfGE 62, 230, 244 f.

Im konkreten Fall (EGMR, 15. 1. 2009, Orban ./. Frankreich, Nr. 20985/05) lehnte der EGMR es ab, Art.  17 EMRK anzuwenden. Zu diesem Ergebnis gelangte er, weil keine Rechtfertigung von Kriegsverbrechen gegeben war. Die Entscheidung zeigt, dass der EGMR grundsätzlich davon ausging, dass eine Äußerung, auf die Art. 17 EMRK angewendet wird, außerhalb des Schutzbereichs liegt. 511

188

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Beschwerdeführer den Holocaustleugner nur in seine Bühnenshow einband und mit diesem erkennbar sympathisierte. In ausdrücklicher Abgrenzung zu den Fällen der Holocaustleugnungen lehnte der EGMR die Anwendung des Art. 17 EMRK für die Leugnung eines anderen Völkermordes ab. Diese läge innerhalb des Schutzbereichs der Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit. In anderen Fällen lehnte der EGMR die Anwendung des Art.  17 EMRK ausdrücklich ab, ließ aber erkennen, Art. 17 EMRK führe im Falle seiner Anwendung dazu, dass die grundrechtsmissbräuchlichen Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs lägen. Auf diese Weise verfuhr der Gerichtshof bei Äußerungen einer rassistischen Vereinigung in Ungarn ebenso wie im Fall des Tragens eines roten Sterns auf einer Demonstration in Ungarn. In anderen Entscheidungen mit ähnlichen Sachverhalten ging der EGMR anders vor. Er wendete Art. 17 EMRK als Kriterium der Verhältnismäßigkeitsprüfung an und stellte eine offensichtliche Rechtfertigung eines Eingriffs in die Meinungsäußerungsfreiheit fest. Der Gerichtshof nahm in diesen Fällen an, die Äußerung liege im Schutzbereich des Art. 10 EMRK. Er wählte diese Vorgehensweise zum Beispiel auch in Entscheidungen zur Leugnung der Existenz von Gaskammern und Massenvernichtungen im Holocaust, die er in anderen Fällen aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit ausschloss. Die EKMR wählte letztgenannten Ansatz, Art. 17 EMRK als Bestimmung anzuwenden, die die Abwägung der widerstreitenden Interessen beeinflusst, bis auf wenige Ausnahmen konsequent.512 Andere Entscheidungen des EGMR ließen offen, ob die Äußerung im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liege oder nicht und zeugten von einer Unsicherheit des Gerichtshofs im Umgang mit der „Missbrauchsklausel“ des Art.  17 EMRK und dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit in Fällen von „Hassreden“ im Allgemeinen. Teilweise wählte der EGMR in ähnlichen Sachverhalten auch den Weg, eine evidente Rechtfertigung des Eingriffs ohne Rückgriff auf Art. 17 EMRK anzunehmen. Hierunter fielen ebenfalls rassistische, faschistische und rechtsextremistische sowie antisemitische Äußerungen und die Verwendung nationalsozialistischer Symbole im Internet. Teilweise ließen die Erwägungen den Gedanken des Art.  17 EMRK erkennen, ohne die Bestimmung zu zitieren, oder lehnten ihre Anwendbarkeit neben Art.  10 II EMRK ab, weil sie überflüssig sei. In anderen Entscheidungen spielte Art. 17 EMRK gar keine Rolle. Manchmal zog der EGMR Art. 17 EMRK bei vergleichbaren Äußerungen auch erst im Anschluss an die Prüfung der Kriterien des Art. 10 II EMRK heran und ließ seine Anwendung entweder offen oder lehnte sie ab. Gänzlich ohne Berücksichtigung der „Missbrauchsklausel“ stellte der EGMR Verletzungen von Art. 10 EMRK in Fällen zur kurdischen Frage und vereinzelt in

Auf diese Weise verfuhr die EKMR in Sachverhalten der Äußerung von terroristischen Organisationen, rassistischer Äußerungen, antisemitischer Aussagen, nationalsozialistischer Wiederbetätigungen sowie der Leugnung oder extremen Verharmlosung des Holocaust. Die EKMR berücksichtigte dabei nicht, ob es sich um den unmittelbaren Urheber der Äußerung handelte oder um einen Dritten, der die Aussagen verbreitete oder wiedergab.

512

C. Zwischenergebnis zur Rechtsprechungsanalyse189

anderen Fällen fest. Darunter waren solche, in denen es nicht um die Meinungsfreiheit des Äußernden selbst ging, sondern um Grundrechtsträger, die Drittäußerungen wiedergaben oder verbreiteten. In einer Gesamtbetrachtung kann festgestellt werden, dass der EGMR in einigen Entscheidungen zu „Hassreden“ und revisionistischen Äußerungen davon ausging, dass Art.  17 EMRK dazu führe, dass die Äußerung nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK liege. Er zog die Bestimmung aber nicht in allen und auch nicht in der Mehrheit der Fälle von „Hassreden“ und Revisionismus heran. Der Gerichtshof nahm auch unabhängig von Art. 17 EMRK nicht immer an, die Äußerung liege außerhalb des Schutzbereichs, wenn eine demokratiefeindliche Äußerung gegeben war. Ebenso wenig sind konstant angewendete Kriterien erkennbar, nach denen die Entscheidung über den Schutzbereich des Art.  10 EMRK in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen getroffen würde. Zwar sind Tendenzen erkennbar, letztlich handelt es sich aber um Einzelfallentscheidungen und das Gesamtbild der Rechtsprechung des EGMR im Bereich der „Hassreden“ und der revisionistischen Äußerungen ist von Kasuistik geprägt. In Bezug auf das verfahrensmäßige Stadium der Anwendung von Art. 17 EMRK hingegen lässt sich zusammenfassend feststellen, dass Art. 17 EMRK in den allermeisten Fällen auf Ebene der Zulässigkeit eine Rolle spielte. Wenn die Bestimmung angewendet wurde, geschah dies immer auf Ebene der Zulässigkeit. Wenn Einschränkungen des Schutzbereichs ohne Einfluss des Art. 17 EMRK vorgenommen wurden, wurde dies auch auf Ebene der Zulässigkeit behandelt. Die Zulässigkeit wurde aber auch verneint, ohne dass Art. 17 EMRK erwähnt wurde. Im Gegensatz zum EGMR vertritt das Bundesverfassungsgericht zu „Hassreden“ eine einheitliche Linie. Das Gericht bezog die Äußerungen stets in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 I 1 GG ein und „Missbrauchsklauseln“ spielten keine Rolle. Ebenso eindeutig entschied das Gericht über unzweifelhafte Leugnungen der Verbrechen des Holocaust. Die Äußerung von Zweifeln an der Möglichkeit von Massenvernichtungen im Dritten Reich durch Gaskammern stellte das Bundesverfassungsgericht den direkten Leugnungen der Existenz der Verbrechen gleich. Diese schloss es aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit aus. Das Bundesverfassungsgericht vertrat in Fällen, in denen ein wertendes Element in der Äußerung enthalten war, die Annahme, dass ein Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit vorliege. Immer dann, wenn zur Leugnung der Existenz historischer Ereignisse wertende Elemente irgendeiner Art, auch wenn es um Kriegsschuldfragen ging, hinzutraten, lehnte das Bundesverfassungsgericht den Ausschluss der mit den wertenden Elementen untrennbar verbundenen Aussagen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ab. Eine „Missbrauchsklausel“ spielte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu demokratiefeindlichen Äußerungen keine Rolle. Der Befund zur Rechtsprechung des EuGH ist gering, zu „Hassreden“ finden sich jedoch Ansätze, Äußerungen über die „Missbrauchsklausel“ des Art. 54 GRC aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantie nach Art. 11 GRC auszuschließen. Ansonsten können der Rechtsprechung keine Anhaltspunkte zum

190

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit auf dem Gebiet der demokratiefeindlichen Äußerungen entnommen werden. Das Kriterium der Urheberschaft für die betreffende Äußerung sprach in der Rechtsprechung bisher gegen einen Ausschluss der Äußerung aus dem Schutzbereich. Allerdings könnte sich hieran durch die neueste Rechtsprechung etwas ändern und das Kriterium der Urheberschaft nicht mehr zwingend notwendiges Kriterium für die Einschränkung des Schutzbereichs sein, wenn die sonstigen Umstände des Einzelfalls überwiegen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ließ das Kriterium trotz ähnlicher Sachverhaltskonstellationen bisher immer außer Betracht. Die Rechtsprechung des EGMR zeigte Ansätze von Differenzierungen nach dem Inhalt der Äußerungen bei der Entscheidung über die Betroffenheit des Schutzbereichs. Die Rechtsprechungsanalyse hat zumindest gezeigt, dass es Äußerungsinhalte gibt, die tendenziell strenger behandelt wurden als andere Inhalte. Nationalsozialistische und rechtsextremistische Äußerungen erfuhren in der Rechtsprechung des EGMR nachweisbar regelmäßig eine strengere Behandlung als andere Inhalte. Äußerungen, die den historischen Nationalsozialismus betrafen oder gegenwärtigen Rechtsextremismus transportierten, wurden häufig über Art.  17 EMRK aus dem Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie des Art.  10 EMRK ausgeschlossen. Darüber hinaus konnten inhaltliche Kategorien, denen die Rechtsprechung konsequent folgen würde, nicht identifiziert werden. Das Bundesverfassungsgericht lehnte es in allen Entscheidungen ab, eine Äußerung wegen ihres Inhalts, auch im Falle nationalsozialistischer Inhalte, außerhalb des Schutzbereichs zu sehen. Wenn eine Äußerung Werturteile enthielt, wurde sie, selbst bei Äußerung nationalsozialistischen Gedankenguts, in den Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG eingefasst. Die Rechtsprechung des EGMR ging in allen Fällen, in denen sie die Negation „klar etablierter historischer Tatsachen“ in der Äußerung sah, davon aus, die Äußerung liege in Folge der Anwendung des Art.  17 EMRK außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit. Urteile und Entscheidungen, in denen die Kategorie zwar genannt, letztlich aber nicht angewendet wurde, vermögen dies nicht zu widerlegen. Allerdings verneinte der Gerichtshof auch in anderen Bereichen, dass der Schutzbereich betroffen sei und begründete dies mit Art. 17 EMRK. „Klar etablierte historische Tatsachen“ sah der Gerichtshof bisher nur im Holocaust. Allerdings sind Indizien zu finden, die auf die Möglichkeit der Erweiterung der Kategorie auf andere historische Ereignisse hindeuten. Bisher wurde dies aber nicht umgesetzt. Die Leugnung kann sich nach der Rechtsprechung des EGMR über die Existenz der Verbrechen hinaus auch auf Fragen wie Verantwortlichkeiten, Umfang und Ausmaß beziehen und wurde dann in gleicher Art und Weise behandelt. Das Bundesverfassungsgericht grenzte die reine, direkte Leugnung des Gesamtgeschehens des Holocaust als erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung aus dem Schutzbereich aus. Dabei kann die Äußerung offen oder verdeckt erfolgen. Eine solche Einschränkung des Schutzbereichs lehnte es aber regelmäßig in dem Moment ab, in dem zur Leugnung eine Wertung irgendeiner Art trat und diese untrennbar mit der Tatsachenbehauptung verbunden war.

C. Zwischenergebnis zur Rechtsprechungsanalyse191

Das Kriterium des Grades der „Schädlichkeit“ der Äußerung kann aus der Rechtsprechungsanalyse nicht als zwingendes Kriterium einer Anwendung des Art.  17 EMRK mit der Folge eines Ausschlusses der Äußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit identifiziert werden. Der EGMR rekurrierte hierauf in vereinzelten Fällen; er verfolgte dies aber nicht systematisch. Das Bundesverfassungsgericht erwähnte den Grad der „Schädlichkeit“ in den Entscheidungen zu demokratiefeindlichen Äußerungen nicht. Ebenso wenig kann erkannt werden, dass die Rechtsprechung das Kriterium der Aufstachelung zu Hass und Gewalt auf Ebene des Schutzbereichs systematisch verwendete. Das Kriterium trat vereinzelt auf, spielte aber nicht regelmäßig eine Rolle. Der Gewaltbezug der Äußerung ist für keines der beiden Gerichte systematisch ausschlaggebend für die Frage, ob der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit betroffen ist oder nicht. Im Ergebnis führt dies zu folgendem Befund: Während die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts von Konstanz in Bezug auf die Frage der Einschränkungen des Schutzbereichs geprägt ist, kommt in zahlreichen Entscheidungen des EGMR die Unsicherheit bzw. die Uneinigkeit der Richter sowohl bezüglich des Anwendungsbereichs als auch betreffend die Rechtsfolge der „Missbrauchsklausel“ des Art. 17 EMRK zum Ausdruck. Häufig finden sich zu den hier gestellten Fragen widersprüchliche Antworten in den Erwägungen eines Urteils. Einige Sondervoten thematisierten ausdrücklich die Uneinigkeit zu Anwendungsbereich und Rechtsfolge des Art. 17 EMRK im Bereich der demokratiefeindlichen Äußerungen bzw. vertraten abweichende Meinungen zum Ausschluss bestimmter Verhaltensweisen aus den grundrechtlichen Schutzbereichen im Allgemeinen. Häufig argumentierte der EGMR mit obiter dicta, die darauf hindeuten, er nehme an, bestimmte Äußerungen lägen nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK. Allerdings waren die Formulierungen des EGMR häufig so ambivalent, dass nur Mutmaßungen darüber möglich sind, wie der EGMR dogmatisch vorgehen würde, wenn eine solche Äußerung vorläge. Eine Tendenz der Rechtsprechung des EGMR zu der Annahme, Art. 17 EMRK schließe in seiner Rechtsfolge Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit aus, lässt sich aus den oben dargestellten Ausführungen aber erkennen.513 Darüber hinaus kann mit Sicherheit keine Aussage getroffen werden. Im Ergebnis muss festgestellt werden, dass der Befund eine stark kasuistische Rechtsprechung des EGMR im Bereich der demokratiefeindlichen Äußerungen zeigt.514 Dabei ist es nicht möglich, Schutzbereichskriterien bzw. Fallkonstellationen tatsächlich zu identifizieren, die die Rechtsprechung konstant und gleichförmig

513 Dies gilt insbesondere für die Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit, in der sich die Tendenz zu verfestigen scheint (EGMR, 20. 10. 2015, M’Bala M’Bala ./. Frankreich, Nr. 25239/13; EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14; EGMR, 17. 4. 2018, Roj TV A/S ./. Dänemark, Nr. 24683/14). Allerdings handelt es sich erst um einige wenige Entscheidungen. 514

Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 214 f.

192

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

heranziehen und anwenden würde.515 Der Befund zur Rechtsprechung des EGMR lässt die Entwicklung von Kategorien von Äußerungen, die aus dem Schutzbereich auszuschließen wären, nicht zu.516 Für die Rechtsprechung des EGMR kann auch festgestellt werden, dass ein einheitlicher Ansatz bezüglich Art.  17 EMRK in Anwendungsbereich und Rechtsfolge jedenfalls nicht offenkundig ist.517 Der EGMR verwendet Art. 17 EMRK vielmehr als flexibles Instrument zur Argumentation im Einzelfall. Festzustellen bleibt  – abgesehen von Tendenzen, die dargestellt wurden –518 nur eine inkonsistente Anwendung der „Missbrauchsklausel“ des Art.  17 EMRK und der unsystematische Umgang des EGMR mit dem Schutzbereich des Art. 10 EMRK in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen.519 Ausgehend von diesem Ergebnis sollen im Folgenden mit einer Auslegung der relevanten Bestimmungen zwei – miteinander verbundene – Ziele verfolgt werden. Zum einen ist die kasuistische Vorgehensweise des EGMR zu hinterfragen und zu erörtern, ob eine rechtssichere und konsistentere Einordnung von demokratiefeindlichen Äußerungen möglich ist, die deren grundrechtlichen Schutz vorhersehbar und klar macht. Die Ansätze der Rechtsprechung sollen aufgenommen werden und darüber hinaus soll versucht werden, ein rechtsdogmatisch konsistentes Modell zu entwickeln. Die Überlegungen gehen dabei von der These aus, dass es eine gebotene Rechtsfolge des Art. 17 EMRK gibt, die den Prüfungsort der „Missbrauchsklausel“ einheitlich bestimmt. Wenn Art. 17 EMRK angewendet wird – dies ist im Einzelfall über eine Subsumtion unter den Anwendungsbereich zu klären – wirkt Art. 17 EMRK nach der hier vertretenen Auffassung immer in gleicher Weise. Der Begründung hierfür ist durch Auslegung der relevanten Bestimmungen nachzugehen.

515 Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 222; Beširević, in: Benedek/Benoit-Rohmer/Karl/Nowak (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights (2012), S.  243, 257; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 185, 192. 516 Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 279; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 185; Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 4.

Sondervotum des Richters Silvis, dem sich die Richter Casadevall, Berro und Kuris angeschlossen haben zu EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08; zu diesem Ergebnis kommen auch Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 3; Woods, in: Peers/ Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 54.39. 517

Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 195 stellt tendenziell eine chronologische Entwicklung für den engen Spezialfall der Holocaustleugnungen fest. Der EGMR sei hier von einer Außerachtlassung der Missbrauchsklausel des Art. 17 EMRK zu einer indirekten und schließlich zu einer direkten Anwendung übergegangen. Dieser Beobachtung ist zuzustimmen.

518

Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 184, 200; Kučs, Journal of Ethnic and Migration Studies 2014, 301, 312; Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 44; Jacobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 126; Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 6; Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 113; Möller, Der grundrechtliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit, S. 176 f. 519

D. Vergleich und Wechselwirkungen zwischen der Rechtsprechung …193

Andererseits ist zu prüfen, ob dieses Modell zum Umgang mit demokratiefeindlichen Äußerungen ein solches sein kann, dass die betreffenden Äußerungen gar nicht in den Schutzbereich des Grundrechts einschließt. Fraglich ist also, ob durch Auslegung der Art.  17 EMRK und Art.  10 I EMRK vertretbar zu dem Ergebnis gelangt werden kann, dass (bestimmte) demokratiefeindliche Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegen. Die beiden Ziele des folgenden Kapitels sind die Entwicklung eines konsistenten Modells in Bezug auf den grundrechtlichen Schutz demokratiefeindlicher Äußerungen und die Klärung der Frage, ob dieses Modell darin bestehen kann, alle oder nur einige demokratiefeindliche Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit zu sehen. Der Vergleich der Regelungen der EMRK mit den Bestimmungen des Grundgesetzes und der Grundrechtecharta dient der Identifizierung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Grundrechtsebenen und es trägt gleichzeitig zu Erkenntnissen über die Bestimmungen der EMRK bei, weil aus ihrer Gegenüberstellung zu ähnlichen, aber nicht identischen Regelungen auf innerstaatlicher und unionsrechtlicher Ebene, Anhaltspunkte zu ihrer Auslegung gewonnen werden können.

D. Vergleich und Wechselwirkungen zwischen der Rechtsprechungvon EGMR und Bundesverfassungsgericht Die vorangehende Analyse zeigt im Wesentlichen an zwei Stellen Unterschiede zwischen der Rechtsprechung des EGMR einerseits und jener des Bundesverfassungsgerichts andererseits. Eine Abweichung ergibt sich in Bezug auf Inhalts- bzw. Standpunktdifferenzierungen. Es konnte gezeigt werden, dass für rechtsextreme und nationalsozialistische Äußerungen in der Rechtsprechung des EGMR ein geringerer Schutz gewährleistet wird als in jener des Bundesverfassungsgerichts.520 Äußerungen dieser Art schließt der EGMR in der Regel, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus, während das Bundesverfassungsgericht sie ausdrücklich in den Schutzbereich einbezieht, wenn es sich um Werturteile handelt.521 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts betont die Neutralitätspflicht und das Verbot der Standpunktdiskriminierung auf Ebene des Schutzbereichs der grundrechtlichen Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit stärker als der EGMR.522 Jedenfalls für nationalsozialistische und rechtsextremistische Meinungsäußerungen fällt das Schutzniveau des Art. 10 EMRK gegenüber Art. 5 I 1 Alt. 1 GG tatsächlich geringer aus.523 Das Grundgesetz gewährleistet an dieser Stelle punktuell einen höheren Schutz als die EMRK.

520

Vgl. hierzu Martini, JöR n. F. 59 (2011), 279, 299.

521

Zu Tatsachenbehauptungen im Speziellen siehe unten Kapitel 4, B., II.

522

Hong, ZaöRV 2010, 73, 114.

523

Zur Konsequenz dieses Unterschieds siehe unten Kapitel 3, D.

194

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Ein zweiter Unterschied wurde im Hinblick auf Tatsachenbehauptungen und deren Einbeziehung in den grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit festgestellt. Aus einer vergleichenden Betrachtung der Rechtsprechung von EGMR und Bundesverfassungsgericht ergibt sich der grundlegende Unterschied, dass das Bundesverfassungsgericht im Einklang mit dem Text des Art. 5 I 1 GG bereits auf Schutzbereichsebene zwischen Tatsachenbehauptungen und Meinungsäußerungen grundsätzlich trennt, während der EGMR dieser Unterscheidung hier keine ausdrückliche Bedeutung zumisst. Für den EGMR sind Tatsachenmitteilungen grundsätzlich ohne Einschränkung vom Schutzbereich umfasst. Jedenfalls ist es in der Rechtsprechung des EGMR nicht Kriterium des Schutzbereichs, ob die Tatsachenbehauptung zur Meinungsbildung beizutragen vermag. Prinzipiell sind Tatsachenbehauptungen unabhängig davon vom Schutzbereich umfasst. Das Bundesverfassungsgericht nimmt weiter ausdrücklich an, dass die Wahrheit ein Kriterium des Schutzbereichs ist. Tatsachenbehauptungen tragen nämlich nach der Rechtsprechung des Gerichts dann nicht zur Meinungsbildung bei, wenn sie erwiesen oder bewusst unwahr sind. In weiterer Konsequenz fallen sie dann aus dem Schutzbereich heraus. Der EGMR folgt dem zwar letztlich auch in einigen Fällen. Diese liegen aber allesamt im speziellen Bereich der Leugnung historischer Tatsachen. Im Allgemeinen spielt das Kriterium der Wahrheit der Äußerung erst auf Ebene der Rechtfertigung eine Rolle und führt dort zur Relevanz der Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen, weil die Wahrheit sich nur für Tatsachenbehauptungen überhaupt feststellen und infolgedessen als Kriterium verwerten lässt. Während das Bundesverfassungsgericht allgemein auf Ebene des Schutzbereichs unwahre Tatsachenbehauptungen unter bestimmten Umständen ausschließt, geht der EGMR in dieser Art nur ausnahmsweise im Fall der Leugnung „klar etablierter historischer Tatsachen“ vor. Trotz der grundsätzlichen Unterschiede in der Konzeption des Schutzbereichs kommen die beiden Gerichte aber für die – hier relevanten – Fälle der reinen Holocaustleugnungen weitgehend zu den gleichen Ergebnissen. Die reine Aussage „Es hat den Holocaust nicht gegeben!“ bzw. alle äquivalenten sprachlichen Formulierungen der einfachen Verneinung der Existenz der historischen Verbrechen fallen in der Rechtsprechung beider Gerichte aus dem Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit heraus. Der Unterschied in Bezug auf Tatsachenbehauptungen im Allgemeinen wird aus diesem Grund für den vorliegenden Zusammenhang nicht relevant. Eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Gerichten darf nicht übersehen werden. Übereinstimmend kommt es für beide Gerichte im Bereich der Leugnung historischer Tatsachen darauf an, inwieweit der Äußernde vernünftigerweise von der Unwahrheit bzw. Wahrheit seiner Äußerungen ausgehen konnte. Beide Gerichte verlangen, dass die Tatsache, die geleugnet bzw. bewusst falsch behauptet wird, offenkundig ist. Andernfalls wird die Äußerung in den Schutzbereich einbezogen. Das Bundesverfassungsgericht spricht terminologisch von „erwiesen unwahren“ Tatsachen, der EGMR von „clearly established facts“. Der Beweis der Wahrheit einer geäußerten Tatsache muss hinfällig sein, damit die Äußerung außerhalb des Schutzbereichs gesehen werden kann. Insoweit stimmen die Gerichte überein.524 524

Vgl. hierzu Hochmann, Le négationnisme, S. 128.

D. Vergleich und Wechselwirkungen zwischen der Rechtsprechung …195

Unterschiede ergeben sich jedoch abseits von dieser reinen Leugnung des historischen Ereignisses des Holocaust. Zweifel an der Verantwortlichkeit Hitlers und der NSDAP nimmt der EGMR in die Kategorie jener Äußerungen auf, die er aus dem Schutzbereich ausschließt. Das Bundesverfassungsgericht folgt dem nicht. Der EGMR gewährleistet auf der Basis des Art.  10 EMRK einen geringeren Schutz als das Bundesverfassungsgericht auf der Grundlage von Art. 5 I 1 GG. Während das Bundesverfassungsgericht einen Ausschluss der Äußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit in einem solchen Fall ablehnt, begrenzt der EGMR den Schutzbereich und schließt die Leugnung der Verantwortlichkeit Hitlers und der Nationalsozialisten für die Judenverfolgung aus diesem aus. Ein wertendes Element steht in der Rechtsprechung des EGMR der Ausnahme einer Äußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nicht entgegen. Damit gewährleistet der EGMR auf Basis des Art. 10 EMRK zumindest in zwei Konstellationen ein geringeres Niveau des Schutzes durch die Meinungsäußerungsfreiheit als es das Bundesverfassungsgericht in Anwendung des Grundgesetzes gewährt. Sowohl in Bezug auf nationalsozialistische Äußerungen als auch in Bezug auf Holocaustleugnungen mit wertenden Elementen ist der innerstaatliche Grundrechtsschutz für den Äußernden höher als jener Schutz, der ihm nach der Rechtsprechung des EGMR aus der EMRK gewährt wird. Die EMRK nimmt in Art. 53 EMRK darauf Bezug, dass nationale Grundrechtsgarantien günstigere Regelungen enthalten, also im Grundrechtsschutzniveau über die EMRK hinausgehen. Die EMRK stellt – das macht Art. 53 EMRK deutlich – einen Mindeststandard dar und in Fällen wie den vorliegenden wird ein höherer Schutz durch nationale Gewährleistungen nicht auf das Niveau der EMRK abgesenkt.525 In diesem Sinne enthält Art. 53 EMRK ein Günstigkeitsprinzip526 bzw. ein menschenrechtliches Verschlechterungsverbot.527 Die nationalen Grundrechtsgewährleistungen dürfen konventionsrechtlich ein höheres Schutzniveau gewährleisten als die EMRK.528 Gestützt auf Art. 53 EMRK wird für den konkreten Zusammenhang der Werturteile nationalsozialistischen Inhalts bzw. der Holocaustleugnungen, die mit wertenden Elementen verbunden sind, teilweise angenommen, die Interpretation des Art. 5 I 1 GG bliebe gerade wegen des völkerrechtlichen Verschlechterungsverbots nach Art. 53 EMRK von der anders gelagerten – auf Basis des Art. 10 EMRK geringeren Schutz für den „NS-Redner“ gewährleistenden  – Rechtsprechung des EGMR unbeeinflusst; solange die innerstaatliche Grundrechtsgewährleistung nämlich über die völkerrechtliche hinausgehe, sei die völkerrechtliche Gewährleistung unbeachtlich.529 525

Grabenwarter, in: FS Jarass, S. 43, 44; vgl. BVerfGE 111, 307, 317.

Siehe hierzu Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 21; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 2 Rn. 14. 526

527

Grabenwarter, in: FS Jarass, S. 43.

528

Grabenwarter, in: FS Jarass, S. 43, 44.

Martini, JöR n. F. 59 (2011), 279, 299; EMRK als „europarechtlicher Mindeststandard“ (Hong, ZaöRV 2010, 73, 117; Klamt, Streitbare Demokratie, S. 239; Masing, JZ 2012, 585, 587; Hilf, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR VI/1 § 164, Rn. 84. 529

196

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

Diese Annahme ist zu präzisieren. Es trifft zu, dass das höhere Schutzniveau der Meinungsfreiheit für nationalsozialistische Äußerungen im deutschen Recht nach dem Grundgesetz grundsätzlich konventionsrechtlich zulässig ist. Dies bringt Art. 53 EMRK zum Ausdruck. Art. 53 EMRK greift aber nicht ohne Weiteres, wenn ein mehrpoliges Grundrechtsverhältnis vorliegt.530 Der Günstigkeitsvergleich kann in einem solchen Fall nämlich nicht einseitig aus der Perspektive der Meinungsäußerungsfreiheit angestellt werden.531 Wenn zum Staat-Bürger-Verhältnis ein Dritter und dessen Rechte hinzutreten, wie dies in Fällen der „Hassrede“ mit den Opfern und deren Rechten aus Art. 2 I iVm Art. 1 I GG bzw. Art. 8 EMRK der Fall sein kann, lässt sich ein höheres Schutzniveau nur dann erreichen, wenn auch die Gewährleistung des mit der Meinungsfreiheit kollidierenden Anspruchs der Opfer aus grundgesetzlichen Garantien das Niveau der EMRK nicht unterschreitet.532 In der Konsequenz bedeutet dies, dass Art.  53 EMRK hier nicht gebietet, dass der grundgesetzliche Grundrechtsschutz, der bei Auflösung der Kollisionslage des mehrpoligen Grundrechtsverhältnisses hinsichtlich des Äußernden höher, hinsichtlich des Opfers aber niedriger ist, ungeachtet der EMRK ohne Einschränkung maßgeblich ist, weil er aus der Perspektive des Trägers der Meinungsäußerungsfreiheit günstiger ist.533 Art. 53 EMRK ermächtigt nicht dazu, den innerstaatlichen Grundrechtsschutz eines Dritten unter den Standard der EMRK abzusenken,534 weil der andere „Pol“ des „mehrpoligen“ Grundrechtsverhältnisses im Verhältnis zur EMRK höheren Schutz nach innerstaatlichem Recht genießt. Eine Pauschalbetrachtung ist nicht zulässig, hierzu ermächtigt die Bestimmung des Art.  53 EMRK nicht. Sobald der Schutz eines Grundrechts nach innerstaatlichem Recht unter das Niveau der EMRK abgesenkt wird, liegt darin in jedem Fall eine Verletzung der Konvention, und zwar auch dann, wenn die Absenkung eine Folge des Umstands ist, dass in einem „mehrpoligen“ Grundrechtsverhältnis das Grundrecht des anderen über das Niveau der EMRK hinaus gewährleistet wird. Anders gewendet: Art.  53 EMRK greift in den Situationen eines „mehrpoligen“ Grundrechtsverhältnisses, in denen Grundrechtspositionen unterschiedlicher Personen miteinander kollidieren, deshalb nicht, weil das Anheben des Grundrechtsschutzes einer Person in diesen Konstellationen in der Regel zum Absenken der Grundrechtsposition der anderen Person führt und dieses Absenken nicht durch

Breuer, NVwZ 2005, 412, 414; Grabenwarter, EuGRZ 2006, 487, 489 f.; Grabenwarter, in: FS Jarass, S. 43, 45; vgl. dazu Mückl, Der Staat 44 (2005), 403, 408 f.; Schmahl, EuR 2008/Beiheft 1, 7, 9; Thienel, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 53 Rn. 6; relativierend Ludwigs, in: Pabel/Raschauer (Hrsg.), Die Organisation des Grundrechtsschutzes, S. 47, 69 f.

530

531 Thienel, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 53 Rn. 5 ff.; Grabenwarter, EuGRZ 2006, 487, 489 f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 2 Rn. 16; Grabenwarter, in: FS Jarass, S. 43, 45; vgl. Becker, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 53 GRC Rn. 7 ff. 532

Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 2 Rn. 16.

533

Grabenwarter, in: FS Jarass, S. 43, 45.

Vgl. hierzu Ludwigs, in: Pabel/Raschauer (Hrsg.), Die Organisation des Grundrechtsschutzes, S. 47, 70; Klein, NVwZ 2010, 221, 223; Thienel, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 53 Rn. 6.

534

D. Vergleich und Wechselwirkungen zwischen der Rechtsprechung …197

Art. 53 EMRK gerechtfertigt wird. Art. 53 EMRK erfasst nur den Fall, in dem der Grundrechtsschutz nach innerstaatlichem Recht in einem zweipoligen Grundrechtsverhältnis, in dem sich nur Staat und Einzelner gegenüberstehen, über jenen nach der EMRK hinausgeht. Das konventionsrechtliche Verbot, mit dem innerstaatlichen Grundrechtsschutz hinter der konventionsrechtlichen Gewährleistung zurückzubleiben, folgt aber auch nicht aus Art.  53 EMRK. Art.  53 EMRK ermächtigt einerseits nicht zur Absenkung des Grundrechtsschutzes, weil ein im konkreten Fall kollidierendes Grundrecht über das Niveau der EMRK hinaus gewährleistet wird, die Bestimmung ist andererseits auch nicht Ansatzpunkt für das konventionsrechtliche Gebot, nicht hinter den Gewährleistungen der EMRK zurückzubleiben. Insofern ist es nicht richtig, aus Art. 53 EMRK abzuleiten, dass die Rechte und Freiheiten der EMRK einen unbedingt zu wahrenden Mindeststandard europäischen Grundrechtsschutzes bilden, hinter denen innerstaatliche Grundrechte nicht zurückbleiben dürfen. Konkret verbietet Art. 53 EMRK im Zusammenhang mit Art. 10 EMRK und Art. 8 EMRK nicht, die Opferrechte auf geringerem Niveau zu gewährleisten, als es konventionsrechtlich geboten wäre. Ein solches Verbot folgt vielmehr aus der allgemeinen Pflicht zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung der Grundrechte.535 Diese führt dazu, dass die deutschen Grundrechtsgewährleistungen im Lichte der EMRK auszulegen sind. Art.  53 EMRK bietet keine Grundlage für die Auflösung des Konflikts zwischen innerstaatlicher und konventionsrechtlicher Grundrechtsgewährleistung in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis; die Kollisionslage muss nach den allgemeinen Regelungen des Verfassungsrechts gelöst werden. Die Auslegungs- und Abwägungsergebnisse zur EMRK sind unter Beachtung der Rechtsprechung des EGMR in die verfassungsrechtliche Beurteilung einzufassen, um dem Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung gerecht zu werden.536 Dabei verlangt das Bundesverfassungsgericht eine „wertende Berücksichtigung“537 der EMRK und ihrer konkreten Auslegung durch den EGMR. Dabei haben die staatlichen Organe, so das Bundesverfassungsgericht, die Auswirkungen der Berücksichtigung der Entscheidungen des EGMR auf die nationale Rechtsordnung in ihre Rechtsanwendung einzubeziehen; dies gelte insbesondere in Fällen, in denen es sich um ein in seinen Rechtsfolgen ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen Rechts handle, das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich zu bringen habe.538 Das Bundesverfassungsgericht hat Auslegungs- und Abwägungsergebnisse des EGMR auf Basis der EMRK in die innerstaatliche Rechtsordnung einzupassen.539 Im Ergebnis ist der Grundrechtsschutz an beiden Enden des mehrpoligen Grundrechtsverhältnisses an das Niveau der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR

535

BVerfGE 111, 307, 317.

536

BVerfGE 111, 307, 327; Grabenwarter, in: FS Jarass, S. 43, 45.

537

BVerfGE 111, 307, 328.

538

BVerfGE 111, 307, 327.

539

Grabenwarter, in: FS Jarass, S. 43, 45.

198

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

heranzuführen.540 Das bedeutet nicht zwingend, dass das Niveau des Grundrechtsschutzes an beiden „Polen“ des mehrpoligen Grundrechtsverhältnisses angehoben werden müsste. Ist es in einem konkreten Fall möglich, den Grundrechtsschutz einer Person in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis über jenen der EMRK hinaus zu gewährleisten – dies und nur dies regelt und erlaubt Art. 53 EMRK – und gleichzeitig die kollidierende Grundrechtsposition unangetastet zu lassen, die sich bereits auf dem Niveau der EMRK befindet, so ist auch dies mit der Konvention vereinbar. Die konventionsrechtliche Verpflichtung des Staates besteht in einem „mehrpoligen“ Grundrechtsverhältnis darin, dass die innerstaatlichen Organe an beiden „Polen“ das Schutzniveau der EMRK zumindest nicht absenken. Ob dies dadurch erreicht wird, dass die eine Grundrechtsgewährleistung auf dem Niveau der EMRK verbleibt, obwohl der Schutz des anderen Grundrechts über die EMRK hinaus gewährleistet wird, ob der Schutz des einen Grundrechts – ausgehend von einem höheren, über jenem der EMRK liegenden Niveau  – vermindert werden müsste, damit beide immer noch wenigstens auf dem Niveau der EMRK gewährleistet werden können, oder ob der Grundrechtsschutz am anderen „Pol“ auch angehoben wird, um die hohe  – über die EMRK hinausgehende  – Gewährleistung an einem „Pol“ erhalten zu können, ist unerheblich. Die einzige Vorgabe der EMRK ist, dass der Grundrechtsschutz nach innerstaatlichem Recht an keiner Stelle hinter jenem Standard, den die EMRK gewährleistet, zurückbleiben darf. Die Art und Weise, wie innerstaatliche Gerichte dies erreichen, ist ihnen zu überlassen. Hierzu hat der EGMR ihnen einen Beurteilungsspielraum („margin of appreciation“) zu gewährleisten. Daraus ergibt sich für die innerstaatlichen Gerichte ein „Korridor“541 innerhalb dessen sie in praktischer Konkordanz innerstaatliche Grundrechtsgewährleistungen und den Standard der EMRK in einen Ausgleich bringen können,542 sodass sowohl die Vorgaben des Verfassungsrechts als auch das Schutzniveau der EMRK gewahrt sind.543 Innerhalb dieses Spielraums können nationale Grundrechtsgewährleistungen an einem oder an beiden „Polen“ angehoben, auf dem Niveau der EMRK gehalten oder bis zum Niveau der EMRK abgesenkt werden. Im Ergebnis muss aus der Perspektive der EMRK im „mehrpoligen Grundrechtsverhältnis“ an beiden Enden konventionskonformer Grundrechtsschutz gewährleistet werden. Wenn das BVerfG davon ausgeht, dass diese „Einpassung“ der Rechtsprechung des EGMR in die deutsche Verfassungsordnung in bestimmten Fällen ausgeschlossen

540

Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 2 Rn. 16; Grabenwarter, in: FS Jarass, S. 43, 45.

Lübbe-Wolff, in: Hochhuth (Hrsg.), Nachdenken über Staat und Recht, S. 193, 196 ff. („Korridor konventionsrechtlicher Indifferenz“). 541

Vgl. hierzu Lübbe-Wolff, in: Hochhuth (Hrsg.), Nachdenken über Staat und Recht, S.  193, 196 ff.; Ludwigs, in: Pabel/Raschauer (Hrsg.), Die Organisation des Grundrechtsschutzes, S. 47, 69  f.; Klein, NVwZ 2010, 221, 223; Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492, 499; Ruffert, EuGRZ 2007, 245, 253; Thienel, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 53 Rn. 8; Papier, EuGRZ 2006, 1, 3; Ludwigs, EuGRZ 2014, 273, 282 f.

542

543

Grabenwarter, in: FS Jarass, S. 43, 45.

D. Vergleich und Wechselwirkungen zwischen der Rechtsprechung …199

sein kann,544 wird dies über Art. 53 EMRK weder gerechtfertigt noch geregelt.545 Art.  53 EMRK bietet keine Grundlage, völkerrechtlich zu begründen, dass die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR im deutschen Verfassungsrecht zur Auslegung grundrechtlicher Garantien in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen nur innerhalb bestimmter Grenzen zu berücksichtigen sind und das Schutzniveau der EMRK im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis infolgedessen gegebenenfalls an einem „Pol“ unterschritten werden dürfte, um innerstaatlichen Vorgaben für den anderen „Pol“ gerecht zu werden. Eine solche Grenze ergäbe sich allein aus verfassungsrechtlichen Gründen, die nach der Rechtsprechung des BVerfG eine „schematische Parallelisierung“ der grundgesetzlichen Gewährleistungen mit der EMRK in Auslegung durch die Rechtsprechung des EGMR verbieten.546 Das BVerfG nennt Art.  53 EMRK in diesem Zusammenhang zwar,547 es begründet die verfassungsrechtlichen Grenzen der Berücksichtigung der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR aber nicht mit dieser Bestimmung. Das Gericht geht davon aus, dass die EMRK aus rein verfassungsrechtlichen Gründen nur innerhalb gewisser Grenzen in die deutsche Grundrechtsordnung eingepasst werden kann.548 Der Ausgleich zwischen der Meinungsäußerungsfreiheit und der grundrechtlichen Position der Opfer von „Hassrede“ müsste im Grundgesetz somit völkerrechtskonform auf der Basis von Art. 10 EMRK und (zum Beispiel) Art. 8 EMRK unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR erfolgen. In einem solchen „mehrpoligen“ Grundrechtsverhältnis müsste bei Auslegung und Anwendung des deutschen Verfassungsrechts beachtet werden, dass die Rechtsprechung des EGMR konstant von einer sehr strengen und strengeren Behandlung nationalsozialistischer und rechtsextremistischer Äußerungen ausgeht und diese aus dem Schutzbereich ausklammert, sodass die grundrechtliche Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit in der EMRK in diesen Fällen grundrechtlich garantierten Rechten von Opfern einer „Hassrede“ bzw. der staatlichen Schutzpflicht zum Schutz der grundrechtlich gewährleisteten Opferrechte nicht entgegensteht. Die strengere Behandlung der Äußerungen dieser Art in der Rechtsprechung des EGMR erlangt somit Bedeutung und Relevanz für die völkerrechtskonforme Auslegung und Anwendung des Grundgesetzes durch die deutsche Rechtsprechung in Konstellationen mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse. Die Einschränkung des Schutzbereichs bei nationalsozialistischen und rechtsextremistischen Äußerungen durch den EGMR ist aus den genannten Gründen für die Auslegung der grundgesetzlichen Garantien nicht unter Hinweis auf Art.  53 EMRK unbeachtlich, soweit die Meinungsäußerungsfreiheit

544

BVerfGE 111, 307, 327.

545

Siehe hierzu und zum Folgenden Thienel, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 53 Rn. 7.

546

BVerfGE 128, 326, 366 ff., 370.

547

BVerfGE 128, 326, 371; vgl. auch BVerfGE 120, 180, 200 f.

BVerfGE 128, 326, 371 („Grenzen der völkerrechtsfreundlichen Auslegung ergeben sich aus dem Grundgesetz“).

548

200

Kapitel 3: Die Rechtsprechung zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

als Grundrechtsposition mit Grundrechtspositionen Dritter kollidiert.549 Die Opferrechte würden durch eine Anwendung des Art. 53 EMRK auf die Gewährleistung der Meinungsäußerungsfreiheit von „NS-Hassrednern“ stärker beeinträchtigt als in der Konvention. Die EMRK würde für die Opfer nationalsozialistischer Äußerungen – isoliert betrachtet – ein höheres Schutzniveau gewährleisten, weil sie ihnen in einer Abwägung im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung keine grundrechtliche Gewährleistung entgegenstellt. Art.  53 EMRK ermächtigt nicht dazu, den Grundrechtsschutz für die Opfer abzusenken, weil der Grundrechtsschutz für den Äußernden im Grundgesetz über die EMRK hinausgeht. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu nationalsozialistischen Äußerungen kann in diesem von Art. 53 EMRK nicht erfassten Fall von der konventionsrechtlichen Rechtslage beeinflusst werden und ggf. konventionsrechtlich verpflichtet werden, die isoliert betrachtet günstigere Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 Alt. 1 GG im Einzelfall zumindest zurückzunehmen, wenn und soweit dies notwendig ist, um am anderen Ende des mehrpoligen Grundrechtsverhältnisses, bei den Opferrechten aus Art. 2 I GG i. V. m. Art. 1 I GG, das Schutzniveau der EMRK aufrecht zu erhalten.550 Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Abwägungsentscheidung zu berücksichtigen, dass der EGMR aufseiten des Äußernden keine Grundrechtsposition annimmt, weil er die Äußerung nicht in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 10 EMRK einfasst. Gegebenenfalls kann dies nur erreicht werden, indem der Schutz der Meinungsfreiheit nach dem Grundgesetz abgesenkt wird. Gleichzeitig ist aber auch denkbar, dass es im Einzelfall möglich ist, den Schutz der Opferrechte weiter anzuheben und auf diese Weise den hohen – über die EMRK hinausgehenden – Grundrechtsschutz für den Äußernden aus der Meinungsfreiheit beizubehalten, ohne dass am anderen „Pol“ das Niveau des Grundrechtsschutzes unter jenes der EMRK fällt. Konkret bedeutete dies, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung über die Beschwerde eines Opfers von Hassrede, dessen Rechte grundrechtlichen Schutz nach dem Grundgesetz genießen, und das dem Staat eine Verletzung seiner Schutzpflichten aus diesen Gewährleistungen vorwirft, im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung des staatlichen Unterlassens zu dem Ergebnis kommen könnte, bei völkerrechtsfreundlicher Auslegung der Garantien des Grundgesetzes sei die grundrechtliche Position des „Hassredners“ aus Art. 5 I 1 GG der Grundrechtsposition des Opfers nicht entgegenzuhalten. Andererseits könnte es den Anforderungen der EMRK auch genügen, indem es den Rechten des Opfers auf Ebene der Abwägung in völkerrechtsfreundlicher Auslegung so viel Gewicht zumisst, dass sie trotz der Gegenüberstellung einer grundrechtlichen Position des Äußernden, dem Standard der EMRK gemäß gewährleistet werden. Dem Bundesverfassungsgericht ist konventionsrechtlich ein Beurteilungsspielraum eingeräumt, wie es die Kollisionslage des mehrpoligen Grundrechtsverhältnisses auflöst. Am Ende muss es zu dem Ergebnis

549

Vgl. Breuer, NVwZ 2005, 412, 414.

Vgl. hierzu Grabenwarter, in: FS Jarass, S.  43, 45; Thienel, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 53 Rn. 6. 550

D. Vergleich und Wechselwirkungen zwischen der Rechtsprechung …201

gelangen, dass der Grundrechtsschutz an keinem der „Pole“ hinter der Gewährleistung der EMRK in Auslegung durch den EGMR zurückbleibt. Die Rechtsprechung des EGMR zu „Hassreden“ ist aus diesem Grund keineswegs unbeachtlich für die deutsche Rechtsprechung. Sie ist aus den genannten Gründen bei Entscheidungen in Fällen nationalsozialistischer Äußerungen und bei Holocaustleugnungen, die mit Werturteilen verbunden sind, jedenfalls zu berücksichtigen.

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen – Auslegung

Inhaltsverzeichnis A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit. . . . . . . .  205 I. Der Grundrechtsmissbrauch und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen ������������������������������������������������������������������ 205 1. Die „Missbrauchsklauseln“ in den Grundrechtskatalogen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  206 a) Die „Missbrauchsklausel“ der Europäischen Menschenrechtskonvention. . . . . .  206 b) Die „Missbrauchsklausel“ der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  209 c) Die „Missbrauchsklausel“ des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  210 d) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  212 2. Der Anwendungsbereich der „Missbrauchsklauseln“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  212 a) Der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  213 b) Der Anwendungsbereich des Art. 54 GRC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  237 c) Der Anwendungsbereich des Art. 18 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  239 d) Zwischenergebnis zum Anwendungsbereich der „Missbrauchsklauseln“. . . . . .  256 3. Die Rechtsfolge der „Missbrauchsklauseln“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  257 a) Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK in Fällen der Anwendung des Art. 17 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  258 b) Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 11 GRC in Fällen der Anwendung des Art. 54 GRC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  282 c) Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 Alt. 1 GG in Fällen der Anwendung des Art. 18 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  284 d) Zwischenergebnis zur Rechtsfolge der „Grundrechtsmissbrauchsklauseln“. . . .  307 II. Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit unabhängig vom Grundrechtsmissbrauch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  312 1. „Hassreden“ als „opinion“ bzw. „information“ oder „idées“ bzw. „ideas“ im Sinne des Art. 10 I EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  313 a) Wortlautauslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  313 b) Systematische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  314 c) Historische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  316 d) Teleologische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  317 e) Zwischenergebnis zur Auslegung des Art. 10 I EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  323 2. „Hassreden“ als „Meinung“ im Sinne des Art. 11 I GRC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  323 3. „Hassreden“ als „Meinung“ im Sinne des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG. . . . . . . . . . . . . . . . .  324 a) Wortlautauslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  324 b) Systematische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  325 © Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by 203 Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2019 A. K. Struth, Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58153-7_4

204

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

c) Historische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  331 d) Teleologische Auslegung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  333 e) Zwischenergebnis zur Auslegung des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . .  351 B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  352 I. Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  352 II. Die (Un)wahrheit der Äußerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  354 1. Der Schutz von Tatsachenbehauptungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  354 a) Der Schutz von Tatsachenbehauptungen gemäß Art. 10 I EMRK und Art. 11 I GRC������������������������������������������������������������������������������������������������������ 354 b) Der Schutz von Tatsachenbehauptungen gemäß Art. 5 I 1 Alt. 1 GG. . . . . . . . . .  355 2. Der Schutz unwahrer Tatsachenbehauptungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  357 a) Der Schutz unwahrer Tatsachenbehauptungen gemäß Art. 10 I EMRK und Art. 11 I GRC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  357 b) Der Schutz unwahrer Tatsachenbehauptungen gemäß Art. 5 I 1 Alt. 1 GG . . . . .  358 c) Im Besonderen: Die Leugnung historischer Tatsachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  362 d) Im Besonderen: Die Holocaustleugnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  366 e) Ergebnis zur Leugnung historischer Tatsachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  368 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  369 III. Der (demokratiefeindliche) Inhalt der Äußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  371 1. Geltungsgrund der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  372 a) Freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  372 b) Demokratische Willensbildung in der Gesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  373 2. Rechtsstaatliche Sicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  375 3. Gleichheitsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  376 4. Im Besonderen: Kein Vorbehalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Grundgesetz�������������������������������������������������������������������������������  378 5. Im Besonderen: Nationalsozialistische Äußerungen im Schutzbereich des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  380 6. Im Besonderen: Differenzierung nach dem Inhalt der Äußerung im Schutzbereich des Art. 10 EMRK unter Rückgriff auf Art. 17 EMRK. . . . . . . . . . .  386 7. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  386 a) Der Inhalt der Äußerung bei Auslegung und Anwendung des Art. 5 II GG . . . . .  387 b) Der Inhalt der Äußerung bei Auslegung und Anwendung des Art. 10 II EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  395 c) Der Inhalt der Äußerung bei Auslegung und Anwendung des Art. 52 III GRC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  396 d) Die Rechtfertigungsebene als systemgerechter Ort zur Berücksichtigung des Inhalts der Äußerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  396 IV. Das „Gewaltpotenzial“ der Äußerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  398 1. Kein Schutz von Gewalthandlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  398 2. Kein ausdrücklicher Friedlichkeitsvorbehalt für den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  401 3. Das „Gewaltpotenzial“ bei demokratiefeindlichen Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . .  402 a) „Gewaltsame Äußerungen“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  403 b) Vermittlung des „Gewaltpotenzials“ der Äußerung über deren Folgen. . . . . . . . .  404 4. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  412 V. Spezialvorschrift im Grundgesetz: Art. 26 I GG. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  417 VI. Kollidierende Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  420 C. Zwischenergebnis zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  425

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 205

Nachdem die Rechtsprechung zu demokratiefeindlichen Äußerungen analysiert wurde, soll nun eine Auslegung der für den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit in diesen Fällen relevanten konventions-, verfassungs- und chartarechtlichen Bestimmungen erfolgen. Es ist durch Auslegung der Regelungen zu untersuchen, ob und inwieweit der verfassungs-, konventions- und/oder chartarechtlich vorgegebene grundrechtliche Schutzbereich demokratiefeindliche Äußerungen umfasst. Hierzu sind die relevanten Regelungen (Art. 10 und 17 EMRK, Art. 5 I 1 Alt. 1 und Art. 18 GG, Art. 11 und 54 GRC) auszulegen (A.) und es sind spezifische Merkmale, die demokratiefeindliche Äußerungen charakterisieren, im Einzelnen dahingehend zu untersuchen, ob sie zur Begründung der Annahme, eine Äußerung sei nicht vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit umfasst, herangezogen werden können (B.).

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit Es sind – zur Bestimmung des grundrechtlichen Schutzes demokratiefeindlicher Äußerungen – zwei Kategorien von Bestimmungen in den Blick zu nehmen. Zunächst muss untersucht werden, welche Rolle die sog. „Missbrauchsklauseln“ für den Schutzbereich der Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen spielen (I.). In einem zweiten Schritt ist zu fragen, inwieweit die Auslegung der Grundrechtsgarantien der Meinungsäußerungsfreiheit selbst ergibt, dass demokratiefeindliche Äußerungen (nicht) in ihrem Schutzbereich liegen (II.).

I. Der Grundrechtsmissbrauch und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen Im Zusammenhang mit dem grundrechtlichen Schutz demokratiefeindlicher Äußerungen werden häufig die sog. „Missbrauchsklauseln“ der Grundrechtskataloge genannt. Der Einfluss dieser Bestimmungen auf die Frage danach, ob eine demokratiefeindliche Äußerung vom grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit umfasst ist, muss erörtert werden. Hierzu bedarf es einer Auslegung der Bestimmungen, die im jeweiligen Grundrechtskatalog die Funktion einer „Missbrauchsklausel“ übernehmen. Zunächst ist hierzu zu klären, welche Bestimmungen jeweils gemeint sind und aus welchem Grund sie als „Missbrauchsklauseln“ bezeichnet werden. Im Anschluss soll erörtert werden, unter welchen Voraussetzungen nach diesen Bestimmungen ein „Missbrauch“ vorliegt und was

206

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

darunter zu verstehen ist. Sodann muss durch Auslegung der Regelungen untersucht werden, ob bzw. inwieweit ihre Anwendung dazu führt, dass der Missbrauch des Grundrechts, hier der Meinungsäußerungsfreiheit, außerhalb des grundrechtlichen Schutzbereichs liegt. Die nachstehenden Überlegungen sind von der These geleitet, dass sich durch Auslegung der Bestimmungen eine Rechtsfolge der „Missbrauchsklauseln“ definieren lässt, die bei Vorliegen eines Missbrauchs ausgelöst wird. Welche Äußerungen von dieser Rechtsfolge betroffen wären, ist eine Frage des Anwendungsbereichs der Bestimmungen, die vorab zu erörtern ist. Dabei ist zu untersuchen, inwieweit es sich bei den Auswirkungen eines Grundrechtsmissbrauchs auf den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit um Rechtsfolgen der „Missbrauchsklauseln“ handelt und inwieweit der Grundrechtsmissbrauch Tatbestand der so bezeichneten Bestimmungen ist. Außerdem ist zu fragen, ob aus der detaillierten Gegenüberstellung von Art.  17 EMRK und Art.  54  GRC einerseits und Art. 18 GG andererseits Einsichten darüber gewonnen werden können, was die „Missbrauchsklauseln“ der europäischen Grundrechtskataloge gerade nicht sind. Außerdem soll die rechtsvergleichende Betrachtung helfen, Rechtsfolge und Tatbestand der „Missbrauchsklauseln“ zu erläutern und den Einfluss eines grundrechtsmissbräuchlichen Verhaltens auf den grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit mit Blick auf diese Begriffe einzuordnen. 1. Die „Missbrauchsklauseln“ in den Grundrechtskatalogen Jeder der drei Grundrechtskataloge enthält eine Bestimmung, die als „Missbrauchsklausel“ bezeichnet werden kann. Dabei ist zu beachten, dass es um eine Erörterung des Grundrechtsmissbrauchs geht. Dieser ist von der Figur des Rechtsmissbrauchs der allgemeinen Rechtslehre, insbesondere des Zivilrechts, zu unterscheiden.1 Letzterer ist für die Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit nicht relevant und bleibt deshalb außer Betracht. a) Die „Missbrauchsklausel“ der Europäischen Menschenrechtskonvention Auf der Ebene der EMRK wird die Regelung des Art. 17 EMRK in Literatur und Rechtsprechung meist mit dem Begriff des Grundrechtsmissbrauchs verbunden.2 Art. 17 EMRK bestimmt, dass die EMRK nicht so auszulegen ist, als begründe sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht, eine Tätigkeit auszuüben

1 Vgl. hierzu etwa Lerche, in: FS Arndt, S. 199, 205; Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 60 Rn. 49. 2

Vgl. hierzu Struth, in: Grafl/Klob/Reindl-Krauskopf (Hrsg.), 6. ALES-Tagung, S. 91, 97 m. w. Nw.

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 207

oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken als es in der Konvention vorgesehen ist.3 Art.  17 EMRK soll ein allgemeines Verbot des Missbrauchs der Konventionsrechte enthalten, also ein Grundrechtsmissbrauchsverbot normieren.4 Der EGMR interpretiert Art.  17 EMRK als „Missbrauchsklausel“, wenn er formuliert, der Beschwerdeführer versuche Art. 10 EMRK entgegen seines Zwecks zu gebrauchen, wenn er sein Recht auf freie Meinungsäußerung nutze, um Ziele zu verfolgen, die Text und Geist der Konvention widersprächen.5 Die Formulierung enthält nämlich konkret den Gedanken, der Beschwerdeführer gebrauche Art. 10 EMRK entgegen seines Zwecks, und damit den Missbrauchsgedanken. Aus dem Wortlaut des Art.  17 EMRK geht nicht hervor, dass es sich um eine Bestimmung handelt, die Fälle eines Grundrechtsmissbrauchs regelt. Der Begriff des Missbrauchs wird nicht genannt. Allein die Überschrift in den authentischen6 Sprachfassungen der Konvention lässt darauf schließen, dass es sich hier um eine Vorschrift handelt, die im Fall von Missbräuchen der Konventionsrechte eingreift. Die französische Fassung spricht in der Überschrift zu Art.  17 EMRK von einer „Interdiction de l’abus de droit“, die englische Sprachfassung gebraucht den Begriff „Prohibition of abuse of rights“. Der Zusammenhang zwischen dem Wortlaut der Bestimmung und deren Überschrift zeigt, dass jener Tatbestand, der im Wortlaut beschrieben wird, einen Missbrauch der Konventionsrechte bedeutet. Damit bestätigt die grammatikalische Auslegung der Bestimmung die These, es handle sich bei Art. 17 EMRK um eine „Missbrauchsklausel“ in der EMRK.

3 Die authentische (vgl. Schlussklausel der EMRK) französische Sprachfassung lautet: „Aucune des dispositions de la présente Convention ne peut être interprétée comme impliquant pour un Etat, un groupement ou un individu, un droit quelconque de se livrer à une activité ou d’accomplir un acte visant ?a la destruction des droits ou libertés reconnus dans la présente Convention ou à des limitations plus amples de ces droits et libertés que celles prévues à ladite Convention“. Die authentische (vgl. Schlussklausel der EMRK) englische Sprachfassung lautet: „Nothing in this Convention may be interpreted as implying for any State, group or person any right to engage in any activity or perform any act aimed at the destruction of any of the rights and freedoms set forth herein or at their limitation to a greater extent than is provided for in the Convention“. 4 Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 317; Beširević, in: Benedek/Benoit-Rohmer/Karl/Nowak (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights (2012), S. 243, 248; Buyse, in: Brems/Gerards, Shaping Rights in the ECHR, S. 184; Kugelmann, EuGRZ 2003, 533, 535; Berka, ÖZÖRV 1986, 71, 80; McGonagle, European Yearbook on Minority Issues 2010, 419, 426; Cooper/Marshall Williams, EHRLR 1999, 593, 605; Kučs, Journal of Ethnic and Migration Studies 2014, 301, 311; Pech, La liberté d’expression, S. 82; Marauhn/Merhof, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 7 Rn. 20; Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 852 f.; Streinz, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 21 Rn. 251; a. A. Vegléris, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 170 f. (Art. 17 EMRK sei keine Missbrauchsklausel, sondern eine bloße Auslegungsnorm). 5 EGMR, 24. 6. 2003, Garaudy ./. Frankreich, Nr. 65831/01; EGMR, 20. 10. 2015, M’Bala M’Bala ./. Frankreich, Nr. 25239/13, Z. 33, 41; EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14, Z. 31. 6 Gemäß der Schlussklausel der EMRK sind die englische und die französische Sprachfassung authentische Sprachfassungen des Konventionstextes („(…), in English and French, both texts being equally authentic, (…)“).

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Der Text der Bestimmung kann in zwei getrennte Aussagen unterteilt werden. Sie beinhalten zwei unterschiedliche Stoßrichtungen.7 Eine staatsbezogene Ebene soll verhindern, dass Staaten die Konventionsgarantien stärker einschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist.8 Hierin liegt eine Verstärkung der Grenzen der Einschränkungsklauseln der Grundrechtsgarantien sowie der Regelung des Art. 18 EMRK,9 die bestimmt, dass die nach dieser Konvention zulässigen Einschränkungen der genannten Rechte und Freiheiten nur zu den (in der Konvention) vorgesehenen Zwecken erfolgen dürfen. Der EGMR kommt wegen dieser Doppelungen meist zu dem Ergebnis, dass Art. 17 EMRK in der staatengerichteten Variante nicht zusätzlich geprüft werden muss.10 Auf der zweiten Ebene, die an Individuen oder Gruppen von Individuen gerichtet ist, soll Art.  17 EMRK verhindern, dass die Konventionsrechte von diesen zielgerichtet dazu gebraucht werden, die Rechte und Freiheiten der Konvention abzuschaffen oder stärker als in der Konvention vorgesehen einzuschränken.11 Diese individualgerichtete Ebene ist die hier allein relevante und entscheidende Stoßrichtung der Bestimmung.12 Sie enthält den Gedanken des Verbots eines zielgerichteten Gebrauchs der Konventionsgarantien zu deren eigener Abschaffung oder stärkeren Beschränkung, worin ein Missbrauch eben dieser Garantien liegt. Auch eine historische Auslegung führt zu dem Ergebnis, dass Art. 17 EMRK als „Missbrauchsklausel“ verstanden werden muss.13 Die Bestimmung wurde nach dem Vorbild des damaligen Entwurfs für den Internationalen Pakt über bürgerliche und Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 1. Vgl. hierzu Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 5; Frowein, in: Frowein/ Peukert (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 5. 9 Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 1; Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 5. 10 EGMR, 7. 6. 2005, Calheiros Lopes u. a. ./. Portugal, Nr. 69338/01, Z. 41 f.; vgl. hierzu Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 3. 11 EGMR (GK), 16. 3. 2006, Ždanoka ./. Lettland, Nr. 58278/00; Siess-Scherz, in: Korinek/Holoubek u. a. (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art. 17 EMRK Rn. 1; Arai, in: Van Dijk/Van Hoof/Van Rijn/Zwaak (Hrsg.), Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 1084; Jabobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 123; Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, S. 219 f.; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 23; Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 4; Maraun/Merhof, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 7 Rn. 20; Spielmann, in: Mélanges Pettiti, S. 673, 681; Nowak, RUDH 1992, 405; Le Mire, in: Pettiti/Decaux/Imbert (Hrsg.), CEDH, S. 509, 510 f.; Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 853; Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 317; Oetheimer, Cardozo Journal of International and Comparative Law 2009, 427, 430; Oetheimer, RTDH 2007, 63, 66; Van Drooghenbroeck, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 141 ff. 12 Vgl. hierzu Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 12 (Wittreck sieht in Art. 17 EMRK primär eine an den Staat als Erstadressaten gerichtete Norm. Da diese Untersuchung aber in ihrem Gegenstand von vornherein allein auf Konstellationen der individualgerichteten Variante beschränkt ist, kann eine Entscheidung über das Bedeutungsverhältnis der beiden in Art.  17 EMRK jedenfalls enthaltenen Wirkungsvarianten an dieser Stelle dahinstehen.). 13 Den Vorarbeiten zur EMRK, den sog. travaux préparatoires, also einer subjektiv-historischen Interpretation kommt gemäß Art.  32  WVK nur subsidiäre Bedeutung zu (EGMR (GK), 8. 11. 2016, Magyar Helsinki Bizottság ./. Ungarn, Nr. 18030/11, Z. 125; vgl. Bernhardt, Die Auslegung 7 8

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 209

politische Rechte (IPBPR) gestaltet.14 Die entsprechende Bestimmung des IPBPR wurde und wird ebenfalls als „Missbrauchsklausel“ verstanden.15 Das Problem eines Missbrauchs der Freiheit wurde bei Entstehung der EMRK unter Hinweis auf das Bild eines „Wolfs im Schafspelz“ in den Beratungen zu Art. 17 EMRK ausdrücklich thematisiert.16 Die Intention, Mechanismen der Absicherung gegen einen Missbrauch („abuse“) der Konventionsrechte einzufassen, kommt deutlich zum Ausdruck. Der Missbrauch wurde dabei als ein Verhalten verstanden, das unter legitimatorischem Rückgriff auf die Menschenrechte vorgenommen wird, das eigentlich aber dazu dient, dieselben abzuschaffen.17 Art. 17 EMRK war damit unzweifelhaft bereits historisch als Bestimmung zur Regelung von Fällen des Grundrechtsmissbrauchs vorgesehen. Für die Ebene der Europäischen Menschenrechtskonvention ist die relevante Bestimmung bei Untersuchung der „Missbrauchsklauseln“ der Grundrechtskataloge Art. 17 EMRK. b) Die „Missbrauchsklausel“ der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Der unionsrechtliche Grundrechtskatalog der Grundrechtecharta enthält die Bestimmung des Art.  54  GRC, die Art.  17 EMRK nachgebildet ist und somit aus den gleichen Gründen als „Missbrauchsklausel“ bezeichnet werden kann. In der Literatur wird in Art. 54 GRC ebenfalls ein Missbrauchsverbot gesehen.18 Art. 54 GRC bestimmt, dass keine Bestimmung dieser Charta so auszulegen ist, als begründe sie das Recht, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung vorzunehmen, die darauf abzielt, die in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als dies in der Charta vorgesehen ist. Obwohl der Begriff auch in dieser Bestimmung – außer in der Überschrift (Verbot des Missbrauchs der Rechte) – nicht verwendet wird, geht es nach verbreiteter völkerrechtlicher Verträge, S. 120; Simon, L’interprétation judiciaire des traités d’organisations internationales, S. 368 f.). Art. 32 WVK sieht vor, dass die travaux préparatoires und die Umstände des Vertragsabschlusses zur Bestätigung oder Bestimmung des Vertragszwecks nur dann herangezogen werden, wenn die Auslegung nach Art. 31 WVK die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt. Es handelt sich bei den Materialien zur EMRK daher nur um ergänzende Auslegungsmittel, die dafür herangezogen werden können, eine Bedeutung, die unter Rückgriff auf die übrigen Auslegungsmethoden ermittelt wurde, zu bestätigen oder die Bedeutung in einem Fall zu bestimmen, in dem sie ohne einen solchen Rekurs auf die Materialien ambivalent, obskur oder unvertretbar wäre (Köck, Vertragsinterpretation und Vertragsrechtskonvention, S. 94 f.; vgl. auch Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 142; EGMR (GK), 8. 11. 2016, Magyar Helsinki Bizottság ./. Ungarn, Nr. 18030/11, Z. 125). 14 Travaux préparatoires, Vol. III, S. 267. 15 Vgl. statt vieler Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 308. 16 Travaux préparatoires, Vol. I, S. 110; vgl. hierzu auch Travaux préparatoires, Vol. II, S. 28 („like a wolf in sheep’s clothing“). 17 Travaux préparatoires, Vol. II, S. 136. 18 Bezemek, in: Holoubek/Lienbacher (Hrsg.), GRC, Art.  54 Rn.  6; Streinz/Michl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 54 Rn. 2 f.; Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 1; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 54 Rn. 4.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Ansicht in der Vorschrift um die Abwehr eines Missbrauchs der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten.19 Dieser Missbrauch liegt – liest man Überschrift und Bestimmungstext gemeinsam – darin, dass ein Recht oder eine Freiheit der Charta gebraucht wird, um die Freiheit für andere abzuschaffen oder ihren Anspruch auf Gleichbehandlung auszuschließen. Der Wortlaut der Bestimmung des Art. 54 GRC nennt die Adressaten nicht in gleicher Ausdrücklichkeit wie Art. 17 EMRK. Allerdings ist die individuelle Stoßrichtung ungeachtet dessen unstrittig anerkannt.20 Meist wird aber – weil Art. 17 EMRK auch „einen Staat“ erwähnt und für die Auslegung des Art. 54 GRC maßgeblich ist – auch die staatengerichtete Konstellation angenommen.21 Die Hoheitsträger dürfen die Grundrechte der GRC nicht abschaffen oder stärker als nach den allgemeinen Regeln der Charta vorgesehen einschränken. Insoweit ist Art. 54 GRC – vergleichbar mit Art. 17 EMRK in seiner staatengerichteten Variante – lediglich eine Bestärkung der in der GRC vorgesehenen Schranken-Schranken.22 Jedenfalls und hier allein relevant bezieht sich Art. 54 GRC auf Fälle, in denen grundrechtsberechtigte Individuen oder Gruppen von Individuen eine Tätigkeit ausüben oder Handlungen vornehmen, die auf die Abschaffung der Grundrechte der Charta gerichtet sind.23 Art. 54 GRC regelt den Fall des Grundrechtsmissbrauchs und ist grundrechtliche „Missbrauchsklausel“ auf unionsrechtlicher Ebene.24 c) Die „Missbrauchsklausel“ des Grundgesetzes Auf Ebene des deutschen Grundgesetzes ist die Bestimmung des Art. 18 GG zur Grundrechtsverwirkung im  Zusammenhang mit einem grundrechtsmissbräuchlichen

Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art.  54 Rn.  4; Zuleeg, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Missbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 41, 50. 20 Auch Wittreck bestreitet trotz Annahme einer geringen Relevanz die Existenz der Stoßrichtung in der Norm nicht (Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 15) Er geht für Art. 54 GRC ebenso wie für Art. 17 EMRK davon aus, dass der Schwerpunkt der Bestimmungen in der Abwehr möglicher mitgliedstaatlicher Versuche liege, Rechte der Bürger unter missbräuchlicher Berufung auf Rechte Dritter zu beschneiden. Die individualgerichtete Wirkung liege „eher am Rande des Wahrnehmungsfeldes“. Da Wittreck aber die Existenz der individualgerichteten Wirkung der Bestimmung auch für Art. 54 GRC nicht bestreitet, sondern allein deren Bedeutung als gering einstuft und es in der vorliegenden Untersuchung nur um Konstellationen der individualgerichteten Wirkung geht, kann eine Entscheidung über das Rangverhältnis zwischen beiden Wirkungsweisen des Art. 54 GRC wegen Irrelevanz für die gestellte Frage ebenso dahinstehen wie für Art. 17 EMRK. 21 Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 54.24; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 13; a. A. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 54 Rn. 2. 22 Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 8. 23 Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 6. 24 Art. 54 GRC darf nicht mit der unionsrechtlichen Rechtsfigur des Rechtsmissbrauchs verwechselt werden (vgl. Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 4; Woods, in: Peers/ Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 54.45). 19

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 211

Handeln oder Tätigwerden zu sehen. Gemäß Art.  18  GG verwirkt derjenige, der die in der Vorschrift genannten Grundrechte, unter ihnen die Meinungsäußerungsfreiheit und die Versammlungsfreiheit, zum Kampf gegen die FDGO missbraucht, diese Grundrechte. Art. 18 GG ist jedenfalls kein Grundrecht.25 Die individualgerichtete Stoßrichtung der Bestimmung geht aus ihrer Formulierung klar hervor. Art. 18 GG nennt den Missbrauch der genannten Grundrechte zum Kampf gegen die FDGO im Wortlaut ausdrücklich. Zu erläutern ist, ob hierin eine allgemeine Definition eines Grundrechtsmissbrauchs liegt und ob es sich um eine Bestimmung handelt, die den allgemeinen Grundrechtsmissbrauch regelt. Einigkeit besteht darüber, dass es sich bei Art. 18 GG um eine Verfassungsbestimmung handelt, die einen Ausschnitt der möglichen Missbrauchshandlungen gegenüber grundrechtlichen Garantien erfasst.26 Art.  18  GG regelt, wenn auch nur für bestimmte Fallkonstellationen,27 ein Verbot des Grundrechtsmissbrauchs28 bzw. verweist zumindest in der Sache auf den Gedanken des Missbrauchsverbots.29 Art. 18 GG trifft eine Aussage darüber, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Form der Staat im Interesse des Demokratie- und Verfassungsschutzes grundrechtsbeschränkende Maßnahmen ergreifen darf.30 Art. 18 GG hat keine große praktische Bedeutung erlangt.31 In der Literatur wird ihm ein Dasein ohne Bedeutung bescheinigt.32 Der Bestimmung wird lediglich eine Reserve-33 bzw. eine Symbol- und Warnfunktion34 zugeschrieben. Dennoch ist die Bestimmung für die Zwecke dieser Arbeit von Bedeutung, da sie die äquivalente Regelung zu Art. 17 EMRK darstellt. Es wird sich herausstellen, dass Art. 18 GG und Art. 17 EMRK unterschiedliche Rechtsinstrumente sind, die sich in Anwendungsbereich und Rechtsfolgen stark unterscheiden. Gerade deshalb

Ruland, Der Begriff der Freiheitlichen Demokratischen Grundordnung im Grundgesetz, S. 52; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 32. 26 Kutscha, Verfassung und „streitbare Demokratie“, S.  121  f.; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 180; Arnold, BayVBl. 1978, 520, 522; Hönsch, Die Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG, S. 27; Schmitt Glaeser, AöR 95, 320, 321 f. 27 A. A. Krüger, DVBl. 1953, 97, 99, der davon ausgeht, es gebe keinen Grundrechtsmissbrauch außerhalb von Art. 18 GG. Art. 18 GG sei nicht als ein besonders hervorgehobener und speziell geregelter Fall des Missbrauches von Grundrechten zu verstehen. 28 Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 171. 29 Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 1. 30 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 18. 31 Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art.  18 Rn.  12; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 10. 32 Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 17 ff.; Schwabe, ZRP 1991, 361, 362; Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 290; Zuleeg, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 41, 42 f. 33 Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 3.1. 34 Schliesky, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, §  277 Rn.  28; Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340, 349 f. 25

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

ist eine Gegenüberstellung notwendig, um eine präzise Charakterisierung beider Bestimmungen in Abgrenzung zur jeweils anderen zu erreichen. Die geringe praktische Bedeutung des Art. 18 EMRK steht dem nicht entgegen. d) Zwischenergebnis Alle drei untersuchten Grundrechtskataloge kennen „Missbrauchsklauseln“. In allen drei Grundrechtskatalogen liegen grundsätzlich Situationen im Anwendungsbereich dieser Regelungen, in denen Grundrechte zum Zweck der Abschaffung der Rechte und Freiheiten des jeweiligen Grundrechtssystems gebraucht werden. Sowohl Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC als auch Art. 18 GG sanktionieren den individuellen Missbrauch der grundrechtlich garantierten Freiheiten. Fraglich bleibt, welche Situationen damit jeweils genau erfasst werden, was Missbrauchshandlungen und Tätigkeiten sind, die die Anwendung der Bestimmungen auslösen und was Schutzgut der Bestimmungen ist, gegen das sich die Handlungen letztlich richten müssen, um in den Anwendungsbereich der „Missbrauchsklauseln“ zu fallen. Weiter bleibt – vor dem Hintergrund der Frage nach dem Umfang des grundrechtlichen Schutzbereichs – zu erörtern, welche Rechtsfolge die „Missbrauchsklauseln“ im Fall ihrer Anwendung auslösen. Zu untersuchen ist im Besonderen, wie sich die Anwendung der „Missbrauchsklauseln“ auf die Grundrechtsgarantien auswirkt und was die Rechtsfolge der „Missbrauchsklauseln“ in Bezug auf die grundrechtliche Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit und insbesondere ihren Schutzbereich ist. Zur Begründung dessen, dass demokratiefeindliche Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegen, müsste sich feststellen lassen, dass es sich bei demokratiefeindlichen Äußerungen um einen Anwendungsfall der jeweiligen Missbrauchsklausel handelt und die Äußerungen infolgedessen, dass sie in diesen Anwendungsbereich der „Missbrauchsklausel“ fallen, außerhalb des Schutzbereichs der Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit liegen. Zunächst ist damit nach dem Anwendungsbereich der „Missbrauchsklauseln“ gefragt. Die Erörterung des Anwendungsbereichs der „Missbrauchsklauseln“ gibt Antwort darauf, welche Äußerungen gegebenenfalls außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit liegen; ob eine Äußerung infolge einer Anwendung der „Missbrauchsklausel“ außerhalb des Schutzbereichs der grundrechtlichen Garantie einzuordnen ist, ist erst mit der Rechtsfolge der „Missbrauchsklauseln“ zu klären. 2. Der Anwendungsbereich der „Missbrauchsklauseln“ Zunächst ist zu fragen, wann ein Missbrauch der Grundrechtsgarantien nach der jeweiligen „Missbrauchsklausel“ vorliegt. Der Anwendungsbereich der „Missbrauchsklauseln“ ist zu definieren, um bestimmen zu können, wie weit der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit reicht, d. h. nach welchen Kriterien Äußerungen, – setzt man voraus, dass Rechtsfolge der „Missbrauchsklauseln“ ein Ausschluss

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 213

der Äußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit ist – den „Missbrauchsklauseln“ gemäß, (nicht) im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegen. a) Der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK Bei Art. 17 EMRK ist der Missbrauch Teil des Tatbestands der Bestimmung. Da es sich bei Art.  17 EMRK nicht um ein Grundrecht, sondern um eine Regelung der Grundrechtsbeschränkung handelt, kann hier nicht von einem Schutzbereich gesprochen werden. Vielmehr geht es um jenen Bereich, in dem gerade kein grundrechtlicher Schutz gewährt wird, weil die „Missbrauchsklausel“ anwendbar ist.35 Aus der Formulierung des Art. 17 EMRK ergibt sich, dass die Bestimmung nicht unabhängig bzw. isoliert herangezogen werden kann, sondern ihre Anwendung immer mit einem Konventionsrecht verbunden ist, das missbraucht wurde, zu sein scheint oder zu werden droht.36 Dies folgt begriffsnotwendig daraus, dass es sich um einen Grundrechtsmissbrauch handelt, bei dem stets ein konkretes Grundrecht wenigstens potenziell missbraucht werden muss.37 i. Die Grundrechtsgarantien im Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK Während Art.  18  GG bereits in seinem Wortlaut nur bestimmte Grundrechte nennt, die verwirkt werden können, bezieht sich Art.  17 EMRK ausgehend von seinem Wortlaut auf alle Garantien der Konvention. Der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK ist jedoch durch die Art der erfassten tatsächlichen Sachverhaltskonstellationen auf bestimmte Grundrechtsgarantien beschränkt.38 Die Bestimmung kann nur auf Grundrechte angewendet werden, in deren Schutzbereich diese Sachverhaltskonstellationen fallen können. Dies können gleichzeitig nur solche Grundrechtsgarantien sein, die geeignet sind, zur Zerstörung der Rechte und Freiheiten der Konvention eingesetzt zu werden, weil die von ihr erfassten

Vgl. hierzu Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 185, der von einem „(non-protective) scope“ spricht. 36 Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 57 f.; Cooper/Marshall Williams, EHRLR 1999, 593, 605; Villiger, Handbuch EMRK, § 34 Rn. 671; Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 1, 3, 9; Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 54.25; Esser, in: Löwe/Rosenberg (Hrsg.), StPO, Art. 17 EMRK Rn. 3. 37 Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art.  17  MRK Rn.  9 und Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 4 gebrauchen an dieser Stelle den Begriff der Akzessorietät. ME birgt die Verwendung des Begriffs der Akzessorietät aber im Zusammenhang mit der EMRK die Gefahr einer Verwechslung mit dem Konzept der Akzessorietät des Art. 14 EMRK. Mit dieser ist der hier relevante Umstand, dass Art. 17 EMRK nicht unabhängig von den Grundrechten der Konvention herangezogen werden kann, aber jedenfalls nicht identisch. Deshalb wird diese Begriffsverwendung vorliegend vermieden. 38 Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 318. 35

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Sachverhaltskonstellationen solche sind, die Gefahren für die Rechte und Freiheiten bedeuten (können).39 Die Grundrechtsgarantie muss grundsätzlich Tätigkeiten und Handlungen erfassen, die tatsächlich auf die Zerstörung oder Beschränkung der Konventionsrechte gerichtet sein können. Dazu muss die Grundrechtsgarantie eine solche sein, die überhaupt durch Handlungen in Anspruch genommen wird.40 Die Grundrechte müssen sog. „Verhaltensgrundrechte“41 sein. Grundrechte, die keine Handlungen des Einzelnen schützen, sind nicht erfasst,42 denn der Beschwerdeführer beruft sich bei diesen nicht auf einen Artikel der Konvention, um eine eigene Handlung zu rechtfertigen.43 Auf Art. 5 und Art. 6 EMRK ist die „Missbrauchsklausel“ nicht anwendbar, weil sie nicht durch Handlungen in Anspruch genommen werden. Diese Garantien können nicht Gegenstand eines Grundrechtsmissbrauchs sein, weil die Berufung auf Art.  6 EMRK keine Gefahr der Abschaffung der Verfahrensgarantien bergen kann.44 Dasselbe gilt für die Grundrechtsgarantien der Art. 2, 3, 4, 7, 12 und 13 EMRK sowie zahlreiche Bestimmungen der Zusatzprotokolle. Diese Grundrechte sind keine Freiheitsgrundrechte, die die Freiheit menschlichen Verhaltens sichern. Aus diesem Grund kann keine Situation entstehen, in denen diese Grundrechte durch menschliches Verhalten missbraucht werden. Art. 17 EMRK betrifft insbesondere die Art. 9, 10 und 11 EMRK sowie Art. 3 ZP 1 EMRK. Teilweise wird auch Art. 2 ZP 1 EMRK zu den Grundrechten gezählt, auf die Art. 17 EMRK bezogen ist.45 Für demokratiefeindliche Äußerungen sind neben Art. 10 EMRK im Wesentlichen die Grundrechte aus Art. 9 und Art. 11 EMRK relevant. Auf diese ist Art. 17 EMRK nach den genannten Grundsätzen anwendbar, weil es sich um „Verhaltensgrundrechte“ handelt. ii. Die „Tathandlung“ Art. 17 EMRK verlangt eine spezifische „Tathandlung“. Der Wortlaut der Bestimmung lässt weitgehend offen, von welcher Qualität die Tätigkeit oder Handlung sein muss („de se livrer à une activité ou d’accomplir un acte visant à la destruction […] ou à des limitations plus amples de ces droits et libertés que celles prévues à ladite Convention“/ „to engage in any activity or perform any act aimed at the destruction […] or at their limitation to a greater extent than is provided for in

Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 853. Jacobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 124. 41 Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 12. 42 Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 2; Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 5. 43 Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 30. 44 Jaqué, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 129, 133; Villiger, Handbuch EMRK, § 34 Rn. 672; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 189. 45 Villiger, Handbuch EMRK, S. 464. 39 40

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 215

the Convention“). Der Grundrechtsträger muss eine Tätigkeit oder Handlung vornehmen, die auf Abschaffung bzw. „stärkere als in der Konvention vorgesehene Einschränkung“ der in der EMRK garantierten Rechte und Freiheiten gerichtet ist, um „missbräuchlich“ i. S. d. Bestimmung zu handeln.46 Art. 17 EMRK definiert auf diese Weise den Missbrauch. (1) Äußerungen als Tätigkeiten und Handlungen Zunächst ist zu prüfen, was mit Tätigkeiten und Handlungen bzw. „activités“ und „actes“ bzw. „activity“ und „act“ gemeint ist.47 Insbesondere im Bereich der demokratiefeindlichen Äußerungen ist von Bedeutung, ob diese Begriffe den verbalen Bereich menschlichen Verhaltens, also Meinungsäußerungen, erfassen. Der EGMR bezieht, wie sich aus der Analyse der Rechtsprechung ergibt,48 Meinungsäußerungen regelmäßig in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK ein. In der Literatur wird teilweise bezweifelt, dass sich dies zwingend aus einer Auslegung der Bestimmung ergibt.49 Bloße Äußerungen und politische Zielsetzungen sollen danach von vornherein aus dem Anwendungsbereich ausgeklammert werden.50 „Activity“ wird definiert als „the condition in which things are happening or being done“51 bzw. „the condition of being active oder moving about“.52 „Act“ bedeutet „the process of doing something“53 bzw. „the performance of some physical or mental process“.54 In der französischen Sprachfassung sind die Begriffe des Wortlauts als „ensemble de phénomènes par lesquels se manifestent certaines formes de vie, un processus, un fonctionnement“55 (activité) und „manifestation concrète de l'activité volontaire de quelqu'un, considérée en tant que fait objectif et accompli“56 bzw. „manifestation pure et simple de la volonté“ (acte) definiert. Keine der Definitionen schließt es aus, Äußerungen in den Begriff einzubeziehen. Die so näher

Hoffmann-Remy, Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung, S. 50. Gemäß der Schlussklausel der EMRK sind die französische und die englische Sprache die beiden authentischen Sprachen. 48 Siehe hierzu oben Kapitel 3. 49 Hong, ZaöRV 2010, 73, 76; Arai, in: Van Dijk/Van Hoof/Van Rijn/Zwaak (Hrsg.), Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 1087; Pech, La liberté d’expression, S. 252 f. 50 Vgl. hierzu Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 9; Pech, The Law of Holocaust Denial in Europe, S. 39. 51 English Oxford Living Dictionaries, abrufbar unter: https://en.oxforddictionaries.com/definition/ activity. 52 Concise Oxford English Dictionary. 53 Concise Oxford English Dictionary. 54 Collins English Dictionary. 55 Larousse, abrufbar unter: http://www.larousse.fr/dictionnaires/francais/ activit%C3%A9/947?q=activit%C3%A9#941. 56 Larousse, abrufbar unter: http://www.larousse.fr/dictionnaires/francais/acte/878?q=acte#873. 46 47

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

definierten Begriffe der „activités“ und „actes“ bzw. „activity“ und „act“ sprechen zumindest nicht dagegen, bloße Meinungsäußerungen in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK einzuordnen.57 Der Begriff „aimed“ bzw. „visant“ macht deutlich, dass die Intention, die die Person verfolgt, wenn sie die „activités“ oder „actes“ vornimmt, entscheidend und hinreichend ist. Eine schädliche Intention kann in einer Äußerung ebenso liegen wie in einer physischen Handlung. Die Verbindung der Begriffe im Wortlaut spricht nicht nur nicht gegen eine Einbeziehung von Äußerungen, sondern deutet im Gegenteil auf diese hin. Meinungsäußerungen sind sprachlich jedenfalls erfasst.58 Eine teleologische Auslegung des Art. 17 EMRK gemäß Art. 31 WVK59 spricht ebenfalls dafür, Meinungsäußerungen in den Anwendungsbereich einzubeziehen. Art.  17 EMRK nicht auf Äußerungen anzuwenden, widerspräche einer effektivitätssichernden und einer teleologischen Auslegung des Art. 17 EMRK. Die Gesamtkonzeption der EMRK, die darauf abzielt, die Demokratie aktiv zu verteidigen,60 verlangt es, verbale Angriffe auf Demokratie und Menschenrechte in den Bereich jener Verhaltensweisen, die einen Grundrechtsmissbrauch darstellen können und damit die Rechtsfolge des Art. 17 EMRK auslösen, einzubeziehen.61 Ziel und Zweck der Vorschrift ist eine Abwehr aller Versuche, die in der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten zu zerstören. Diese Versuche finden tatsächlich sehr häufig in Form von öffentlichen Reden, Flugblättern, Artikeln in Propagandazeitschriften oder Kundgebungen anderer Art und damit als Äußerungen statt. Bezöge man verbale Versuche der Zerstörung der Rechte und Freiheiten der Konvention nicht in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK ein, liefe die Vorschrift weitestgehend leer.62 Dies widerspräche einer effektivitätssichernden Auslegung der EMRK,63 deren Gesamtziel als völkerrechtlicher Vertrag es ist,64

Hoffmann-Remy, Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung, S. 51. Ebenso Hoffmann-Remy, Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung, S. 51; Hochmann, Le négationnisme, S. 277; a. A. Flauss, RUDH 1992, 464. 59 Die Auslegung der EMRK wird von den allgemeinen Auslegungsregeln der Art. 31 bis 33 WVK geleitet, denen als Völkergewohnheitsrecht allgemeine Geltung zukommt und die daher für die EMRK gelten, obwohl die WVK strenggenommen wegen des Mangels an Rückwirkung nach Art. 4 WVK nicht auf das ältere Vertragswerk, die EMRK, anwendbar ist (Sinclair, The Vienna Convention on the Law of Treaties, S. 19 und 153; Villiger, Handbuch der EMRK, S. 162 ff.). So schließlich auch EGMR (GK), 21 .2. 1975, Golder ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 4451/70, Z. 29; vgl. zuletzt EGMR (GK), 8. 11. 2016, Magyar Helsinki Bizottság ./. Ungarn, Nr. 18030/11, Z. 118. 60 Siehe hierzu Kapitel 2. 61 Hoffmann-Remy, Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung, S. 52. 62 Ebenso Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 123 f. 63 Die effektivitätssichernde Auslegung als Variante der teleologischen Auslegung ist gemäß Art. 31 WVK an Ziel und Zweck des Vertrags zu orientieren. Ziel und Zweck des Vertrags müssen durch Auslegung der Bestimmungen des Vertrags effektiv werden. Jede Auslegung, die Teile des Vertrags überflüssig macht oder ihre praktische Wirksamkeit mindert, ist zu vermeiden (siehe hierzu Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Art. 31 Rn. 35). 64 Siehe zur Frage der teleologischen und effektivitätssichernden Auslegung des Art. 17 EMRK im Sinne des Gesamtziels der EMRK als völkerrechtlicher Vertrag ausführlich unten. 57 58

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 217

die Menschenrechte möglichst weitgehend und umfassend zu garantieren. Einem großen Teil der Angriffe auf die Rechte und Freiheiten Dritter könnte nämlich nicht entgegengetreten werden; deshalb ist eine solche Auslegung abzulehnen. Dieses Argument wird durch einen anderen Aspekt weiter verstärkt. Die bereits erwähnte, von den Grundrechten der Konvention „abhängige“ Natur des Art.  17 EMRK, wird teilweise als Argument dafür eingesetzt, Äußerungen in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK einzubeziehen. Art. 17 EMRK sei nur einschlägig, wenn ein Recht aus der Konvention für die konventionsfeindlichen Ziele in Anspruch genommen werde. Von vornherein kämen daher nur Handlungen in Betracht, die denkmöglich unter dem Schutz der Konvention stünden, somit seien jedenfalls Gewalttaten, Umstürze, Aufruhr und alle Handlungen, die direkt oder unmittelbar auf physische Bedrohnungen Dritter abzielten, ausgenommen. Dann liege es auf der Hand, dass auch und vor allem Meinungsäußerungen, friedliche Versammlungen und Zusammenschlüsse zentrale Anwendungsfelder des Art.  17 EMRK seien.65 Das zutreffende Argument liegt darin, dass letztlich nur verbale Äußerungen und non-verbales Äußerungsverhalten eine Rolle spielen, weil gewalttätige Handlungen ohnehin schon nicht vom Schutzbereich der Grundrechte erfasst werden. Im Anwendungsbereich der „Missbrauchsklausel“ liegt grundsätzlich nur menschliches Verhalten, das im Schutzbereich des Art.  10 bzw. des Art.  11 EMRK läge, gäbe es Art. 17 EMRK als Ausnahmebestimmung für grundrechtsmissbräuchliches Verhalten nicht. Ein Verhalten, das bereits nach den grundrechtlichen Garantiebestimmungen allein keinen Schutz genießt, kann kein grundrechtsmissbräuchliches Verhalten sein und Art. 17 EMRK spielt für dieses keine Rolle. Anders formuliert ist Art. 17 EMRK nur auf Tätigkeiten und Handlungen anwendbar, die dem Grunde nach von einem materiellen Konventionsrecht der EMRK geschützt werden.66 Ein Grundrechtsmissbrauch kann nur bei solchem Verhalten vorliegen, das grundsätzlich konventionsgrundrechtlich geschützt sein kann. Verhaltensweisen, die aus Gründen aus dem Schutzbereich ausgeschlossen werden, die nicht in Art. 17 EMRK liegen, sind – wenn man davon ausgeht, dass die Rechtsfolge des Art. 17 EMRK darin besteht, dass eine Äußerung infolge der Anwendung der Bestimmung nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegt – im Ergebnis dem grundrechtsmissbräuchlichen Verhalten gleichgestellt; Art. 17 EMRK spielt für diese aber keine Rolle. Klammert man diese Verhaltensweisen aus, bleiben aber als potenziell grundrechtsmissbräuchliche Handlungen nur Äußerungen in einem weiten Sinne. Der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK liefe leer, wenn man die Äußerungen nicht unter die Tätigkeiten und Handlungen fassen würde, die der Wortlaut nennt.

Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 9. Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 4; vgl. auch Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 159 f. („hypothetische Zuweisung eines Lebenssachverhalts zum Schutzbereich einer grundrechtlichen Gewährleistung“, „präsumtiver Anteil am Schutzbereich des Art. 10 EMRK“), S. 213 („strukturell als grundrechtlich relevante Äußerungen i. S. v. Art. 10 I EMRK zu begreifen“).

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Außerhalb von Äußerungen und ähnlichen Verhaltensweisen bleibt für Art.  17 EMRK beinahe kein Anwendungsbereich. Ein weiteres Argument resultiert daraus, dass – wie es aus den Materialien zur EMRK hervorgeht – Art.  5 IPBPR historisch eine Vorbildfunktion für Art.  17 EMRK einnahm. Eine historische Auslegung des Art.  5 IPBPR ergibt nämlich, dass der Inhalt dieser Bestimmung stets in engem Verhältnis zur Meinungsfreiheit gesehen wurde. Äußerungen wurden als für diese „Missbrauchsklausel“ so entscheidender Anwendungsbereich angesehen, dass darüber nachgedacht wurde, die Klausel im Pakt direkt in die Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit zu integrieren. Dies wurde abgelehnt, weil man andere, wenn auch weniger häufige, tatsächliche Anwendungsfelder sah und deren rechtliche Erfassung nicht gänzlich verneinen wollte.67 Dies ändert aber nichts daran, dass Äußerungen jedenfalls als ein, und sogar das hauptsächliche, Anwendungsfeld der „Missbrauchsklausel“ im IPBPR gesehen wurden. Art. 17 EMRK steht in sehr engem Entstehungszusammenhang mit Art. 5 IPBPR. Dies muss vor dem genannten Hintergrund als historisches Argument dafür gelten, Äußerungen in den Anwendungsbereich des Art.  17 EMRK einzubeziehen. Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung wird im Rahmen des Art. 5 IPBPR unter den Begriff der „activity“ subsumiert, der jedes Wirken im weitesten Sinne erfassen soll.68 Dies kann für Art. 17 EMRK übernommen werden. Es macht deutlich, dass nicht nur wesentliche Angriffe auf Rechte und Freiheiten der Konvention aus dem Anwendungsbereich ausgeschlossen würden, bezöge man die Äußerungen nicht ein, sondern der Anwendungsbereich sogar weitgehend leerliefe, schlösse man die einzigen aus systematischen Gründen in diesen Anwendungsbereich fallenden Verhaltensweisen über eine Wortlautauslegung aus. Art. 17 EMRK erfasst im Ergebnis auch Äußerungen.69 (2) Intention zur Abschaffung oder Einschränkung der Rechte und Freiheiten der Konvention Wenn nun Meinungsäußerungen in den Anwendungsbereich einbezogen sind, muss weiter erörtert werden, wann diese einen Missbrauch im Sinne der Bestimmung des Art. 17 EMRK darstellen. Die Konventionsrechte dürfen nicht zu dem Zweck genutzt werden, sie selbst abzuschaffen oder stärker als in der Konvention vorgesehen einzuschränken („aimed at the destruction of any of the rights and freedoms […] or at their limitation to a greater extent than is provided for in the Convention“/ „visant à la déstruction des droits ou libertés […] ou à des limitations plus amples

United Nations, General Assembly, Annotation of the Draft International Convenants on Human Rights, Doc. A/2929, 1. Juli 1995, S.  75 (abrufbar unter: https://documents-dds-ny.un.org/doc/ UNDOC/GEN/N55/173/02/PDF/N5517302.pdf?OpenElement). 68 Partsch, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg.), Bd. 1, 1. Halbband, Die Grundrechte in der Welt, S. 243, 314. 69 Im Ergebnis so auch Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 11. 67

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 219

de ces droits et libertés que celles prévues à ladite Convention“).70 Ein Missbrauch liegt – allgemein ausgedrückt – immer dann vor, wenn der Einzelne das Gegenteil des mit der Schaffung des konkreten Menschenrechts verfolgten Zwecks erreichen möchte.71 Die Wortwahl „aimed“ bzw. „visant“ im Wortlaut des Art. 17 EMRK deutet darauf hin, dass es nicht notwendig ist, dass Rechte und Freiheiten tatsächlich schon zerstört oder beschränkt werden. Vielmehr scheint es nach dem Wortlaut zu genügen, dass eine Intention zur Zerstörung oder weitgehenden Beschränkung des Rechts vorhanden ist und dass irgendeine Handlung gesetzt wurde, um diese Zielsetzung voranzutreiben.72 Die Intention der betreffenden Personen ist für eine Anwendung der „Missbrauchsklausel“ jedenfalls relevant.73 Allerdings muss beachtet werden, dass vergangene Verhaltensweisen nicht maßgeblich sind. Die entscheidende Intention ist immer jene, mit der die konkret vorgenommene grundrechtsrelevante Handlung getätigt wird oder wurde.74 Aus einer reinen Wortlautauslegung erscheint das subjektive Element nicht nur notwendig, sondern hinreichend. (3) „Objektive Gefahrgeneigtheit“ Fraglich ist aber, inwieweit ein objektives Element erforderlich ist. Meist wird davon ausgegangen, Art. 17 EMRK sei gefahrenneutral, weil er nicht ausdrücklich voraussetze, dass die grundlegenden Werte der Konvention tatsächlich gefährdet werden.75 Teilweise wird aber mit einiger Berechtigung bezweifelt, dass dies mit einer teleologischen Auslegung der Bestimmung vereinbar sein kann.76 Der Zweck der EMRK, der effektive Menschenrechtsschutz, gebietet, dass tatsächliche Gefahren und Konsequenzen für die Demokratie vorliegen, damit die Grundrechte konventionsgemäß eingeschränkt werden können.77 Anzunehmen ist, dass eine gewisse „objektive Gefahrgeneigtheit“ gegeben sein muss, damit Art. 17 EMRK angewendet werden kann.78 Dies ist auch mit dem Wortlaut der Bestimmung vereinbar. Die Äußerung muss objektiv jedenfalls prima facie geeignet sein, eine Gefahr für die Rechte und Freiheiten der Konvention darzustellen oder hervorzurufen.

EGMR, 2. 10. 2008, Leroy ./. Frankreich, Nr. 36109/03, Z. 26. Daes, in: FS Cassin, S. 79, 89 f. 72 Genn, Israel Yearbook on Human Rights 1983, 189, 200; Cohen-Jonathan, RTDH 1997, 571; Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 34. 73 Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 207; Steiger, in: Pabel/ Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 61. 74 Villiger, Handbuch EMRK, §  34 Rn.  673; Jacobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 124. 75 Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 8. 76 Cooper/Williams, EHRLR 1999, 593, 605; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 203. 77 Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 207. 78 Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 35. 70 71

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Andernfalls liefe man Gefahr, bloße innere Ansichten ohne Auswirkungen in der Außenwelt der Möglichkeit einer grundrechtskonformen Sanktionierung auszusetzen. Dies entspräche einer sehr weiten Auslegung des Begriffs „aimed at“ bzw. „visant“, die aus teleologischen Gesichtspunkten abzulehnen ist. Im Sinne des effektiven Menschenrechtsschutzes, der Ziel der EMRK als völkerrechtlicher Vertrag ist, ist die Regelung restriktiv auszulegen.79 Dementsprechend ist ein objektives Element im oben beschriebenen Sinn zu verlangen. Andererseits widerspricht es dem Ziel des Art. 17 EMRK als Instrument einer „streitbaren Demokratie“,80 eine tatsächliche Gefahrenrealisierung oder gar einen eingetretenen Schaden für das Schutzgut des Art.  17 EMRK zu verlangen. Den Staaten ist es nach dem Konzept der „streitbaren Demokratie“ nicht zumutbar, abzuwarten, dass sich die Gefahr für die demokratischen Werte realisiert.81 Vielmehr sind sie zu präventiven Maßnahmen zu ermächtigen. Zwar darf hieraus keine Sanktionierung rein innerer Ansichten im Sinne einer Gesinnungs „bestrafung“ resultieren, ein tatsächlich eingetretener Schaden kann jedoch auch nicht verlangt werden. Die teleologische Auslegung der Regel muss das Ziel des Art. 17 EMRK als Instrument der „streitbaren Demokratie“ – effektiver Schutz demokratischer Grundwerte – mit dem allgemeinen Ziel der EMRK – effektiver Menschenrechtsschutz – vereinbaren. Diesen beiden Polen, die die teleologische Auslegung leiten, wird das Erfordernis einer Gefahrgeneigtheit im oben dargestellten Sinn gerecht. Einerseits vermeidet dieses Erfordernis, dass Staaten die Realisierung der Gefahr für ihre demokratischen Werte abwarten und so gegebenenfalls irreversible Schäden für das demokratische System hinnehmen müssen, andererseits verhindert es aber auch die Sanktionierung bloßer innerer Ansichten, die in keiner Weise in der Außenwelt relevant werden und schon ihrer Natur wegen, weder potenziell noch tatsächlich, Schäden verursachen können. Diese „objektive Gefahrgeneigtheit“ erfüllen Äußerungen aber bereits dann, wenn sie in einer Art und Weise getätigt werden, dass sie potenziell einen Effekt in der Außenwelt erzeugen. Hierunter würden – im Bereich der „Hassreden“ – zum Beispiel Äußerungen fallen, bei denen die Möglichkeit besteht, dass sie die Zuhörer so aufstacheln oder aufhetzen, dass diese möglicherweise, motiviert durch die Äußerung, gegenüber Dritten diskriminierende Handlungen setzen oder sogar Gewalt ausüben. Die Verfolgung des Zwecks der Abschaffung oder starken Beschränkung der Konventionsrechte muss nach außen erkennbar sein.82 Die Schwelle dürfte hier relativ niedrig liegen. Gesinnungen und reine innere Ansichten werden am einen Ende der Skala aus dem Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK ausgeschlossen. Am anderen Ende

Vgl. Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 3; Mensching, in: Karpenstein/ Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 7; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 4 Rn. 24; Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 650 f.; Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 74; Kirchner, Brazilian Journal of International Law 2015, 416, 422. 80 Siehe hierzu oben Kapitel 2, C., I. 81 Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 54.28. 82 Gollwitzer, Menschenrechte im Strafverfahren, Art. 17 Rn. 3. 79

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 221

dürfen tatsächlich eingetretene Schäden aber nicht verlangt werden. Zwischen diesen beiden Enden liegt der Anwendungsbereich der „Missbrauchsklausel“. Wenn mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass entweder beim Adressaten oder Opfer der Äußerung selbst oder bei Dritten durch die Äußerung Handlungen irgendeiner Art im Sinne der Äußerung angeleitet bzw. ausgelöst werden, fehlt es an der „objektiven Gefahrgeneigtheit“. Andererseits muss – damit eine „objektive Gefahrgeneigtheit“ angenommen werden kann – auch nicht ex post festgestellt werden, dass die Äußerung tatsächlich kausal für einen Schaden, zum Beispiel eine Gewaltanwendung oder eine Entstehung von Hass gegenüber Dritten, war. Grundsätzlich genügt es hierfür, wenn die Äußerung ein oder mehrere Elemente enthält, aus denen, zum Beispiel von Dritten, eine Handlungsanleitung entnommen werden kann. In einem Fall, in dem eine solche mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, fehlt die „objektive Gefahrgeneigtheit“. Die Gewaltanwendung oder die Entstehung von Hassgefühlen muss andererseits auch nicht mit Sicherheit anzunehmen sein und sie muss schon gar nicht tatsächlich geschehen. Die potenzielle Möglichkeit, dass Gewalt gegen eine Person wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder gegen alle Mitglieder der Gruppe verübt wird oder Hass entsteht, genügt. Bei der Beurteilung, ob das Kriterium, wie es hier dargestellt wird, im Einzelfall erfüllt ist, sind sämtliche Umstände der konkreten Situation, insbesondere der Kontext der Äußerung, zu berücksichtigen.83 (4) Abschaffung oder Einschränkung der Rechte und Freiheiten der Konvention Die authentischen Sprachfassungen des Art. 17 EMRK verlangen weiter ein Verhalten, welches auf die „destruction“ bzw. „destruction“ der Rechte und Freiheiten der Konvention oder die „limitation to a greater extent than is provided“ bzw. „limitations plus amples (…) que celles prévues“ ausgerichtet ist. Um die Tathandlung des Art. 17 EMRK in seiner indiviualgerichteten Variante zu erfüllen, muss das Individuum darauf abzielen, die Rechte und Freiheit der Konvention „abzuschaffen“ oder „stärker als in der Konvention vorgesehen einzuschränken“. Die Tathandlung ist erfüllt, wenn das Individuum in einer Äußerung auf die „Abschaffung“ der Konventionsrechte abzielt. Die deutsche Übersetzung gebraucht für die authentischen Formulierungen „destruction“ bzw. „destruction“ den Terminus „abschaffen“, der teilweise als weniger drastisch als der englische bzw. der französische Begriff qualifiziert wird.84 Obwohl man die Wortwahl der authentischen Sprachen möglicherweise auch mit einer „Zerstörung“ hätte übersetzen können, liegt hierin kein wesentlicher Bedeutungsunterschied. Nach grammatikalischer Auslegung meint dies in allen Sprachfassungen ein Verhalten, welches dazu führt, dass einem Objekt – hier den Rechten und Freiheiten der Konvention – so großer Schaden zugefügt wird, dass es nicht länger existiert oder nicht mehr hergestellt werden kann.85 Die Äußerungen müssen die Konventionsrechte

Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 59. Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 12. 85 Munzinger Online/Duden − Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. 83 84

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

tatsächlich negieren und auf ihre irreversible Vernichtung ausgerichtet sein, damit die Variante der „destruction“ erfüllt ist. Der Wortlaut des Art. 17 EMRK gebraucht eine drastische Formulierung an dieser Stelle. Dem muss Rechnung getragen werden. Erst die Intention irreversibel gegen Elemente des Systems des Menschenrechtsschutzes der EMRK vorzugehen, genügt dieser Anforderung des Art. 17 EMRK. Ein bloßer Zweifel an der Begründetheit einzelner Aspekte der demokratischen Staatsform genügt für die „destruction“ nicht. Vereinzelt wird davon ausgegangen, hieraus ergebe sich eine allgemeine Erheblichkeitsschwelle für die Anwendung des Art. 17 EMRK.86 Dies muss allerdings relativiert werden, wenn man davon ausgeht, dass auch die Variante der „stärkeren Einschränkung als in der Konvention vorgesehen“ für die individuellen Adressaten des Art. 17 EMRK gilt. Die Voraussetzung der „stärkeren Einschränkung“ erfasst nämlich einen anderen Fall. In dieser Variante muss das Verhalten des Individuums nicht darauf ausgerichtet sein, das Recht vollständig abzuschaffen, zum Beispiel Folter und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung immer und ohne jegliche Voraussetzungen zu erlauben. Ein Abzielen auf eine „stärkere Einschränkung“ ist – wie bereits dargelegt – schon dann gegeben, wenn man eine Möglichkeit der Beschränkung eines Grundrechts fordert, die über die vorhandenen Beschränkungsvorbehalte der Konvention hinausgeht. Die zweitgenannte Variante – die stärkere Einschränkung der Rechte und Freiheiten, als es in der Konvention vorgesehenen ist – könnte aber vorrangig auf die staatengerichtete Variante verweisen. Die in der Konvention vorgesehenen Einschränkungsmöglichkeiten, die Schrankenvorbehalte, binden nicht das Individuum als Rechtsunterworfenen, sondern sind Begrenzungen der staatlichen Befugnisse.87 Die Formulierung der „stärkeren Einschränkung“ nimmt darauf Bezug und richtet sich deshalb jedenfalls an die Staaten, die in der Konvention vorgesehenen Einschränkungsmöglichkeiten zu beachten und nicht darüber hinauszugehen. Nichtsdestoweniger kann aus dem Wortlaut weder in der englischen noch der in französischen Sprachfassung entnommen werden, dass die Variante der stärkeren Einschränkung nicht auch für die individualgerichtete Stoßrichtung der Bestimmung gelten soll. Eine individuelle Äußerung kann nämlich darauf abzielen, die Rechte und Freiheiten der Konvention stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist. Ein Individuum kann eine Äußerung tätigen, in der es – zum Beispiel im Sinne eines politischen Bestrebens –88 vorschlägt ein in Art.  15 II EMRK enthaltenes, notstandsfestes Recht im Fall eines Notstands nach Art. 15 EMRK über die Grenzen des Art. 15 EMRK hinaus beschränkbar zu machen. In einem solchen Fall zielt die Äußerung des Individuums oder der Gruppe darauf ab, Rechte und Freiheiten der Konvention stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist. Damit sind Fälle denkbar, in denen ein Individuum eine Äußerung tätigt, die darauf gerichtet ist, die Rechte und Freiheiten der Konvention stärker einzuschränken, als dies in der Konvention vorgesehen ist.

Vgl. Frenz, Hb EuR IV, Kapitel 8 § 2 Rn. 1789; Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 113. Vgl. hierzu Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 13. 88 Vgl. Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 13.

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A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 223

Dieses Ergebnis ergibt sich nicht nur aus dem Wortlaut, sondern entspricht auch der Teleologie der Bestimmung. Der Gedanke, dass die Rechte der Konvention nicht gegen die Konvention gewendet werden sollen, greift auch in diesen Fällen.89 Die Meinungsäußerungsfreiheit würde benutzt, um gegen die Gewährleistungen der Konvention zu agieren. Dies ist – betrachtet man die Voraussetzung des Art. 17 EMRK für sich genommen – auch dann der Fall, wenn eine Äußerung nur fordert, ein Grundrecht weitergehend zu beschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist. Die Konvention hat sich für bestimmte Beschränkungsmöglichkeiten entschieden. Fordert eine Äußerung deren Ausdehnung, so wendet sie sich „gegen die Konvention“. Fraglich ist, ob hiervon zum Beispiel auch eine Äußerung umfasst wäre, die die Zulässigkeit der sog. Rettungsfolter vertritt. Die Annahme eines Grundrechtsmissbrauchs bei einer solchen Äußerung erscheint sehr weitgehend. Man könnte erwägen, von einer teleologischen Reduktion auszugehen und die Äußerung, die der Wortlaut zu erfassen scheint, aus dem Anwendungsbereich auszuklammern, weil sie keine Äußerung ist, die Art. 17 EMRK mit seinem Ziel des Demokratieschutzes in den Blick nimmt. Hiergegen spricht, dass jede Einschränkung, die tatsächlich über die Schranken der Konvention hinausgeht, als demokratiefeindlich anzusehen ist, weil die Rechte und Freiheiten der EMRK allesamt als demokratisch notwendige Freiheiten des Individuums angesehen werden müssen und einen demokratischen Mindeststandard bilden.90 Soweit Einschränkungen dieser Rechte in einer demokratischen Gesellschaft zugelassen werden können und nicht demokratiefeindlich sind, sind diese in der Konvention vorgesehen. Jede Beschränkung, die tatsächlich darüber hinausgeht, ist demokratiefeindlich. Selbst die tatsächlich über die Schranken der Konvention hinausgehende Einschränkung des Art. 12 EMRK ist eine demokratiefeindliche Äußerung. Art. 17 EMRK ist regelmäßig aus einem anderen Grund nicht anwendbar, wenn es um Äußerungen geht, in denen eine Person für die Zulässigkeit von sog. Rettungsfolter argumentiert. Die Äußerung muss tatsächlich darauf gerichtet sein, die Rechte und Freiheiten der Konvention stärker einzuschränken als vorgesehen. Diese Voraussetzung erfüllen Äußerungen, die in einer Debatte um die Auslegung der Grundrechtsgarantien und insbesondere der Schrankenklauseln der Konvention getätigt werden, nicht. Sie zielen darauf ab, mit Hilfe juristischer Auslegungsmethoden darzulegen, dass eine Einschränkung in der Konvention vorgesehen ist. Sie argumentieren gerade, dass die vertretene Beschränkung vorgesehen ist, indem sie eine Auslegung der Schrankenklausel der EMRK vornehmen. Wenn in einer rechtswissenschaftlichen Debatte diskutiert wird, ob die sog. Rettungsfolter zugelassen sein muss, so geht es den Äußernden in der Regel darum, mit juristischen Argumenten darzulegen, dass und warum die Konvention eine solche Beschränkung des Folterverbots zulässt. Sie wollen gerade begründen, dass die Einschränkung in der Konvention vorgesehen ist. Die Intention solcher Äußerungen liegt nicht darin, eine

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Vgl. Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 6. Siehe hierzu ausführlich unten Kapitel 4, A., I., 2., a), iii.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

unbestrittene Grenze der EMRK zu überschreiten, sondern zu begründen, warum die EMRK eine entsprechende Einschränkung des Grundrechts vorsieht. Eine bloße demokratiekritische Äußerung in einem engen Sinn genügt hierfür auch nicht. Zweifel an der Vertretbarkeit bzw. Richtigkeit einzelner Elemente einer demokratischen Regierungsform oder eines demokratisch organisierten aktuellen politischen Systems oder kritische Worte zu demokratischen Entscheidungsprozessen wird man schon deshalb nicht als „weitergehende Einschränkung als in der Konvention vorgesehen“ bezeichnen können, weil die EMRK nur vereinzelte Bestimmungen zu staatsorganisationsrechtlichen Fragen kennt.91 Wenn die in der Äußerung betroffenen Einzelheiten in der Konvention nicht geregelt sind, gibt es keine Bestimmung der Konvention, die „weitergehend eingeschränkt“ oder „abgeschafft“ werden könnte. Anders wären aber zum Beispiel Äußerungen zu beurteilen, die die Freiheit der Wahl oder die Unabhängigkeit von Gerichten betreffen. Hierzu enthält die Konvention in Art. 5 und 6 EMRK bzw. das Zusatzprotokoll zur Konvention in Art. 3 jeweils Regelungen. Diese können das Tatbestandsmerkmal der „Abschaffung oder weitergehenden Einschränkung als in der Konvention vorgesehen“ erfüllen. iii. Das „Schutzobjekt“ des Art. 17 EMRK Eine Äußerung, die unter Art.  17 EMRK fällt, muss intentional darauf gerichtet sein, die Rechte und Freiheiten der Konvention („droits ou libertés reconnus dans la présente Convention“/ „rights and freedoms set forth herein“) zu zerstören oder stärker als vorgesehen einzuschränken, damit von einem Missbrauch gesprochen werden kann. Damit ist noch nicht geklärt, was „Schutzobjekt“ des Art. 17 EMRK und Schutzgut der „Missbrauchsklausel“ ist. Letztlich ist dies die Frage danach, welche Inhalte in Meinungsäußerungen in den Anwendungsbereich des Art.  17 EMRK fallen. Äußerungen, deren Inhalt das Schutzgut betrifft, liegen, soweit die übrigen Voraussetzungen vorliegen, im Anwendungsbereich der „Missbrauchsklausel“. Zu beantworten bleibt also, auf welches Schutzgut Art. 17 EMRK gerichtet ist. Im Wortlaut der Bestimmung des Art. 17 EMRK werden die Rechte und Freiheiten, die in der Konvention garantiert werden, genannt. Gegen diese muss sich das Verhalten des Grundrechtsträgers nach dem Wortlaut der „Missbrauchsklausel“ richten, damit die Regelung anwendbar ist. Da die EMRK, im Gegensatz zum Grundgesetz, im Wesentlichen auf Grundrechtsschutz beschränkt ist und – trotz einiger nachweisbarer staatsorganisationsrechtlicher Gehalte –92 jedenfalls keinen eigenen vollständigen staatsorganisationsrechtlichen Teil aufweist, ist die Formulierung in Art.  17 EMRK naheliegend. Sie muss in systematischer Auslegung

Vgl. hierzu Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 292 ff., 308 ff. Obwohl die EMRK ein Grundrechtskatalog ist und keinen vollständigen staatsorganisationsrechtlichen Teil hat, lassen sich den Bestimmungen der Konvention dennoch einige Vorgaben entnehmen, die staatsorganisationsrechtlicher Natur sind, vgl. hierzu ausführlich Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 308 ff. („demokratischer Rechtsstaat europäischer Prägung als Leitbild der EMRK“).

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A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 225

interpretiert werden und meint in diesem Sinne die subjektiven Rechte aus dem Katalog der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle. Wortlaut und Systematik legen die Annahme nahe, dass der Grundrechtsträger gemäß Art. 17 EMRK nicht intendieren darf, die subjektiv-rechtlichen Garantien Dritter aus der EMRK mit seiner Handlung zielgerichtet abzuschaffen oder zu beschränken. Gleichzeitig ist das Schutzgut der Bestimmung dieser Formulierung nach auch auf die subjektiv-rechtlichen Garantien der Konvention beschränkt. Art. 17 EMRK garantiert, dass kein subjektives Recht aus der Konvention als solches durch Gebrauch der Grundrechte abgeschafft oder verkürzt wird.93 Dabei sind alle subjektiven Rechte, die die Konvention garantiert, erfasst. Das Schutzgut scheint über die subjektiven Garantien aber nicht hinauszugehen. Die EMRK enthält – anders als das Grundgesetz, in dessen Rahmen leichter davon ausgegangen werden kann, dass objektive Werte geschützt werden müssen – keine ausdrückliche Normierung geschützter öffentlicher Interessen, die den Grundrechtsgarantien entgegengehalten werden könnten.94 Aus einer teleologischen, historischen und systematischen Auslegung des Art. 17 EMRK könnte sich aber etwas anderes ergeben.95 Zunächst betrifft dies die Annahme, nur subjektiv-rechtliche Garantien seien erfasst. Über die Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Bestimmung gelangt man dazu, dass es hier nicht nur um die Rechte und Freiheiten der EMRK sowie ihrer Zusatzprotokolle in ihrem subjektiv-rechtlichen Sinn gehen kann – wie es der Wortlaut vermuten lassen könnte –, sondern daneben gemeinsame objektive Werte der Mitgliedstaaten ebenfalls Schutzgut der „Missbrauchsklausel“ sein müssen. Letztlich schützt Art. 17 EMRK alles, was die Konvention in ihrer Gesamtheit schützen und fördern soll. Die Formulierung „droits ou libertés reconnus dans la présente Convention“ bzw. „rights and freedoms set forth herein“ erfasst die gesamte Konvention und diese geht in ihrer Bedeutung über die subjektiv-rechtlichen Grundrechtsgarantien hinaus.96 Dies kann durch eine Auslegung des Art. 17 EMRK im Lichte des Gesamtsystems der Konvention belegt werden.

Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 315. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 72, 85; vgl. hierzu Bleckmann, Die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die EMRK, S. 150 f. 95 Siehe zu den folgenden Ausführungen auch bereits Kapitel 2, C., I.; vgl. auch Struth, in: Grafl/ Klob/Reindl-Krauskopf (Hrsg.), 6. ALES-Tagung, S. 91, 102 f. 96 Vgl. hierzu das Sondervotum des Richters Maridakis zu EGMR, 1. 7. 1961, Lawless Nr. 3 ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 332/57 („Hence, if each Contracting State secures to everyone within its jurisdiction the rights and freedoms defined in Section I of the Convention (Article 1) (Art. 1) and moreover undertakes to enforce the said rights and freedoms (Article 13) (Art. 13), the individual is bound in return, whatever his private or even his avowed beliefs, to conduct himself loyally towards the State and cannot be regarded as released from that obligation. This is the principle that underlies the aforementioned reservations to and limitations of the rights set forth in the Convention. The same spirit underlies Article 17 (Art. 17) of the Convention, and the same general legal principle was stated in the Roman maxim: nemo ex suo delicto meliorem suam conditionem facere potest (Dig. 50.17.134 paragraph 4). (Nemo turpitudinem suam allegans auditur).“); vgl. hierzu auch Oetheimer, RTDH 2007, 63, 66; Drooghenbroeck, RTDH 2001, 541, 542. 93 94

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Zunächst ist die Erstreckung des „Schutzobjekts“ des Art. 17 EMRK auf objektive Prinzipien neben subjektiv-rechtlichen Garantien gemäß Art.  32  WVK mit Argumenten der historischen Auslegung zu begründen.97 Stets wird die historische Bedeutung der EMRK als Reaktion auf Faschismus und Nationalismus betont.98 Art.  17 EMRK war zur Zeit seines Erlasses eindeutig darauf gerichtet, totalitäre Tendenzen zu verhindern; faschistische, kommunistische und nationalsozialistische Strömungen sollten keine Möglichkeit erhalten, die Rechte der Konvention im Sinne ihrer Ziele auszunutzen.99 Die „Missbrauchsklausel“ sollte es Mitgliedstaaten ermöglichen, ein Wiedererstarken des Totalitarismus, sowohl nationalsozialistischer als auch kommunistischer Prägung, zu verhindern.100 Über Art. 17 EMRK hinaus wurde die gesamte Konvention mit dieser Zielsetzung geschaffen.101 Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus in Deutschland und des Kommunismus in den östlichen Staaten ging man davon aus, dass die faschistischen Diktaturen und totalitären Systeme nur dadurch möglich geworden waren, dass die Demokratie und die damit verbundenen politischen Freiheiten ausgeschaltet worden waren. Sinn und Zweck der EMRK auch insgesamt war es, zu verhindern, dass der Totalitarismus, sowohl nationalsozialistischer als auch kommunistischer Prägung, wiedererstarkte. Die Materialien zur Entstehung der EMRK zeigen darüber hinaus ausdrücklich, welchen Ideologien Art.  17 EMRK inhaltlich vorbeugen sollte. „Nazi, Facist or Communist tendency“ werden im Zusammenhang mit Sinn und Zweck des Art. 17 EMRK genannt.102 Die EMRK wurde nach den Angaben in den Materialien zu ihrer

Zur Bedeutung des historischen Arguments für die Anwendbarkeit der Missbrauchsklausel im Einzelfall Spielmann, in: Mélanges Pettiti, S. 673, 682; zur Bedeutung der historischen Auslegung für die Bestimmungen der EMRK Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 13 ff.; Hoffmann-Remy, Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung, S. 16; vgl. hierzu zuletzt EGMR (GK), 8. 11. 2016, Magyar Helsinki Bizottság ./. Ungarn, Nr. 18030/11, Z. 125. 98 Vgl. etwa Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 57; siehe hierzu Spielmann, in: FS Wiarda, S. 590 f. („Die EMRK wurde nicht in Rom geboren, sondern in Auschwitz und Bergen-Belsen, in Birkenau und Buchenwald.“). 99 Travaux préparatoires, Vol. II, S. 136; vgl. hierzu Frowein, Israeli Law Review 41 (2007), 489, 490; Hoffmann-Remy, Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung, S. 50. 100 Travaux préparatoires, Vol. I, S. 192 („On the preliminary question of the usefulness of such a collective guarantee, the Commitee replied in the affirmative, considering that this guarantee will demonstrate clearly the common desire of the Member States to build a European Union in accordance with the principles of natural law, of humanism and of democracy; it will constribute to the development of their solidarity; it will fulfil the longing for security among their peoples; it will allow member States to prevent – before it is too late –Leerzeichenany new member who might be threatened by a rebirth of totalitarianism from succumbing to the influence of evil, as has already happened in conditions of general apathy. Would Facism have triumphed in Italy if, after the assassination of Matteoti, this crime had been subjected to an international trial“). 101 Travaux préparatoires, Vol. I, S.  332 („It is against dictatorship that we wish to defend our peoples through a guarantee of human rights and fundamental freedomS. In spite of this, I think that a Convention in conformity with the draft laid before us is of considerable value. We establish what can be called a norm, a standard, in this important matter, and the rights and freedoms will in fact be respected in most countrieS. This may to some extent counter balance totalitarian tendencies“). 102 Travaux Préparatoires, Vol. II, S. 28. 97

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 227

Entstehung mit dem Ziel geschaffen, zu verhindern, dass die faschistischen, totalitären Systeme des Nationalsozialismus und des Kommunismus wiedererstarken und die Demokratie erneut zerstören.103 Stets ging es bei der Begründung der Vorschrift des heutigen Art. 17 EMRK um die Gefahr, dass die Demokratie abgeschafft werden könnte.104 Der Zusammenhang zwischen den garantierten Konventionsrechten und der Demokratie spielte in den Beratungen bei Entstehung der Konvention konstant eine wichtige Rolle.105 Sinn und Zweck der Bestimmung wurden darin gesehen, die Staaten vor Handlungen, die die demokratischen Rechte und Freiheiten bedrohten, zu schützen.106 Für die Verfasser der Konvention war die Demokratie der Gegensatz zu den rezenten Erfahrungen mit den Phänomenen von Faschismus und Kommunismus.107 Man wollte insbesondere ein erneutes nationalsozialistisches oder kommunistisches Regime verhindern.108 Die Demokratie war für die Verfasser der Konvention die einzig mögliche und für Europa denkbare Staatsform und die Bekämpfung des Totalitarismus war ihr wesentliches Anliegen.109 Von dieser Annahme sind auch die Konventionsorgane später immer ausgegangen.110 Der historische Hintergrund der Entstehung der EMRK wird auch in Absatz 3 der Präambel der Satzung des Europarats deutlich, in dem sich die Vertragsstaaten zur Staatsform der Demokratie bekennen. Art. 3 der Satzung des Europarats verpflichtet die Mitgliedstaaten des Europarats und damit jene der EMRK zudem dazu, den Grundsatz vom Vorrang des Rechts anzuerkennen und Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten.111 Dieses Verhältnis des Systems der EMRK als Ganzes zu demokratischen Grundsätzen findet in Art. 17 EMRK einen unmittelbaren Ausdruck.112 Dieses historische Argument streitet dafür, dass demokratische Werte und die Demokratie grundsätzlich selbst Schutzgut des Art. 17 EMRK sind. Garibaldi, in: FS Sohn, S. 23, 65; Travaux Préparatoires, Vol. II, S. 267; Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 107 f. 104 Travaux Préparatoires, Vol. II, S. 28. 105 Travaux Préparatoires, Band V, S. 289; Partsch, ZaöRV 1953/54, 631; Keller/Heri, HRLJ 2016, 1; Frowein, Israeli Law Review 41 (2007), 489, 490; Schweizer, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR VI/1, § 138 Rn. 19. 106 Travaux Préparatoires, Vol. III, S. 267. 107 Travaux Préparatoires, Vol. I, S. 40; vgl. hierzu Müller, Das Verbotsgesetz, S. 202; Keller/Heri, HRLJ 2016, 1. 108 Travaux Préparatoires, Vol. I, S. 192; Travaux Préparatoires, Vol. V, S. 332; Travaux Préparatoires, Vol. I, S. 30; Travaux Préparatoires, Vol. V, S. 294 (Pierre-Henri Teitgen: „We are less concerned to set up a European judicial authority capable of righting isolated wrongs, isolated illegal acts committed in our countries, than to prevent, from the outset, the setting up in one or other of these countries of a regime of the Facist or Nazi type.“); vgl. hierzu Spielmann, in: Mélanges Pettiti, S. 673, 682. 109 Keller/Heri, HRLJ 2016, 1; Frowein, Israeli Law Review 41 (2007), 489, 490. 110 EKMR, 9. 6. 1998, Nachtmann ./. Österreich, Nr. 36773/97; EKMR, 27. 2. 1997, Honsik ./. Österreich, Nr. 25062/94; EKMR, 12. 5. 1988, Kühnen ./. Deutschland, Nr. 12194/86. 111 Zur Heranziehung der Satzung des Europarats im Wege einer systematischen Auslegung der EMRK Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 17. 112 Vgl. hierzu Frowein, EuR 18 (1983), 301. 103

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Die These wird durch Argumente einer teleologischen Auslegung gestützt. Das Ziel der EMRK liegt darin, demokratische Werte in Europa als gemeinsame Basis zu begreifen und zu schützen.113 Das belegt bereits der „streitbare Charakter“ der EMRK, der in Art. 17 EMRK unter anderem zum Ausdruck kommt.114 Darüber hinaus spricht hierfür auch die Teleologie des Art.  17 EMRK. Der EMRK ist die Idee von der Demokratie als einzige mit der Konvention zu vereinbarende Staatsform immanent.115 Dies bestätigt nicht nur die Entstehungsgeschichte, sondern auch die Präambel der Konvention, die in ihrem dritten Erwägungsgrund die effektive politische Demokratie als zwingendes Gegenstück zu einem gemeinsamen Verständnis und einer gemeinsamen Einhaltung der Menschenrechte beschreibt.116 Menschenrechte und Demokratie werden als Basis des konventionsrechtlichen Systems verstanden und demokratische Werte werden zum Schutzgut der Konvention und ihrer Bestimmungen,117 so auch des Art.  17 EMRK. Art.  17 EMRK ist aus diesen Gründen das Ziel des Demokratieschutzes zuzuschreiben.118 Teilweise wird das Schutzgut auch als „ordre public“119 der Konvention oder „ordre public européen“/ „european public order“120 bezeichnet.121 Der moderne Menschenrechtsschutz wurde mit dem Ziel geschaffen, die Beständigkeit eines politischen Regimes, der Demokratie, zu unterstützen.122 Ebenso wie sich im Grundgesetz die demokratische nicht von der freiheitlichen Komponente

113 Schiedermair, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 10 Rn. 29; Frowein, Israeli Law Review 41 (2007), 489, 490. 114 Siehe zur Begründung der Annahme, die EMRK folge dem Prinzip der „streitbaren Demokratie“ ausführlich oben Kapitel 2, C., I. 115 Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 308 f.; Keller/Heri, HRLJ 2016, 1; vgl. hierzu Wildhaber, in: FS Schefold, S. 257, 259; Howard, Freedom of Expression, S. 91; siehe so auch statt vieler EGMR, 30. 1. 1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei ./. Türkei, Nr. 19392/92, Z. 45. 116 Siehe hierzu Marks, in: Brownlie/Crawford (Hrsg.), The British Yearbook of International Law 1995 66 (1996), S. 209; Hillgruber, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Präambel MRK Rn. 43. 117 Siehe hierzu Keller/Heri, HRLJ 2016, 1; Frowein, Israeli Law Review 41 (2007), 489, 490; Schweizer, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR VI/1, § 138 Rn. 6. 118 Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 649; Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art.  17 Rn.  5; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, 183, 185, 191 unter Hinweis auf Van Drooghenbroeck, RTDH 2001, 541, 542; Marauhn/Merhof, in: Dörr/Grote/ Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 7 Rn. 8; Wachsmann in: Flauss/Da Salvia (Hrsg,), La CEDH, S. 101, 107; Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 5; Siess-Scherz, in: Korinek/ Holoubek u. a. (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art. 17 EMRK Rn. 1. 119 Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, S. 219 f. 120 EGMR (GK), 28. 7. 1998, Loizidou ./. Türkei, Nr. 15318/89, Z. 75; EGMR, 30. 1. 1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei ./. Türkei, Nr. 19392/92, Z. 45; EGMR (GK), 13. 2. 2003, Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. ./. Türkei, Nr. 41340/98 u. a., Z. 86; EGMR, 7. 2. 2013, Fabris ./. Frankreich, Nr. 16574/08, Z. 57; EGMR, 16. 3. 2006 (GK), Ždanoka ./. Lettland, Nr. 58278/00, Z. 98. 121 Blanke, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR VI/1, § 142 Rn. 5; Klein, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR VI/1, § 150 Rn. 41; Gundel, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR VI/1, § 147 Rn. 53. 122 Frowein, Israeli Law Review 41 (2007), 489, 490.

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 229

trennen lässt,123 kann man die ausdrückliche freiheitliche Ausrichtung der EMRK nicht ohne ein garantiertes demokratisches Element im Sinne eines Mindestbestands an demokratischen Werten annehmen.124 Zwischen den Freiheitsrechten und der demokratischen Ordnung existiert ein Funktionszusammenhang, weil das Funktionieren eines demokratischen Systems darauf angewiesen ist, dass Freiheitsrechte ausgeübt werden können, und die Demokratie umgekehrt Freiheit und Menschenrechte am besten gewährleisten kann.125 Grundlegende Standards der Demokratie und der Menschenrechte sind untrennbar miteinander verknüpft.126 Die Teleologie der Konvention stützt die Annahme, demokratische Werte ergäben sich aus der Konvention und seien Schutzgut derselben. Ein systematisches Argument tritt hinzu. Art. 3 ZP 1 EMRK garantiert das Recht auf freie Wahlen und enthält eine Garantie mit unmittelbarem und offensichtlichem Bezug zum Demokratieprinzip.127 Art. 3 ZP 1 EMRK weist über seinen subjektivrechtlichen Gehalt hinaus objektiv-rechtliche Elemente auf. Die Bestimmung und die durch sie gewährleisteten Rechte gehören zum Kreis der Kerngehalte des „ordre public européen“.128 Art. 3 ZP 1 EMRK deutet darauf hin, dass Äußerungen, die die äußersten Grenzen einer demokratischen Ordnung negieren (zum Beispiel solche, die den Ausschluss bestimmter gesellschaftlicher Gruppierungen aufgrund ihrer Herkunft, Ethnie, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung vom aktiven oder passiven Wahlrecht fordern), das Schutzgut des Art. 17 EMRK betreffen. Weiter belegen die Schrankenvorbehalte der Art. 6 I 2, 8 II, 9 II, 10 II und 11 II EMRK, dass grundlegende demokratische Prinzipien Schutzgut der Konvention und des Art. 17 EMRK sind. Sie normieren Anforderungen an die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen und verweisen für diese auf den Maßstab einer demokratischen Gesellschaft.129 Sie bringen das Leitbild der demokratischen Gesellschaft zum Ausdruck und machen deutlich, dass die Demokratie von der Konvention als einziges politisches Modell, das mit ihr vereinbar ist, angesehen wird.130 Dies

Siehe hierzu unten Kapitel 4, A., I., 2., c), iii. Hoffmann-Remy, Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung, S. 50. 125 Pabel, ZaöRV 2003, 921, 935; Pabel, in: Jahrbuch Menschenrechte, 2012/2013, S. 66; siehe hierzu EGMR (GK), 13. 2. 2003, Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. ./. Türkei, Nr. 41340/98 u. a., Z. 99. 126 Kontopodi, Verbot politischer Parteien, S. 58 f.; Cohen-Jonathan, RTDH 1999, 351, 370. 127 Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, S. 650; Villiger, Handbuch EMRK, § 33 Rn. 649; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 25 Rn. 14 ff. 128 Grabenwarter/Pabel, EMRK, §  23 Rn.  100; Arndt/Schubert, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 3 ZP 1 Rn. 42; Richter, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 25 Rn. 5, 19; Beširević, in: Benedek/Benoit-Rohmer/Karl/Nowak (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights (2012), S. 243, 255; so auch EGMR (GK), 16. 3. 2006, Ždanoka ./. Lettland, Nr. 58278/00, Z. 103. 129 Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S.  486; Berka, ÖZÖRV 1986, 71, 91; Müller, EuGRZ 1983, 337, 343; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 70; vgl. hierzu auch Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rn. 19. 130 Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 308 f. 123 124

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

wiederum lässt darauf schließen, dass die Konvention vom Schutz dieser Charakteristika einer demokratischen Gesellschaft ausgeht.131 Damit kann festgestellt werden, dass ein Kernbestand grundlegender demokratischer Werte Schutzgut der EMRK ist. Art. 17 EMRK schützt die „Rechte und Freiheiten der EMRK“. Da dargelegt werden konnte, dass die demokratischen Werte untrennbar mit diesen Rechten und Freiheiten verbunden sind bzw. hiervon miterfasst werden, sind diese Werte demnach als Teil der EMRK, der „Rechte und Freiheiten der Konvention“, auch Schutzgut des Art. 17 EMRK. Im Ergebnis geht auch der EGMR von einer untrennbaren Verbindung zwischen Rechten und Freiheiten und Demokratie sowie von der Garantie demokratischer Werte in der Konvention, insbesondere über Art. 17 EMRK, aus.132 Aus alledem ist die Schlussfolgerung zu ziehen, dass Art. 17 EMRK nicht allein die subjektiv-rechtlichen Garantien der EMRK schützt, sondern darüber hinaus objektive Güter wie fundamentale demokratische Prinzipien und objektiv-rechtliche Werte schützt.133 Dies belegt zusammengefasst der Umstand, dass die Prinzipien der Demokratie konstitutiver Bestandteil der EMRK sind, ihr zugrunde liegen und untrennbar mit der Garantie der Rechte und Freiheiten verbunden sind. Hierzu führen sowohl eine historische als auch eine teleologische Auslegung des Art. 17 EMRK und der Konvention insgesamt sowie eine systematische Auslegung des Art. 17 EMRK anhand der übrigen Bestimmungen der EMRK (Präambel, Art. 3 ZP 1 EMRK, Art. 6 I 2 EMRK, Art. 8–11 II EMRK) und anderer Dokumente im System des Europarats (Präambel und Art. 3 der Satzung des Europarats). Die Demokratie wird damit – jedenfalls in ihren grundlegenden Prinzipien – zum Schutzgut des Art. 17 EMRK. Auf dieser Grundlage muss nun untersucht werden, welche konkreten Inhalte in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK fallen. Schutzgut des Art. 17 EMRK sind – wie gezeigt – die Rechte und Freiheiten der Konvention und daneben demokratische Grundprinzipien. Der konkrete Inhalt der Rechte und Freiheiten der

Pabel, ZaöRV 2003, 921, 935; Klein, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR VI/1, § 150 Rn. 25. Siehe hierzu etwa EGMR, 30. 1. 1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei ./. Türkei, Nr. 19392/92, Z. 45; EGMR (GK), 13. 2. 2003, Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. ./. Türkei, Nr. 41340/98 u. a., Z. 86 („Democracy is without doubt a fundamental feature of the European public order“), Z. 123 („les principes fondamentaux de la démocratie, tels qu’ils résultent de la Convention“); EGMR (GK), 6. 1. 2011, Paksas ./. Litauen, Nr. 34932/04, Z. 88; EGMR, 9. 7. 2013, Vona ./. Ungarn, Nr. 35943/10, Z. 68; EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06, Z. 104, 109; EGMR, 21. 10. 2014, Murat Vural ./. Türkei, Nr. 9540/07, Z. 61; EGMR, 8. 7. 1986, Lingens ./. Österreich, Nr. 9815/82, Z. 42; EGMR (GK), 16. 3. 2006, Ždanoka ./. Lettland, Nr. 58278/00, Z. 98; EGMR, 26. 7. 2007, Barankevich ./. Russland, Nr. 10519/03, Z. 24; EGMR, Baczkowski u. a. ./. Polen, Nr. 1543/06, Z. 61; EGMR, 2. 9. 1998, Ahmed u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 22954/93, Z. 52; EGMR, 11. 6. 2002, Sadak u. a. Nr. 2 ./. Türkei, Nr. 25144/94, Z. 32; EGMR, 9. 4. 2002, Yazar u. a. ./. Türkei, Nr. 22723/93, Z. 47; siehe insbesondere EGMR, 30. 1. 1998, Vereinigte Kommunistische Partei der Türkei ./. Türkei, Nr. 19392/92, Z. 45 („the Convention was designed to maintain and promote the ideals and values of a democratic society“). 133 A. A. Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 36. 131 132

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 231

Konvention im engen Sinn ergibt sich unmittelbar aus dem Text der EMRK und in Einzelheiten auch aus der Rechtsprechung des EGMR. Die demokratischen Prinzipien und Werte, die Art. 17 EMRK schützt, sind hingegen nicht gleichermaßen deutlich im Einzelnen aus dem Text der Konvention erkennbar. Die EMRK kennt keine staatsorganisationsrechtlichen Bestimmungen und auch ansonsten enthält sie über die subjektiven Grundrechtsgarantien hinaus nur wenig unmittelbare Hinweise auf einen etwaigen Inhalt eines Demokratiebegriffs.134 Eine abschließende Definition des Demokratiebegriffs der Konvention ist bisher auch in Rechtsprechung und Literatur nicht formuliert worden.135 Der Rechtsprechung des EGMR können nur punktuell Anhaltspunkte für einzelne Elemente, die Bestandteil des Demokratiebegriffs sein sollen, entnommen werden.136

134 Die Konvention enthält in einigen Bestimmungen Anhaltspunkte für staatsorganisationsrechtliche Anforderungen an die Mitgliedstaaten. Hierzu zählen das Prinzip freier Wahlen, das in Art.  3 ZP 1 EMRK zum Ausdruck kommt, und die Unabhängigkeitsanforderungen an Richter und Gerichte, die in den Art.  5 und 6 EMRK enthalten sind. Siehe zu den staatsorganisationsrechtlichen Anknüpfungspunkten in der EMRK und ihrem Rechtsstaats- und Demokratiebegriff ausführlich Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 308  ff.; vgl. zum Demokratiebegriff der EMRK auch Oppitz, juridikum 4/2013, 412. 135 Emek, Parteiverbote, S. 174. 136 Siehe beispielhaft EGMR, 7. 12. 1976, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5493/72, Z. 49 (Pluralismus, Toleranz und offene Geisteshaltung/Offenheit); EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 64 (Toleranz und der Respekt gleicher Würde aller Menschen); EGMR, 18. 10. 1982, Young, James and Webster ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 7601/76, 7806/77 Z. 63 (Minderheitenschutz); ; EGMR (GK), 17. 2. 2004, Gorzelik ./. Polen, Nr. 44158/98, Z. 90 (Minderheitenrechte), Z. 92 (friedliche Koexistenz unterschiedlicher ethnischer und kultureller Gruppierungen in der Gesellschaft); EGMR (GK), 13. 2. 2003, Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. ./. Türkei, Nr. 41340/98 u. a., Z. 89 (Pluralismus), Z. 90 (Religionsfreiheit), Z. 91 (Staat als neutraler und unparteiischer Vermittler und Organisator zwischen unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Religionen in der Gesellschaft), Z. 119 (Nicht-Diskriminierung), Z. 123, 128 (Geschlechtergleichheit); EGMR, 4. 12. 2003, Gündüz ./. Türkei, Nr. 35071/97, Z. 40 (Achtung der Gleichheit der Würde aller Menschen); EGMR, 14. 3. 2013, Kasymakhunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06, Z. 109 (Geschlechtergleichheit und Nichtdiskriminierung aus Gründen der Religion), Z. 106 (friedliche Beilegung internationaler Konflikte und Unantastbarkeit menschlichen Lebens); EGMR, 9. 7. 2013, Vona ./. Ungarn, Nr. 35943/10, Z. 57 (Koexistenz der Mitglieder der Gesellschaft, die frei von rassischer Trennung ist); EGMR (GK), 22. 4. 2013, Animal Defenders International ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 48876/08, Z. 101 (Kommunikationsfreiheiten); EGMR, 2. 10. 2001, Stankov and the United Macedonian Organisation Ilinden ./. Bulgarien, Nr. 29221/95, 29225/95, Z. 97 (Versammlungsfreiheit); EGMR (GK), 6. 1. 2011, Paksas ./. Litauen, Nr. 34932/04, Z. 88 (Gerechtigkeit und Frieden); EGMR (GK), 16. 3. 2006, Ždanoka ./.  Lettland, Nr. 58278/00, Z. 103 (Rechte aus Art. 3 ZP 1 EMRK); EGMR, 16. 11. 2004, Norwood ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 23131/03 (Toleranz, sozialer Friede und das Prinzip der Nichtdiskriminierung); EGMR, 2. 10. 2001, Stankov and the United Macedonian Organisation Ilinden ./. Bulgarien, Nr. 29221/95, 29225/95, Z. 88 (Lösung der Probleme eines Landes durch Dialog, Gewaltfreiheit der Durchsetzung politischer Ziele); vgl. auch EGMR, 2. 10. 2008, Leroy ./. Frankreich, Nr. 36109/03, Z. 27 (Gerichtshof nennt Antisemitismus, Rassismus und Islamophobie als Phänomene, die jedenfalls mit den Werten, die der Konvention zugrunde liegen, nicht vereinbar sind); EGMR, 27. 6. 2017, Belkacem ./. Belgien, Nr. 34367/14 (sozialer Friede, Toleranz und Nicht-Diskriminierung); siehe hierzu Richter Ress in seinem Sondervotum zu EGMR (GK), 13. 2. 2003, Refah Partisi (The Welfare Party) u. a. ./. Türkei, Nr. 41340/98 u. a., der vor einer abschließenden Definition demokratischer Werte der Konvention durch den Gerichtshof warnt.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Für den vorliegenden Zusammenhang ist dies aber nicht entscheidend, weil es hier nur um grundlegende demokratische Werte und Prinzipien gehen kann, die Schutzgut der Konvention in dem Sinn sind, dass Art. 17 EMRK anwendbar ist. Die Äußerungen, die dieses Schutzgut berühren, lassen sich aber – ohne dass es einer positiven Definition dieses Kerngehalts des Demokratiebegriffes bedarf – im Wege einer Subtraktion ausgehend von den jedenfalls abgelehnten und gegenbildlich in Bezug genommenen Modellen herausarbeiten. Zunächst kann festgehalten werden, dass es nicht um den Schutz der Integrität und des „Bestands“ der Staaten oder bestimmter Regierungsformen im Sinne konkreter organisationsrechtlicher Ausgestaltungen gehen kann.137 Ebenso wenig kann es um einzelne nationale Verfassungsprinzipien gehen. Allein die demokratische Grundordnung in Form eines Mindestbestands an Rechten, Werten und Prinzipien, also ein Kerngehalt an demokratischen Prinzipien, kann Schutzgut des Art. 17 EMRK sein.138 Alle zu diesem Mindestbestand demokratischer Ordnung gegenbildlichen Konzepte und deren Ideologien fallen inhaltlich in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK. Diese Voraussetzung erfüllen alle Äußerungen, die totalitäre Systeme propagieren bzw. Elemente einer totalitären Staatsform befürworten, weil Totalitarismus als Gegenbild zu Demokratie fungiert. Diese Annahme entspricht auch einer historischen Auslegung. Totalitäre Systeme im Allgemeinen, und insbesondere Faschismus, Kommunismus und Nationalsozialismus, waren ausdrücklich die Phänomene, zu deren Verhinderung die EMRK bei ihrer Entstehung vorgesehen war. Die Einzelheiten einer Definition des Totalitarismus sind in der Politikwissenschaft umstritten. Für die Zwecke dieser rechtswissenschaftlichen Untersuchung kann Totalitarismus aber als eine politische Herrschaft definiert werden, „die die uneingeschränkte Verfügung über die Beherrschten und ihre völlige Unterwerfung unter ein (diktatorisch vorgegebenes) politisches Ziel verlangt. Totalitäre Herrschaft, erzwungene Gleichschaltung und unerbittliche Härte werden oft mit existenzbedrohenden (inneren oder äußeren) Gefahren begründet, wie sie zunächst vom Faschismus und vom Nationalsozialismus, nicht zuletzt auch im Sowjetkommunismus Stalins von den Herrschenden behauptet wurden. Insofern stellt der Totalitarismus das krasse Gegenteil des modernen freiheitlichen Verfassungsstaats und des Prinzips einer offenen, pluralen Gesellschaft dar.“139 Ein totalitärer Staat ist eine „staatliche Ordnung, die – im Gegensatz zum liberalen und demokratischen Rechtsstaat – das gesamte politische, gesellschaftliche und geistige Leben erfassen und beherrschen will und damit dem Einzelnen – unter

Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 12. Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 308  ff., 316 („demokratischer Rechtsstaat europäischer Prägung“); Pabel, ZaöRV 2003, 921, 935 („lediglich (…) Typus eines demokratischen Rechtsstaats europäischer Prägung“); vgl. hierzu auch Frenz, Hb EuR IV, Kap. 8 § 5 Rn. 2283; Paeffgen, in: Wolter (Hrsg.), SK-StPO, Band X EMRK, Einleitung EMRK, Rn. 338; vgl. hierzu Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 486 f., 698. 139 Schubert/Klein, Das Politiklexikon, Totalitarismus; siehe hierzu allgemein Arendt, The Origins of Totalitarianism. 137 138

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 233

Leugnung seiner staatsfreien Sphäre – jeglichen Spielraum für eine selbstständige Entwicklung nimmt. Der totalitäre Staat gewährt dem Einzelnen keine Grundrechte, duldet keine konkurrierenden politischen Gruppen und manipuliert die öffentliche Meinung. Er sucht seine ideologische Rechtfertigung i. d. R. im Hinweis auf die Notwendigkeit der Konzentration aller Kräfte auf die Erfüllung großer politischer, wirtschaftlicher oder militärischer Aufgaben.“140 Im Einzelnen können unterschiedliche konkrete Äußerungsinhalte als derartige totalitäre Äußerungen qualifiziert werden und fallen in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK. Ein Plädoyer für eine Staatsform zum Beispiel, die zur vollständigen Abschaffung des Konzepts subjektiv-rechtlicher Grundrechtsgarantien führen würde, fiele offensichtlich in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK. Historisch gesehen war Art. 17 EMRK vor dem Hintergrund der Geschehnisse, die dem Entstehen der EMRK unmittelbar vorausgingen, gegen faschistische und v.  a. nationalsozialistische und kommunistische Handlungen und Äußerungen als Formen totalitärer Aussagen gerichtet. Die historische Auslegung des Art. 17 EMRK rechtfertigt demnach eine gewisse Sonderstellung faschistischer, nationalsozialistischer und kommunistischer Äußerungen.141 Zumindest die Begründungslast dafür, dass die „Missbrauchsklausel“ auf diese Äußerungen anzuwenden ist, ist wegen des historischen Auslegungsarguments geringer als bei Äußerungen eines anderen Inhalts. Da die EMRK im Bereich ihres Schutzguts aber – wie auch in anderen Bereichen –142 auf außerrechtliche Elemente verweist, sind Entwicklungen dieser außerrechtlichen Gegebenheiten bei ihrer Subsumtion unter die Begriffe der Konvention zu berücksichtigen.143 Dies wird häufig als dynamisch-evolutive Auslegung der EMRK als living instrument bezeichnet.144 Das suggeriert aber, dass eine Entwicklung im Normenbestand der EMRK anzunehmen ist.145 Die Veränderung liegt jedoch nicht in den Begriffen, unter die subsumiert wird, sondern in den unter die Begriffe zu subsumierenden außerrechtlichen Umständen. Wenn sich diese tatsächlichen gesellschaftlichen Phänomene oder Umstände ändern, ist das dort zu berücksichtigen, wo die Konvention auf außerrechtliche Gegebenheiten verweist. Das rechtsanwendende Organ hat die Veränderungen daher zu verarbeiten, wenn es die tatsächlichen Umstände unter die Begriffe der Konventionsgarantien subsumiert.146

Creifelds, Rechtswörterbuch, Totaler (totalitärer) Staat, S. 1265. Im Ergebnis ebenso Hochmann, Le négationnisme, S. 283 ff. 142 Vgl. Frowein, Diskussionsbemerkung, in: Ress/Schreuer (Hrsg.), Wechselwirkungen zwischen Völkerrecht und Verfassungsrecht bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 117. 143 Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 27. 144 Fabre-Alibert, RTDH 1998, 465, 468 f.; vgl. statt vieler nur EGMR, 25. 4. 1978, Tyrer ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5856/72, Z. 31; EGMR, 13. 6. 1979, Marckx ./. Belgien, Nr. 6833/74, Z. 41, 58. 145 Hierzu und zum Folgenden Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 27 f. 146 Vgl. Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 28. 140 141

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Gerade der Begriff der „Demokratie“ ist kein statischer, sondern ein dynamischer Begriff.147 Deshalb sind die tatsächlichen Veränderungen bei der Subsumtion unter das Schutzgut des Art. 17 EMRK insbesondere zu berücksichtigen. Dies führt dazu, dass neben den historisch anvisierten auch andere bzw. neuartige, vergleichbar demokratiegefährdende, Äußerungen, inhaltlich einzubeziehen sind.148 Neben Faschismus und Kommunismus können aus diesen Gründen auch neue Bedrohungslagen inhaltlich von Art. 17 EMRK erfasst werden. Jede Verletzung der fundamentalen demokratischen Werte im Sinne der Konvention betrifft das Schutzgut.149 Eine solche ist Voraussetzung dafür, dass Art. 17 EMRK zur Anwendung gelangt. Rassistische Äußerungen ebenso wie antisemitische Aussagen geraten, weil sie von der Unterlegenheit der jeweils anvisierten Menschen bzw. Gruppierung ausgehen, evident in Konflikt mit dem Diskriminierungsverbot aus Gründen der Rasse bzw. der Religion nach Art. 14 EMRK. Gleichzeitig können sie, je nach konkretem Inhalt, die Persönlichkeitsrechte aus Art. 8 EMRK betreffen. Sie liegen bereits deshalb im Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK. Zudem treten sie im Zusammenhang mit totalitären Staatsverständnissen auf und widersprechen so eklatant dem freiheitlichen demokratischen Staatsverständnis der EMRK.150 Eine freie Demokratie basiert auf der Idee, dass alle Menschen gleich und vor allem gleich an Würde sind. Diesem Prinzip widersprechen rassistische, xenophobe und antisemitische Äußerungen.151 Deshalb betreffen sie das Schutzgut des Art. 17 EMRK. Dies insbesondere dann, wenn und soweit sie die gleiche Teilhabe aller Bürger am demokratischen Willensbildungsprozess negieren, die eine demokratische Staatsform gerade fordert.152 Für sie gilt Art. 17 EMRK damit. Gleiches muss für diskriminierende Äußerungen sonstiger Art ebenso gelten, die die Idee von Pluralismus und freiheitlicher Gesellschaft ablehnen. Hierzu sind homophobe ebenso wie sonstige gegen Minderheiten gerichtete Äußerungen zu zählen, weil sie bestimmten Gruppierungen der Gesellschaft oder bestimmten Menschen den Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe am demokratischen Willensbildungsprozess oder dem gesellschaftlichen Leben absprechen und damit ihre Würde verletzen. Jede Äußerung, die die Toleranz und den Respekt für die gleiche Würde aller Menschen negiert, betrifft das Schutzgut des Art. 17 EMRK.

Müller, EuGRZ 1983, 337, 343; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 174. 148 Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 853; Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art.  54 Rn.  43; Beširević, in: Benedek/Benoit-Rohmer/Karl/Nowak (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights (2012), S. 243, 247. 149 Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 853; Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 43. 150 Vgl. Brems, Journal of Human Rights 2002, 481, 495. 151 Frowein, Israel Yearbook on Human Rights 26 (1996), 201, 213. 152 Bakircioglu, Tulsa Journal of Comparative and International Law 2008, 1, 5; Gusy, in: Jahrbuch Menschenrechte, 2012/2013, S. 124 f.; Dietlein, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD IV/2, S. 32 f.; Ost, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 449, 470. 147

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 235

Die totalitäre und demokratiefeindliche Tendenz einer Äußerung kann aber letztlich nur im konkreten Kontext und nicht pauschal nach Kategorien beurteilt werden. Der konkrete Inhalt einer Aussage und ihr konkreter Kontext muss entscheidend sein. Die Äußerung muss die Fundamente einer freiheitlichen Demokratie angreifen. Hierzu zählen jedenfalls die elementaren Freiheits- und Gleichheitsrechte aller Menschen (Angriff durch rassistische, antisemitische, homophobe oder islamfeindliche Äußerungen, die über den Wert des Menschen nach ethnischer, religiöser oder sonstiger Zugehörigkeit zu einer Rasse, Nation oder sonstiger Gruppe urteilen; Angriff durch die Äußerung des politischen Willens, Menschen aufgrund ihrer ethnischen Herkunft aus einem bestimmten Territorium auszuweisen),153 der Grundsatz der fundamentalen Geschlechtergleichheit (Angriff durch Äußerungen, die darauf abzielen, Personen allein wegen ihres Geschlechts herabzusetzen oder zu diskriminieren),154 die Garantie einer staatsfreien Sphäre des Einzelnen (Angriff durch Abschaffung des Konzepts der Freiheitsrechte), die pluralistische politische Auseinandersetzung zwischen verschiedenen konkurrierenden politischen Gruppierungen (Angriff durch Einführung eines Einparteiensystems und die Unterdrückung von Oppositionen), die freie und offene öffentliche Meinungsbildung (Angriff durch Manipulation der öffentlichen Meinungsbildung durch einseitige, manipulierende Propaganda), Pluralismus155 und Toleranz (Angriff durch Gleichschaltung der Gesellschaft; Angriff durch Abschaffung der Pflicht, jedem Mitmenschen die Freiheit zuzubilligen, die er für sich selbst in Anspruch nimmt156). Äußerungen, die diese Inhalte transportieren, sind grundsätzlich solche, die das Schutzgut des Art. 17 EMRK betreffen. Selbstverständlich bedeutet dies nicht, dass jede Äußerung, die einen solchen Inhalt hat, die Rechtsfolge des Art. 17 EMRK auslöst. Hierzu bedarf es zusätzlich der Erfüllung der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des Art.  17 EMRK. Neben der Öffnung für objektive Schutzgutelemente kann gefragt werden, ob tatsächlich alle subjektiv-rechtlichen Garantien der EMRK in vollem Umfang Schutzgut des Art. 17 EMRK sind. Das würde nämlich bedeuten, dass jede Negierung irgendeines in der EMRK garantierten Rechts, auch der Ehe wegen Art.  12 EMRK, unter Art. 17 EMRK fiele. Man könnte eine teleologische Reduktion mit dem Argument erwägen, nicht jedes Statement zur Abschaffung einer Garantie der Konvention sei als totalitär bzw. demokratiefeindlich anzusehen. Da der Schutz der demokratischen Grundordnung aber als Sinn der Regelung bestimmt wurde, könnte

Vgl. Sichert, DÖV 2001, 671, 677; kritisch hierzu Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 62 f., der aber zugibt, dass rassistische und islamophobe Einstellungen häufig der Ursprung für die Bildung von totalitären Gruppierungen und Vereinigungen sind, sodass es eine gewisse Berechtigung gibt, diese Tendenzen „im Keim zu ersticken“ und auch diese Äußerungen, die noch nicht totalitär oder faschistisch sind und keine unmittelbaren Gefahren für die Demokratie darstellen, aber zu solchen werden könnten, zu unterbinden. 154 Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, Rn. 44 f.; kritisch Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 36. 155 Pech, La liberté d’expression, S. 372. 156 Vgl. hierzu Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 115 Rn. 256. 153

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

man annehmen, der Wortlaut gehe über diesen Sinn hinaus. In diesem Fall wäre eine teleologische Reduktion geboten. Äußerungen, die in keinem (zwingenden) Zusammenhang zu Demokratie und demokratischen Grundwerten stünden, könnten danach von Art.  17 EMRK nicht erfasst werden, wenngleich sie ein subjektives Recht der EMRK abschaffen oder stärker als vorgesehen beschränken wollten. Eine solche Argumentation würde aber bedeuten, dass es sich bei den Rechten der EMRK teilweise um solche handelt, die für eine demokratische Grundordnung nicht zwingend sind. Dem ist allerdings zu widersprechen. Einzuräumen ist, dass es einige Grundrechte gibt, deren Negation schwierig als Anwendungsfall des Art. 17 EMRK vorstellbar ist, weil derartige Sachverhaltskonstellationen kaum konstruierbar sind. Bei Art. 12 EMRK ist das der Fall. Die meisten Fälle werden sich hier ohnehin im Zusammenhang mit Diskriminierungen und Art. 14 EMRK bewegen. Nichtsdestoweniger wäre eine Art. 12 EMRK leugnende Äußerung potenziell ein Anwendungsfall des Art. 17 EMRK, weil es sich um eine totalitäre Staatsauffassung handelt, wenn man die Freiheit, dass sich zwei Menschen für eine rechtliche Verbindung entscheiden können, vollständig abschafft bzw. verbietet. Augenfällig wird dies dann, wenn man annimmt, jemand propagiert die Abschaffung der Freiheit, die Art. 12 EMRK garantiert, weil eine rechtliche Verbindung zwischen zwei Menschen dem politischen Gesamtziel schade. Ein Beispiel könnte eine aggressive Forderung nach einer Ein-Kind-Politik oder ein Verbot von Ehen zwischen heterosexuellen Paaren sein. Eine teleologische Reduktion des Art.  17 EMRK würde darauf hinauslaufen, dass es im Ergebnis demokratisch zwingend notwendige und demokratisch nicht notwendige Grundrechte gäbe. Dies würde der Konzeption der EMRK als Mindeststandard157 demokratischer Staaten widersprechen und zudem schwierige Abgrenzungsfragen hervorrufen. Außerdem bedeutet die Tatsache, dass ein Äußerungsinhalt grundsätzlich von Art. 17 EMRK erfasst wird, nicht, dass die Äußerung in den Anwendungsbereich der Bestimmung fällt. Hierzu müssen die übrigen Voraussetzungen erfüllt sein. Da es ohnehin nur um einen Angriff auf die Grundrechte gehen kann, der über die Beschränkungsmöglichkeiten, die die Konvention selbst vorsieht, hinausgeht, sind immer demokratisch notwendige Rechtspositionen betroffen. Bei absolut gewährleisteten Grundrechten ist jedes Plädoyer ihrer Abschaffung, bei den übrigen Grundrechten nur ein solches für eine „Abschaffung“ oder eine „Einschränkung“, die über die Schrankenklauseln hinausgeht, erfasst. Die Äußerung einer Person, die Alternativvorschläge zur gesetzlichen Regelung des Zusammenlebens von Menschen macht und dabei nicht hetzt, demokratische Diskussionsstandards akzeptiert und niemanden zu Gewaltanwendungen aufstachelt bzw. die subjektiv gar nicht auf die Abschaffung oder Schmälerung der Konventionsrechte zielt, fällt ohnehin nicht in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK. Das ist deshalb der Fall, weil es sich bei einer solchen Äußerung nicht um eine Handlung oder Tätigkeit handelt, die darauf gerichtet ist, das Schutzobjekt des

157

Vgl. statt vieler Hilf, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR VI/1 § 164 Rn. 84.

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 237

Art. 17 EMRK, hier das Recht aus Art. 12 EMRK, zu zerstören. In einem solchen Fall könnte nicht von einer tatbestandsmäßigen Handlung gesprochen werden.158 Der Ausschluss bestimmter Grundrechte aus dem Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK über eine teleologische Reduktion ist nicht notwendig und abzulehnen. Das bedeutet nicht, dass jede Kritik und jeder Zweifel im Bereich der Gewährleistung irgendeiner grundrechtlichen Freiheit in ihren Einzelheiten ein Fall des Art. 17 EMRK ist. Diese Annahme ist aber nicht über eine Auslegung des Begriffs der „Rechte und Freiheiten der Konvention“, sondern über die übrigen Tatbestandsmerkmale zu begründen. Insbesondere genügt es auch nicht, dass eine Äußerung ein anderes Konventionsrecht oder einen fundamentalen demokratischen Wert im hier genannten Sinn nur beeinträchtigt. Das wäre nämlich bereits dann der Fall, wenn eine Presseberichterstattung das Persönlichkeitsrecht einer anderen Person beeinträchtigt.159 In einem solchen Fall liegt ein gewöhnliches mehrpoliges Grundrechtsverhältnis vor und staatliche Schutzpflichten greifen eventuell. Art. 17 EMRK tritt erst dann ein, wenn die Äußerung intentional darauf ausgerichtet ist, die Grundrechtsträgerschaft der anvisierten Bevölkerungsgruppe zu verneinen, also die grundrechtliche Gewährleistung für diese Personen abzuschaffen bzw. abschaffen zu wollen. b) Der Anwendungsbereich des Art. 54 GRC Art.  54  GRC entspricht ausweislich der Erläuterungen zur Grundrechtecharta Art.  17 EMRK.160 Er verbietet einen Gebrauch der Grundrechte der GRC zum Zweck ihrer übermäßigen Einschränkung oder völligen Abschaffung.161 Der Gehalt des Art. 54 GRC ist aus Art. 17 EMRK zu gewinnen.162 Dies gilt, damit Art. 54 GRC einen einheitlichen Gehalt hat, auch dann, wenn er sich auf Grundrechte der Charta bezieht, die keine Entsprechung in der EMRK finden und Art. 52 III GRC deshalb nicht greift.163 Ebenso wie Art. 17 EMRK kann Art. 54 GRC nicht isoliert geltend gemacht werden und ist stets mit einem Chartagrundrecht verbunden, das missbraucht zu werden droht oder scheint. Art. 54 GRC weist somit die gleiche an die Grundrechtsgarantien anknüpfende und insoweit von ihnen abhängige Natur auf wie Art. 17 EMRK.164 Die zum Tatbestand des Art. 17 EMRK dargestellten Erwägungen gelten gleichermaßen für die „Missbrauchsklausel“ der Grundrechtecharta,

Siehe hierzu ausführlich oben Kapitel 4, A., I., 2., a), ii. Vgl. statt vieler EGMR, 24. 6. 2004, Von Hannover ./. Deutschland, Nr. 59320/00. 160 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007, Nr. C 303/17; vgl. auch Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl. 2004, Nr. C 310/459. 161 Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 54 Rn. 1. 162 Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 2. 163 Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 2. 164 Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 1, 25; Bezemek/Thallinger, in: Holoubek/Lienbacher (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 6. 158 159

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

weil Art. 54 GRC der Bestimmung des Art. 17 EMRK inhaltlich und teleologisch entspricht;165 Art. 54 GRC gilt wie Art. 17 EMRK ebenfalls für Äußerungen.166 Der Anwendungsbereich des Art.  54  GRC ist auf jene Art von Chartagrundrechten beschränkt, die ihrer Natur nach für einen Grundrechtsmissbrauch geeignet sind. Entsprechend den im Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK liegenden Grundrechten der EMRK kann es sich auch in der Grundrechtecharta nur um sog. „Verhaltensgrundrechte“167 handeln.168 Auf justizielle Grundrechte ist Art. 54 GRC insbesondere nicht anwendbar.169 Ein Unterschied im Wortlaut existiert insoweit als Art.  54  GRC, anders als Art.  17 EMRK, seine Adressaten nicht nennt. Uneinigkeit besteht darüber, ob die Europäische Union und die Mitgliedstaaten neben Individuen und Gruppen von Individuen Adressaten der „Missbrauchsklausel“ sind.170 Die Problematik bedarf vorliegend jedoch keiner Bearbeitung, da für die hier zu behandelnde Fragestellung allein die individualgerichtete Variante der Vorschrift von Bedeutung ist. Diese wird nicht bezweifelt. Zu beachten ist auch, dass Art. 54 GRC die in der Charta, im Gegensatz zur EMRK, enthaltenen Prinzipien nicht nennt. Auf diese ist die „Missbrauchsklausel“ nicht anwendbar.171 Die Tathandlungen, die Art. 54 GRC erfasst, sind im Wesentlichen identisch zu jenen, die Art. 17 EMRK betrifft. In Bezug auf das Schutzobjekt ist Art. 54 GRC ebenso wie Art. 17 EMRK zu beurteilen. Art. 54 GRC ist bei gleicher Teleologie wie Art. 17 EMRK – Demokratieschutz172 – insbesondere gegen totalitäre Strömungen gerichtet.173 Die „Missbrauchsklausel“ des Unionsrechts erfasst infolgedessen

165 Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 2; Von Danwitz, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 6. 166 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 11. 167 Siehe hierzu im Zusammenhang mit der EMRK bereits Kapitel 4, A., I., 2., a), i. 168 Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 35. 169 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art.  54 Rn.  2; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 10; a. A. Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 95. 170 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 54 GRC Rn. 2; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art.  54, Rn.  13; Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 426; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 502; Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 8. 171 Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 36. 172 Streinz/Michel, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV Art. 54 Rn. 1; Folz, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäisches Unionsrecht, Art. 54 GRC Rn. 2; Beutler, in: Von der Groeben/ Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union, Art.  6 EUV Rn.  9; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 1; Klamt, Streitbare Demokratie, S. 372. 173 Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 425; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), EuGR, §  7 Rn.  109  f.; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 8, 11; Mahlmann, ZEuS 2000, 440 („mit zutiefst sympathischer antitotalitaristischer Intention formulierte Regelung“); zum Schutz objektiver Werte, die für Art. 54 GRC vergleichbar mit Art. 17 EMRK gestellt werden muss; siehe bereits ausführlich oben Kapitel 2, C., III. Inhaltlich ergibt sich für das Schutzgut des Art. 54 GRC nichts anderes als für Art. 17 EMRK; für den Kreis der konkret erfassten Äußerungen siehe daher oben Kapitel 3, A., I., 2., a), iii.

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 239

inhaltlich die gleichen Äußerungen wie Art. 17 EMRK.174 Für den Anwendungsbereich der „Missbrauchsklausel“ des Art. 54 GRC ergeben sich in Bezug auf demokratiefeindliche Äußerungen keine Abweichungen zu Art. 17 EMRK. c) Der Anwendungsbereich des Art. 18 GG Art.  18  GG lautet: „Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Artikel 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Artikel 5 Abs. 3), die Versammlungsfreiheit (Artikel 8), die Vereinigungsfreiheit (Artikel 9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Artikel 10), das Eigentum (Artikel 14) oder das Asylrecht (Artikel 16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte.“ Ebenso wie bei Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC ist die Bedeutung der Tatbestandsmerkmale des Art. 18 GG durch Auslegung zu bestimmen, um den Anwendungsbereich der Regelung zu erfassen und festlegen zu können, welche Voraussetzungen eine Äußerung erfüllen muss, um von der „Missbrauchsklausel“ erfasst zu werden. Welchen Einfluss dies auf den grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nach sich zieht, ist dann im Abschnitt zu den „Rechtsfolgen der Missbrauchsklauseln“ zu erläutern. Zuvörderst sollen demnach die Fragen beantwortet werden, die sich in Bezug auf Art.  18  GG parallel zu jenen stellen, die für Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC als Anwendungsbereich der Regelungen bezeichnet wurden. i. Die Grundrechtsgarantien im Anwendungsbereich des Art. 18 GG Ebenso wie die „Missbrauchsklauseln“ der europäischen Grundrechtskataloge nicht auf alle Grundrechte dieser Kataloge bezogen sind, ist auch Art. 18 GG nicht auf alle Garantien des Grundgesetzes anwendbar. Art. 18 GG enthält aber im Gegensatz zu Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC eine ausdrückliche Aufzählung der erfassten Grundrechte („[…] insbesondere die Pressefreiheit [Artikel 5 Abs, 1], die Lehrfreiheit [Artikel 5 Abs. 3], die Versammlungsfreiheit [Artikel 8], die Vereinigungsfreiheit [Artikel 9], das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis [Artikel 10], das Eigentum [Artikel 14] oder das Asylrecht [Artikel 16a] […]“). Art. 18 GG ist sowohl auf die Garantie des Art. 5 I GG (Meinungsfreiheit) als auch auf jene des Art. 8 I GG (Versammlungsfreiheit), die im Zusammenhang mit „Hassreden“ relevant sind, anwendbar. Fraglich ist, ob auch die Kunstfreiheit nach Art. 5 III GG, die eventuell im Zuge non-verbaler demokratiefeindlicher Äußerungen neben den genannten und im Wortlaut des Art. 18 GG ausdrücklich enthaltenen Grundrechten eine Rolle spielen kann, oder die Religionsfreiheit für die Fälle religiös extremistischer Äußerungen, erfasst sind. Die Aufzählung der Grundrechte im

174

Vgl. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 11.

240

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Wortlaut der Bestimmung ist abschließend;175 der Ausdruck „insbesondere“ bezieht sich nur auf das Spezialitätsverhältnis zwischen Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit.176 Die Verwirkung kommt nur für die genannten Grundrechte in Betracht, die die Gemeinsamkeit haben, dass sie in besonderer Weise geeignet sind, zum Kampf gegen die FDGO gebraucht zu werden.177 Die aufgezählten Grundrechte sind allesamt besonders gefahrgeneigte Grundrechte, die Handlungen politischer Agitation erfassen können.178 Der Schwerpunkt liegt auf den Kommunikationsgrundrechten.179 Zwar trifft es zu, dass die Kunstfreiheit im Einzelfall wegen der Natur einer Äußerung als lex specialis eingreifen kann und ein Betroffener, dessen Äußerung einen Kampf gegen die FDGO beinhaltet, der Wirkung des Art. 18 GG auf diese Weise entkommt, obwohl der Telos der Regelung greifen würde. Gleiches gilt für die Religionsfreiheit im Fall von religiös extremistischen Äußerungen. Eine analoge Anwendung scheidet in einem solchen Fall aber aus, weil der Wortlaut die Anwendung ausdrücklich und eindeutig ausschließt.180 Dem Verfassungsgesetzgeber kann nicht unterstellt werden, dass er bei einer detaillierten Aufzählung wie jener in Art. 18 GG die Möglichkeit der Einbeziehung der Kunstfreiheit nicht bedacht hat.181 Eine planwidrige Regelungslücke ist hier nicht auszumachen. Der Wortlaut steht einer solchen teleologischen Auslegung eindeutig entgegen.

Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 38; Birkenmaier, in: Schmidt-Bleibtrau/Hofmann/ Henneke, GG, Kommentar, Art.  18 Rn.  6; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Art.  18 Rn.  11; a.  A. Krebs, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art.  18 Rn.  17; Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art 18 Rn. 10; Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte, Art. 18 Rn. 9. 176 Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 43 ff.; ob „insbesondere“ ein Indiz für eine nicht abschließende Aufzählung der von Art. 18 GG erfassten Spezialfälle der Meinungsäußerungsfreiheit ist und daher auch Rundfunk- und Filmfreiheit etwa erfasst sind, wird unterschiedlich beurteilt (ablehnend Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 8.1; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, S.  957; befürwortend Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 118; Krebs, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 7), es muss hier aber nicht beantwortet werden, weil diese Garantien in den vorliegend betrachteten Sachverhaltskonstellationen keine Rolle spielen. 177 Von Münch/Mager, Staatsrecht II, Rn. 134. 178 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 114 f., 123 f.; Čopic, JZ 1963, 494, 498; Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 28. 179 Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 37; vgl. hierzu Ridder, DÖV 1963, 321, 323. 180 Vgl. hierzu Krebs, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 16, 18. 181 Maunz, in: FS Lerche, S. 283; Von Münch/Mager, Staatsrecht II, Rn. 134; für Ausnahmefälle der mitbetroffenen oder überlappenden Schutzbereiche zwischen genannten und nicht genannten Grundrechten anders Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 298; BVerfGE 25, 88, 97; Butzer, in: Epping/ Hillgruber (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 12; Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 32; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 34; aber: Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 39 geht zu Recht davon aus, dass mitbetroffene Grundrechte bei der grundrechtlichen Beurteilung der konkreten Handlung, die den Kampf gegen die FDGO darstellt (nach Wittreck „Anlasstat“) eine Rolle spielen, nicht jedoch für die Verwirkungssanktion, die Art. 18 GG regelt (siehe zu „Anlasstat“ und Art. 18 GG unten). 175

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 241

Allerdings kann mit einiger Berechtigung darauf hingewiesen werden, dass eine Verfassungsänderung an dieser Stelle legitim sein könnte. Die Außerachtlassung der Religionsfreiheit nach Art. 4 GG sowie der Kunstfreiheit nach Art. 5 III GG in Art. 18 GG erscheint vor dem Hintergrund, dass es religiös motivierte oder religiös verschleierte politische Agitation gegen fundamentale demokratische Werte sowie künstlerische Ausdrucksformen von Rassismus oder Xenophobie gibt, zumindest problematisch.182 Dies ändert aber nichts daran, dass dieses Ergebnis nicht über Auslegung, sondern nur über eine legislative Maßnahme erreicht werden könnte. Die Kunstfreiheit ist ebenso wenig wie die Religionsfreiheit Teil der Grundrechte, auf die Art. 18 GG anwendbar ist. Art. 18 GG ist zwar nur auf die genannten Grundrechte anwendbar; dies bedeutet aber nicht zwingend, dass andere Grundrechte nicht „missbraucht“ werden könnten. Die Verwirkung kann nur für die abschließend aufgezählten Garantien ausgesprochen werden. Der „Missbrauch“ ist hiervon zu unterscheiden. ii. Die „Tathandlung“ Nach dem Wortlaut des Art. 18 GG ist die relevante Tatbestandshandlung ein „Missbrauch“ der abschließend aufgezählten Grundrechte zum Kampf gegen die FDGO („zum Kampf gegen die FDGO missbraucht“). Die Formulierung wirft Zweifel nach dem Verhältnis zwischen dem gebrauchten Begriff des „Missbrauchs“ und der Wortfolge „Kampf gegen die FDGO“ auf. Ähnlich zu Art. 17 EMRK scheint der Tatbestand des Art. 18 GG einen „Missbrauch“ der enumerativ in der Bestimmung aufgezählten Grundrechte zum Kampf gegen die FDGO zu erfassen. Art. 18 GG lautet: „Wer die Freiheit der Meinungsäußerung, insbesondere die Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1), die Lehrfreiheit (Art. 5 Abs.  3), die Versammlungsfreiheit (Art.  8), die Vereinigungsfreiheit (Art.  9), das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10), das Eigentum (Art. 14) oder das Asylrecht (Art.  16a) zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte. Die Verwirkung und ihr Ausmaß werden durch das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen“. Diese Formulierung des Wortlauts lässt bereits einen Unterschied zu Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC erkennen. Während der Begriff des „Missbrauchs“ in den „Missbrauchsklauseln“ der europäischen Grundrechtskataloge nicht genannt wird, wird er in Art. 18 GG ausdrücklich gebraucht. Die Tathandlung liegt in einem „Missbrauch“ der Grundrechte zum Kampf gegen die FDGO. Art. 17 EMRK sieht in einer Tätigkeit, die darauf gerichtet ist, die Rechte und Freiheiten der Konvention zu zerstören,

Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 18 Rn. 19; Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 10 f.; teilweise wird darüber nachgedacht, ob ein religiös getarntes und gegen die Verfassung kämpfendes Verhalten in Form von Äußerungen nicht bereits über die Meinungsäußerungsfreiheit erfasst wäre (Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 298); allerdings gilt dies nur insoweit als der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit und nicht jener der Religionsfreiheit als lex specialis betroffen ist. Letztlich kommt es daher auf die Schutzbereichsabgrenzungen an. Wenn aber jener der Religionsfreiheit betroffen ist, wäre Art. 18 GG nicht anwendbar.

182

242

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

einen „Missbrauch“. Art. 18 GG integriert den Begriff des „Missbrauchs“ terminologisch ausdrücklich bereits in die Umschreibung der Tathandlung. In Art. 18 GG ist der „Missbrauch“ selbständiges Merkmal der Tathandlung. Der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK ist betroffen, wenn der Handelnde die Grundrechte „gebraucht“, um sie zu zerstören, worin dann ein „Missbrauch“ liegt. In Art. 18 GG aber scheint der Anwendungsbereich erst betroffen zu sein, wenn der Einzelne die Grundrechte zum Kampf gegen die FDGO „missbraucht“. Der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK ist der „Missbrauch“, der mit einzelnen Tatbestandsmerkmalen im Wortlaut definiert wird; Art. 18 GG setzt den „Missbrauch“ als eigenständiges Tatbestandsmerkmal voraus. Mit anderen Worten: Nach der Struktur des Art. 17 EMRK müsste ein „Gebrauch“ der Grundrechte zum „Kampf“ gegen die „FDGO“ bereits der „Missbrauch“ sein. Der Wortlaut des Art.  18  GG verwendet aber anstatt „gebrauchen“ den Begriff „missbrauchen“. Letzterer setzt das „gebrauchen“ zwar begrifflich voraus, geht aber darüber hinaus. Der Missbrauch tritt bei Art. 18 GG im Gegensatz zu Art. 17 EMRK als eigenständiger Begriff auf. Aus einer Auslegung des Art.  18  GG im Einzelnen ergibt sich aber, dass ein Missbrauch im Sinne der Regelung schlicht darin liegt, dass eines der genannten Grundrechte zum Kampf gegen die FDGO gebraucht wird.183 Dem Begriff „missbrauchen“ kommt kein eigenständiger Gehalt zu, der über den Gebrauch des Grundrechts zum Kampf gegen die FDGO hinausgehen würde.184 Eine relevante Tathandlung liegt vor, wenn sie unter die Wortfolge „Kampf gegen die FDGO in Gebrauch eines Grundrechts“ subsumiert werden kann. Der Gebrauch eines Grundrechts zum Kampf gegen die FDGO läuft dem Zweck der Grundrechte – die Freiheitsrechte dienen der Erhaltung und Entfaltung der bürgerlichen und politischen Freiheiten, nicht ihrer Beseitigung –185 zuwider und ist so ein „Missbrauch“ der Grundrechte. Damit wird ein zweckwidriger, d. h. ein der ratio legis des betreffenden Grundrechts

Vgl. hierzu Klein, VVDStRL 37 (1979), 53, 82. Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 140; Butzer/Clever, DÖV 1994, 637, 641; a.  A. Schmitt Glaeser, der in frühen Publikationen einen „verdeckt-funktionswidrigen scheinbar funktionsgerechten Gebrauch“ und eine Täuschungsabsicht für erforderlich hielt (so Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 146 ff.). Später gab Schmitt Glaeser die Ansicht auf, es handle sich bei der Täuschungsabsicht um ein Tatbestandsmerkmal. Dennoch nimmt er weiterhin an, die Täuschung sei Merkmal der Tat, die unter Art. 18 GG falle, wenn auch kein Tatbestandsmerkmal (Täuschung in dem Sinne, dass sich eine Person den Anschein gibt, mit demokratischen Mitteln zu handeln, am demokratischen Meinungsbildungsprozess teilzunehmen; tatsächlich versucht sie aber gerade dieses demokratische System zu zerstören; hierzu nutzt sie das Mittel der Täuschung der Demokraten über die eigene demokratische Einstellung, damit sie die Möglichkeit zur Zerstörung aufbauen und dann umsetzen kann; „Totalitärer im Demokratenpelz“ (Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 24 f.)). 185 Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 12. 183 184

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 243

nicht entsprechender Gebrauch, bezeichnet.186 Ein Verhalten in diesem Sinne impliziert den „Missbrauch“. Deshalb hat das Verb „missbrauchen“ keine weitere, über die genannte Wortfolge hinausgehende Bedeutung.187 Die Verwendung des Worts „missbrauchen“ im Wortlaut hat keinen Mehrwert gegenüber einer Verwendung des Begriffs „gebrauchen“ und ist überflüssig, weil sie mit dem übrigen Wortlaut sinngleich ist. Demnach ist allein unter die Wortfolge „Gebrauch eines Grundrechts zum Kampf gegen die FDGO“ zu subsumieren. Gelingt dies, liegt ein „Missbrauch“ vor. Insoweit besteht kein wesentlicher Unterschied zwischen Art.  17 EMRK und Art.  18  GG. In Art.  17 EMRK wird der Begriff des „Missbrauchs“ in der Überschrift zum Artikel gebraucht, in Art. 18 GG wird der Begriff pleonastisch verwendet. Dabei handelt es sich um zwei unterschiedliche Regelungstechniken, die zum selben Ergebnis kommen. Der Missbrauch wird in beiden Vorschriften geahndet und er wird in beiden Vorschriften mit dem Gebrauch der Grundrechte zur Zerstörung der Ordnung definiert. Die drei untersuchten „Missbrauchsklauseln“ weisen – entgegen der Unterschiede in der Formulierung – insoweit eine vergleichbare Struktur auf. Im Anwendungsbereich der Bestimmungen liegt ein Missbrauch, der – vereinfacht formuliert – als der Gebrauch der Grundrechte zur Zerstörung der Fundamente der demokratischen Ordnung definiert wird.188 Im Anwendungsbereich sind die Regelungen insoweit vergleichbar. Das Verhalten, das der Wortlaut des Art. 18 GG zu einem „Missbrauch“ macht, ist aber auch ein „Missbrauch“ im Sinne der Lehre vom allgemeinen Grundrechtsmissbrauch.189 Während bei Art. 17 EMRK ausgehend vom Wortlaut der Vorschrift bezweifelt werden kann, ob Meinungsäußerungen überhaupt in den Anwendungsbereich der „Missbrauchsklausel“ fallen,190 lässt der Wortlaut des Art.  18  GG diese Zweifel nicht entstehen, weil er die Meinungsäußerungsfreiheit ausdrücklich nennt. Meinungsäußerungen sind eindeutig Betätigungen grundrechtlicher Freiheit, die Tathandlung im Sinne des Art. 18 GG sind und auf die die Regelung anwendbar ist.

Hönsch, Die Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG, S. 25; Schmitt Glaeser, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 20, Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 160; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 709; Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 139; Kloepfer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 42 Rn. 50; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 133; Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 11 f., 15; vgl. hierzu auch Leist, Versammlungsrecht und Rechtsextremismus, S. 116, der die Abgrenzung zwischen richtigem Gebrauch und falschem Missbrauch für undurchführbar hält. 187 Vgl. Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 12; Reif, Der Begriff der Verwirkung der Grundrechte in Artikel 18 des Grundgesetzes, S. 96 („verfassungsrechtlicher Pleonasmus“); Dürig, JZ 1952, 513, 516; Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 18 Rn. 24; a. A. Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 11; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 133. 188 Siehe hierzu weiter unten in diesem Abschnitt. 189 Reif, Der Begriff der Verwirkung der Grundrechte in Artikel 18 des Grundgesetzes, S. 96; siehe hierzu ausführlich unten Kapitel 4, A., I., 3., c), iii. 190 Siehe hierzu oben Kapitel 4, A., I., 2., a), ii., (1). 186

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Für Art.  18  GG gilt, ebenso wie für Art.  17 EMRK und den gleichlautenden Art. 54 GRC, dass Handlungen jedenfalls in den Schutzbereich eines Grundrechts fallen müssen, damit die „Missbrauchsklausel“ anwendbar ist.191 Ein Grundrecht muss in dem Sinne „gebraucht“ werden, dass sein Inhalt verwirklicht wird.192 Die drei „Missbrauchsklauseln“ sind insoweit vergleichbar. Auf ein Verhalten, das bereits aus anderen Gründen, wie Gewalttätigkeit,193 nicht grundrechtlich geschützt ist, sind die Regelungen nicht anwendbar, weil das Verhalten nicht grundsrechtsmissbräuchlich sein kann, wenn es schon kein Grundrechtsgebrauch ist. Diese Argumentation gilt für Art. 17 EMRK, Art. 54 GRC und Art. 18 GG gleichermaßen. Art. 18 GG ist damit, genau wie Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC, typischerweise für den geistigen Kampf gegen die demokratische Ordnung relevant. Revolutionäre Agitation, subversive Pressekampagnen, verbale Einflussnahmen auf die öffentliche Meinung und demagogische Reden mit manipulativem Charakter sind die Hauptanwendungsfelder des Art. 18 GG.194 Äußerungen sind in allen drei Grundrechtskatalogen relevante Anwendungsfelder für die „Missbrauchsklauseln“. Entscheidend für Art. 18 GG ist der Begriff des „Kampfes“. „Kampf“ meint die Vernichtung der Ordnung.195 Die Handlungen des Betroffenen müssen gegen die Zerstörung der FDGO als Gesamtordnung oder gegen ihre wesentlichen Bestandteile gerichtet sein.196 Eine Opposition gegen einzelne Bestandteile der Ordnung genügt nicht.197 Die ratio des Art. 18 GG ist darin zu sehen, Schutz gegenüber jenen Individuen zu ermöglichen, die die von der Verfassung eingeräumten grundrechtlichen Freiheiten dazu instrumentalisieren, die FDGO zu zerstören.198 Eine restriktive Interpretation ist notwendig, weil es sich um eine Bestimmung handelt, die Grundrechte beschränkt.199 Sowohl der Inhalt der Äußerungen als auch die Methode ihres Vortrags sowie die Art und Weise der Ausdrucksmittel und der Argumentation müssen aggressiv, einseitig, kompromisslos und herabsetzend sein, um die Voraussetzungen des Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 295; Lerche, in: FS Arndt, S. 199, 206; Kapries, Die Schranken der Grundrechte, S. 148. 192 Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit, S. 83, 89; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 80. 193 Dies nur unter der Voraussetzung, dass man davon ausgeht, dass Gewalttätigkeit aus Gründen des staatlichen Gewaltmonopols eine Einschränkung des Schutzbereichs begründet (Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 295; a. A. Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 33 ff., 154; Alexy, Theorie der Grundrechte, S.  278  ff.; Lübbe-Wolf, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 87 ff.). 194 Vgl. Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 295; Ridder, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, S. 243, 290; vgl. hierzu Hartmann, AöR 95 (1979), 567, 580; Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 22. 195 Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 18. 196 Maunz, in: FS Lerche, S. 285. 197 Maunz, in: FS Lerche, S. 286. 198 Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 9. 199 Selmer, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Missbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 21, 35 f.; vgl. hierzu Seuffert, in: FS Geiger, S. 797, 802 f. 191

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 245

Tatbestandsmerkmals zu erfüllen.200 Der Terminus des „Kampfes“ setzt ein aktivkämpferisch-aggressives Verhalten voraus.201 Art. 18 GG verlangt damit aktives und aggressives Eintreten für staatliche oder gesellschaftliche Verhältnisse,202 die der FDGO widersprechen. Mit anderen Worten bedarf es für Art. 18 GG einer „planvoll erscheinenden aggressiven Tendenz“ 203. 204 Der Betroffene muss sich aggressiv und zielgerichtet gegen die FDGO richten.205 Hierbei kann es sich nicht um einen bloßen Meinungsstreit zwischen einander widerstreitenden politischen Auffassungen handeln.206 Bloße Unmutsäußerungen oder die öffentliche Verlautbarung systemabweichender Ansichten eines Individuums können die Voraussetzungen eines tatbestandsmäßigen Verhaltens gemäß Art. 18 GG nicht erfüllen.207 Andererseits ist aber auch keine tatsächliche Gewalttätigkeit im Sinne physischer Gewalt notwendig.208 Dies zeigt bereits die Einbeziehung der Meinungsäußerungsfreiheit in den abschließenden Katalog der Grundrechte, auf die Art. 18 GG anwendbar ist. Ein „geistiger Kampf“ kann auch genügen.209 Erforderlich, aber auch ausreichend, ist hingegen eine Aufstachelung zu Gewalt bzw. zum bevorstehenden Kampf.210 Non-verbale Äußerungen können auch relevante Handlungen sein, die in den Anwendungsbereich des Art. 18 GG fallen. (Straf-)Rechtswidrigkeit des Verhaltens ist nicht erforderlich. Dies ist deshalb der Fall, weil ein solches Erfordernis mit dem präventiven Charakter der Bestimmung nicht vereinbar wäre. Art. 18 GG dient der Abwehr künftiger möglicher Gefahren, nicht der Sanktionierung vergangenen Verhaltens. Letzteres ist dem repressiven Strafrecht überlassen. Dem Verfassungsgesetzgeber genügte ein repressiver Schutz gerade nicht. Vielmehr verwirklicht Art. 18 GG das Konzept der „streitbaren Demokratie“ und er soll dem Staat die Möglichkeit geben, frühzeitig – ohne ein strafbares Verhalten abwarten zu müssen – gegen den Einzelnen vorzugehen. Auch einer Rechtswidrigkeit bedarf es

Maunz, in: FS Lerche, S. 286 f.; Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 293. Sodan, in: Sodan (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 18 Rn. 4. 202 Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 9; Krebs, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art 18 Rn. 8 f.; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art 18 Rn. 54. 203 Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 549. 204 Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art.  18 Rn.  23; ein solches Handeln liegt dann vor, wenn sich die Absicht der Errichtung einer „neuen Ordnung“ bzw. der „Überwindung des Systems“ in einem planvollen Agieren zur Beeinträchtigung und Beseitigung der FDGO äußert und „absolute Macht“ angestrebt wird, „um das System zu ersetzen“ (vgl. hierzu Sichert, DÖV 2001, 671, 677). 205 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 54. 206 Maunz, in: FS Lerche, S. 286 f. 207 Backes, Rechtsstaatsgefährdungsdelikte und Grundgesetz, S.  156  f.; Gusy, AöR 105 (1980), 279, 288; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 46. 208 Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 46; Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 18. 209 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 54. 210 Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 46. 200 201

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

nicht, weil Art. 18 GG gerade auf die Situation gerichtet ist, in der die Demokratie mit legalen Mitteln bekämpft wird. Das Erfordernis einer (Straf-) Rechtswidrigkeit widerspräche der Teleologie der Regelung.211 Fraglich ist, welche Relevanz ein subjektives Tatbestandselement für den Anwendungsbereich des Art. 18 GG hat. Eine Zurechnungsfähigkeit und ein Unrechtsbewusstsein sind für Art. 18 GG unerheblich.212 Der Vorsatz als natürlicher Handlungswille, nicht schuldhaftes Verhalten in einem strafrechtlichen Sinn, ist erforderlich.213 Der Begriff des „Kampfes“ setzt voraus, dass der Handelnde ein Recht planmäßig ausnutzt, um ein Ziel zu verfolgen, das dem Sinn eben dieses Rechts zuwiderläuft.214 Eine solche innere Haltung und Einstellung des Handelnden ist aber nicht hinreichend.215 Ein subjektives Tatbestandselement – im Sinne einer Absicht der Beseitigung der FDGO – ist zwar verlangt, genügt aber allein nicht. Bei Art. 18 GG wird dies deutlicher als bei Art. 17 EMRK. Nach hier vertretener Auffassung verlangt aber auch die „Missbrauchsklausel“ der EMRK neben einem subjektiven auch ein objektives Element. Die Tatbestandsvoraussetzungen der „Missbrauchsklauseln“ sind auch insoweit vergleichbar. Der Tatbestand des Art. 18 GG setzt voraus, – und das ist für die Anwendung der Bestimmung entscheidend – dass mit einiger Wahrscheinlichkeit davon auszugehen sein muss, der Betroffene werde in der Zukunft objektiv gefährlich für die FDGO.216 Es genügt nicht, dass der Handelnde in der Vergangenheit gefährlich in diesem Sinne war. Art. 18 GG verlangt Wiederholungsgefahr und im Wege einer Prognose muss festgestellt werden können, dass der Betroffene zukünftig eine Gefahr für die FDGO darstellen wird.217 Das bisherige Verhalten kann nur Indizien liefern, um das zukünftige Verhalten prognostisch einzuschätzen.218 Der Betroffene muss nicht in Bezug auf einen Gebrauch des im konkreten Fall „missbrauchten“ Grundrechts gefährlich sein, sondern es genügt, wenn die Gefahr besteht, dass er erneut irgendein grundrechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne des Art.  18  GG vornimmt. Die Prognose ist an der Person und dem Gesamtverhalten des Betroffenen

Vgl. zum in dieser Hinsicht vergleichbaren Art. 21 II GG BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 578; vgl. hierzu auch Backes, Rechtsstaatsgefährdungsdelikte und Grundgesetz, S. 134. 212 Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 3; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 9. 213 Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 3; a. A. Weber, JZ 1953, 293. 214 Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 296. 215 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 72. 216 Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 296; Butzer/Clever, DÖV 1994, 637, 641; Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 11; Sodan, in: Sodan (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 18 Rn. 4; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 46, Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 3. 217 Butzer/Clever, DÖV 1994, 637, 641; Sodan, in: Sodan (Hrsg.), Grundgesetz, Art.  18 Rn.  4; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art.  18 Rn.  46; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  18 Rn. 49; Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 16. 218 BVerfGE 38, 23, 24  f.; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art.  18 Rn.  46; a.  A. Echterhölter, JZ 1953, 656, 657. 211

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 247

zu orientieren.219 Die Gefährlichkeit kann sich dabei auch erst aus der Summe der Handlungen ergeben.220 Insoweit unterscheiden sich Art.  17 EMRK und Art.  18  GG. Art.  17 EMRK bezieht sich allein auf das vergangene, konkret in Frage stehende Verhalten. Kann dies unter die Voraussetzungen des Anwendungsbereichs der Bestimmung subsumiert werden, tritt die Rechtsfolge der „Missbrauchsklausel“ für dieses konkrete „Anlassverhalten“ ein. Diese Abweichung zwischen Art. 17 EMRK und Art. 18 GG resultiert aus der unterschiedlichen Art der Rechtsfolgen zwischen den beiden Bestimmungen, die im weiteren Verlauf dieser Untersuchung dargestellt werden wird. Art. 17 EMRK wirkt nur für das konkrete Verhalten, welches Anlass für seine Anwendung gibt, Art. 18 GG hingegen wirkt, wie noch darzustellen sein wird, für den zukünftigen Gebrauch grundrechtlicher Freiheiten. Aus diesem Unterschied ergeben sich verschiedene Anknüpfungspunkte und Anforderungen im Anwendungsbereich der Regelungen. Die Zukunftsprognose ist bei Art. 18 GG notwendig, weil auch die Wirkung der Bestimmung für die Zukunft eintritt und über die „Anlasstat“221 hinausgeht. Art. 18 GG wirkt für zukünftiges Verhalten. Da dies bei Art. 17 EMRK nicht der Fall ist, ist der Anknüpfungspunkt für den Anwendungsbereich folgerichtig ein anderer. Bei Art. 18 GG muss eine Prognose zum Gefahrenrisiko in der Zukunft vorausgesetzt werden, weil die Rechtsfolge der Regelung für das zukünftige Verhalten relevant ist. Art. 17 EMRK hingegen wirkt nur für die „Anlasstat“, weshalb keine zukünftige Gefährlichkeit vorausgesetzt wird. Insoweit korrespondiert der Unterschied in der Rechtsfolge der Bestimmung mit verschiedenen Anwendungsvoraussetzungen. Die Möglichkeit des Schadenseintritts muss für Art. 18 GG zwar nicht in einem polizeirechtlichen Sinn nahe bevorstehen, sie muss aber grundsätzlich bei Weiterführung des bisherigen Kampfs möglich sein.222 Auf den genauen Umfang der Tauglichkeit der Mittel und die Erfolgsaussichten kommt es grundsätzlich nicht an.223 Offensichtlich erfolglose Mittel genügen aber nicht.224 Art.  18  GG ist wie Art.  17 EMRK zum Kreis der Regelungen zu zählen, mit denen das Konzept der „streitbaren Demokratie“ umgesetzt wird.225 Sinn und Zweck des Art.  18  GG ist der präventive Verfassungsschutz.226 Art.  18  GG dient dazu, einen Verfassungsumsturz zu verhindern und wehrt hierzu gegenwärtige

Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 49. Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 53. 221 Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 39. 222 Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 296; BVerfGE 38, 23, 25. 223 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 54. 224 BVerfGE 38, 23, 25; Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 18 Rn. 23. 225 Siehe hierzu bereits Kapitel 2, C. 226 Lerche, in: FS Arndt, S. 199, 206; Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 9; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 46; Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 549; Isensee, in. FS Graßhof, S. 289, 292. 219 220

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Verfassungsstörungen ab, die so gravierend sind, dass sie die begründete Prognose zulassen, dass die FDGO in absehbarer Zukunft zerstört würde, wenn keine Gegenmaßnahmen gegen das Verhalten des Betroffenen ergriffen würden.227 Der Präventionscharakter der Regelung ist zu berücksichtigen, wenn die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, die in Art. 18 GG vorausgesetzt wird, bestimmt werden. Ähnlich wie bei Art. 17 EMRK ist es dem Staat einerseits nicht zuzumuten, abzuwarten, bis der Schaden eintritt. Verlangte man auch nur eine konkrete Gefahr in dem Sinne, dass bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von einem Schaden ausgegangen werden muss, würde Art. 18 GG als Instrument der „streitbaren Demokratie“ noch immer zu spät eingreifen. Der Forderung einer konkreten Gefahr für die Anwendung des Art. 18 GG steht dessen Präventionscharakter entgegen.228 Andererseits kann eine lediglich abstrakte Gefahr eine Freiheitsbeschränkung von der Intensität des Art. 18 GG nicht rechtfertigen. Die von Art. 18 GG verlangte Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts muss demnach höher als bei einer abstrakten Gefahr sein, sie muss aber nicht unbedingt dem entsprechen, was vorausgesetzt wird, um eine konkrete Gefahr zu begründen; bei einer konkreten Gefahr liegt die für Art. 18 GG geforderte Wahrscheinlichkeit jedenfalls vor, sie geht aber über das für die „Missbauchsklausel“ des Grundgesetzes notwendige Maß hinaus.229 Für Art. 18 GG muss es zumindest möglich erscheinen, dass ein Schaden eintritt. Bei Art. 18 GG muss es zu Art. 17 EMRK vergleichbar wahrscheinlich sein, dass ein Schaden eintritt. Die beiden Regelungen setzten ein vergleichbares Maß der Gefahrgeneigtheit voraus. Die für den Anwendungsbereich der „Missbrauchsklauseln“ verlangten „Tathandlungen“ sind weitgehend ähnlich. Dies korrespondiert mit ihrer vergleichbaren Teleologie, präventiv vor Schäden für fundamentale Elemente der demokratischen Ordnung zu schützen. Allerdings unterscheidet sich Art.  18  GG von den „Missbrauchsklauseln“ der europäischen Grundrechtskataloge in einem Aspekt deutlich. Anknüpfungspunkt für die „Tathandlung“ ist bei Art. 18 GG nicht das vergangene, konkret zur Prüfung Anlass gebende Verhalten des Betroffenen, sondern dessen prognostiziertes zukünftiges Verhalten. Dies korrespondiert mit der unterschiedlichen Rechtsfolge des Art.  18  GG. Die Anforderungen an die objektive Schadenswahrscheinlichkeit und die subjektive Einstellung des Täters sind bei allen „Missbrauchsklauseln“ ähnlich, der Anknüfpungspunkt im Sachverhalt für die Beurteilung dessen ist aber unterschiedlich. iii. Das „Schutzobjekt“ des Art. 18 GG Auch für Art. 18 GG ist die Frage nach dem Schutzobjekt, also jene nach den Äußerungsinhalten, die in den Anwendungsbereich der Bestimmung fallen, zu stellen.

Čopic, Grundgesetz und politisches Strafrecht, S. 121. Vgl. zum entsprechenden Problem bei Art. 21 II GG BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 605. 229 Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 18 Rn. 23; Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 549; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 54. 227 228

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 249

Das „Schutzgut“230 des Art. 18 GG ist die FDGO. Der Wortlaut spricht hier nicht von den Grundrechten des Grundrechtskatalogs des GG. Dies macht, anders als dies für die EMRK und die GRC der Fall ist, vor dem Hintergrund Sinn, dass es sich im Fall des Grundgesetzes nicht um einen reinen Grundrechtskatalog handelt, sondern um eine Verfassung, die zusätzlich zu ihrem Grundrechtskatalog umfassend staatsorganisationsrechtliche Vorschriften enthält. Die Wahl des Begriffs der FDGO deutet darauf hin, dass sowohl grundrechtliche als auch staatsorganisationsrechtliche Elemente Bestandteil ihres Inhalts sind.231 Insoweit entspricht der Wortlaut der Bestimmung der Natur des Regelungswerks, in dem sie sich findet. Dem Begriff der FDGO kommt an zahlreichen Stellen des Grundgesetzes Bedeutung zu;232 eine Legaldefinition des Begriffs enthält das Grundgesetz aber nicht; Bedeutung und Inhalt sind umstritten. Der folgende Abschnitt beschränkt sich auf die Darstellung der allgemein anerkannten Definition des Begriffs der FDGO, um den Inhalt des Schutzguts des Art. 18 GG im Vergleich zu jenem des Art. 17 EMRK und des Art. 54 GRC zu illustrieren.233 Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, der Regelungsgehalt des Begriffs der „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ könne nicht durch einen pauschalen Rückgriff auf Art. 79 III GG bestimmt werden, sondern richte sich auf die für den freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat schlechthin unverzichtbaren Grundsätze.234 Dieser Grundordnung liege nach der im Grundgesetz getroffenen verfassungspolitischen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, dass der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbstständigen Wert besitze und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit seien. Daher sei die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie sei das Gegenteil des totalen Staats, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehne.235 So lasse sich die FDGO als eine Ordnung bestimmen, „die unter Ausschluß jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit“236 darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung seien jedenfalls zu rechnen: „die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Vgl. zur Begriffsverwendung Schaefer, Grundlagen einer ordoliberalen Verfassungstheorie, S. 633, Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 87, S. 947. 231 Vgl. hierzu Pabel, ZaöRV 2003, 921, 929. 232 Vgl. Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 316; Schliesky, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 277 Rn. 19; Leibholz, DVBl. 1951, 554. 233 Da für die Zwecke der vorliegenden Arbeit ohnehin nur jene zentralen Inhalte relevant sind, über die Einigkeit besteht, kann eine Auseinandersetzung mit den strittigen Fragen zum Begriff der FDGO dahinstehen. 234 BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 529. 235 BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 530; vgl. hierzu Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Einl. Rn. 241. 236 BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 531. 230

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“237 In der freiheitlichen Demokratie sei die Würde des Menschen der oberste Wert. Sie sei unantastbar, vom Staate zu achten und zu schützen.238 Später erweiterte das Bundesverfassungsgericht den Katalog um die Vereinigungsfreiheit,239 den aus dem Mehrparteienprinzip fließenden Parlamentarismus, das Erfordernis freier Wahlen mit regelmäßiger Wiederholung in relativ kurzen Zeitabständen und die Anerkennung von Grundrechten.240 In der Folgerechtsprechung kamen das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, der freie und offene Prozess der Meinungs- und Willensbildung des Volkes, die Rundfunk-, Presse- und Informationsfreiheit, das Bekenntnis zu religiöser und weltanschaulicher Neutralität und die Religionsfreiheit hinzu.241 Nach Art. 18 GG verwirkt die Grundrechte, wer die in der Bestimmung genannten Grundrechte „zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung“ missbraucht. Die Rechtsfolge der Regelung,242 trifft also denjenigen, der sich mit seinen Handlungen kämpferisch gegen die FDGO wendet. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts wird die Rechtsfolge des Art.  18  GG erst dann ausgelöst, wenn Elemente der Ordnung in Frage gestellt und abgelehnt werden, die zur Gewährleistung eines freiheitlichen und demokratischen Zusammenlebens unverzichtbar und unstrittig sind.243 Das Gericht entwickelte davon ausgehend einen Katalog der wichtigsten materiellen und organisatorischen Kernelemente jeder freiheitlichen Demokratie, der im Wesentlichen Zustimmung in Literatur und Rechtsprechung findet.244 Der so definierte Begriff der FDGO bezeichnet die Elemente

BVerfGE 2, 1, 13; BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 531. BVerfGE 5, 85, 204. 239 BVerfGE 5, 85, 230, 236. 240 Vgl. hierzu BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 532 m. w. Nw. 241 Vgl. hierzu BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 532 m. w. Nw. 242 Siehe hierzu unten, Kapitel 4, A., I., 3., c). 243 BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 535. 244 Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340, 356; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD I, § 16, S. 572; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 44; kritisch insbesondere hinsichtlich der Begriffsinhalte, die das Bundesverfassungsgericht der FDGO zuschreibt Lameyer, Streitbare Demokratie, S.  37; kritisch auch Gusy, AöR 105 (1980), 279, 284; Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR II, §  27 Rn.  34. Umstritten ist hingegen beispielsweise, ob und inwieweit man die FDGO mit den Inhalten des Art. 79 III GG gleichsetzen kann. Teilweise wird angenommen, die FDGO stimme mit den Grundsätzen aus Art. 1 und 20 und damit Art. 79 III überein (Bulla, AöR 98 (1973), 340, 350; Ipsen, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 21 Rn. 161; Kunig, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, §  40 Rn.  56; Kunig, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art.  21 Rn.  81; Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, §  74 Rn.  8; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 706; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 87, S. 951; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 79 Rn. 85), sie erfasse somit etwa auch föderalistische Prinzipien (Volkmann, DÖV 1998, 613  ff.); ablehnend aber, insbesondere bezüglich Bundes- und Sozialstaatsprinzip (Heun, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 91 Rn. 9; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn.  45; Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340, 357; Streinz, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 21 II Rn. 224 ff.; Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 30; Dreier, in: Dreier 237 238

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 251

der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes, die den Grundcharakter und das Fundament der verfassungsmäßigen Ordnung bestimmen.245 Sie sind hier entscheidend, um das Schutzgut des Art. 18 GG zu bestimmen. Die konkreten Inhalte der FDGO können über Erfahrungen aus der Vergangenheit definiert werden.246 Die Äußerungsinhalte, die das Schutzgut betreffen, können identifiziert werden, indem eine Negativabgrenzung zur totalitären Ordnung vorgenommen wird.247 Teilweise wird dies als „Subtraktionsmethode“248 bezeichnet. Die Merkmale des Begriffs sind durch ihren Gegensatz zum totalitären Staat charakterisiert.249 In erster Linie ist die FDGO und das Bekenntnis zu ihr Gegenentwurf zu einer totalitären Diktatur bzw. zum Totalitarismus.250 Entscheidend ist dabei, dass der Totalitarismus als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt.251 Die Äußerung ist daran zu messen, ob sie diese Elemente negiert und damit totalitäre Inhalte transportiert. Das Schutzgut der FDGO ist dabei zunächst inhaltlich neutral und steht jeder ideologischen Richtung einer totalitären Staatsform entgegen. Das Bundesverfassungsgericht betont so auch stets, das GG habe sich gegen jede Art von totalitärer Ideologie von „links“ und „rechts“ wenden wollen.252 Dies bestätigt sich, wenn man in den Blick nimmt, dass die FDGO historisch weder ausschließlich „antifaschistisch“ noch ausschließlich „antikommunistisch“ konzipiert war.253 Die Abgeordneten des Parlamentarischen Rates beriefen sich stets auf eine Sicherung vor jeder Art

(Hrsg.), GG, Art. 79 III Rn. 60; Dreier, JZ 1994, 741, 749 ff.); vgl. hierzu BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 537 (Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, der Regelungsgehalt des Art. 79 III gehe über den für einen freiheitlichen demokratischen Verfassungsstaat unverzichtbaren Mindestgehalt hinaus. Zur FDGO zählten insbesondere das republikanische und das bundesstaatliche Prinzip nicht.). Da die Kontroverse hauptsächlich das Bundes- und das Sozialstaatsprinzip betrifft, um die es bei demokratiefeindlichen Äußerungen nicht geht, kann der Streit hier unberücksichtigt bleiben, weil er keine Auswirkungen auf die Beantwortung der gestellten Frage hat.). 245 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 711; Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340, 357. 246 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 60; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 21 ff.; Hartmann, AöR 95 (1970), 567, 568. 247 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 60. 248 Dürig, VVDStRL 20 (1963), 115; Gusy, AöR 105 (1980), 279, 283, 288. 249 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  18 Rn.  59; vgl. Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 4. 250 Vgl. dazu Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  18 Rn.  60  ff.; Hader, Extremistische Demonstrationen, S. 60. 251 Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Einl. Rn. 241; Birkenmaier, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Art. 18 Rn. 8; Sichert, DÖV 2001, 671, 677. 252 Vgl. etwa BVerfGE 13, 46, 50 f. 253 Vgl. Gusy, AöR 105 (1980), 279, 284, 287; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 87, S. 935.

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von Diktatur.254 Der Wortlaut der Bestimmungen des Grundgesetzes, die den Begriff der FDGO verwenden, enthält auch keinen Hinweis darauf, dass die Ordnung nur vor Angriffen, die von einem bestimmten Standpunkt ausgehen, geschützt sein soll. Die Bestimmungen, und so auch Art. 18 GG, schützen die freiheitliche Demokratie dagegen, durch irgendeine Art von Diktatur und/oder totalitärer Herrschaft ersetzt zu werden.255 Wenn eine Bestimmung wie Art. 18 GG die FDGO schützt, so sind damit nicht bestimmte Inhalte der Politik, sondern Struktur und Form des politischen Prozesses sowie Rechtsstaatlichkeit gemeint.256 Eine Theokratie wäre ebenso ausgeschlossen wie eine faschistische Diktatur.257 Die Ablehnung richtet sich dagegen, dass Absolutheitsansprüche bezüglich bestimmter Ziele im politischen und gesellschaftlichen Leben erhoben werden. Zu den fundamentalen Prinzipien, die Inhalt der FDGO sind, zählt jedenfalls der Pluralismus, ohne den regelmäßig ein autoritärer Staat vorliegen würde.258 Demokratie und Pluralismus sind ebenso zwingend miteinander verbunden wie Totalitarismus und Monismus.259 Folglich ist Pluralismus ein Charakteristikum der FDGO, die den Charakter des Grundgesetzes als Gegenentwurf zum Totalitarismus vermittelt. Pluralistische Demokratie ist vor allem durch einen offenen Meinungs- und Willensbildungsprozess charakterisiert, an dem jeder Einzelne teilnehmen kann.260 Die Voraussetzungen hierfür müssen garantiert werden, damit der Pluralismus und die demokratische Grundordnung gesichert werden. Insoweit ist das Schutzgut des Art. 18 GG identisch mit jenem des Art. 17 EMRK und jenem des Art. 54 GRC.261 Bei allen „Missbrauchsklauseln“ geht es um den Schutz der demokratischen Ordnung gegen totalitäre Strömungen. Art. 18 GG ist auf totalitäre Bestrebungen aus allen politischen Richtungen anwendbar. Die Regelung erfasst in diesem Sinne ebenso wie Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC rassistische, antisemitische, xenophobe und andere totalitäre Äußerungen.

254 Parlamentarischer Rat, Stenographische Berichte über die Plenarsitzungen, Bonn 1948/1949, S. 8 ff., 13 f., 27 ff., 46 ff., 47, 54 ff.; zu Art. 21 II GG Parlamentarischer Rat, Stenographisches Protokoll der 6. Sitzung des Organisationsausschusses des Parlamentarischen Rates, S. 23, zitiert nach Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, S. 43 f.; vgl. hierzu Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 24 f. 255 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn.  709  ff.; Sattler, Die rechtliche Bedeutung der Entscheidung für die streitbare Demokratie, S. 22, 42; a. A. Kutscha, Verfassung und „streitbare Demokratie“, S. 55 ff., 94 ff., 195 f., 310 f., 315 ff. (nur Abwehr faschistischer Bestrebungen). 256 Sichert, DÖV 2001, 671, 675. 257 Vgl. hierzu Bock, JZ 2012, 60, 65. 258 Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD I, S. 619 f.; Ruland, Der Begriff der Freiheitlichen Demokratischen Grundordnung im Grundgesetz, S. 126 f. 259 Loewenstein, Verfassungslehre (1969), S.  367; Häberle, in: Häberle (Hrsg.), Verfassung als öffentlicher Prozess, S. 121, 146. 260 Chang, Streitbare Demokratie, S. 52 f. 261 Vgl. Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 315.

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 253

Wichtig für den vorliegenden Zusammenhang der „Hassreden“ ist auch, dass die FDGO jedenfalls die Garantie der Würde des Menschen, wie sie in Art.  1 I GG gewährleistet wird, umfasst. Sie ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als der oberste Wert des Grundgesetzes anerkannt.262 Mit der Subjektqualität des Menschen ist ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch verbunden, der es verbietet, den Menschen zum „bloßen Objekt“ staatlichen Handelns zu degradieren. Dies sei – so das Bundesverfassungsgericht – insbesondere bei „jeder Vorstellung eines ursprünglichen und daher unbedingten Vorrangs eines Kollektivs gegenüber dem einzelnen Menschen der Fall“.263 Die Würde des Menschen bliebe nur unangetastet, wenn „der Einzelne als grundsätzlich frei, wenngleich stets sozialgebunden, und nicht umgekehrt als grundsätzlich unfrei und einer übergeordneten Instanz unterworfen behandelt“ werde. Die „unbedingte Unterordnung einer Person unter ein Kollektiv, eine Ideologie oder eine Religion“ stelle eine „Missachtung des Werts dar, der jedem Menschen um seiner selbst willen, kraft seines Personseins“ zukomme. Menschenwürde sei egalitär und gründe ausschließlich in „der Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung, unabhängig von Merkmalen wie Herkunft, Rasse, Lebensalter oder Geschlecht“.264 Mit der Menschenwürde seien ein rechtlich abgewerteter Status oder demütigende Ungleichbehandlungen nicht vereinbar.265 Dies gelte insbesondere, wenn solche Ungleichbehandlungen gegen die Diskriminierungsverbote des Art. 3 III GG verstießen, die sich jedenfalls als Konkretisierung der Menschenwürde darstellten.266 Antisemitische Äußerungen oder solche, die rassistische Diskriminierung beinhalten, betreffen – so das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich –267 die FDGO als Schutzgut des Art. 18 GG. Nationalsozialistische Äußerungen verstoßen meist gegen die Menschenwürde und betreffen damit das Schutzgut des Art. 18 GG, weil die zentralen Prinzipien des Nationalsozialismus (Führerprinzip, ethnischer Volksbegriff, Rassismus, Antisemitismus) gegen die Menschenwürde verstoßen. Zugleich verletzen sie die Grundsätze der Volkssouveränität und der gleichberechtigten Teilhabe aller Bürger am politischen Willensbildungsprozess.268 Neben der Menschenwürde ist das Demokratieprinzip nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts konstitutiver Bestandteil der FDGO. Das Grundgesetz gehe, so das Gericht, vom Eigenwert und der Würde des zur Freiheit befähigten Menschen aus und verbürge im Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die sie betreffende öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, zugleich den menschenrechtlichen Kern.269 Die Verächtlichmachung

BVerfG, 2 BvB 3/13, Z. 538. Hierzu und zum Folgenden BVerfG, 2 BvB 3/13, Z. 540. 264 BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 541. 265 BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 541. 266 BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 541. 267 BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 541. 268 BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 598. 269 BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 542. 262 263

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des Parlaments mit dem Ziel, ein Einparteiensystem zu etablieren, verstoße so zum Beispiel gegen die FDGO.270 Dauerhafte oder vorübergehende willkürliche Ausschlüsse Einzelner aus dem demokratischen Prozess seien ebenfalls nicht mit der FDGO vereinbar.271 Äußerungen, die solche Inhalte transportieren, betreffen das Schutzgut der FDGO. Außerdem ist das Gewaltmonopol des Staats als Bestandteil der FDGO anzusehen.272 Eine Äußerung, die dieses negiert, in dem sie zu Gewalt durch Private gegenüber Dritten aufstachelt oder hetzt, betrifft ebenfalls das Schutzgut der FDGO. Die Definition des Bundesverfassungsgerichts scheint außerdem alle – nicht nur die konkret genannten – grundrechtlichen Garantien in den Begriff der freiheitlichen demokratischen Ordnung einzuschließen. Die Freiheitlichkeit nimmt in der Definition des Bundesverfassungsgerichts eine zentrale Rolle ein. Teilweise bezeichnet das Gericht die Grundrechte als „eigentlichen Kern“ der FDGO.273 Fraglich ist aber – analog zu Art. 17 EMRK –, ob damit zum Beispiel auch eine Äußerung, die für die Abschaffung des Grundrechts aus Art. 6 GG plädierte, das Schutzgut des Art. 18 GG beträfe. Die Kommunikationsgrundrechte der Art. 5, 8 und 9 GG sind jedenfalls zwingender Bestandteil der FDGO.274 Sie werden in der Begriffsdefinition des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich genannt und sie sind Voraussetzung und Funktionsbedingung für eine freie und staatsfreie Meinungsbildung und sie eröffnen dem Bürger, insbesondere jenem, der in irgendeiner Weise zu einer Minderheit gehört,275 die Möglichkeit, an der öffentlichen Willensbildung mitzuwirken.276 Dies macht ihre Gewährleistung zu einer elementaren Bedingung der freiheitlichen Demokratie. Schutzgut des Art.  18  GG ist aber nicht die demokratische Ordnung, sondern der Wortlaut spricht von der FDGO. Darin liegt neben der demokratischen auch die grundrechtliche Freiheitsidee.277 Folglich ist nicht nur aus einer demokratischfunktionalen Perspektive zu beurteilen, welche Freiheiten Inhalt der FDGO sind.

BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 543. BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 544; siehe zur Diskussion um einen Anspruch auf demokratische Teilhabe aus Art.  1  GG Enders, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Komentar, Art.  1 Rn.  27  f.; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 1 Rn. 166; Isensee, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 87 Rn. 102. 272 BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 547. 273 BVerfGE 31, 58, 73. 274 Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 84; Bauer, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 9 Rn. 20; Kunig, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 8 Rn. 1; Schulze-Fielietz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 8 Rn. 16. 275 Schuppert, EuGRZ 1985, 525, 526; Zippelius, NJW 1998, 1528, 1529; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 80; vgl. kritisch hierzu Gärditz, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, § 4 Rn. 41 f. 276 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S. 323 f.; Müller, EuGRZ 1983, 337, 342; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 76; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 84; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 79 Rn. 135; Bryde, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 43. 277 Vgl. hierzu ausführlich Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR II, § 27 Rn. 33 ff. 270 271

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 255

Auch die originär freiheitliche Idee, die die Freiheit des Individuums nicht in ihrer Funktion für den demokratischen Prozess sieht, ist im Begriff der FDGO enthalten. Die grundrechtliche Freiheit kann auch unabhängig davon Schutzgut sein, ob sie demokratisch funktional eingesetzt wird.278 Zentrales Ziel des demokratischen Gemeinwesens im Sinne des Grundgesetzes ist die Selbstbestimmung des Menschen.279 Dies macht die Bestimmung des Art. 1 GG deutlich.280 Eine staatliche und gesellschaftliche Ordnung ist nur dann demokratisch, wenn jedem die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit in seiner Freiheitssphäre garantiert wird.281 In der Konsequenz bedeutet dies, dass ein Individuum den grundrechtlich gewährleisteten Freiraum genießt, wo immer es eine Angelegenheit allein entscheiden kann, ohne die Rechte anderer und die Interessen der Gesamtheit zu beeinträchtigen. Die Interessen anderer sind zu berücksichtigen, wenn sie von einer Angelegenheit betroffen sind. Die Freiheit des Einzelnen ist aber der Kern eines demokratischen Staatslebens.282 Die grundrechtliche Freiheit ist zwar eigenständiges Schutzgut mit der Folge, dass allein der Kampf gegen sie für Art. 18 GG relevant ist; der Kampf gegen einzelne Freiheiten ist damit aber nicht gemeint.283 Die sprachliche Einbettung der Freiheit in die Ordnung impliziert, dass es nicht genügt, einzelne Elemente abschaffen zu wollen. Vielmehr muss es dem Handelnden darum gehen, die Ordnung in ihrer Gesamtheit zu bekämpfen. Die FDGO ist erst dann gefährdet, wenn das Funktionieren der Ordnung als Gesamtheit in Rede steht.284 Die Grundrechte setzen sich insgesamt zu einer Freiheitssphäre zusammen und machen in ihrer Summe das Prinzip Freiheit aus.285 Nur ein Angriff auf dieses Prinzip löst eine Anwendung des Art. 18 GG aus. Art. 18 GG ist infolgedessen nur dann anwendbar, wenn die Freiheit des Einzelnen als Prinzip angegriffen wird. Die Äußerung muss, auch wenn der Aspekt der Freiheitlichkeit und nicht der der Demokratie betroffen ist, das „Ganze“ im Sinne der „ganzen Ordnung“, die grundrechtliche Freiheit als Prinzip, betreffen. Eine Äußerung, die inhaltlich die Zerstörung der Meinungsäußerungsfreiheit betrifft, könnte diese Voraussetzung erfüllen. Das Schutzgut der FDGO könnte betroffen sein, weil mit dem Plädoyer, die Meinungsäußerungsfreiheit abzuschaffen, der gesamte demokratische Willensbildungs- und Entscheidungsprozess negiert wird und die demokratische Ordnung in wesentlichen Teilen bzw. im Gesamten betroffen ist.

vgl. Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR II, § 27 Rn. 36. Hartmann, AöR 95 (1970), 567, 579. 280 Zuleeg, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 41, 46. 281 Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Einl. Rn. 241; Chang, Streitbare Demokratie, S. 39. 282 Von Münch/Mager, Staatsrecht II, Rn. 1; Dreier, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 20 Rn. 72. 283 Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR II, § 27 Rn. 37. 284 Morlok, NJW 2001, 2931, 2933; Klein, VVDStRL 37 (1979), 53, 60. 285 Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR II, § 27 Rn. 38. 278 279

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Grundrechte, die eine besondere Bedeutung für den demokratischen Prozess haben und Fundamente der Willensbildung und der demokratischen Auseinandersetzung sind, sind für die FDGO so tragend, dass es ausreicht, dass sie als einzelne Freiheit bekämpft werden. Eine andere Beurteilung gebietet sich bei Grundrechten, die die persönliche Freiheit des Individuums betreffen und nicht unmittelbar mit einer funktionierenden demokratischen Willensbildung im Zusammenhang stehen. Dies liegt nicht daran, dass man die demokratisch-funktionalen Grundrechte höher bewerten müsste als die übrigen Grundrechte. Dies würde nämlich zu einem Rangverhältnis zwischen den Grundrechten führen, das im Grundgesetz keine Stütze findet. Der Unterschied resultiert vielmehr daraus, dass die demokratische Ordnung als Ganzes betroffen sein muss, damit das Schutzgut der FDGO greift. Dies ist der Fall, wenn eine Person gegen Kommunikationsgrundrechte plädiert. Wenn sie hingegen die Gewährleistung des Rechts auf Eheschließung bekämpft, ist dies zumindest prima facie weniger folgenreich für die politische Willensbildung in der Bevölkerung, die in einer demokratischen Ordnung wesentlich ist. Die FDGO wäre im zweiten Fall zumindest nicht gleichermaßen offensichtlich betroffen. Allerdings ist eine pauschale Aussage darüber, dass eine Äußerung, die für die Abschaffung der Meinungsäußerungsfreiheit plädiert und die Voraussetzungen des Tatbestandsmerkmals „Kampf“ erfüllt, stets in den Anwendungsbereich des Art. 18 GG fällt, nicht möglich. Umgekehrt ist es ebenso denkbar, dass die Umstände einer konkreten Einzelfallsituation, in der ein anderes Grundrecht, das nicht gleichermaßen relevant für die demokratische Willensbildung ist, negiert wird, ergeben, dass die Ordnung als Ganze gefährdet wird. Dies könnte, analog zur EMRK, beispielsweise dann der Fall sein, wenn jemand eine strenge „Ein-Kind-Politik“ fordert (Art. 6 GG) oder für eine Regelung plädiert, jedes Kind sei drei Monate nach der Geburt von seinen Eltern zu trennen. Der Kontext der Äußerung, ihr konkreter Inhalt, die gebrauchten Mittel und alle anderen Bedingungen der individuellen Situation sind entscheidend. Nur anhand dieser Kriterien kann entschieden werden, ob die Ordnung im Gesamten von einer Äußerung betroffen ist und die FDGO als Schutzgut des Art. 18 GG infolgedessen berührt wird. d) Zwischenergebnis zum Anwendungsbereich der „Missbrauchsklauseln“ Der Anwendungsbereich des Art.  18  GG ist mit jenem des Art.  17 EMRK (und auch jenem des Art. 54 GRC) vergleichbar.286 Allerdings hat die Gegenüberstellung gezeigt, dass es einige Unterschiede gibt. Art. 18 GG enthält einen abschließenden Katalog an Grundrechten, deren Gebrauch in den Anwendungsbereich der Bestimmung fällt. Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC kennen einen solchen nicht. Im Ergebnis unterscheidet sich der Kreis der Grundrechtsgarantien, auf die die Bestimmungen anwendbar sind, aber nicht wesentlich, weil bei allen drei Regelungen nur sog. „Verhaltensgrundrechte“ in Betracht kommen. Art.  10 EMRK bzw. Art.  11  GRC

286

Vgl. hierzu Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 143.

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 257

und Art.  5 I 1  GG, die für demokratiefeindliche Äußerungen relevant werden, werden von den „Missbrauchsklauseln“ erfasst. Hier ergeben sich keine bedeutenden Unterschiede; die Rechtsprechungspraxis des EGMR zeigt zudem, dass Art. 17 EMRK praktisch nur bei einigen Grundrechtsgarantien eine Rolle spielt. Darunter befindet sich kein Grundrecht, auf das Art. 18 GG nicht auch anwendbar wäre.287 Die Tathandlungen erfassen ein vergleichbares Verhalten der Grundrechtsträger. Das „Schutzobjekt“ bzw. „Schutzgut“ mutet im Wortlaut anders an, ist im Ergebnis aber auch vergleichbar. Die Bestimmungen erfassen totalitäre Äußerungsinhalte. Dies entspricht ihrer vergleichbaren Teleologie, die darin liegt, das Wiederstarkens totalitärer Systeme und Staatsformen zu verhindern. Sowohl Art.  17 EMRK als auch Art.  18  GG sind unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs unter dem Eindruck totalitärer Diktaturen und deren Überwindung entstanden. Die Entstehungsgeschichte der Bestimmungen ist von dem Gedanken geprägt, Sicherungen zu entwickeln, die den Staat davor bewahren, mit dem Ziel bekämpft zu werden, ein totalitäres System zu errichten. Die inhaltliche Ausrichtung der „Missbrauchsklauseln“ in Grundgesetz und EMRK ist vergleichbar. Die Unterschiede im Wortlaut vermögen ein anderes Ergebnis nicht zu begründen. Dass es trotz der bestehenden Gemeinsamkeiten wesentliche Unterschiede zwischen Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC einerseits und Art. 18 GG andererseits gibt, deutet sich vor allem bei der Beurteilung des tatbestandsrelevanten Verhaltens an. Der Bezugspunkt, an dem angesetzt werden muss, um die Gefährlichkeit des Betroffenen für das Schutzgut zu beurteilen, ist ein anderer. Während Art. 17 EMRK das konkrete Verhalten in Gebrauch eines Grundrechts heranzieht, muss bei Art. 18 GG eine Zukunftsprognose angestellt werden und die Gefährlichkeit des Betroffenen in der Zukunft dargelegt werden. Damit deutet sich ein Unterschied an, der mit der jeweiligen Rechtsfolge der beiden „Missbrauchsklauseln“ korrespondiert, die im folgenden Abschnitt zu untersuchen ist. 3. Die Rechtsfolge der „Missbrauchsklauseln“ Nachdem die Anwendungsbereiche der „Missbrauchsklauseln“ ermittelt und verglichen wurden, ist prinzipiell dargelegt, welche Äußerungen unter welchen Bedingungen über die „Missbrauchsklauseln“ aus dem Schutzbereich der Garantien der Äußerungsfreiheit herausfielen, wenn die „Missbrauchsklauseln“ eine solche Rechtsfolge288 hätten. Wie die Rechtsfolgen der „Missbrauchsklauseln“ zu definieren sind und welche Unterschiede zwischen den Grundrechtsebenen (Art. 17 EMRK, Art. 54 GRC und Art. 18 GG) bestehen, soll der folgende Abschnitt zeigen. Entscheidend wird hierbei sein, ob, wie und für welches Verhalten des Betroffenen davon auszugehen ist, dass

Vgl. hierzu Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 318. Den Begriff der „Rechtsfolge“ verwendet in diesem Zusammenhang auch Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 7. 287

288

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

es vom Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie nicht umfasst wird, weil es von einer „Missbrauchsklausel“ erfasst wird. Hierzu bedarf es einer Auslegung der „Missbrauchsklauseln“ bezüglich ihrer Rechtsfolgen. Die unmittelbare Gegenüberstellung der Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC einerseits und des Art. 18 GG andererseits soll dazu beitragen, die spezifische Wirkung der einzelnen Regelungen präzise zu bestimmen. a) Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK in Fällen der Anwendung des Art. 17 EMRK Ein Verhalten, das in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK fällt und als Missbrauch zu definieren ist, könnte infolgedessen nicht vom Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art.  10 EMRK erfasst sein. Dies setzt voraus, dass die Rechtsfolge des Art. 17 EMRK darin liegt, auszuschließen, dass ein Verhalten im grundrechtlichen Schutzbereich liegt. Die relevante Wortfolge im Wortlaut des Art.  17 EMRK für diesen Zusammenhang, die es zu untersuchen gilt, lautet: „ne peut être interprété comme impliquant pour (…) un individu, un droit …“; „may be interpreted as implying for any (…) person any right …“. i. Vorbemerkung zur Untersuchung der Rechtsfolge des Art. 17 EMRK In Bezug auf die Anwendung des Art. 17 EMRK werden im Schrifttum zwei unterschiedliche Ansätze gewählt. Einerseits wird angenommen, in einem Fall, in dem Art. 17 EMRK angewendet wird, falle die Äußerung nicht in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK.289 Art. 17 EMRK ist nach dieser Ansicht eine dem Freiheitsrecht von vornherein innewohnende Grenze seines Schutzguts und keine nachträglich auferlegte Beschränkung.290 Andererseits wird Art. 17 EMRK im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung des Art. 10 II EMRK herangezogen und soll dazu dienen, die Feststellung zu bestärken, dass ein Eingriff in einem konkreten Fall in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Er ist damit Element bzw.

Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S.  96; Duarte-Herrera, juridikum 2015, 309, 315; Hochmann, Le négationnisme, S. 69; Gundel, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR VI/1, §  147 Rn.  69  ff.; Van Drooghenbroeck, in: Dumont u.  a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 147, 182, 192; Van Drooghenbroeck, RTDH 2001, 541, 565; Kirchner, Brazilian Journal of International Law 2015, 416, 421; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 185; Hochmann, Le négationnisme, S. 277, 280; Van Drooghenbroeck, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 176; Oetheimer, Cardozo Journal of International and Comparative Law 2009, 427, 430; De Gouttes, in : Mélanges Pettiti, S. 251, 259; Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, S. 312 f. 290 Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 317. 289

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 259

Kriterium, das bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs zu beachten ist.291 Teilweise wird im Schrifttum auch davon ausgegangen, Art. 17 EMRK habe bloße Hinweis- und Verstärkungsfunktion.292 Eine weitere Ansicht nimmt an, es handle sich bei Art.  17 EMRK um eine Interpretationsregel,293 in deren Licht die gesamte Konvention gelesen und ausgelegt werden müsse.294 Die letztgenannte Ansicht deklariert hingegen nicht, ob sie Art. 17 EMRK auf Ebene des Schutzbereichs oder im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung zur Auslegung der Grundrechtsbestimmung heranziehen würde.295 Interpretationsregel wäre Art.  17 EMRK in beiden Fällen. Die Auffassung, Art.  17 EMRK sei Interpretationsregel lässt sich mit beiden Ansätzen vereinbaren, da Interpretation einerseits des Art. 10 I EMRK, andererseits aber auch des Art. 10 II EMRK gemeint sein kann. Im ersten Fall wäre anzunehmen, Äußerungen, die die Voraussetzungen der „Missbrauchsklausel“ erfüllen, lägen außerhalb des Schutzbereichs. Im zweiten Fall wäre Art. 17 EMRK im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung zu berücksichtigen, was oben genannter Ansicht entspricht. Teilweise geht man in der Literatur davon aus, einer der beiden Ansätze sei grundsätzlich zutreffend und anzuwenden, teilweise wird aber auch vertreten, es sei situations- und sachverhaltsabhängig einer der beiden Ansätze zu wählen.296 Die Rechtsprechung ist ebenfalls uneinheitlich. Dies hat die Rechtsprechungsanalyse gezeigt.297 Aus rechtswissenschaftlicher Sicht kann dies jedoch nicht als geeignete Lösung gesehen werden. Die Rechtsfolge der „Missbrauchsklausel“ sollte nicht vom Einzelfall abhängig sein, denn dies widerspricht dem rechtsstaatlichen Erfordernis der Rechtssicherheit und ist, soweit möglich, durch eine rechtssicherere Lösung zu ersetzen.298 Aus rechtswissenschaftlicher Sicht ist es erstrebenswert, die Rechtsfolge des Art. 17 EMRK eindeutig zu bestimmen und eine generelle Aussage darüber treffen zu können, ob ein Verhalten, das die Tatbestandsvoraussetzungen

Wachsmann, RTDH 2001, 594; Wachsmann in: Flauss/Da Salvia (Hrsg,), La CEDH, S. 101, 107; Jaqué, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 169, 172 f.; Koch, DVBl. 2002, 1388, 1393; Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 9; Marauhn/Merhof, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 7 Rn. 20; Grabenwarter/Pabel, EMRK, §  23 Rn.  5; Grabenwarter, ECHR, Art.  10 Rn.  7; offen gelassen Peters/ Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 23; Klein, ZRP 2001, 397, 399; Pabel, ZaöRV 2003, 921, 936; Esser, in: Löwe/Rosenberg (Hrsg.), StPO, Art. 17 EMRK Rn. 4, 7. 292 Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, S. 276. 293 Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 4 Rn. 16; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rn. 24; Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 60 Rn. 51. 294 Vgl. etwa Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 83; Paeffgen, in: Wolter (Hrsg.), SK-StPO, Band X EMRK, Einleitung EMRK, Rn. 270. 295 Vgl. hierzu Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 207. 296 Vgl. hierzu das Sondervotum der Richter Foighel, Loizou u. Freeland zu EGMR (GK), 23. 9. 1998, Lehideux u. Isorni ./. Frankreich, Nr. 55/1997 u. 839/1045. 297 Siehe hierzu näher Kapitel 3, A. 298 Vgl. Oetheimer, L’harmonisation de la liberté d’expression en Europe, S. 125. 291

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

der „Missbrauchsklausel“ erfüllt, schon nicht im Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie liegt, in deren Regelungsbereich299 es fällt.300 Kritisch ist vor allem die Ansicht zu sehen, Art. 17 EMRK sei meist Auslegungsregel im Rahmen des Art. 10 II EMRK; wenn ein echter Fall von Missbrauch vorliege sei jedoch eine Anwendung der „Missbrauchsklausel“ als tatbestandliche lex specialis gegenüber Art.  10 II EMRK geboten.301 Hieran ist problematisch, dass diese Auffassung davon auszugehen scheint, Art.  17 EMRK sei außerhalb seines Anwendungsbereichs heranzuziehen. Eine Bestimmung kann aber nicht außerhalb ihres Anwendungsbereichs wirken. Auch die Annahme, nur bei extremen Fällen bewirke Art. 17 EMRK, dass Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs liegen,302 kann nicht geteilt werden. Für eine abgestufte Rechtsfolge je nach „Schwere“ des Missbrauchs lässt Art. 17 EMRK keinen Raum. Darüber hinaus ist es bereits als kritisch zu qualifizieren, dass Art.  17 EMRK, wenn eine Äußerung in seinen Anwendungsbereich fällt, eine bestimmte Rechtsfolge auslöst, und in allen anderen Fällen im Rahmen einer systematischen Auslegung des Art. 10 II EMRK herangezogen wird und auf diese Weise die Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in die Meinungsäußerungsfreiheit beeinflusst. Streng genommen hat sich die EMRK in Art.  17 EMRK entschieden, in den im Anwendungsbereich der Bestimmung liegenden Fällen demokratiefeindliche Handlungen in einer bestimmten Art und Weise zu sanktionieren. Wenn kein solcher Fall vorliegt, in dem der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK betroffen ist, ist es zumindest nicht unproblematisch die Bestimmung dennoch im Rahmen einer systematischen Auslegung zu Lasten des Grundrechtsträgers heranzuziehen. Man könnte davon ausgehen, die Konvention wolle nur gerade in den Fällen, die in den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK fallen, die demokratiefeindliche Tendenz einer Handlung bzw. Äußerung negativ auf den Grundrechtsschutz des Einzelnen wirken lassen. Wenn die Bestimmung dann außerhalb ihres Anwendungsbereichs als Auslegungsargument herangezogen wird, würde dies der vorgenannten Intention widersprechen. Selbst wenn man der genannten Auffassung folgt, bedeutet dies aber nicht, dass die Rechtsfolge je nach Sachverhalt und Einzelfallumständen variiert. Eine Rechtsfolge des Art. 17 EMRK, die immer dann eintritt, wenn der Anwendungsbereich der Regelung betroffen ist, kann durch Auslegung eindeutig ermittelt werden.303 Sie ist nicht abgestuft bzw. variiert je nach Sachverhaltskonstellation. Dafür lässt Art. 17 EMRK keinen Raum.

„Regelungsbereich“: Bereich, in dem das Grundrecht zwar thematisch einschlägig ist, aber kein tatsächlicher Schutz gewährt wird (Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121 Rn. 14; Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 200 Rn. 16); siehe hierzu ausführlich unten Kapitel 4., A., II., 3., b). 300 Davon geht auch Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 185 aus. 301 Klamt, Streitbare Demokratie, S. 263; Frenz, Hb EuR IV, Kapitel 8 § 2 Rn. 1789; vgl. hierzu Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 113. 302 Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 148; Frenz, Hb EuR IV, Kapitel 8 § 2 Rn. 1789. 303 Vgl. hierzu Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 7. 299

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 261

Die hier vertretene These lautet, dass es nicht um zwei Ansätze geht, wie Art. 17 EMRK im Einzelfall angewendet werden kann. Eine Bestimmung, die wie Art. 17 EMRK keine Abstufungen erkennen lässt, wirkt nicht je nach Sachverhaltskonstellation unterschiedlich. Sie hat eine bestimmte Rechtsfolge, wenn ihr Anwendungsbereich betroffen ist. In dieser Untersuchung wird davon ausgegangen, dass eine präzise Bestimmung der Rechtsfolge des Art. 17 EMRK möglich und notwendig ist.304 Die Frage, die hier nun gestellt werden muss, ist jene danach, ob eine Anwendung des Art. 17 EMRK dazu führt, dass die betroffenen Äußerungen nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK liegen. Das würde bedeuten, dass jedes Verhalten, das in den „negativen Schutzbereich“305 des Art. 17 EMRK fällt, außerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK liegt. ii. Die Rechtsfolge des Art. 17 EMRK (1) Wortlautauslegung Eine Auslegung der Bestimmung muss bei der für die Rechtsfolge relevanten Wortfolge des Wortlauts in einem objektiven Sinn ansetzen.306 Der Konventionstext ist gemäß Art. 31 I WVK am Maßstab seiner gewöhnlichen Bedeutung zu interpretieren.307 Für den Wortlaut der EMRK muss dies dahingehend präzisiert werden, dass seine Terminologie um der einheitlichen Geltung der Konventionsbestimmungen willen für alle Mitgliedstaaten autonom auszulegen ist. Ein Begriff ist nicht schlicht aus einer nationalen Rechtsordnung zu importieren.308 Die relevante Wortfolge in den authentischen und gemäß Art. 33 WVK für die Auslegung allein relevanten Sprachfassungen lautet „may be interpreted as implying … any right to engage in …“ bzw. „ne peut être interprétée comme impliquant … un droit quelconque de se livrer à …“. Dieser Wortlaut basiert auf Art. 30 AEMR und ähnlichen Klauseln in zahlreichen anderen universellen und regionalen Menschenrechtsverträgen (vgl. insbesondere Art. 5 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Recht).309 Man könnte nun annehmen, der Wortlaut deute darauf hin, Art. 17 EMRK sei als Regel für die Auslegung der Bestimmungen der Konvention zu deuten („may be interpreted“ bzw. „ne peut être interprétée“).310 Dies ist zwar zutreffend, damit wird für die

Vgl. wie hier Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 185. Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 185, 208. 306 Villiger, in: FS Ress, S. 317, 324, 327. 307 Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 4 Rn. 19. 308 Bernhardt, in: Matscher (Hrsg.), Protecting Human Rights, S. 56, 66 f., 71. 309 Partsch, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg.), Bd. 1, 1. Halbband, Die Grundrechte in der Welt, S. 243, 314. 310 Partsch, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg.), Bd.  1, 1. Halbband, Die Grundrechte in der Welt, S. 243, 314; vgl. für den gleichlautenden Wortlaut des Art. 5 IPBPR Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 125. 304 305

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Frage nach der Auswirkung der „Missbrauchsklausel“ auf den Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie aber nichts gewonnen. Sowohl die Bestimmung des Schutzbereichs als auch die Anwendung des Art. 17 EMRK als Kriterium der Verhältnismäßigkeitsprüfung geschieht im Rahmen der Auslegung der Konvention.311 Der Wortlaut ist insoweit indifferent. Allerdings ist der Begriff „interpreted“ für die Beurteilung der Rechtsfolge der Bestimmung auch weniger entscheidend als die Wortfolge „as implying (…) any right“ bzw. „impliquant (…) un droit (…)“. Diese Wortfolge, die in der deutschen Übersetzung „das Recht begründet“ lautet, ist im Folgenden genauer zu untersuchen: Nach dem Wortlaut wird das Recht im Fall der Anwendung des Art. 17 EMRK gar nicht erst zuerkannt. Entscheidend für die Beantwortung der Frage nach der dogmatisch korrekten Rechtsfolge ist damit, was es bedeutet, dass ein Recht nicht zuerkannt wird. Fraglich ist, ob das „Recht“ erst dann als „zuerkannt“ angesehen werden kann, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich einer Grundrechtsgarantie nicht gerechtfertigt ist oder ob das „Recht“ schon dann „zuerkannt“ wird, wenn der Schutzbereich betroffen ist. Eventuell ist schon dann vom „Recht“ eines Individuums im Sinne der EMRK zu sprechen, wenn der Schutzbereich betroffen ist. Im Umkehrschluss würde die Ablehnung der Zuerkennung des Rechts, wie es der Wortlaut beschreibt, bedeuten, dass die Äußerung, auf die Art. 17 EMRK angewendet wird, nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK liegt. Teilweise wird – allerdings für Grundrechte im Allgemeinen ohne konkreten Bezug zu den Bestimmungen der EMRK – angenommen, der Begriff des „Rechts“ meine den grundrechtlichen Abwehranspruch, und die Frage, ob ein solcher bestehe, lasse sich erst beantworten, wenn die beeinträchtigende staatliche Maßnahme nicht gerechtfertigt werden könne.312 Ein Eingriff in das Grund „recht“ sei genau genommen erst ex post beurteilbar, während die Einwirkung auf die Schutzgüter vorausgegangen sein muss.313 Setzt man diese Annahme streng fort, so müsste man sagen, dass nicht in Grundrechte als Rechte, sondern in grundrechtliche Schutzgüter eingegriffen wird.314 Dies bedeutete also, dass der Verlust des „Rechts“ den Verlust des grundrechtlichen Abwehranspruchs meint. Da dieser dann nicht besteht, wenn das Grundrecht dem staatlichen Handeln nicht entgegengesetzt werden kann, weil die Beeinträchtigung der Schutzgüter gerechtfertigt ist, wäre es widerlegt, dass der Wortlaut des Art. 17 EMRK („kein Recht“) darauf hindeutet, dass ein Verhalten infolge der Anwendung der „Missbrauchsklausel“ nicht im Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie liegt. Allerdings ist diese Auffassung umstritten und der Begriff des „Rechts“ in Bezug auf grundrechtliche Rechtspositionen wird teilweise anders interpretiert.315

Mensching, Hassrede im Internet, S. 74. Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 71, 139, 141; vgl. hierzu Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 145. 313 Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 141; Ipsen, JZ 1997, 473, 476; vgl. auch Ipsen, Der Staat 52 (2013), 266, 273. 314 Alexy, Der Staat 52 (2013), 87, 90. 315 A. A. Alexy, Der Staat 52 (2013), 87, 90, der davon ausgeht, dass es neben definitiven Rechtspositionen auch prima facie-Rechtspositionen gibt, die aus dem nicht eingeschränkten Recht, also dem Schutzgut, bestehen. Der Begriff des „Rechts“ werde dabei für beide Varianten genutzt, es sei nur ein anders qualifiziertes Recht gemeint. Siehe hierzu auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff., 250 ff., 297 f. 311 312

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 263

In der EMRK bezeichnen die Art. 9 II EMRK und Art. 10 II EMRK die „Freiheit“ als Gegenstand von Einschränkungen, Art.  11 II 1 EMRK spricht von der Beschränkung der Ausübung von Rechten und Art. 8 II EMRK bezieht den Eingriff auf „die Ausübung dieses Rechts“, das als „Recht auf Achtung“ in Art. 8 I EMRK verbürgt ist. Der Begriff des Rechts wird so auch in der EMRK nicht einheitlich für das Schutzgut oder aber für den definitiven Abwehranspruch, der nur bei einem nicht gerechtfertigten Eingriff in das Schutzgut besteht, gebraucht. Der Begriff des „Rechts“ erlaubt keine eindeutige Schlussfolgerung. Überdies ist es zutreffend, dass selbst dann, wenn man davon ausginge, der Begriff „right“ bezeichne nur den definitiven Abwehranspruch, kein eindeutiges Ergebnis erlangt werden kann. Art. 17 EMRK würde dann im Wortlaut sagen, dass der grundrechtliche Abwehranspruch für denjenigen nicht besteht, der das Grundrecht missbraucht. Dieser Abwehranspruch besteht aber sowohl dann nicht, wenn der Schutzbereich nicht eröffnet ist, als auch dann nicht, wenn ein Eingriff wegen Art. 17 EMRK gerechtfertigt ist. Der Wortlaut bliebe auch bei dieser Annahme für beide Lösungen offen und gibt keine hinreichenden Anhaltspunkte, anhand derer die Rechtsfolge des Art. 17 EMRK eindeutig bestimmt werden könnte.316 Ein anderes Argument für die Annahme, ein Verhalten, das die Voraussetzungen des Art.  17 EMRK erfüllt, falle aus dem Schutzbereich der Grundrechtsgarantie heraus, wird auf die Überschrift der Bestimmung („Interdiction de l’abus de droit“ bzw. „Prohibition of abuse of rights“) gestützt. Vertreter dieser Position gehen davon aus, die Überschrift spreche für ein kategorisches Verständnis der Bestimmung, weil entweder ein Missbrauch vorliege und dem Beschwerdeführer die Berufung auf die Konventionsrechte im genannten Umfang zu versagen sei oder kein Fall des Missbrauchs gegeben sei, sodass eine Anwendung von Art. 17 EMRK auch im Rahmen der Abwägung nicht zulässig wäre.317 Das Argument ist insoweit zutreffend, als angenommen wird, eine Anwendung von Art. 17 EMRK im Rahmen der Abwägung sei nicht zulässig, wenn kein Missbrauch vorliege. Allerdings wäre es in einem solchen Fall auch nicht zulässig, Art. 17 EMRK auf Ebene des Schutzbereichs anzuwenden. Wenn ein Missbrauch vorliegt, ist Art. 17 EMRK anwendbar. Wenn ein solcher nicht gegeben ist, kann die „Missbrauchsklausel“ nicht angewendet werden, sie kann dann weder auf Ebene der Rechtfertigung noch auf jener des Schutzbereichs wirken. Das Argument vermischt Anwendungsbereich und Rechtsfolge. Die Überschrift betrifft nicht die Rechtsfolge, sondern den Anwendungsbereich der Bestimmung. Für die Beantwortung der Frage nach der Rechtsfolge des Art. 17 EMRK ist sie nicht hilfreich. Sofern sich Ansichten im Schrifttum auf den Begriff des „Verbots“ in der Überschrift stützen, um zu begründen, warum Art. 17 EMRK auf Ebene des grundrechtlichen Schutzbereichs wirken soll, liegt dies nicht gleichermaßen fern. Teilweise

Ebenso Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art.  17 Rn.  57, 59; Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 4; anders: Tretter, in: FS Berka, S. 237, 255, der den Wortlaut als „klar“ bezeichnet. 317 Mensching, Hassrede im Internet, S. 74. 316

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

wird davon ausgegangen, der Ausdruck „prohibition“ bzw. „interdiction“ spreche deutlich dafür, dass Verhaltensweisen, die die Voraussetzungen der Bestimmung erfüllen, nicht im Schutzbereich des Grundrechts liegen, weil mit dem Begriff des „Verbots“ ein kategorisches Verständnis transportiert werde, dem es entspreche, den Schutzbereich zu verneinen.318 Die ausdrückliche Verbotsterminologie in der Überschrift lasse keinen Raum für eine Abwägung widerstreitender Interessen.319 Diese sei durch die Staaten bereits vorgenommen worden. Diese hätten sich für einen absoluten Schutz vor Angriffen auf die Rechte der Konvention insoweit entschieden, als Art. 17 EMRK anwendbar sei. Diese Regelungstechnik finde sich ebenfalls bei abwägungsfesten Rechten wie dem Folterverbot. Auch wenn sich vermeintlich gute Gründe für eine Abwägung im Einzelfall finden ließen, so könnten diese den Willen der Vertragsparteien nicht überwinden. Der Terminus „Verbot“ deutet zwar wegen seines allgemeinen Sprachgebrauchs auf ein kategorisches Verständnis hin, allerdings ist ein Verhalten auch dann verboten, und dies möglicherweise auch unter allen Umständen, wenn es sich um einen gerechtfertigten Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit handelt und Art.  17 EMRK dazu führt, dass ein endgültiger Abwehranspruch in keinem Fall besteht. Zutreffend ist, dass das Verbot deutlicher verwirklicht wäre, ginge man davon aus, dass Äußerungen in diesen Fällen gar keinen Schutz in dem Sinne genössen, als der Schutzbereich für sie gar nicht eröffnet wäre. Das Argument aus der Überschrift lässt sich insoweit nicht vollständig entkräften. Selbst wenn man aber annimmt, dass in der Überschrift insoweit ein Hinweis darauf liegt, dass Art. 17 EMRK dazu führt, dass der „Missbrauch“ außerhalb des grundrechtlichen Schutzbereichs liegt, so kann dieser Hinweis allein die Rechtsfolge des Art. 17 EMRK nicht begründen. In der älteren Literatur wird vertreten, der Wortlaut des Art.  17 EMRK weise einen inneren Widerspruch auf, der nur dadurch aufgelöst werden könnte, dass man Art. 17 EMRK als einfache Auslegungsregel begreife, die die Auslegung der Schrankenklauseln der Konvention leite.320 Einerseits ermögliche er den Staaten eine Einschränkung der Grundrechte über das hinaus, was in den Schrankenregelungen der anderen Bestimmungen der Konvention bereits zulässig sei. Andererseits verbiete er aber den Staaten, über die in den Bestimmungen der Konvention vorgesehenen Beschränkungen hinaus in Grundrechte einzugreifen. Art. 17 EMRK könne nur zur Verstärkung der Argumentation innerhalb der Schrankenklauseln taugen. Diese These wurde in der jüngeren Literatur aufgegeben. Der innere Widerspruch scheine bloß als solcher und werde durch eine unglückliche Formulierung suggeriert.321 Die juristische Natur des Art. 17 EMRK lasse es nicht zu, dass beide Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 10, der vertritt, das kategorische Verständnis finde in der Überschrift des Art. 17 EMRK eine „gewisse Stütze“; Steiger, in: Pabel/ Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 55; Mensching, Hassrede im Internet, S. 74, der das Argument möglicherweise auch hier in dieser Weise zu gebrauchen versucht. 319 Hierzu und zum Folgenden Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 58. 320 Hierzu und zum Folgenden Velu/Ergec, Convention européenne des droits de l’homme, Rn. 176; so auch Flauss, RUDH 1992, 464. 321 Hierzu und zum Folgenden Van Drooghenbroeck, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 177 f. 318

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 265

Regeln zugleich Anwendung finden. Eine gegenseitige Neutralisierung sei gar nicht möglich, die Anwendung der ersten Regel schließe die Anwendung der zweiten Regel aus. In der Konsequenz sei anzunehmen, dass Art.  17 EMRK nicht bloße Auslegungsregel sei, sondern Beschränkungen zulasse, die über die Schrankenklauseln der anderen Konventionsbestimmungen hinausgehen.322 Dem ist zuzustimmen, weil die staatengerichtete Stoßrichtung und die individualgerichtete Variante des Art. 17 EMRK nie gleichzeitig Anwendung finden können und ohnehin praktisch in wesentlich anderen Fallkonstellationen relevant werden. Eine Sachverhaltskonstellation, in der es um einen Missbrauch durch ein Individuum geht, ist selten gleichzeitig eine solche, die die staatengerichtete Variante betrifft. Der Wortlaut des Art. 17 EMRK lässt die Frage nach der Rechtsfolge der Bestimmung im Ergebnis offen. Sowohl die Annahme, Art. 17 EMRK führe dazu, dass ein Verhalten, auf das die Bestimmung angewendet wird, außerhalb des Schutzbereichs der grundrechtlichen Garantie liege, als auch jene, die davon ausgeht, die „Missbrauchsklausel“ sei Abwägungstopos im Rahmen der Auslegung und Anwendung der Schrankenklauseln kann mit dem Wortlaut des Art. 17 EMRK vereinbart werden. (2) Systematische Auslegung Die systematische Stellung des Art. 17 EMRK könnte Aussagekraft für die Rechtsfolge der Bestimmung haben.323 Art. 17 EMRK könnte durch seine Position zwischen Art. 16 EMRK, der die Beschränkung der politischen Tätigkeit ausländischer Personen regelt, und Art. 18 EMRK, der die Begrenzung der Rechtseinschränkungen durch Staaten betrifft, mit diesen verbunden sein.324 Da diese beiden Bestimmungen als solche angesehen werden, die auf Ebene der Verhältnismäßigkeit wirken und die Notwendigkeitsprüfung beeinflussen,325 könnte dies für Art. 17 EMRK auch anzunehmen sein. Dadurch wäre eine einheitliche Anwendung der Regelungen gewährleistet.326

322 Van Drooghenbroeck, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 178. 323 Zur Notwendigkeit der systematischen Auslegung der EMRK vgl. zuletzt EGMR, 8. 11. 2016, Magyar Helsinki Bizottság ./. Ungarn, Nr. 18030/11, Z. 120 („that the Convention must also be read as a whole, and interpreted in such a way as to promote internal consistency and harmony between its various provisions“). 324 Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, S. 271. 325 Vašek, in: Korinek/Holoubek u.  a. (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art.  16 EMRK Rn.  11; Karpenstein/Johann, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art.  18 Rn.  2; Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 16 Rn. 6, der diesbezüglich ausdrücklich einen Unterschied zu Art. 17 EMRK sieht. 326 Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 74; Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 16 Rn. 6; Pabel, ZaöRV 2003, 921, 936; Marauhn/Merhof, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 7 Rn. 8.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Allerdings führt der Vergleich des Art. 17 EMRK mit jenem von Art. 18 EMRK327 zu einem gegenteiligen Argument. Art. 17 EMRK nutzt gerade nicht den Wortlaut des Art. 18 EMRK („applied“ bzw. „appliqué“). Der Wortlaut der „Missbrauchsklausel“ enthält die Formulierung „application des restrictions“ nicht, sondern er gebraucht jene der „Zuerkennung von Rechten“. Dieser Unterschied muss jedenfalls dazu führen, dass das systematische Argument der gemeinsamen Gruppierung der Bestimmungen relativiert wird. Dem Umstand, dass in den authentischen Sprachfassungen eine andere Formulierung als in Art. 18 EMRK und Art. 16 EMRK gewählt wurde, muss Bedeutung zukommen. Gerade die gemeinsame Gruppierung hätte, wenn man eine einheitliche Wirkung hätte erreichen wollen, zu einer gleichen Formulierung führen müssen. Dies ist hier aber nicht der Fall. Vielmehr könnte man im Gegenteil annehmen, dass die abweichende Formulierung bei gemeinsamer Stellung im Vertrag nicht nur dagegen spricht, dass mit der systematischen Stellung für den Charakter als Abwägungskriterium argumentiert wird, sondern dass damit gerade begründet werden kann, dass Art. 17 EMRK nicht wie Art. 18 EMRK und Art. 16 EMRK auf Ebene der Verhältnismäßigkeit, sondern auf jener des Schutzbereichs wirkt. Wenn Bestimmungen im Zusammenhang geregelt werden und die Formulierung variiert, dann deutet dies eher auf einen gewollten Unterschied hin. Der Unterschied zwischen den Bestimmungen im Wortlaut könnte auf diese Weise zum Argument für eine Wirkung des Art. 17 EMRK auf Ebene des Schutzbereichs werden. Dies ist deshalb anzunehmen, weil der Wortlaut gerade von jenem abweicht, der in Bestimmungen, die auf Verhältnismäßigkeitsebene wirken, zu finden ist. Anders formuliert erwächst aus dem systematischen Zusammenhang mit Art. 16 EMRK und Art. 18 EMRK e contrario eine Begründung, dass Art. 17 EMRK gerade nicht auf Ebene der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs, bei Auslegung und Anwendung des Art. 10 II EMRK, heranzuziehen ist. (3) Auslegung im Sinne des übrigen Völkerrechts Im Zusammenhang mit der systematischen Auslegung steht die Auslegung der Bestimmungen der EMRK im Lichte des übrigen Völkerrechts gemäß Art.  31 UAbs. 3 lit. c WVK.328 Wie Art. 17 EMRK in einem System zu den übrigen Regelungen innerhalb der EMRK steht, ist er als Bestandteil der EMRK als völkerrechtlichem Vertrag auch Teil im System des gesamten Völkerrechts. Gemäß Art.  31 UAbs. 3 lit. c WVK ist für die Auslegung eines völkerrechtlichen Vertrags – so auch der EMRK – jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz heranzuziehen.329 Aus diesem Grund ist zu fragen, ob

327 Gleiches gilt für Art. 16 EMRK, dessen Wortlaut in Bezug auf die Rechtsfolge ein anderer ist als der des Art. 17 EMRK und nicht von der Zuerkennung von Rechten spricht. 328 Vgl. ebenso Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S.  16  f.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, §  5 Rn. 8; Grabenwarter, in: Grafl/Klob/Reindl-Krauskopf (Hrsg.), 6. ALES-Tagung, S. 67, 78. 329 Vgl. EGMR (GK), 8. 11. 2016, Magyar Helsinki Bizottság ./. Ungarn, Nr. 18020/11, Z. 123; Tzevelekos, Michigan Journal of International Law 2010, 621.

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 267

für die Rechtsfolge des Art. 17 EMRK etwas aus dem übrigen Völkerrecht, das die Mitgliedstaaten der EMRK bindet, zu gewinnen ist. Insbesondere sind die der Regelung des Art. 17 EMRK entsprechenden Bestimmungen des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte zu berücksichtigen.330 Im IPBPR331 findet sich die entsprechende Bestimmung zu Art. 17 EMRK streng genommen in Art. 5 IPBPR332; diese Regelung beinhaltet die „Missbrauchsklausel“ des Pakts und erfüllt eine mit Art. 17 EMRK vergleichbare Funktion. Art. 20 II IPBPR333 regelt jedoch den spezifischen Fall der „Hassreden“. Für den vorliegend relevanten Zusammenhang stellt sie den Vergleichsmaßstab dar. Ihre Rechtsfolge könnte Aufschluss über jene des Art. 17 EMRK in Bezug auf den grundrechtlichen Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit in diesen Fällen geben. Das Verhältnis zwischen Art.  10 EMRK und Art.  17 EMRK gleicht jenem zwischen Art. 19 II IPBPR334 und Art. 20 II IPBPR. Wenn Art. 20 II IPBPR eine Pflicht der Staaten begründen würde, den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit um Äußerungen, die in den Anwendungsbereich der Bestimmung fallen, reduziert zu interpretieren, könnte hieraus zumindest ein Argument für die Rechtsfolge des Art.  17 EMRK gewonnen werden. Der Menschenrechtsausschuss zog Art.  20 II IPBPR im Zusammenhang mit „Hassreden“ zum ersten Mal in der Entscheidung J. R. T. and the W. G. Party v. Canada heran.335 Der Fall betraf die Unterbrechung des Telefondiensts zu einer rechtsextremen politischen Partei in Kanada, die über Telefonnachrichten antisemitische Propaganda verbreitet hatte. Die Äußerungen seien eindeutig als Eintreten für rassistischen und religiösen Hass zu qualifizieren und Kanada habe nach Art. 20 II IPBPR eine Verpflichtung, dies zu verbieten. Die Beschwerde sei deshalb im Sinne des Art. 3 des Fakultativprotokolls zum IPBPR unvereinbar mit den Bestimmungen des Paktes.336 Die Heranziehung des IPBPR zur Auslegung der EMRK begegnet keinen Bedenken, weil alle Mitgliedstaaten der EMRK den IPBPR unterzeichnet und ratifiziert haben (vgl. http://indicators.ohchr.org/); siehe hierzu Grabenwarter/Pabel, EMRK, §  5 Rn.  13; EGMR, 7. 1. 2010, Rantsev ./. Zypern u. Russland, Nr. 25965/04, Z. 282. 331 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966, 999 UNTS 171. 332 Art. 5 I IPBPR lautet: „Keine Bestimmung dieses Paktes darf dahin ausgelegt werden, daß sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die auf die Abschaffung der in diesem Pakt anerkannten Rechte und Freiheiten oder auf weitergehende Beschränkungen dieser Rechte und Freiheiten, als in dem Pakt vorgesehen, hinzielt.“ 333 Art.  20 II IPBPR lautet: „Jedes Eintreten für nationalen, rassischen oder religiösen Haß, durch das zu Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, wird durch Gesetz verboten.“. 334 Art. 19 II IPBPR lautet: „Jedermann hat das Recht auf freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen Informationen und Gedankengut jeder Art in Wort, Schrift oder Druck, durch Kunstwerke oder andere Mittel eigener Wahl sich zu beschaffen, zu empfangen und weiterzugeben.“. 335 Human Rights Committee, J. R. T. and the W. G. Party v. Canada, Communication 104/1981, U. N. Doc. CCPR/C/OP/2, 25 (1984). 336 Human Rights Committee, J. R. T. and the W. G. Party v. Canada, Communication 104/1981, U. N. Doc. CCPR/C/OP/2, 25 (1984), § 8 (b). 330

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Nach Art. 3 des Fakultativprotokolls zum IPBPR erklärt der Ausschuss jede nach diesem Protokoll eingereichte Mitteilung für unzulässig, die anonym ist oder die er für einen Missbrauch des Rechts auf Einreichung solcher Mitteilungen oder für unvereinbar mit den Bestimmungen des Pakts hält. Die Vorschrift des Art. 3 Fakultativprotokoll ist insofern mit Art.  35 III lit. a) Alt.  1 EMRK vergleichbar. Den letztgenannten Fall, nämlich die Unvereinbarkeit mit den Bestimmungen des Pakts hielt der Menschenrechtsausschuss im Fall J. R. T. and the W. G. Party v. Canada, für einschlägig. Analog zur Rechtsprechung des EGMR kam der Menschenrechtsausschuss mit der Begründung des Art. 20 II IPBPR zu dem Ergebnis einer Unvereinbarkeit der Beschwerde mit dem Pakt ratione materiae und erklärte sie für unzulässig. Daraus wurde geschlossen, der Ausschuss sei davon ausgegangen, eine Äußerung, die in den Anwendungsbereich des Art. 20 II IPBPR falle, nehme schon per se nicht am Schutz der Meinungsfreiheit nach Art.  19 IPBPR teil; Art.  20 II IPBPR begrenze den Schutzbereich.337 Vor dem Hintergrund der Vergleichbarkeit der Unzulässigkeitsgründe und der Annahme einer Unvereinbarkeit ratione materiae – auf die der EGMR in Fällen, in denen der Schutzbereich eines Grundrechts nicht betroffen ist, auch rekurriert – spricht einiges dafür, dass der Ausschuss davon ausging, der Schutzbereich des Art. 19 IPBPR sei hier nicht eröffnet. Mit Sicherheit kann dies aus den Erwägungen des Ausschusses aber nicht geschlossen werden.338 Erkennbar ist lediglich, dass Art.  20 II IPBPR in den Fällen, in denen er angewendet wird, dazu führt, dass die Beschwerde als unvereinbar mit dem Pakt ratione materiae erklärt wird. Dies könnte aber auch angenommen worden sein, weil davon ausgegangen wurde, Art. 20 II IPBPR begründe eine unzweifelhafte Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs in die Meinungsfreiheit. In der Literatur wird Art.  20 II IPBPR gerade in dieser letztgenannten Weise gedeutet.339 Eine andere Auslegung beruhe auf einem falschen Verständnis der Beziehung zwischen Art. 19 IPBPR und Art. 20 IPBPR.340 Obwohl Art. 20 IPBPR als lex specialis gegenüber Art. 19 IPBPR zu verstehen sei, befreie dies die Gerichte nicht von der Prüfung einer Verletzung von Art. 19 IPBPR nach den dort genannten Kriterien. Art.  20 IPBPR unterscheide sich von Art.  19 IPBPR nur insoweit, als Staaten in den Fällen des Art. 20 IPBPR zum Eingreifen verpflichtet, in jenen des Art. 19 IPBPR hierzu nur berechtigt seien.341 Art. 20 IPBPR führe nicht dazu, dass Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs des Grundrechts lägen, und stelle auch keine Beschränkung entgegen Art. 19 II, III IPBPR dar. Gesetzliche Verbote nach Art.  20 IPBPR seien so auszulegen, dass sie im Einklang mit Art.  19 III IPBPR stehen. Art. 20 IPBPR regele schlicht weitere, spezifische Ziele für einen Eingriff, die gleichwertig unter Art.  19 III IPBPR hätten hinzugefügt werden können. Es

Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 119; Nowak, CCPR, Art. 20 Rn. 18. Ebenso Nowak, CCPR, Art. 20 Rn. 18. 339 Vgl. Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 118 m. w. Nw. 340 Hierzu und zum Folgenden Nowak, CCPR, Art. 20 Rn. 18 f. 341 Nowak, CCPR, Art. 20 Rn. 18; Schmahl, Rechtsgutachten, S. 23. 337 338

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 269

bedürfe einer Prüfung, ob eine „Hassrede“ im Sinne des Art.  20 IPBPR vorliege und ob die angewendeten staatlichen Sanktionen den Anforderungen des Art. 19 III IPBPR genügten. Teilweise wird vertreten, Art. 20 II IPBPR sei als vierter Absatz des Art.  19 IPBPR zu lesen.342 Die Stellung der Bestimmung im unmittelbaren Anschluss an Art. 19 IPBPR spreche dafür.343 Im Fall Faurisson v. Frankreich,344 in dem es um die Leugnung der Existenz von Gaskammern im Nationalsozialismus ging, erwähnte der Menschenrechtsausschuss Art. 20 II IPBPR nicht, obwohl dies aufgrund des Sachverhalts zu erwarten gewesen gewesen wäre.345 Im Fall Ross v. Kanada346 schließlich revidierte der Ausschuss seine Ansicht bzw. stellte diese richtig. Er zog Art. 20 II IPBPR zur Auslegung des Art.  19 III IPBPR heran. Die Regierung hatte argumentiert, die Äußerung liege wegen Art. 20 II IPBPR außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit. Der Ausschuss vertrat die Auffassung, in Abkehr von früheren Entscheidungen müssten Äußerungen, die in den Anwendungsbereich des Art. 20 IPBPR fielen, auch den Anforderungen des Art. 19 III IPBPR genügen. Die Tatsache, dass die Äußerungen in den Anwendungsbereich des Art. 20 II IPBPR fielen, sei zwar relevant; die Rechtfertigung der Beschränkungen sei aber zu prüfen.347 In der Begründetheit stellte der Ausschuss dann fest, dass die Beschränkung nach Art. 19 III IPBPR im konkreten Fall gerechtfertigt sei. Er bezog sich zur Stärkung der Argumentation auf Art. 20 II IPBPR.348 Der Ausschuss trat somit in eine Verhältnismäßigkeitsprüfung gemäß Art. 19 III IPBPR ein und zog dabei Art. 20 II IPBPR heran. Damit lehnte der Menschenrechtsausschuss die Annahme, Art. 20 II EMRK bewirke, dass Äußerungen, die in den Anwendungsbereich der Bestimmung fallen, außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit liegen, ausdrücklich ab; er korrigiert auf diese Weise seine Auffassung gegenüber eigenen früheren, anderen Interpretationen Raum gebenden, Entscheidungen. Aus der systematischen Stellung des Art. 20 II IPBPR und der daraus resultierenden engen Verbindung der Bestimmung zu Art.  19 IPBPR sowie der Teleologie der Regelung wird auch in der Literatur weitestgehend einheitlich gefolgert, dass Äußerungen nicht per se außerhalb des Schutzbereichs zu sehen sind, wenn Art. 20 II IPBPR auf diese Anwendung findet.349 Da Art. 19 IPBPR und 20 II IPBPR

Partsch, in: Henkin (Hrsg.), The International Bill of Rights, S. 209, 227, 230. Partsch, in: Henkin (Hrsg.), The International Bill of Rights, S. 209, 227, 230. 344 Human Rights Committee, Robert Faurisson v. France, Communication No. 550/1993, U. N. Doc. CCPR/C/58/D/550/1993 (1996); Sondervoten zu dieser Entscheidung weisen auf eine notwendige Anwendung des Art. 20 II IPBPR hin. 345 Nowak, CCPR, Art. 20 Rn. 20. 346 Human Rights Committee, Malcolm Ross v. Canada, Communication No. 736/1997, U. N. Doc. CCPR/C/70/D/736/1997 (2000). 347 Human Rights Committee, Malcolm Ross v. Canada, Communication No. 736/1997, U. N. Doc. CCPR/C/70/D/736/1997 (2000), § 10.6. 348 Human Rights Committee, Malcolm Ross v. Canada, Communication No. 736/1997, U. N. Doc. CCPR/C/70/D/736/1997 (2000), § 11.5, § 11.6. 349 Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 120 f.; Nowak, CCPR, Art. 20 Rn. 18 f.; Velu/Ergec, Convention européenne des droits de l’homme, Rn. 735. 342 343

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

zueinander in einem Komplementärverhältnis stünden, müssten Verbote von „Hassreden“ mit den Anforderungen des Art. 19 III IPBPR vereinbar und verhältnismäßig sein.350 Art.  20 II IPBPR verdrängt die Schrankenvorbehalte der Art.  19 II, III IPBPR nicht. Er ist im Rahmen der Auslegung und Anwendung der Rechtfertigungsanforderungen der Art. 19 II, III IPBPR heranzuziehen und dient als Auslegungshilfe. Bei Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in die Meinungsfreiheit nach Art. 19 IPBPR ist Art. 20 II IPBPR zu berücksichtigen, indem in Fällen von „Hassreden“ die Pflicht der Staaten, gesetzliche Verbote für diese Äußerungen vorzusehen, berücksichtigt wird. Ein staatlicher Eingriff kann so gemäß Art. 19 II, III IPBPR i. V. m. Art. 20 II IPBPR gerechtfertigt werden. Für die „Missbrauchsklausel“ des Art. 5 IPBPR wird ebenso angenommen, dass es sich um eine Bestimmung handelt, die die Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs beeinflusst, den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit aber unberührt lässt.351 Aus den Bestimmungen des IPBPR kann im Ergebnis kein Argument dafür gewonnen werden, dass Äußerungen, auf die die „Missbrauchsklausel“ anwendbar ist, außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit liegen. Die Auslegung des Art. 17 EMRK nach Art. 31 UAbs. 3 lit. c WVK spricht eher für den Einfluss der „Missbrauchsklausel“ der EMRK im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs. (4) Historische Auslegung Im Entstehungsprozess der Konvention finden sich keine Hinweise darauf, welche Rechtsfolge die „Missbrauchsklausel“ haben sollte.352 Die Diskussionen bezogen sich allein auf die Existenz und den Anwendungsbereich der Bestimmung. Die historische Interpretation des Art.  17 EMRK ergibt, dass es um ein Bekenntnis gegen den Nationalsozialismus, den Kommunismus und andere extremistische oder faschistische Tendenzen gehen sollte, das mit Klarheit und kategorischer Ablehnung dieser Tendenzen wirken sollte.353 Ein präziser Hinweis auf die Rechtsfolge des Art. 17 EMRK kann dem nicht entnommen werden. Teilweise wird dennoch davon ausgegangen, die historische Interpretation spreche dafür, dass Äußerungen schon nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit lägen, insoweit Art. 17 EMRK zur Anwendung komme. Die Annahme der Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs unter Heranziehung des

Schmahl, Rechtsgutachten, S. 23. Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 121 f., 125; a. A. Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, Rn. 356. 352 Partsch, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg.), Bd. 1, 1. Halbband, Die Grundrechte in der Welt, S. 243, 315. 353 European Commission of Human Rights, Preparatory Work on Article 17 of the European Convention on Human Rights (1957), DH (57) 4, S. 6; vgl. Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 9 Rn. 3; Tretter, in: FS Berka, S. 237, 255; Spielmann, in: Mélanges Pettiti, S. 673, 682; Flauss, RUDH 1992, 461, 463. 350 351

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 271

Art. 17 EMRK widerspreche dem Willen der Vertragsparteien.354 Die Konvention habe sich einem Missbrauch der Rechte durch totalitäre Bewegungen entgegenstellen wollen.355 Dies ist für die Rechtsfolge des Art. 17 EMRK aber nicht aussagekräftig. In beiden denkbaren Fällen würde der Grundrechtsmissbrauch sanktioniert. Aus der historischen Auslegung darüber hinaus eine Aussage zur Rechtsfolge der „Missbrauchsklausel“ ableiten zu wollen, überzeugt nicht. Umgekehrt kann auch argumentiert werden, eine historische Auslegung müsse zur Berücksichtigung des Umstands führen, dass bei Vorbereitung der EMRK ein allgemeines Bewusstsein dafür vorhanden war, dass die Gefahr eines maßlosen Kampfes gegen „Feinde“ der Freiheit und der Demokratie besteht, der letztlich zur Zerstörung der Demokratie selbst führt. Die Angst davor war gegenwärtig.356 Diese Interpretation spricht eher für eine Lösung, die Art. 17 EMRK in die Prüfung der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft einbezieht und die „Missbrauchsklausel“ auf dieser Ebene wirken lässt.357 Die Gefahr eines übermäßigen Schutzes der Demokratie und einer extensiven Einschränkung von Freiheitsrechten zugunsten demokratischer Werte kann bei dieser Lösung besser eingehegt werden. Letztgenannter Umstand bleibt spekulativ. Zwar kann man aus den Materialien erkennen, dass man sich des schmalen Grats bei Anwendung der „Missbrauchsklausel“ und der Gefahr einer übermäßigen Anwendung der Klausel zum Schutz der Demokratie, die letztlich selbst zu einer Gefährdung der Demokratie führt, bewusst war. Diese Gefahr könnte aber ebenso dadurch beherrscht werden, dass der Anwendungsbereich restriktiv interpretiert wird. Die Konsequenz einer historischen Auslegung könnte sein, dass der Begriff „destruction“ für den Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK eng auszulegen ist. Hieraus einen zwingenden Schluss dahingehend ziehen zu wollen, dass ein Grundrechtseingriff anzunehmen ist, erscheint zu weitgehend. Es verbleibt aus der historischen Auslegung nur ein Indiz dafür, Art.  17 EMRK auf Ebene der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs anzuwenden. (5) Teleologische Auslegung Schließlich muss gemäß Art.  31 I aE WVK die Teleologie – Sinn und Zweck – der Bestimmung für die Auslegung in Bezug auf ihre Rechtsfolge berücksichtigt werden.358 Ziel und Zweck der EMRK ist die Sicherung fundamentaler Rechte für Individuen.359 Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 57. Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Rn. 74; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, §  9 Rn.  3; Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 55. 356 Müller, Das Verbotsgesetz, S. 198. 357 Müller, Das Verbotsgesetz, S. 198. 358 Villiger, in: FS Ress, S. 317, 325; vgl. hierzu Struth, in: Grafl/Klob/Reindl-Krauskopf (Hrsg.), 6. ALES-Tagung, S. 91, 107 ff. 359 Orakhelashvili, EJIL 14 (2003), 529, 535; vgl. hierzu zuletzt EGMR (GK), 8. 11. 2016, Magyar Helsinki Bizottság ./. Ungarn, Nr. 18030/11, Z. 121; vgl. Hoffmann-Remy, Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung, S. 18. 354 355

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Im Schrifttum wird teilweise angenommen, die Teleologie des Art. 17 EMRK als Instrument zum Schutz der Demokratie und der Verteidigung der Rechte und Freiheiten der Konvention gegen totalitäre Bestrebungen spreche dafür, Äußerungen, die diesen Prinzipien widersprechen und die deshalb im Anwendungsbereich der Regelung liegen, infolge der Anwendung der „Missbrauchsklausel“ außerhalb des grundrechtlichen Schutzbereichs zu sehen.360 Wende man Art. 17 EMRK als Interpretationskriterium an, lasse dies die eigentliche Funktion und juristische Natur des Art. 17 EMRK als Instrument kategorischer Entscheidung in den Hintergrund treten, weil es sich gerade nicht um einen kategorischen, sondern um einen abwägenden Entscheidungsprozess handle.361 Der Zweck der Bestimmung liege darin, einem Angriff auf die Konventionsrechte nicht ansatzweise Vorschub zu leisten.362 Die Werte der Konvention würden klar und eindeutig verteidigt, wenn man die Handlungen, auf die Art. 17 EMRK anwendbar ist, schon nicht im Schutzbereich des Grundrechts verortete.363 Dies entspreche der juristischen Natur des Art.  17 EMRK.364 Frowein stimmt dem unter Hinweis darauf zu, die europäische Rechtsprechung verfolge ohnehin eine enge Auslegung und wolle dies auch in Zukunft nicht ändern. Die Gefahr einer ausufernden Ausklammerung von Äußerungen aus dem Schutzbereich bestehe deshalb nicht.365 Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit dienen einem effektiven Menschenrechtsschutz. Aus teleologischer Perspektive wäre zu berücksichtigen, dass man, ginge man davon aus, Äußerungen, auf die Art. 17 EMRK anwendbar ist, lägen außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit, eine sehr rechtssichere Vorgehensweise erzielte, die bei strenger Definition des Anwendungsbereichs der Regelung, klare und vorhersehbare Wirkungen des Art. 17 EMRK erzielen könnte. Bei enger Auslegung des Anwendungsbereichs würde Art. 17 EMRK den Grundrechtsschutz für die krassesten Fälle schon auf Ebene des Schutzbereichs ausschließen.366 360 Schiedermair, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art.  10 Rn.  29; Beširević, in: Benedek/Benoit-Rohmer/Karl/Nowak (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights (2012), S.  243, 257; Spielmann, in: Mélanges Pettiti, S.  673, 681; Nowak, RUDH, 1992, 405; Partsch, ZaöRV 1953/54, 631. 361 Levinet, RTDH 2004, 653, 662; Spielmann, in: Mélanges Pettiti, S.  673, 682  f.; Van Drooghenbroeck, RTDH 2001, 541, 552; vgl. Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 185, 204; ähnlich Van Drooghenbroeck, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 182. 362 Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 10. 363 Van Drooghenbroeck, RTDH 2001, 541, 546  ff., 563  ff.; Keane, NQHR 2007, 641, 658  ff.; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S.  183, 204; De Gouttes, in: Mélanges Pettiti, S. 251, 258 ff.; Van Drooghenbroeck, RTDH 2001, 541, 546 ff., 56 ff. 364 Van Drooghenbroeck, RTDH 2001, 541, 552, 565; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 204; De Gouttes, in : Mélanges Pettiti, S. 251, 258; Spielmann, in: Mélanges Pettiti, S. 673, 682 f. 365 Frowein, in: Kretzmer/Kershman (Hrsg.), Freedom of Speech and Incitement Against Democracy, S. 33, 36. 366 Im Ergebnis so auch Cohen-Jonathan, RUDH 1995, 1, 4; vgl. hierzu auch Frenz, Hb EuR IV, Kapitel 8 § 2 Rn. 1789; Grabenwarter/Holoubek, Verfassungsrecht, Rn. 533; Howard, Freedom of Expression, S. 84 ff.

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 273

Allerdings sprechen wichtige teleologische Erwägungen dagegen, diesen Weg zu wählen. Die EMRK soll individuelle Freiheit schützen und sie verfolgt ein liberales Leitmotiv.367 Die Meinungsfreiheit ist ein essenzielles Freiheitsrecht mit fundamentaler Bedeutung für die demokratische Willensbildung,368 das effektiv geschützt werden muss. Einschränkungen sind zumindest kritisch zu hinterfragen.369 Dies spricht dafür, die Umstände der konkreten Situation, in der eine Äußerung getätigt wird – ihren Kontext – zu berücksichtigen und die Notwendigkeit eines Äußerungsverbots im Einzelfall zu prüfen, um sicherzustellen, dass Einschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit so weit wie möglich unterlassen werden.370 Die Anwendungsfälle der Rechtsprechung zeigen zudem, wie schwierig es ist, festzustellen, welche Äußerungen eine Gefahr für die Demokratie darstellen.371 Die Grenzen der Anwendung des Art.  17 EMRK können nur mit einiger Schwierigkeit definiert werden.372 Der Übertritt von einer Äußerung, die Schutz verdient – inklusive einer Kritik an der Demokratie selbst –, zu einer solchen, die tatsächlich gefährlich ist, ist nicht leicht zu identifizieren. Eine sehr konkrete, genaue Untersuchung der Situation ist notwendig, um den Kontext der Äußerung zu erkennen und anhand dessen feststellen zu können, ob eine für die Demokratie ernsthaft gefährliche Handlung vorliegt. Eine kontextsensible Untersuchung der Situation, in der die Äußerung getätigt wird, macht es möglich, Einschränkungen der Meinungsfreiheit nur insoweit zuzulassen, als es unbedingt notwendig ist. Auf diese Weise können die grundrechtlichen Freiheit so weit wie möglich geschützt werden. Die Berücksichtigung aller Umstände der Äußerungssituation ist zwingend notwendig.373 Ein effektiver Menschenrechtsschutz gebietet eine kontextsensible Einzelfalluntersuchung. Davon ausgehend, könnte man zu dem Ergebnis gelangen, es sei zwingend, dass auch Äußerungen, auf die die „Missbrauchsklausel“ anwendbar ist, im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegen. Das gilt aber nur, wenn allein bei einer Rechtfertigungsprüfung – die dann durchgeführt wird, wenn man die Äußerungen in den Schutzbereich einbezieht – eine solche kontextsensible Untersuchung stattfindet bzw. stattfinden kann.374 Auf den ersten Blick erscheint

Marauhn/Merhof, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 7 Rn. 8; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 5. 368 EGMR, 7. 2. 1976, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5493/72. 369 Vgl. Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, §  9 Rn.  3; Harris/O’Boyle/ Warbrick, ECHR, S. 452. 370 Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 64 ff.; Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 113; Villiger, in: FS Bratza, S. 321, 329; Oetheimer, Cardozo Journal of International and Comparative Law 2009, 427, 441 f. 371 Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 207. 372 Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 207. 373 Siehe hierzu mit Beispielen Grabenwarter, in: Grafl/Klob/Reindl-Krauskopf (Hrsg.), 6. ALESTagung, S. 67, 80 ff.; Struth, in: Grafl/Klob/Reindl-Krauskopf (Hrsg.), 6. ALES-Tagung, S. 91, 107 f. 374 Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 204; De Gouttes, in : Mélanges Pettiti, S. 251; Wachsmann, RTDH 2001, 585, 594. 367

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

die im Zuge der Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs durchgeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung der einzige, aber auch der geeignete Ort zu sein, den Kontext einer Äußerung in die Beurteilung ihres grundrechtlichen Schutzes einzubeziehen.375 Teilweise wird vertreten, der Kontext bliebe unbeachtet, schlösse man die Äußerung schon aus dem Schutzbereich des Grundrechts aus.376 Eine Grenzziehung im Schutzbereich sei ein „mechanisches“ und „rohes“ Instrument, das keine Analyse der Bedeutung der betroffenen Rechte und des Schadens, der im Ergebnis entstehe sowie keine Untersuchung der Umstände des Einzelfalls zulasse.377 Die Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs erlaube eine bessere Feinabstimmung.378 Dies wäre entkräftet, wenn man davon ausginge und begründen könnte, dass der Kontext der Äußerung auf Ebene des Schutzbereichs gleichermaßen relevant wird. Davon ist auszugehen, wenn die „Missbrauchsklausel“ des Art.  17 EMRK angewendet wird. Der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK muss zwingend geprüft werden. Hierfür ist der Kontext der Äußerung wesentlich. Die Subsumtion unter die Tatbestandsmerkmale des Art. 17 EMRK erfordert eine kontextsensible Analyse der konkreten Äußerungssituation. Ob eine „objektive Gefahrgeneigtheit“, wie sie Art. 17 EMRK voraussetzt,379 vorliegt, kann nur beurteilt werden, wenn die konkreten Umstände, in denen die Äußerung getätigt wird, im Einzelnen und ausführlich analysiert und berücksichtigt werden. Nur auf diese Weise kann festgestellt werden, ob eine Gefahr besteht, dass die Äußerung Wirkungen in der Außenwelt entfaltet. Die Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal macht es bereits zwingend notwendig, dass sich der Rechtsanwender mit Kontext und Umständen der Äußerung auseinandersetzt. Sie gelingt andernfalls nicht. Das Argument, der Kontext eines Verhaltens würde nicht berücksichtigt und Gerichte fällten unabhängig von Kontext, konkreter Äußerungssituation und nationaler Sondersituation Pauschalurteile über die Schutzwürdigkeit bestimmter Äußerungen, gilt nicht gleichermaßen für Einschränkungen des Schutzbereichs, die aus dem Grundrecht selbst erwachsen, und solche, die durch Art. 17 EMRK begründet werden. Wenn Art.  17 EMRK angewendet wird, handelt es sich um eine Äußerung, die grundsätzlich in den Schutzbereich des Art. 10 I EMRK fällt. Die Anwendung der „Missbrauchsklausel“ führte – nähme man an, sie wirkte auf Ebene des Schutzbereichs – dazu, dass die Äußerung aus diesem ausnahmsweise ausgeschlossen würde. Dies geschieht aber nicht über eine inhaltliche Wertung eines Gerichts allein, sondern über die Subsumtion unter eine Bestimmung mit detaillierten und auslegbaren Tatbestandsvoraussetzungen, die für den Rechtsunterworfenen erkennbar und vorhersehbar sind. Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 184. Keane, NQHR 2007, 641, 643; Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 64 ff.; Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 113; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 203 f. 377 Van Drooghenbroeck, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 190 (Fn. 220); Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 67. 378 Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 450. 379 Siehe hierzu oben Kapitel 4, A., I., 2., a), ii., (3). 375 376

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 275

Im Ergebnis findet die zur Sicherung eines effektiven Menschenrechtsschutzes notwendige kontextsensible Prüfung bei einer Anwendung des Art. 17 EMRK auch statt, wenn dieser auf Ebene des Schutzbereichs wirkt. Die Rechtsfolge ändert nichts an der Notwendigkeit, dass unter die Voraussetzungen der Anwendung der Bestimmung subsumiert werden muss und dies erfordert zwingend eine detaillierte Kontextbetrachtung. Das Argument, effektiver Menschenrechtsschutz erfordere eine Berücksichtigung des Kontexts einer Äußerung spricht nicht zwingend dagegen, Art. 17 EMRK auf Ebene des Schutzbereichs wirken zu lassen und Äußerungen, auf die er anwendbar ist, infolgedessen außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit zu sehen. Teilweise wird im Schrifttum auch vertreten, es mache keinen Unterschied, ob Art. 17 EMRK auf Ebene des Schutzbereichs oder bei Prüfung der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs wirke, weil jede Verhältnismäßigkeitsprüfung, die von der „Missbrauchsklausel“ beeinflusst werde, automatisch zu Lasten des Trägers der Meinungsfreiheit ausgehe.380 Die inhaltliche Wertung finde in beiden Fällen statt.381 Zutreffend ist, dass die Rechtsprechung des EGMR in der überwiegenden Zahl der Fälle, in denen Art.  17 EMRK als Abwägungstopos herangezogen wird, zu dem Ergebnis kommt, die Interessen des Grundrechtsträgers seien unterlegen und der Eingriff sei zu rechtfertigen. Der Gerichtshof wäre aber nicht daran gehindert, den Kontext der Äußerung und insbesondere das Ausmaß der Demokratiegefährdung zu berücksichtigen.382 Eine strukturierte Abwägung anhand spezifischer, vordefinierter Elemente, deren Vorliegen im Einzelfall zu überprüfen ist, wäre auch bei Einbeziehung des Art. 17 EMRK in den Entscheidungsvorgang auf Ebene der Rechtfertigung möglich und könnte die Vorhersehbarkeit erhöhen.383 Gegen eine Einschränkung des Schutzbereichs über Art.  17 EMRK wird auch vorgebracht, die Beweislast gehe auf den Beschwerdeführer über.384 Der Staat werde nicht gezwungen zu zeigen, dass es ein dringendes soziales Bedürfnis für die Beschränkung gibt, sondern müsse nur den Inhalt, nicht jedoch die Auswirkungen der Äußerung belegen.385 Eine Anwendung des Art. 17 EMRK würde dies aber verhindern. Der Staat beruft sich auf Art. 17 EMRK und will eine Ausnahme vom Schutzbereich des Art.  10 EMRK über die Anwendung der „Missbrauchsklausel“ begründen. Ihm obliegt die Darlegungs- und Beweislast für die Voraussetzungen des Art.  17 EMRK.386 Die „Missbrauchsklausel“ wirkt als dem Staat

Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 198; Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 67 f. 381 Keane, NQHR 2007, 641, 661. 382 Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 207 f.; Sottiaux/Van der Schyff, Hastings International and Comparative Law Review 31 (2008), 115, 154 f. 383 Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 208. 384 Keane, NQHR 2007, 641, 656; Hare, in: Hare/Weinstein (Hrsg.), Extreme Speech and Democracy, S. 62, 78 f. 385 Keane, NQHR 2007, 641, 656. 386 Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 64. 380

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

günstige Vorschrift, die eine Äußerung aus dem Schutzbereich ausschließt, die ohne Art. 17 EMRK diesem zuzuordnen wäre und Schutz genießen würde. Die Beweislast obliegt auch bei Anwendung des Art. 17 EMRK auf Schutzbereichsebene nicht dem Äußernden. Für die Frage der Rechtsfolge des Art. 17 EMRK lässt sich aus teleologischer Sicht insoweit Folgendes festhalten: Der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK ist „Stellschraube“ für den Einzelfall, nicht die Rechtsfolge. Hier wird der Kontext der Äußerung berücksichtigt. Der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK ist, unabhängig davon, ob die Bestimmung auf Ebene des Schutzbereichs oder auf jener der Rechtfertigung eines Eingriffs in den Schutzbereich geprüft wird, identisch. Es trifft nicht zu, dass bei Annahme einer Einschränkung des Schutzbereichs stets eine inhaltsbezogene, ansonsten aber immer eine kontextbezogene Prüfung der Äußerung stattfindet. Inhalt und Kontext der Äußerung sind gleichermaßen bei der Prüfung des Anwendungsbereichs des Art. 17 EMRK einzubeziehen. Hiervon bleibt die Entscheidung über die Rechtsfolge unberührt. Die Kritik, dass nur der Inhalt, nicht aber der Kontext der Äußerung berücksichtigt wird, ist im Grunde berechtigt. Allerdings wird diesem Umstand nicht durch Annahme der Rechtsfolge einer Beeinflussung der Verhältnismäßigkeitsprüfung abgeholfen, sondern durch die korrekte und hinreichende Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 17 EMRK. Dies kann unabhängig davon sichergestellt werden, welche Rechtsfolge die „Missbrauchsklausel“ hat. Bei Subsumtion unter die Tatbestandsmerkmale des Art. 17 EMRK bleibt genügend Raum, um zu einem nach diesen Maßstäben angemessenen Ergebnis zu gelangen, ohne eine Abwägung im Sinne der Verhältnismäßigkeitsprüfung auf Ebene der Rechtfertigung durchzuführen.387 Selbst wenn man aber davon ausgeht, dass eine kontextsensible „Abwägung“ der widerstreitenden Interessen im Sinne eines effektiven, auf den Einzelfall abgestimmten Menschenrechtsschutzes über Art. 17 EMRK gleichwertig vorgenommen werden kann und die Sorge um die Beweislastverschiebung nicht begründet ist, bleibt ein anderer Aspekt davon unberührt: Sieht man die Äußerung schon nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit, entfallen die rechtsstaatlichen Sicherungen, die Art. 10 II EMRK für Eingriffe in die Freiheiten des Art. 10 EMRK vorsieht. Der Staat muss kein legitimes Ziel und keine gesetzliche Grundlage für sein Handeln haben und nachweisen.388 Sowohl das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage als auch jenes eines legitimen staatlichen Eingriffsziels dienen neben der Verhältnismäßigkeit der Verhinderung willkürlicher Beschränkungen des Grundrechts. Das wird dann relevant, wenn Staaten Äußerungen ohne gesetzliche Grundlage oder gestützt auf ein offensichtlich unbestimmtes, unklares Gesetz einschränken oder illegitime Ziele wie das Ausschalten politischer Konkurrenz oder missliebiger Ansichten verfolgen.

Vgl. auch Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 60. Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 113; Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), EMRK, S. 432; vgl. hierzu Kirchner, Brazilian Journal of International Law 2015, 416, 419. 387 388

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 277

Außerdem fiele das Erfordernis einer Verhältnismäßigkeit in einem engeren Sinne weg. Eine grob unverhältnismäßige Sanktion wird unter anderem im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des Art. 10 II EMRK berücksichtigt. Für die Frage einer Grundrechtsverletzung würde es – schlösse man die Äußerung nicht in den Schutzbereich ein – keine Rolle mehr spielen, ob eine besonders schwere Sanktion verhängt wurde. Zugespitzt bedeutete dies, dass bei Anwendung des Art. 17 EMRK die Verurteilung – auch eines Journalisten – zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen einer demokratiefeindlichen Äußerung erfolgen könnte, ohne in Konflikt mit Art. 10 EMRK zu geraten, weil die „Missbrauchsklausel“ dazu führt, dass die Äußerung nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK liegt und ihre Beschränkung daher den Anforderungen des Art.  10 II EMRK nicht genügen muss.389 Der Verzicht auf diese Instrumente ist gefährlich, weil gerade im Bereich von „Hassreden“ die Grenzen zwischen dem Schutz des demokratischen Mindeststandards und einer Unterdrückung unliebsamer Meinungen schnell verschwimmen können. Eine Äußerung, die in den Schutzbereich des Grundrechts fällt, darf nur unter Einhaltung der genannten Anforderungen (gesetzliche Grundlage, legitimes Ziel, Verhältnismäßigkeit) verboten oder beschränkt werden. Auf diese Weise entfaltet die Meinungsfreiheit bereits Schutz, wenn eine Äußerung nur in ihren Schutzbereich einbezogen wird. Staatliche Maßnahmen werden erhöhten Anforderungen unterworfen. Sie dürfen nicht ohne Gesetz, zu jedem beliebigen Zweck oder unverhältnismäßig vorgenommen werden. Der Staat ist strengeren Anforderungen an sein Handeln unterworfen als in Fällen, in denen eine Äußerung nicht in den grundrechtlichen Schutzbereich fällt. Aus diesem Grund ist es nicht unerheblich, ob ein Verhalten aus dem Schutzbereich ausgeklammert wird oder der Eingriff als gerechtfertigt qualifiziert wird. In der ersten Konstellation kann der Staat, wenn und soweit er nicht aus anderen Gründen hierzu verpflichtet ist, ohne gesetzliche Grundlage und zu einem beliebigen Zweck handeln. Zudem kann er theoretisch unverhältnismäßig schwere Sanktionen verhängen. Neben der Tatsache, dass im Fall eines Ausschlusses der Äußerung aus dem Schutzbereich die Einhaltung der Anforderungen des Art. 10 II EMRK nicht geprüft und kontrolliert werden, ist der Staat unter bestimmten Umständen auch gar nicht zu ihrer Einhaltung verpflichtet. Der Schutz, der von dem Grundrecht bereits ausgeht, wenn nur sein Schutzbereich betroffen ist, entfällt. Dies muss dafür sprechen, demokratiefeindliche Äußerungen im Schutzbereich der Meinungsfreiheit zu sehen. Ein weiteres Argument tritt hinzu. Als Bestimmung, die in ihrer individualgerichteten Variante die Beschränkung der Konventionsgrundrechte regelt, ist Art. 17 EMRK einer restriktiven Interpretation zu unterwerfen.390 Bei einer extensiven Interpretation liefe man nämlich Gefahr, die „Missbrauchsklausel“ gerade entgegen

Vgl. Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 189. Velu/Ergec, Convention européenne des droits de l’homme, S. 53 Rn. 53; Nowak, RUDH 1992, 402, 408; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 23; Harris/O’Boyle/ Warbrick, ECHR, S.  854; Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art.  17 Rn.  2; Cooper/ Marshall Williams, EHRLR 1999, 593, 606.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

ihrer Teleologie zum Instrument der Gefährdung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie den in der Konvention garantierten Rechten zu machen. Ziel und Zweck der EMRK ist es, die staatliche Handlung zu beschränken, um eine wirksame Garantie der Rechte der Individuen zu garantieren; dem würde eine Anwendung der allgemeinen völkerrechtlichen Regel, die durch Auslegung die Souveränität der Staaten möglichst weitgehend bewahren will,391 widersprechen. Teleologisch ist die Wertung der EMRK zu berücksichtigen, dass der Freiheit ein gewisser Vorrang zukommt. Die teleologische Extension der Schrankenklauseln durch Import neuer Zwecke ist deshalb zurückzudrängen. Dies spricht tendenziell auch dagegen, Einschränkungsmöglichkeiten ausdehnend zu interpretieren. Das Anliegen der Konvention ist die Garantie von Freiheiten; sie darf ihre Schrankenklauseln diese Freiheiten nicht entleeren lassen.392 Außerdem kann Art. 17 EMRK im Verhältnis zu den Garantien der Rechte und Freiheiten in der EMRK als Ausnahmebestimmung aufgefasst werden. Als solche ist sie auch nach den allgemeinen Auslegungsregeln restriktiv zu interpretieren, weil es Sinn und Zweck der EMRK entspricht, Ausnahmen von den Regeln im Vertrag (den Grundrechtsgarantien) zur Realisierung von Sinn und Zweck des Vertrags eng auszulegen.393 Dieses als Unterfall der teleologischen Auslegung zu qualifizierende Auslegungsprinzip dient dazu, die Implementierung und die Effektivität der Regel zu steigern, in dem die Ausnahmen eng interpretiert werden.394 Eine so gebotene restriktive Auslegung des Art. 17 EMRK spräche dagegen, seine Wirkung auf Ebene des Schutzbereichs zu sehen, wenn man davon ausginge, dass dies einer weiten Auslegung gleichkommt, weil Staaten in die Lage versetzt werden, ungeachtet grundrechtlicher Garantien individuelles Verhalten zu beschränken. Ein Grundrecht entfaltet bereits Wirkung, wenn ein Verhalten nur in seinen Schutzbereich einbezogen ist. Das staatliche Handeln, das dieses Verhalten beschränkt, ist dann bereits spezifischen Anforderungen unterworfen, die aus den Schrankenklauseln, hier aus Art. 10 II EMRK, zu entnehmen sind. Staatliches Handeln muss eines der in Art. 10 II EMRK abschließend aufgezählten legitimen Ziele verfolgen, auf gesetzlicher Grundlage erfolgen und verhältnismäßig sein. Diese Anforderungen stellten sich in dieser besonderen Form nicht, läge die Äußerung von vornherein nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Die Schutzwirkungen, die greifen, wenn die Äußerung im Schutzbereich des Grundrechts liegt, würden entfallen. Das Schutzniveau wäre höher und der Grundrechtsschutz wäre stärker, wenn die Äußerung im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegt und Art. 17 EMRK im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs herangezogen wird. Vor

Morrisson, ICLQ 1970, 362; Velu/Ergec, Convention européenne des droits de l’homme, S. 53, Rn.  53; Rigaux, in: Sudre (Hrsg.), L’interprétation de la Convention européenne des droits de l’homme, S.  41, 44; vgl. hierzu auch Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap.  4 Rn. 23; Hoffmann-Remy, Die Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung, S. 18. 392 Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 4 Rn. 113. 393 Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 45. 394 Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Art.  31 Rn. 36; Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 4 Rn. 111. 391

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 279

diesem Hintergrund spricht eine restriktive Auslegung dafür, dass Art. 17 EMRK auf Ebene der Rechtfertigung wirkt. Im Rahmen der teleologischen Auslegung ist die „praktische Wirksamkeit“ bzw. der „effet utile“ der Bestimmung zu berücksichtigen.395 Die „praktische Wirksamkeit“ wird in unterschiedlichen Ausprägungen relevant.396 Das Effektivitätsprinzip stellt darauf ab, dass bei verschiedenen Auslegungsvarianten derjenigen der Vorrang einzuräumen ist, die mit dem Vertragszweck bzw. dem Zweck der Bestimmung im Einklang steht und geeignet ist, diesen möglichst umfassend zu erreichen.397 Es ist integraler Bestandteil der teleologischen Auslegung nach Art.  31 I WVK.398 Das Wirksamkeitsgebot hingegen beschreibt die Pflicht, Auslegungen abzulehnen, die eine Bestimmung, einen Vertrag oder Regelungskomplexe ihrer Bedeutung vollkommen berauben würden und eine Regelung bedeutungslos und überflüssig machen würden.399 Der „effet utile“ beinhaltet im völkerrechtlichen Sinne neben dem Wirksamkeitsgebot das sogenannte Nützlichkeitsgebot, welches besagt, dass in Zweifelsfällen jener Auslegung der Vorzug zu gewähren ist, die der Bestimmung ihre größtmögliche Wirkung verleiht.400 Sowohl Wirksamkeitsgebot als auch Nützlichkeitsgebot im Sinne des Völkerrechts können aus dem Bona-fides-Gedanken abgeleitet werden.401 Das Effektivitätsprinzip kann bezüglich seines Verhältnisses zu Wirksamkeits- und Nützlichkeitsprinzip als diese beiden Grundsätze auf der Ebene der Rechtsanwendung konkretisierend qualifiziert werden; es bringt die Pflicht zum Ausdruck, einer Rechtsnorm in der Realität Wirksamkeit in einem bestimmten Ausmaß zukommen zu lassen.402 Diese Prinzipien gelten für die EMRK als völkerrechtlichen Vertrag.403 Eine Auslegung des Art.  17 EMRK, die dessen Rechtsfolge auf der Ebene des Art.  10 II Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S.  28  ff.; Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Art. 31 Rn. 35. 396 Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 29. 397 Seyr, Effet utile, S. 98; Bernhardt, Die Auslegung völkerrechtlicher Verträge, S. 93. 398 Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Art.  31 Rn. 35; Villiger, in: FS Ress, S. 317, 325 („ut res magis valeat quam pereat“). 399 Von Oettingen, Effet utile, S.  34; im Unionsrecht werden hierfür die Ausdrücke „effet utile im engeren Sinne“ (Potacs, EuR 2009, 465, 467) oder „obligation negative“ (Lecourt, L’Europe, S.  240) gebraucht; vgl. Von Oettingen, Effet utile, S.  54; Bleckmann, NJW 1982, 1177, 1180); Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 109; Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 30. 400 Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 30; Von Oettingen, Effet utile, S. 35; für das Nützlichkeitsgebot werden im Unionsrecht die Begriffe „effet utile im weiteren Sinne“ (Potacs, EuR 2009, 465, 467) oder „obligation positive“ (Lecourt, L’Europe (1976) 240) genutzt; vgl. hierzu Potacs, EuR 2009, 465 (467); Potacs, Auslegung im öffentlichen Recht, S. 109. 401 Von Oettingen, Effet utile, S. 176. 402 Von Oettingen, Effet utile, S. 176. 403 Jacobs, ICLQ 18 (1969), 318, 333; Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, Einleitung Rn. 23; vgl. auch EGMR (GK), 28. 7. 1998, Loizidou ./. Türkei, Nr. 15318/89, Z. 72, 75; EGMR, 7. 7. 1989, Soering ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, Z. 87 („rights that are not theoretical or illusory, but practical and effective“); vgl. hierzu Sorel/Boré Eveno, in: Corten/Klein (Hrsg.), The Vienna Convention on the Law of Treaties, A Commentary, Art. 31 Rn. 52. 395

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

EMRK verortet, widerspricht ihnen nicht. Man könnte davon ausgehen, die Bestimmung würde durch eine solche Anwendung überflüssig.404 Dies könnte anzunehmen sein, weil Art. 10 II EMRK bereits alle für die Entscheidung erforderlichen Regelungen enthalten und Art. 17 EMRK keinen Mehrwert liefern könnte. Die Effektivität des Art.  17 EMRK wäre dann nicht gesichert, weil die Bestimmung ihre praktische Wirksamkeit einbüßte. Der Bezugspunkt der effektivitätssichernden Auslegung ist allerdings maßgeblich.405 Die Wirksamkeit einer einzelnen Bestimmung, aber auch ein spezifisch inhaltliches Ziel kann Bezugspunkt der Effektivität, die sichergestellt sein soll, sein.406 Ein möglicher Zweck, der wirksam werden soll, kann auch die Funktion eines gesamten Regelungskomplexes oder eines übergeordneten Systems sein.407 Legt man die Effektivität des Menschenrechtsschutzes als Ziel des gesamten Vertrags als Bezugspunkt der Auslegung nach der praktischen Wirksamkeit an, müsste man im Ergebnis davon ausgehen, dass die Äußerung in den Schutzbereich einbezogen werden muss, weil dann die Grundrechtsgarantien der EMRK effektiver gewährleistet werden. Der Ausschluss einer Äußerung aus dem Schutzbereich beschränkt die Effektivität der grundrechtlichen Freiheit in höherem Maße. Die Schutzwirkung, die schon dann entsteht, wenn die Äußerung nur in den Schutzbereich des Grundrechts einbezogen wird (staatliches Handeln muss die Voraussetzungen des Art. 10 II EMRK erfüllen), geht verloren. Er bestünde hingegen, unabhängig davon, wie der Grundrechtsschutz im Ergebnis zu beurteilen wäre, schlösse man die Äußerung in den Schutzbereich ein und sehe die Wirkung des Art. 17 EMRK auf Ebene der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs. Legt man die einzelne Bestimmung (Art.  17 EMRK) als Bezugspunkt der Effektivität an, müsste man bei Auslegung nach der praktischen Wirksamkeit zu dem Ergebnis gelangen, dass er auf Ebene des Schutzbereichs wirken muss, weil seine Wirkung (Verhinderung grundrechtlicher Schutzwirkung für grundrechtsmissbräuchliches Verhalten) dann weitergehend wäre. Für die EMRK ist für die effektivitätssichernde Auslegung aber vom Bezugspunkt des Gesamtregelungswerks auszugehen. Dies ergibt sich auch aus Art. 31 I WVK, der den Zweck des gesamten Vertrags meint. Bereits der Wortlaut des Art. 31 I WVK deutet auf die Inbezugnahme des Vertragsziels im Sinne des Gesamtziels hin, denn es wird hier nicht von Ziel und Zweck der Bestimmungen, die in ihrem Zusammenhang gesehen werden müssen, sondern von „seine[m]“ Ziel gesprochen, womit der Vertrag in seiner Gesamtheit gemeint sein muss. Der Begriff des „object and purpose“ des Vertrags wird im Singular verwendet. Die teleologische Auslegung

De Gouttes, in: Mélanges Pettiti, S. 673, 685 f.; Klamt, Streitbare Demokratie, S. 254; Jaqué, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 129, 134; Van Drooghenbroeck, in: Dumont u.  a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 186; Tretter, in: FS Berka, S. 237, 255; a. A. Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 198. 405 Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 30. 406 Siehe in Bezug auf die vergleichbare Frage zum „effet utile“ im Unionsrecht Rebhahn, in: Tichy/Potacs/ Dombrovsky (Hrsg.), Effet utile, S. 147, 150. 407 Rebhahn, in: Tichy/Potacs/ Dombrovsky (Hrsg.), Effet utile, S. 147, 150. 404

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 281

bezieht sich also auf den Zweck des gesamten Vertrags.408 Bei einem Menschenrechtsvertrag wie der EMRK ist dieser Gesamtzweck der effektive Menschenrechtsschutz. Dies ergibt sich aus der Präambel, dem Titel und dem Vertragstyp.409 Deshalb muss jede Bestimmung dieses Vertrags – auch eine solche, deren spezifischer Zweck anders beurteilt werden könnte – so ausgelegt werden, dass sie mit dem Zweck des Vertrags, dem effektiven Menschenrechtsschutz, im Einklang steht.410 Auch der EGMR zeigt in seiner Rechtsprechung, in der er auf die Effektivität rekurriert, immer eine Bezugnahme auf die Effektivität des gesamten Vertrags, der gesamten EMRK, nämlich den effektiven Menschenrechtsschutz.411 Wenn der EGMR davon ausgeht, dass auch verfahrensrechtliche Bestimmungen nach dem Effektivitätsprinzip im Sinne des Gesamtziels des Vertrags und seiner Regelungen ausgelegt werden müssen,412 gilt dies auch für Art. 17 EMRK. Die Auslegung nach der größtmöglichen Effektivität des Grund- und Menschenrechtsschutzes führt dazu, dass man Art. 17 EMRK die Rechtsfolge der Wirkung auf Ebene der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs zuerkennt. Im Ergebnis ist festzustellen, dass die Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs unter Rückgriff auf Art.  17 EMRK als Kriterium der Prüfung der Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft im Sinne der  Teleologie der Konvention, einem möglichst umfassenden, effektiven Schutz der Grundrechtsgarantien, vorzugswürdig ist.413 Die teleologische Auslegung führt zu dem Ergebnis, dass Art. 17 EMRK auf Ebene der Eingriffsrechtfertiung, nicht auf jener des Schutzbereichs wirkt.414 Er schließt – teleologisch ausgelegt – Äußerungen, auf die er anwendbar ist, nicht aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit aus. (6) Auslegungsergebnis zur Rechtsfolge des Art. 17 EMRK Die Auslegung des Art.  17 EMRK führt zu dem Ergebnis, dass die Bestimmung den Äußerungen, auf die sie angewendet wird, den Grundrechtsschutz nicht auf der Ebene des Schutzbereichs entzieht. Vielmehr beeinflusst die „Missbrauchsklausel“ die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs und kommt im Rahmen der Anwendung des Art. 10 II EMRK zum Tragen. Bei der Entscheidung darüber, ob Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Art. 31 Rn. 29, 55; Cremer, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 4 Rn. 21. 409 Dörr, in: Dörr/Schmalenbach (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties, Art.  31 Rn. 56; Villiger, Commentary, Art. 31 Rn. 13. 410 Orakhelashvili, EJIL 2003, 529, 535. 411 Vgl. statt vieler EGMR (GK), 28. 7. 1998, Loizidou ./. Türkei, Nr. 15318/89, Z. 75 („effectiveness of the Convention as a constitutional instrument of European public order (ordre public)“). 412 EGMR, 6. 2. 2003, Mamatkulov u. a. ./. Türkei, Nr. 46827/99, Z. 10. 413 Walter, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, §  12 Rn.  13; Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 68 f.; Oetheimer, Cardozo Journal of International and Comparative Law 2009, 427, 441 f.; Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 622; Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 7; De Gouttes, in: Mélanges Pettiti, S. 251; Wachsmann, RTDH 2001, 585, 594. 414 Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 2 Rn. 45. 408

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

die Voraussetzungen des Art. 10 II EMRK vorliegen, ist Art. 17 EMRK hinzuzuziehen. Bei Abwägung der widerstreitenden Interessen im Rahmen der Prüfung der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft ist zu Lasten des Äußerungsfreiheitsträgers der Umstand zu berücksichtigen, dass die Äußerung die Voraussetzungen der „Missbrauchsklausel“ erfüllt. Ein Grundrechtsmissbrauch im Sinne des Art. 17 EMRK liegt nicht außerhalb des Schutzbereichs der grundrechtlichen Freiheit aus Art. 10 EMRK. b) Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 11 GRC in Fällen der Anwendung des Art. 54 GRC In Bezug auf Art. 54 GRC ist die Rechtsfolge ebenso unklar wie dies zu Art. 17 EMRK ausgeführt wurde.415 Die für die Rechtsfolge relevante Wortfolge des Wortlauts der Bestimmung lautet: „Keine Bestimmung dieser Charta ist so auszulegen, als begründe sie das Recht (…)“ In der Literatur geht man teilweise davon aus, bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art.  54  GRC liege die betreffende Äußerung nicht im Schutzbereich des jeweiligen Grundrechts,416 andererseits wird angenommen, die Rechtfertigungsprüfung werde von Art. 54 GRC beeinflusst.417 Teilweise wird Art. 54 GRC, wie dies auch für Art. 17 EMRK von einigen angenommen wird, auch auf seinen Warn-, Symbol- und Hinweischarakter bezüglich des verstärkten Schutzes der Werte der Union reduziert.418 Für Art. 54 GRC gelten die oben genannten Auslegungserwägungen zu Art. 17 EMRK weitgehend gleichermaßen.419 Sie müssen – im Kontext des hier relevanten Art. 11 GRC, der Art. 10 EMRK entspricht – bereits wegen Art. 52 III GRC auf die Auslegung des Art. 54 GRC übertragen werden. Aus Art. 52 III GRC folgt nämlich,

Vgl. Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 39; Hatje, in: Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 54 Rn. 5; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 8. 416 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art.  54 Rn.  12; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 95; Bezemek, in: Holoubek/Lienbacher (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 11. 417 Zuleeg, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S.  41, 50; Von Danwitz, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), GRC, Art.  54 Rn.  4; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 12; Gärditz, in: Grabenwarter (Hrsg.), Enzyklopädie Europarecht, § 4 Rn. 50 f.; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 54 Rn. 3; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 54 GRC Rn. 3; Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 428; Mahlmann, ZEuS 2000, S. 440; Klamt, Streitbare Demokratie, S. 373; Rengeling/Szeczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 509; Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 7. 418 Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art.  54 Rn.  12; Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 3. 419 Gemäß den Erläuterungen zur GRC entspricht Art. 54 GRC Art. 17 EMRK (siehe hierzu bereits ausführlich Kapitel 4, A., I., 2., b)); vgl. Bezemek/Thallinger, in: Holoubek/Lienbacher (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 2; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 9a („Dogmatiktransfer“). 415

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 283

dass in dem Maße, in dem Art.  17 EMRK für die Definition des Schutzbereichs einer Konventionsgarantie oder für die Schrankenregelungen rechtliche Bedeutung entfaltet, Art. 54 GRC dieselbe rechtliche Bedeutung entfalten und am jeweiligen „Korrespondenzverhältnis“ teilhaben muss.420 Das Auslegungsergebnis darf sich aus diesem Grund nicht unterscheiden. Art. 54 GRC muss letztlich, weil er Art. 17 EMRK entspricht, auch in Bezug auf die Rechtsfolge parallel zu Art.  17 EMRK sein.421 Eine kurze Darstellung von Abweichungen und Besonderheiten genügt daher. Im Übrigen kann auf die Erwägungen zu Art. 17 EMRK verwiesen werden. Der Wortlaut ist bezüglich der Rechtsfolge identisch mit jenem des Art. 17 EMRK und bleibt indifferent.422 Für die Annahme eines Grundrechtseingriffs spricht bei Art.  54  GRC seine systematische Stellung. Die „Missbrauchsklausel“ ist auch in der  GRC in den Schlussbestimmungen nach den allgemeinen Schrankenregelungen des Art. 52 GRC aufgeführt.423 Art. 52 I GRC, der im Falle einer Wirkung auf Ebene des Schutzbereichs trotz Spezialität gegenüber Art. 54 GRC424 umgangen würde und im Grundrechtskatalog vor Art. 54 GRC steht, begründet zusätzlich, dass Art. 54 GRC im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs anzuwenden ist.425 Art. 54 GRC ist wie Art. 17 EMRK als Ausnahmebestimmung allgemein restriktiv auszulegen.426 In der Grundrechtecharta gilt dies umso mehr aufgrund der Subsidiarität des Art. 54 GRC gegenüber Art. 52 GRC.427 Ansonsten gelten teleologisch für Art. 54 GRC dieselben Erwägungen wie für Art. 17 EMRK. Die Berücksichtigung des konkreten Kontexts der Äußerung im Einzelfall ist als unbedingt notwendig,428 nicht aber zwingend nur bei einer Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs möglich, einzuschätzen. Allerdings ist auch in Bezug auf Art.  54  GRC ausschlaggebend, dass die rechtsstaatlichen Erfordernisse der gesetzlichen Grundlage, des legitimen Ziels sowie der Geeignetheit und Erforderlichkeit des Eingriffs bei einer Einschränkung des Schutzbereichs nicht ausdrücklich geprüft werden müssen.429 Hier liegt ein Einfallstor für Missbrauch und rechtsstaatlich bedenkliches staatliches Handeln, welches nicht hingenommen werden kann. Die strukturierte 420 Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 2; Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 144. 421 Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54. 54 Rn. 2. 422 Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 15; a. A. Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 54 Rn. 3, der davon ausgeht, der Wortlaut deute auf eine Einschränkung des Schutzbereichs hin. 423 Gärditz, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, § 4 Rn. 50 f. 424 Vgl. hierzu Klamt, Streitbare Demokratie, S. 371. 425 Von Danwitz, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 6; Klamt, Streitbare Demokratie, S. 371; Gärditz, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, § 4 Rn. 51. 426 Streinz/Michl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 54 Rn. 2 f.; Bezemek/Thallinger, in: Holoubek/Lienbacher (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 5; Ladenburger, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 54 Rn. 3, 7; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 10. 427 Bezemek/Thallinger, in: Holoubek/Lienbacher (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 5. 428 Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 68 f. 429 Vgl. hierzu Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 68; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 54 Rn. 2 f.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Rechtfertigungsprüfung entfiele nämlich in ihrer spezifischen Ausprägung.430 Dies kann die Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art.  54  GRC abgesehen von der kontextsensiblen Prüfung nicht ersetzen. Die Erfordernisse der gesetzlichen Grundlage und des legitimen Ziels finden keine Entsprechung, während die Umstände und der Kontext der Äußerung durchaus berücksichtigt würden, weil sie bei Subsumtion des Lebenssachverhalts unter die Tatbestandsvoraussetzungen der Bestimmung relevant werden.431 Art.  54  GRC wirkt aus den genannten Gründen auf Ebene der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs. Damit wird dem Gedanken des Grundrechtsmissbrauchs hinreichend Genüge getan. Eine Anwendung des Art. 54 GRC führt nicht dazu, dass die betreffenden Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 11 GRC liegen. c) Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 Alt. 1 GG in Fällen der Anwendung des Art. 18 GG Art. 18 GG nimmt im Vergleich zu den „Missbrauchsklauseln“ der europäischen Grundrechtskataloge auch in Bezug auf seine Rechtsfolge und deren Wirkung für den grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit eine Sonderstellung ein. Die Eigenart der Regelung soll im Folgenden untersucht werden. Erörtert man die Rechtsfolge der „Missbrauchsklausel“ des Grundgesetzes mit Blick auf den grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit, gelingt es, anhand dessen zu präzisieren, wie die „europäischen Missbrauchsklauseln“ sich zu diesem Schutzbereich des Grundrechts verhalten. i. Verwirkung als Rechtsfolge des Art. 18 GG Die Rechtsfolge432 des Art. 18 GG ist die „Verwirkung“ der abschließend aufgezählten Grundrechte („verwirkt diese Grundrechte“). Art. 18 GG hat mit der Verwirkung eine Rechtsfolge, die keine der beiden europäischen Bestimmungen kennt. Fraglich ist, ob und wie es sich auf einen grundrechtlichen Schutzbereich auswirkt, wenn das Grundrecht „verwirkt“ wird und inwiefern diese Wirkung mit der Rechtsfolge der Art. 17 EMRK bzw. Art. 54 GRC vergleichbar ist. Über die Verwirkung von Grundrechten entscheidet gemäß Art.  18 S.  2  GG allein das Bundesverfassungsgericht, ihm obliegt das Entscheidungsmonopol. Sie tritt nicht bereits ein, wenn der Anwendungsbereich des Art. 18 GG betroffen ist,

Vgl. Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 510. Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 54 Rn. 3. 432 Zur Begriffsverwendung „Rechtsfolge“ für die Verwirkung bei Art.  18  GG siehe Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 155; Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 294. 430 431

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 285

sondern nur dann, wenn das Bundesverfassungsgericht die Verwirkung ausspricht. Der Verlust des Rechts wird nicht unmittelbar dadurch herbeigeführt, dass die Voraussetzungen der Bestimmung erfüllt sind, sondern es bedarf eines konstitutiven Aktes des Gerichts, damit die Rechtsfolge der Verwirkung eintritt.433 Ohne eine solche Verwirkungsentscheidung durch das Gericht bzw. vor einer solchen Entscheidung tritt die Rechtsfolge nicht ein. Die §§  39, 40 BVerfGG konkretisieren den Verwirkungsausspruch. Die konkrete Entscheidung obliegt dem Bundesverfassungsgericht und, soweit dieses nicht tätig wird, dem Gesetzgeber, der Regelungen für den grundrechtsfrei gewordenen Raum erlassen kann.434 Trifft das Bundesverfassungsgericht keine Ausmaßverfügung nach § 39 I 3 BVerfGG können die Behörden insoweit auch auf einfachgesetzliche Ermächtigungsgrundlagen zurückgreifen. Die Behörden sind zudem nach dem Ausspruch einer Grundrechtsverwirkung nicht mehr verpflichtet, die verwirkten Grundrechte zu berücksichtigen, wenn sie Ermessen ausüben.435 Der Grundrechtsträger kann sich, nachdem das Bundesverfassungsgericht die Verwirkung gegen ihn ausgesprochen hat, in dem vom Gericht festgelegten Umfang auch dann nicht auf die grundrechtliche Garantie berufen, wenn er seine grundrechtliche Freiheit in dem Fall, der Anlass zu einer neuerlichen Entscheidung gibt, nicht missbraucht (hat).436 Das Bundesverfassungsgericht hat nach § 39 I 3 BVerfGG den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten, wenn es bestimmt, wie weit die Verwirkung reichen soll.437 Es kann die Verwirkung auf einzelne Grundrechte beschränken und/oder einen begrenzten Zeitraum für diese bestimmen.438 Die Verwirkungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts bezieht sich ausschließlich auf die Grundrechte des Grundgesetzes; die Garantien der EMRK und der GRC bleiben davon unberührt.439 433 Maunz, in: FS Lerche, S. 284; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S.  163; Butzer/Clever, DÖV 1994, 637, 641; Čopic, JZ 1963, 494, 498; Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 152; Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 297; Hönsch, Die Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG, S. 37; Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 18 Rn. 25; Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 27. 434 Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 38. 435 Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 39; vgl. dazu Butzer, in: Epping/ Hillgruber (Hrsg.), GG, Art.  18 Rn.  17.1; Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art.  18 Rn. 58; Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 19 Rn. 97. 436 Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 153. 437 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 209, 223, 227; Seuffert, in: FS Geiger, S. 797, 802; Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 11, 66; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 13 f. 438 Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 7.

Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  18 Rn.  143; Isensee, in: FS Graßhof, S.  289, 314; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 13, 16. Umstritten ist, welche Grundrechte von einer ausgesprochenen Verwirkung betroffen sind Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 34 f.; Isensee, in FS Graßhof, S. 289, 319; vgl. zu internationalen Garantien und Grundrechten in Landesverfassungen sowie einfachgesetzlichen Gewährleistungen: Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art.  18 Rn.  54; vgl. zur Frage des Verwirkungsausspruchs von Grundrechten, die zwar in Art. 18 GG genannt werden, im konkreten Fall aber nicht missbraucht wurden: Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art.  18 Rn.  20; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.),

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

In Bezug auf die Rechtsfolge des Art.  18  GG sind unterschiedliche Aspekte umstritten.440 Für die Zwecke der vorliegenden Arbeit ist relevant, wie sich diese Rechtsfolge zum grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit verhält. In der Literatur heißt es, infolge des Art. 18 GG könne sich der Betroffene „nicht auf die verwirkten Grundrechte berufen“.441 Die Verwirkung wird mit einer „Entpolitisierung“ des Betroffenen umschrieben, die einer nicht intendierten „Entbürgerlichung“ gegenübergestellt wird.442 Das Schrifttum formuliert, der Betroffene „verliere den Grundrechtsschutz“,443 das Grundrecht werde ihm „aberkannt“.444 Der Schutz des Grundrechts „entfalle“.445 Andere beschreiben die Verwirkung als „Zuziehung eines Übels infolge missbilligten oder zumindest obliegenheitswidrigen Verhaltens“446 oder sprechen schlicht von einer „Schranke“.447 Alle diese Formulierungen bleiben undeutlich und lassen nicht erkennen, wie die Rechtsfolge des Art. 18 GG dogmatisch einzuordnen ist.448 Auch in der Formulierung, es handle sich bei der Verwirkung von Grundrechten prozessual um eine negative Sachentscheidungsvoraussetzung, weil die Klage – bzw. Beschwerdebefugnis wegfalle,449 liegt keine Aussage über die materiellrechtliche GG, Art. 18 Rn. 53; Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 4; vgl. zur Frage der Verwirkung mitbetroffener Grundrechte, die nicht Teil der nach Art. 18 GG verwirkbaren Grundrechte sind: BVerfGE 25, 88, 97. Der Umfang der verwirkten Grundrechte spielt für die hier zu beantwortenden Fragen keine Rolle. 440 Vgl. etwa Butzer/Clever, DÖV 1994, 637, 638; vgl. zur Behauptung einer rein symbolhaften Bedeutung Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 307, 323. 441 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 712; Fohrbeck, Wunsiedel, S. 41; Berg, Staatsrecht, Rn. 465; Yotopoulos-Marangopoulos, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S.  12; Iliopoulos-Strangas, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 71, 86; Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 300; Klein, VVDStRL 37 (1979), 53, 72; Butzer/Clever, DÖV 1994, 637, 642; Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art.  18 Rn.  13; Backes, Rechtsstaatsgefährdungsdelikte und Grundgesetz, S. 133; Scheuner, in: FS Kaufmann, S. 313, 329; Ipsen, Der Staat 52 (2013), 266, 278; Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 60; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 8; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, § 24 Rn. 18; Schmitt Glaeser, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 30. 442 Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 10, 16; Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 293; Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 13; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 13. 443 Reißmüller, JZ 1960, 529, 532. 444 Becker, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 51; Reißmüller, JZ 1960, 529, 532; Dürig, JZ 1952, 513, 517. 445 Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, Ein Grundrecht bürgerschaftlicher Selbstbestimmung, S. 48; Backes, Rechtsstaatsgefährdungsdelikte und Grundgesetz, S. 133. 446 Stettner, DVBl. 1975, 801, 807. 447 Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 1. 448 Vgl. ebenso Lerche, in: FS Arndt, S. 199, 209. 449 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 233; Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 300; Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 174; Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 59; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 33; Butzer/Clever, DÖV 1994, 637, 643; Stettner, DVBl. 1975, 801, 808; Dürig, JZ 1952, 513, 518; Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 153.

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 287

Konstruktion.450 Die Versagung der Befugnis zur Erhebung eines Rechtsmittels (Klagebefugnis/Beschwerdebefugnis) ist gemäß § 90 I BVerfGG wie gemäß § 42 II VwGO dann anzunehmen, wenn keine Möglichkeit einer Grundrechts- bzw. Rechtsverletzung besteht. Dies ist dann der Fall, wenn die Verletzung von vornherein und evident ausgeschlossen ist. Der Grund dafür, dass eine Grundrechtsverletzung als unmöglich ausgeschlossen werden kann, kann auf allen Stufen der Grundrechtsprüfung liegen. Zum einen kann dies der Fall sein, wenn von vornherein der Schutzbereich nicht betroffen ist. Zum anderen fehlt die Möglichkeit der Grundrechtsverletzung auch dann, wenn ein Eingriff ausgeschlossen ist oder – und dies ist hier entscheidend – die verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs offensichtlich ist. In beiden Fällen wäre es ausgeschlossen, ein Rechtsmittel im beschriebenen Sinn zu erheben. Selbst wenn man annimmt, dass eine Verwirkung stets negative Sachentscheidungsvoraussetzung ist, kann dem nicht entnommen werden, ob die Äußerung innerhalb oder außerhalb des grundrechtlichen Schutzbereichs des betreffenden Grundrechts liegt. Die Formulierung, die „Grundrechte könnten dem staatlichen Handeln nicht mehr entgegengesetzt werden“, umfasst auch beide Varianten. Ein Grundrecht kann nicht entgegengesetzt werden, weil sein Schutzbereich nicht betroffen ist oder weil ein Eingriff in seinen Schutzbereich gerechtfertigt ist. Die Aussage, dass nur die „Berufung auf das Recht bzw. der Abwehranspruch“ verloren geht, enthält ebenso wenig Erkenntniswert in Bezug auf den grundrechtlichen Schutzbereich im Fall einer Verwirkung. Der Abwehranspruch kann aus zwei Gründen nicht bestehen; entweder der Schutzbereich ist nicht betroffen oder der Eingriff ist gerechtfertigt. In beiden Fällen kommt dem Betroffenen kein Abwehranspruch gegen das staatliche Handeln zu. Die in der Literatur zu findenden Formulierungen bleiben unklar. Nichtsdestoweniger wird diskutiert, wie es sich auf den Grundrechtsschutz des Einzelnen auswirkt, wenn das Bundesverfassungsgericht der betreffenden Person gegenüber eine Verwirkung ausgesprochen hat. Einige nehmen an, mit der Verwirkung des Grundrechts seien gegenüber dem Betroffenen die Schutzwirkungen des Art. 1 III GG suspendiert. Weder die Spezialgrundrechte noch die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG griffen dann noch ein.451 Art.  18  GG sei eine verfassungsimmanente Schranke des Gebrauchs grundrechtlich verbürgter Freiheit, die allerdings erst durch einen insoweit konstitutiv wirkenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aktualisiert werde. Die Grundrechtsverwirkung bewirke damit eine inhaltliche Beschränkung des Rechts.452 Der Betroffene verliere für die Zukunft nicht nur einen Anspruch, sondern werde

Siehe hierzu Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit, S. 84, der zu Recht darauf hinweist, die prozessuale Lage sei stets nur Spiegelung der materiellrechtlichen Situation, weshalb eine rein prozessuale Wirkung der Verwirkung ausgeschlossen sei. Das materielle Recht müsse den Grund für die Versagung des prozessualen Anspruchs setzen. 451 Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art.  18 Rn.  60; Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 174. 452 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 164 f.; Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 188. 450

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

in seiner Rechtsposition, nämlich in seiner subjektiv-rechtlichen Rechtsstellung als Grundrechtsträger beeinträchtigt.453 Art. 1 II GG stehe dem nicht entgegen.454 Hierfür werden im Schrifttum auch die Begriffe der „Vollverwirkung“455 und des „Substanzverlustes“456 gebraucht.457 Die Vertreter dieser Auffassungen gehen – das legen die vorangegangen dargestellten Aussagen nahe – davon aus, dass der persönliche Schutzbereich für eine von einer Verwirkungsentscheidung betroffene Person entfällt. Die Rechtsfolge des Art. 18 GG wird darin gesehen, dass der Betroffene den persönlichen grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit infolge der Anwendung des Art.  18  GG nicht erfüllt.458 Im Ergebnis bedeutete dies, dass staatliche Regelungen, soweit das Grundrecht verwirkt ist, keine Einschränkungen des Grundrechts wären. Solche Regelungen müssten weder durch Schrankenklauseln gedeckt sein, noch müssten sie sonstigen speziellen oder allgemeinen Anforderungen an Grundrechtseingriffe, wie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, genügen. Andere gehen davon aus, das „Grundrecht als solches“ sei nach einer Verwirkung nach wie vor vorhanden.459 Die Verwirkung bedeute keinen Rechtsverlust, sondern lediglich den Verlust der rechtlichen Möglichkeit, sich in einer bestimmten Hinsicht auf das verwirkte Grundrecht zu berufen.460 Der Betroffene verliere weder seine Rechtsfähigkeit noch seine Grundrechtssubjektivität.461 Dem Betroffenen werde nur das „Ausübungsrecht“ bzw. die Möglichkeit der „Grundrechtsausübung“ genommen.462 Andere nutzen nicht den Begriff des „Ausübungsrechts“, sondern jenen des „Abwehr- bzw. Unterlassungsanspruchs“, der nicht mehr geltend gemacht werden kann.463 Der Staat müsse die grundrechtliche Garantie im Ergebnis nicht mehr beachten.464 Dies gelte sowohl für die Spezialgrundrechte als auch für Art. 2 I GG.465 Dürig, JZ 1952, 513, 514; Reif, Der Begriff der Verwirkung der Grundrechte in Artikel 18 des Grundgesetzes, S. 103 ff.; Reißmüller, JZ 1960, 529, 532; Brenner, DÖV 1995, 60, 62. 454 Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 190 f. 455 Reißmüller, JZ 1960, 532. 456 Sigloch, MDR 1964, 881, 882. 457 Vgl. hierzu Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 175. 458 Schwarz, JZ 2000, 126, 128 f.; Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 18 Rn. 27; Hader, Extremistische Demonstrationen, S. 108; vgl. Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 33. 459 Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 13; so wohl auch Ridder, in: Neumann/Nipperdey/Scheuner (Hrsg.), Die Grundrechte, S. 243, 290. 460 Krüger, DVBl. 1953, 97, 99 f.; Butzer/Clever, DÖV 1994, 641 f.; Ipsen, Der Staat 52 (2013), 266, 278; Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 173 f.; Antoni, in: Hömig/ Wolff (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 4; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 52; Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 13. 461 Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 173. 462 Dürig, JZ 1952, 513, 517; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 17; Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 30; Denninger, VVDStRL 37 (1979), 7, 16. 463 Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 145; Čopic, JZ 1963, 494, 497; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 56. 464 Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 58. 465 Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 54. 453

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 289

Aus der Annahme, dass das Recht an sich bestehen bleibe und nur das Ausübungsbzw. Abwehrrecht verloren gehe, wird der Schluss gezogen, Art. 18 GG wirke auf der Ebene der Rechtfertigung und lasse den Schutzbereich des Grundrechts unberührt.466 Teilweise wird von einer „verfassungsunmittelbaren Schranke“467 gesprochen, die den Schutzbereich nicht betrifft.468 Die Verwirkung modifiziere den Vorbehalt des Gesetzes, sodass die Verhältnismäßigkeit nicht mehr im Einzelfall geprüft werde, sondern pauschal anzunehmen sei.469 Ein Eingriff wäre damit ausnahmslos immer gerechtfertigt, wenn zuvor eine Verwirkung gegen den Betroffenen ausgesprochen worden ist. Zu diesem Ergebnis kommen auch jene Stimmen, die annehmen, der „Abwehranspruch“ sei begrifflich nur dann gemeint, wenn die beeinträchtigende Maßnahme nicht gerechtfertigt werden könne; ansonsten liege nur eine „Einwirkung auf die Schutzgüter“ vor.470 Nähme man dies ernst und ginge davon aus, dass nicht das „Recht“, sondern nur der „Abwehranspruch“ verloren ginge, von dem nur dann gesprochen würde, wenn ein Eingriff nicht gerechtfertigt ist, würde dies bedeuten, dass die Rechtsfolge des Art.  18  GG, die Verwirkung des Grundrechts, auf Ebene der Rechtfertigung wirkt. Dann läge in jeder staatlichen Maßnahme, die den Schutzbereich eines Grundrechts – auch eines verwirkten Grundrechts – beeinträchtigt, ein „Eingriff in den Schutzbereich“. Dieser Eingriff wäre jedoch, wenn das Bundesverfassungsgericht die Verwirkungsentscheidung getroffen hat, pauschal und unabhängig von den Umständen im konkreten Fall gerechtfertigt, weil die Rechtsfolge des Art. 18 GG greift. Die Prüfung der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs ginge infolge der Anwendung des Art. 18 GG zwingend zu Lasten des Grundrechtsträgers aus. Art.  18 S.  1  GG bestimmt im Wortlaut die Rechtsfolge mit folgender Formulierung: „verwirkt diese Grundrechte“. Diese lässt offen, wie die Rechtsfolge des Art. 18 GG sich zum grundrechtlichen Schutzbereich des verwirkten Grundrechts verhält. Auch aus dem Wortlaut der die Regelung des Art. 18 GG konkretisierenden einfachgesetzlichen Vorschriften der §§ 39, 40 BVerfGG ergeben sich keine Hinweise. Die Formulierungen schließen es nicht aus, dass infolge einer Anwendung des Art. 18 GG grundrechtliche Schutzbereiche nicht greifen. Die Beratungen des Parlamentarischen Rates gebrauchen die Begriffe „Außerkraftsetzen von Grundrechten“ und „Absprechen von Grundrechten“.471 Der historische Verfassungsgeber hat soweit erkennbar keine näheren Überlegungen angestellt, wie die Grundrechtsverwirkung in das System der Grundrechtsschranken

Michael, ZJS 2010, 155, 156; Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 153. Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 60 Rn. 92. 468 Degenhart, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 61 Rn. 61; Degenhart, in: Kahl/Waldhoff/ Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar GG, Art. 5 Rn. 99; vgl. hierzu auch Denninger, VVDStRL 37 (1979), 7, 16. 469 Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 551. 470 Ipsen, Staatsrecht II, Grundrechte, Rn. 141. 471 Matz, JÖR n. F. 1 (1951), 173 f. 466 467

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

einzuordnen ist.472 Die systematische Nähe des Art. 18 GG zu Art. 19 I, II GG, der einige „Schranken-Schranken“ normiert, spricht dafür, auch in der „Missbrauchsklausel“ des Art. 18 GG eine Schranke in dem Sinn zu sehen, dass sie auf Ebene der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs wirkt.473 In § 1 II VersG wird geregelt, dass eine Person, die das Grundrecht der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 18 GG verwirkt hat, das Recht, öffentliche Versammlungen und Aufzüge zu veranstalten und an solchen Veranstaltungen teilzunehmen, nicht hat. Die Regelung setzt den Verwirkungsausspruch um.474 Das einfachgesetzliche Recht geht kraft dieser Regelung mit dem Verwirkungsausspruch verloren. Dieser Bestimmung bedarf es, weil die Verwirkung nach Art. 18 GG zunächst nur die grundrechtliche Rechtsposition betrifft, nicht jedoch automatisch auch die einfachgesetzlich gewährleistete Rechtsposition verändert.475 Das Versammlungsgesetz konkretisiert das Grundrecht aus Art. 8 GG, der verfassungsrechtliche actus contrarius für das Grundrecht, der in der Verwirkung liegt, bleibt aber ohne Folgen für das einfachgesetzlich gewährleistete Recht. Deshalb muss dieses ausdrücklich gesetzlich entzogen werden. Ebenso wie die verfassungsrechtliche Regelung in diesem Sinne aber unerheblich für die einfachgesetzliche Gewährleistung des Rechts ist, lässt die einfachgesetzliche Regelung des Versammlungsgesetzes umgekehrt die verfassungsrechtliche Rechtslage unberührt. Die versammlungsgesetzliche Regelung kann die Frage nach der Rechtsfolge des Art. 18 GG und deren Auswirkung auf den grundrechtlichen Schutzbereich deshalb nicht beantworten. Aus teleologischer Perspektive sprechen einige Gründe dagegen, Art. 18 GG so auszulegen, dass eine Äußerung, auf die die Bestimmung anwendbar ist, infolgedessen nicht im Schutzbereich des Grundrechts liegt. Es trifft zwar zu, dass staatliche Eingriffe in Grundrechte auch nach dem Ausspruch der Verwirkung gegenüber dem Betroffenen dem Vorbehalt des Gesetzes und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Bezug auf die verwendeten Mittel genügen müssen.476

Brenner, DÖV 1995, 60, 63. Schaefer, Grundlagen einer ordoliberalen Verfassungstheorie, S. 135. 474 Brüning, Der Staat 41 (2002), 213, 233; Butzer/Clever, DÖV 1994, 637, 642. 475 Vgl. hierzu Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 58. 476 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 19 Rn. 97; Iliopoulos-Strangas, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S. 71, 86; Maunz, in: FS Lerche, S. 284; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 232; Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 142; Dürig, JZ 1952, 513, 518; Sigloch, MDR 1964, 881, 883; Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 198; Brüning, Der Staat 41 (2002), 213, 233; Stettner, DVBl. 1975, 801, 808; Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 58; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 54; Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art.  18 Rn.  26; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 17.1; a. A. Ipsen, Der Staat 52 (2013), 266, 278; vgl. zur Auffassung, die Vorschriften des BVerfGG selbst seien eine Durchbrechung des Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes, die hier nicht von Bedeutung ist: Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 18 Rn. 32; Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 36. 472 473

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Die Bindung an Art. 20 III GG bleibt unabhängig vom Schicksal der grundrechtlichen Garantie bestehen.477 Die Person wird nicht „vogelfrei“.478 Allerdings könnte eine andere Überlegung dagegen sprechen, bereits den Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie als nicht betroffen anzusehen. In der Literatur wird teilweise angenommen, dass es sich bei den Grund- und Menschenrechten des Grundgesetzes, gleichgültig wie man sie sonst ableitet, um vorstaatliche, unveräußerliche, vorverfassungsmäßige, allen Menschen natürlich zustehende Rechte handelt.479 Daraus wird abgeleitet, dass es unmöglich ist, dass der Staat solche Rechte aberkennt.480 Grundrechtsinhalte würden nicht erst durch die Verfassung geschaffen, sondern seien ihr vorgegeben.481 Manche gehen in diesem Zusammenhang relativierend davon aus, dass die Vorstaatlichkeit eines Grundrechts nur dessen Wesensgehalt bzw. den spezifischen Menschenwürdegehalt betreffen könne und nur dieser unangetastet bleiben müsse.482 Folgte man dieser Ansicht, so würde dies in der Konsequenz bedeuten, dass die Grundrechtsgarantien des Grundgesetzes nicht festlegen, was der Einzelne in der Gesellschaft darf, sondern in welchem Umfang der Staat menschliche Freiheiten begrenzen darf.483 Der Einzelne müsste dann nicht darlegen, dass und warum er berechtigt ist zu handeln; der Staat müsste seine Maßnahmen vielmehr am Maßstab der grundrechtlichen Bestimmungen rechtfertigen. Grundrechte definierten Grenzen, die der Staat nicht überschreiten darf und gewährleisteten Freiheit von staatlicher Einwirkung.484 Dies bedeutete, dass die grundgesetzliche Bestimmung nicht die grundrechtliche Freiheit an sich gewährte, sondern sicherstellte, dass in diese nicht willkürlich eingriffen wird. Die Bestimmung wäre dann als staatengerichtete Verbots- bzw. Beschränkungsregelung zu verstehen, die den Staat daran hindert, ohne Grenzen individuelle Freiheit zu beschneiden. Folglich wäre eine Verwirkung dieser Regelungen des Grundgesetzes so zu interpretieren, dass die staatengerichtete Beschränkung verloren geht. Der Staat wäre dann nicht mehr daran

477

Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 18 Rn. 31.

478

Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 18 Rn. 27.

Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 176 f.; Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 74 ff.

479

480 Reif, Der Begriff der Verwirkung der Grundrechte in Artikel 18 des Grundgesetzes, S. 107, 113; Butzer/Clever, DÖV 1994, 637, 642; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 115 Rn. 2; Dürig, JZ 1952, 513, 517. 481

Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 74 ff.

Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 176 f.; Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 52 ff.

482

483

Ipsen, JZ 2001, 473, 476.

Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 76; diese Eigenschaft der Grundrechte als negative Kompetenznormen des Staats bestreiten auch diejenigen nicht, die davon ausgehen, dass die Freiheit nicht vorstaatlich ist, sondern erst durch Gesetz bzw. die Verfassung gewährt wird (vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), S. 75, 86). 484

292

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

gehindert, individuelle Freiheit zu begrenzen. Der Einzelne könnte dem Staat die Grundrechtsgewährleistung nicht mehr entgegenhalten, weil sie nicht mehr wirken würde. Wenn das Grundrecht den Staat in seiner Befugnis zu Maßnahmen gegen den Einzelnen beschränkt, dann hebt die Verwirkung als actus contrarius die Beschränkung der staatlichen Befugnis auf. Der Begriff des Grundrechts bezeichnete nach dieser Ansicht den Abwehranspruch und nicht das vorstaatliche Recht. Dies würde dafür sprechen, dass der Wortlaut des Art.  18  GG („verwirkt diese Grundrechte“) eben diesen und nicht das Schutzgut im Sinne der vorstaatlichen, natürlichen Freiheit meint.485 Allein der Abwehranspruch bzw. das Ausübungsrecht wäre so von der Verwirkung betroffen.486 Selbst wenn man annähme, die Freiheit habe vorstaatlichen Charakter, und man den daraus gezogenen Schlussfolgerungen Recht gäbe, wäre daraus nur abzuleiten, dass das Recht im Sinne der natürlichen Freiheit vom Ausspruch der Verwirkung des Grundrechts unbeeinflusst bleiben muss. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass die Verwirkung den grundrechtlichen Schutzbereich unberührt lässt. Einerseits könnte man formulieren, der Staat gewähre für die individuelle Freiheit nur im Rahmen des Schutzbereichs der normierten Garantie, dass sie nicht staatlich beschränkt wird. Verwirkt man nun die Möglichkeit, sich auf die grundrechtliche Bestimmung zu berufen, bedeutete dies, dass der Schutzbereich nicht mehr betroffen wäre. Andererseits könnte man aber auch annehmen, der Schutzbereich erfasse alles vorstaatlich Geschützte und die Regelung diene dazu, die allein verfassungsrechtlich zulässigen Eingriffsmöglichkeiten in diesen Schutzbereich zu regeln. Dann wäre die Verwirkung eher als Verlust dieser Eingriffsbeschränkungen zu sehen und Eingriffe in den Schutzbereich wären zwar ohne Einschränkung möglich, sie lägen aber vor. Der vorstaatliche Charakter der Grundrechte ist – selbst wenn man ihn annimmt –487 kein eindeutiges Argument dagegen, dass infolge einer Verwirkung schon der grundrechtliche Schutzbereich nicht mehr greift. Die konstitutive Wirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts könnte dagegen sprechen. Die Verwirkung greift erst dann, wenn das Bundesverfassungsgericht sie anordnet. Daraus wird abgeleitet, Art.  18  GG ermächtige das Bundesverfassungsgericht vergleichbar einer Eingriffsermächtigung „von außen“ in das Grundrecht einzugreifen.488 Ein anderes Argument ist überzeugender. Der Sinn des Art. 18 GG liegt darin, dem Betroffenen die Möglichkeit eines künftigen Missbrauchs zu nehmen.489 Die Bestimmung bezweckt die Abwehr von Gefahren für die FDGO durch individuelle

Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 70, 73. Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 146. 487 Die Frage, ob es zutrifft, dass Grundrechte vorstaatlichen Charakters sind, kann vorliegend dahinstehen. 488 Hader, Extremistische Demonstrationen, S. 106. 489 Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S.  129, 153; Sigloch, MDR 1964, 881, 883; Hönsch, Die Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG, S. 84. 485 486

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 293

Betätigung und Aggression; Art.  18  GG intendiert Prävention.490 Hierfür ist es unschädlich, den grundrechtlichen Schutzbereich unberührt zu lassen. Der Ausschluss der Äußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist nicht notwendig. Die Auslegung muss dem Telos zwar entsprechen, aber nicht überobligatorisch sein. Da es sich bei Art. 18 GG um eine Einschränkung der grundrechtlichen Freiheit des Individuums handelt, ist die Bestimmung tendenziell restriktiv auszulegen. Die Auslegung des Art. 18 GG als grundrechtsbeschränkender Bestimmung muss einerseits mit dem Wortlaut vereinbar sein, andererseits darf sie aber nur soweit gehen, als es unbedingt erforderlich ist, um die Gefahr, die von der betreffenden Person ausgeht, zu beseitigen.491 Der Schutz des Einzelnen, der daraus resultiert, dass seine Äußerung im grundrechtlichen Schutzbereich liegt, schadet dem Zweck des Art. 18 GG nicht. Umgekehrt ist es nicht unbedingt erforderlich, den grundrechtlichen Schutzbereich zu verneinen; es genügt vielmehr, dass die Handlung des betroffenen Einzelnen im Ergebnis – wenn auch unter zwingender Beachtung gewisser Mindestanforderungen, die sich bereits aus der Verfassungsordnung ergeben, wenn nur der Schutzbereich des Grundrechts betroffen ist – staatlich beschränkt werden kann. Läge die Äußerung schon nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit, entfielen alle Anforderungen einfacher bzw. qualifizierter Gesetzesvorbehalte sowie die Schranken-Schranken; insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, aber auch das Verbot der Einzelfallgesetzgebung und das Zitiergebot gemäß Art. 19 I GG müssten nicht berücksichtigt werden. Das Grundrecht gewährleistet bereits Schutz, wenn nur sein Schutzbereich betroffen ist. Dann stellt die Verfassung Anforderungen an das staatliche Handeln, die nicht gelten würden, wäre das Grundrecht gar nicht berührt. Im Ergebnis kann der staatliche Grundrechtseingriff gerechtfertigt sein, die staatliche Maßnahme muss aber gewisse Anforderungen erfüllen, die die Verfassung allgemein oder speziell an Grundrechtseingriffe stellt.492 Der Zweck des Art. 18 GG kann auch erfüllt werden, wenn diese Anforderungen gelten. Ein Ausschluss der Äußerungen des Betroffenen aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit ist nicht unbedingt erforderlich. Bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen zeigt sich, warum es weitere Folgen hätte, nähme man an, Art. 18 GG bewirke, dass eine Äußerung nicht im Schutzbereich

BVerfGE 25, 88, 97 f.; Pagenkopf, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 10; Krebs, in: Von Münch/ Kunig (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 15.

490

Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 178.

491

Vgl. in diesem Zusammenhang speziell zur Wesensgehaltsgarantie nach Art. 19 II GG Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 52. Im Schrifttum wird erwogen, von der Verwirkung sei nur das subjektive Recht betroffen und dieses nur insoweit als es die FDGO beeinträchtigen könne. Die Verwirkungsfolgen seien nur auf die politische Dimension des Grundrechts gerichtet. Die betroffene Person könne bezüglich unpolitischer Bereiche weiterhin den Schutz grundrechtlicher Garantien geltend machen (Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 181 ff., 211; Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 175; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 13; Schmitt Glaeser, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 30). Daher seien nur Teilverwirkungen anzunehmen. 492

294

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

der grundrechtlichen Garantie liegt. Wenn man von dem nicht unwahrscheinlichen Fall ausgeht, dass der von der Verwirkung betroffene Grundrechtsträger in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis nicht Beschwerdeführer, sondern Drittbetroffener ist, kommen die beiden Lösungen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Im Bereich der hier relevanten Fallkonstellationen wäre dies jener Fall, in dem die Opfer einer „Hassrede“ ihr Recht aus Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG geltend machen. In der Verhältnismäßigkeitsprüfung wären dann diese Opferrechte mit der Meinungsäußerungsfreiheit abzuwägen. Nimmt man nun an, die Äußerung läge gar nicht im Schutzbereich der Garantie, so wäre in die Abwägung überhaupt kein Grundrecht eines Dritten einzustellen. Hält man den Schutzbereich jedoch zumindest für betroffen, ist die Garantie des Äußernden aus Art. 5 I 1 Alt. 1 GG als Grundrecht eines Dritten zu berücksichtigen. Die Abwägung wäre dann mit einer grundrechtlichen Position eines Dritten durchzuführen. Dies ist auch dann nicht unerheblich, wenn die Meinungsäußerungsfreiheit in der Abwägung der widerstreitenden Interessen im konkreten Fall unterliegt, weil ihre Beeinträchtigung wegen Art. 18 GG gerechtfertigt werden kann. Zumindest stehen sich zwei grundrechtliche Rechtspositionen in der Abwägung gegenüber. Die einander gegenüberstehenden Interessen sind wesentlich anders gewichtet. Im Ergebnis wird eine Äußerung nach hier vertretener Auffassung nicht aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit ausgeschlossen, weil sie grundrechtsmissbräuchlich ist und Art. 18 GG angewendet wird. Ein staatliches Verbot der Meinungsäußerung stellt auch nach der Verwirkung gegenüber dem Betroffenen einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 I Alt. 1 GG dar. Dieser Eingriff kann aber im Regelfall gerechtfertigt werden.493 ii. Sonderstellung des Art. 18 GG in Bezug auf die Rechtsfolge Art.  17 EMRK und Art.  54  GRC werden in der Literatur häufig mit Art.  18  GG verglichen.494 Die Rechtsfolgen der Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC einerseits und Art. 18 GG andererseits scheinen auch nach den bisherigen Ergebnissen dieser Untersuchung ähnlich zu sein. Keine der „Missbrauchsklauseln“ bewirkt, dass betroffene Äußerungen nicht im Schutzbereich der Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit liegen. Zwar ähneln sich die Rechtsfolgen der „Missbrauchsklauseln“,495 es bestehen aber Unterschiede, die über das von Art. 18 GG verlangte förmliche Verfahren,496 das die europäischen Bestimmungen nicht erfordern, hinausgehen.497 Art.  18  GG

493

Siehe hierzu unten Kapitel 4, A., I., 3., d).

Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 6; Streinz, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art.  21 Rn.  251; vgl. hierzu in Bezug auf die Art.  18  GG entsprechende Bestimmung des Art. 21 II GG die Entscheidung EKMR, 20. 7. 1957, KPD ./. Deutschland, Nr. 250/57.

494

495

Von Danwitz, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 7.

496

Streinz, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 21 Rn. 251.

Vgl. Streinz, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 21 Rn. 251; Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 308, 310; Partsch, in: Bettermann/Neumann/Nipperdey (Hrsg.), Bd. 1, 1. Halbband, Die Grundrechte in der Welt, S. 243, 314; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 54 GRC Rn. 1; Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 3. 497

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 295

nimmt eine Sonderstellung ein.498 Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC haben keine der Verwirkung vergleichbaren Folgen, weil sie keine Grundrechtsverwirkung im Sinne des Art. 18 GG kennen. Ein Unterschied besteht darin, dass Art. 18 GG erst durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts angewendet wird und wirksam wird. Die Rechtsfolge des Art. 17 EMRK tritt wie die des Art. 54 GRC kraft Gesetzes ein.499 Entscheidend ist, dass die Verwirkung der Grundrechte nach Art.  18  GG, die erst nach der konstitutiven Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts eintritt, erst auf die „zweite Verfassungsbeschwerde“ Auswirkungen hat, während Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC die „Anlasstat“500 betreffen, die Auslöser dafür war, dass die „Missbrauchsklauseln“ angewendet wurden. Der Bezugspunkt der Rechtsfolge der Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC einerseits und des Art. 18 GG andererseits ist verschieden. Die Rechtsfolge des Art. 18 GG bezieht sich auf eine andere Handlung als jene der „Missbrauchsklauseln“ in EMRK und GRC. Die Verwirkung ordnet an, dass die Grundrechte mit ex nunc Wirkung für die Zukunft aberkannt werden.501 Sie weist keine vergangene grundrechtsmissbräuchliche Handlung zurück.502 Sie bezieht sich gar nicht auf die konkrete Missbrauchshandlung selbst.503 Die Rechtsfolge des Art. 18 GG ist keine Rückwirkung, sondern betrifft allein zukünftiges Verhalten.504 Dieses zukünftige Verhalten muss dabei nicht selbst missbräuchlich sein.505 Der konkrete Missbrauch ist bei Art. 18 GG nur ein äußerer Anlass für das Verwirkungsverfahren und hat lediglich Erkenntniswert

Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 1, 31; Dürig/Klein, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 18 Rn. 141; Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 310.

498

Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  18 Rn.  142; Isensee, in: FS Graßhof, S.  289, 321; Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 550.

499

500

Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 39.

Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 251 f.; Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 154; Butzer, in: Epping/Hillgruber (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 16; Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 27; Echterhölter, JZ 1953, 657; Hönsch, Die Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG, S. 39; Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 171.

501

Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 172.

502

Stettner, DVBl. 1975, 801, 807; Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 171; Krebs, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 15; Hönsch, Die Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG, S. 30.

503

504 Echterhölter, JZ 1953, 657; Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 154; a. A. noch Dürig, JZ 1952, 513, 517, der die Ansicht aber später aufgegeben hat (siehe hierzu Dürig/ Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 88).

Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 173; Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S.  129, 152  f.; a.  A. Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 211, der davon ausgeht, es handle sich nur um eine Vermutung des künftigen Grundrechtsmissbrauchs. Wenn diese Vermutung im Einzelfall widerlegt werde, so sei der Betroffene wie jeder andere Bürger zu behandeln. Vgl. hierzu Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 292.

505

296

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

für die zukünftige Gefährlichkeit des Betroffenen.506 Art.  18  GG kann auf diese Weise zu einer dauerhaften Verwirkung führen.507 Weder die EMRK noch die GRC kennen eine Verwirkung in diesem Sinne. Die Wirkung der Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC bezieht sich allein auf das konkrete, missbräuchliche Verhalten des Anlassfalls und dessen grundrechtlichen Schutz, nicht auf zukünftiges Verhalten der betroffenen Person.508 Die Bestimmungen versagen den grundrechtlichen Schutz für ein bestimmtes Verhalten und entziehen diesem Verhalten den Schutz durch eine Garantie, die durch eben dieses Verhalten missbraucht wird. Die europäischen „Missbrauchsklauseln“ schließen aus, dass Grundrechte im einzelnen Missbrauchsfall für diesen selbst in Anspruch genommen werden,509 während Art. 18 GG diesen Fall des Missbrauchs eines Grundrechts durch eine Person zum Anlass nimmt und mit der Verwirkung eine Rechtsfolge auslöst, die für eine vom konkreten Missbrauch zu trennende Handlung des Betroffenen in der Zukunft gelten wird.510 Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC verursachen keinen dauerhaften Rechtsverlust einer Person in Reaktion auf ein vergangenes Verhalten.511 Folglich stellt sich bei Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC nicht die Frage, ob nur das konkret missbrauchte Grundrecht von der Rechtsfolge der „Missbrauchsklausel“ betroffen ist oder ob auch andere Grundrechte „verwirkt“ würden, wie dies bei Art. 18 GG für die mitbetroffenen Grundrechte erwogen wird.512 Die „Missbrauchsklauseln“ der europäischen Grundrechtskataloge verhindern, dass sich eine Person im Einzelfall auf die gewährleisteten Grundrechte beruft, um eben diese Gewährleistungen abzuschaffen. Das konkrete, vergangene, missbräuchliche Verhalten wird von der Rechtsfolge des Art. 17 EMRK bzw. des Art. 54 GRC betroffen. Art. 18 GG hingegen suspendiert Grundrechte des Einzelnen in Reaktion auf ein solches Verhalten für ein zukünftiges Verhalten, das mit der konkreten missbräuchlichen Handlung in keinem Zusammenhang stehen muss.513

Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S.  172  f.; 208; Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, §  74 Rn.  27; vgl. leicht abweichend Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 149.

506

507

Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 1.

Vgl. Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 12; Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 9; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 54 Rn. 2. 508

509

Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 14 Rn. 95.

510

Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 54 Rn. 2.

511

Villiger, Handbuch EMRK, § 34 Rn. 673.

Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), § 7 Rn. 112; Arai, in: Van Dijk/Van Hoof/Van Rijn/ Zwaak (Hrsg.), Theory and Practice of the European Convention on Human Rights, S. 1089; Von Danwitz, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), GRC, Art. 54 Rn. 7; Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 54 GRC Rn. 1; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 54 Rn. 2; Kneihs, in: Kneihs/Lienbacher (Hrsg.), Art. 17 MRK Rn. 9; EGMR, 2. 9. 2004, W. P. u. a. ./. Polen, Nr. 42264/98; EGMR, 14. 3. 2013, Kasymahunov und Saybatalov ./. Russland, Nr. 26261/05 u. 26377/06, Z. 103.

512

513

Schindler, in: FS Schneider, S. 487, 494.

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 297

Diese Wirkung macht Art.  18  GG zu einem „deutschen Unikat“,514 das eine „Missbrauchsfolge“515 und kein Missbrauchsverbot im Sinne der Art.  17 EMRK und Art. 54 GRC regelt. Die Rechtsfolge der Verwirkung nach Art. 18 GG spielt für die „erste“ Verfassungsbeschwerde gar keine Rolle. Diese Verfassungsbeschwerde kann nur eventuell Anlass für ein Verwirkungsverfahren sein. Erst in einer „zweiten“ Verfassungsbeschwerde, nach Abschluss des Verwirkungsverfahrens und der Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht, kann die Rechtsfolge der Verwirkung überhaupt relevant werden. Die Verwirkung ist zusätzliche Rechtsfolge, die aus Anlass eines grundrechtsmissbräuchlichen Verhaltens ausgesprochen wird und eintritt. Mit der „Anlasstat“ hat die Verwirkung streng genommen nichts zu tun. Der Vergleich zwischen Art. 18 GG und Art. 17 EMRK bzw. Art. 54 GRC zeigt umgekehrt, was die europäischen „Missbrauchsklauseln“ nicht regeln. Eine Bestimmung mit einer Rechtsfolge wie jener der Verwirkung des Art. 18 GG kennen die EMRK und die GRC nicht. Allerdings ist die Frage, ob das grundrechtsmissbräuchliche Verhalten eines Einzelnen vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit umfasst sein kann, obwohl eine „Missbrauchsklausel“ anwendbar ist, mit der Verwirkung als Rechtsfolge des Art. 18 GG nicht zu beantworten. Die Verwirkung regelt dieses konkrete Verhalten nicht und kann dessen grundrechtlichen Schutz deshalb nicht beeinflussen. Die Verwirkung ist zwar Rechtsfolge des Art. 18 GG, sie ist aber nicht tauglicher Anknüpfungspunkt zur Untersuchung des grundrechtlichen Schutzes eines grundrechtsmissbräuchlichen Verhaltens, weil sie dieses nicht tangiert. Die hier notwendig zu stellende analoge Frage zu jener nach der Rechtsfolge des Art.  17 EMRK und des Art. 54 GRC ist, ob der „Missbrauch“, den Art. 18 GG als „Tatbestandsmerkmal“ kennt, als „Anlasshandung“ des Art. 18 GG im Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie liegt. Zu klären ist, ob die Handlung, die Anlass für ein Verwirkungsverfahren gibt, weil sie ein Grundrecht missbraucht, selbst außerhalb des Schutzbereichs dieses Grundrechts liegt. Letztlich läuft dies auf die Frage hinaus, ob ein Missbrauch eines Grundrechts außerhalb des Schutzbereichs dieses Grundrechts liegt. Darauf gibt die Verwirkung keine Antwort, wohingegen Art. 17 EMRK und Art.  54  GRC genau diesen Fall regeln. Die Verwirkung gibt deshalb keine Antwort, weil sie eine andere Handlung in Bezug nimmt und auf diese wirkt. Sie betrifft das Schicksal der „Anlasstat“ nicht. Für das Grundgesetz muss deshalb – will man die Frage nach dem grundrechtlichen Schutz eines grundrechtsmissbräuchlichen Verhaltens erörtern – im Vergleich zu EMRK und GRC abweichend gefragt werden, welches Schicksal die konkrete Missbrauchshandlung, die „Anlassäußerung“, grundrechtsdogmatisch nimmt und was dazu aus Art. 18 GG gewonnen werden kann, der im Fall eines Grundrechtsmissbrauchs anwendbar ist. So ist es möglich, dass ein Verhalten im System des Grundgesetzes außerhalb des grundrechtlichen Schutzbereichs liegt, weil es grundrechtsmissbräuchlich ist, wenngleich dies nicht gleichzeitig Rechtsfolge des Art. 18 GG ist.

514

Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 310.

515

Schmitt Glaeser, AöR 95 (1970), 320, 321.

298

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

iii. Grundrechtsmissbrauch im Sinne des Art. 18 GG im Schutzbereich der Meinungsfreiheit? Im Schrifttum wird nicht konsequent zwischen der „Anlasstat“ und dem weiteren Gebrauch der Grundrechte, auf den die Verwirkung wirkt, unterschieden. Wenn vertreten wird, der Missbrauchsvorbehalt stehe wegen Art. 18 GG unter dem Vorbehalt der Aktualisierung durch das Bundesverfassungsgericht,516 so ist dem nicht ohne Weiteres zuzustimmen. Diese Annahme verkennt, dass zwischen dem Verhalten, auf das die Verwirkung, die tatsächlich unter dem Vorbehalt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht, gerichtet ist und der „Anlasstat“, die das ursprüngliche missbräuchliche Verhalten darstellt, unterschieden werden muss. Für diese „Anlasstat“ ist die Rechtsfolge der Verwirkung und auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht unmittelbar relevant. Im Folgenden soll untersucht werden, ob die „Anlasstat“ – das anlassgebende, „erste“ missbräuchliche Verhalten des Betroffenen – vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit umfasst ist. Im Schrifttum ist umstritten, ob die „Anlasstat“ in der Ordnung des Grundgesetzes wegen ihres grundrechtsmissbräuchlichen Charakters aus dem Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie ausgeschlossen ist.517 Einige Autoren nehmen an, grundrechtsmissbräuchliches Verhalten sei per se nicht vom Schutzbereich der grundrechtlichen Garantien umfasst.518 Sie gehen davon aus, das Grundgesetz kenne auf der Ebene der grundrechtlichen Schutzbereiche eine ungeschriebene Grenze für grundrechtsmissbräuchliches Verhalten.519 Die Lehre vom Missbrauchsvorbehalt versteht den Grundrechtsmissbrauch als Grenze des Schutzbereichs aller Grundrechte, die nicht als äußere Begrenzung an das Grundrecht herantrete, sondern dem Grundrecht bereits inhärent sei.520 Teilweise wird die Ansicht an die im Zivilrecht entwickelte Figur des Rechtsmissbrauchs angelehnt.521 Das missbräuchliche Verhalten selbst – die „Anlasstat“ für

Hader, Extremistische Demonstrationen, S. 106 f.; Manssen, Staatsrecht II, § 21 Rn. 514. Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 14. 518 Lerche, in: FS Arndt, S.  199, 205; Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S.  14; Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, §  121 Rn.  51; Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 132 f.; Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 29 ff.; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S.  133; Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 68 ff.; Brenner, DÖV 1995, 60, 64; Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 152, 154; Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 60 Rn. 50; vgl. Weber-Dürler, VVDStRL 57 (1990), 57, 85; Stettner, DVBl. 1975, 801, 807. 519 Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S.  14; Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121 Rn. 51. 520 Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S.  79, Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 132 f.; Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121 Rn. 51; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 251 f. 521 Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 11 ff.; Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S.  32  ff.; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 133; Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 68 ff. 516 517

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 299

den Ausspruch der Verwirkung – wird danach vom Schutzbereich des betreffenden Grundrechts nicht erfasst.522 Dies soll auch und insbesondere bei solchen Grundrechten gelten, die keinen Gesetzesvorbehalt vorsehen, nach dem ein Grundrechtseingriff gerechtfertigt werden könnte.523 Der Begriff des Missbrauchs ist dabei als zweckwidriger Gebrauch des Grundrechts zu verstehen.524 Art.  18  GG ist die einzige Bestimmung des Grundgesetzes, die ausdrücklich von einem Missbrauch des Grundrechts spricht. Fraglich ist aber, ob die Bestimmung regelt, inwieweit die „Anlasstat“ im Schutzbereich des Grundrechts liegt oder nicht.525 Art.  18  GG bestimmt ausdrücklich nur, dass zukünftiges Verhalten von der Verwirkung betroffen ist und der Handelnde sich infolgedessen für dieses zukünftige Verhalten nicht mehr auf die grundrechtlichen Garantien berufen kann. Art. 18 GG könnte aber implizit auch regeln, wie sich der grundrechtliche Schutzbereich zur „Anlasstat“ verhält. Art. 18 GG weist nach teilweise vertretener Auffassung auf einen allgemeinen Missbrauchsvorbehalt als immanente Schranke hin.526 Art. 18 GG könnte so über seinen formellen Gehalt als Kompetenzzuweisung und Staatsaufgabe hinaus ein an jeden Grundrechtsträger gerichtetes Verbot sein, die für verwirkbar erklärten Grundrechte zu missbrauchen.527 Dieses latente generelle Missbrauchsverbot könnte ex tunc wirken. Davon zu trennen wäre dann der konkrete konstitutiv und ex nunc wirkende Verwirkungsausspruch des Bundesverfassungsgerichts gegen einen bestimmten Antragsgegner. Art.  18  GG könnte gleichzeitig deklaratorische Konkretisierung des Missbrauchsverbots und konstitutive Regelung der Verwirkung sein. Die beiden Wirkungen des Art.  18  GG träten somit nebeneinander. Für die „Anlasstat“ ist nur die deklaratorische Konkretisierung des Missbrauchsverbots bedeutsam. Art. 18 GG könnte, ohne dies ausdrücklich zu regeln,

Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 29; Brenner, DÖV 1995, 60, 64; vgl. hierzu Čopic, Grundgesetz und politisches Strafrecht, S. 37; Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 131; Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 152, 154.

522

Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 17, 99 ff. Vgl. Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 74 Rn. 20; vgl. hier Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S.  49, 116, der davon ausgeht, Grundrechtsmissbrauch sei eine Realisierung des freiheitlichen Gehalts einer Grundrechtsformulierung, die das Interesse eines anderen am Grundrechtsverhältnis Beteiligten (Rechtsgenosse, Allgemeinheit und Staat) verletzt, sofern das verletzte Interesse durch eine im Verhältnis zum ausgeübten Grundrecht höherrangige Verfassungsnorm, durch eine vorverfassungsrechtliche Grundidee oder durch einen überpositiven Rechtsgedanken objektiv erkennbar geschützt sei. 525 Vgl. hierzu Schmitt Glaeser, AöR 95 (1970), 320, 321; generell verneinend Lehmann, Der Schutz symbolträchtiger Orte vor extremistischen Versammlungen, S. 141. 526 So im Ergebnis Stettner, DVBl. 1975, 801; Krüger, DVBl. 1953, 97; Schwarz, JZ 2000, 126, 129; Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 152; Hönsch, Die Verwirkung von Grundrechten nach Art.  18  GG, S.  27; Brenner, DÖV 1995, 60, 63; Brenner, in: V. Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 20, 23; vgl. Birkenmaier, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Art. 18 Rn. 2; vgl. auch Lerche, in: FS Arndt, S. 199, 207; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 251 f.; Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 152. 527 Hierzu und zum Folgenden Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 171; vgl. Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 152. 523 524

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

offenbaren, dass der „Missbrauch“ eines Grundrechts nicht vom Schutzbereich des Grundrechts umfasst ist. Für den historischen Verfassungsgesetzgeber waren die dogmatische Einordnung und die Wirkungen bzw. die dogmatische Bedeutung des Art. 18 GG nicht relevant. Die Überlegungen waren pragmatisch auf die „Entpolitisierung“ von Verfassungsgegnern gerichtet.528 Die Annahme, Art. 18 GG konkretisiere bzw. offenbare, dass ein allgemeiner Missbrauchsvorbehalt existiert, könnte damit begründet werden, dass Art.  18  GG dem Schutz der FDGO dient. Die Bestimmung wird als „verfassungsrechtlicher Prototyp der Positivierung grundrechtsschutzdispensierender Räume“529 bezeichnet. Die FDGO sei eine wertgebundene Ordnung. Infolgedessen könnten dem Gedanken dieser Ordnung diametral entgegengesetzte Verhaltensformen a priori nicht unter den Schutz eben dieser Wertordnung und den Schutzbereich der Grundrechte fallen.530 Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass die FDGO ebenso gesichert werden kann, wenn ein Grundrechtseingriff angenommen wird, der gerechtfertigt werden kann, weil ein grundrechtsmissbräuchliches Verhalten vorliegt. Häufig wird vorgebracht, ein Verhalten, das von keinem grundrechtlichen Schutzbereich abgedeckt werde, falle gar nicht in den Anwendungsbereich des Art.  18  GG.531 Ein „Missbrauch“ liege vor, wenn die von einem Grundrecht geschützten Freiheiten im Sinne eines Grundrechtsexzesses gebraucht würden.532 Ein Verhalten, das sich gegen die FDGO richte, müsse zunächst einmal grundrechtsgeschützt sein, da andernfalls kein Gebrauch des verwirkungsfähigen Grundrechts vorläge.533 Wenn die „Anlasstat“ wegen des Missbrauchsvorbehalts schon nicht in den Schutzbereich des Grundrechts fällt, kann sie, so könnte man behaupten, keinen im Anwendungsbereich des Art. 18 GG liegenden Grundrechtsgebrauch darstellen. Allerdings muss hier, ähnlich wie im Rahmen des Art.  17 EMRK ausgeführt, davon ausgegangen werden, dass nach der Lehre vom Missbrauchsvorbehalt ein Verhalten nur denkmöglich im Schutzbereich des Grundrechts liegen muss, um einen Grundrechtsmissbrauch darzustellen. Das Verhalten muss nach dieser Lehre seiner Natur und seinen Eigenschaften nach im Schutzbereich liegen, d. h. es wäre umfasst, wäre es nicht missbräuchlich und daher ausnahmsweise nicht erfasst. Rechtsmissbrauch ist danach nämlich per definitionem gerade jene Form der Rechtsausübung, die sich zwar im Bereich des Rechtsscheins (scheinbare

Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 22. Schwarz, JZ 2000, 126, 129. 530 Schwarz, JZ 2000, 126, 129; vgl. hierzu Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 116, 142; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S.  133, der hier zwar eine Einschränkung des Schutzbereichs, aber nicht ohne Zweifel einen Grundrechtsmissbrauch annimmt. 531 Isensee, in: FS Graßhof, S.  289, 295; Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, §  203 Rn. 203. 532 Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 155, 203. 533 Kapries, Die Schranken der Grundrechte, S. 148. 528 529

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 301

Rechtsausübung), nicht aber tatsächlich im Bereich der Verwirklichung des Rechtsinhalts einer Bestimmung bewegt und letztlich nicht vom Recht gedeckt ist, weil die Teleologie der Bestimmung dem entgegensteht.534 So wird nur der Anschein eines geschützten Verhaltens erweckt, d. h. das Verhalten weist alle Merkmale auf, durch die üblicherweise der Schutzbereich definiert wird. Das Verhalten widerspricht aber der Teleologie der Regelung und ist deshalb nicht tatsächlich vom Schutz erfasst.535 Der Missbrauch muss der einzige Grund sein, warum der Schutzbereich nicht greift; anders formuliert, darf kein anderer Grund dafür vorliegen, dass der grundrechtliche Schutzbereich nicht betroffen ist. Der Begriff des Missbrauchs bzw. des Gebrauchs der Grundrechte im Sinne der „Missbrauchsklauseln“ setzt nicht mehr als die scheinbare Rechtsausübung voraus. Dieser scheinbare Grundrechtsgebrauch genügt zwar nicht, um zu begründen, dass der Schutzbereich des Grundrechts einschlägig ist, er ist aber ausreichend, um die „Missbrauchsklauseln“ anzuwenden. Dies gilt auch für Art.  18  GG. Daher setzt ein Missbrauch keinen tatsächlichen, sondern nur einen scheinbaren Schutz durch den grundrechtlichen Schutzbereich voraus. Damit wäre es vereinbar, nähme man an, ein Verhalten sei im Ergebnis wegen seines grundrechtsmissbräuchlichen Charakters nicht vom Schutzbereich des Grundrechts umfasst. Damit spricht der Missbrauchsbegriff jener Vertreter, die von einer Schutzbereichsgrenze ausgehen, nicht bereits selbst dagegen, missbräuchliches Verhaltens aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit auszuschließen und die „Anlasstat“ aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit auszugrenzen. Die Lehre vom allgemeinen Missbrauchsvorbehalt ist nicht bereits aus den genannten Gründen widersprüchlich. Einen ähnlichen Einwand stellt es dar, wenn aus einer teleologischen Auslegung des Art.  18  GG nach dem Wirksamkeitsprinzip teilweise die Ansicht gewonnen wird, ein Verhalten liege nicht wegen seines grundrechtsmissbräuchlichen Charakters außerhalb des Schutzbereichs. Art. 18 GG werde bei einer solchen Annahme überflüssig und vollständig unwirksam.536 Einige vertreten, die Verwirkungsentscheidung würde hinfällig, wenn bestimmte Ausübungsformen der Meinungsäußerungsfreiheit und anderer Kommunikationsgrundrechte von vornherein von deren

Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 20 f., 40 ff.; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 149. 535 Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 69 f.; vgl. Hönsch, Die Verwirkung von Grundrechten nach Art. 18 GG, S. 26 („nur scheinbar im Rahmen der ihm gewährten Freiheit“); Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, §  60 Rn.  50 („scheinbare Rechtsausübung“); Schmitt Glaeser, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, §  74 Rn.  20 („scheinbare Rechtsausübung“); Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 149 („Schein des Rechtsgebrauchs“, „Vorspiegelung des ordnungsgemäßen Gebrauchs“); Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 118 f. 536 Michael, ZJS 2010, 155, 156; Lehmann, Der Schutz symbolträchtiger Orte vor extremistischen Versammlungen, S. 141; Čopic, Grundgesetz und politisches Strafrecht, S. 37 f.; Krüger, DVBl. 1953, 97, 99; Schwark, Der Begriff der „Allgemeinen Gesetze“, S. 117 ff.; Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, 75 f.; Schaefer, Grundlagen einer ordoliberalen Verfassungstheorie, S. 136.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Schutzbereich ausgenommen wären.537 Klammere man nämlich Handlungsweisen, die Grundrechte gegen die FDGO instrumentalisierten, aus dem Schutzbereich aus, bedürfe es keiner Bestimmung mehr, die für diesen Fall ein Verwirkungsverfahren und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts anordne; was von vornherein nicht grundrechtlich geschützt sei, könne auch nicht verwirkt werden.538 Zunächst ist hiergegen einzuwenden, dass ein allgemeiner Missbrauchsvorbehalt auf die „Anlasstat“ bezogen wäre, die Art. 18 GG nicht direkt regelt. Er kann die Wirksamkeit der Bestimmung deshalb nicht in Frage stellen. Selbst wenn man aber annimmt, das zukünftige Verhalten sei nicht vom Schutzbereich umfasst, macht das Argument nur in der Konstellation Sinn, in der dieses Verhalten als Bezugspunkt der Verwirkung nach Art.  18  GG selbst grundrechtsmissbräuchlich ist. Zutreffend ist nämlich, dass es keinen Sinn machen würde, für das zukünftige Verhalten eine Verwirkung per Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu regeln, wenn es ohnehin bereits wegen des allgemeinen Missbrauchsvorbehalts in keinem grundrechtlichen Schutzbereich läge. Allerdings setzt die Verwirkung nicht zwingend voraus, dass das zukünftige Verhalten grundrechtsmissbräuchlich ist.539 Die Verwirkung greift auch für nicht selbst grundrechtsmissbräuchliches Verhalten in der Zukunft ein. Selbst wenn man davon ausgeht, dass grundrechtsmissbräuchliches Verhalten außerhalb des grundrechtlichen Schutzbereichs liegt, so bleiben für Art. 18 GG jene Fälle, in denen das von der Verwirkungssanktion betroffene, zukünftige Verhalten des Betroffenen nicht wiederum einen Grundrechtsmissbrauch darstellt. Art. 18 GG ist dann nicht überflüssig. Auch dieser Einwand ist daher abzulehnen. Fraglich ist aber, ob Art. 18 GG eine Sperrwirkung gegenüber einem allgemeinen Missbrauchsvorbehalt entfaltet. Teilweise wird angenommen, Art. 18 GG sei eine abschließende Regelung der Fälle des Grundrechtsmissbrauchs.540 Jenseits des Art. 18 GG habe der Begriff des Grundrechtsmissbrauchs keine Bedeutung; er sei keine verfassungsimmanente Grundrechtsschranke.541 Eine Sperrwirkung sei in dem Sinne zu verstehen, dass die spezielle Figur der Grundrechtsverwirkung eine freie Verwendung des Missbrauchsarguments zur Einschränkung der Grundrechte ausschließe.542 Michael, ZJS 2010, 155, 156; Lehmann, Der Schutz symbolträchtiger Orte vor extremistischen Versammlungen, S. 141; Čopic, Grundgesetz und politisches Strafrecht, S. 37 f.; Krüger, DVBl. 1953, 97, 99; Schwark, Der Begriff der „Allgemeinen Gesetze“, S. 117 ff.; Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, 75 f. 538 Schaefer, Grundlagen einer ordoliberalen Verfassungstheorie, S. 136. 539 Vgl. Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S.  153; siehe hierzu auch bereits oben Kapitel 4, A., I., 3., c), i. 540 Michael, ZJS 2010, 155, 163; Schwark, Der Begriff der „Allgemeinen Gesetze“, S.  119; Lameyer, Streitbare Demokratie, S. 136; Selmer, in: Diskussionsbericht, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Der Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie (1989), S. 71, 73; a. A. Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 39, 107, der davon ausgeht, Art. 18 GG sei nur Sanktionsnorm für besonders gefährliche Missbrauchsfälle und stehe einem allgemeinen Grundrechtsmissbrauch aus diesem Grund nicht entgegen. 541 Von Coelln, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 18 Rn. 24. 542 Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 548. 537

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 303

Teilweise wird vorgebracht, eine Sperrwirkung könne nur für den von Art. 18 GG erfassten politischen Bereich gelten.543 Allerdings führt dies vorliegend nicht weiter, denn eine demokratiefeindliche Äußerung läge in eben jenem politischen Bereich und damit innerhalb des auch nach dieser These von der Sperrwirkung erfassten Rahmens. Der Annahme einer Sperrwirkung des Art. 18 GG in Bezug auf einen allgemeinen Missbrauchsvorbehalt ist entgegenzuhalten, dass es sich um zwei verschiedene Bezugspunkte handelt. Die Sperrwirkung wird aus dem Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts begründet, das aber für die Rechtsfolge der Verwirkung gilt. Die Entscheidung über die „Anlasstat“ liegt nicht im Entscheidungsmonopl des Bundesverfassungsgerichts, da hiervon nur die eigentliche Rechtsfolge, die Verwirkung des Grundrechtsschutzes für zukünftiges Verhalten, erfasst wird. Die Rechtsfolge der Verwirkung und das Monopol des Gerichts gelten ausschließlich für den zukünftigen Grundrechtsschutz, während die konkrete, zum Verfahren nach Art. 18 GG Anlass gebende, Missbrauchshandlung selbst von vornherein vom grundrechtlichen Schutz ausgenommen sein kann. Man könnte sich dennoch auf den Standpunkt stellen, die Sperrwirkung gelte nicht nur für die Verwirkung in der Zukunft, sondern für alle Wirkungen des Art. 18 GG. Die Sperrwirkung kann aber für die „Anlasstat“ teleologisch nicht begründet werden. Sie kann, soweit sie aus dem Monopol des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidung über die Verwirkung gerechtfertigt wird,544 nicht für die „Anlasstat“ gelten, weil ihr Zweck hier nicht erfüllt werden kann. Der Telos der Sperrwirkung wird darin gesehen, dass das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts gesichert wird.545 Dieses diene dem Bürger, weil es staatlichen Missbrauch und staatlichen Exzess verhindere.546 Der Sicherung dieses Monopols wiederum diene die Sperrwirkung des Art. 18 GG. Die Gefahr, dass der Grundrechtsschutz generell aberkennt wird, ohne dass ein verfassungsgerichtliches Verfahren vorgeschaltet ist, besteht aber nicht, wenn die „Anlasstat“ nicht vom Schutzbereich der grundrechtlichen Freiheit erfasst ist. Die „Anlasstat“ ist eine einzelne Handlung, die grundrechtlich nicht geschützt würde. Eine statliche Maßnahme, die das Verhalten ungeachtet des Grundrechts beschränkt, würde den Einzelnen nur punktuell und sachlich begrenzt belasten. Ein solches staatliches Handeln enthielte kein relevantes Exzessrisiko.547 Wenn die beschriebene Gefahr staatlichen Missbrauchs und staatlicher Beschränkungsexzesse nicht besteht, entfällt aber das Bedürfnis nach dem Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts. Infolgedessen kann die Sperrwirkung in Bezug auf die „Anlasstat“ auch nicht damit begründet werden, das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts müsse gesichert werden.

Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 39, 160. Vgl. Schwark, Der Begriff der „Allgemeinen Gesetze“, S. 119. 545 Kutscha, Verfassung und „streitbare Demokratie“, S. 126. 546 Kutscha, Verfassung und „streitbare Demokratie“, S. 125 f. 547 Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 154 f., 157. 543 544

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Man könnte aber annehmen, Art. 18 GG bezwecke die abschließende Regulierung des öffentlichen Meinungskampfs, und wenn die Regelung nicht jeden Grundrechtsmissbrauch erfasse, so sei dies keine Lücke, sondern eine bewusste Grenze für eben diese Regulierung.548 Teilweise wird dies als „Sperrwirkung des Tatbestands des Art.  18  GG“ bezeichnet. Sie bewirke, dass nur in den im Tatbestand des Art. 18 GG genannten Fällen grundrechtsmissbräuchliches Verhalten staatlich abgewehrt werden dürfe.549 Daraus könnte folgen, dass im Grundgesetz für die „Anlasstat“, die einen Grundrechtsmissbrauch darstellt, gerade keine Regelung getroffen werden sollte und dass ein Grundrechtsmissbrauch im Grundgesetz nur dazu führen soll, dass der Grundrechtsschutz für den Betroffenen in Zukunft suspendiert wird, der einmalige Missbrauch aber ohne Konsequenzen für den grundrechtlichen Schutz eben dieses missbräuchlichen Verhaltens bleibt. Aus Art. 18 GG könnte gerade folgen, dass die Verfassung den verfassungsfeindlichen Gebrauch bestimmter Grundrechte bis zu dem Zeitpunkt, in dem sich die grundrechtsspezifische Missbrauchsschranke durch den Verwirkungsausspruch des Bundesverfassungsgerichts, aktualisiert, bewusst duldet.550 Darin liegt ein Widerspruch. Wenn das Grundgesetz so weit geht und für die Zukunft den Grundrechtsschutz versagt, wenngleich das zukünftige Verhalten möglicherweise gar nicht erneut missbräuchlich ist, dann ist es nicht eingängig, warum die mildere Reaktion, nämlich der tatsächlich selbst missbräuchlichen Handlung den Grundrechtsschutz zu entziehen, gerade nicht gewollt sein soll. Im Wege eines Größenschlusses muss man davon ausgehen, dass das Grundgesetz auch für die konkret grundrechtsmissbräuchliche Handlung keinen Schutz gewähren will. Das dargestellte Argument trägt nicht. Im Ergebnis ist nicht anzunehmen, dass Art. 18 GG eine Sperrwirkung in dem Sinne entfaltet, dass es wegen Art. 18 GG im System des Grundgesetzes von vornherein ausgeschlossen wäre, ein grundrechtsmissbräuchliches Verhalten im Sinne eines allgemeinen Missbrauchsvorbehalts außerhalb des grundrechtlichen Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit zu sehen Allerdings sprechen aus teleologischer Perspektive einige Gründe dagegen, von einem solchen allgemeinen Missbrauchsvorbehalt auszugehen. Das Bundesverfassungsgericht stellt zwar gelegentlich auf den Missbrauchsgedanken ab, meist bleibt die Erwähnung aber ohne konstitutive Bedeutung.551 Im Schrifttum wird der Wegfall der Anforderungen der Schranken- und Schranken-Schrankenprüfungen für staatliche Maßnahmen als Nachteil gesehen, der vorliege, wenn grundrechtsmissbräuchliches

Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 206; Müller, Positivität der Grundrechte, S. 28. 549 Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 157, der dies jedoch ablehnt. 550 Vgl. hierzu Brenner, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 18 Rn. 22 ff.; Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 143. 551 BVerfGE 12, 1, 4; BVerfGE 28, 36, 36 ff.; BVerfGE 33, 23, 29; BVerfGE 69, 1, 39; siehe hierzu Sachs, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 81 S. 546; Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 60 Rn. 52. 548

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 305

Verhalten außerhalb des Schutzbereichs des Grundrechts gesehen würde.552 Wenn schon der Missbrauch eines Grundrechts dessen Schutz verhindere, würden verfassungsrechtliche Fragen der Abwägung und der Grundrechtskollision auf die Ebene des Schutzbereichs verschoben und der Wortlaut des Grundgesetzes mit seinen Schranken würde umgangen.553 Die Reichweite eines Grundrechts würde letztlich über die Definition des „Missbrauchs“ bestimmt. Dies wäre mit erheblichen definitorischen Unsicherheiten belastet,554 die bei verbindlichen Schranken der Freiheitsrechte nicht ohne Weiteres zu akzeptieren seien.555 Die Unschärfe eines „hochgradig abstrakten und globalen Missbrauchsbegriffs“556 trage hierzu bei. Letztlich laufe dies darauf hinaus, dass die Grenze nach subjektiven, individuellen Wertungen der Interpreten gezogen werde, weil keine anderen Anhaltspunkte zur Verfügung stünden.557 Die Missbrauchslehre genüge dem Gebot rechtsstaatlicher Methodenklarheit nicht.558 Die Beweislast gehe außerdem auf den Grundrechtsträger über.559 Einzuräumen ist, dass das Urteil, ob ein Missbrauch vorliegt, allein darauf beruht, dass die abstrakte ratio der grundrechtlichen Gewährleistung und die konkrete ratio, die dem Gebrauch des Grundrechts im Einzelfall zugrundeliegt, abgeglichen werden. Wenn diese beiden rationes sich nicht decken, ist ein Fall des Rechtsmissbrauchs gegeben.560 Hierin liegt ein Subsumtionsvorgang, der einen erheblichen Spielraum für subjektive Wertentscheidungen lässt. Um dies zu relativieren, wird vorgebracht, der allgemeine Missbrauchsvorbehalt greife nur bei einem Verstoß gegen die Denkgesetze,561 d. h. nur in den krassesten Ausnahmefällen.562 Bezieht man das grundrechtsmissbräuchliche Verhalten in den Schutzbereich des Grundrechts ein, gelangt man zu einer Abwägung der widerstreitenden Interessen im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in das Grundrecht. Eine solcher Abwägungsvorgang ist aber gegenüber einer gewissenhaften und am Einzelfall orientierten Prüfung der Zweckwidrigkeit des Gebrauchs des Grundrechts nicht per se günstiger für den Betroffenen. Die Abwägungsentscheidung läuft in ähnlichem Maß Gefahr, unter pauschalem Rückgriff auf den Grundrechtsmissbrauch zu Lasten des Grundrechtsträgers entschieden zu werden. Der Abwägungsvorgang

552 Hellhammer-Hawig, Neonazistische Versammlungen, S. 59; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 84; Höfling, Jura 1994, 171. 553 Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 151. 554 Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 76 f.; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 45. 555 Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 198. 556 Bethge, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 203 Rn. 198. 557 Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 73, 76 f., 79; vgl. auch Müller, Die Positivität der Grundrechte (1969), S. 28 f. 558 Müller, Die Positivität der Grundrechte (1969), S. 33. 559 Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 129, 151. 560 Krüger, DVBl. 1953, 97, 98. 561 Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 122. 562 Beisel, Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes, S. 125.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

als Methode der Entscheidung begegnet hier denselben Bedenken, die bereits im Rahmen des Art. 17 EMRK erörtert wurden. In dieser Frage ist im Grundgesetz ebenso wie in der EMRK ein anderer Aspekt entscheidend. Schließt man die Äußerung bereits aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit aus, entfallen wichtige rechtsstaatliche Anforderungen an das staatliche Handeln. Hierzu gehört der Vorbehalt des Gesetzes, der legitime Zweck, die Erforderlichkeit und die Geeignetheit des Grundrechtseingriffs. Letztlich muss hier das zu Art.  17 EMRK und Art.  54  GRC Ausgeführte gleichermaßen gelten. Das Grundrecht entfaltet bereits Wirkung, wenn nur sein Schutzbereich betroffen ist. Dadurch wird staatliches Handeln spezifischen Anforderungen unterworfen. Deren Inhalt ergibt sich aus den Schrankenklauseln der Grundrechtsbestimmungen. Der Staat muss dann auf gesetzlicher Grundlage handeln und einen im Sinne der Gesetzesvorbehalte legitimen Zweck auf erforderliche, geeignete und im engeren Sinne verhältnismäßige Weise verfolgen. Dies spricht aber nicht allgemein dagegen einen allgemeinen Missbrauchsvorbehalt anzunehmen. Nimmt man eine Äußerung wegen ihres grundrechtsmissbräuchlichen Charakters aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit aus, entfallen notwendige rechtsstaatliche Absicherungen des staatlichen Handelns, die auch im Fall eines grundrechtsmissbräuchliches Verhalten gelten müssen. Die rechtsstaatlichen Anforderungen an das staatliche Handeln entfallen aber infolge der Ausnahme der Äußerung aus dem Schutzbereich und nicht deshalb, weil der Missbrauchsvorbehalt angewendet würde. Die Argumentation führt aber dazu, dass davon auszugehen ist, dass eine Äußerung, die unter den allgemeinen Missbrauchsvorbehalt fällt, trotzdem im Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie liegt. Das Grundgesetz weist insofern keine relevanten Unterschiede zur EMRK auf. Die Konvention enthält zwar keinen staatsorganisationsrechtlichen Teil, aus diesem kann im Grundgesetz aber kein entscheidendes Argument gewonnen werden. Anders gewendet: Art. 18 GG schützt wie Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC die demokratische Ordnung als Instrument der „streitbaren Demokratie“. Gleichzeitig muss beachtet werden, dass ein möglichst weitgehender Grundrechtsschutz gewährleistet wird. Dies gilt für alle drei Grundrechtsordnungen. Im Ergebnis ist eine Ausnahme grundrechtsmissbräuchlicher Äußerungen in GG, EMRK und GRC abzulehnen. Überdies streitet die völkerrechtsfreundliche Auslegung des Grundgesetzes für diese Auslegung.563 Nähme man an, die isolierte Interpretation des Grundgesetzes käme zu dem Ergebnis, grundrechtsmissbräuchliche Äußerungen lägen nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit, gewährleistete das Grundgesetz geringeren Schutz als die EMRK. In einem Fall, in dem das Niveau des Grundrechtsschutzes der EMRK durch die grundgesetzliche Gewährleistung unterschritten wird, muss das grundgesetzliche Schutzniveau im Wege einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung in der Regel angehoben werden, um dem Standard der EMRK zu genügen.564 Die Äußerung wäre infolgedessen trotz ihres

563 564

Dürig/Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 18 Rn. 143. Siehe hierzu bereits ausführlich oben Kapitel 3, D.

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 307

grundrechtsmissbräuchlichen Charakters auch im Grundgesetz in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit einzubeziehen. Der Missbrauchsvorbehalt wird auf Ebene der Abwägung der widerstreitenden Interessen als Argumentationstopos herangezogen. Die Anforderungen der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR auf Basis der Art. 10 II EMRK und Art. 17 EMRK sind dabei zu berücksichtigen. Auf diese Weise wird eine kontextsensible und völkerrechtskonforme Entscheidung des jeweiligen Falles ermöglicht. Im Ergebnis spricht Art. 18 GG nicht dagegen, eine grundrechtsmissbräuchliche Äußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit auszuschließen. Die Bestimmung entfaltet auch keine Sperrwirkung gegenüber einem allgemeinen Missbrauchsvorbehalt. Die rechtsstaatlich notwendigen Anforderungen an staatliches Handeln, das grundrechtliche Freiheiten berührt, können aber nur hinreichend garantiert werden, wenn dem grundrechtsmissbräuchlichen Verhalten der Schutz gewährt wird, der ihm dadurch zuteil wird, dass es im grundrechtlichen Schutzbereich liegt. Darin liegt der wesentliche Grund, die Äußerungen in den Schutzbereich einzubeziehen. Sodann ist bei der Beurteilung, ob ein Eingriff in dieses Verhalten gerechtfertigt werden kann, zu berücksichtigen, dass es sich um ein grundrechtsmissbräuchliches Verhalten handelt. Darin liegt die Bedeutung des allgemeinen Missbrauchsvorbehalts im Grundgesetz.565 Art.  18  GG steht dem nicht entgegen, weil er keine Sperrwirkung gegenüber dem allgemeinen Missbrauchsvorbehalt entfaltet. Dies gilt erst recht für den Fall, dass der Missbrauchsvorbehalt als Argumentationstopos im Rahmen der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs herangezogen wird. Im Ergebnis ist grundrechtsmissbräuchliches Verhalten, konkret eine grundrechtsmissbräuchliche Äußerung, in der Grundrechtsordnung des Grundgesetzes ebenso wie in der EMRK und in der GRC in den Schutzbereich der Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit einzubeziehen. d) Zwischenergebnis zur Rechtsfolge der „Grundrechtsmissbrauchsklauseln“ Im Ergebnis wirken alle drei „Missbrauchsklauseln“ auf Ebene der Rechtfertigung und sie streiten in einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zugunsten der staatlichen Zielverfolgung und zu Lasten des Trägers der Meinungsfreiheit. Keine der drei Bestimmungen ist so auszulegen, dass infolge ihrer Anwendung auf eine Äußerung, diese aus dem Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie auszunehmen ist. Eine teleologische Auslegung führt in allen drei Grundrechtsordnungen zum selben Ergebnis. Im Sinne eines möglichst effektiven Menschenrechtsschutzes und einer rechtsstaatlichen Absicherung staatlicher Maßnahmen, die grundrechtliche Freiheiten der Betroffenen berühren, sind grundrechtsmissbräuchliche Äußerungen in den Schutzbereich der Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit einzuschließen.

565

Siehe im Ergebnis auch Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 74.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Die Gegenüberstellung zwischen Art.  17 EMRK und Art.  54  GRC einerseits und Art. 18 GG andererseits hat gezeigt, dass Unterschiede zwischen den Bestimmungen dazu führen, dass auf verschiedene Art und Weise zu begründen ist, dass grundrechtsmissbräuchliche Äußerungen vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst sind. Während Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC die grundrechtliche Beurteilung der konkreten, missbräuchlichen Handlung selbst beeinflussen, betrifft die Rechtsfolge des Art. 18 GG zukünftiges, nicht notwendigerweise selbst grundrechtsmissbräuchliches Verhalten des Betroffenen. Art. 18 GG wirkt nicht unmittelbar für die grundrechtsmissbräuchliche Äußerung. Diese ist nur „Anlass“ für ein Verfahren nach Art. 18 GG; sie ist aber selbst nicht Regelungsgegenstand der „Missbrauchsklausel“ im Grundgesetz. Im System der EMRK sowie in jenem der GRC hingegen ist diese „Anlasstat“ direkt Gegenstand der Regelungen in Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC. Aus Art.  18  GG kann dennoch mittelbar das Schicksal der grundrechtsmissbräuchlichen „Anlasstat“ abgeleitet werden. Die grundrechtsmissbräuchliche Äußerung, die Anlass für das Verwirkungsverfahren gibt, liegt selbst im Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 5 I GG. Art. 18 GG mindert lediglich die Rechtfertigungslast für staatliches Handeln. Art. 18 GG bringt mittelbar zum Ausdruck bringt, dass die Interessen des Grundrechtsträgers im Rahmen der Abwägung wesentlich geringer zu gewichten sind, wenn sein Verhalten grundrechtsmissbräuchlich war. Das Ergebnis der Interessenabwägung wird davon maßgeblich abhängen. Da dies in Art. 18 GG jedenfalls mittelbar geregelt ist, kann vereinfachend formuliert werden, Art. 18 GG könne als Abwägungskriterium in die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne eingestellt werden. Dies kann jedoch nicht im strengen Sinne einer Rechtsfolge des Art. 18 GG verstanden werden. Im Ergebnis wirkt der grundrechtsmissbräuchliche Charakter einer Äußerung in allen drei Grundrechtsordnungen ähnlich auf ihre grundrechtliche Beurteilung. Die „Missbrauchsklauseln“ sind aber unterschiedlich ausgestaltet. Art. 18 GG regelt – anders als die europäischen „Missbrauchsklauseln“ – die Verwirkung als unmittelbare Rechtsfolge. Weder die EMRK noch die GRC kennen eine Verwirkung in diesem Sinne. Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC „sanktionieren“ nur die „Anlasstat“, sie wirken nicht für zukünftiges Verhalten des Betroffenen. „Missbraucht“ ein Grundrechtsträger seine Meinungsfreiheit in Deutschland, indem er eine unter den Tatbestand sowohl des Art.  18  GG als auch des Art.  17 EMRK bzw. Art.  54  GRC fallende Äußerung tätigt, ist die „Anlasstat“ in allen drei Grundrechtskatalogen gleichermaßen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit einzubeziehen. Ihr grundrechtsmissbräuchlicher Charakter wird in allen drei Grundrechtsordnungen auf Ebene der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs durch staatliches Handeln gegen die Äußerung relevant. Insoweit besteht kein Unterschied zwischen EMRK, GRC und Grundgesetz. Dieser tritt vielmehr erst bei nachfolgenden Äußerungen der betroffenen Person auf. Zukünftige Äußerungen werden im System des Grundgesetzes – wenn das Bundesverfassungsgericht im Verfahren nach Art.  18  GG die Verwirkung ausgesprochen hat – von dieser Verwirkung betroffen sein; d. h. sie werden verringerten Grundrechtsschutz erfahren. Im System der europäischen Grundrechtskataloge jedoch werden sie – wenn sie

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 309

nicht selbst wiederum den Tatbestand des Art.  17 EMRK oder des Art.  54  GRC erfüllen – an Art. 10 II EMRK bzw. Art. 11 II GRC zu messen sein, ohne dass die „Missbrauchsklausel“ relevant wird. Auf diese Weise entsteht ein unterschiedliches Schutzniveau zwischen innerstaatlicher und europäischer Grundrechtsgewährleistung in Bezug auf Äußerungen einer Person, die sich zu einem früheren Zeitpunkt grundrechtsmissbräuchlich verhalten hat, sich nun aber – nicht grundrechtsmissbräuchlich – erneut äußert.566 Der Standard des Grundrechtsschutzes in EMRK und GRC wäre für diese „neuen“ Äußerungen dann – jedenfalls prima facie – höher als das Schutzniveau des Grundgesetzes, weil der Grundrechtsmissbrauch in einer vorherigen Äußerung in EMRK und GRC keinen Einfluss auf den Schutz der „neuen“ Äußerung hat – auch nicht auf Ebene der Verhältnismäßigkeit. Die Rechtfertigungsanforderungen des Art.  10  II EMRK bzw. des Art. 11 II GRC kommen in der EMRK unbeeinflusst von vorangegangenem Verhalten des Betroffenen zum Tragen und sind somit – so ist es jedenfalls ungeachtet etwaiger gegenteiliger Ergebnisse aufgrund anderer Umstände des Kontexts anzunehmen – strenger. Im System des Grundgesetzes hingegen hielte die Rechtsfolge der „Missbrauchsklausel“ – die Verwirkung – an und die Entscheidung über die Rechtfertigung des Eingriffs in die „neuen“, nicht selbst grundrechtsmissbräuchlichen Äußerungen würde weiterhin vom grundrechtsmissbräuchlichen Charakter der „alten“ Äußerungen beeinflusst. Dies würde sich im Ergebnis zu Lasten des Betroffenen und zu Gunsten der Rechtfertigung des staatlichen Grundrechtseingriffs auswirken. Auf diese Weise würde der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes – stets unter der Prämisse, dass nicht andere Umstände des Kontexts zu einem gegenteiligen Ergebnis führen – hinter jenem der europäischen Grundrechtskataloge zurückbleiben.567 Bleibt die „innerstaatliche“ Grundrechtsgewährleistung hinter dem Standard der EMRK zurück, muss sie grundsätzlich „angehoben“ werden, um den Verpflichtungen aus der Konvention gerecht zu werden. Konkret würde dies bedeuten, dass die Wirkung des Art. 18 GG bei der Beurteilung der „neuen“, nicht selbst grundrechtsmissbräuchlichen, Äußerung nicht berücksichtigt werden dürfte. Eine Verurteilung Deutschlands in einem solchen Fall ist aber nicht zu erwarten, weil davon auszugehen ist, dass der EGMR die innerstaatliche Entscheidung unter argumentativem Rückgriff auf den margin of appreciation568 rechtfertigen würde. Da es sich in einem Anwendungsfall von Art. 18 GG stets um eine Sachverhaltskonstellation handeln muss, in der die FDGO betroffen ist, liegt auch immer

566 Vgl. hierzu Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 13 (zu Art. 17 EMRK) und Rn. 16 (zu Art. 54 GRC). 567 Vgl. hierzu Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 18 Rn. 13. 568 Siehe grundlegend EGMR, 7. 12. 1976, Handyside ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 5493/72, Z. 48. Hierbei handelt es sich um eine Variation der Kontrolldichte des Gerichtshofs und damit einen Hinweis auf die Kompetenz des Gerichtshofs in der völkerrechtlichen Aufgabenverteilung zwischen dem EGMR und den nationalen Behörden und Gerichten. Der margin of appreciation wird also mit dem subsidiären Charakter der europäischen Kontrolle und der „Gewaltenteilung“ zwischen EGMR und nationalen Behörden und Gerichten begründet (siehe m. w. Nw. Grabenwarter/ Pabel, EMRK, § 18 Rn. 20 f.).

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

eine Situation vor, in der der EGMR den Vertragsstaaten tendenziell einen weiten Beurteilungsspielraum für die Entscheidung im Wege der Gewichtung und Abwägung der widerstreitenden Interessen gewährt.569 Wenn Deutschland als beklagter Staat in einem solchen Fall darlegen kann, dass Art. 18 GG in Bezug auf eine Person legitim in Anspruch genommen wurde, das Bundesverfassungsgericht in dem in Art. 18 GG vorgesehenen Verfahren mit seinen rechtsstaatlichen Sicherungsfunktionen eine Verwirkung ausgesprochen hat und diese nun wirkt, wird der EGMR die eigene Kontrolldichte bezüglich der Abwägung der widerstreitenden Interessen zurücknehmen und auf die bessere Positionierung der innerstaatlichen Behörden und Gerichte zur Entscheidung zentraler Fragen zur Verteidigung des innerstaatlichen demokratischen Systems in seinem Kern verweisen,570 wie es seiner Rolle im System des europäischen Grundrechtsschutzes und dem subsidiären Charakter der EMRK unter Berücksichtigung der Souveränität der Mitgliedstaaten entspricht.571 Ein Fall, bei dem die FDGO tatsächlich betroffen ist und in dem es um Fragen der Verteidigung demokratischer Grundwerte geht, ist gerade ein solcher, in dem die innerstaatlichen Behörden und Gerichte bessere Kenntnis von den Verhältnissen des Einzelfalls haben,572 weil gesellschaftliche Variablen eine Rolle spielen, die vor Ort besser beurteilt werden können.573 Darin liegt die Begründung und Rechtfertigung der Gewährung eines Beurteilungsspielraums.574 Dies gilt umso mehr, wenn es sich um Äußerungen handelt, die nationale Besonderheiten betreffen.575 In Deutschland gehören nationalsozialistische Äußerungen in diese Kategorie. In einem solchen Fall wäre zur Legitimation des staatlichen Vorgehens hinreichend Begründungsmaterial gesammelt und in einem rechtsstaatlichen Anforderungen in hohem Maße entsprechenden Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht verarbeitet worden, sodass der EGMR sich unter Verweis auf die Gewährung eines margin of appreciation zu Recht und systemgerecht aus einer europäischen Kontrolle zurückziehen könnte, um dem subsidiären Charakter der EMRK und dem notwendigen mitgliedstaatlichen Beurteilungsspielraum in zentralen, demokratiesichernden Fragen gerecht zu werden. Das innerstaatliche Verfahren würde hinreichend deutlich machen, dass rechtsstaatliche Standards bei der Entscheidung über die Interessenabwägung beachtet wurden und dass die Entscheidung nicht willkürlich getroffen wurde. Aus dem Verfahren könnte im Normalfall erkannt werden, welche Interessen eingestellt und mit welcher Begründung letztlich angenommen wurde, dass das staatliche Interesse an der Beschränkung des Grundrechts des

Vgl. statt vieler EGMR, 26. 9. 1995, Vogt ./. Deutschland, Nr. 17851/91, Z. 52 ff. Vgl. zum Beispiel EGMR (GK), 13. 7. 2012, Mouvement raëlien suisse ./. Schweiz, Nr. 16354/06, Z. 63. 571 Siehe hierzu Calliess, EuGRZ 1996, 293, 294. 572 Nieuwenhuis, European Constitutional Law Review 3 (2007), 367, 383. 573 Hailbronner, in: FS Mosler, S. 359, 382. 574 Lambert, RTDH 1996, 143, 145; Brems, ZaöRV 1996, 240, 272 ff. 575 Engel, ÖZöRV 1986, 261, 276, 286; Grabenwarter/Pabel, EMRK, §  18 Rn.  21; Gundel, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR VI/1, § 147 Rn. 51 ff. 569 570

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Einzelnen überwiegen muss. Solange die innerstaatliche Entscheidung transparent, rechtssicher, klar und hinreichend begründet ist, ist sie konventionsrechtlich auch im Ergebnis nicht zu beanstanden.576 Den Anforderungen der EMRK ist dann Genüge getan.577 Nur wenn dies nicht der Fall wäre, müsste der EGMR in eine eigene vollständige Kontrolle eintreten. Dann kann ein Widerspruch zwischen innerstaatlichem und europäischem Grundrechtsschutzniveau auftreten. Davon ist aber nicht auszugehen, wenn das Verfahren zum Ausspruch der Verwirkung nicht abgeschafft oder grob missachtet wird.578 Im Ergebnis liegen „grundrechtsmissbräuchliche“ Äußerungen nach hier vertretener Auffassung innerhalb des Schutzbereichs der Garantien der Meinungsfreiheit. Dies bedeutet aber nicht, dass sie vollständigen Grundrechtsschutz genießen. Die „Missbrauchsklauseln“ kommen – auf die oben beschriebene zwischen Art. 18 GG einerseits und Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC andererseits divergierende Weise – auf Ebene der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs zum Tragen und beeinflussen die Abwägung der widerstreitenden Interessen in der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die freiheitsfeindliche Ausrichtung einer Äußerung wird auf diese Weise unter anderem zur Begründung der Rechtfertigung eines Eingriffs in die grundrechtliche Freiheit herangezogen.579 Sie wird meist als „starker magnetischer Pol“ in Richtung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs wirken.580 Allerdings darf nicht angenommen werden, dass immer dann, wenn die „Missbrauchsklauseln“ angewendet werden, automatisch und pauschal von einer Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs auszugehen ist,581 ohne dass eine adäquate Abwägung der widerstreitenden Kugelmann, EuGRZ 2003, 533, 544. Vgl. im Ergebnis ebenso Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 547; die vorangehenden Erwägungen zum margin of appreciation sind nicht ohne Weiteres auf andere Konstellationen und andere Staaten übertragbar, sondern beziehen sich spezifisch auf den Widerspruch zwischen dem Grundgesetz und den europäischen Grundrechtskatalogen. 578 Die Überlegungen zur Diskrepanz zwischen innerstaatlicher und konventionsrechtlicher Grundrechtsgewährleistung im genannten Zusammenhang sind rein akademischer Natur. Die Rechtsprechungsanalyse hat gezeigt, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner bisherigen Geschichte nur vier Verfahren zu Art. 18 GG geführt hat. Der Grundrechtsverwirkung kommt bislang keine praktische Relevanz zu, weil Anträge auf Grundrechtsverwirkung nicht gestellt werden. Die Gefahr, dass der Grundrechtsschutz über Art.  18  GG weitergehend als in der EMRK zulässig eingeschränkt wird, ist nur theoretisch vorhanden. 579 Klein, ZRP 2001, 397, 400; Lobba, EJIL 26 (2015), 237, 251. 580 Vgl. Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 198; vgl. Hailbronner, in: FS Mosler, S. 359, 373 f. 581 Dieser Vorwurf wird der hier vertretenen Ansicht der Berücksichtigung der Missbrauchsklauseln auf Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung häufig gemacht. Es mache keinen Unterschied, ob eine Ausnahme der Äußerung aus dem Schutzbereich abgelehnt oder angenommen werde, wenn auf Ebene der Rechtfertigungsprüfung ohnehin pauschal und ohne sachgerechte Kontextsensibilität von einer Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs ausgegangen werde. Dann finde eine Rechtfertigungsprüfung bloß vordergründig statt und sie bleibe ohne Mehrwert gegenüber einer Ausnahme der Äußerung aus dem Schutzbereich (so zum Beispiel Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 64 ff., 77; De Gouttes, in: Mélanges Pettiti, S. 673, 685 f.; Keane, NQHR 2007, 641, 661.). 576 577

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Interessen unter Beachtung aller spezifischen Umstände des Kontexts der Äußerung, insbesondere der Nähe des Betroffenen zur Äußerung sowie der Verhältnismäßigkeit der Sanktionshöhe, vorgenommen wird. Wird der grundrechtsmissbräuchliche Charakter der Äußerung als Abwägungstopos herangezogen, darf dies nicht dazu führen, dass der Staat darüber hinaus nicht mehr begründen muss, wie der Eingriff in die grundrechtliche Freiheit zu rechtfertigen ist.582 Der bloße Verweis auf den „Grundrechtsmissbrauch“ genügt der staatlichen Begründungslast nicht. Der Grundrechtsmissbrauch ist wegen der „Missbrauchsklauseln“ ein starkes Argument, er genügt aber allein nicht, um die Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs zu begründen. Ein grundrechtsmissbräuchliches Verhalten ist nicht pauschal und automatisch zu rechtfertigen. Andernfalls entfielen die Sicherungen, die der Äußerung zu Teil werden müssen, wenn sie im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegt. Der grundrechtsmissbräuchliche Charakter einer Äußerung ist wegen der „Missbrauchsklausel“ so zwar kein alleiniges, aber doch ein starkes Abwägungskriterium. Es müssen sehr gewichtige Gründe vorgebracht werden, um im Anwendungsbereich der „Missbrauchsklauseln“ zu dem Ergebnis zu gelangen, dass eine staatliche Beschränkung der Äußerung nicht gerechtfertigt ist. Im Einzelfall kann ein solcher sehr wichtiger Grund vorliegen. Nimmt man die Äußerung aber aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit aus, bleibt er ohne Relevanz. Er kann nur berücksichtigt werden, wenn man die grundrechtsmissbräuchliche Äußerung in den Schutzbereich einbezieht. Darin liegt der Schutz, der der Äußerung schon dadurch gewährt wird, dass sie im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegt. Der demokratiefeindliche Charakter der Äußerung kann auch bei dieser Annahme ausreichend berücksichtigt werden, sodass Äußerungen, die das demokratische System letztlich nicht dulden muss, in einem rechtsstaatlich sicheren, sachgerechten Entscheidungsprozess dahingehend beurteilt werden können, dass ihr Verbot bzw. ihre strafrechtliche oder verwaltungsrechtliche Sanktionierung grundrechtskonform vorgenommen werden können.583 Zudem kann dem möglicherweise bestehenden Anliegen, die besondere Schwere und die kategorische Ablehnung eines bestimmten Äußerungsinhalts symbolisch zum Ausdruck zu bringen, hierdurch auch hinreichend Rechnung getragen werden.584

II. Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit unabhängig vom Grundrechtsmissbrauch Neben der Frage, ob Äußerungen wegen ihres grundrechtsmissbräuchlichen Charakters außerhalb des Schutzbereichs des Grundrechts der Meinungsfreiheit zu sehen sind, ist zu untersuchen, ob unabhängig von einem Grundrechtsmissbrauch Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 72. Siehe im Ergebnis ebenso Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 551. 584 Lobba, EJIL 26 (2015), 237, 252.

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Grenzen des Schutzbereichs der Garantien der Meinungsfreiheit in den Grundrechtsordnungen angenommen werden müssen, sodass bestimmten Äußerungen pauschal der Schutz versagt ist. Die grundrechtlichen Schutzbereiche sind im Folgenden im Hinblick darauf durch Auslegung der relevanten Bestimmungen zu definieren.585 Dabei ist zu erörtern, ob demokratiefeindliche Äußerungen im hier untersuchten Sinn bzw. „Hassreden“ „Meinungen“ im Sinne der Art. 10 I EMRK und Art. 11 I GRC bzw. des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG und damit geschütztes Verhalten nach der jeweiligen Garantie sind.586 Weder im Grundgesetz noch in der EMRK spricht eine generelle Vermutung für weite oder enge Schutzbereiche.587 1. „Hassreden“ als „opinion“ bzw. „information“ oder „idées“ bzw. „ideas“ im Sinne des Art. 10 I EMRK Im Folgenden ist der Frage nachzugehen, ob demokratiefeindliche Äußerungen „Meinungen“ im Sinne des Art. 10 I EMRK sind. a) Wortlautauslegung Die EMRK gebraucht in ihrem Wortlaut die Begriffe der „opinion(s)“ bzw. „information(s)“ oder „idées“ bzw. „ideas“. Das französische Wort „opinion“ wird als „Jugement, avis, sentiment qu'un individu ou un groupe émet sur un sujet, des faits, ce qu'il en pense“588 definiert. Ähnlich hierzu wird das englische Wort „opinion“ als „a view or judgement formed about something, not necessarily based on fact or knowledge“589 verstanden. Hierunter sind nach allgemeinem Sprachgebrauch der authentischen Fassungen alle Formen der persönlichen Stellungnahme, Werturteile und Tatsachenbehauptungen gleichermaßen,590 und jedes menschliche Verhalten, das auf Kommunikation gerichtet ist, zu fassen.591 Zusätzlich sind „idées“592 bzw. „ideas“593 Vgl. Volkmann, JZ 2005, 261, 267; Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 490; Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 126. 586 Vgl. Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 130; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 52 Rn. 7. 587 Vgl. De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 294; HoffmannRiem, Der Staat 43 (2004), 203, 229; Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 56 Rn. 80; Volkmann, JZ 2005, 261, 267. 588 Larousse, http://www.larousse.fr/dictionnaires/francais/opinion/56197#1lzzU0tohFccAzXl.99. 589 English Oxford Living Dictionaries, https://en.oxforddictionaries.com/definition/opinion. 590 Grabenwarter/Pabel, EMRK, §  23 Rn.  4 (Siehe zu Tatsachenbehauptungen ausführlicher Kap. 4, B., II.). 591 Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 25; Kugelmann, EuGRZ 2003, 16, 20. 592 „Opinions et conceptions de quelqu'un, d'un groupe“ (Larousse, http://www.larousse.fr/ dictionnaires/francais/id%C3%A9es/41404#SzW4zSPuBwd6JqAS.99). 593 “A thought or suggestion as to a possible course of action” (English Oxford Living Dictionaries, https://en.oxforddictionaries.com/definition/idea). 585

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

und „information(s)“594 genannt. Damit ist zusammengefasst jeder kommunikative Akt gemeint, der als Medium intendierter Sinnvermittlung fungiert, indem er jenseits seiner selbst für etwas steht.595 Zur negativen Abgrenzung dient der Realakt, der gerade keine Bedeutung und keinen Sinn vermittelt und daher kein kommunikativer Akt ist; der Wortlaut schließt Realakte bereits deutlich aus.596 Der so näher beschriebene Wortlaut enthält jedoch keine Anhaltspunkte in Bezug auf den Schutz demokratiefeindlicher Äußerungen. Es ist zumindest nicht offensichtlich, dass eine „Hassrede“ oder eine revisionistische Äußerung kein Akt der persönlichen Stellungnahme ist und keinen Sinn vermitteln möchte bzw. bloßer Realakt ist.597 Der Wortlaut liefert keine eindeutigen Hinweise dafür oder dagegen, dass demokratiefeindliche Äußerungen im Schutzbereich der Garantie der Meinungsfreiheit liegen.598 b) Systematische Auslegung Die Bestimmung des Art.  18 EMRK könnte aus systematischen Erwägungen dagegen sprechen, dass „Hassreden“ außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit liegen. Teilweise wird angenommen, Art. 18 EMRK lasse keine inhärenten Schranken des Schutzbereichs der Grundrechte der Konvention zu und es gebe auch keine ungeschriebene Ausnahme zu Art. 18 EMRK.599 Dem ist entgegenzuhalten, dass Art.  18 EMRK nur darauf abzielt, die Konventionsrechte vor Beschränkungen zu schützen, die den in den Schrankenvorbehalten der einzelnen Garantien vorgesehenen Zwecken zuwiderlaufen bzw. diese überschreiten. Eine Verletzung von Art.  18 EMRK kann strukturell nur vorliegen, wenn das betroffene Grundrecht einen Schrankenvorbehalt aufweist.600 Zweck des Art.  18 EMRK ist es, zu verhindern, dass die Schrankenvorbehalte zu konventionswidrigen Zwecken herangezogen werden.601 Art.  18 EMRK meint immanente Schranken im Sinne von „echten“ Schranken zur Rechtfertigung eines angenommenen Eingriffs in den Schutzbereich.602 Die Bestimmung setzt voraus, dass ein Eingriff in ein Grundrecht

“Facts provided or learned about something or someone” (English Oxford Living Dictionaries, https://en.oxforddictionaries.com/definition/information). 595 Vgl. hierzu Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 38 f., S. 58 ff. 596 Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 58 ff.; Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 151. 597 A. A. Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 283, der annimmt, dass man den Schutzgegenstand als solche Äußerung definieren könne, die den Empfänger als autonom würdiges Subjekt bedeutungsvermittelnder Absicht behandelt, dem offen steht, ob und wie es sich auf das Vermittelte einlässt, und man deshalb davon ausgehen könne, dass bestimmte Äußerungen wie Holocaustleugnungen bereits per definitionem aus dem Schutzbereich des Art. 10 I EMRK herausfielen. 598 Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 25. 599 Kirchner, Brazilian Journal of International Law 2015, 416, 421. 600 Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 18 Rn. 1. 601 Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 18 Rn. 2. 602 Vgl. Velu/Ergec, Convention européenne des droits de l’homme, Rn. 197 ff.; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis, S. 92 f. 594

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 315

gegeben ist. Art. 18 EMRK betrifft den Fall, dass eine „Meinung“ vorliegt und diese zu einem illegitimen Zweck beschränkt bzw. verboten wird, weil sie zum Beispiel politisch nicht gewollt ist. Art. 18 EMRK regelt nur den Fall, dass der Schutzbereich betroffen ist, weil ein Schutzgegenstand des Art.  10 I EMRK gegeben ist. Die Bestimmung kann aus diesem Grund nicht herangezogen werden, um gerade diesen Schutzgegenstand und seine Grenzen zu definieren. Wenn die Anwendung der Regelung voraussetzt, dass der Schutzbereich des Grundrechts betroffen ist, kann sie nicht systematisches Argument dafür sein, dass es keine Grenze im Schutzbereich gibt. Art. 18 EMRK kann zur Auslegung des Art. 10 I EMRK insofern nicht beitragen. Teilweise wird mit dem Umstand, dass die EMRK keine Garantie einer allgemeinen Handlungsfreiheit enthält, begründet, dass die Schutzbereiche der Rechte der Konvention grundsätzlich eng auszulegen seien.603 Hieraus kann, soweit man dieser Argumentation folgen möchte, ein Argument dafür gewonnen werden, „Hassreden“ außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit zu sehen. Andererseits könnte man aber auch die Ansicht vertreten, dass in einem Grundrechtskatalog, der keine allgemeine Handlungsfreiheit garantiert, gerade das Gegenteil anzunehmen sei. In einem Grundrechtskatalog, in dem es ein Auffanggrundrecht gibt, führt der Umstand, dass ein Verhalten nicht im Schutzbereich der Spezialfreiheit liegt, prima facie dazu, dass zwar die Spezialgewährleistung nicht greift, das Auffanggrundrecht davon aber unberührt bleibt und zumindest einen gewissen – wenn auch geringeren – Freiheitsschutz gewährt. In einem System ohne eine solche Auffangfreiheit würde jegliche grundrechtliche Sicherung entfallen, weshalb im Sinne eines effektiven Menschenrechtsschutzes von einem weiteren Schutzbereichsverständnis bei den „Spezialgrundrechten“ auszugehen sein könnte. Der Umstand, ob ein Grundrechtskatalog ein Auffanggrundrecht enthält, ist kein überzeugendes Argument für die Auslegung der Schutzbereiche der speziellen Freiheiten wie der Meinungsfreiheit. Gegen die Annahme, dass die Äußerung schon nicht im Schutzbereich des Grundrechts liegt, könnte sprechen, dass die ausdrücklichen Schrankenvorbehalte umgangen werden. Insbesondere die abschließende Aufzählung legitimer Ziele in Art. 10 II EMRK würde ihrer Wirkung entkleidet. Liegt eine Äußerung nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK, greift Art. 10 II EMRK nicht ein und ein staatliches Verbot der Äußerung könnte, ohne, dass es zu einer Konventionswidrigkeit der Maßnahme führen würde, Ziele verfolgen, die nicht in Art. 10 II EMRK genannt werden. Dieses Argument gleicht jenem der Umgehung wichtiger rechtsstaatlicher Sicherungsmechanismen. Das spezifische systematische Argument resultiert aber gerade daraus, dass die Aufzählung in Art. 10 II EMRK abschließend ist. Die Tatsache, dass die Konvention in der Beschränkungsklausel zu Art. 10 I EMRK, nämlich Art.  10 II EMRK, eine abschließende Aufzählung legitimer staatlicher

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Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 68.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Interessen enthält, muss im Wege systematischer Auslegung des Art. 10 I EMRK dazu führen, dass die Äußerung im Schutzbereich der Meinungsfreiheit zu sehen ist. Das Ziel der abschließenden Aufzählung würde ansonsten verfehlt. Der Staat unterläge keiner Rechtfertigungslast, dass sein Handeln einem der von der Konvention zugelassenen staatlichen Interessen dient. Auf diese Weise würde die souveränitätsbeschränkende Regelung des Art. 10 II EMRK mit seiner Aufzählung der legitimen Ziele aufgeweicht. Dies wiederum würde dem Zweck der EMRK, einem effektiven Menschenrechtsschutz, zuwiderlaufen. Der abschließende Charakter der Aufzählung der legitimen Ziele einer staatlichen Beschränkung in Art.  10 II EMRK spricht systematisch dafür, dass „Hassreden“ im Schutzbereich des Art. 10 EMRK liegen. c) Historische Auslegung Zwar lässt sich aus den Materialien zur EMRK erkennen, dass man bei Schaffung der Konvention die Grenzen der Möglichkeiten zur Beschränkung des Art. 10 EMRK nicht leichtfertig überspielt sehen wollte.604 Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass „Hassreden“ im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen. Die Entstehungsgeschichte der EMRK zeigt, dass totalitären und demokratiefeindlichen Strömungen gerade entgegengewirkt werden sollte.605 Daraus, dass sich die Konventionsväter grundsätzlich zur Verteidigung der Völker gegen totalitäre und diktatorische Tendenzen durch die Garantie der Menschenrechte in der EMRK bekannt haben, kann auch nicht geschlossen werden, dass demokratiefeindliche Äußerungen nicht vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst sind. Diesem Bekenntnis wird es ebenso gerecht, wenn die Äußerungen keinen endgültigen Grundrechtsschutz genießen, weil ihre Beschränkung gerechtfertigt ist. Da es keine ausführlichen Beratungen und Diskussionen um Art. 10 I EMRK gab, kann aus den Travaux Préparatoires nicht geschlossen werden, ob „Hassreden“ und demokratiefeindliche Äußerungen in Schutzbereich der Meinungsfreiheit eingeschlossen sein sollten.606 Außerdem stellt die historische Auslegung ohnehin nur ein ergänzendes Auslegungsmittel dar und eignet sich nicht zur alleinigen Entscheidung darüber, ob ein Verhalten in den Anwendungsbereich einer Garantie der EMRK fällt, wenn andere Auslegungsmethoden zu einem abweichenden Ergebnis kommen.607 Die Entstehungsgeschichte der EMRK zeigt zwar deutlich, dass die Konvention Äußerungen mit totalitärem Charakter grundsätzlich entgegengerichtet werden sollte; eine konkrete dogmatische Konsequenz daraus ist den Materialien aber nicht zu entnehmen.

Travaux Préparatoires, Vol. IV, S. 8 ff. Travaux Préparatoires, Vol. V, S. 332; Travaux Préparatoires, Vol. I, S. 192; siehe hierzu bereits oben Kapitel 4, A., I., 2., a), iii. 606 Vgl. Kühling, Kommunikationsfreiheit, S. 134. 607 Vgl. Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 13 ff.; hierzu EGMR, 8. 11. 2016, Magyar Helsinki Bizottság ./. Ungarn, Nr. 18030/11, Z. 125. 604 605

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 317

d) Teleologische Auslegung Zu den Argumenten aus Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte der EMRK treten teleologische Auslegungsgesichtspunkte, die dafür sprechen, „Hassreden“ in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit einzubeziehen. Die liberale Zielsetzung des Art.  10 I EMRK legt eine weite Konzeption des Schutzbereichs nahe.608 Die Bestimmung dient, wie auch die EMRK insgesamt, der Gewährleistung eines möglichst effektiven Grund- und Menschenrechtsschutzes.609 Das Menschenrechtsverständnis der Konvention ist von einer liberalen Grundrechtsauffassung geprägt.610 Die Freiheit des Einzelnen wird nicht zur Erreichung der Ziele einer Volks- oder sonstigen Gemeinschaft, sondern um der freien Entfaltung der Persönlichkeit willen, gewährt.611 Die Bestimmung des Schutzbereichs muss aus dieser Funktion des Grundrechts heraus, freiheitsadäquat, erfolgen.612 In diesem Sinne ist auch das von der EMRK angenommene Verhältnis zwischen vorstaatlicher Freiheit und staatlicher Gewährleistung anzuführen, aus dem sich begründen lässt, dass der Schutzbereich der Garantien in der EMRK umfassend zu verstehen ist und dass er nicht von den Mitgliedstaaten zu definieren ist, sondern vielmehr von der Konvention vorgegeben wird. Nach der Konzeption der EMRK liegen die Menschenrechte dem Staat voraus und sind überpositiv. Dieser vorstaatliche Charakter kann damit begründet werden, dass die Präambel der EMRK auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) verweist. Dieser Verweis auf die AEMR – die in ihrem Art. 1 erklärt, dass alle Menschen von Geburt an mit Rechten ausgestattet sind, die durch die Staaten lediglich anerkannt werden – zeigt, dass die EMRK von der Prämisse ausgeht, dass die Menschenrechte nicht erst durch den Staat gewährt werden, sondern jedem Menschen unabhängig davon, ob es eine staatliche Gewährleistung von Grundrechten gibt, zustehen.613 Der Staat schützt diese Rechte des Einzelnen durch seine Regelungen, er schafft sie aber nicht. Jedes menschliche Verhalten ist grundsätzlich als Grundrechtsbetätigung zu qualifizieren und muss prima facie als geschützt angesehen werden.614 Dem entspricht eine grundsätzlich weite Schutzbereichsinterpretation.615 Von dieser Prämisse ist bei der Auslegung der Bestimmung im Einzelnen auszugehen. Man könnte nun argumentieren, der Rechtsunterworfene könne besser vorhersehen, ob und in welchem Umfang sein Verhalten grundrechtlich (nicht) geschützt 608 Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 56; Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 107; Peters/ Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 9 Rn. 3. 609 EGMR, 9. 10. 1979, Airey ./. Irland, Nr. 6289/73, Z. 24; Klamt, Streitbare Demokratie, S. 263; Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 107. 610 Hailbronner, in: FS Mosler, S. 359, 369. 611 Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, S. 303. 612 Gärditz, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, § 4 Rn. 35. 613 Ress, in: GS Burmeister, S. 316. 614 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 509. 615 Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 3 Rn. 2; Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 107.

318

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

ist, wenn „Hassreden“ nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit lägen. Dem rechtsstaatlichen Erfordernis der Vorhersehbarkeit staatlicher Befugnisse sei besser gedient, wenn das Grundrecht so interpretiert würde, dass die Äußerungen schon nicht in den Schutzbereich fallen. Der Betroffene könne die Grenzen seiner Meinungsäußerungsfreiheit besser erfassen, da der Ausgang der Grundrechtsbeschwerde schwieriger vorherzusehen sei, wenn die Äußerung in den Schutzbereich einbezogen werde und die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs geprüft werden müsse.616 Dem ist entgegenzuhalten, dass es ebenso große Unsicherheiten für den Rechtsunterworfenen birgt, wenn auf Ebene des Schutzbereichs diffuse und vage Kriterien angewendet werden, um zu entscheiden, ob eine Äußerung im Schutzbereich des Grundrechts liegt.617 Bei der Entscheidung, ob der Schutzbereich des Grundrechts im Einzelfall für eine Äußerung greift oder nicht, müssen bestimmte Kriterien angewendet werden. Es ist nicht vermeidbar, dass diese Kriterien vage und offen formuliert werden. Sie müssen unterschiedliche Sachverhalte erfassen und allgemeingültige Kategorien beschreiben, um als Kriterien, die wiederholt verwendet werden können, tauglich zu sein. Im Ergebnis wird die Entscheidung auf der Ebene des Schutzbereichs dann mindestens ebenso wenig vorhersehbar wie die Beurteilung der Rechtfertigung eines Eingriffs im Einzelfall. Die Ausnahme der Äußerungen aus dem Schutzbereich ist jedenfalls nicht besser geeignet, die Entscheidung vorhersehbar zu machen. Vielmehr enthält Art.  10 II EMRK, der Grundlage für die Beurteilung der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs ist, im Gegensatz zu Art. 10 I EMRK in seinem Wortlaut die Kriterien der gesetzlichen Grundlage, der abschließend aufgezählten legitimen Ziele und der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft, die für den Rechtsunterworfenen zumindest ansatzweise vorhersehbar machen, welche Anforderungen an das staatliche Verhalten gestellt werden und nach welchen Gesichtspunkten über seinen Grundrechtsschutz entschieden wird.618 Vor diesem Hintergrund ist die Prüfung der Rechtfertigung als vorhersehbarer zu beurteilen, weil die Schrankenklausel hier zumindest im Wortlaut der Bestimmung Anhaltspunkte enthält, nach welchen Gesichtspunkten entschieden wird. Auf Schutzbereichsebene muss auch in jedem Einzelfall entschieden werden, ob die konkrete Äußerung in diesen hineinfällt oder nicht. Da Art.  10 I EMRK hierzu keine näheren Angaben enthält, kann der Rechtsunterworfene zumindest nicht aus dem Wortlaut der Bestimmung erkennen, welche Kriterien herangezogen werden. Ein weiteres Argument, demokratiefeindliche Äußerungen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK einzubeziehen, erwächst daraus, dass es notwendig ist, die fragliche Äußerung nicht aus ihrem Kontext herauszulösen.

616

Vgl. hierzu Van der Sloot, Maastricht Journal of European and Comparative Law 2016, 439, 448.

617

Bezemek, Von Bildern und Symbolen, S. 137, 143.

Oetheimer, Cardozo Journal of International and Comparative Law 2009, 427, 441; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 208; Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 54 Rn. 3.

618

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 319

Jede Äußerung wird in einem bestimmten Kontext getätigt, der von zahlreichen unterschiedlichen Komponenten geprägt wird und der die Bedeutung, Wahrnehmung und Wirkung der Äußerung entscheidend beeinflussen kann. Die Wahrnehmung der Äußerung durch Dritte und ihre dadurch ausgelöste Wirkung dürfen aber nicht unerheblich für ihren grundrechtlichen Schutz sein. Derselbe Wortlaut kann, in zwei unterschiedlichen Kontexten geäußert, eine andere Wirkung erzielen. Faktoren wie Ort, Zeit, Auditorium, Publikum, die Person des Äußernden, ihre Sprache und ihre Intonation spielen ebenso eine Rolle wie die momentane gesellschaftliche oder politische Stimmung, aktuelle Ereignisse oder die Reaktion des Publikums. Alle diese Umstände des Kontexts einer Äußerung müssen in jedem Einzelfall erörtert, zueinander in Beziehung gesetzt und in Bezug auf ihren Einfluss darauf, wie die Äußerung letztlich auf die Außenwelt wirkt, bewertet werden. Nur auf diese Weise kann beurteilt werden, ob eine Äußerung Schutz verdient, oder ob sie die demokratische Ordnung gefährdet und deshalb grundrechtskonform verboten oder beschränkt werden darf. Eine präzise und individuell an die jeweiligen Umstände des Kontexts angepasste Entscheidungsfindung ist notwendig, um effektiven Menschenrechtsschutz zu gewährleisten.619 Art.  10 II EMRK enthält im Vergleich zu anderen Konventionsgarantien eine sehr differenzierte und umfassende Schrankenbestimmung.620 Der hohe Differenzierungsgrad der Regelung macht es möglich, das Spannungsverhältnis zwischen einer möglichst umfassenden Gewährleistung von Meinungsfreiheit und einem effektiven Schutz demokratischer Werte und anderer schutzwürdiger Güter der Allgemeinheit und des Einzelnen im Einzelfall sachgerecht zu beurteilen.621 Insbesondere die Methode der Abwägung der widerstreitenden Interessen im konkreten Fall ermöglicht eine solche kontextsensible Erörterung aller Umstände um die konkrete Äußerung und erlaubt eine differenzierte Entscheidung.622 So kann den Besonderheiten des Kontexts der Äußerung hinreichend Rechnung getragen werden, weil bei der Abwägung alle situationsspezifischen Faktoren berücksichtigt

Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 204; Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, S. 428; Mahlmann, ZEuS 2000, 440; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), S. 299 Rn. 112; vgl. Sporn, ZUM 2000, 537, 544. 620 Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 25. 621 Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 26. 622 Vgl. ebenso: Pech, The Law of Holocaust Denial in Europe, S. 34; Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 622; Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 190; Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203, 228; Volkmann, JZ 2005, 261, 267; a. A. Van der Sloot, Maastricht Journal of European and Comparative Law 2016, 439, 457 ff., der davon ausgeht, die Abwägungsmethode werde so intensiv genutzt, dass man von der Verschiebung von einem deontologischen Ansatz zu einem ulititaristischen Ansatz in der Rechtsprechung des EGMR ausgehen könne; nach diesem utilitaristischen Ansatz sei jedes Prinzip relativ und es komme nur noch darauf an, ob eine staatliche Handlung mehr schade als sie nütze, um zu entscheiden, ob sie vermieden werden müsse; einem utilitaristischen und instrumentalistischen Ansatz sollten Menschenrechte ihrer Natur nach aber gerade entgegenstehen; der Grund- und Menschenrechtsschutz verliere dadurch seine Schlagkraft gegenüber der übrigen Rechtsordnung. 619

320

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

und die Besonderheiten einer bestimmten Konstellation präzise in die Beurteilung einbezogen werden.623 Auf diesem Weg kann jede Einzelsituation auf der Schrankenebene flexibel gehandhabt und sachgerecht entschieden werden.624 Für eine sachgerechte Beurteilung im Sinne eines möglichst effektiven Menschenrechtsschutzes müssen auch sich wandelnde gesellschaftliche Kontexte berücksichtigt werden.625 Dies gelingt aber nicht, wenn die Äußerung nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit gesehen wird. Die sich verändernden tatsächlichen Entwicklungen ökonomischer, gesellschaftlicher, technischer oder wissenschaftlicher Art, die den Kontext der Äußerung bestimmen, können dann streng genommen nicht einbezogen werden.626 Eine Änderung der „present day conditions“ in diesem Sinne ist keine Änderung im Normenbestand, sondern bedeutet eine Entwicklung der tatsächlichen zu subsumierenden Bedingungen des Kontexts der Äußerung, auf die die Bestimmung nur verweist.627 Anders gewendet: Die Entwicklungen führen nicht zu einer veränderten Auslegung der Begriffe der Konvention, sondern zur Änderung des zu subsumierenden Sachverhalts. Art.  10 EMRK verweist erst in Art.  10 II EMRK auf die tatsächlichen Gegebenheiten des Kontexts der Äußerung. Die Prüfung der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs ist der Punkt, an dem es die statischen Grundrechtsbestimmungen zulassen, dynamische tatsächliche Entwicklungen der Wirklichkeit in Bezug auf den Kontext der Äußerung zu verarbeiten.628 Dies ist deshalb der Fall, weil die Rechtfertigungsprüfung einer Methode der Entscheidungsfindung zuzuordnen ist, die – im Gegensatz zu jener bei Interpretation des Schutzbereichs – „grundrechtsdogmatische Scharnierstelle zur Verarbeitung von außerrechtlichen tatsächlichen Vorgängen realer Natur“ ist.629 Die Abwägung ist als Methode geeignet, tatsächliche Erwägungen des Einzelfalls sowie Kontextelemente einzubeziehen, während dies bei der Bestimmung des Schutzbereichs fehlt. Die relevanten tatsächlichen Umstände der Äußerung werden erst auf Ebene der Rechtfertigung im Vorgang der Abwägung der widerstreitenden Interessen in Bezug genommen; deshalb können auch ihre Veränderungen erst und nur dort berücksichtigt werden. Maßnahmen gegen ein und dieselbe Äußerung können unter geänderten gesellschaftlichen Bedingungen als notwendig oder umgekehrt nicht mehr notwendig

Cohen-Jonathan, in: Mélanges Dubouis, S. 539 f. Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 26; Walter, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, § 12 Rn. 13; Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S.  183, 184; Schiedermair, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art.  10 Rn. 29; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 5; Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), EMRK, Art. 10 Rn. 6. 625 Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD I, § 4, S. 129. 626 Gärditz, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, § 4 Rn. 38. 627 Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 28. 628 Gärditz, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, § 4 Rn. 37; vgl. hierzu aber Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 95, S. 1720 ff.; Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 28. 629 Vgl. Lepsius, in: Schulze-Fielitz (Hrsg.), Staatsrechtslehre als Wissenschaft, S. 319, 352. 623 624

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 321

angesehen werden.630 Das Gewicht der widerstreitenden Interessen, der rechtfertigenden Gründe oder die Schwere des Eingriffs können sich verändern. Dies ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Nimmt man an, Hassreden lägen gar nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit, kann es nicht gelingen, gesellschaftliche Entwicklungen und sich wandelnde tatsächliche Umstände in die Beurteilung des grundrechtlichen Schutzes der Äußerung einzubeziehen, weil man dann nicht zur Subsumtion der tatsächlichen Umstände des Kontexts gelangte und notwendig auch ihre Veränderungen nicht berücksichtigen könnte. Es ist aber von besonderer Wichtigkeit für einen sachgerechten Grundrechtsschutz, sich verändernde gesellschaftliche Entwicklungen nicht außer Acht zu lassen. Andernfalls drohte eine Diskursverengung,631 der es an der für einen effektiven Grundrechtsschutz notwendigen Kontextsensibilität und Elastizität fehlte. Das im Rahmen des Art.  17 EMRK vorgebrachte Argument, die Subsumtion unter die Kriterien des Anwendungsbereichs der „Missbrauchsklausel“ ermögliche eine der Abwägung auf Ebene der Rechtfertigungsprüfung vergleichbare kontextsensible Prüfung, gilt hier nicht. Der Wortlaut des Art.  10 I EMRK enthält – im Gegensatz zu Art. 17 EMRK – keine ausdrücklichen Kriterien, nach denen entschieden werden könnte, ob eine Äußerung innerhalb oder außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit liegt.632 Diese Überlegungen werden durch praktische Erwägungen gestützt. Eine strukturierte Rechtfertigungsprüfung hat rationalisierende Wirkung.633 Die ausdrücklichen Vorgaben des Art. 10 II EMRK hegen die staatliche Maßnahme ein. Die Mitgliedstaaten werden durch die konventionsrechtlichen Anforderungen daran gehindert, den grundrechtlichen Schutz unbegründet zu versagen und sie können sich nicht auf vorschnelle Begründungssurrogate zurückziehen.634 Die Mitgliedstaaten werden gezwungen, ihre beschränkenden Maßnahmen zu begründen und rechtsstaatlich abzusichern, weil sie damit rechnen müssen, dass die staatliche Handlung am Maßstab der Rechtfertigungskriterien nach Art. 10 II EMRK überprüft wird.635 Der Nachprüfung durch Art. 10 II EMRK kommt so eine gewisse Vorwirkung zu, weil die Mitgliedstaaten potenziell dazu veranlasst werden, grundrechtsbeschränkende Maßnahmen nur durchzuführen, wenn sie sie – zumindest prima facie – konventionskonform begründen und rechtfertigen können. Exzesse der Mitgliedstaaten können auf diese Weise zurückgedrängt werden.636 Für eine Interpretation des Schutzbereichs gibt es keine vergleichbaren Anhaltspunkte im Text der Bestimmung.

Hierzu und zum Folgenden Grabenwarter, Verfahrensgarantien, S. 28. Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 191. 632 Vgl. hierzu aber Parekh, in: Herz/Molnar (Hrsg.), The Content and Context of Hate Speech: Rethinking Regulation and Responses, S. 37, 40; vgl. auch Parekh, Public Policy Research 2005/6, 213. 633 Gärditz, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, § 4 Rn. 35; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 189 f. 634 Kontopodi, Verbot politischer Parteien, S. 32; Lobba, EJIL 26 (2015), 237, 242. 635 Kučs, Journal of Ethnic and Migration Studies 2014, 301, 313. 636 Kirchner, Brazilian Journal of International Law 2015, 416, 421. 630

631

322

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Geht man davon aus, dass „Hassreden“ außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit liegen, entfällt nicht nur die Abwägung der widerstreitenden Interessen und damit die kontextsensible Beurteilung der Äußerung. Die staatliche Maßnahme stellt dann keine Grundrechtsbeschränkung dar und muss infolgedessen auch nicht nach Art.  10 II EMRK auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen und kein legitimes Ziel im Sinne der abschließenden Aufzählung des Schrankenvorbehalts verfolgen.637 Diese Anforderungen an eine Maßnahme, die die grundrechtliche Freiheit eines Einzelnen betrifft, sind zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit aber besonders relevant.638 Dasselbe gilt für die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne.639 Nimmt man an, dass eine „Hassrede“ nicht im Schutzbereich des Grundrechts liegt, würde die Höhe einer für die „Hassrede“ verhängten Strafe, unerheblich. Dann könnte, ohne dass es einen Konflikt mit den Standards der EMRK bedeuten würde, eine lebenslange Freiheitsstrafe für eine Äußerung verhängt werden. Es kann jedoch selbst dann konventionswidrig sein, eine sehr hohe Strafe zu verhängen, wenn die Verhängung einer Strafe per se konventionskonform wäre. Eine Äußerung, die außerhalb des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK liegt, könnte – jedenfalls bis zur Grenze des Art. 3 EMRK – mit einer beliebigen Strafhöhe belegt werden, ohne dass dies konventionswidrig wäre. Nur noch Extremfälle der Unverhältnismäßigkeit der Strafe würden über Art.  3 EMRK erfasst. Staatliche Exzesse in Bezug auf die Höhe der Strafe für eine „Hassrede“ würden bis zur sehr hohen Schwelle des Art. 3 EMRK nicht zur Konventionswidrigkeit der Maßnahme führen. Weiter spricht auch der Aspekt der Beweislastverteilung dagegen, „Hassreden“ außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit zu sehen. Liegt eine Äußerung im Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie, obliegt die Beweislast dem Mitgliedstaat, der darlegen muss, warum der Eingriff den Anforderungen des Schrankenvorbehalts in Art. 10 II EMRK genügt und gerechtfertigt ist. Anders gewendet: Der Mitgliedstaat muss zeigen, dass es ein dringendes soziales Bedürfnis für die Beschränkung der Meinungsfreiheit gibt.640 Gelingt ihm dies nicht, muss davon ausgegangen werden, dass eine Verletzung des Grundrechts vorliegt.641 Eine andere Beweislastverteilung widerspräche einem effektiven Menschenrechtsschutz und einer teleologischen Auslegung des Art. 10 I EMRK.642 Teilweise wird ein außerrechtliches Argument angeführt, um zu begründen, dass „Hassreden“ nicht in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit einbezogen werden

Vgl. ebenso: Hinghofer-Szalkay, JRP 2012, 106, 113. Vgl. ebenso: De Gouttes, in: Mélanges Pettiti, 251; Wachsmann, RTDH 2001, 585, 594; Frowein, in: Frowein/Peukert (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 4; Velu/Ergec, Convention européenne des droits de l’homme, Rn. 197 f. 639 Siehe hierzu bereits Kap. 4, A., II, 1., d). 640 Keane, NQHR 2007, 641, 656. 641 Die Gegenargumente, die im Rahmen des Art. 17 EMRK in diesem Zusammenhang angeführt wurden, gelten hier nicht, weil keine Bestimmung zugunsten des Staats vorhanden ist, deren Voraussetzungen von staatlicher Seite bewiesen werden müssten (siehe hierzu Kapitel 4, A., I., 3., a), ii., (5)). 642 Ebenso Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 82 f. 637 638

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 323

sollten. Es hätte eine gewisse Symbolkraft, „Hassreden“ bereits außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit zu verorten; eine Interpretation, die die Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs sieht, könnte signalisieren, dass Grundrechten und demokratischen Grundwerten überragende Bedeutung zugemessen wird und zugemessen werden muss.643 Allerdings darf auch die Gefahr nicht unterschätzt werden, dass Mitgliedstaaten dieser Interpretation des Grundrechts die Botschaft entnehmen könnten, dass Maßnahmen, die sich gegen Äußerungen Einzelner richten, einer wenigen strengen europäischen Kontrolle unterzogen werden, wenn sich der Mitgliedstaat darauf beruft, demokratische Werte zu verteidigen.644 Darin liegt ein relevantes Missbrauchspotenzial. Die beschriebene Signalwirkung kann deshalb nicht rechtfertigen, den Schutzbereich des Art. 10 EMRK so zu interpretieren, dass „Hassreden“ nicht erfasst werden. e) Zwischenergebnis zur Auslegung des Art. 10 I EMRK Im Ergebnis ergibt die Auslegung des Art.  10 I EMRK, dass „Hassreden“ und andere demokratiefeindliche Äußerungen im Schutzbereich der Garantie der Meinungsfreiheit liegen. Hierfür sprechen insbesondere teleologische Auslegungserwägungen. Weder über den Grundrechtsmissbrauch noch aus Art.  10 I EMRK selbst kann begründet werden, dass der Schutzbereich des Art.  10 EMRK so zu interpretieren ist, dass er „Hassreden“ nicht erfasst. Demokratiefeindliche Äußerungen sind „Meinungen“ im Sinne des Art.  10 I EMRK und somit geschütztes Verhalten. 2. „Hassreden“ als „Meinung“ im Sinne des Art. 11 I GRC Nach den Erläuterungen zur GRC entspricht Art.  11  GRC der Bestimmung des Art. 10 EMRK. Nach Art. 52 III GRC hat Art. 11 GRC daher die gleiche Bedeutung und Tragweite wie das durch die EMRK garantierte Recht. Die Auslegung des Art. 11 I GRC muss für die hier gestellte Frage zum gleichen Ergebnis kommen wie es für Art.  10 I EMRK erzielt wurde. Im spezifischen unionsrechtlichen Kontext bedeutete dies auch, dass die Rechtsprechung nicht damit belastet wäre, die Freiheitsausübung auf Tatbestandsebene nach gemeineuropäischen Wertungsstandards zu objektivieren.645 „Hassreden“ und andere demokratiefeindliche Äußerungen liegen auch im Schutzbereich des Art. 11 I GRC.

643 Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S.  183, 204; Bezemek, Von Bildern und Symbolen, S. 137, 143; Schiedermair, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 10 Rn. 29. 644 Kučs, Journal of Ethnic and Migration Studies 2014, 301, 312. 645 Gärditz, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, § 4 Rn. 39.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

3. „Hassreden“ als „Meinung“ im Sinne des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG In Art. 5 I 1 Alt. 1 GG existieren im Verfassungswortlaut anders als bei Art. 8 I GG keine geschriebenen Einschränkungen des Schutzbereichs. Die Verfassung kennt auch keine andere Bestimmung, abgesehen von dem bereits erörterten Art. 18 GG, die den Schutzbereich von außen begrenzen würde, wie dies zum Beispiel Art. 5 III 2 GG oder Art. 16 a II 1 GG auf unterschiedliche Weise für bestimmte Grundrechte tun.646 Daher muss hier ermittelt werden, ob sich ungeschriebene Einschränkungen des Schutzbereichs für demokratiefeindliche Äußerungen interpretatorisch bzw. konkretisierend647 ermitteln lassen. a) Wortlautauslegung Im Wortlaut des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG wird, ebenfalls vergleichbar zu den europäischen Grundrechtsbestimmungen, der Begriff der „Meinung“ gebraucht. Dieser ist zentral für die Bestimmung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit.648 Hierunter versteht man nach allgemeinem Sprachgebrauch eine „persönliche Ansicht, Überzeugung, Einstellung o. Ä., die jemand in Bezug auf jemanden, etwas hat (und die sein Urteil bestimmt)“.649 Eine „Meinung“ ist jede eigene Ansicht, Beurteilung, Auffassung oder Einschätzung, die ein Individuum über einen Gegenstand gewinnt. Die eigene „wertende Stellungnahme“ ist das entscheidende Element.650 Der Wortlaut erfasst jedes gedanklich von einem subjektiven Dafürhalten gekennzeichnete Verhalten, das auf etwas oder jemanden gerichtet ist. Eine „Meinung“ ist durch eine subjektive Beziehung der betreffenden Person zum Inhalt ihrer Aussage charakterisiert.651 Irrtümer sind darin inbegriffen.652 Dieser Wortsinn erfasst Stellungnahmen unabhängig davon, auf welchen Gegenstand sie sich beziehen und welchen Inhalt sie haben.653 Meinungen in diesem Sinn sind keinem empirischen Beweis zugänglich.654 Hellhammer-Hawig, Neonazistische Versammlungen, S. 54. Zur Qualifizierung der Verfassungsinterpretation als Konkretisierung statt vieler Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 60; Ossenbühl, NJW 1976, 2100, 2106. 648 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 46. 649 Munzinger Online/Duden – Deutsches Universalwörterbuch; siehe ebenso BVerfGE 7, 198, 210; BVerfGe 61, 1, 8; BVerfGE 90, 241, 247; BVerfGE 124, 300, 230; vgl. hierzu Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 47. 650 Schmidt-Jortzig, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, §  162 Rn.  20; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art.  5 Rn.  25; Von der Decken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Art. 5 Rn. 3; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 62; Starck/Paulus, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 5 Rn. 73. 651 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  5 Rn.  47; Starck/Paulus, in: V. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 5 Rn. 73; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 62. 652 Arndt, BayVBl. 2002, 653, 654. 653 Arndt, BayVBl. 2002, 653, 654; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 47; SchmidtJortzig, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 162 Rn. 20; Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, S. 32; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 62; Starck/Paulus, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 5 Rn. 74; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 25; Antoni, in: Hömig/Wolff (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 4; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 5. 654 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 47. 646 647

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 325

Teilweise wird angenommen, bereits der Wortlaut des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG schließe Tatsachenbehauptungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus.655 Hierin könnte ein Ansatzpunkt dafür liegen, dass revisionistische Äußerungen, die sich auf die Leugnung historischer Ereignisse konzentrieren, nicht vom Schutzbereich erfasst sind.656 Darüber hinaus ergibt die Wortlautauslegung keine Hinweise darauf, ob „Hassreden“ im grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen. b) Systematische Auslegung Die einzelne Verfassungsbestimmung kann nur im Kontext des gesamten Grundgesetzes verstanden werden.657 Im Wege eines Umkehrschlusses könnte die ausdrückliche Grenze des Schutzbereichs in Art. 8 I GG und das Fehlen einer solchen in Art.  5 I 1 Alt.  1  GG argumentativ herangezogen werden, um zu begründen, dass der Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfassend zu interpretieren ist und demokratiefeindliche Äußerungen deshalb im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen.658 Dies könnte angenommen werden, weil in Anbetracht des Vergleichs zwischen Art.  8 I GG und Art.  5 I 1 Alt.  1  GG die Vermutung nahe liegt, dass der Verfassungsgeber hier bewusst davon abgesehen hat, den Schutzbereich einzuschränken. Ansonsten hätte er wie in Art. 8 I GG den Wortlaut anders formuliert.659 Dies würde für eine weite Auslegung und einen umfassenden Schutz des Lebensbereichs „Kommunikation“ sprechen.660 Hiergegen ist aber einzuwenden, dass der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes nicht Ergebnis einer streng systematischen Gesetzgebung, sondern einer zumindest in Teilen bruchstückhaften Zusammenstellung von Bekenntnissen ist,661 die der Parlamentarische Rat zum Ausdruck bringen wollte. Zwar sind gewisse systematische Verbindungen vorhanden, jedoch darf dies nicht im Sinne einer verlässlichen, geschlossenen Systematik verstanden werden. Mit systematischen Argumenten ist infolgedessen vorsichtig umzugehen.662 Ein

So Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), 5, 15, 93, der davon ausgeht, Art. 5 I GG sei Nachfolgevorschrift des Art. 118 der Weimarer Reichsverfassung, der nach seinem Wortlaut den Schutz von Tatsachenbehauptungen ausgeschlossen habe. Deshalb müsse dies auch für Art.  5 I GG gelten. Eine Wortlautauslegung führe zu einem Ausschluss von Tatsachenbehauptungen; vgl. hierzu Von der Decken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Art. 5 Rn. 3a. 656 Vgl. Hochmann, Le négationnisme, S.  82; Determann, Kommunikationsfreiheit im Internet, S. 422; hierzu ausführlich unten Kapitel 4, B., II., 2., c. 657 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 268, Rn. 53. 658 So Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 214. 659 Bei dem Erfordernis der „Friedlichkeit“ in Art. 8 I GG handelt es sich um eine Schutzbereichsgrenze (Jarass, AöR 120 (1995), 345, 370). 660 Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 214; anders Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S.  129  f., der davon ausgeht, der Wortlaut von Grundrechtsbestimmungen lasse sich grundsätzlich nicht für oder gegen Begrenzungen des Schutzbereichs anführen. 661 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 268 Rn. 53; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 96, S. 1839 ff. 662 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 300 ff. 655

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Umkehrschluss als systematisches Auslegungsargument ist keinesfalls ohne Einschränkung möglich. Hierin liegt aus diesen Gründen kein starkes Argument gegen Grenzen des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit. Ein systematisches Argument dagegen, den Schutzbereich zu begrenzen, folgt aus der Schrankensystematik des Grundgesetzes. Die Bedeutung der Gesetzesvorbehalte würde erheblich geschmälert, wenn man bereits davon ausginge, dass der grundrechtliche Schutzbereich nicht umfassend ist. Art. 5 II GG regelt die Möglichkeiten staatlicher Beschränkungen der Meinungsäußerungsfreiheit. Diese Bestimmung würde in ihrer den Staat begrenzenden Funktion konterkariert, ginge man von einem Ausschluss demokratiefeindlicher Äußerungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus.663 Die differenzierte Schrankenregelung würde nivelliert, schlösse man bestimmte Verhaltensweisen nach vagen Kriterien bereits aus dem grundrechtlichen Schutzbereich aus. Die unterschiedlich ausgestalteten Gesetzesvorbehalte sind Ergebnis einer verfassungsgeberischen Abwägung der einzelnen Grundrechte mit kollidierenden Belangen in Bezug auf die unterschiedlichen Gefährdungssituationen. Der Verfassungsgesetzgeber hat auf allgemeine Schrankenklauseln verzichtet und die einzelnen Grundrechtsgarantien mit spezifischen Schrankenregelungen ausgestattet. Dieses differenzierte System darf nicht durch pauschale Begrenzungen der Schutzbereiche bzw. einen Rückgriff auf die allgemeine Handlungsfreiheit umgangen werden.664 Da es sich bei Art. 5 I 1 Alt. 1 GG nicht um ein vorbehaltloses Grundrecht, sondern um ein solches mit qualifiziertem Gesetzesvorbehalt handelt, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass – dies wird teilweise in der Literatur vertreten –665 die Vorbehaltlosigkeit ein Indiz für eine von vornherein bestehende, tatbestandliche Einschränkung des Schutzbereichs ist. Diese Überlegung spricht dafür, „Hassreden“ und demokratiefeindliche Äußerungen in den Schutzbereich des Grundrechts einzubeziehen. Im System des Grundgesetzes liegt eine systematische Besonderheit vor, die sich in der EMRK nicht findet. Das Grundgesetz kennt in Art. 2 I GG eine allgemeine Handlungsfreiheit als Auffanggrundrecht. Hieraus könnten sich systematische Argumente für die Auslegung des Schutzbereichs des Spezialgrundrechts des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG ergeben. Die Konzeption der allgemeinen Handlungsfreiheit könnte ein Faktor sein, der beeinflusst, wie mit der Frage nach dem Umfang des Schutzbereichs bei den speziellen Freiheitsrechten umzugehen ist.666 Teilweise wird vertreten, die allgemeine Handlungsfreiheit spreche dagegen, die Anwendungsbereiche der Freiheitsrechte im Interesse des effektiven Schutzes der

Vgl. Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 179; Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S.  132; Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102 Rn. 40. 664 Schaefer, Grundlagen einer ordoliberalen Verfassungstheorie, S. 145 f.; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 81; Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 137. 665 Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 200 Rn. 21. 666 Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 486; Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 191; vgl. hierzu Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 146 f. 663

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 327

individuellen grundrechtlichen Freiheit tendenziell weit auszulegen.667 Der grundrechtliche Schutz einer Äußerung entfällt nicht vollständig, wenn man Art.  5 I 1 Alt.  1  GG restriktiv interpretiert und eine „Hassrede“ nicht von diesem umfasst ansieht, weil die allgemeine Handlungsfreiheit eingreift und den Betroffenen schützt.668 Man könnte annehmen, der Äußernde verliere zwar den spezialgrundrechtlichen, nicht aber jeglichen Grundrechtsschutz. Das staatliche Handeln muss dann zwar nicht dem speziellen Grundrecht genügen, aber es muss mit der allgemeinen Handlungsfreiheit vereinbar sein.669 Dadurch sei es zumindest ausgeschlossen, dass staatliche Handlungen willkürlich die Rechte Einzelner beschränkten.670 Diese Annahme wäre aber unzutreffend, wenn das Spezialgrundrecht der Meinungsfreiheit im Fall von „Hassreden“ Sperrwirkung entfaltete und die allgemeine Handlungsfreiheit infolgedessen nicht angewendet werden könnte. Im Fall von Grundrechten, deren Wortlaut den Schutzbereich begrenzt, wird zutreffend verneint, dass ein Verhalten, das nicht in den Schutzbereich des Spezialgrundrechts fällt, weil es ausdrücklich von diesem ausgeschlossen wird, wegen einer Sperrwirkung auch nicht in den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit fällt.671 Bei Grundrechten, die keine ausdrücklichen Schutzbereichsgrenzen im Wortlaut enthalten – wie die Meinungsfreiheit in Art. 5 I Alt. 1 GG –, wird hingegen teilweise vertreten, Art.  2 I GG greife in dem Lebens- und Sachbereich,672 den das

Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 485. Vgl. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 189, 191; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 186 f.; Arndt, BayVBl. 2002, 653, 655; Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 487; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 54, 67; Christou, Die Hassrede in der verfassungsrechtlichen Diskussion, S. 5 f. 669 Brüning, Der Staat 41 (2002), 213, 231. 670 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 189. 671 Statt vieler Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 186 Fn. 113 m. w. Nw.; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 54 ff. 672 Die terminologische Erfassung dieses Bereichs, in dem das Grundrecht zwar thematisch einschlägig ist, in dem aber kein tatsächlicher Schutz gewährt wird, ist in der Literatur sehr unterschiedlich. Teilweise wird vom „Regelungsbereich“ (Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, §  121 Rn.  14; Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, §  200, Rn.  16), andererseits aber auch vom „Normbereich“ (Müller/Christensen, Juristische Methodik, S. 141 ff.), vom „gegenständlichen Einzugsbereich des Grundrechts“ (Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 174  f.) oder eben vom „Sachbereich“ bzw. „Lebensbereich“ (Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 171 f.; De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 295; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 186; Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203, 214; Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 174, Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 19 Rn.  14; Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 487) gesprochen. Dieser letztgenannten Terminologie soll sich für die Zwecke der vorliegenden Arbeit angeschlossen werden. Diesem Sach- und Lebensbereich steht der Schutzbereich gegenüber, der Teilmenge des Sach- und Lebensbereichs ist und in dem die grundrechtliche Garantie sowie die Beschränkungen staatlicher Eingriffsbefugnisse über die Grundrechtsnorm greift. Hierfür wird für die Zwecke der vorliegenden Arbeit der Begriff „Schutzbereich“ gewählt (so auch Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 200 Rn. 16), weil er den Begriffsinhalt deutlich zum Ausdruck bringt. Im Schrifttum hingegen werden hier auch die Begriffe „Gewährleistungsinhalt“ (Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 667 668

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Grundrecht thematisch regelt, nicht ein.673 Der grundrechtliche Schutz werde in einem solchen Fall nicht über die allgemeine Handlungsfreiheit aufgefangen, weil insoweit eine konsumierende Konkurrenz vorliege.674 Das spezifische Schutzsystem, welches das Grundgesetz gewährleiste, dürfe nicht durch Rückgriff auf Art. 2 I GG umgangen werden; die Auffangfunktion finde wegen negativer Spezialität auf Konkurrenzebene hier ihre Grenze.675 Ein Rückgriff auf Art. 2 I GG verbiete sich, wenn ein anderes Freiheitsrecht in irgendeiner Form thematisch einschlägig sei, also in dem Lebensbereich bzw. dem Wirklichkeitsausschnitt betroffen sei, für den es eine Regelung bereithält.676 Die speziellen Grundrechte fungierten als abschließende Regelungen für jedes Verhalten, das in dem von ihnen geregelten Sach- und Lebensbereich liege; sie entfalteten Sperrwirkung.677 Diese greife eben nicht nur im Bereich des Schutzbereichs, sondern auch im bloßen Sach- und Lebensbereich des Grundrechts.678 Die speziellen Freiheitsgrundrechte sind danach auch dann leges speciales, wenn nur ihr Sach- und Lebensbereich, aber nicht ihr Schutzbereich betroffen ist. Geht man – was ebenfalls Ergebnis von Interpretation ist – davon aus, dass demokratiefeindliche Äußerungen zwar in den Lebens- und Sachbereich des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG, nicht aber in dessen Schutzbereich fallen, so wäre es nach dieser Ansicht auch ausgeschlossen, dass sie von Art.  2 I GG geschützt werden. Der Rückgriff auf die allgemeine Handlungsfreiheit wäre nämlich durch Art.  5 I 1 Alt.  1  GG gesperrt. Für die Sperrwirkung genügt es nach der dargestellten Auffassung, dass der Sach- und Lebensbereich betroffen ist; der Schutzbereich muss nicht eröffnet sein. Im Ergebnis bedeutete dies, dass kein grundrechtlicher Schutz für die Äußerung bestünde. So entstünde für das von dem speziellen Freiheitsrecht nicht erfasste Verhalten ein grundrechtsfreier Raum.679 Die allgemeine Handlungsfreiheit diente dann nicht als Argument für die Ausnahme der Äußerungen aus dem Schutzbereich im oben beschriebenen Sinn. Der Grundrechtsschutz ginge vollständig verloren; dem Betroffenen bliebe auch die allgemeine Handlungsfreiheit nicht. 174  f., 189; Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 234 f.), „Gewährleistungsbereich“ (Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 200 Rn. 16; Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 485; Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203, 226; Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, §  19 Rn.  14; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 173) oder „Gewährleistungsgehalt“ (Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u. a. (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht?, S. 53, 63; Martini, JöR n. F. 59 (2011), 279, 295) gebraucht. Die unterschiedlichen Begriffsverwendungen sind rein terminologischer Natur, inhaltlich erfassen die unterschiedlichen Begriffe jeweils denselben Gedanken (siehe hierzu näher unten, Kapitel 4, A., II., 3., b)). 673 BVerfGE 105, 252, 278; Schwarz, JZ 2000, 126; Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 300; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 86. 674 Merten, in: FS Herzog, S. 281, 296. 675 Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 200 Rn. 41. 676 Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121 Rn. 14. 677 Lerche, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 121 Rn. 14. 678 A. A. Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 63 f. 679 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 186.

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 329

Selbst wenn man die Sperrwirkung aber ablehnt, spricht eine andere Erwägung dagegen, dass die allgemeine Handlungsfreiheit im Grundgesetz zur Rechtfertigung dafür angeführt werden kann, den Schutzbereich eines Spezialgrundrechts einschränkend zu interpretieren. Ein Verhalten erfährt durch die allgemeine Handlungsfreiheit geringeren Schutz als durch das Spezialgrundrecht. Die speziellen Rechtfertigungsanforderungen, die an einen Eingriff in das Spezialgrundrecht im Vergleich zu jenen bei der allgemeinen Handlungsfreiheit gestellt werden, entfallen.680 Die allgemeine Handlungsfreiheit vermittelt geringeren Grundrechtsschutz als die speziellen Grundrechtsgarantien.681 Dem Staat werden weitergehende Beschränkungsmöglichkeiten eröffnet, wenn nur die allgemeine Handlungsfreiheit greift, weil der Schutzbereich des Spezialgrundrechts eng interpretiert wird.682 Die Schrankensystematik des Grundgesetzes ist in einer Weise ausgestaltet, die die typischen Gefährdungen im Rahmen der Wahrnehmung der jeweiligen Freiheiten erfassen und angemessen regeln soll. Eine Anwendung der speziellen Schrankenregelungen dient dazu, dass die Freiheiten optimal entfaltet werden können. Eine prinzipiell weite Auslegung der Schutzbereiche der speziellen Freiheitsrechte trägt der Gewährleistung der grundrechtlichen Freiheit in höherem Maße Rechnung. Dadurch wird verhindert, dass die Prüfung jenes Grundrechts, das gerade auf den bestimmten Fall ausgerichtet ist, abgebrochen wird und es wird vermieden, dass das staatliche Verhalten in einer Weise überprüft wird, die der Systematik des Grundrechtskatalogs nicht entspricht.683 Die Einordnung in den Schutzbereich eines speziellen Grundrechts determiniert in einem Grundrechtskatalog, in dem es ein Auffanggrundrecht gibt, zwar nicht das „Ob“ des Grundrechtsschutzes, sie bestimmt aber die Art der Grundrechtsbindung, weil nur dann, wenn der Schutzbereich eines speziellen Grundrechts betroffen ist, auch die speziellen Schrankenvorbehalte und damit spezifische Anforderungen an die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs zum Tragen kommen.684 Dies zeigt, dass der Grundrechtsschutz weniger effektiv ist, wenn die allgemeine Handlungsfreiheit an die Stelle eines Spezialgrundrechts tritt. Die freiheitsfreundlichere Lösung bestünde darin, weite Freiheitsverbürgungen bei den speziellen Grundrechten anzunehmen, die speziellen Schranken wirken zu lassen und letztlich einen klareren und effektiveren Grundrechtsschutz zu gewährleisten. Der effektive Menschenrechtsschutz wird andernfalls empfindlich beeinträchtigt. Daran ändert das Auffanggrundrecht des Art.  2 I GG nichts; vielmehr verstärkt es sogar die negativen Folgen für den individuellen Grundrechtsschutz, weil es nach Art.  2 I Hs. 2 GG sehr weitgehende Beschränkungsmöglichkeiten eröffnet.

680 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 41; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 67 („Flucht in die Generalklausel“). 681 Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 215. 682 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 188 f. 683 Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 83. 684 De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 293.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Der Umstand, dass der Grundrechtskatalog des Grundgesetzes die allgemeine Handlungsfreiheit als Auffanggrundrecht kennt, überzeugt aus diesem Grund nicht, den Schutzbereich des Grundrechts der Meinungsfreiheit restriktiv zu interpretieren und „Hassreden“ als von diesem nicht erfasst anzusehen. Ein anderes systematisches Argument dafür, „Hassreden“ außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit zu sehen, könnte aus Art. 79 III GG folgen. Man könnte argumentieren, eine Verfassung, die bestimmte Verfassungsentscheidungen durch eine Ewigkeitsgarantie – Art. 79 III GG ist eine solche –685 jeder Möglichkeit ihrer Änderung entzieht, wolle einer politischen Betätigung, die darauf gerichtet ist, diese Verfassungsentscheidung zu ändern oder abzuschaffen, keinen Grundrechtsschutz gewähren.686 Dieser Gedanke überzeugt nicht vollständig.687 Aus der Ewigkeitsgarantie folgt nicht, dass ein gegen ihren Inhalt gerichtetes politisches Verhalten zwingend zu beschränken ist. Das zeigt sich bereits darin, dass die „wehrhafte Demokratie“ nur einen Teilbereich der von Art. 79 III GG geschützten Verfassungsinhalte, die FDGO, sichert. Nichtsdestoweniger ist Art. 79 III GG für „Hassreden“ relevant. Sie betreffen und verletzen Prinzipien, die die Ewigkeitsklausel als unabänderliche Verfassungsprinzipien schützt.688 Dies führt aber nicht dazu, dass der grundrechtliche Schutzbereich so interpretiert werden müsste, dass er „Hassreden“ nicht erfasst. Vordergründig ergibt sich zwar ein Widerspruch zwischen Art.  79 III GG und dem grundrechtlichen Schutzbereich; Art.  79 III GG ist aber eine an den Gesetzgeber bzw. an den Verfassungsgesetzgeber gerichtete Bestimmung ist, die im Grundgesetz im Abschnitt „VII. Die Gesetzgebung des Bundes“ enthalten ist. Die Regelung verbietet, Verfassungsbestimmungen so abzuändern, dass sie den in der Ewigkeitsgarantie genannten Prinzipien widersprechen. Sie ist nicht an den individuellen Grundrechtsträger gerichtet. Ein politisches Bestreben, das sich gegen ein von Art. 79 III GG geschütztes Prinzip wendet, ist nicht erfolgversprechend, weil das propagierte Vorhaben in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes nicht realisierbar ist. Das führt aber nicht dazu, dass eine Äußerung in diesem Zusammenhang nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit läge. Aus Art. 79 III GG kann kein systematisches Argument für die restriktive Interpretation des Schutzbereichs in Art. 5 I 1 Alt. 1 GG gewonnen werden. Möglicherweise könnte der Verfassungsgesetzgeber auch unter argumentativem Rückgriff auf Art. 79 III GG eine Schutzbereichsgrenze für Äußerungen, die gegen die in der Ewigkeitsklausel normierten Prinzipien verstoßen, in Art. 5 I 1 Alt. 1 GG aufnehmen. De constitutione lata ist eine solche Interpretation des Schutzbereichs aber nicht begründbar.

Siehe statt vieler Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 79 Rn. 9. Vgl. Vašek, Unabänderliches Verfassungsrecht, S. 35. 687 Vgl. hierzu und zum Folgenden Vašek, Unabänderliches Verfassungsrecht, S. 36 unter Verweis auf Dreier, JZ 1994, 741, 750. 688 Siehe hierzu bereits oben Kapitel 4, A., I., 2., c.), iii. 685 686

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 331

Einzuräumen ist, dass Art. 79 III GG in Bezug auf demokratiefeindliche Äußerungen relevant ist. Der grundrechtliche Schutzbereich, der diese Äußerungen erfasst, und der objektive Verfassungswert, der in Art. 1 I GG oder in Art. 20 I GG gewährt und über Art. 79 III GG jeder Änderung entzogen wird, kollidieren miteinander. Die Auflösung solcher Kollisionslagen ist aber eine Frage der Schranken und der Schranken-Schranken, nicht des Schutzbereichs.689 Hier tritt der objektive Verfassungswert – unter der Prämisse, dass man die Zulässigkeit verfassungsimmanenter Schranken trotz des qualifizierten Gesetzesvorbehalts des Art.  5 II GG annimmt – als verfassungsimmanente Schranke dem Grundrecht der Meinungsfreiheit entgegen. Art. 79 III GG wird berücksichtigt, indem dem Verfassungswert, der von Art. 79 III GG geschützt wird, in der Abwägung größeres Gewicht beigemessen wird. Im Wege der Herstellung praktischer Konkordanz ist die Kollision mit dem Ziel aufzulösen, beide Verfassungsgüter zu größtmöglicher Wirksamkeit zu bringen. Art. 79 III GG ist nicht systematisches Argument zur Auslegung des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG. Vielmehr wird er im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 5 II GG herangezogen. Die Ewigkeitsklausel streitet hier zu Lasten des „Hassredners“ und wirkt sich auf diese Weise auf die Beurteilung des grundrechtlichen Schutzes einer demokratiefeindlichen Äußerung aus. Im Ergebnis sprechen die systematischen Auslegungserwägungen nicht dafür, den Schutzbereich des Art.  5 I 1 Alt.  1  GG dahingehend zu interpretieren, dass „Hassreden“ von diesem nicht erfasst sind. c) Historische Auslegung Die Bedeutung der historischen Auslegung wird für die Bestimmungen des Grundgesetzes unterschiedlich beurteilt. Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, für die Auslegung einer Regelung sei der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusammenhang der Bestimmung ergebe, maßgeblich.690 Die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung sei nicht entscheidend. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift komme für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen erhaltenen Auslegung bestätigen oder Zweifel beheben könne, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden könnten. Im Schrifttum wird allerdings teilweise angenommen, die Entstehungsgeschichte diene dazu, die spezifischen Gefährdungslagen, die das GG anvisiere, zu konturieren und sei deshalb zur Auslegung heranzuziehen.691 Siehe hierzu in Bezug auf kollidierende Grundrechte Dritter unten Kapitel 4, B., VI. Hierzu und zum Folgenden BVerfGE 1, 299, 312; BVerfGE, 90, 263, 275; BVerfGE 92, 365, 409 f.; vgl. hierzu Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG, Einführung Rn. 41; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD I, § 4, S. 125. 691 Möllers, NJW 2005, 1973, 1978; Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 60 Rn. 13. 689 690

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Grundrechtsgarantien im Allgemeinen und insbesondere jene des Grundgesetzes sind Reaktionen auf konkrete Erfahrungen der Repression und der Verletzung menschlicher Würde. Die historischen Zusammenhänge, in denen sie entstanden sind, können in manchen Fällen Hinweise liefern, wie die Bestimmungen auszulegen sind oder sie können zumindest bestimmte Lesarten widerlegen.692 Art. 5 I 1 Alt. 1 GG übernimmt den Wortlaut der vorgrundgesetzlichen Bestimmung des Art.  118 I 1  WRV.693 Art.  118 I WRV könnte daher ein Anhaltspunkt für die Auslegung des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG sein. Trotz gleichlautender Begrifflichkeiten ist es aber nicht unproblematisch, an eine vorverfassungsmäßige Auslegung anzuknüpfen. Zwar sollte mit der Übernahme der Formulierung im Wortlaut eine gewisse Kontinuität erzielt werden; der nunmehr vorhandene Kontext des Grundgesetzes und der Bedeutungswandel, dem die Begrifflichkeit im Grundgesetz unterliegen kann, steht einer Übernahme der Auslegung zu Art.  118 I WRV aber entgegen.694 Die gegenwärtigen Verhältnisse und Umstände sind für die Auslegung einer Bestimmung nämlich entscheidend.695 Mit einer Perpetuierung der Auslegung des Art. 118 I WRV durch identische Interpretation der gegenwärtig geltenden Verfassungsvorschrift ist aus diesem Grund vorsichtig zu verfahren.696 Aus Art.  118 I WRV kann sich kein zwingendes Auslegungsargument für Art. 5 I 1 Alt. 1 GG ergeben; ein Vergleich zwischen Art. 5 I 1 GG und Art. 118 I WRV könnte nichtsdestoweniger Hinweise für die Interpretation der geltenden Bestimmung liefern. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen Deutschlands mit totalitären Systemen, in denen systemkritischen und anstößigen Äußerungen kein Raum gegeben wurde, könnte davon auszugehen sein, dass aus einer historischen Auslegung des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG gerade ein Argument für die Einbeziehung kritischer und anstößiger Meinungsäußerungen in den Schutzbereich der Grundrechtsgarantie folgen muss.697 Der Umstand, dass der Gesetzgeber des Grundgesetzes in Bezug auf Art.  5 I 1 Alt. 1 GG keine Änderungen gegenüber der entsprechenden Garantie der Weimarer Verfassung (Art. 118 WRV) vorgenommen hat, zeigt, dass der liberale Zugang der Weimarer Verfassung aufrechterhalten werden sollte. Art. 118 I WRV wurde umfassend verstanden und schloss damit auch demokratiefeindliche Äußerungen ein. Die Weimarer Republik hielt den gegen sie gerichteten antidemokratischen Strömungen nicht stand. Wenn das Grundgesetz den Wortlaut der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantie des Art. 118 I WRV nun in diesem Bewusstsein dennoch in Art. 5 I 1 Alt. 1 GG übernimmt, so könnte man daraus schließen, dass der Meinungsbegriff in

De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 273. Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 179; Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), 5, 15, 93; Arndt, BayVBl. 2002, 653, 655. 694 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 7 Rn. 12 ff.; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD I, § 4, S. 125. 695 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 7 Rn. 21; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD I, § 4, S. 125. 696 Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 79 („Risiko der Versteinerung der normativen Gehalte“). 697 Vgl. Arndt, BayVBl. 2002, 653, 655. 692 693

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 333

seiner freiheitlichen Unbeschränktheit bewusst aufrechterhalten werden sollte und gerade nicht angenommen wurde, der Schutzbereich müsse von nun an restriktiv verstanden werden.698 Dies spricht dagegen, „Hassreden“ außerhalb des grundrechtlichen Schutzbereichs der Meinungsfreiheit zu sehen. Daraus erwächst ein Argument, das die Annahme eines weiten Schutzbereichs, der „Hassreden“ umfasst, im oben genannten Sinn zumindest unterstützt. d) Teleologische Auslegung Die ratio bzw. der telos,699 also Sinn und Zweck des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG, sprechen ebenfalls dafür, „Hassreden“ in den grundrechtlichen Schutzbereich einzubeziehen. Die maßgeblichen Wert- und Zweckprinzipien der Bestimmung lassen es zu, den Schutzbereich der Meinungsfreiheit so weit zu interpretieren, dass die Äußerungen umfasst sind.700 i. Notwendigkeit einer kontextsensiblen Entscheidung Vertreter des Schrifttums, die dafür plädieren, den Schutzbereich der Meinungsfreiheit weit auszulegen, begründen dies damit, auf diese Weise könne eine höhere Einzelfallgerechtigkeit gewährleistet werden und es könne eine flexible und begründete Entscheidung unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Kontexts auf Rechtfertigungsebene getroffen werden.701 In der Abwägung würden nicht nur zwei Rechtsgüter gegeneinander abgewogen, sondern ihre Wertigkeiten würden auf einen Fall hin konkretisiert. Diesen Einzelfallbezug gewährleiste nur die Methode der Abwägung der widerstreitenden Interessen unter Berücksichtigung aller konkreten Umstände und Faktoren.702 Hiergegen wird teilweise eingewandt, auf der Ebene des Schutzbereichs finde eine Abwägung in gleicher Weise statt.703 Gerade bei der Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe eröffneten sich für den Rechtsanwender regelmäßig Spielräume, über die dann offen oder verdeckt Wertungsoder Abwägungselemente in den Prozess der Rechtsgewinnung Eingang fänden.704

Arndt, BayVBl. 2002, 653, 655; so im Ergebnis auch Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102 Rn. 40. 699 Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 33 Rn. 25. 700 Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD I, § 4, S. 126; Christou, Die Hassrede in der verfassungsrechtlichen Diskussion, S. 47; Mahlmann, EuR 2011, 469, 476; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 95, S. 1728. 701 Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 489; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 193; dies entspricht auch Empfehlungen der European Commission against Racism and Intolerance (siehe hierzu European Commission against Racism and Intolerance (ECRI), General Policy Recommendation No. 15 on combating hate speech, angenommen am 8. 12. 2015, S. 18).f 702 Möllers, NJW 2005, 1973, 1978. 703 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 259 f. 704 Volkmann, JZ 2005, 261, 267. 698

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Die Gegenauffassung verneint dies mit der Begründung, die Abwägung könne nicht ebenso gut auf Ebene des Schutzbereichs stattfinden.705 Die Abwägung gehe als Methode zur Bestimmung der Grenzen des Schutzbereichs bereits grundlegend fehl, weil es die Struktur der Grundrechtskodifizierung verschieben würde, auf Ebene des Schutzbereichs widerstreitende Interessen im konkreten Kontext des Einzelfalls abzuwägen. Werde auf Ebene des Schutzbereichs eine Abwägung vorgenommen, vermische dies die Methoden der Auslegung und der Abwägung.706 Der Schutzbereich sei in der Bestimmung festgelegt und durch Auslegung der Regelung abstrakt zu definieren.707 Auf Ebene des Schutzbereichs finde allein die an den spezifischen Gefährdungslagen orientierte Zuordnung der tatsächlichen Umstände des Sachverhalts zu dem durch den grundrechtlichen Schutzbereich abgedeckten Lebensbereich statt. Eine Wertung auf Grundlage der Rechtsordnung und des Grundgesetzes finde im Zuge der Definition des Schutzbereichs und der Subsumtion darunter nicht statt.708 Die eingeschränkte Interpretation des Schutzbereichs habe eine fallunabhängige, generell-abstrakte Wirkung.709 Das bedeute, dass eine einzelfallabhängige Abwägung auf Ebene des Schutzbereichs nicht systemkonform sei. Die Abwägung sei kein zulässiges Mittel der Bestimmung des Schutzbereichs eines Grundrechts.710 Wäre mit der „Norm“ nur ein Bündel an Erwägungen bezeichnet, das alle letztlich zu einer Einzelentscheidung beitragenden Aspekte enthält, wäre die Idee der Positivierung von Recht ad absurdum geführt.711 Die Differenzierung zwischen der Bestimmung selbst und ihrer Anwendung würde aufgegeben. Die Anwendung erfordert nämlich Wertungen, ohne die sich bereits die Umstände des Einzelfalls nicht als solche feststellen ließen und die für die Entscheidung wesentlich sind. Die Auslegung von Rechtsnormen aber dient der Ermittlung des Normbefehls, das heißt der abstrakt-generellen Bedeutung. Hier können allein Argumente, die durch Auslegung der Bestimmung gewonnen werden, die Ableitung des Rechtssatzes aus der Ausgangsnorm rechtfertigen.712 Davon zu unterscheiden sind diejenigen Begründungen und vor allem Wertungen, die der Rechtsanwender zur individuell-konkreten Entscheidung im Einzelfall anführt. Eine Interessenabwägung im Zuge der Angemessenheitsprüfung erschöpft sich nicht in der Abwägung zweier Rechtsgüter; vielmehr wird die Wertigkeit dieser Rechtsgüter im konkreten Fall und unter den konkreten Umständen der Situation 705 So im Ergebnis auch Hellhammer-Hawig, Neonazistische Versammlungen, S. 53; a. A. Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u. a. (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht?, S. 53, 74. 706 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 52. 707 De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 312; Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 124 ff. 708 Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 79. 709 Möllers, NJW 2005, 1973, 1978. 710 Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 489; Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 233; a. A. Volkmann, JZ 2005, 261, 267. 711 Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 62. 712 Schmidt-Jortzig, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 162 Rn. 3 ff.

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in die Abwägung eingestellt. Dies geht verloren, wenn der Schutzbereich bereits restriktiv interpretiert wird, sodass die fraglichen Äußerungen von diesem gar nicht umfasst sind.713 Zwar können wertende Gesichtspunkte auch maßgebliche Faktoren der Auslegung sein und im Rahmen einer auf den konkreten Einzelfall bezogenen Anwendung werden Typenbildungen vorgenommen, denen letztlich eine Abstraktion des zu entscheidenden Sachverhalts zugrunde liegt; das bedeutet aber nicht, dass zwischen Auslegung und Subsumtion nicht unterschieden werden müsste. Außerdem hat der Verfassungsgeber die Abwägung und die Lösung von Grundrechtskollisionen der Ebene der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs zugewiesen.714 Dies lassen zumindest die Schrankenregelungen des Grundgesetzes erkennen, die widerstreitende Rechtsgüter teilweise ausdrücklich ausweisen und deren Relevanz auf die Rechtfertigungsebene verschieben. Hieraus ist zumindest eine Abschichtung zwischen Gewährleistung und Schrankenbestimmung zu erkennen, die auf die Notwendigkeit prüfungstechnischer Trennung zwischen beiden Ebenen schließen lässt.715 Dies ist deshalb bereits aus dem Verfassungstext ersichtlich, weil dieser einen Unterschied zwischen Schutzbereichsgrenzen (wie in Art. 8 I GG) und Schrankenklauseln mit widerstreitenden Interessen und Rechten (Art. 5 II GG) erkennen lässt. Daraus kann geschlossen werden, dass der Verfassungsgeber ausdrücken wollte, dass die widerstreitenden Grundrechte und anderen Rechtsgüter auf der Ebene der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs einzuordnen seien und dass sie auf diese Weise auf die grundrechtliche Gewährleistung einwirkten. Gründe der rechtsstaatlichen Klarheit sprechen dafür, diese Zuordnung zu beachten.716 Selbst wenn vorgebracht wird, auf der Ebene des Schutzbereichs erfolgten nur abstrakte Abwägungen,717 während Abwägungen im konkreten Fall in der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zu verorten seien,718 kann dies letztlich nicht davon überzeugen, den Schutzbereich einschränkend zu interpretieren. Zunächst entwertet es bereits das Argument, auf der Ebene des Schutzbereichs könne dasselbe geleistet werden wie auf der Ebene der Rechtfertigung. Dies ist nicht der Fall, wenn die konkreten Erwägungen zum Einzelfall und damit zum Kontext einer Äußerung erst im Rahmen der Rechtfertigung vorgenommen werden. Der zusammenhängende Abwägungsvorgang würde außerdem künstlich aufgespalten. Die Differenzierung zwischen abstrakten und konkreten Abwägungsmomenten betrifft vielmehr die Unterscheidung zwischen der Prüfung der gesetzlichen Grundlage des Eingriffs einerseits und der Prüfung des Einzelaktes andererseits.719 Die Verhältnismäßigkeit

Möllers, NJW 2005, 1973, 1978. Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 190; vgl. Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 124 f.; a. A. Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203, 205. 715 Volkmann, JZ 2005, 261, 267. 716 Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 63. 717 Hoffmann-Riem, in: Bäuerle (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht?, S. 53, 74; vgl. auch Volkmann, JZ 2005, 261, 267. 718 Kritisch hierzu auch Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 192. 719 Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 213. 713

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beider wird aber im Rahmen der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs geprüft. Bei der Interpretation des Schutzbereichs oder der Subsumtion unter diesen spielen beide Aspekte keine Rolle. Zudem kann die relative Bedeutung der kollidierenden Rechtsgüter nicht bereits auf Ebene des Schutzbereichs beurteilt werden.720 Die Wertigkeit verschiedener Rechtsgüter im Ausgleich miteinander kann erst beurteilt werden, wenn das Gut individueller Freiheit überhaupt in Frage steht.721 Dies ist aber nur dann der Fall, wenn die Äußerung im Schutzbereich des Grundrechts liegt. Ansonsten kommt es gar nicht zu einer Rechtsgüterkollision, die durch Abwägung bewältigt werden müsste. Die Gewichtung eines Rechtsguts gegenüber anderen Rechtsgütern, die Abwägung, findet somit stets und zwingend auf der Ebene der Rechtfertigung statt, weil dazu der Schutzbereich betroffen sein muss. Gegen die restriktive Interpretation des Schutzbereichs wird teilweise der Vorwurf des Dezisionismus722 erhoben. Bei den Erwägungen zur Identifizierung der Grenzen des Schutzbereichs handle es sich um verschleierte bzw. verdeckte Abwägungen.723 Anhand irgendwelcher Kriterien müsse die Grenze zwischen grundrechtlich geschütztem und grundrechtlich nicht geschütztem Verhalten gezogen werden. Diese könnten aber nur auf menschlichen Bewertungs- oder Abwägungsvorgängen beruhen.724 Die einschränkende Interpretation des Schutzbereichs müsse sich dem Vorwurf subjektiver, willkürlicher oder gar manipulierender Entscheidung aussetzen.725 Vordergründig handle es sich um eine abwägungsfreie Entscheidungsfindung nach abstrakten Kriterien. Tatsächlich würden die subjektiven Wertungen und Abwägungen aber nur auf die Schutzbereichsebene verschoben, sie würden nicht etwa ganz vermieden.726 Die Wertungen, auf deren Grundlage die Entscheidung stattfinde, würden nicht aufgedeckt. Unter dem Deckmantel, den Schutzumfang präzise zu bestimmen, würden nicht oder nicht ausreichend offen gelegte Bewertungen vorgenommen.727 Dabei sei von einem bedeutenden Transparenzverlust auszugehen.728

Jarass, AöR 120 (1995), 345, 371. Hierzu und zum Folgenden Möllers, NJW 2005, 1973, 1977, vgl. hierzu auch Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 42 f. 722 Kahl, AöR 131 (2006), 579, 606; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 191. 723 Von Arnauld, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 44; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 42, 87; a. A. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 167. 724 Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 83. 725 Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 237. 726 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 192; Möllers, NJW 2005, 1973, 1977; Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S.  224; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S.  79; siehe hierzu Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203, 213, der argumentiert, die Verschiebung der Fragen auf die Schutzbereichsebene sei nicht stärker begründungsbedürftig als die Einordnung derselben Fragen auf der Rechtfertigungsebene. 727 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 192 f. 728 Fehling, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar GG, Art. 5 Abs. 3 Rn. 146. 720 721

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Nimmt man an, die Entscheidung über den Schutz einer „Hassrede“ würde bereits auf Ebene des Schutzbereichs getroffen, muss letztlich auch dort eine Abwägung vorgenommen werden, um kollidierende Positionen miteinander in Einklang zu bringen. Dem Grundgesetz sind aber keine abschließenden Vorrangregelungen zur Leitung einer solchen abwägenden Entscheidung zu entnehmen.729 Es muss sich um eine Wertung anhand von Maßstäben handeln, die außerhalb des Grundgesetzes liegen. Dann setzt sie sich aber demselben Vorwurf aus, der der Entscheidung auf Ebene der Rechtfertigung gemacht wird und erscheint gegenüber einem Ansatz, der die „Hassreden“ in den Schutzbereich einschließt und über ihren endgültigen Schutz eine kontextsensible Entscheidung auf Rechtfertigungsebene trifft, nicht vorzugswürdig. An die Abwägung auf Ebene der Verhältnismäßigkeits- und damit Rechtfertigungsebene wird der Anspruch gestellt, dass sie transparent und für den Rechtsunterworfenen erkennbar durchgeführt wird.730 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung und insbesondere die Abwägung erfordern, dass alle widerstreitenden Interessen genannt werden und dass der Rechtsanwender sich mit diesen argumentativ auseinandersetzt, indem er die einander entgegenstehenden Belange gegenübergestellt. Dies führt automatisch dazu, dass die Argumentation diszipliniert wird und die Vollständigkeit der Erwägungen sowie der abgewogenen Belange nachvollzogen werden kann.731 Hiergegen wird vorgebracht, eine Abwägung auf Rechtfertigungsebene sei ebenfalls intransparent. Die Abwägung suggeriere lediglich eine Rationalität, die so nicht vorhanden sei.732 Die Argumente hätten kein spezifisches Gewicht oder könnten sich in Zahlenwerten ausdrücken lassen. Es fehle ein Maßstab, anhand dessen die Abwägungsentscheidung getroffen werden könnte.733 Objektive Maßstäbe seien nicht vorhanden, auch auf der Ebene der Rechtfertigung beruhe die Entscheidung auf subjektiven Wertungen, deren Grundlage nicht sicher erkennbar sei.734 Das Bestreben, die Rationalität der Argumentation zu steigern, sei gerade Grund dafür, die Schutzbereiche besser zu konturieren und so den Anwendungsbereich des rationalitätsdefizitären Abwägens auf der Ebene der Rechtfertigung einzuschränken.735 Die Reichweite des Schutzbereichs sei nicht bloß kollisions- bzw. fallabhängig

Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 42, 79; Höfling, Jura 1994, 171. Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 189, 192 f.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 172; Von Arnauld, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 44. 731 Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 229; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 258. 732 Vgl. hierzu Böckenförde, NJW 1974, 1529, 1534; Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 190; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 134 ff.; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 75 f.; Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 56 Rn. 67. 733 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S.  154 („Fehlen einer transitiven Ordnung“). 734 Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 200 Rn. 80; vgl. hierzu auch Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 32. 735 Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 488. 729

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zu bestimmen und es gehe nicht darum, jedes kollidierende Verfassungsrecht zu berücksichtigen. Vielmehr handle es sich um eine normgebundene Dogmatik, die zur Bestimmung der Reichweite eines Grundrechts bei diesem Grundrecht ansetze. Das Grundrecht selbst werde zum Ausgangspunkt der Überlegungen.736 Im Gegensatz zur Abwägung sei die „Subsumtionsmethode“ in der Lage, eine Entscheidung unter Anwendung der Grundrechtsbestimmung herbeizuführen. Die methodisch auf diese Weise durchgeführte Ermittlung des Schutzbereichs erlaube es dessen Inhalt präzise zu bestimmen.737 Dies werde zwar oftmals zu einem engeren Verständnis des Schutzumfangs führen, dies sei dann jedoch nicht Zweck der Auslegung, sondern Folge der Interpretation der Bestimmung.738 Durch die abstrakte Natur der „Subsumtionsmethode“ werde der Inhalt der Bestimmung durch beständige Rechtsanwendung ergänzt und durch die Verwendung abstrakter Entscheidungsmerkmale werde das Material eingegrenzt, anhand dessen eine Entscheidung zu fällen sei. In dieser Begrenzung liege die Stärke des „Subsumtionsmodells“ gegenüber der Abwägung mit ihrer uferlosen Einzelfallbetrachtung.739 Mit der Ausweitung des Schutzbereichs und der großzügigen Konstruktion von Kollisionslagen sei keine Verstärkung der Individualrechtsposition verbunden, sondern die Individualrechtsposition werde zum reinen Abwägungsgesichtspunkt herabgestuft.740 Die Grundrechte seien aber nicht Faktoren in einer Abwägungsentscheidung, sondern positivierte Grenzen, die dem Gesetzgeber gesetzt würden. Deren Reichweite sei abstrakt durch Auslegung zu ermitteln. Nur so könne vermieden werden, dass in ein vom Grundgesetz nicht vorgesehenes „Case-Law-System“ abgeglitten werde.741 Die am Einzelfall orientierte Abwägung sei zu vermeiden, weil das geschützte Individualinteresse in den Vordergrund gestellt und aus sich heraus bestimmt werden müsste, bevor es in einen Gesamtzusammenhang mit anderen Interessen gestellt werde. Nur auf diese Weise werde die in den Grundrechten positivierte Konfliktentscheidung ernst genommen.742 Den Grundrechtsbestimmungen ließen sich Maßstäbe dafür entnehmen, wovor und wogegen das Grundrecht schützt. Andernfalls sei nicht einzusehen, warum der Verfassungsgesetzgeber in den Grundrechtsbestimmungen verschiedene Begriffe zur Beschreibung des geschützten Verhaltens gebrauchte.743 Ziel der Grundrechtsdogmatik müsse es vor diesem Hintergrund sein, möglichst spezifisch und trennscharf die grundrechtlichen Schutzbereiche zu bestimmen und dadurch Maßstäbe für die weiteren Prüfungsschritte entwickeln zu können.744

De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 309. Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 191. 738 Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 56 Rn. 8. 739 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 155. 740 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 156. 741 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 76, 111, 170. 742 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 170 f., 189. 743 Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203, 228 f. 744 Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203, 229. 736 737

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 339

Selbst wenn man diese Vorteile einer Entscheidung auf Ebene des Schutzbereichs anerkennt, bleiben sie theoretischer Natur, weil ein durchgängig praktizierter und allgemein anerkannter Kanon der Methoden der Verfassungsauslegung fehlt.745 Die vorhandenen Methoden der Verfassungsauslegung machen es sehr schwierig, ein tatsächlich vollständig objektiv begründbares Auslegungsergebnis für Verfassungsbestimmungen hervorzubringen. Ein konkret-individueller „Abwägungs-Dezisionismus“ auf Ebene der Rechtfertigung sei dann – so im Schrifttum formuliert – das kleinere Übel im Vergleich zum abstrakt-generellen „Interpretations-Dezisionismus“ auf der Ebene des Schutzbereichs.746 Ein Vorbehalt der Umstände des Einzelfalls bedeutet zudem nicht, dass nicht vorhersehbar sein kann, welche Umstände des Einzelfalls für die Entscheidung berücksichtigt werden.747 Es müssten abstrakte Kriterien entwickelt werden und in jedem Sachverhalt wäre dann zu würdigen, ob diese Kriterien erfüllt sind und welches Gewicht ihnen im konkreten Kontext zukommt. Der Einzelne könnte daraus dann erkennen, welche Umstände einzeln oder in Kombination mit anderen, tendenziell zu welchem Abwägungsergebnis führen. Die Entscheidung würde auf diese Weise zumindest vorhersehbarer. Im Ergebnis ist deutlich geworden, dass die Abwägung kritisiert werden kann; die Vorteile einer restriktiven Interpretation des Schutzbereichs, die dazu führt, dass „Hassreden“ nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen, überwiegen ungeachtet dessen jene Vorteile, die sich aus einer kontextsensiblen Prüfung im konkreten Fall für den Einzelnen ergeben, nicht. Wie oben bereits angedeutet, befürworten einige Stimmen in der Literatur die Trennung zwischen einem Schutzbereich des Grundrechts,748 in dem tatsächlich Schutz gewährt wird und einem Sach- und Lebensbereich, in dem das Grundrecht nur thematisch einschlägig ist. In dem herkömmlichen Begriff des „Schutzbereichs“ liege nämlich ein beschreibendes und ein normatives Element. Das beschreibende Moment erfasse den Lebensbereich, in dem die Freiheit sich ereignet (Sachbereich), das normative hingegen bezeichne den Inhalt der grundrechtlichen Gewährleistung.749 Der Schutzbereich soll von vornherein innerhalb des Sachbereichs einen

745 Vgl. hierzu und zum Folgenden Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 191; Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203, 207. 746 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 191 f. 747 A.  A. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S.  189, der in Bezug auf die Versammlungsfreiheit ausführt, es entspreche einem dogmatischen Rechtsverständnis eher, die abstrakte Frage zu diskutieren, welche Voraussetzungen eine der öffentlichen Meinungsbildung dienende Versammlung zu erfüllen habe oder ob diese im jeweiligen Fall erfüllt gewesen seien, als mittels unzureichender Kriterien abzuwägen, ob im Einzelfall das Allgemeininteresse ein Individualinteresse überwogen habe, zumal „beim nächsten Mal alles schon ganz anders“ sein könne. 748 Terminologie hier „Schutzbereich“ (so auch Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 167 f., 174, 178) teilweise wird hierfür auch der Begriff „Gewährleistungsbereich“ gewählt (Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 173; Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203, 226; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 177) (siehe zur Terminologie bereits ausführlich oben). 749 Kirchhof, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR I, § 21 Rn. 2.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

begrenzten Ausschnitt darstellen, der bestimmt, was tatsächlich an Schutz gewährt wird.750 Der Sach- und Lebensbereich sei weiter als der Schutzbereich des Grundrechts. Nur für letzteren gelte aber die Beschränkung staatlicher Eingriffe durch die Bestimmungen im Grundgesetz.751 Das Grundrecht sei in diesem sog. „Regelungsbereich“ zwar einschlägig, gewährleiste gleichwohl aber keinen grundrechtlichen Schutz für das vom Regelungsthema erfasste Verhalten.752 Der Schutzbereich übernehme dann die Funktion, innerhalb dieses „Einzugsbereichs“ normativ zu bestimmen, was an Schutz gewährleistet werde.753 Begründet wird diese Annahme damit, Grundrechte sollten nicht dem Schutz des gesamten menschlichen Verhaltens, sondern nur dem Schutz eines engeren Bereichs individuellen Verhaltens dienen.754 Bei Entstehung des Grundgesetzes und in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg sei es wegen der unmittelbaren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus sinnvoll gewesen, von einem lückenlosen Freiheitsverständnis auszugehen. Heute könne der Schutz vor Freiheitseingriffen des Staats aber aufgrund des Freiheitsbewusstseins innerhalb der Judikative als gesichert gelten. Der Rechtsstaat sei so stabil, dass es eines umfassenden grundrechtlichen Freiheitsschutzes nicht mehr bedürfe.755 Um dem grundrechtlichen Schutzsystem gerecht zu werden, seien die schützenswerten Verhaltensbereiche von den weniger schützenswerten Bereichen zu trennen und von vornherein sei nur den ersteren der grundrechtliche Schutz zugedacht.756 Die Freiheit, die durch das Grundrecht gewährleistet werde, sei innerhalb des Lebens- und Sachbereichs erst positiv zu bestimmen.757 Damit wird die Idee verbunden, vorzugswürdig sei ein punktueller Grundrechtsschutz besonders wichtiger und gefährdeter Verhaltensweisen.758 So könne man dem beliebigen Ausweiten des Schutzbereichs entgegentreten und den Grundrechtsschutz auf das Wesentliche beschränken. Dies entlaste die Gerichte und verschaffe den Grundrechten Profil.759 Es müsse berücksichtigt werden, dass die speziellen Grundrechte punktuelle und sachgeprägte Garantien mit einem sachlich begrenzten Schutzbereich seien.760

Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S.  173; Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 2, 23 ff. 751 Kritisch Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 58. 752 Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 200 Rn. 16. 753 Siehe Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 174 f. 754 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 182. 755 Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u. a. (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht?, S. 53, 68; a. A. Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 200. 756 Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 194 f. 757 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 173. 758 Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 195. 759 Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 483; Kirchhof, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR I, § 21 Rn. 2; Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 191. 760 De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 293. 750

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 341

Dem wird jedoch zu Recht entgegengehalten, dass eine solche Trennung nur dann sinnvoll wäre, wenn es eine überzeugende Methode gäbe, den Bereich zu ermitteln, der sich vom Sach- und Lebensbereich unterscheiden und Schutz gewähren soll. Die Subsumtion unter die Begriffe des Wortlauts führt dazu, dass der Sach- und Lebensbereich bestimmt wird; der Schutzbereich kann auf diese Weise aber nicht identifiziert werden. Neben den beiden Entscheidungsmethoden, Subsumtion und Abwägung, gibt es keine dritte methodische Vorgehensweise, um einen Bereich tatsächlichen Schutzes innerhalb des thematisch vom Grundrecht erfassten Sachbereichs zu bestimmen.761 Die Einführung einer Kategorie zwischen dem Sach- und Lebensbereich einerseits und der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs andererseits würde es nicht einfacher machen, den grundrechtlichen Schutz zu beurteilen; vielmehr erschwerte sie sie, weil eine zusätzliche Abgrenzung erforderlich würde.762 Im Ergebnis spricht die Notwendigkeit einer kontextsensiblen Beurteilung einer Äußerung dafür, den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit so weit zu interpretieren, dass „Hassreden“ in diesen einbezogen werden. ii. Rationalisierende Wirkung der Rechtfertigungsprüfung und Verlust rechtsstaatlicher Sicherungen Der einschränkenden Auslegung des Schutzbereichs wird vorgeworfen, sie leide an einem Rationalitätsdefizit.763 Sie mindere die Differenziertheit und Situationsgerechtigkeit gerichtlichen Entscheidens und bedinge einen Verlust an Disziplinierung und Transparenz juristischer Argumentation in einem sensiblen Bereich wie dem Grundrechtsschutz.764 Der Rechtsstaat sei (auch) ein Begründungsstaat, der einen Eingriff in die Freiheitssphäre des Einzelnen stets ausführlich rechtfertigen müsse.765 Aus einer materiellen Perspektive erkläre sich dies aus der Idee der Gerechtigkeit und der daraus erwachsenden Verpflichtung des Staats und seiner Organe, richtige Entscheidungen zu treffen. Dies diene nicht zuletzt der Selbstkontrolle. Aus einer formellen Perspektive ergebe sich die Begründungspflicht aus dem Gedanken der Messbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Handelns, weil erst die Begründung staatliche Entscheidungen für den Rechtsunterworfenen nachvollziehbar mache. Die Prüfung der drei Ebenen Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung führe automatisch zu einer Rationalisierung und Strukturierung der Argumentation im

761 Vgl. Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 234 f. 762 Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 40. 763 Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 79, 230; Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 191; Schaefer, Grundlagen einer ordoliberalen Verfassungstheorie, S. 147 f.; a. A. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 167. 764 Kahl, AöR 131 (2006), 579, 611; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 180. 765 Hierzu und zum Folgenden Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 38.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Zuge einer Grundrechtsprüfung.766 Schließe man ein bestimmtes Verhalten, hier bestimmte Äußerungen, aus dem Schutzbereich aus, werde das Regel-Ausnahmeverhältnis zwischen Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung, das im dreistufigen Grundrechtsaufbau gespiegelt werde, verwässert.767 Dadurch gingen Maßstäbe verloren, derer die nachvollziehbare juristische Begründung bedürfe.768 Dies gelte deshalb, weil die unterschiedlichen Ebenen, unterschiedliche Fragen an den Staat stellten, dem hierdurch eine Rechtfertigungs- und Begründungslast unterschiedlicher Stoßrichtung auferlegt werde, die disziplinierend wirken könne und die auf diese Weise staatlichem Missbrauch präventiv vorbeugen könne. Der Staat werde angehalten, transparent und rational zu begründen, wenn er individuelle Freiheiten beschränkte.769

766 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 190; Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 229; Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 149; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, S. 192 ff. 767 Kokott, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR I, §  22 Rn.  42; zum Regel-Ausnahme-Verhältnis bezüglich der Freiheit und ihren Begrenzungen Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S.  16  f. Diese hier vertretene Prämisse von der dreistufigen Grundrechtsprüfung, also der Trennung von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung, steht mit der sog. „Außentheorie“ in Zusammenhang, die davon ausgeht, die Freiheit sei als Regelfall unbegrenzt gewährleistet und die Begrenzungen würden als Ausnahmen „von außen“ an die Freiheit herangetragen (so Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 60 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 251 ff.; Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 58 f.) Im Gegensatz dazu steht die sog. „Innentheorie“, die im Sinne eines ganzheitlichen, integrativen Modells annimmt, die Freiheit sei überhaupt nur in dem durch ihre Begrenzungen gesteckten Rahmen gewährleistet, der Eingriff sei kein heterogenes, „von außen“ an das Recht herangetragenes Element, sondern jede Begrenzung durch den Gesetzgeber sei zugleich inhaltliche Bestimmung des Grundrechts; Gesetzgebung sei also stets Ausgestaltung der gewährleisteten Freiheit; Inhalt und Schranken eines Rechts bildeten eine Einheit (so etwa Siebert, Verwirkung und Unzulässigkeit, S. 85 ff.; Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 179 f., 210, 222 ff.); siehe hierzu ausführlich Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 16 ff. Die ausführliche Erörterung des Streits zwischen „Außen- und Innentheorie“ kann vorliegend dahinstehen. Die „Außen- und die Innentheorie“ beschäftigen sich streng genommen nicht mit der Frage, ob ein Verhalten im Schutzbereich eines Grundrechts liegt oder nicht. Sie sind uneinig darüber, ob eine grundsätzliche Zwei- bzw. Dreiteilung der Grundrechtsprüfung in Schutzbereich und Schranken des betreffenden Freiheitsrechts überhaupt anzunehmen ist oder ob der „Schutzbereich“ der grundrechtlichen Garantie konzeptionell nicht gleich immanenten Grenzen unterliegt, und zwar nur solchen. Diese Grundsatzfrage führt über den Zusammenhang und die Lösung der Fragestellung der vorliegenden Untersuchung hinaus und löst die zu beantwortende Frage nicht. Die hier vertretene „Außentheorie“ lässt eine Einschränkung des Schutzbereichs im konkreten Fall demokratiefeindlicher Äußerungen theoretisch zu. Die Entscheidung für die „Außentheorie“, wie sie hier als Prämisse vorausgesetzt wird, präjudiziert die Entscheidung über eine Einschränkung des Schutzbereichs nicht, da demokratiefeindliche Äußerungen auch in einer Konzeption, die grundsätzlich von einem dreistufigen Grundrechtsaufbau aus Schutzbereich, Eingriff und Schranken ausgeht, außerhalb des Schutzbereichs liegen könnten. Nur Letzteres ist vorliegend zu entscheiden. Daher muss der Streit zwischen „Außen- und Innentheorie“ hier nicht entschieden werden. 768 Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S.  230; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 84. 769 Schulze-Fielitz, JZ 1994, 902, 903.

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 343

Hiergegen wird allerdings vorgebracht, eine Entscheidung auf Ebene des Schutzbereichs müsse nicht notwendigerweise weniger rational sein oder weniger intensiv begründet werden. Der Umfang des Schutzbereichs könne unter Berücksichtigung der jeweiligen Grundrechtsbestimmung, des von ihr geregelten Sach- und Lebensbereichs, ihrer Schranken sowie der grundgesetzlichen Systematik und des Neutralitätsgebots reflexiv herausgearbeitet werden.770 Hierbei müsse zwingend ausführlich argumentiert werden.771 Argumentationen zur Festlegung der Grenze sachlicher Gewährleistung seien sogar besser rational diskutierbar als solche über die Formulierung pauschaler, nur von Fall zu Fall konkretisierbarer Abwägungsvorbehalte.772 Indem sich die Grenze des Schutzbereichs nicht einfach als Ergebnis einer Abwägung im Einzelfall erweise, setze sie sich kritischer Beurteilung aus. Die Gründe für oder gegen einen spezifischen Grundrechtsschutz würden aus einer Argumentation zu Grenzen der Gewährleistung sichtbar.773 Die Begründung müsse den Wortlaut des Art. 5 I 1 GG, das gesamte Regelungswerk des Grundgesetzes sowie die historischen und teleologischen Erwägungen zur Bestimmung erörtern. So werde der Grundrechtsanwender dazu gezwungen zu zeigen, dass er sich an den im Vorhinein feststehenden, auf alle vergleichbaren Fälle anwendbaren Parametern orientiert und dass er nicht einen für den Einzelfall individuellen Entscheidungsmaßstab anwendet.774 Einzuräumen sei, dass auch im Zuge dieses Auslegungsprozesses Wertungen unumgänglich seien. Dies rechtfertige es aber nicht, die positiven Vorgaben der Bestimmung außer Acht zu lassen, sondern es führe zu der Notwendigkeit, dass eine stringente Dogmatik entwickelt werde, die die Einzelfälle sachgerecht erfassen könne.775 Selbst wenn man annimmt, dass eine ausführliche Interpretation der Bestimmung und eine Subsumtion der Sachverhalte unter die aus der Interpretation gewonnene Definition des Schutzbereichs eine rationale Entscheidung ermöglicht, ist die Rechtfertigungslast eines Staats dennoch höher, wenn ein Verhalten in den Schutzbereich des Grundrechts einbezogen wird.776 Die Prüfung der neben der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne, der Angemessenheitsprüfung, erforderlichen und rechtsstaatlich wesentlichen Voraussetzungen wird nur dann durchgeführt und kann deshalb nur in diesem Fall dazu führen, dass der Staat sich diesbezüglich rechtfertigen muss.777

770 Für vorbehaltlose Grundrechte so De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 309. 771 De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 310. 772 De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 312. 773 De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 312. 774 De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 312. 775 De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 312. 776 Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 156; Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 208; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 64; Möllers, NJW 2005, 1973, 1974. 777 Vgl. Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 156.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Wenn ein Verhalten auf Ebene des Schutzbereichs aus diesem herausfällt, wird – selbst wenn eine Abwägung auf Schutzbereichsebene stattfinden würde und die Entscheidung rational wäre – das staatliche Verhalten nicht an dem strengen und rechtsstaatlich bedeutsamen Maßstab der Schrankenvorbehalte überprüft. Staatliche Maßnahmen, die als Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit zu qualifizieren sind, sind automatisch an bestimmte formelle und materielle Voraussetzungen geknüpft.778 Bereits dadurch, dass ein Verhalten im Schutzbereich des Grundrechts liegt, entfaltet dieses unmittelbar rechtliche Wirkung, weil das Grundgesetz das staatliche Handeln dann bestimmten, strengeren Anforderungen unterwirft.779 Werden diese Anforderungen außer Acht gelassen, schmälert dies die rechtsstaatliche Kontrolle staatlichen Handelns. Nicht nur die Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, sondern auch die Selbstkontrolle des Gesetzgebers entfällt.780 Der Gesetzgeber muss ein Gesetzesvorhaben dann nicht mehr dahingehend hinterfragen, ob es die besonderen Anforderungen an die Vorhersehbarkeit, die Bestimmtheit und die Klarheit sowie die Verhältnismäßigkeit erfüllt, die an einen Grundrechtseingriff durch Gesetz zu stellen sind, weil es gar keinen Grundrechtseingriff darstellt und daher die Anforderungen an einen solchen nicht erfüllen muss. Gerade Verbote demokratiefeindlicher Äußerungen sollten aber strengen Maßstäben unterliegen. Diese Maßstäbe sind jedenfalls weniger streng, wenn die Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen.781 Konkret geht es darum, dass die staatliche Maßnahme auf einer verfassungsmäßigen Schranke (Gesetzesvorbehalt, formell und materiell) beruhen muss, ein legitimes Ziel verfolgen muss, sowie geeignet und erforderlich sein muss. Diese Prüfungsstufen zwischen Schutzbereich und Abwägung der widerstreitenden Interessen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne entfallen, wenn die Äußerung nicht im grundrechtlichen Schutzbereich gesehen wird; selbst wenn man davon ausginge, dass auch auf Ebene des Schutzbereichs eine Abwägung stattfindet, kann diese nicht darüber hinweghelfen, dass diese Anforderungen nicht überprüft werden. Sie sind aber neben der Abwägung von hoher rechtsstaatlicher Bedeutung und zudem vom Grundgesetz intendiert.782 Nur wenn alle Anforderungen der Schrankenvorbehalte verlangt und überprüft werden, ist ein juristisch voll kontrollierbarer Schutz des Grundrechts möglich.783 Für den hier zu untersuchenden Fall der „Hassreden“ ist es insbesondere wichtig, dass die Maßnahme im Sinne eines Interventionsminimums erforderlich ist und

Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 145. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 146. 780 Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 59. 781 Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 599. 782 Jarass, AöR 120 (1995), 345, 371; Fohrbeck, Wunsiedel, S. 95; Kahl, AöR 131 (2006), 579, 607; Schaefer, Grundlagen einer ordoliberalen Verfassungstheorie, S. 147; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 39. 783 Schmidt-Jortzig, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 162 Rn. 3 ff.; siehe hierzu auch Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 43. 778 779

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 345

dass dies überprüft wird. Nur ein gradueller Ansatz, ausgedrückt im Prinzip der Erforderlichkeit, kann der Komplexität des Problems, des „demokratischen Dilemmas“, gerecht werden. Nur das mildeste Mittel, mit dem die staatliche Zielsetzung erreicht werden kann, ist rechtsstaatlich vertretbar. Dies ist insbesondere bei „Hassreden“ wichtig, um bei geringstmöglichem Eingriff in die individuelle Freiheitssphäre, größtmöglichen Schutz der demokratischen Grundprinzipien gewährleisten zu können.784 Wenn ein System – wie alle drei hier untersuchten – sich für eine „streitbare Demokratie“ entscheidet, sollte es sich um der Idee der Freiheit willen auf das nach der jeweiligen Situation unabdingbare Mindestmaß an Maßnahmen zum Schutz der Demokratie beschränken.785 Dem Bürger muss ein Instrument an die Hand gegeben werden, mit dem er staatliche Maßnahmen abwehren kann, die die grundrechtliche Freiheit stärker begrenzen als es für den verfolgten Zweck notwendig ist.786 Gerade in Grenzfällen erweist sich die Erforderlichkeitsprüfung häufig als geeigneter Maßstab.787 Diese beschriebenen rechtsstaatlich notwendigen Anforderungen an staatliche Maßnahmen, die grundrechtlich relevantes Verhalten beschränken, entfielen, wenn das Verhalten nicht im Schutzbereich des Grundrechts läge. Der Staat müsste sich zu diesen speziellen Anforderungen nicht erklären und er müsste sie – sofern sie sich nicht aus anderen Regelungen als den grundrechtlichen Schrankenvorbehalten ergeben – nicht einhalten. Die Entscheidung auf Ebene des Schutzbereichs wird aus diesem Grund teilweise als „unterstrukturiert“ bezeichnet.788 Dem Vorwurf, die grundrechtliche Freiheit des Einzelnen gehe zu weitgehend verloren, wenn man ein Verhalten nicht in den Schutzbereich eines Grundrechts einbezieht, wird entgegengehalten, eine weite Interpretation des Schutzbereichs führe zum gleichen Ergebnis, wenn sie – wie oft – mit einer extensiven Schrankenauslegung einhergehe.789 Als „verfassungsimmanente Schranken“ würden vage Verfassungsgüter herangezogen, die weite Interpretationsspielräume ließen.790 Dadurch riskiere man eine Nivellierung der speziellen Schrankensystematik und einen erheblichen Verlust an Präzision, Klarheit und Voraussehbarkeit bei der Grundrechtsanwendung.791 Die Beschränkung der Äußerungen würde pauschal gerechtfertigt; es

Ost, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 449, 457 f. Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 599. 786 Von Arnauld, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 167 Rn. 44. 787 Von Arnauld, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, §  167 Rn.  44; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 183. 788 Schlink, EuGRZ 1984, 457, 463. 789 Hoffmann-Riem, in: Bäuerle u.  a., Haben wir wirklich Recht?, S.  53, 54, 64  ff.; Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 477; De Oliveira, Zur Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 308, 311; Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203, 229; Hoffmann-Riem, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 106 Rn. 21; Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 56 Rn. 67; Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 60 Rn. 12. 790 Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 477. 791 Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 478. 784 785

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

bestehe kein tatsächlicher Unterschied dazu, die Äußerung bereits außerhalb des Schutzbereichs zu sehen.792 Wenn Schrankenregelungen exzessiv angewendet werden, ist dies ein Mangel, der in der Anwendung der Bestimmungen im konkreten Fall liegt. Die grundsätzliche Annahme, die Schrankenregelungen garantierten eine rationalere und rechtsstaatlich sicherere Entscheidung, ist mit diesem Mangel nicht behaftet. Sie wird unter der Prämisse getätigt dass die Rechtfertigungsprüfung lege artis durchgeführt wird. Vor diesem Hintergrund sprechen sowohl die rationalisierende Wirkung der Rechtfertigungsprüfung, als auch die gesteigerten Anforderungen an staatliche Maßnahmen aus teleologischer Perspektive dafür, die Äußerungen in den Schutzbereich einzubeziehen. iii. Behandlung von Grenzfällen Geht man davon aus, dass bestimmte Äußerungen schon auf der Ebene des Schutzbereichs aus dem grundrechtlich geschützten Bereich des menschlichen Verhaltens auszuschließen sind, sind die Grenzen dafür zu bestimmen. Jede Äußerung ist dann danach zu beurteilen, ob sie diese Grenzen überschreitet oder nicht.793 Teilweise wird davon ausgegangen, durch Anwendung der klassischen Auslegungsmethoden sei es möglich, Schutzbereichsgrenzen präzise und abstrakt im Vorhinein festzulegen.794 Daran bestehen begründete Zweifel.795 Die exakte Grenzziehung kann erst das Ergebnis einer Abwägung der widerstreitenden Interessen sein, die Gewicht und Rang der kollidierenden Freiheitsinteressen im konkreten Kontext der Äußerung einbezieht.796 Grenzen im Schutzbereich würden, wenn man solche aufzustellen versuchte, so weit aufgeweicht und mit so vielen Abschichtungen und Ausnahmefällen sowie Unterfällen versehen, dass faktisch kein Unterschied zu einer am Einzelfall orientierten, wertenden Entscheidung bestünde. Dann entfiele aber der Mehrwert einer Entscheidung im Schutzbereich. Die Überlegung, dass der Schutzbereich zwar nicht generell durch Großformeln wie Friedlichkeit, Strafrechtswidrigkeit, neminem laedere, Missbrauch, Sozialschädlichkeit etc., dafür aber punktuell durch interpretatorisch oder konkretisierend gewonnene Kleinformeln zu verengen und die Grundrechtsprüfung im Rahmen des methodisch Möglichen bereits auf der ersten Prüfungsstufe zu beenden sei,797 entspricht im Ergebnis

Brugger, AöR 128 (2003), 372, 377. Vgl. zum ähnlichen Ansatz des US Supreme Court Christou, Die Hassrede in der verfassungsrechtlichen Diskussion, S. 210. 794 Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 220. 795 Vgl. Kapries, Die Schranken der Grundrechte, S. 92; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 216; Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, S. 156. 796 Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 200 Rn. 32; Fohrbeck, Wunsiedel, S. 95; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 124 f. 797 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 169. 792 793

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 347

einer Abwägungsentscheidung. In Grenzfällen bestünde aus diesen Gründen jedenfalls kein Mehrwert, wenn die Entscheidung schon auf Ebene des Schutzbereichs getroffen würde.798 iv. Effektivität des grundrechtlichen Schutzes Häufig wird im Rahmen der teleologischen Auslegung die Effektivität der Verfassungsbestimmungen betont.799 Im Sinne einer größtmöglichen Grundrechtseffektivität sei von weiten Schutzbereichen auszugehen.800 Als alternative Begründung für weite Schutzbereiche wird häufig der Grundsatz „im Zweifel für die Freiheit“ bzw. „in dubio pro libertate“ genannt.801 Geht man davon aus, „Hassreden“ lägen nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit, widerspricht dies prima facie dieser Auslegungsmaxime.802 Der Grundsatz der Effektivität des grundrechtlichen Schutzes bezieht sich aber nicht auf eine einzelne Verfassungsbestimmung, sondern auf den Schutz der Grundrechte insgesamt; davon sind auch die widerstreitenden Interessen umfasst, deren Schutzbedürftigkeit in den Grundrechtsschranken zum Ausdruck kommt.803 Im Wege einer Gesamtbetrachtung aller Verfassungsbestimmungen und den von ihnen geschützten Interessen ist die Auslegung zu wählen, die die juristische Wirkungskraft des Grundrechts im Einzelfall am besten entfaltet.804 Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage, inwieweit eine weite Auslegung des Schutzbereichs einer grundrechtlichen Garantie einer Auslegung nach dem Grundsatz der Effektivität des Grundrechtsschutzes entspricht, nicht ohne Weiteres beantworten.805 Das Argument der Effektivität der grundrechtlichen Gewährleistung allein genügt nicht, um zu begründen, dass „Hassreden“ im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegen.

A. A. Hochmann, Le négationnisme, S. 72. BVerfGE 6, 55, 72; BVerfGE 32, 54, 71; BVerfGE 51, 97, 110; BVerfGE 103, 142, 153; Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 7 Rn. 26; kritisch gegenüber der Auslegungsmaxime der Grundrechtseffektivität Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 95, S. 1702. 800 Vgl. statt vieler Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 169 m. w. Nw.; zweifelnd Hoffmann-Riem, Der Staat 43 (2004), 203, 229; Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, Ein Grundrecht bürgerschaftlicher Selbstbestimmung, S. 13 f. 801 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, § 19 Rn. 11. 802 Vgl. Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 149; Von Coelln, in: Stern/ Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art.  18 Rn.  7; Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 33 Rn. 45; in der Tendenz ähnlich Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 201 f. 803 Vgl. hierzu Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR XII, § 268 Rn. 53; Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Staatsrechtliche Abhandlungen und Aufsätze, S. 89, 259; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD I, §  4, S.  131  f.; Ossenbühl, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR I, § 15 Rn. 16; Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 33 Rn. 20; BVerfGE 1, 14, 32; BVerfGE 19, 206, 220. 804 BVerfGE 6, 55, 72; BVerfGE 32, 54, 71; BVerfGE 39, 1, 38; Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 33 Rn. 45. 805 Vgl. hierzu ähnlich Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 33 Rn. 45; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 95, S. 1742. 798 799

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

v. Vermeidung von Standpunktdiskriminierungen auf Ebene des grundrechtlichen Schutzbereichs Mit der Annahme, „Hassreden“ seien vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht umfasst, ist die Gefahr verbunden, dass der grundrechtliche Schutz wert- bzw. standpunktdiskriminierend gewährleistet wird.806 Sie führt dazu, dass rechtserheblich zwischen unterschiedlichen Inhalten des Freiheitsgebrauchs differenziert wird.807 Der Staat würde definieren, welche Inhalte zulässig oder unzulässig sind. Darin läge ein erhebliches Risiko, dass grundrechtlicher Schutz nur für ein Verhalten gewährleistet wird, das mit der herrschenden, vom Staat definierten Auffassung konform ist.808 Sinn und Zweck der Gewährleistung der grundrechtlichen Kommunikationsfreiheiten ist es aber gerade, eine standpunktspezifische Einflussnahme des Staats auf private Kommunikation zu verhindern.809 Eine solche würde man riskieren, würde man den Schutzbereich des Grundrechts nach inhaltlichen Kriterien definieren. Die Gefahr einer Standpunktdiskriminierungen spricht dagegen, „Hassreden“ aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit auszuklammern.810 vi. Meinungsfreiheit im Dienst der demokratischen Willensbildung Aus einer demokratisch-funktionalen Perspektive auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit, die dessen Bedeutung für den öffentlichen Meinungsbildungsprozess als entscheidend qualifiziert,811 könnte man zu dem Schluss gelangen, „Hassreden“ lägen nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit. „Hassreden“ leisteten keinen „Beitrag zur pluralistischen Meinungsbildung“. Da darin aber Sinn und Zweck der grundrechtlichen Garantie lägen, liege eine solche Äußerung nicht im Schutzbereich derselben.812 Diese demokratisch-funktionale Sichtweise, die einer demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie entspricht, versteht die Grundrechte, und damit auch die Meinungsäußerungsfreiheit, von ihrer öffentlichen und politischen Funktion her.813 Sie lehnt den liberalen Gedanken, dass die Grundrechte primär eine staatsfreie oder vorstaatliche Sphäre des Individuums sicherstellen sollen, ab. Grundrechte würden

Schaefer, Grundlagen einer ordoliberalen Verfassungstheorie, S. 147; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 81, S. 526. 807 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 234. 808 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 234. 809 Vgl. Determann, Kommunikationsfreiheit im Internet, S. 446; Kloepfer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 42 Rn. 14; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 204 ff., 211 f.; Schmidt-Jortzig, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 162 Rn. 3 ff. 810 Siehe zur Differenzierung nach dem Inhalt der Äußerung auf der Ebene des Schutzbereichs ausführlich unten Kapitel 4, B., III. 811 BVerfGE, 7, 198, 208; BVerfGE 8, 85, 205. 812 Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121, 123; Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 179. 813 Hierzu und zum Folgenden Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 235 f. 806

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nach ihrer öffentlichen, demokratiekonstituierenden Aufgabe und Funktion legitimiert und in ihrem Inhalt auch determiniert.814 Sie seien Funktions- und Kompetenzbegründungsbestimmungen zur freien Teilnahme Einzelner am politischen Willensbildungsprozess, nicht aber negative Kompetenzregelungen zwischen Bürger und Staat.815 Danach kann der Schutzbereich eines Grundrechts nur so weit reichen, als das Verhalten dem politischen Prozess dient. Eine Spielart dieser Auffassung stellt auch die sog. „Verantwortungsdogmatik“816 dar. Ein Verhalten liegt danach nur im Schutzbereich eines Grundrechts, wenn es verantwortungsbewusst im Sinne einer Gemeinwohlorientierung ist.817 Mit dieser Begründung könnte man „Hassreden“ außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit sehen.818 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird auch zumindest ein Doppelcharakter des Grundrechts der Meinungsfreiheit angenommen. Die Meinungsfreiheit wird danach sowohl im Interesse des Einzelnen als auch im Interesse des demokratischen Prozesses insgesamt gewährleistet.819 Der EGMR vertritt eine ähnliche Position.820 Der Demokratiebezug ist Grundlage dafür, dass der Gewährleistungsinhalt der grundrechtlichen Garantie auf die öffentliche Meinungsbildung insgesamt bezogen wird.821 In der Konsequenz bedeutet dies, dass eine Meinungsäußerung, die keinen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung leistet, jedenfalls weniger intensiv geschützt wird. Dieser Ansatz von der demokratischen Funktionalität der Meinungsäußerungsfreiheit, der damit verbundenen Privilegierung solcher Äußerungen, die einen Beitrag zur demokratischen Willensbildung leisten,822 und der gleichzeitigen Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 236. So aber zum Beispiel Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 8 f. 816 Klement, Verantwortung, S. 472 ff.; vgl. auch Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 200 Rn. 25; kritisch Volkmann, AöR 134 (2009), 157, 172; Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 74 f.; Scheuner, DÖV 1971, 505, 506, 507, 511; Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, S. 43 f.; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 22 f. 817 Höfling, Jura 1994, 169, 170; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 18. 818 Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, S. 237; Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S.  52; zu Recht zur zweifelhaften Bedeutung von Grundrechtstheorien für die Grundrechtsauslegung Ossenbühl, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR I, § 15 Rn. 41; siehe zur objektiv-rechtlichen und demokratisch-funktionalen Grundrechtsdimension Sachs, Verfassungsrecht II, Teil I, 3 Rn. 25, sowie zur hier vertretenen „Multifunktionalität“ der Grundrechte im Sinne einer Konzeption, in der sich die unterschiedlichen Dimensionen der Grundrechte bzw. Grundrechtstheorien nicht ausschließen, sondern je nach speziellem Grundrecht ergänzen bzw. nebeneinander treten: Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, §  33 Rn.  43. Art.  5  GG ist anhand einer mehrdimensionalen und multifunktionalen Grundrechtsdogmatik auszulegen (Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 12), weshalb aus den unterschiedlichen Dimensionen und Funktionen des Grundrechts Argumente gewonnen und zueinander in Beziehung gesetzt und bewertet werden müssen; kritisch hierzu Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 203, 209. 819 BVerfGE 82, 272, 281. 820 Vgl. Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 308 ff. m. w. Nw. 821 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 6 unter Verweis auf BVerfGE 85, 23, 31. 822 Vgl. insbesondere Hoffmann-Riem, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stern, AK-GG, Art. 5 I, II Rn. 40 ff. 814 815

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Benachteiligung solcher, die einen entsprechenden Beitrag gerade nicht leisten, begegnet Bedenken.823 Die berechtigte Kritik stützt sich zutreffend darauf, dass der abwehrrechtliche Gehalt der Meinungsfreiheit (zumindest teilweise) zugunsten eines auf gesetzgeberische Ausgestaltung verwiesenen Grundrechts verdrängt und die individuelle Freiheit damit tendenziell verkürzt wird.824 Die grundrechtliche Gewährleistung wird dadurch für den individuellen Grundrechtsträger relativiert und der einfache Gesetzgeber wird in die Lage versetzt, über Umfang und Reichweite des grundrechtlichen Schutzes zu disponieren. Aus einer liberalen, individualrechtlichen Sicht ist aber anzunehmen, dass der Umfang des grundrechtlichen Schutzes verfassungsrechtlich vorgegeben ist. Folgt man der oben skizzierten Annahme, dass der Schutzbereich der Meinungsfreiheit anhand der demokratischen Funktionalität der Meinungsäußerung bestimmt wird, geriete auf diese Weise der Staat in die Position, zu entscheiden, welche Äußerung von allgemeinem Interesse ist und zur demokratischen Debatte beiträgt und welche Äußerung damit im Schutzbereich des Art. 5 I 1 1 GG liegt.825 Dies birgt die Gefahr einer inhaltlichen Bewertung der Meinungsäußerung durch den Staat.826 Das Abwehrrecht des Individuums wird dadurch verkürzt. Im Übrigen fehlt eine tragfähige Begründung des „objektiven Gehalts“ der Meinungsfreiheit in der Bestimmung des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG.827 Ein hinreichend klarer Anhaltspunkt dafür, dass von einer Beschränkung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit auf Beiträge zur demokratischen Debatte auszugehen ist, wäre jedenfalls zu fordern.828 Fraglich ist auch bereits, nach welchen Kriterien bestimmt werden sollte, ob ein Beitrag zur öffentlichen Willensbildung vorliegt. Es kann nicht pauschal davon ausgegangen werden, dass keine demokratiefeindliche Äußerung einen Beitrag zu einer Diskussion über die Gestaltung des Systems und dessen Zukunft darstellt. Provozierende Äußerungen können gegebenenfalls, wenn sie sich in einem bestimmten Rahmen halten, Diskussionen gerade anstoßen und sie sind von Bedeutung für die pluralistische Willensbildung. Die öffentliche Auseinandersetzung

Siehe hierzu insbesondere Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 8 ff., 353 ff.; Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102, Rn. 18 ff.; Möllers, VVDStRL 68 (2008), 47, 74; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S.  186; Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 209. 824 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 8 ff., 362 f.; Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102, Rn. 18 ff. 825 Vgl. dazu im Zusammenhang mit der Pressefreiheit gemäß Art. 10 EMRK Grabenwarter AfP 2004, 309, 311. 826 Vgl. dazu Bullinger in Isensee/Kirchhof HStR VII, 3. Aufl. 2009, § 163 Rn. 38. 827 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 8. 828 Starck, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 33 Rn. 44. 823

A. Demokratiefeindliche Äußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit 351

kann eine geeignete Methode des Umgangs mit Vorurteilen sein, die zu ethnischen oder rassischen Ausgrenzungen führen.829 Insgesamt würden schwierige Abgrenzungsfragen aufgeworfen, deren Entscheidung tendenziell eher zu Lasten als zu Gunsten des pluralistischen und demokratischen Willensbildungsprozesses ginge.830 Aus den genannten Gründen kann nicht vertretbar angenommen werden, dass der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit bei „Hassreden“ nicht betroffen ist, weil diese keinen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung im Sinne des demokratischen Willensbildungsprozesses darstellen.831 An dieser Stelle kann dahinstehen, ob das Verhältnis einer Äußerung zum demokratischen Willensbildungsprozess legitimes Kriterium im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen ist und dazu führt, dass die Äußerung in der Verhältnismäßigkeitsprüfung höher zu gewichten ist.832 Die ausgeführten Bedenken gelten zumindest nicht in gleicher Weise, wenn es darum geht, die demokratische Funktionalität einer Äußerung auf Ebene der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs geltend zu machen. Unabhängig davon, wie dies letztlich zu bewerten ist, sind Hassreden aber aus den oben genannten Gründen nicht deshalb außerhalb des Schutzbereichs zu sehen, weil sie keinen Beitrag zur demokratischen Debatte darstellen. e) Zwischenergebnis zur Auslegung des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG Die Auslegung der Bestimmung des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG ergibt, dass demokratiefeindliche Äußerungen und insbesondere „Hassreden“ „Meinungen“ im Sinne der grundgesetzlichen Bestimmung sind. Der Wortlaut vermag ebenso wenig wie systematische, historische oder teleologische Auslegungsargumente zu begründen, dass „Hassreden“ außerhalb des grundrechtlichen Schutzbereichs liegen. Neben diesen allgemeinen Auslegungserwägungen gibt es weitere – im Folgenden zu erörternde – spezifische Argumente, warum die Unwahrheit einer Tatsachenbehauptung, der demokratiefeindliche Inhalt einer Äußerung, ihr „Gewaltpotenzial“ oder kollidierende Grundrechte Dritter nicht rechtfertigen können, dass eine Äußerung nicht im Schutzbereich der Garantie der Meinungsfreiheit liegt.

Kübler, Äußerungsfreiheit und rassistische Propaganda, S. 155, 177. Vgl. Adler, Cal. L. Rev. 84 (1996), S. 1499, 1572; Arndt, BayVBl. 2002, 653, 656; Morlok, NJW 2001, 2931, 2933. 831 So im Ergebnis auch Arnold, Die grundrechtliche Schutzbereichsbegrenzung, S. 49. 832 Vgl. kritisch hierzu statt vieler in Bezug auf Äußerungen in der Presse Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 413. 829 830

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicherÄußerungen und der Schutzbereich der Meinungsfreiheit Die voranstehenden Auslegungsüberlegungen sollen im Folgenden gestützt werden, indem dargelegt wird, dass auch spezifische Merkmale wie die Unwahrheit einer Äußerung oder ihr „Gewaltpotenzial“ nicht begründen können, dass die Äußerung nicht vom grundrechtlichen Schutzbereich umfasst ist.833

I. Vorbemerkung Die in einzelnen Vorschriften des Grundgesetzes zum Ausdruck kommende Grundentscheidung des Grundgesetzes für eine „streitbare Demokratie“ bzw. für den Schutz der FDGO kann nicht als allgemeine Grenze des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit interpretiert werden.834 Dem stehen die besonderen Anforderungen entgegen, die jene Vorschriften, die die Instrumente „streitbarer Demokratie“ regeln, stellen. Art. 18 GG würde obsolet, wenn ein Verhalten, dass die FDGO gefährdet, gar nicht im Schutzbereich der grundrechtlichen Garantien läge.835 Zudem entfielen die rechtsstaatlichen Sicherungen, die über die besonderen Voraussetzungen der Instrumente der „streitbaren Demokratie“ im Grundgesetz gewährleistet werden.836 Die Unbestimmtheit einer solchen allgemeinen Grundrechtsschranke wäre mit rechtsstaatlichen Erfordernissen zumindest schwierig in Einklang zu bringen.837 Die „streitbare Demokratie“ ist deshalb als Begriff für die Summe der Vorschriften, die den „streitbaren“ Charakter des Grundgesetzes zum Ausdruck bringen, nicht aber als Schutzbereichsgrenze zu verstehen.838 Im Schrifttum besteht Einigkeit

833 Es sind solcher Merkmale weit mehr denkbar, als sie hier Erwähnung finden. Die vorliegende Untersuchung soll sich auf einige Ansätze beschränken, die häufig vorgebracht werden und deren Plausibilität nicht ohne Weiteres verworfen werden kann. 834 So noch Klein, VVDStRL 37 (1978), 53 ff., 67 f.; wie hier Möller, Der grundrechtliche Schutz der Meinungsfreiheit, S. 53; vgl. zur Frage einer Grundrechtsschranke der „wehrhaften Demokratie“ im Ergebnis ähnlich wie hier Ulbricht, Volksverhetzung und das Prinzip der Meinungsfreiheit, S. 350 f. 835 Schlink, Der Staat 15 (1976), 335, 361; Bäumler, JZ 1986, 469, 474; Lehmann, Der Schutz symbolträchtiger Orte vor extremistischen Versammlungen, S. 216 f.; vgl. hierzu Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 215; Bamberger, Der Staat 30 (2000), 355, 367 f. 836 Vgl. hierzu Schlink, Der Staat 15 (1976), 335, 366. 837 Bulla, AöR 98 (1973), 340, 359 f.; vgl. Schmidt-Jortzig, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR I, § 10 Rn. 42. 838 Kniesel/Poscher, NJW 2004, 422, 427; Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 224; vgl. Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S.  44; Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 124 f. m. w. Nw.; vgl. hierzu Warg, VerwArch 2011, 570, 574; Streinz, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 21 Rn. 214; Gusy, JZ 2002, 105, 110; Kutscha, NJ 2001, 346, 348; Rühl, NVwZ 2003, 531, 534; Sander, NVwZ 2002, 831, 833.

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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darüber, dass grundrechtliche Schutzbereiche über eine „Großformel“839 der „streitbaren Demokratie“, ebenso wenig verengt werden dürfen wie über vergleichbare Topoi wie Friedlichkeit, Gemeinschädlichkeit840 und Sozialschädlichkeit841.842 Die gegen einen pauschalen Vorbehalt „streitbarer Demokratie“ gerichteten Einwände gelten analog für die europäischen Grundrechtskataloge. Wegen der bewussten Technik besonderer Schrankenvorbehalte in der EMRK gelten die in Bezug auf die Umgehung spezifischer Beschränkungsvorbehalte beschriebenen Argumente gegen „Großformeln“ im Grundgesetz ebenso für die Garantien der EMRK.843 Auch im Unionsrecht – für Art. 11 GRC – ist das Risiko, dass ein solcher Vorbehalt als

Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 169. Das BVerwG vertrat in seiner frühen Rechtsprechung einen sog. „Gemeinschaftsvorbehalt“. Danach sollte es zum Inbegriff aller Grundrechte gehören, dass sie nicht in Anspruch genommen werden dürfen, wenn dadurch die für den Bestand der Gemeinschaft notwendigen Rechtsgüter oder Grundrechte Dritter gefährdet würden (BVerwGE 1, 48, 52; BVerwGE 1, 92, 94; BVerwGE 2, 345, 346; BVerwGE 7, 125, 139; BVerwGE 16, 241, 248; BVerwGE 23, 104, 110). Damit vertrat das BVerwG einen Vorbehalt der Gemeinschaftsverträglichkeit (siehe hierzu Bamberger, Der Staat 30 (2000), 355, 364; Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S.  90, 101; Gallwas, Der Missbrauch von Grundrechten, S. 99; Kutscha, Verfassung und „streitbare Demokratie“, S. 122). Das BVerfG verwarf diese Einschränkung des Schutzbereichs aber (vgl. etwa BVerfGE 28, 241, 261; BVerfGE 32, 98, 108). Auch im Schrifttum wurde und wird ein Gemeinwohlvorbehalt für die grundrechtlichen Schutzbereiche im Wesentlichen mit dem Argument rechtsstaatlicher Bedenklichkeit in Bezug auf die Unbestimmtheit und damit verbundene uferlose Beschränkbarkeit der Grundrechte sowie den Mangel an positiv-rechtlicher Rückbindung in der Verfassung und der Unüberwindbarkeit der Wesensgehaltsgarantie aus Art. 19 II GG abgelehnt (Isensee, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR V, §  115 Rn.  183; Schmidt-Jortzig, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR I, § 10 Rn. 41; Müller, Die Positivität der Grundrechte (1990), S. 13 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrecht, S. 123; Nieuwland, Theorien der immanenten Grundrechtsschranken, S. 96 f.; Čopic, Grundgesetz und politisches Strafrecht, S. 22; Bettermann, Grenzen der Grundrechte, S. 16 ff.). Das BVerwG gab den Vorbehalt später auch selbst auf (BVerwGE 44, 196, 199 f.; BVerwGE 47, 330, 353; BVerwGE 49, 202, 208 f). Diesem Ansatz ist daher an dieser Stelle nicht weiter nachzugehen. 841 Vgl. hierzu zum Beispiel Beisel, Die Kunstfreiheitsgarantie des Grundgesetzes, S.  124; BVerwGE 1, 48, 52. Der Vorbehalt der Sozialverträglichkeit wird ebenso wie jener der Gemeinwohlverträglichkeit im Schrifttum abgelehnt (Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 81). 842 Schneider, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR I, § 18 Rn. 99; für die Ebene der EMRK und jene der GRC gilt dies gleichermaßen. Dies ist deshalb der Fall, weil die angeführten rechtsstaatlichen Bedenken für die europäischen Grundrechtskataloge auch gelten. Sozial- und Gemeinschädlichkeit sind offene, vage Begriffe, die den Erfordernissen des Bestimmtheitsgebots und damit der Rechtssicherheit für den Rechtsunterworfenen und Grundrechtsträger nicht genügen können. Die Folge wäre hier wie dort die Möglichkeit uferloser Grundrechtseinschränkungen ohne jegliche rechtsstaatliche Sicherung. Der weite Begriff der Sozial- oder jener der Gemeinschädlichkeit würde Gefahr laufen, als Begründungssurrogat herangezogen und zum Instrument für willkürliche Grundrechtsbeschränkungen zu werden (Berka, ÖZÖRV 1986, 71, 81); a. A. Merten, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HbGR III, § 60 Rn. 26 ff., der eine zutreffende Kernaussage des Vorbehalts der Gemein- bzw. Sozialschädlichkeit darin sieht, dass solche Verhaltensweisen ausgesondert würden, die bei vernünftiger Betrachtung in einem so erheblichen Maße sozialschädlich seien, dass sie nicht am Grundrechtsschutz teilhaben könnten. Rechtsstaatliche Garantien würden dadurch nicht aufgegeben. 843 Vgl. hierzu Berka, ÖZÖRV 1986, 71, 81. 839 840

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

vorschnelles Begründungssurrogat und Instrument zur Umgehung rechtsstaatlicher Sicherungen bei Grundrechtseingriffen missbraucht wird, gegeben.844 Die eingrenzende Definition des grundrechtlichen Schutzbereichs über einen pauschalen Vorbehalt der „streitbaren Demokratie“ oder andere „Großformeln“ ist für alle untersuchten Grundrechtsebenen abzulehnen. Der Schutzbereich könnte aber punktuell nach spezifischen Kriterien begrenzt sein.845

II. Die (Un)wahrheit der Äußerung Demokratiefeindliche Äußerungen sind häufig Leugnungen historischer Verbrechen oder sonstige tatsächlich erwiesen unwahre Behauptungen. Im sog. „postfaktischen Umfeld“846 werden „fake news“,847 also Falschinformationen absichtlich produziert und verbreitet, um politische Ziele zu erreichen. Die falschen Informationen stehen regelmäßig im Zusammenhang mit diffamierenden Absichten und Hass, der gesät werden soll.848 Die Unwahrheit dieser Äußerungen könnte herangezogen werden, um zu begründen, dass sie nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegen. 1. Der Schutz von Tatsachenbehauptungen Da nur Tatsachenbehauptungen den Kategorien von Wahrheit und Unwahrheit zugänglich sind,849 muss erörtert werden, ob sie grundsätzlich im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen. Tatsachenbehauptungen sind Aussagen über ein äußeres oder inneres Geschehen der Vergangenheit oder Gegenwart, das als solches (theoretisch) beweisbar ist.850 a) Der Schutz von Tatsachenbehauptungen gemäß Art. 10 I EMRK und Art. 11 I GRC Die Schutzbereiche der Garantie in Art.  10 I EMRK und Art.  11 I GRC umfassen Tatsachenbehauptungen.851 Dies legt bereits der Wortlaut der authentischen

Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 510; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), EurGR, § 7 Rn. 10. 845 Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 169; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, Rn. 510; Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), EurGR, § 7 Rn. 10. 846 Vgl. dazu statt vieler Steinbach, JZ 2017, 653 ff. 847 Zum Begriff Steinbach, JZ 2017, 653, 654. 848 Steinbach, JZ 2017, 653, 654. 849 Grimm, NJW 1995, 1697, 1703. 850 Steffen, in: Löffler (Hrsg.), Presserecht, § 6 Rn. 30. 851 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 4; Hochmann, Le négationnisme, S. 84. 844

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Sprachfassungen der EMRK nahe. Die Begriffe „freedom of expression“ und „liberté d’expression“sind weiter als der Begriff der „Meinungsäußerung“.852 Sie schließen Tatsachenbehauptungen ein. Differenzierungen zwischen Werturteilen und Tatsachenbehauptungen werden in den europäischen Grundrechtskatalogen erst auf der Ebene der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs relevant.853 b) Der Schutz von Tatsachenbehauptungen gemäß Art. 5 I 1 Alt. 1 GG Für Art. 5 I 1 Alt. 1 GG ist umstritten, ob Tatsachenbehauptungen geschützt sind.854 Der Schutz wird mit dem Argument bezweifelt, eine Tatsachenbehauptung habe keinerlei Wert für den Meinungsbildungsprozess. Die Meinungsfreiheit schütze diesen aber gerade und ihr Schutzbereich ende – teleologisch argumentiert – dort, wo eine Äußerung keinen Beitrag zum Meinungsbildungsprozess leiste.855 Dem ist entgegenzuhalten, dass auch mit der Äußerung einer Tatsachenbehauptung ein geistiges Wirken intendiert sein kann.856 Die Unterscheidung zwischen Meinungen und Tatsachen und insbesondere jene zwischen unwahren und wahren Tatsachen bereitet Schwierigkeiten. Eine im Rahmen menschlicher Kommunikation geäußerte Tatsachenbehauptung ist regelmäßig nicht frei von subjektiven Wertungen, weil eine objektive Schilderung der Realität durch einen Einzelnen faktisch nicht möglich ist.857 Jede Wahrnehmung tatsächlicher Vorgänge ist subjektiv.858 Wenn im Anschluss eine Behauptung über die wahrgenommenen Tatsachen aufgestellt und geäußert wird, ist diese notwendig ebenso wenig objektiv.859 Die sich äußernde Person wird in der Regel etwas weglassen, etwas betonen oder eine bestimmte Darstellungsform wählen. In jedem Fall der Äußerung einer Tatsachenbehauptung ist ein subjektiver Filter gegeben. Eine rein objektive Äußerung von Tatsachen ist regelmäßig nicht möglich, weil sowohl Wahrnehmung als auch Sendung subjektiv sind. Jede Äußerung enthält demnach ein Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens, selbst wenn es sich um eine Tatsachenbehauptung handelt.860

Siehe hierzu bereits Kapitel 4, A., II., 1., a) und 3., a); so auch Payandeh, JuS 2016, 690, 691. Vgl. etwa EGMR, 15. 3. 2011, Otegi Mondragon ./. Spanien, Nr. 2034/07, Z. 53; EGMR, 12. 7. 2001, Feldek ./. Slowakei, Nr. 29032/95, Z. 75; EGMR, 7. 6. 2016, CICAD ./. Schweiz, Nr. 17676/09, Z. 49; siehe hierzu ausführlicher unten Kapitel 4, B., II., 3. 854 Kübler, Äußerungsfreiheit und rassistische Propaganda, S. 155, 178; Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, S. 281. 855 So die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (siehe hierzu Kapitel 3, B., V., 2.). 856 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 50. 857 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 50; Fechner, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 5 Rn. 87; Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102 Rn. 36 f. 858 Schmidt-Jortzig, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 162 Rn. 21. 859 Hierzu und zum Folgenden Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 50; Steinbach, JZ 2017, 653, 655. 860 Sachs, Verfassungsrecht II, Teil II, 17 Rn. 7. 852 853

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Hinzu tritt, dass Werturteile und Tatsachenbehauptungen in der Regel nicht getrennt werden können.861 Wertende und tatsächliche Elemente werden vermischt und die Übergänge sind fließend.862 Gerade solche Äußerungen, die als „fake news“ bezeichnet werden, sind regelmäßig untrennbar mit einem dahinterstehenden Werturteil verbunden sind.863 Bewusste Lügen und Leugnungen erwiesen wahrer Fakten werden aus einem bestimmten Grund oder mit einem bestimmten Verständnis geäußert, worin das Werturteil liegt.864 Ein falsches Zitat oder die Verbreitung falscher Nachrichten transportieren regelmäßig auch ein negatives Werturteil.865 Auch in dem Fall, in dem einer falschen Tatsachenbehauptung unbewusst eine falsche Bewertung der Realität zugrunde liegt, ist sie Werturteil. Auch im Fall revisionistischer Äußerungen können Tatsachen- und Werturteilselemente meist nicht getrennt werden.866 Eine Leugnung eines historischen Verbrechens stellt zwar eine Tatsachenbehauptung dar, sie ist jedoch regelmäßig mit wertenden Elementen verbunden sein.867 Man könnte annehmen, das Gesamtgepräge müsse in einem solchen Fall entscheidend sein; entweder es handelt sich schwerpunktmäßig um eine Tatsachenbehauptung oder um ein Werturteil.868 Eine Tatsachenbehauptung wäre dann aber nur in seltenen Ausnahmefällen anzunehmen.869 Im Zweifel wäre immer vom Vorliegen eines Werturteils auszugehen.870 Untrennbare Zusammenhänge verhindern in der Regel auch,871 einzelne Bestandteile einer Aussage abzutrennen und isoliert zu beurteilen.872 Wird eine Tatsache zum Beispiel in einem ironischen Tonfall geäußert, so lassen sich Inhalt und Art und

861 Vgl. Post, Harvard Law Review 130 (1990), 601, 649 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art.  5 Rn.  66; Leist, Versammlungsrecht und Rechtsextremismus, S.  101  f.; Grimm, NJW 1995, 1697, 1699; Degenhart, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar GG, Art. 5 Rn. 115; Nolte, Beleidigungsschutz, S. 62. 862 Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 29. 863 Steinbach, JZ 2017, 653, 655. 864 Nolte, Beleidigungsschutz, S. 62. 865 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art.  5 Rn.  51; Schmidt-Jortzig, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 162 Rn. 22 m. w. Nw.; Fechner, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 5 Rn. 274; Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102 Rn. 38; Wendt, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 10; Steinbach, JZ 2017, 653, 655; vgl. zu Art. 10 EMRK, in dessen sachlichen Schutzbereich Tatsachenmitteilungen ohne Einschränkungen fallen, Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 5. 866 Pech, La liberté d’expression, S. 354; Weiler, Der Tatbestand „Volksverhetzung“ im europäischen Vergleich, S. 74. 867 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 69; vgl. dazu a. A. Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 7. 868 Degenhart, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar GG, Art. 5 Rn. 123. 869 Schulze-Fielitz, JZ 1994, 902, 904, der davon ausgeht, die bloße Leugnung des Holocaust sei ein solcher Fall einer isolierbaren Tatsachenbehauptung. Ein zweiter Anwendungsfall sei aber bereits sehr schwer denkbar. 870 Christou, Die Hassrede in der verfassungsrechtlichen Diskussion, S. 33. 871 Degenhart, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar GG, Art. 5 Rn. 122; Hanschmann, KJ 2013, 307, 316. 872 Huster, NJW 1996, 487, 491; Schulze-Fielitz, JZ 1994, 902, 903 f.

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Weise der Äußerung nicht spalten.873 Ginge man dennoch davon aus, die Äußerung läge nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit, würde nicht nur den tatsächlichen, sondern auch den wertenden Elementen der Grundrechtsschutz entzogen.874 Dabei bestünde außerdem das Risiko, dass der Kontext und damit der Sinne der Äußerung verfälscht würde.875 Selbst wenn es gelänge, einzelne Bestandteile einer Äußerung als bloße Tatsachenbehauptungen zu identifizieren und/oder zu isolieren, läge in der Auswahl und Zusammenstellung der konkreten Tatsachen und in deren Äußerung ein Ausdruck subjektiver Einschätzung der Person, die sich äußert.876 Dieser subjektiven Entscheidung, eine Tatsache auszuwählen und diese zu äußern, nähme man pauschal jeglichen grundrechtlichen Schutz, sähe man Tatsachenbehauptungen nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Der Staat könnte ungehindert regulieren, über welche Tatsachen gesprochen werden darf und über welche geschwiegen werden soll.877 Die individual-grundrechtliche Schutzfunktion der Meinungsfreiheit, dem Einzelnen das Recht zu gewährleisten, sich über beliebige Gegenstände, auf beliebige Art und Weise und mit beliebiger Aussage frei auszudrücken, steht dem entgegen.878 Tatsachenbehauptungen liegen im Ergebnis im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit.879 Dies entspricht auch einer völkerrechtskonformen Auslegung des Art.  5 I 1 Alt.  1  GG.880 Damit sind Tatsachenbehauptungen in allen drei Grundrechtskatalogen vom Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit umfasst. 2. Der Schutz unwahrer Tatsachenbehauptungen a) Der Schutz unwahrer Tatsachenbehauptungen gemäß Art. 10 I EMRK und Art. 11 I GRC Für die Ebene der EMRK ist weitgehend anerkannt, dass auch unwahre und sogar bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen vom Schutzbereich des Art. 10 I EMRK umfasst werden.881 Die Unwahrheit einer Aussage spielt allenfalls auf der Ebene der Christou, Die Hassrede in der verfassungsrechtlichen Diskussion, S. 36 f. Vgl. hierzu Schulze-Fielitz, JZ 1994, 902, 903. 875 Grimm, NJW 1995, 1697, 1699. 876 Sachs, Verfassungsrecht II, Teil II, 17 Rn. 4; Wendt, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn.  9; vgl. Ipsen, Staatsrecht II, Rn.  416  ff.; Höfling/Augsberg, JZ 2010, 1099, 1089  f.; Nolte, Beleidigungsschutz, S. 61 f.; Kingreen/Poscher, Grundrechte, Rn. 618. 877 Vgl. Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 28. 878 Degenhart, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar GG, Art. 5 Rn. 108. 879 Grimm, NJW 1995, 1697, 1699; kritisch Starck/Paulus, in: V. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 5 Rn. 84. 880 Im Ergebnis so auch Degenhart, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar GG, Art. 5 Rn. 114; Payandeh, JuS 2016, 690, 691. 881 Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 9 Rn. 1; Daiber, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, Art. 10 Rn. 14. 873 874

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs eine Rolle.882 Für Art. 11 I GRC gilt dasselbe. Tatsachenbehauptungen werden, unabhängig davon, ob sie wahr oder unwahr sind, in den Schutzbereich einbezogen.883 b) Der Schutz unwahrer Tatsachenbehauptungen gemäß Art. 5 I 1 Alt. 1 GG Dem Wortlaut des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG ist keine Begrenzung auf wahre Aussagen zu entnehmen.884 Für die grundgesetzliche Garantie wird dennoch teilweise angenommen, bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen seien bloße Lügen und könnten zur Meinungsbildung als Ziel des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG jedenfalls nichts beitragen.885 Gleiches gelte für Tatsachenbehauptungen, deren Unwahrheit im Zeitpunkt ihrer Äußerung bereits feststehe.886 Sie seien daher vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantie nicht umfasst.887 Ein Bewusstsein von der Unwahrheit liege bei positiver Kenntnis von dieser vor, wobei eine zumutbare Sorgfalt bei der Wahrheitserforschung verlangt werden könne. Positive Kenntnis könne aber jedenfalls auch bei evident und erwiesen unwahren Tatsachen angenommen werden.888 Bewusste Lügen und solche Tatsachenbehauptungen, bei denen sich der Äußernde der Unwahrheit subjektiv nicht bewusst ist, diese aber erwiesen ist, werden gleichermaßen behandelt. Derjenige, der die Wahrheit tatsächlich nicht kennt, obwohl sie allen anderen offensichtlich bekannt ist, wird dem bewussten Lügner gleichgestellt. Gegen den Einwand, gerade eine solche bewusst oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung sei häufig Grundlage für Meinungsbildungen, wird eingewandt, auf der Grundlage einer solchen Tatsachenbehauptung könne sich keine schützenswerte Meinung bilden.889 Diese Auffassung, unwahre Tatsachenbehauptungen dieser Art lägen nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit, ist kritisch zu beurteilen.890 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 5; Von Coelln, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 11 Rn. 13. 883 Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 11 GRC Rn. 10; Kühling, in: Heselhaus/ Nowak (Hrsg.), EuGR, § 23 Rn. 17. 884 Vgl. Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 47. 885 Rühl, Tatsachen, S. 250; so auch das BVerfG etwa in BVerfGE 99, 185, 197; kritisch hierzu Steinbach, JZ 2017, 653, 655. 886 Kritisch hierzu Grimm, NJW 1995, 1697, 1699, der davon ausgeht, hiernach könnte jede Äußerung von Tatsachenbehauptungen – egal ob sie in gutem Glauben oder wider besseres Wissen, aufgrund sorgfältiger oder nachlässiger Recherche, spontan oder überlegt, mit oder ohne Anlass getätigt wurde – aus dem Schutzbereich ausgeschlossen werden. Dies widerspreche dem Prozesscharakter der Kommunikation, der bei der Bestimmung des Schutzbereichs zu beachten sei. 887 Fechner, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art.  5 Rn.  90; kritisch hierzu Sachs, Staatsrecht II, Kap. B 5 Rn. 7 f.; Grimm, NJW 1995, 1697, 1699. 888 Degenhart, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar GG, Art. 5 Rn. 119. 889 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 391. 890 Siehe zu Kritik an der Rechtsprechung des BVerfG zur Schutzwürdigkeit unwahrer Tatsachenbehauptungen statt vieler Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 47; Jestaedt, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102 Rn. 39; Wendt, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 10. 882

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Erwiesen unwahre Tatsachenbehauptungen sind nicht in jedem Fall irrelevant für die Meinungsbildung in der Gesellschaft.891 Die Äußerung einer erwiesen unwahren Tatsachenbehauptung kann grundsätzlich zu Diskussionen anregen und der öffentlichen Willensbildung und dem demokratischen Prozess einen Anstoß geben.892 Nicht selten provoziert gerade eine Behauptung, deren Tatsachengrundlage nach ihrer Äußerung angezweifelt wird, eine Kontroverse.893 Der Diskurs über eventuelle Wahrheitsansprüche ist selbst Schutzgut der Meinungsfreiheit. Wahrheitsfindung durch Diskurs kann aber nur stattfinden, wenn auch Unwahrheiten in diesen eingeführt werden. Wird ein ernsthafter Diskurs geführt, wird es sich meist um noch nicht erwiesen unwahre oder jedenfalls nicht bewusst unwahre Tatsachen handeln. Allerdings kann auch eine bewusste Lüge geeignet sein, die Diskussion anzuregen oder zu provozieren, um den Meinungsaustausch zu fördern. Eine stetige Vorsicht vor Überspitzung, Provokation und Wagnissen wäre die Folge, schlösse man solche Äußerung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus; dies würde den Diskurs lähmen und beschränken.894 Vor allem Äußerungen, die Tatsachen in Frage stellen, könnten betroffen sein. In einer pluralistischen Demokratie sind diese Äußerungen aber besonders bedeutend.895 Insbesondere wären satirische Äußerungen betroffen, die charakteristisch mit Übertreibungen, Provokationen und Überspitzungen arbeiten und gerade auf diese Art wesentlich zur gesellschaftlichen Diskussion beitragen. Die spezielle Schutzbedürftigkeit dieser Äußerungen wird systematisch durch die in Art. 5 III GG vorbehaltlos gewährleistete Garantie der Kunstfreiheit verstärkt. Zumindest aus der Sicht des Äußernden stellt die Behauptung einen Beitrag dar, mit dem eine geistige Wirkung erzeugt werden soll. Gerade postfaktische Kommunikation, also die Verbreitung von „fake news“ setzt unwahre Behauptungen regelmäßig bewusst ein, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen.896 Unabhängig davon, wie diese Wirkung zu bewerten ist, begründet sie, dass es sich um einen Beitrag zur Meinungsbildung handelt. Zumindest empirisch ist es aus diesen Gründen nicht gerechtfertigt, unwahre Tatsachenbehauptungen mit dem Argument aus dem Schutzbereich auszugrenzen, sie leisteten keinen Beitrag zum öffentlichen Meinungsbildungsdiskurs.897 Selbst wenn man dies aber verneinen würde und annähme, eine Behauptung einer erwiesen unwahren Tatsache oder eine bewusste Lüge trage nie zur öffentlichen

Vgl. Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 47 ff.; Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 418. Vgl. Brugger, AöR 128 (2003), 372, 398; Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, S. 33; Steinbach, JZ 2017, 653, 657. 893 Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, §  102 Rn.  36; Steinbach, JZ 2017, 653, 657 m. w. Nw. 894 Vgl. Dietz, KJ 1995, 210, 218; Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 125. 895 Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 125. 896 Steinbach, JZ 2017, 653, 657. 897 Steinbach, JZ 2017, 653, 657. 891 892

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Meinungsbildung bei, so bedeutete es eine Überdehnung der objektiv-institutionellen Dimension des Grundrechts der Meinungsfreiheit, schlösse man die Äußerung aus diesem Grund aus dem Schutzbereich des Grundrechts aus.898 Der grundrechtliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit würde nach der demokratischen Dienlichkeit und Funktion der Äußerung bestimmt, die aber kein Kriterium des Schutzbereichs sein kann; hierdurch würde die individualrechtliche Dimension der grundrechtlichen Freiheit zu stark verkürzt.899 Diese individuelle Schutzrichtung gewährleistet dem Einzelnen Selbstbestimmungsfreiheit.900 Schutzgut der Meinungsfreiheit ist aus der individualrechtlichen Perspektive der Akt der individuellen und willkürlichen Selbstbestimmung. Eine Wahrheitspflicht, deren Missachtung den Einzelnen den Schutz durch die grundrechtliche Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit von vornherein versagen würde, widerspräche diesem Schutzgehalt des Grundrechts. Die Subjektivität des Einzelnen soll gerade geschützt werden. Kategorien wie Wahrheit und Unwahrheit können auf der Ebene des Schutzbereichs keine Rolle spielen, weil sich die Subjektivität gerade darin findet, dass Wahrheit und Unwahrheit individuell bestimmt werden. Das Faktische und das Kontrafaktische sind Ausdrucksformen individueller Selbstbestimmung und aus diesem Grund verfassungsrechtlich schutzwürdig. Jede Äußerung eines Verdachts würde schutzlos, selbst wenn sie ehrlich seiner Überprüfung diente. Die effektive Gewährleistung der Meinungsäußerungsfreiheit ginge offensichtlich verloren. Eine Wahrheitspflicht, die dem Einzelnen auferlegt würde und zu einer Ausdifferenzierung des Schutzbereichs führte, würde bedeuten, dass das Grundgesetz unabhängig von der Beeinträchtigung Dritter durch die Äußerung, inhaltliche Vorgaben machte.901 Davon ist aber nicht auszugehen. Dem individuellen Schutzgehalt der Meinungsfreiheit, der Selbstbestimmungsfreiheit, wird man nur gerecht, wenn unwahre Tatsachenbehauptungen im Schutzbereich des Grundrechts liegen. Beschränkungen der Freiheit der Selbstbestimmung erwachsen erst aus den Rechten Dritter, die nicht ohne Weiteres unter Berufung auf die Meinungsäußerungsfreiheit beeinträchtigt werden dürfen. Der Schutzbereich des Grundrechts der Meinungsfreiheit bleibt hiervon aber unberührt; Eingrenzungen der Persönlichkeitsentfaltung haben ihre Grundlage in den Entfaltungsmöglichkeiten Dritter; der grundrechtliche Schutz steht unter dem Vorbehalt der Abwägung mit kollidierenden Rechten Dritter, den die Grundrechtsschranken gewährleisten; der Schutzbereich ist aber davon unabhängig zu bestimmen. Dritt- und Allgemeininteressen, die von einer unwahren Tatsachenbehauptung betroffen sein können, werden über die

Hierzu und zum Folgenden Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102 Rn. 36; Wendt, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 10. 899 Siehe hierzu ausführlich oben Kapitel 4, A., II., 3., d), vi. 900 Hierzu und zum Folgenden Steinbach, JZ 2017, 653, 657 f. 901 Steinbach, JZ 2017, 653, 658.

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B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Schrankenklauseln eingeführt und damit auf der Ebene der Rechtfertigung eines Eingriffs in den Schutzbereich relevant.902 Erkennt man den oben beschriebenen untrennbaren Zusammenhang von Tatsachen und Meinungen im Sinne von Werturteilen an, kann die objektiv-empirische Wahrheit des Tatsachensubstrats einer Äußerung auch schon aus diesem Grund nicht Kriterium des Schutzbereichs sein.903 Hinzu tritt, dass ein geschickter Redner seine Äußerung ohnehin so formulieren wird, dass sie im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegt.904 Der Äußernde, der seine Behauptungen so formulieren und kontextualisieren kann, dass sie als Werturteil den Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit genießen, würde zu Unrecht privilegiert.905 Der geschickte Redner verdient den Schutz der Meinungsäußerungsfreiheit nicht eher als jener, der die gleiche Tatsachenbehauptung weniger taktisch formuliert und deshalb schon nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegt. Unabhängig von der gewählten und gekonnten Rhetorik können Äußerungen Einfluss auf die Rechte Dritter entfalten; rhetorisch geschickte Äußerungen können unter Umständen einen größeren Schaden für Rechte Dritter bedeuten; ihre Privilegierung widerspricht dem. Die Wahrheit einer Äußerung ist auf keiner der drei Grundrechtsebenen ein Kriterium zur Bestimmung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit.906 Unwahre und wahre Tatsachenbehauptungen sind damit nicht gleich zu behandeln. Die Wahrheitspflicht dient nur nicht der Bestimmung des grundrechtlichen Schutzbereichs, sondern erstarkt erst auf Rechtfertigungsebene als Ausdruck der Schutzpflicht gegenüber Dritten.907 Die verminderte Schutzwürdigkeit der unwahren Äußerungen wird in der Abwägung mit kollidierenden Grundrechtspositionen berücksichtigt. In bestimmten Fällen kann einer unwahren Tatsachenbehauptung ein gegen Null tendierendes Gewicht in der Abwägung der widerstreitenden Interessen bei Prüfung der Rechtfertigung eines gesetzlichen Verbots einer Äußerung als Grundrechtseingriff beizumessen sein.908 Berücksichtigt man die Wahrheit der Äußerung als Abwägungskriterium können in der Konfrontation mit Gegenrechten Schattierungen in der Zusammensetzung der Äußerung aus wahren und unwahren, tatsächlichen und wertenden Elementen berücksichtigt werden.909 902 Grimm, NJW 1995, 1697, 1699; Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 418; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 81 f.; siehe hierzu ausführlich unten Kapitel 4, B., VI; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 66; Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 61 Rn. 9; vgl. Brugger, Der Staat 42 (2003), 77, 92. 903 Steinbach, JZ 2017, 653, 655. 904 Vgl. Brugger, JöR n. F. 52 (2004), 513, 536; zur Zweideutigkeit der Aussagen als häufige Methode revisionistischer Redner siehe Gonzalez, RTDH 2016, 1019, 1028. 905 Bull, in: FS BVerfG, S. 163, 177; vgl. hierzu Heselhaus, NVwZ 1992, 740, 742. 906 So auch Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102 Rn. 9; Hufen, Staatsrecht II, § 33 Rn. 18; Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, S. 33; Schmalenbach, JA 2005, 749; Kingreen/Poscher, Grundrechte, § 13 Rn. 620. 907 Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102 Rn. 9. 908 Schmidt-Jortzig, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 162 Rn. 22; Wendt, in: Von Münch/ Kunig (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 10; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 51. 909 Hochmann, Le négationnisme, S. 94.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

c) Im Besonderen: Die Leugnung historischer Tatsachen Behauptungen über historische Tatsachen und Ereignisse weisen Besonderheiten auf, die sie von anderen Tatsachenbehauptungen unterscheiden.910 Selbst wenn man anerkennt, dass die Wahrheit einer Äußerung grundsätzlich kein Kriterium des grundrechtlichen Schutzbereichs ist, könnte für die Leugnung historischer Tatsachen ausnahmsweise etwas anderes anzunehmen sein. Bereits die Definition der „(Un)wahrheit“ einer historischen Tatsache begegnet Bedenken. Ebenso wie bei allen anderen Tatsachenbehauptungen stellt sich die Frage, wann eine historische Tatsache und damit deren Behauptung oder Leugnung „wahr“ oder „unwahr“ bzw. „erwiesen“ ist.911 Selbst wenn eindeutig erwiesen ist, dass ein Ereignis stattgefunden hat, können die rechtliche Einordnung oder das Ausmaß, die Ursachen oder historischen Folgen dennoch umstritten sein. So kann zum Beispiel strittig sein, ob ein historisches Ereignis als Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder als Völkermord zu qualifizieren ist.912 Ungeachtet dessen wird die „Wahrheit“ einer historischen Tatsache auf unterschiedliche Weise zu ermitteln bzw. festzulegen versucht. Teilweise wird angenommen, es müsse sich um Tatsachen handeln, die nicht mehr Gegenstand von Debatten unter Historikern sind.913 Dabei bleibt unklar, nach welchen Kriterien zu entscheiden ist, ob eine wissenschaftliche oder historische Diskussion abgeschlossen wurde. Hinzu tritt der Einwand, dass wissenschaftliche Debatten interessengeleitet sein können und schon aus diesem Grund kein brauchbares Kriterium darstellen.914 Andere vertreten, der jeweils zuständige Gesetzgeber habe zu entscheiden, ob ein historisches Ereignis als „erwiesen“ anzusehen ist oder nicht. Der französische Gesetzgeber erließ zum Beispiel eine gesetzliche Regelung, die feststellt, dass der Völkermord am armenischen Volk 1915 erwiesen ist.915 Dies birgt die Gefahr, dass unterschiedliche gesellschaftliche Gruppierungen versuchen, ihre historischen Versionen über Mehrheiten in gesetzgebenden Organen außer Streit stellen zu lassen und die Legitimität anderer Versionen zu beseitigen.916 Eine gesetzliche Regelung, die einen Genozid anerkennt, stellt jedoch keinen Nachweis für die historische

So auch Weiler, Der Tatbestand „Volksverhetzung“ im europäischen Vergleich, S. 66. Vgl. hierzu Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 197; Pech, The Law of Holocaust Denial in Europe, S. 36. 912 Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S. 624 f.; siehe hierzu Petersen, Archiv des Völkerrechts 55 (2017), 98, 104 f. 913 Vgl. statt vieler EGMR, 22. 4. 2010, Fatullayev ./. Aserbaidschan, Nr. 40984/07, Z. 87. 914 Petersen, Archiv des Völkerrechts 55 (2017), 98, 112. 915 So etwa das frz. Gesetz zur Anerkennung des Genozids am armenischen Volk (loi n° 2001-70 du 29 janvier 2001 relative à la reconnaissance du génocide arménien de 1915 „La France reconnait publiquement le génocide arménien de 1915“) (siehe hierzu Hochmann, Le négationnisme, S. 127; Gonzalez, RTDH 2016, 1019, 1032). 916 Pech, The Law of Holocaust Denial in Europe, S.  36; Pech, La liberté d’expression, S.  393 („counter-majoritarian problem“). 910 911

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Wahrheit eines Ereignisses dar, sondern sie bringt lediglich zum Ausdruck, dass eine Mehrheit in einem gesetzgebenden Organ das historische Ereignis für erwiesen oder „wahr“ hält. Stellt der Gesetzgeber fest, dass ein Ereignis „wahr“ ist, birgt dies die Gefahr, dass eine „offizielle Wahrheit“ an die Stelle einer „historischen Wahrheit“ tritt.917 Aus einer liberalen, individualrechtlichen Sicht der Meinungsfreiheit begegnet dies Bedenken, weil der (einfache) Gesetzgeber ermächtigt würde, den grundrechtlichen Schutzbereich zu definieren, indem er festlegte, welche Tatsachen „wahr“ sind und damit entschiede, die Leugnung welcher Tatsachen innerhalb oder außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit läge. Es könnte angenommen werden, die Reichweite des Schutzbereichs stünde zur Disposition des Gesetzgebers. Der grundrechtliche Schutzbereich ist aber von einer höherrangigen Norm vorgegeben und beschränkt den einfachen Gesetzgeber, er ist nicht umgekehrt von diesem „zu gestalten“. Teilweise wird zur Bedingung gemacht, dass ein innerstaatliches oder internationales Gericht entschieden hat, dass es sich bei einem historischen Verbrechen um einen Völkermord handelte. Der Holocaust könnte so unter Verweis auf die Entscheidung des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals als „historisch erwiesen“ qualifiziert werden.918 Man könnte dann annehmen, ein Äußerungsverbot betreffe nicht die Leugnung einer geschichtlichen Tatsache, sondern die Leugnung eines Richterspruchs; die Äußerung würde sich auf die Entscheidung des Gerichts beziehen.919 Das Verbot würde die Autorität von gerichtlichen Entscheidungen schützen und keine „offizielle Wahrheit“ festlegen.920 Letztlich würde dadurch das Problem, dass ein Gericht historische Wahrheiten festzulegen hat, aber nicht gelöst.921 Das nationale Strafverfahren wäre davon zwar befreit, weil es auf internationale Gerichtsentscheidungen verweisen könnte; das internationale Gericht stünde aber vor dem vergleichbaren Problem, tatsächliche Wahrheiten ermitteln und definieren zu müssen.922 Leugnet eine Person eine historische Tatsache, die ein internationales Gericht als „wahr“ festgestellt hat, missachtet sie zwar auch eine gerichtliche Entscheidung, sie negiert aber ebenso das dem zugrunde liegende historische Geschehen. Wenn ein Gericht im Rahmen einer Subsumtion feststellt, dass ein historisches Ereignis „erwiesen“ ist, so handelt es sich dabei streng genommen nicht um eine rechtliche Erwägung, sondern um eine Vorfrage einer rechtlichen Entscheidung. Auch das Kriterium der „Offenkundigkeit“ einer Tatsache wird eingesetzt, um zu definieren, wann eine Leugnung von Tatsachen nicht im Schutzbereich der

Hennebel/Hochmann, in: Hennebel/Hochmann (Hrsg.), Genocide Denials and the Law, S. li. Vgl. hierzu Weiler, Der Tatbestand „Volksverhetzung“ im europäischen Vergleich, S. 148. 919 Fraser, in: Hennebel/Hochmann (Hrsg.), Genocide Denials and the Law, S. 3, 22. 920 Fraser, in: Hennebel/Hochmann (Hrsg.), Genocide Denials and the Law, S. 3, 22. 921 Vgl. hierzu die Selbstbeschränkung des EGMR in dieser Hinsicht in EGMR, 29. 6. 2004, Chauvy ./. Frankreich, Nr. 64915/01, Z. 69. 922 Hanschmann, KJ 2013, 307, 323. 917 918

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Meinungsfreiheit liegt. Das Sondertribunal der UN für Ruanda, das feststellt, der Völkermord in Ruanda sei eine „offenkundige“ Tatsache („fact of common knowledge“) geht auf diese Weise vor.923 Auch der EGMR und das Bundesverfassungsgericht rekurrieren auf das Kriterium der „Offenkundigkeit“ der Tatsache. Der EGMR bezeichnet die Tatsachen, die er außerhalb des Schutzbereichs sieht, als „klar etabliert“, das Bundesverfassungsgericht wählt die Formulierung „erwiesen“.924 Beide Gerichte verlangen letztlich die „Offenkundigkeit“ der historischen Tatsache.925 Dabei bleibt aber gleichfalls zu definieren, was es bedeutet, wenn eine Tatsache „offenkundig“ ist. Teilweise wird „Offenkundigkeit“ dann angenommen, wenn man vernünftigerweise nicht an die Unwahrheit einer historischen Tatsache glauben kann.926 Das Bundesverfassungsgericht lehnt die Begriffsbestimmung an das innerstaatliche Verfahrensrecht an. Gemäß §  244 III 2 StPO ist eine Beweiserhebung überflüssig, wenn und soweit eine offenkundige Tatsache vorliegt. Danach muss eine Tatsache, die offenkundig ist, nicht mehr bewiesen werden. Eine „unwahre“ Tatsachenbehauptung kann allenfalls dann angenommen werden, wenn ein historisches Ereignis negiert wird, dessen Wahrheit für jeden vernünftigen Beobachter evident ist. Die geschichtliche Tatsache muss eindeutig, für jedermann und ohne großen Aufwand, als wahr bzw. der Realität entsprechend zu identifizieren sein.927 Eine solche Evidenz wird aber nur dann anzunehmen sein, wenn sich einzelne tatsächliche Momente isolieren lassen.928 Selbst dann bleibt aber auch dieses Kriterium vage. Gleich welchen dieser Ansätze man wählt, es besteht stets die Gefahr, dass ein staatliches Geschichtsverständnis zur Grundlage eines Äußerungsverbots gemacht wird.929 Sie ist mit dem Kriterium der „Wahrheit“ auf der Ebene des Schutzbereichs untrennbar verbunden. Ein Gericht, das über die Leugnung einer „erwiesen unwahren“ Tatsachenbehauptung zu entscheiden hat, muss unter den Begriff der „erwiesen unwahren“ Tatsachenbehauptung subsumieren und hierzu festlegen, was „erwiesen unwahr“ bedeutet. Hierzu sind zwingend historische Fragen zu beantworten. Erklärt

International Criminal Tribunal for Rwanda, 16. 6. 2006, Prosecutor v. Karemera et. al, ICTR98-44-AR73 (C), Z. 33-38. 924 Siehe hierzu Kapitel 3, B., V. 925 Hierzu und zum Folgenden Hochmann, Le négationnisme, S. 128. 926 Der BGH geht von einer Offenkundigkeit der geschichtlichen Tatsache des Massenmords an den Juden, begangen in den Gaskammern der Konzentrationslager während des Zweiten Weltkriegs aus (vgl. BGH, 16. 11. 1993, 1 StR 193/93, Z. 3). 927 Degenhart, in: Kahl/Waldhoff/Walter (Hrsg.), Bonner Kommentar GG, Art. 5 Rn. 119; Hochmann, Le négationnisme, S. 125. 928 Schulze-Fielitz, JZ 1994, 902, 903 f. 929 Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, S. 283; Weiler, Der Tatbestand „Volksverhetzung“ im europäischen Vergleich, S. 67; Dietz, KJ 1995, 210, 218; Harris/O’Boyle/Warbrick, ECHR, S.  625; der EGMR etwa scheint diese Gefahr zu erkennen und zieht sich – zumindest macht er diesen Willen ausdrücklich deutlich – aus der Beurteilung historischer Debatten zurück. Er verweist dabei auf seine Rolle als Gericht und die davon getrennte Rolle der Historiker (siehe etwa EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 99). 923

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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ein Gericht – wie der EGMR –,930 sich aus historischen Debatten heraushalten zu wollen, darf es streng genommen die Kategorie „klar etablierter historischer Tatsachen“ schon nicht anwenden, um der eigenen Aussage Rechnung zu tragen.931 Die Annahme eines Ausschlusses der Leugnung historischer Verbrechen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit widerspricht zudem – und dies könnte zumindest als Anhaltspunkt für eine rechtsvergleichende Auslegung des Art. 10 I EMRK dienen –, dem Ansatz des UN-Menschenrechtsausschusses, der davon ausgeht, dass es sog. „memory laws“ nicht geben soll und dass Art. 19 IPBPR ein allgemeines Verbot der Äußerung irriger Meinungen oder unzutreffender Interpretation vergangener Ereignisse nicht erlaubt.932 Aus einer rechtspolitischen Perspektive ist einzuräumen, dass die Feststellung, das betreffende Ereignis sei eine historische Wahrheit auf der Ebene des Schutzbereichs nicht mehr erfolgen würde, weil sie irrelevant würde.933 Gleichzeitig wäre die Aussage, dass die Leugnung eines historischen Ereignisses unwahr ist, nicht mehr mit gleicher Klarheit und Deutlichkeit vorhanden. Allerdings besteht umgekehrt ein Risiko, dass es zu einer Tabuisierung der Diskussion über historische Sachverhalte insgesamt kommt, wenn Äußerungsverbote ohne Rücksicht auf die Meinungsfreiheit erlassen werden könnten.934 Diese Gefahr besteht nicht in gleichem Ausmaß, wenn das Kriterium der Wahrheit auf der Ebene der Rechtfertigung angewandt wird. Die Erwägungen auf der Ebene der Rechtfertigung weisen eine so hohe Komplexität und Differenziertheit auf, dass das Ergebnis für jeden erkennbar für den Einzelfall gilt. So kann die Tabuisierung von Diskussionen über ein historisches Ereignis vermieden werden. Die Rechtfertigung eines Verbots der Leugnung historischer Ereignisse wie des Holocaust wird in der überwiegenden Zahl der Fälle möglich sein, weil eine Situation, in der eine ernsthafte, wissenschaftliche Diskussion über die Existenz des Massenmordes an der jüdischen Bevölkerung während der Zeit des Nationalsozialismus geführt wird, nicht denkbar ist. Das Ziel, das Historiker mit ihren Äußerungen verfolgen, könnte auf diese Weise in die Beurteilung einbezogen werden.935 Dieses kann ein aussagekräftiges Indiz für die Bedeutung der Äußerung in der historischen Debatte und für ihre Rolle in

Siehe hierzu EGMR, 29. 6. 2004, Chauvy ./. Frankreich, Nr. 64915/01, Z. 69; EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 99. 931 Dieses Spannungsverhältnis sieht auch Buyse, in: Brems/Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, S. 183, 206. 932 Human Rights Committee, General Comment No. 34, U. N. Doc. CCPR/C/GC/34 (2011), Z. 49; siehe hierzu auch Human Rights Committee, Robert Faurisson v. France, Communication No. 550/1993, U. N. Doc. CCPR/C/58/D/550/1993 (1996). 933 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 69. 934 Ähnliche Bedenken äußerte auch der Menschenrechtssausschuss der UN in seiner Entscheidung zum Fall Faurisson (Human Rights Committee, Robert Faurisson v. France, Communication No. 550/1993, U. N. Doc. CCPR/C/58/D/550/1993 (1996)); siehe Kühling, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), EuGR, § 23 Rn. 71. 935 Pech, The Law of Holocaust Denial in Europe, S. 38. 930

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

der demokratischen Diskussion der pluralistischen Gesellschaft sein. Zielt eine Äußerung allein auf Provokation durch lautes Aussprechen von Zweifeln an allgemein anerkannten Tatsachen, ist dies zu Lasten des Äußernden zu berücksichtigen. Befasst sich ein Historiker jedoch ernsthaft mit geschichtlichen Ereignissen und möchte er weder provozieren noch unbedingt empören, sondern einen Beitrag in einer vielschichtigen und von zahlreichen Kollegen geteilten Debatte leisten, beeinflusst dies die Interessenabwägung zu seinen Gunsten. Die Aussage kann äußerlich in beiden Fällen in der bloßen Leugnung derselben einzelnen historischen Tatsache bestehen. Das Ziel lässt sich aber häufig aus dem Kontext ermitteln. Dies belegt, dass es notwendig ist, die Äußerung in den Schutzbereich einzubeziehen und auf der Ebene der Rechtfertigung kontextsensibel zu beurteilen. Dem Bedürfnis nach deutlichen Aussagen und einer klaren Absage an die Zulässigkeit der Leugnung bestimmter Tatsachen kann auf Ebene der Rechtfertigung hinreichend Rechnung getragen werden. Die explizite Feststellung, dass es sich bei einem historischen Ereignis um eine unzweifelhaft wahre Tatsache handelt und seine Leugnung unwahr ist, kann im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung ebenso getroffen werden. Die Möglichkeit zu Kritik und Infragestellung überkommener politischer, wissenschaftlicher und kultureller Anschauungen ist umgekehrt aber essenziell für die pluralistische Demokratie.936 Liegen die Äußerungen im Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie und wird ihr Verbot als Grundrechtseingriff einer ausführlichen Prüfung am Maßstab des Grundrechts unterzogen, werden beide Anliegen – einerseits eine klare Absage an die Leugnung erwiesener historischer Verbrechen und andererseits die Offenhaltung der demokratischen Debatte – bestmöglich gewahrt. d) Im Besonderen: Die Holocaustleugnung Selbst wenn man davon ausgeht, dass die Wahrheit einer Äußerung grundsätzlich kein Kriterium des Schutzbereichs sein kann, könnte eine Ausnahme für Holocaustleugnungen anzunehmen sein. Eine solche „Sonderfallthese“937 wird im Schrifttum teilweise angenommen.938 Die besondere Behandlung des Holocaust könne damit gerechtfertigt werden, dass das unvergleichliche Ereignis der deutschen Geschichte in keine Kategorie falle, sondern eine gesonderte Behandlung erfordere. Die Ausnahme sei in dem Bewusstsein zu machen, dass von der sonst geltenden Dogmatik abgewichen wird. Die Sonderstellung des Holocaust rechtfertige dies. Der Nachteil

Vgl. hierzu Hanschmann, KJ 2013, 307, 315; Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 125. 937 Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, S. 35 ff., 240; vgl. zur besonderen Behandlung der Holocaustleugnung in der Europäischen Union Knechtle, Florida State University Law Review 2008, 41. 938 Wandres, Die Strafbarkeit des Auschwitz-Leugnens, S. 35 ff., 240; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 81; Brugger, AöR 128 (2003), 372, 403 f. 936

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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für die Meinungsäußerungsfreiheit könne ausnahmsweise in Kauf genommen werden, weil es ohnehin ausgeschlossen sei, dass die Ausnahme auf andere historische Verbrechen ausgeweitet würde, wenn man argumentiere, sie greife wegen des unvergleichlichen Charakters des Holocaust als historisches Verbrechen.939 Obwohl darin unzweifelhaft ein berechtigtes Anliegen zum Ausdruck kommt, umfasst der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit auch Holocaustleugnungen. Nur auf diese Weise kann effektiver Grundrechtsschutz gewährleistet werden: Nähme man an, eine Holocaustleugnung läge außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit, könnte dies nur für sog. „einfache Auschwitzlügen“940 gelten. Darunter ist eine Äußerung zu verstehen, die sich darauf beschränkt, die Judenvernichtung als Faktum zu verneinen („Es hat keine Judenvernichtung gegeben“). Sogenannte „qualifizierte Auschwitzlügen“,941 also Äußerungen, die über die Verneinung der Tatsache hinausgehen und Diskriminierungen, Anschuldigungen oder Herabsetzungen beinhalten, weil antisemitische Tendenzen in und um die Äußerung deutlich werden, müssen jedenfalls im Schutzbereich liegen. Diese Äußerungen enthalten eine Stellungnahme, die als Werturteil jedenfalls vom Schutzbereich des Grundrechts umfasst ist. Dies würde dazu führen, dass eine Äußerung, die die Massenvernichtung von Menschen jüdischen Glaubens im Nationalsozialismus bestreitet, keinen grundrechtlichen Schutz genösse; jene, die zum einen bestreitet, dass eine Tötung der Menschen stattgefunden hat und zum anderen gleichzeitig antisemitische Verleumdungen, Diffamierungen und Diskriminierungen ausspricht, läge aber im Schutzbereich des Grundrechts.942 Selbst wenn auch die verleumdende Äußerung keinen endgültigen Grundrechtsschutz erhielte, weil ihr Verbot gerechtfertigt werden kann, so käme ihr jedenfalls der Schutz zu, den schon der Schutzbereich des Grundrechts vermittelt. Sie könnte nur mit einem legitimen Ziel, auf einer gesetzlichen Grundlage und unter der Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit verboten werden. Der „qualifiziert“ Leugnende würde auf diese Weise privilegiert. Das Argument, der Schutz der „qualifizierten Auschwitzlüge“ sei nur ein „Scheinschutz“, da über die Abwägung doch wieder eine Einschränkung möglich sei,943 überzeugt – ungeachtet dessen, dass es grundsätzlich aus den oben genannten Gründen nicht zutreffend ist, dass es sich um einen bloßen Scheinschutz handelt – auch deshalb nicht, weil dies für ein schlichtes Bestreiten ebenso gelten würde. Eine Differenzierung zwischen der „qualifizierten Auschwitzlüge“ und der „einfachen Auschwitzlüge“ auf Ebene des Schutzbereichs lässt sich damit nicht rechtfertigen, weil auch das Verbot der „einfachen Auschwitzlüge“ gerechtfertigt werden kann und man deshalb auch bei dieser annehmen könnte, dass es sich um einen „Scheinschutz“ handelt.

Brugger, AöR 128 (2003), 372, 403 f.; siehe auch Gonzalez, RTDH 2016, 1019, 1033. So etwa Weiler, Der Tatbestand „Volksverhetzung“ im europäischen Vergleich, S. 66. 941 So etwa Weiler, Der Tatbestand „Volksverhetzung“ im europäischen Vergleich, S. 66. 942 Huster, NJW 1996, 487, 490. 943 Christou, Die Hassrede in der verfassungsrechtlichen Diskussion, S. 34. 939 940

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Bezieht man die Äußerung in den Schutzbereich ein, werden auf Ebene der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Beschränkungsmaßnahme die faktischen Umstände des Einzelfalls relevant. Diese sind bei „qualifizierten“ Leugnungen ebenso von Bedeutung wie bei „einfachen“ Holocaustleugnungen. „Einfache“ Leugnungen werden ebenso wie „qualifizierte“ Leugnungen in bestimmten Kontexten geäußert, sie werden von bestimmten Personen, mit bestimmten Zielen, vor bestimmten Auditorien und in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort getätigt. Hinzu tritt, dass „einfache“ Leugnungen nur selten tatsächlich getätigt werden. Wenn eine einfache Holocaustleugnung geäußert wird, enthält die Äußerung in den meisten Fällen ein wertendes Element; häufig wird eine Wertung zum Umgang Deutschlands mit der historischen Wahrheit mit der Aussage verbunden.944 Holocaustleugnungen sind – gerade aus einer deutschen Perspektive – in besonderer Art und Weise zu behandeln.945 Das Bundesverfassungsgericht misst dem Nationalsozialismus und dem Holocaust für das Grundgesetz insgesamt und als dessen Teil für Art. 5 I 1 Alt. 1 GG eine „gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung“ zu.946 Für die EMRK lässt sich eine besondere Behandlung des Holocaust im Allgemeinen auch begründen. Art.  17 EMRK bietet hierzu die Grundlage;947 die Bestimmung lässt es zu, dass faschistische Ideologien, gegen die die Konvention gerichtet ist, besonders streng behandelt werden.948 Allerdings kann weder Art. 17 EMRK für die EMRK noch die Eigenschaft des Grundgesetzes als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus oder die spezifische deutsche historische Erfahrung für das Grundgesetz begründen, dass die Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegen.949 Dem unzweifelhaft legitimen und wichtigen Anliegen, die Sonderstellung des Holocaust bei der Beurteilung der Äußerungen zu berücksichtigen, kann auf Ebene der Rechtfertigung hinreichend Rechnung getragen werden. e) Ergebnis zur Leugnung historischer Tatsachen Im Ergebnis liegt eine Äußerung, in der eine Person eine erwiesen wahre historische Tatsache – auch den Holocaust – leugnet, in EMRK, Grundgesetz und GRC im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit.

Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 69. Hellmann/Gärtner, NJW 2011, 961, 966; Hanschmann, KJ 2013, 307, 315. 946 BVerfGE 124, 300, 328. 947 Vgl. Walter, in: Grabenwarter (Hrsg), Enzyklopädie Europarecht, § 12 Rn. 53; Jacobs/White/ Ovey, The European Convention on Human Rights, S.  431; Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 10 Rn. 77. 948 Siehe hierzu bereits ausführlich oben Kap. 4, A., 2., a), iii.). 949 Siehe hierzu unten im Rahmen der Erörterung einer Grenze des Schutzbereichs nach dem Inhalt der Äußerung im Spezialfall nationalsozialistischer Äußerungen (Kapitel 4, B., III., 5.). 944 945

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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3. Zwischenergebnis Die Wahrheit einer behaupteten Tatsache ist irrelevant für die Frage, ob eine Äußerung im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegt. Tatsachenbehauptungen sind – wahr oder unwahr – vom Schutzbereich umfasst.950 (Offensichtlich) unwahre Tatsachenbehauptungen können dennoch unter Umständen grundrechtskonform verboten oder beschränkt werden. Die Wahrheit einer Tatsache, die behauptet wird, und der Charakter einer Äußerung als Tatsachenbehauptung sind Kriterien, die im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen auf Ebene der Rechtfertigungsprüfung relevant werden. Das Bundesverfassungsgericht nimmt in Bezug, ob es sich bei einer Äußerung um eine Tatsachenbehauptung oder ein Werturteil handelt. Werturteile und Tatsachenbehauptungen werden in der Verhältnismäßigkeitsprüfung unterschiedlich gewichtet.951 Den Grund hierfür sieht das Gericht in dem verschiedenen Gefährdungspotenzial für kollidierende Rechtsgüter. Werturteile seien durch die subjektive Beziehung zwischen dem Sprecher und seiner Aussage, Tatsachenbehauptungen durch die objektive Beziehung zwischen der Aussage und der Realität gekennzeichnet. Der Empfänger könne Werturteile als persönliche, subjektive Anschauungen des Sprechers erkennen und Distanz zu ihnen beziehen; er behalte die Freiheit eigener Bewertung. Tatsachenbehauptungen hingegen träten mit dem Anspruch einer vom sich äußernden Subjekt unabhängigen objektiven Wahrheit auf. Dem Rezipienten werde dadurch die Distanz zur Äußerung erschwert. Verfüge er nicht selbst über besseres Wissen, gerate er in eine Akzeptanzsituation. Daher liege in Tatsachenbehauptungen regelmäßig die stärkere Bedrohung kollidierender Rechtsgüter.952 Darüber hinaus wird zur Beurteilung der Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs erwogen, ob eine Äußerung wahre Tatsachen behauptet.953 Die Behauptung unwahrer Tatsachen ist zwar nicht pauschal beschränkbar; die Unwahrheit der behaupteten Tatsachen wird aber jedenfalls zu Lasten des Grundrechtsträgers in die Abwägung eingestellt;954 sie erhöht das Gewicht der Interessen am Verbot der Äußerung.955 Die Nachteile für Dritte variieren regelmäßig signifikant, je nachdem, ob es sich um eine wahre oder eine unwahre Aussage handelt.956 An der Aufrechterhaltung und Weiterverbreitung herabsetzender Tatsachenbehauptungen, die unwahr sind, bestehe – so das Bundesverfassungsgericht – unter

Vgl. Isensee, in: FS Kriele, S. 5, 21. Vgl. etwa BVerfGE 61, 1, 18. 952 Vgl. BVerfGE 90, 241, 247; BVerfGE 94, 1, 8; siehe hierzu Grimm, NJW 1995, 1697, 1702; Kube, AöR 125 (2000), 341, 345; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 52. 953 Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 9 Rn. 1; Wendt, in: Von Münch/ Kunig (Hrsg.), GG, Art.  5 Rn.  10; Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, §  102 Rn.  9; Kühling, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), EuGR, § 23 Rn. 17; Payandeh, JuS 2016, 690, 694. 954 BVerfGE 85, 1, 17; BVerfGE 90, 241, 253. 955 Grimm, NJW 1995, 1697, 1702; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 66. 956 Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 166. 950 951

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit kein schützenswertes Interesse.957 Enthalte eine Meinungsäußerung erwiesen falsche oder bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen, so werde regelmäßig das Grundrecht der Meinungsfreiheit hinter dem durch das grundrechtsbeschränkende Gesetz geschützten Rechtsgut zurücktreten.958 Im Einzelfall kann einer Behauptung unwahrer Tatsachen bei der Abwägung mit kollidierenden Rechten Dritter oder sonstigen verfassungsrechtlich geschützten Gütern sogar ein gegen Null tendierendes Gewicht zugemessen werden.959 Dabei müsse allerdings auch ein Abschreckungseffekt vermieden werden.960 An die Wahrheitspflicht dürften im Interesse der Meinungsfreiheit keine „Anforderungen gestellt werden, die die Bereitschaft zum Gebrauch des Grundrechts“ herabsetzten und so auf die Meinungsfreiheit und den gesellschaftlichen Kommunikationsprozess „insgesamt einschnürend“ wirken könnten.961 Es sei legitim, die Einhaltung von Sorgfaltspflichten durch den Äußernden zu verlangen, es müsse dabei aber gewisse Einschränkungen geben.962 Die Begrenzung der Sorgfaltspflicht, von der das Gericht im Interesse der freien Kommunikation sowie der „Kritik- und Kontrollfunktion der Medien“ ausgehe, beziehe sich auf „Tatsachenbehauptungen, deren Richtigkeit im Zeitpunkt der Äußerung noch ungewiss sei und sich nicht binnen kürzester Frist aufklären“ lasse. Sie komme aber nicht zur Geltung, wo die Unwahrheit einer Aussage bereits feststehe.963 Die Sorgfaltspflichten variierten je nach Rolle des Äußernden und den Umständen des konkreten Einzelfalls.964 Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Bedeutung der Wahrheit in Sonderfällen herabgesetzt sein kann. Satirische oder andere künstlerische Äußerungen, die ihrer Natur nach gerade eine fiktionale Verarbeitung einer persönlichen Wirklichkeitswahrnehmung sein sollen und deshalb dem Wahrheitsanspruch einer empirischen Wirklichkeit nicht verpflichtet sind, müssen gesondert beurteilt werden. Sie erheben keinen Anspruch, einen Tatbestand als objektiv wahr wiederzugeben.965 Auch der EGMR berücksichtigt, ob es sich bei einer Äußerung um eine Tatsachenbehauptung handelt oder ein Werturteil vorliegt.966 Eine Pflicht zum Beweis eines Werturteils sei unverhältnismäßig; eine hinreichende Tatsachenbasis könne jedoch verhältnismäßig verlangt werden.967 Ein Werturteil darf nicht als BVerfGE 94, 1, 8. BVerfGE 85, 1, 17; BVerfGE 99, 185, 197. 959 Wendt, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 10. 960 BVerfGE 99, 185. 197. 961 BVerfGE 85, 1, 17. 962 BVerfGE 99, 185, 198. 963 BVerfGE 90, 241, 254. 964 BVerfGE 99, 195, 198. 965 Gärtner, Satire, S. 99 ff. 966 Vgl. etwa EGMR, 15. 3. 2011, Otegi Mondragon ./. Spanien, Nr. 2034/07, Z. 53; EGMR, 12. 7. 2001, Feldek ./. Slowakei, Nr. 29032/95, Z. 75; EGMR, 7. 6. 2016, CICAD ./. Schweiz, Nr. 17676/09, Z. 49; vgl. auch EGMR, 19. 4. 2018, Ottan ./. Frankreich, Nr. 41841/12, Z. 66. 967 EGMR, 15. 3. 2011, Otegi Mondragon ./. Spanien, Nr. 2034/07, Z. 53; vgl. auch EGMR, 19. 4. 2018, Ottan ./. Frankreich, Nr. 41841/12, Z. 67. 957 958

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Tatsachenbehauptung qualifiziert und muss geringeren Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit seiner Beschränkung unterworfen werden.968 In der Rechtsprechung des EGMR bezieht sich das Kriterium der Wahrheit der Äußerung auf den Glauben des Äußernden an die Wahrheit der behaupteten Tatsachen; die objektive Richtigkeit des Inhalts der Äußerung ist nicht relevant; vielmehr ist der gute Glaube an die Wahrheit der behaupteten Tatsachen entscheidend. Der EGMR formuliert ebenfalls gewisse Sorgfaltspflichten, die abhängig von der Rolle des Äußernden in der Gesellschaft in ihrer Intensität variieren. Der Äußernde muss – gemessen an diesen Sorgfaltspflichten, die im Einzelfall zu definieren sind – vernünftigerweise an die Wahrheit glauben dürfen.969 Die Anforderungen, die der EGMR und das Bundesverfassungsgericht formulieren, sind im Ergebnis ähnlich. Die objektive Wahrheit einer behaupteten Tatsache ist nicht ausschlaggebend. Vielmehr muss die Frage beantwortet werden, ob der Äußernde vernünftigerweise wissen konnte, dass eine Äußerung falsch ist, wenn er seine Sorgfaltspflicht erfüllt.970 In dieser Form ist die Wahrheit einer Äußerung relevant. Sie wird als Kriterium auf der Ebene der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs berücksichtigt und ist in der Abwägung der Schutzwürdigkeit der Äußerung mit kollidierenden Grundrechtspositionen anderer Personen zu berücksichtigen. Behauptungen unwahrer Tatsachen können Rechte und Interessen Dritter stärker beeinträchtigen als Behauptungen wahrer Tatsachen. Darüber hinaus beeinflusst die Wahrheit bzw. die Unwahrheit einer Tatsache die Wirkung, den Einfluss und die Rezeption der Äußerung. Diese Faktoren sind bei Abwägung der widerstreitenden Interessen zu berücksichtigen. Die Unwahrheit einer Äußerung wirkt regelmäßig zu Lasten des Grundrechtsträgers in der Verhältnismäßigkeitsprüfung. In der Regel wird ein Grundrechtseingriff in diesen Fällen gerechtfertigt sein. Für einfachgesetzliche Initiativen hat dieses Ergebnis dennoch Folgen: Gegenstand der gesetzlichen Regelung sind dann keine Kommunikationsinhalte im grundrechtsfreien Raum, sondern grundrechtsgeschützte Interessen, die mit anderen Rechtsgütern abgewogen und in ein gerechtes Gleichgewicht gebracht werden müssen.971

III. Der (demokratiefeindliche) Inhalt der Äußerung Teilweise wird angenommen, der „streitbare“ Charakter des europäischen Demokratiemodells legitimiere es, den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nach inhaltlichen Kriterien zu bestimmen.972 Die Argumentation betont die Vgl. Payandeh, JuS 2016, 690, 694. Vgl. Hochmann, Le négationnisme, S. 114. 970 Hochmann, Le négationnisme, S. 115. 971 Steinbach, JZ 2017, 653, 659. 972 Brems, Journal of Human Rights 2002, 481, 495; siehe zum „streitbaren“ Charakter des europäischen Demokratiemodells Kapitel 2., C., I. 968 969

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

demokratisch-funktionale Komponente der Meinungsäußerungsfreiheit;973 das Grundrecht diene der Demokratie und schütze daher nur Äußerungen, die dieser nicht schadeten.974 Eine inhaltliche Definition des Schutzbereichs begegnet jedoch berechtigter Kritik.975 1. Geltungsgrund der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien Art. 5 I 1 GG schützt die Freiheit des kommunikativen Prozesses sowohl als unmittelbaren „Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit in der Gesellschaft“ als auch im Hinblick darauf, dass sie „schlechthin konstituierend“976 für die demokratische Ordnung des Grundgesetzes ist.977 Der Meinungsfreiheit wird – auch in der EMRK978 – ein Doppelcharakter zugemessen.979 Sie wird im Interesse des Einzelnen und gleichzeitig in jenem des demokratischen Prozesses gewährleistet.980 Der grundrechtliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist sowohl im Grundgesetz als auch in der EMRK so zu interpretieren, dass beide Aspekte zur Geltung kommen.981 a) Freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen Es widerspricht der Idee, dass die Meinungsfreiheit dem Einzelnen zur Entfaltung seiner Persönlichkeit dient, wenn der grundrechtliche Schutzbereich so interpretiert wird, dass bestimmte Inhalte von diesem nicht erfasst werden. Der Bürger müsste selbst darlegen, dass seine Äußerung vom Schutzbereich umfasst ist. Dies widerspricht dem Konzept einer effektiven Gewährleistung der Meinungsäußerungsfreiheit zur freien Entfaltung der Persönlichkeit.982 Worüber der Einzelne eine

Siehe hierzu Hoffmann-Riem, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein (Hrsg.), AK-GG, Art. 5 I, II Rn. 40 ff.; kritisch hierzu Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102 Rn. 14; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 8 ff. 974 Mensching, Hassrede im Internet, S. 116. 975 Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 5; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 47; vgl. auch Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 127; Volkmann, JZ 2010, 209, 210; Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 38 Rn. 57. 976 BVerfGE, 7, 198, 208; BVerfGE 82, 272, 281. 977 Siehe zur Annahme eines Bedeutungsgehalts des Grundrechts der Meinungsfreiheit nach Art. 5 I 1 Alt.  1  GG als „objektives Prinzip“ insbesondere Hoffmann-Riem, in: Denninger/HoffmannRiem/Schneider/Stein (Hrsg.), AK-GG, Art.  5 I, II Rn.  40; kritisch hierzu Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 8 ff. 978 Grabenwarter, VVDStRL 60 (2001), 290, 308 ff. 979 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 6. 980 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 6. 981 Lehmann, Der Schutz symbolträchtiger Orte vor extremistischen Versammlungen, S. 136. 982 Baudewin, Die öffentliche Ordnung, S. 177. 973

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Meinung hat und verbreiten will, ist für den grundrechtlichen Schutzbereich vor dem Hintergrund dieses Geltungsgrunds ebenso unerheblich wie die Frage, ob diese Meinung richtig oder falsch, überzeugend oder töricht, grundsätzlich oder belanglos ist.983 Der Umstand, ob der Einzelne die Wertmaßstäbe des Staats erfüllt, kann nicht entscheidend sein, um zu beurteilen, ob eine Äußerung eine „Meinung“ im Sinne der grundrechtlichen Bestimmung ist. Der Freiheitsschutz muss die Identität und Unvollkommenheit des Einzelnen einschließen und Entfaltung nach eigenen Vorstellungen gewährleisten. Zwar ist es Aufgabe des Staats, ethische Prinzipien bei den Bürgern zu achten und in der kompetenzmäßigen Funktionswahrnehmung selbst zu verwirklichen. Er darf sie aber nicht gleichzeitig auch zu verbindlichen Regelungen machen, da dadurch die Freiheit selbst in Frage gestellt würde.984 Eine freie Entfaltung der Persönlichkeit würde nicht gewährleistet, wenn die Meinungsfreiheit für bestimmte Inhalte nicht gewährt würde. Insoweit würde dem Geltungsgrund des Grundrechts widersprochen. b) Demokratische Willensbildung in der Gesellschaft Die Garantie der Meinungsfreiheit im Grundgesetz wird als „schlechthin konstituierend“985 für die demokratische Ordnung bezeichnet. Dabei geht es um „Nutzungserwägungen“986 für die Demokratie, die eine inhaltliche Differenzierung auf Ebene des grundrechtlichen Schutzbereichs rechtfertigen könnten. Wenn man mit dem Bundesverfassungsgericht und einer überwiegenden Auffassung im Schrifttum davon ausgeht,987 dass es sich bei der Demokratie, die das Grundgesetz schafft – für die EMRK ist dasselbe anzunehmen – um eine diskursorientierte, pluralistische Demokratie handelt und wenn man weiter annimmt, dass in dieser Demokratiekonzeption die ständige Auseinandersetzung zwischen widerstreitenden Meinungen prägend ist; und wenn man vertritt, dass es nicht um eine Demokratie gehen kann, in der die Mehrheitsauffassung der Minderheitsansicht grundsätzlich vorgeht, dann steht es dem entgegen, den Schutzbereich der Meinungsfreiheit so zu interpretieren, dass bestimmte Äußerungen wegen ihres Inhalts nicht von diesem umfasst sind. Eine freie Diskussion entsteht nur dann, wenn alle Inhalte zunächst gleichermaßen geschützt werden und inhaltliche Grenzen a priori auch für extreme Inhalte nicht bestehen. Der objektiv-rechtlichen Bedeutung der Meinungsfreiheit,988 ihrer demokratisch-funktionalen Dimension, würden inhaltliche Schutzbereichsgrenzen insofern widersprechen; die Diskussion wäre dann von vornherein nicht frei.

Vgl. BVerfGE 61, 1, 8; BVerfGE 65, 1, 41; BVerfGE 66, 116, 151. Schmidt-Jortzig, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 162 Rn. 24. 985 BVerfGE, 7, 198, 208; BVerfGE 82, 272, 281. 986 Vgl. Michael, ZJS 2010, 155. 987 BVerfGE 5, 85, 135; BVerfGE 89, 155, 185; Arndt, BayVBl. 2002, 653, 656. 988 Siehe hierzu Hoffmann-Riem, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein (Hrsg.), AK-GG, Art. 5 I, II Rn. 40 ff.; kritisch Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 5 ff. 983 984

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Die Auseinandersetzung verschiedener Auffassungen, die die Demokratie verlangt und benötigt, wäre nicht uneingeschränkt möglich. Der kommunikative Austausch wird nicht wegen seines Inhalts, sondern um seiner selbst willen geschützt.989 Der Wert einer Äußerung liegt nicht in ihrem Inhalt, sondern darin, dass es die Meinung eines Bürgers ist, die in die öffentliche Diskussion eingebracht wird.990 Eine funktionierende Demokratie setzt demokratische Konfliktfähigkeit voraus.991 Selbst eine Äußerung, die das Grundgesetz grundlegend zu ändern vorschlägt, soll getätigt werden können.992 Eine differenzierte Anwendung der grundrechtlichen Garantie je nach Inhalt der Äußerungen würde mit dem Anliegen des Minderheitenschutzes in Konflikt geraten, weil Mehrheitsauffassungen die Interpretation des Schutzbereiches beeinflussen würden.993 Die Meinungsfreiheit dient aber insbesondere auch dem Minderheitenschutz. Eine effektive Gewährleistung der grundrechtlichen Freiheit ist für Meinungen, die der Auffassung der Mehrheit nicht entsprechen, besonders wichtig.994 Die Meinungsfreiheit darf nicht nach Maßgabe von Mehrheitsentscheidungen gelten; vielmehr müssen Mehrheitsentscheidungen danach bewertet werden, wie frei die vorangegangene Diskussion in der Entscheidungsfindung war.995 Der demokratische Prozess muss, um sein ordnungsgemäßes Funktionieren zu sichern, einer Minderheit stets ermöglichen, zur Mehrheit zu werden. Dies wird gewährleistet, wenn Gleichheits- und die Freiheitsrechte, aber insbesondere die Garantie der Meinungsfreiheit, in einem weiten Umfang garantiert werden und insbesondere Standpunkte, die zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht jene der Mehrheit sind, jedenfalls in den grundrechtlichen Schutzbereich eingeschlossen sind, um nicht ohne Weiteres unterbunden werden zu können.996 Andernfalls würden die Funktionsbedingungen des demokratischen Prozesses gestört. Auch Dworkin sieht hierin losgelöst von einer konkreten Rechtsordnung die Gefahr, dass die Mehrheit eine Wahrheit bestimmt und diese zu schützen vorgibt.997 Der Grundkonsens einer Gesellschaft wäre auf

Hoffmann-Riem, Kommunikationsfreiheiten, S.  75; vgl. hierzu Fechner, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 5 Rn. 81; Enders, in: FS Wahl, 283, 301. 990 Vgl. Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 126. 991 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 8 Rn. 21. 992 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 73. 993 Beširević, in: Benedek/Benoit-Rohmer/Karl/Nowak (Hrsg.), European Yearbook on Human Rights (2012), S. 243, 257; Huster, NJW 1996, 487, 490. 994 Masing, JZ 2012, 585, 586; vgl. Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 127. 995 Masing, JZ 2012, 585, 586. 996 Vgl. Schuppert, EuGRZ 1985, 525, 526; Müller, EuGRZ 1983, 337, 339; Selmer, in: Iliopoulos-Strangas (Hrsg.), Mißbrauch von Grundrechten in der Demokratie, S.  21, 30  f.; Logemann, Grenzen der Menschenrechte in demokratischen Gesellschaften, S. 79; Schaefer, DÖV 2010, 379, 385; Martini, JöR n. F. 59 (2011), 279, 301 f. 997 Hierzu und zum Folgenden Dworkin, Should Wrong Opinions be banned?, The Independent, 28. Mai 1995. 989

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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diese Weise versteinert und könnte sich in keiner Weise mehr aktuellen Gegebenheiten und Entwicklungen der gesellschaftlichen Mentalitäten und Umgangsweisen mit bestimmten Themen anpassen.998 Der Geltungsgrund der Garantie der Meinungsfreiheit kann nicht begründen, dass der Schutzbereich einschränkend in der Weise zu interpretieren ist, dass Äußerungen, die wegen ihres Inhalts keinen funktionsgerechten Gebrauch der Freiheit darstellen, nicht von diesem umfasst sind.999 2. Rechtsstaatliche Sicherungen Verbote oder Beschränkungen von Äußerungen, die im Schutzbereich der Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit liegen, müssen den Anforderungen der jeweiligen Schrankenvorbehalte genügen. Die darin enthaltenen rechtsstaatlichen Garantien, an denen staatliches Handeln gemessen wird, insoweit eine Äußerung im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegt, sind auch Personen zu gewähren, die sich gegen den demokratischen Minimalkonsens wenden und demokratiefeindliche Äußerungen tätigen.1000 Dies bedeutet nicht, dass sie in letzter Konsequenz nicht mit einem Äußerungsverbot belegt werden können. Dieses wäre aber an bestimmte rechtsstaatliche Vorgaben, insbesondere an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und den Vorbehalt des Gesetzes, gebunden. In diesen Anforderungen liegen wesentliche rechtsstaatliche Sicherungen für das Handeln des Staats. Sie stellen den Schutz dar, den das Grundrecht dem Äußernden bereits gewährt, wenn nur der Schutzbereich betroffen ist. Er muss auch im Fall demokratiefeindlicher Äußerungen gewährt werden, weil er staatlicher Willkür vorbeugt.1001 Äußerungsverbote bergen ein Risiko, dass sie genutzt werden, um politisch unliebsame Äußerungen aus der öffentlichen Diskussion zu entfernen.1002 Ein Gesinnungsstrafrecht könnte eine Folge sein.1003 Der Schutz, der besteht, wenn eine Äußerung im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegt, ist darin zu sehen, dass die dann anwendbaren Schrankenvorbehalte verlangen, dass der Staat eine gesetzliche Grundlage für sein Handeln hat, ein legitimes Ziel verfolgt und verhältnismäßig vorgeht. Darin liegen Sicherungen vor willkürlichen staatlichen Maßnahmen, die jeder Äußerung unabhängig

Martini, JöR n. F. 59 (2011), 279, 301 f. Vgl. Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 5 ff.; Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102 Rn. 18 ff.; vgl. aber Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 128 f.; für die Ebene der EMRK ebenso Mensching, Hassrede im Internet, S. 116; siehe hierzu bereits Kapitel 4, A., II., 3., d), vi.; siehe auch HoffmannRiem, in: Denninger/Hoffmann-Riem/Schneider/Stein (Hrsg.), AK-GG, Art. 5 I, II Rn. 40 ff. 1000 Vgl. hierzu Hoffmann-Riem, NJW 2004, 2777, 2782. 1001 Vgl. hierzu Keane, NQHR 2007, 641, 656; vgl. hierzu auch Vincent, Revue de la Faculté de droit de l’Université de Liège 2016, 343, 346. 1002 Ähnlich Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 128; Handschell, BayVBl. 2011, 745, 751. 1003 Vgl. Warg, VerwArch 2011, 570, 573; Sondervotum des Richters Sajó zu EGMR, 21. 10. 2014, Murat Vural ./. Türkei, Nr. 9540/07. 998 999

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

von ihrem demokratiefeindlichen Inhalt gewährt werden müssen, um rechtsstaatlichen Anforderungen an staatliches Handeln in grundrechtssensiblen Bereichen zu genügen. 3. Gleichheitsgarantien Bisher ist unbeachtet geblieben, dass eine Differenzierung nach dem Inhalt der Äußerung möglicherweise Fragen der Gleichheitsgarantien aufwirft. Die durch eine Differenzierung nach dem Inhalt der Äußerung verursachte Diskriminierung einzelner Meinungsinhalte ist in der EMRK im Lichte des Art. 14 EMRK zu prüfen und in der GRC muss Art. 21 GRC beachtet werden. Im Grundgesetz wird Art. 3 I bzw. III 1 GG relevant.1004 Art. 14 EMRK und Art. 21 I GRC nennen ebenso wie Art. 3 III 1 GG politische (oder sonstige) Anschauungen als verpönte Diskriminierungsmerkmale. Wird zum Beispiel eine nationalsozialistische Meinungsäußerung wegen ihres Inhalts verboten, während eine Äußerung eines Inhalts anderer politischer Ausrichtung vom Verbot verschont bleibt, so liegt darin grundsätzlich eine Ungleichbehandlung aufgrund der politischen (oder sonstigen) Anschauung. In allen drei Grundrechtskatalogen gilt nun aber, dass die jeweiligen Freiheitsrechte, die Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit in Art. 10 I EMRK, Art. 11 I GRC und Art. 5 I 1 Alt. 1 GG, im Falle von Eingriffen, die an die Äußerung und Betätigung solcher Anschauungen anknüpfen, leges speciales sind und der Anwendung der Gleichheitsgarantien vorgehen. Art.  5 I 1 Alt.  1  GG enthält ein „spezifisches und striktes Diskriminierungsverbot“ gegenüber bestimmten Meinungen. Danach sind Gesetze, die an den Inhalt von Meinungsäußerungen anknüpfen und durch solche verursachte Rechtsgutverletzungen unterbinden oder sanktionieren, nur unter strenger Neutralität und Gleichbehandlung zulässig.1005 Wenn und soweit Art. 5 I 1 Alt. 1 GG einschlägig ist, tritt Art. 3 III 1 GG zurück und ist wegen Spezialität der Meinungsfreiheitsgarantie nicht anwendbar. Auch Art. 14 EMRK wird in der Regel nicht mehr geprüft, wenn eine Verletzung eines Freiheitsrechts bereits festgestellt wurde.1006 Für die Gleichheitsrechte der Grundrechtecharta sind die Konkurrenzen bislang nicht geklärt,1007 im Zweifel ist aber auch hier von einer Verdrängung der Gleichheitsgarantien auszugehen, wenn ein Eingriff in die Freiheitsgarantie aus Art. 11 I GRC vorliegt. Lehnt man eine Einschränkung des Schutzbereichs ab und nimmt an, ein Äußerungsverbot sei ein Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien, werden die Gleichheitsgarantien jedenfalls nicht eigenständig relevant.

Siehe hierzu Martini, JöR n. F. 59 (2011), 279, 285  f.; Michael, JZ 2010, 155, 157; Hong, ZaöRV 2010, 73, 116; das BVerfG verweist im Wunsiedel-Beschluss ausdrücklich auf die Nähe des Konzepts des Sonderrechtsverbots zu Art. 3 III GG (BVerfGE 124, 300, 326). 1005 BVerfGE 124, 300. 326 f.; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 78. 1006 Vgl. hierzu Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 26 Rn. 2. 1007 Jarass, Charta der Grundrechte der EU, Art. 21 Rn. 6. 1004

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Das bedeutet jedoch nicht, dass gleichheitsrechtliche Aspekte dann keine Rolle spielen. Die Gleichheitsgarantien werden innerhalb der freiheitsrechtlichen Grundrechtsprüfung auf Ebene der Rechtfertigung herangezogen. Der Aspekt der (politischen) Neutralität ist im Grundgesetz innerhalb der freiheitsrechtlichen Prüfung des Art. 5 GG eine Vorfrage dazu, ob der verfolgte Zweck legitim ist.1008 Art. 3 III GG wird implizit im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung des Eingriffs geprüft. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass Art. 3 III GG nicht absolut gilt und die Anforderungen an die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung nicht über jene nach Art. 5 I, II GG hinausgehen.1009 Auch auf Ebene der EMRK ist eine systematische Auslegung des Art. 10 EMRK angezeigt. Auf diesem Weg gelangt Art. 14 EMRK in den Blick. Art. 10 II EMRK ist im Lichte der gleichheitsrechtlichen Implikationen des Art.  14 EMRK auszulegen. Diskriminierende Beschränkungen der Rechte aus Art. 10 I EMRK müssen die gleichheitsrechtlichen Anforderungen des Art.  14 EMRK erfüllen. Allerdings kann eine Ungleichbehandlung auch hier gerechtfertigt werden. Meist wird dies der Fall sein, wenn die Anforderungen aus Art. 10 II EMRK an einen Eingriff in die Rechte aus Art. 10 I EMRK erfüllt sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Art. 14 EMRK außer Acht gelassen werden kann. Entsprechende Erwägungen gelten für die Garantien der Grundrechtecharta. Auf diese Weise werden die Gleichheitsgarantien trotz der Spezialität der Freiheitsrechte bei Beschränkungen von Äußerungen auf Ebene der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs zumindest relevant. Die daraus folgenden konkreten Konsequenzen für das Ergebnis der Rechtfertigungsprüfung sind nur im Einzelfall zu bestimmen. Wenn man davon ausgeht, dass bestimmte Äußerungen nicht im Schutzbereich der Freiheitsgarantien liegen, treten die Gleichheitsgarantien auch in den Blick. Die Akzessorietät des Art. 14 EMRK steht dem nicht entgegen. Die Äußerung fällt dann zwar nicht in den Schutzbereich des Art. 10 EMRK, eine Anwendbarkeit des akzessorischen Diskriminierungsverbots des Art. 14 EMRK ist dadurch aber nicht ausgeschlossen, da es hierfür genügt, dass das Grundrecht in seinem Regelungsbereich („ambit“) betroffen ist.1010 Das Grundrecht muss nur thematisch einschlägig sein.1011 Zu untersuchen wäre dann, ob eine standpunktdiskriminierende Regelung in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen eine Verletzung von Art.  14 i. V.  m. Art.  10 EMRK darstellt.1012 Die nicht akzessorischen Gleichheitsgarantien der Art.  21 I GRC und des Art. 3 III 1 GG wären ohnehin anwendbar.

Hierzu und zum Folgenden Michael, JZ 2010, 155, 157. Vgl. hierzu BVerfGE 124, 300, 338. 1010 EGMR, 28. 5. 1985, Abdulaziz u. a. ./. Vereinigtes Königreich, Nr. 9214/80 u. a., Z. 71; EGMR, 16. 9. 1996, Gaygusuz ./. Österreich, Nr. 17371/90, Z. 36; EGMR (GK), 8. 7. 2003, Sommerfeld ./. Deutschland Nr. 31871/96, Z. 84; EGMR, 25. 10. 2005, Okpisz ./. Deutschland, Nr. 59140/00, Z. 30 ff.; Wintemute, EHRLR 2004, 366, 369 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 26 Rn. 5; vgl. hierzu auch König/Peters, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 21 Rn. 31. 1011 Siehe statt vieler Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 26 Rn. 5 m. w. Nw. 1012 Vgl. Belavusau, Freedom of Speech, S. 68; Belavusau, European Public Law 2010, 373, 385. 1008

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Da sich die vorliegende Untersuchung auf die Freiheitsgarantien aus Art.  5 I 1 Alt. 1 GG und Art. 11 GRC sowie Art. 10 EMRK beschränkt, kann an dieser Stelle keine ausführliche Prüfung der Gleichheitsgarantien erfolgen. Es soll aber deutlich werden, dass einem inhaltlich begründeten Verbot auch die Gleichheitsgarantien prima facie entgegenstünden.1013 Die Anforderungen an die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung fallen zwar meist im Vergleich zu jenen der Meinungsfreiheitsgarantien schwächer aus, weil den Staaten bzw. dem Gesetzgeber oder den Behörden tendenziell in Bezug auf die Gleichheitsgewährleistungen ein weiterer Beurteilungsspielraum eingeräumt wird und das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage nicht ebenso streng gehandhabt wird wie bei Freiheitsrechten;1014 nichtsdestoweniger ist auch bei Beeinträchtigung eines Diskriminierungsverbots – ungeachtet der Fragen nach Existenz und Reichweite eines Erfordernisses einer gesetzlichen Grundlage einer Ungleichbehandlung, die in allen drei Grundrechtskatalogen gestellt werden – jedenfalls der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten.1015 4. Im Besonderen: Kein Vorbehalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Grundgesetz Trotz des wehrhaften Charakters des Grundgesetzes1016 baut die Demokratie, die das Grundgesetz schafft, auf pluraler Toleranz und Rechtsstaatlichkeit auf.1017 Teil dieser Prinzipien ist das Gebot politischer Neutralität des Staats und seiner Gewährleistungen.1018 Dies gilt insbesondere im Bereich der Gewährleistung grundrechtlicher Garantien. Eine optimale Verwirklichung der grundrechtlichen Freiheit erfordert – jedenfalls auf der Ebene des grundrechtlichen Schutzbereichs – eine Offenheit des Grundrechtsschutzes für verschiedene Interessen und Werte.1019 Die Demokratie, die das Grundgesetz schafft, ist zwar „wehrhaft“; gleichzeitig liegt ihr Selbstverständnis aber darin, dass sie neutral und umfassend grundrechtliche Freiheiten garantiert. Aus diesen Gründen sind Äußerungen unabhängig von ihrem

Diskriminierungsverbote gelten zwar nicht absolut, die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung erfordert aber zwingende Gründe, die diese rechtfertigen; zudem muss die Ungleichbehandlung verhältnismäßig sein; vgl. hierzu BVerfGE 39, 334, 368. 1014 Vgl. etwa Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 18 ff.; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 26 Rn. 16; Sachs, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 21 Rn. 23. 1015 Grabenwarter/Pabel, EMRK, §  26 Rn.  13 (EMRK); Sachs, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 21 Rn. 23 (GRC); Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 3 Rn. 20 ff. (GG). 1016 Siehe hierzu Kapitel 2, C., II. 1017 Vgl. Hoffmann-Riem, NVwZ 2002, 257, 265. 1018 Hillgruber, JZ 2016, 495, 498; Volkmann, JZ 2010, 209, 210; Sondervotum des Richters Sajó, dem sich die Richter Zagrebelsky und Nona Tsotsoria angeschlossen haben zu EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07; Kiska, Regent University Law Review 2012, 107, 150. 1019 Hwang, ZStW 2013, 209, 231  f.; vgl. Hopfauf, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Einl. Rn. 244; Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, § 38 Rn. 57. 1013

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Inhalt vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst; Äußerungen werden auf diese Weise diskriminierungsfrei prima facie vom grundrechtlichen Schutz erfasst und es findet auf Ebene des Schutzbereichs keine staatliche Wertung unterschiedlicher Äußerungsinhalte statt. Die demokratische Funktion der Meinungsfreiheit wird auf diese Weise verwirklicht. Im Schrifttum wird teilweise angenommen, nur Äußerungen, die einen funktionsgemäßen Gebrauch vom Recht auf politische Meinungsfreiheit machten, der jene unabdingbare Wertbasis unangefochten lasse, ohne deren selbstverständliche Existenz eine integrierende Kraft des Meinungsprozesses ausgeschlossen sei, könnten vom Schutzbereich umfasst sein.1020 Dies bedeute nicht, dass jeder diese Wertbasis anerkennen, von ihrer Richtigkeit überzeugt sein oder gar für sie eintreten müsse. Es heiße aber, dass er sie zu tolerieren bzw. hinzunehmen habe und sie nicht negieren dürfe, ohne den grundrechtlichen Schutz zu verlieren. Somit komme es nicht positiv darauf an, ob die geäußerte Meinung geeignet sei, den Integrationseffekt auszulösen, sondern es komme allein negativ darauf an, dass sie den Effekt nicht störe. Störungen, die sich in einer Missachtung der unabdingbaren Wertbasis des Staats realisierten, solle der Grundrechtschutz versagt bleiben. Die angesprochene Wertbasis sei im Grundgesetz die freiheitliche demokratische Grundordnung. Sie begründe eine „immanente Schranke“ der Meinungsäußerungsfreiheit.1021 Allerdings sei nicht jede Kritik an der freiheitlichen demokratischen Grundordnung darunter zu verstehen, sondern nur eine entschiedene Ablehnung dieser. Hierfür bedürfe es zwar keiner aggressiven Tendenz, aber es müsse eindeutig sein, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung als Wertbasis nicht respektiert werde.1022 Die freiheitliche demokratische Grundordnung beschreibe den fundamentalen Kernbereich der wertgebundenen Ordnung des Grundgesetzes, der den Bürgern ohnehin viele Freiräume zu ihrer Entfaltung lasse. Systemsprengende Veränderungsvorschläge seien jedoch nicht akzeptabel. Der demokratische Verfassungsstaat werde unglaubwürdig, trüge er nicht dafür Sorge, dass diese Prinzipien gegenüber jenen, die sie abschaffen wollen, verteidigt werden.1023 Dies liefe allerdings darauf hinaus, dass keine Äußerung, die die freiheitliche demokratische Grundordnung ablehnt, im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegt. Damit entstünde ein Vorbehalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung für den grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit, der der Auslegung der grundgesetzlichen Bestimmungen nicht entspricht.1024 Ein Vorbehalt der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist aus diesem Grund abzulehnen.

Hierzu und zum Folgenden Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 129. 1021 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 129; Sigloch, MDR 1964, 883. 1022 Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S. 130. 1023 Wassermann, NJW 2000, 3760, 3762. 1024 Siehe hierzu bereits oben Kapitel 4, A., I., 3., c) und Kapitel 4, A., II., 3.; im Ergebnis ebenso Handschell, BayVBl. 2011, 745, 750. 1020

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

5. Im Besonderen: Nationalsozialistische Äußerungen im Schutzbereich des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG Ebenso wenig sind nationalsozialistische Äußerungen – im Sinne einer Ausnahme von einem grundsätzlichen Verbot der Inhaltsdifferenzierung auf der Ebene des Schutzbereichs – aus dem Schutzbereich des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG ausgeklammert.1025 Nationalsozialistische Äußerungen betreffen das Schutzgut des Art.  18  GG  – die freiheitliche demokratische Grundordnung – in den meisten Fällen, weil sie gegen geschützte Prinzipien wie die Menschenwürde und die gleichberechtigte Teilhabe am politischen Willensbildungsprozess verstoßen.1026 Der Anwendungsbereich des Art. 18 GG ist damit – vorbehaltlich einer tauglichen Tathandlung und der Erfüllung der übrigen Tatbestandsmerkmale des Art.  18  GG –1027 zwar erfüllt; da die Rechtsfolge des Art. 18 GG den Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit aber unberührt lässt,1028 legitimiert es Art. 18 GG nicht, den Schutzbereich einschränkend auszulegen und nationalsozialistische Äußerungen außerhalb dessen zu sehen.1029 Im Widerspruch dazu, scheint die Rechtsprechung des OVG Münster zu rechtsextremistischen Versammlungen davon auszugehen, dass nationalsozialistische Äußerungen nicht vom Schutzbereich umfasst sind. Das OVG vertritt, dass bei einer Kundgabe „nazistischen“ Gedankenguts oder bei einem „nationalsozialistischen Gepräge“ der Veranstaltung „verfassungsimmanente Schranken“ zum Tragen kommen.1030 Unklar ist allerdings, ob das Gericht auf Ebene des Schutzbereichs oder der Grundrechtsschranken argumentiert.1031 Die Formulierungen sind nicht eindeutig. Einerseits könnte man die Ausführungen so verstehen, dass neonazistische Äußerungen nach Auffassung des Gerichts schon nicht vom Schutzbereich umfasst sind;1032 andererseits könnte es darum gehen, die öffentliche Ordnung als Grundrechtsschranke bei neonazistischen Versammlungen heranzuziehen. Die unterschiedlichen Absätzen der Urteile enthalten widersprüchliche Formulierungen. Von

So aber Haack, AöR 136 (2011), 365, 381 („Lehre vom Verfassungshorizont“); OVG Münster, NJW 2001, 2111, 2112; Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121, 123 f.; wie hier Ulbricht, Volksverhetzung und das Prinzip der Meinungsfreiheit, S. 337. 1026 Siehe hierzu bereits oben Kapitel 4, A., I., 2., c), iii. 1027 Siehe hierzu bereits oben Kapitel 4, A., I., 2., c). 1028 Siehe hierzu bereits oben Kapitel 4, A., I., 3., c). 1029 Vgl. zu einem ähnlichen Vorgehen des BVerfG im Umgang mit der Wesensverwandtschaft einer Partei zum Nationalsozialismus und den Tatbestandsmerkmalen des Art. 21 II GG BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 598. 1030 Am deutlichsten in OVG Münster, 5 B 395/01, Z. 19 („Versammlungen, die den oben dargelegten Maßstäben zuwiderlaufen, [sind] schon kraft verfassungsimmanenter Schranken vom Schutzbereich der Demonstrationsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1, 8 Abs. 1 GG ausgenommen“); kritisch hierzu Hochmann, Le négationnisme, S. 296 f.; vgl. auch Röger, Demonstrationsfreiheit für Neonazis?, S. 33 f. 1031 Arndt, BayVBl. 2002, 653, 654; Leist, Versammlungsrecht und Rechtsextremismus, S. 104. 1032 So versteht es Brüning, Der Staat 41 (2002), 213, 231 f. 1025

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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jenen Stimmen im Schrifttum, die dem OVG Münster zustimmen, nehmen einige an, die Äußerungen seien nicht vom Schutzbereich umfasst.1033 Häufig wird dies damit begründet, das Grundgesetz sei als Verfassung spezifisch darauf gerichtet, zu verhindern, dass der Nationalsozialismus wiedererstarkt.1034 Im Schrifttum wird teilweise angenommen, die Abkehr vom totalitären Regime des Nationalsozialismus und von den modernen Formen des Rechtsextremismus charakterisiere das Grundgesetz in besonderer Weise; der spezifische Entstehungshintergrund des Grundgesetzes führe dazu, dass das Grundgesetz ein antinationalsozialistisches Grundprinzip1035 kenne.1036 Auch jene Stimmen, die ein antinationalsozialistisches Grundprinzip als solches ablehnen, nehmen an, das Grundgesetz sei als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus zu charakterisieren.1037 Die menschenverachtende Gewalt- und Willkürherrschaft des Nationalsozialismus sei für die Ausgestaltung der Verfassungsordnung von wesentlicher Bedeutung und das Grundgesetz sei als Gegenentwurf zum Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes anzusehen. Die Abkehr vom Nationalsozialismus liege dem Grundgesetz historisch zugrunde und sei für die Betonung der Errichtung einer demokratischrechtsstaatlichen Ordnung, die auf der Menschenwürde und Selbstbestimmung des Einzelnen beruhe und mit einem von Führerprinzip und Rassenideologie bestimmten System nichts gemein habe, prägend gewesen.1038 Eine Ideologie, die auf Rassismus, Kollektivismus und dem Führerprinzip beruhe und in der die Gemeinschaft dem Einzelnen stets vorgehen solle, sei mit der Ordnung, die das Grundgesetz schaffe, jedenfalls nicht vereinbar.1039 Andere gehen davon aus, das Grundgesetz sei nicht allein Gegenbild zum Nationalsozialismus, sondern wende sich bewusst gegen jede Form von Totalitarismus.1040 So etwa bei Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121. Kutscha, Verfassung und „streitbare Demokratie“, S.  311; das BVerfG hingegen lehnt die Annahme eines antinationalsozialistischen Grundprinzips ab (BVerfGE 124, 300, 330); vgl. hierzu Fohrbeck, Wunsiedel, S. 127; Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 187 ff. 1035 Hufen, JuS 2010, 558, 561; Battis/Grigoleit, NJW 2001, 2051 Fn. 6. 1036 Vgl. zur Annahme, das Grundgesetz sei spezifisch auf die Verhinderung des Wiedererstarkens des Nationalsozialismus gerichtet und ähnliche Thesen Frankenberg, in: Sajó (Hrsg.), Militant Democracy, S. 113, 124, 127 f., der davon ausgeht, die „streitbare Demokratie“ des Grundgesetzes habe „eindeutige Schlagseite gegenüber Rechtsextremismus“; ebenso; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art.  18 Rn.  26; Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S.  175; Görisch, KritV 94 (2011), 186, 192; Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121, 124; Handschell, BayVBl. 2011, 745, 749; Faessler, ZRP 2013, 55 („die Bekämpfung insbesondere des Rechtsextremismus ist eine Frage der Staatsräson“; „der Nationalsozialismus diente hier als Negativmatrix für die Gesetzgebung“); Degenhart, JZ 2010, 306, 309; vgl. hierzu auch Weiler, Der Tatbestand „Volksverhetzung“ im europäischen Vergleich, S. 319; Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 192 f.; Martini, JöR n. F. 59 (2011), 279, 300 f. („der Antinazismus des GG ist implizit, nicht explizit“); Rühl, NVwZ 2003, 531, 533, 536; siehe hierzu auch bereits oben Kapitel 2, B., II. 1037 Hierzu und zum Folgenden BVerfG, 2 BvB 1/12, Z. 596. 1038 Vgl. hierzu BVerfGE 124, 300, 328; Fohrbeck, Wunsiedel, S. 139 f.; Barczak, StudZR 2010, 309, 316; Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121, 124; a. A. Brenner, ThürVBl. 2003, 241. 1039 Vgl. Lübbe-Wolf, NJW 1988, 1289, 1294. 1040 Schaefer, DÖV 2010, 379, 385 f.; Höfling/Augsberg, JZ 2010, 1088, 1094. 1033

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Teilweise wird bezweifelt, dass das Grundgesetz überhaupt ein ausdrücklicher, eindeutiger Gegenentwurf zum Nationalsozialismus ist; es handle sich vielmehr um einen positiv formulierten Verfassungstext, der eine demokratische Ordnung schaffe, die zwar durch Attribute gekennzeichnet sei, die sie eindeutig von der Ordnung im Nationalsozialismus unterscheide, die aber keine explizite Abgrenzung von der staatlichen Ordnung des Nationalsozialismus enthalte.1041 Der Charakter des Grundgesetzes als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus ist umstritten. Die Frage, ob eine nationalsozialistische Äußerung im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegt, ist davon jedoch unabhängig. Selbst wenn das Grundgesetz ein klarer Gegenentwurf zum Nationalsozialismus wäre oder es zuträfe, dass das Grundgesetz ein antinationalsozialistisches Grundprinzip kennt, bedeutete dies nicht, dass die Äußerungen, die diesen gutheißen oder rechtfertigen, nicht im grundrechtlichen Schutzbereich liegen können.1042 Eine positivrechtliche Grundlage dafür, nationalsozialistische Inhalte außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit zu sehen, fehlt im Text des Grundgesetzes.1043 Bei Entstehung des Grundgesetzes wurde diskutiert, ob ein ausdrücklicher Verweis auf den Nationalsozialismus in den Text der Verfassung aufgenommen werden sollte. Aus den Materialien geht hervor, dass man zu dem Ergebnis gelangte, es sei besser, den Nationalsozialismus im Wortlaut der Bestimmungen nicht ausdrücklich zu nennen.1044 Vor diesem Hintergrund kann nicht angenommen werden, dass man trotz einer entsprechenden Absicht schlicht übersehen hat, eine Formulierung in den Wortlaut des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG aufzunehmen, die den Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie auf Äußerungen beschränkt, die keinen nationalsozialistischen Inhalt haben.1045 Eine planwidrige Regelungslücke liegt nicht vor. Aus teleologischer Perspektive tritt hinzu, dass die Garantien der Meinungs- und Versammlungsfreiheit selbst Teil jener rechtsstaatlichen Ordnung sind, die das Grundgesetz in Abkehr vom Nationalsozialismus garantiert.1046 Die allgemeine, unterschiedslose Gewährleistung von Freiheitsrechten steht selbst im Gegensatz zur nationalsozialistischen Ordnung und verwirklicht die Abkehr von dieser.1047 Selbst wenn man annimmt, das Grundgesetz habe eine antinationalsozialistische Tendenz,

1041 Weiler, Der Tatbestand „Volksverhetzung“ im europäischen Vergleich, S.  319; Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 192 f.; Martini, JöR n. F. 59 (2011), 279, 300 f.; Rühl, NVwZ 2003, 531, 533, 536. 1042 Vgl. Brüning, Der Staat 41 (2002), 213, 236; vgl. BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 596. 1043 Lehmann, Der Schutz symbolträchtiger Orte vor extremistischen Versammlungen, S.  143; Röger, Demonstrationsfreiheit für Neonazis?, S.  34  f.; Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, Rn. 826. 1044 Von Doemming/Füsslein/Matz, JöR n. F. 1 (1951), 1, 27; vgl. hierzu Martini, JöR n. F. 59 (2011), 279, 300 f. 1045 Vgl. Fohrbeck, Wunsiedel, S. 139 f.; Rühl, NVwZ 2003, 531, 537. 1046 Dörr, VerwArch 2002, 485, 489; Fohrbeck, Wunsiedel, S. 136. 1047 Vgl. hierzu BVerfGE 111, 147, 158; Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 217 f.

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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so kommt diese gleichermaßen in der unterschiedslosen Gewährung von Meinungsfreiheit und gerade in ihrer Gewährleistung an Äußernde, die selbst intolerant und verfassungsfeindlich sind, zur Geltung.1048 Insbesondere die uneingeschränkte Gewährleistung des grundrechtlichen Schutzbereichs bringt auf diese Weise die Abkehr vom Nationalsozialismus zum Ausdruck. Dies widerspricht der Annahme, der grundrechtliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasse wegen der antinationalsozialistischen Tendenz des Grundgesetzes bzw. seinem antinationalsozialistischen Grundprinzip Äußerungen, die den Nationalsozialismus gutheißen, rechtfertigen oder verharmlosen, nicht. Ein umfassend gewährter Schutzbereich der Meinungsfreiheit verwirklicht das antinationalsozialistische Grundprinzip. Er umfasst die Äußerungen deshalb anstatt sie auszugrenzen. Darin kommt nämlich zum Ausdruck, dass sich das Grundgesetz von einem Regime wie dem Nationalsozialismus distanziert, in dem individuelle Freiheit nicht unterschiedslos und umfassend gewährleistet wird.1049 Der Schutzbereich ist deshalb nicht um Äußerungen reduziert, die einen nationalsozialistischen Inhalt haben. Art.  139  GG steht dem nicht entgegen. Die Bestimmung regelt, dass die „zur ‚Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus‘ erlassenen Rechtsvorschriften von den Bestimmungen des Grundgesetzes nicht berührt“ werden. Im Schrifttum wird Art. 139 GG teilweise als „historisches Gedächtnis“ der Verfassung bezeichnet, das als historisch ableitbarer Verfassungsbelang begründe, dass die Meinungsfreiheit nationalsozialistische Äußerungen nicht schütze.1050 Art. 139 GG wurde als Übergangsvorschrift konzipiert, betraf die Maßnahmen der Entnazifizierung nach dem Zweiten Weltkrieg und war in seinem Anwendungsbereich sowohl materiell als auch zeitlich streng darauf beschränkt.1051 Die Bestimmung wurde in den als „Übergangs- und Schlussbestimmungen“ bezeichneten Teil des Grundgesetzes eingefügt. Dies macht deutlich, dass es sich um eine vorübergehend anwendbare und relevante Regelung handelt. Der Zweck des Art. 139 GG beschränkt sich auch seiner Formulierung nach auf die ausdrücklich in Bezug genommenen Vorschriften, die der Grundgesetzgeber bei Schaffung des Grundgesetzes vorfand. Die Regelung diente allein als Ausnahmevorschrift, der es bedurfte, um den sich nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Besatzungsrecht ergebenden und gegen die Grundrechte verstoßenden, aber notwendigen Entnazifizierungsvorschriften eine Rechtfertigung zu schaffen.1052 Diese Entnazifizierungsbestimmungen waren bereits vor Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassen. In Reaktion hierauf wurde Art. 139 GG als Übergangsvorschrift in den Text des Grundgesetzes aufgenommen.1053 Die Entnazifizierung wurde auf der Grundlage deutscher Martini, JöR n. F. 59 (2011), 279, 295. Vgl. hierzu Fohrbeck, Wunsiedel, S. 129. 1050 OVG Münster, NJW 2001, 2114; OVG Münster, NJW 2001, 2113; Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121. 1051 Hochmann, Le négationnisme, S. 296; Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 191. 1052 Lübbe-Wolf, NJW 1988, 1289, 1291. 1053 Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Art. 139 GG Rn. 1. 1048 1049

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Rechtsvorschriften vorgenommen, die inhaltlich dem Grundgesetz weitgehend widersprachen und aus diesem Grund gemäß Art. 123 I i. V. m. Art. 124, 125 GG mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes ihre Geltung verloren hätten, wenn es keine Übergangsbestimmung gegeben hätte.1054 Darüber hinaus und insbesondere, seit die Entnazifizierungsvorschriften aufgehoben wurden, kam und kommt Art. 139 GG keine Wirkung zu.1055 Vielmehr belegt die Bestimmung im Wege eines Gegenschlusses, dass der Grundgesetzgeber davon ausging, dass die Entnazifizierungsgesetzgebung gegen die Grundrechte des Grundgesetzes verstieß bzw. zumindest mit diesen in Konflikt geraten würde und deshalb einer ausnahmsweisen und spezifischen verfassungsrechtlichen Absicherung bedurfte.1056 Dieser hätte es nicht bedurft bzw. wäre diese nicht als Ausnahmevorschrift mit besonderem Hinweis auf die spezifischen zur „Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus“ erlassenen Rechtsvorschriften im Wortlaut verfasst worden,1057 wenn nationalsozialistische Äußerungen ohnehin nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit gelegen hätten und ihr Verbot dem Grundgesetz daher per se nicht widersprochen hätte. Art.  139  GG bringt zum

Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Art. 139 GG Rn. 1. 1055 Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD IV/1, § 107, S. 1237; Wiefelspütz, KritV 85 (2002), 19, 37; Rühl, NVwZ 2003, 531, 533; Enders, in: FS Wahl, 283, 301; Lübbe-Wolff, NJW 1988, 1289, 1294 (unter Hinweis darauf, dass auch die Materialien des Grundgesetzes keinen gegenteiligen Schluss zuließen); Sachs, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 139 Rn. 4; Brüning, Der Staat 41 (2002), 213, 234 f.; Kloepfer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 164 Rn. 113; Kloepfer, Verfassungsrecht II, §  63 Rn.  61; Sannwald, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Art. 139 GG Rn. 1; Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 191; a. A. sieht in Art. 139 GG den Beleg für die antinationalsozialistische Grundhaltung der Verfassung und die konsequente Abgrenzung des GG vom Nationalsozialismus und leitet daraus eine Schranke der Meinungsäußerungsfreiheit speziell für nationalsozialistische Äußerungen ab (meist im Sinne einer verfassungsimmanenten Schranke, vielfach aber auch im Sinne einer Einschränkung des Schutzbereichs): Kutscha, Verfassung und „streitbare Demokratie“, S. 59, 66, 111; Bertrams, in: FS Arndt, S. 19, 31 f. [eine systematische Interpretation könne aus dem Fortbestehen der Norm rechtsrelevevante Schlüsse ziehen; ihre Existenz als „Sondervorschrift gegen Rechts“ sei in den Kontext der „streitbaren Demokratie“ einzuordnen und kennzeichne dort gerade als Übergangsvorschrift die besondere, historisch-determinierte „Befangenheit“ des Grundgesetzes gegenüber nationalsozialistischem Gedankengut]; Bartels, NStZ 2002, 297, 300 [der in Art. 139 GG neben seinem zwischenzeitlich obsolet gewordenen Regelungsgehalt zumindest auch eine programmatische Aussage sieht]; Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121, 124 [mit dem Hinweis darauf, der verfassungsändernde Gesetzgeber habe ausreichend Gelegenheit gehabt, aus der Gegenstandslosigkeit die naheliegende Konsequenz zu ziehen und die Vorschrift aufzuheben; solange der Gesetzgeber aber nicht entsprechend tätig geworden sei, erscheine es höchst zweifelhaft, von mehreren denkbaren Auslegungsvarianten gerade diejenige zu wählen, die der Norm jegliche Bedeutung abspreche]; Battis/Grigoleit, NJW 2001, 2051. 1056 Rühl, NVwZ 2003, 531, 533; Wiefelspütz, KritV 85 (2002), 19, 37; Baudewin, Öffentliche Ordnung, 204 f.; Ulbricht, Volksverhetzung und das Prinzip der Meinungsfreiheit, S. 359 f. 1057 Vgl. Rühl, NVwZ 2003, 531, 533, der zu Recht darauf hinweist, die Bestimmung verweise mit den Anführungszeichen auf einen abgeschlossenen Normenkomplex und sei deshalb nicht zukunftsgerichtet. 1054

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Ausdruck, dass diesen Inhalten nach den übrigen Bestimmungen des Grundgesetzes – jedenfalls prima facie – Schutz zukommt. Die Bestimmung bekräftigt, dass der grundrechtliche Schutz auch für nationalsozialistische Äußerungen nicht ohne Weiteres ausgeschlossen ist.1058 Aus Art. 139 GG ergibt sich e contrario, dass ein Verbot einer nationalsozialistischen Äußerung nunmehr am Maßstab des Grundgesetzes zu messen ist.1059 Überdies sprechen die Art. 5 III 2, 9 II, 21 II GG und insbesondere Art. 18 GG systematisch dagegen, dass das Grundgesetz ein antinationalsozialistisches Grundprinzip enthält, das die grundrechtlichen Schutzbereiche beeinflusst. Die genannten Bestimmungen stellen Spezialvorschriften dar; ein aus der Summe aller Regelungen des Grundgesetzes abgeleitetes antinationalsozialistisches Grundprinzip würde deren Zweck als solche beeinträchtigen. Die Bestimmungen sind zwar auch auf andere verfassungsfeindliche Inhalte anwendbar, Äußerungen und Handlungen, die den Nationalsozialismus gutheißen, verherrlichen oder in anderer Weise Zustimmung zum Ausdruck bringen, stellen aber einen großen Teil des Anwendungsbereichs der genannten Spezialregelungen dar.1060 Unabhängig davon, ob das Grundgesetz als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus entworfen wurde,1061 ist es aus den genannten Gründen abzulehnen, den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit so auszulegen, dass davon nationalsozialistische Äußerungen per se nicht erfasst sind. Selbst wenn eine implizite Strukturentscheidung wie ein antinationalsozialistisches Grundprinzip oder der Charakter des Grundgesetzes als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus bestünde, würden dadurch die ausdrücklichen Voraussetzungen und Grenzen des Verfassungstexts und des Rechtsstaatsprinzips nicht überwunden.1062 Nationalsozialistische Äußerungen sind de constitutione lata vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 I 1 GG umfasst.1063 De constitutione ferenda könnten die Äußerungen aus dem Schutzbereich ausgeschlossen werden, indem ein antinationalsozialistisches Prinzip derart in den

Vgl. Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD IV/1, § 107, S. 1237. Handschell, BayVBl. 2011, 745, 749. 1060 Vgl. hierzu Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 219, 223 f.; Barczak, StudZR 2010, 309, 316 f.; Höfling/Augsberg, JZ 2010, 1088, 1098; Rühl, NVwZ 2003, 531, 534; Dörr, VerwAch 93 (2002), 485, 488; Kniesel/Poscher, NJW 2004, 422, 427; vgl. auch Hellhammer-Hawig, Neonazistische Versammlungen, S. 95 f.; Gusy, JZ 2002, 105, 110. 1061 Die Frage, ob das Grundgesetz ein Gegenentwurf zum Nationalsozialismus ist, kann hier dahinstehen, weil daraus jedenfalls nicht resultiert, dass nationalsozialistische Äußerungen vom Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG ausgenommen sind; vgl. zu Art. 21 II GG, im hier relevanten Aspekt aber vergleichbar, BVerfG, 2 BvB 3/13, Z. 597. 1062 Vgl. ähnlich Berlit, Rechtsextremismus und Recht, S. 4; Brüning, Der Staat 41 (2002), 213, 236; siehe im Ergebnis ebenso BVerfG, 2 BvB 1/13, Z. 596. 1063 Papier/Durner, AöR 128 (2003), 340, 367; Baudewin, Die öffentliche Ordnung, S.  175  f.; Hochmann, Le négationnisme, S. 296 f.; vgl. hierzu Birkenmaier, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/ Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Art. 18 Rn. 9; Kloepfer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 164 Rn. 84; Sachs, in: GS Burmeister, S. 352. 1058

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Wortlaut des Grundgesetzes aufgenommen würde, dass sich daraus ergibt, dass der grundrechtliche Schutzbereich der Meinungsfreiheit für Äußerungen, die dem Prinzip widersprechen, nicht gilt. Eine solche Verfassungsänderung erscheint nicht grundsätzlich unzulässig, sie müsste aber vom Verfassungsgesetzgeber im Verfahren nach Art. 79 I, II GG vorgenommen werden. Art. 79 III GG würde dem nicht entgegenstehen. De constitutione lata ist aber nicht begründbar, dass nationalsozialistische Äußerungen nicht vom Schutzbereich umfasst wären. 6. Im Besonderen: Differenzierung nach dem Inhalt der Äußerung im Schutzbereich des Art. 10 EMRK unter Rückgriff auf Art. 17 EMRK Da Art. 17 EMRK den Umfang des grundrechtlichen Schutzbereichs nicht beeinflusst,1064 kann eine Inhaltsdifferenzierung im Schutzbereich des Art.  10 EMRK nicht damit begründet werden, das Missbrauchsverbot des Art. 17 EMRK bewirke oder verlange diese.1065 Art. 17 EMRK ist zwar auf totalitäre, insbesondere nationalsozialistische und kommunistische, Äußerungen wegen ihres Inhalts anwendbar;1066 er verlangt eine Inhaltsdifferenzierung sogar.1067 Allerdings lässt die Bestimmung den grundrechtlichen Schutzbereich unberührt.1068 Art.  17 EMRK ist bei Auslegung und Anwendung des Art. 10 II EMRK zu berücksichtigen und erlaubt es, im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung eines Äußerungsverbots, den Inhalt der Äußerung zu Lasten des Grundrechtsträgers zu werten. Der – nach den Wertungen der EMRK – besonders schädliche Inhalt der Äußerungen führt aber nicht dazu, dass sie per se keinen Schutz erfahren. 7. Zwischenergebnis Im Ergebnis ist eine Differenzierung nach dem Inhalt der Äußerung auf der Ebene des grundrechtlichen Schutzbereichs in allen drei Grundrechtskatalogen abzulehnen.1069 Eine Äußerung mit demokratiefeindlichem Inhalt kann dennoch grundrechtskonform verboten werden. Ein Äußerungsverbot stellt einen Grundrechtseingriff dar, dessen

Siehe hierzu bereits oben Kapitel 4, A., I., 3., a). Mensching, Hassrede im Internet, S. 241. 1066 Siehe oben Kapitel 4, A., I., 2., a), iii. 1067 Siehe oben zum Anwendungsbereich der Bestimmung Kapitel 4, A., I., 2., a); Brems, Journal of Human Rights 2002, 481, 495; Hochmann, Le négationnisme, S. 283 f., 287. 1068 A.  A. Mensching, Hassrede im Internet, S.  241; wohl auch Hochmann, Le négationnisme, S. 284 ff., 287. 1069 Im Ergebnis übereinstimmend Thiel, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S. 18; Hochmann, Le négationnisme, S. 276 ff., 293; Schmitt Glaeser, Mißbrauch und Verwirkung von Grundrechten im politischen Meinungskampf, S.  110; für die EMRK Daiber, in: Meyer-Ladewig/ Nettesheim/von Raumer (Hrsg.), EMRK, Art. 10 Rn. 9; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, § 9 Rn. 1; Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 5; Schiedermair, in: Pabel/ Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 10 Rn. 27. 1064 1065

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Rechtfertigung zu beurteilen ist. Dabei spielt der demokratiefeindliche Inhalt der Äußerung in der kontextsensiblen Abwägung der widerstreitenden Interessen eine Rolle.1070 Dies gilt grundsätzlich gleichermaßen für das Grundgesetz als auch für die europäischen Grundrechtskataloge;1071 im Einzelnen unterscheidet sich die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs bei einer Äußerung mit demokratiefeindlichem Inhalt.1072 a) Der Inhalt der Äußerung bei Auslegung und Anwendung des Art. 5 II GG Der qualifizierte Gesetzesvorbehalt des Art. 5 II GG enthält das Erfordernis der Allgemeinheit der die Meinungsfreiheit beschränkenden Gesetze; er regelt ein Gebot der Meinungsneutralität, ein Sonderrechtsverbot.1073 Das Grundgesetz stellt hohe Anforderungen an eine Differenzierung nach dem Inhalt einer Äußerung bei deren Regulierung.1074 Weder die EMRK noch die GRC verlangen eine vergleichbare Allgemeinheit der die Meinungsäußerungsfreiheit beschränkenden Gesetze. In seiner früheren Rechtsprechung formulierte das Bundesverfassungsgericht in Anlehnung an Art. 118 WRV, allgemeine Gesetze seien solche, „die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche“ richteten, sondern die „vielmehr dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts“ dienten.1075 Im Lüth-Urteil statuierte das Gericht noch, das Gesetz müsse dem „Schutz eines Gemeinschaftswertes“ dienen, der „gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang“ habe.1076 Damit nahm das Bundesverfassungsgericht im Lüth-Urteil die in der Weimarer Zeit vorherrschenden Theorien zur Allgemeinheit des Gesetzes nach Art. 118 WRV – die Sonderrechtslehre einerseits und die Abwägungslehre andererseits – in Bezug und verband sie miteinander.1077

Vgl. hierzu etwa BVerfG, 1 BvR 1106/08, Z. 24. Vgl. Mensching, Hassrede im Internet, S. 116; Hochmann, Le négationnisme, S. 285; Frowein, in: Kretzmer/Kershman (Hrsg.), Freedom of Speech and Incitement Against Democracy, S. 33, 39 f. 1072 Wegen der Beschränkung des Untersuchungsgegenstands auf Fragen des grundrechtlichen Schutzbereichs der Meinungsfreiheit erfolgt im Folgenden nur ein kursorischer Hinweis auf den Einfluss des Inhalts der Äußerung auf die Rechtfertigung ihrer Beschränkung in den drei untersuchten Grundrechtsordnungen. 1073 Klein, Der Staat 10 (1971), 145, 155 ff.; Handschell, BayVBl. 2011, 745, 748. 1074 Schlink, Der Staat 15 (1976), 335, 355; Klein, Der Staat 10 (1971), 145, 155; vgl. hierzu Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art.  5 Rn.  142  ff. m. w. Nw.; Lücke, Die „allgemeinen“ Gesetze, S.  2 m.  w.  Nw.; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD IV/1, S.  1444  ff.; Fechner, in: Stern/ Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 5 Rn. 17 m.w.Nw. 1075 BVerfGE 7, 198, 209  f.; vgl. hierzu Masing, JZ 2012, 585, 590; Grabenwarter, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 5 Rn. 121. 1076 BVerfGE 7, 198, 209 f.; kritisch in der Literatur zum früheren Ansatz des BVerfG etwa Lücke, Die „allgemeinen“ Gesetze, S. 24 f. m. w. Nw.; Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102 Rn. 55. 1077 Statt vieler Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD IV/1, S. 1446 ff.; Masing, JZ 2012, 585, 590; kritisch Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, §  102 Rn.  55; Hochmann, Le négationnisme, S. 232 (der davon ausgeht, es handle sich bei der Definition des BVerfG für die „allgemeinen Gesetze“ um eine reine Rezeption der Lehre Häntzschels und nicht um eine Kombination aus Sonderrechts- und Abwägungslehre). 1070 1071

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Nach der Sonderrechtslehre sollte das Erfordernis der Allgemeinheit gewahrt sein, wenn ein Gesetz „eine an sich erlaubte Handlung (nicht) allein wegen ihrer geistigen Zielrichtung und der dadurch hervorgerufenen schädlichen geistigen Wirkung“ verbietet oder beschränkt.1078 Schranken der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 118 WRV seien Rechtsnormen, welche die Ausübung des Rechts der freien Meinungsäußerung nicht zum Zwecke der Unterdrückung des gedanklichen Inhalts der Äußerung, sondern aus allgemeinen, nicht gegen den Gedankeninhalt gerichteten Gründen beschränkten.1079 Die Sonderrechtslehre wurde auch dahingehend formuliert, allgemeine Gesetze dürften „nicht eine Meinung als solche verbieten, sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten“.1080 Die Abwägungslehre hingegen ging davon aus, „allgemeine Gesetze“ im Sinne des Art.  118  WRV seien „Gesetze, die deshalb den Vorrang vor Art.  118  WRV haben, weil das von ihnen geschützte gesellschaftliche Gut wichtiger ist als die Meinungsfreiheit“.1081 Diese Voraussetzung wurde später weggelassen und die Güterabwägung auf die Ebene der Rechtfertigungsprüfung verschoben.1082 Im Wunsiedel-Beschluss änderte das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung zum Allgemeinheitserfordernis und es stellte fest, unter einem allgemeinen Gesetz seien Gesetze zu verstehen, die nicht eine Meinung als solche verböten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richteten, sondern „die dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts“ dienten. Dieses Rechtsgut müsse „in der Rechtsordnung allgemein und unabhängig davon geschützt sein, ob es durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise verletzt werden“ könne.1083 Ausgangspunkt der Prüfung, ob ein allgemeines Gesetz gegeben sei, sei die Frage, ob eine Bestimmung „an Meinungsinhalte“ anknüpfe. Wenn sie das Verhalten „völlig unabhängig von dem Inhalt einer Meinungsäußerung“ erfasse, bestünden in Bezug auf das Erfordernis der Allgemeinheit keine Zweifel. Knüpfe sie an den Inhalt einer Äußerung an, komme es darauf an, ob die „Bestimmung dem Schutz eines auch sonst in der Rechtsordnung geschützten Rechtsguts“ diene. Sei dies gegeben, sei in der Regel anzunehmen, dass das Gesetz nicht gegen eine bestimmte Meinung gerichtet sei, sondern „meinungsneutral-allgemein“ auf die „Abwehr von Rechtsgutverletzungen“ ziele. Insoweit stehe nicht schon jede Anknüpfung an den Inhalt von Meinungen per se der allgemeinen Natur eines Gesetzes entgegen. Vielmehr seien auch Regelungen, die an den Inhalt anknüpften, als allgemeine Gesetze zu qualifizieren, wenn und

1078 Häntzschel, AöR 10 (1926), 228, 232; Häntzschel, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), HStR II, S. 651, 659 f.; siehe auch Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), 5, 19 ff. 1079 Häntzschel, AöR 10 (1926), 228, 233. 1080 Anschütz, VVDStRL 4 (1928), 74 ff. 1081 Smend, VVDStRL 4 (1928), 44, 51 f. 1082 BVerfGE 71, 206, 214; BVerfGE 74, 297, 343; BVerfGE 111, 147, 155; BVerfGE 117, 244, 260; siehe hierzu Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art.  5 Rn.  142; Handschell, BayVBl. 2011, 745, 747. 1083 BVerfGE 124, 300, 303.

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soweit sie „erkennbar auf den Schutz bestimmter Rechtsgüter und nicht gegen eine bestimmte Meinung gerichtet“ seien.1084 Allerdings könne daraus nicht umgekehrt abgeleitet werden, dass immer dann, wenn eine Regelung ein anerkanntes Rechtsgut schütze, deren allgemeiner Charakter schon allein damit sicher anzunehmen sei. Der Umstand, dass ein Gesetz, welches die Meinungsfreiheit beschränke, ein anerkanntes Rechtsgut schütze, garantiere dessen Allgemeinheit nicht in jedem Fall, sondern sei „lediglich Indiz für die Wahrung rechtsstaatlicher Distanz und die Einhaltung des Gebots der Meinungsneutralität“.1085 Ein Gesetz sei kein allgemeines Gesetz, wenn „eine inhaltsbezogene Meinungsbeschränkung nicht hinreichend offen gefasst sei und sich von vornherein nur gegen bestimmte Überzeugungen, Haltungen oder Ideologien“ richte.1086 Gesetze, die ein Rechtsgut schützten, seien nur dann allgemein, wenn sie sich bei der „gebotenen Gesamtsicht als konsequent und abstrakt vom Rechtsgut her gedacht“ herausstellten und „ohne Ansehung konkret vorfindlicher Auffassungen“ gestaltet seien. Hierzu bedürfe es einer „hinreichend allgemein gefassten Formulierung der Verletzungshandlung und der geschützten Rechtsgüter“, die garantiere, dass die Bestimmung „im politischen Kräftefeld als gegenüber verschiedenen Gruppierungen offen“ erscheine und „sich die pönalisierte oder verbotene Meinungsäußerung grundsätzlich aus verschiedenen politischen, religiösen oder weltanschaulichen Grundpositionen“ ergeben könne. Geboten sei eine „Fassung der Norm, die in rechtsstaatlicher Distanz gegenüber konkreten Auseinandersetzungen im politischen oder sonstigen Meinungskampf strikte ‚Blindheit‘ gegenüber denen gewährleistet, auf die sie letztlich angewendet werden“ solle. Sie müsse „allein an dem zu schützenden Rechtsgut ausgerichtet sein“ und dürfe nicht auf ein „Wert- oder Unwerturteil in Bezug auf die konkreten Haltungen oder Gesinnungen“ rekurrieren.1087 Die allgemeine Natur eines Gesetzes garantiere im Sinne des Diskriminierungsverbots nach Art. 3 III GG ein spezifisches und strenges Gleichheitsgebot bezüglich bestimmter Meinungen.1088 Für die Frage, ob eine Bestimmung als allgemeines Gesetz oder als „Sonderrecht“ zu qualifizieren sei, komme es auf eine „Gesamtsicht“ an.1089 Abzustellen sei insbesondere darauf, „in welchem Maße eine Bestimmung sich auf abstraktinhaltsbezogene, für verschiedene Haltungen offene Kriterien beschränke“ oder „konkret-standpunktbezogene, insbesondere ideologiebezogene Unterscheidungen“ zugrunde lege. Ein Indiz für „Sonderrecht“ liege zum Beispiel vor, wenn sich eine Bestimmung als „Antwort auf einen konkreten Konflikt des aktuellen öffentlichen Meinungskampfes verstehe oder anknüpfend an inhaltliche Positionen einzelner vorfindlicher Gruppierungen so formuliert“ sei, dass sie im Wesentlichen allein gegenüber diesen Anwendung finde. Gleichermaßen gelte dies für Sanktionen eines

BVerfGE 124, 300, 322. BVerfGE 124, 300, 323. 1086 BVerfGE 124, 300, 323. 1087 BVerfGE 124, 300, 324. 1088 BVerfGE 124, 300, 324. 1089 Hierzu und zum Folgenden BVerfGE 124, 300, 325. 1084

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

„Verhaltens, das typischerweise einer konkreten Geisteshaltung oder einer spezifischen weltanschaulichen, politischen oder historischen Deutung entspringe“, oder für Bestimmungen, die „ausschließlich auf die Zugehörigkeit zu Gruppen abstellten, die durch solche Haltungen definiert“ seien. Je stärker eine Bestimmung darauf ausgerichtet sei, dass sie vorhersehbar nur Anhänger „bestimmter politischer, religiöser oder weltanschaulicher Auffassungen“ treffe und so auf die öffentliche Diskussion einwirke, desto mehr spreche dafür, dass ein Gesetz „Sonderrecht“ sei. Ein Anzeichen dafür sei zudem, dass ein meinungsbeschränkendes Gesetz „an bestimmte historische Interpretationen von Ereignissen“ anknüpfe oder es sich auf den „Schutz von Rechtsgütern eines bereits feststehenden Personenkreises“ beschränke. Insgesamt komme es damit darauf an, ob die Bestimmung eine „prinzipielle inhaltliche Distanz zu den verschiedenen konkreten Positionen im politischen und weltanschaulichen Meinungskampf“ wahre.1090 Art. 5 II GG lege einen Begriff des allgemeinen Gesetzes zugrunde, nach dem die Schwelle zum „Sonderrecht“ nicht schon erreicht werde, wenn ein meinungsbeschränkendes Gesetz überhaupt an Meinungsinhalte anknüpfe, sondern erst dann, wenn „bereits der Tatbestand konkret-standpunktbezogene Anknüpfungen“ enthalte und die Regelung damit „nicht meinungsneutral“ ausgestaltet sei. Die Anforderung der Allgemeinheit eines Gesetzes beziehe sich daher auch auf Bestimmungen zum Schutz der Ehre und der Jugend und anderer Rechtsgüter.1091 Somit entwickelte das Bundesverfassungsgericht die Dogmatik zu Art. 5 II GG in Richtung der Sonderrechtslehre bzw. eines Sonderrechtsverbots im Sinne eines Standpunktdiskriminierungsverbots weiter und verließ den Weg der Kombinationsformel, den es mit dem Lüth-Urteil begonnen hatte.1092 Das Element der Abwägung liegt dabei nur auf Ebene der allgemeinen Prüfung der Verhältnismäßigkeit.1093 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist demnach nicht schon jede Anknüpfung an Meinungsinhalte, sondern erst die Diskriminierung konkreter Standpunkte verbotenes Sonderrecht. Unter solchen Standpunkten dürfen nicht einzelne herausgegriffen und gegenüber anderen diskriminiert werden. Das Gericht verweist ausdrücklich auf die Nähe dieses Konzepts zu Art.  3 III GG.1094 Allgemeine Gesetze im Sinne der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind Gesetze, die nicht an Meinungsinhalte anknüpfen oder trotz einer Inhaltsanknüpfung dem Schutz eines in der Rechtsordnung allgemein geschützten Rechtsguts dienen, ohne dabei konkrete politische, religiöse oder weltanschauliche Standpunkte zu diskriminieren.1095 Die Bedingung des Rechtsgüterschutzes BVerfGE 124, 300, 325. BVerfGE 124, 300, 326; kritisch hierzu Barczak, StudZR 2010, 309, 314 f. 1092 Fohrbeck, Wunsiedel, S. 102 f.; Michael, ZJS 2010, 155, 161; Degenhart, JZ 2010, 306, 307; Höfling/Augsberg, JZ 2010, 1088, 1092; Hong, DVBl. 2010, 1267, 1268; Jestaedt, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102, Rn. 62. 1093 Masing, JZ 2012, 585, 590; Hong, DVBl. 2010, 1267, 1268; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 122. 1094 BVerfGE 124, 300, 324; Hong, DVBl. 2010, 1267, 1268; Hong, ZaöRV 2010, 73, 116. 1095 Hong, DVBl. 2010, 1267, 1268. 1090 1091

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ist dabei lediglich „Indiz“ und nicht hinreichend dafür, dass das Allgemeinheitserfordernis erfüllt ist. Eine Standpunktdiskriminierung macht ein Gesetz auch dann zu verbotenem Sonderrecht, wenn ein allgemein geschütztes Rechtsgut geschützt wird.1096 Es genügt aber nicht, dass an irgendwelche „Überzeugungen“ angeknüpft wird; das Gesetz muss auf bestimmte politische, religiöse oder weltanschauliche Standpunkte gerichtet sein.1097 Die Regelung ist im Gesamten zu beurteilen. Das Bundesverfassungsgericht fordert im Ergebnis keine umfassende Inhaltsneutralität, sondern nur Standpunktneutralität.1098 Der Sonderrechtscharakter entfällt nicht, wenn mehrere einzelne Standpunkte diskriminiert werden. Den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts ist nicht Genüge getan, wenn ein Gesetz politisch ausgewogen wirkt.1099 Unter einer „bestimmten“ Meinung versteht das Gericht eine konkrete politische, religiöse oder weltanschauliche Position; es genügt nicht, wenn an den Meinungsinhalt angeknüpft wird; es muss nach einem konkreten Standpunkt differenziert werden. Andernfalls liegt kein Sonderrecht im Sinne des Art. 5 II GG vor.1100 Mit einem Verweis auf Art. 3 III GG betont das Gericht, dass die gleichheitsrechtlichen Anforderungen relevant sind.1101 Ähnlich wie Art. 3 III 1 Var. 9 GG soll die Anforderung der Allgemeinheit an Schrankengesetze in Art. 5 II GG davor schützen, dass bestimmte Anschauungen diskriminiert werden.1102 Folglich werden in einer spezifischen Meinung kulminierende extremistische Haltungen, die sich „grundsätzlich aus verschiedenen politischen, religiösen oder weltanschaulichen Grundpositionen ergeben“ können, vom Sonderrechtsverbot nicht erfasst. Unterschiedliche Gruppierungen können den Staat und seine Institutionen ablehnen, Meinungen zur Abtreibungsfrage äußern oder zu Migrationspolitik oder Gentechnik Stellung beziehen.1103 Solange es – beispielhaft genannt – allen Gruppierungen mit ihren unterschiedlichen Tendenzen und Motivationen gesetzlich verboten würde, sich zu Fragen der Gentechnik zu äußern, läge ein allgemeines Gesetz und kein verbotenes Sonderrecht im Sinne des Art. 5 II GG vor. Im Wunsiedel-Beschluss nimmt das Bundesverfassungsgericht allerdings eine Ausnahme vom Sonderrechtsverbot des Art. 5 II GG an. Das Gericht geht davon aus, „in Bezug auf das nationalsozialistische Regime in den Jahren zwischen 1933 und 1945“ erlaube Art. 5 GG Beschränkungen durch Vorschriften, die den Anforderungen an ein allgemeines Gesetz nicht genügten. Angesichts des „einzigartigen

Hong, DVBl. 2010, 1267, 1269. Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 142. 1098 Hong, DVBl. 2010, 1267, 1270. 1099 Vgl. Hong, DVBl. 2010, 1267, 1274; Hong, ZaöRV 2010, 73, 120; Grabenwarter, in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 5 Rn. 122. 1100 Hong, ZaöRV 2010, 73, 115 ff.; Hong, DVBl. 2010, 1267, 1268 ff.; Rusteberg, StudZR 2010, 159, 161. 1101 BVerfGE 124, 300, 324; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 124. 1102 Kingreen/Poscher, Grundrechte, § 13 Rn. 659. 1103 Martini, JöR n. F. 59 (2011), 279, 289. 1096 1097

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Unrechts und des Schreckens, die diese Herrschaft unter deutscher Verantwortung über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat, und der für die Identität der BRD prägenden Bedeutung dieser Vergangenheit“, könnten Äußerungen, die dies guthießen, Wirkungen haben, denen nicht „allein in verallgemeinerbaren Kategorien“ begegnet werden könne.1104 Art.  5  GG enthalte eine „immanente Ausnahme vom Sonderrechtsverbot“ für Bestimmungen, die „der propagandistischen Gutheißung des nationalsozialistischen Regimes in den Jahren zwischen 1933 und 1945 Grenzen setzen“.1105 Das „menschenverachtende Regime dieser Zeit, das über Europa und die Welt in unermesslichem Ausmaß Leid, Tod und Unterdrückung gebracht“ habe, habe für die verfassungsrechtliche Ordnung Deutschlands eine „gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung“, die „einzigartig sei und allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht abgebildet werden“ könne. Das bewusste „Absetzen von der Unrechtsherrschaft des Nationalsozialismus“ sei „historisch zentrales Anliegen aller an der Entstehung wie Inkraftsetzung des Grundgesetzes beteiligten Kräfte“ gewesen und bilde ein „inneres Gerüst der grundgesetzlichen Ordnung“. Das Grundgesetz könne „geradezu als Gegenentwurf zu dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Regimes“ qualifiziert werden und sei von „seinem Aufbau bis in viele Details hin darauf ausgerichtet“, aus den „geschichtlichen Erfahrungen zu lernen und eine Wiederholung solchen Unrechts ein für alle Mal auszuschließen“.1106 Vor diesem Hintergrund entfalte die „propagandistische Gutheißung der historischen nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft mit all dem schrecklichen tatsächlich Geschehenen, das sie zu verantworten habe, Wirkungen, die über die allgemeinen Spannungslagen des öffentlichen Meinungskampfes weit“ hinausgingen und „allein auf der Grundlage der allgemeinen Regeln zu den Grenzen der Meinungsfreiheit“ nicht erfasst werden könnten. Die Befürwortung des Nationalsozialismus sei in Deutschland ein „Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potenzial“. Insofern sei sie „mit anderen Äußerungen nicht vergleichbar“ und könne nicht zuletzt „auch außerhalb Deutschlands Beunruhigung bewirken“. Das Erfordernis der Allgemeinheit könne für diese „die geschichtsgeprägte Identität Deutschlands betreffende, auf andere Konflikte nicht übertragbare einzigartige Konstellation“ nicht gelten.1107 Die „Offenheit des Art.  5  GG für solche Sonderbestimmungen, die sich auf Äußerungen zum Nationalsozialismus“ bezögen, grenze den materiellen Gehalt des Grundrechts nicht ein. Insbesondere kenne das Grundgesetz „kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip, welches ein Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch nationalsozialistischen Gedankenguts schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts“ zulasse. Ein solches Grundprinzip ergebe sich nicht aus Art. 79 III GG und es könne auch nicht aus Art. 139 GG gewonnen

BVerfGE 124, 300, 321. BVerfGE 124, 300, 327 f. 1106 BVerfGE 124, 300, 328. 1107 BVerfGE 124, 300, 329. 1104 1105

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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werden. Das Grundgesetz gewähre das Grundrecht der Meinungsfreiheit „im Vertrauen auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung“ im Grundsatz auch „Feinden der Freiheit“.1108 Auch die Ausnahme vom Erfordernis der Allgemeinheit eines Gesetzes ermögliche dies nicht, sondern belasse die Verantwortung für die „notwendige Zurückdrängung solcher Ideen“ der freien Diskussion. Sie erlaube dem Gesetzgeber nur, für „Meinungsäußerungen, die eine positive Bewertung des nationalsozialistischen Regimes in ihrer geschichtlichen Realität zum Gegenstand“ hätten, besondere Bestimmungen zu erlassen, „die an die spezifischen Wirkungen gerade solcher Äußerungen“ anknüpften und ihnen Rechnung trügen. Auch solche Regelungen müssten aber verhältnismäßig sein und an einem „veräußerlichten Rechtsgüterschutz, nicht aber einer inhaltlichen Bewertung der betroffenen Meinung orientiert sein“.1109 Das Bundesverfassungsgericht geht entgegen zahlreicher Kritik im Schrifttum1110 im Ergebnis seit dem Wunsiedel-Beschluss davon aus, entsprechende nationalsozialistische bzw. revisionistische Äußerungen verhältnismäßig beschränkt werden können. Standpunktdiskriminierungen sind für den spezifischen Fall nicht verboten. Gesetze, die nationalsozialistische Äußerungen der genannten Art und nur diese aufgrund ihres Inhalts verbieten, sind taugliche Schranke und können unter der Voraussetzung, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingehalten wird, die Meinungsfreiheit gerechtfertigt beschränken. Während das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich von einem strengen Sonderrechtsverbot in Art. 5 II GG ausgeht, erkennt es unter Hinweis auf die besondere historische Erfahrung Deutschlands für die beschriebenen Äußerungen eine Ausnahme an, die diese vom Erfordernis der Allgemeinheit befreit. Der Gesetzgeber muss den Rechtsgüterschutz im Bereich der Meinungsäußerung demnach grundsätzlich inhaltsoffen und allgemein ausgestalten, sodass ein Verbot oder eine Beschränkung von Äußerungen schon äußerlich verschiedene Standpunkte treffen kann. Anders formuliert: Das Gesetz darf sich nicht bereits seiner äußeren Gestalt nach als Antwort auf bestimmte Meinungen im Sinne von Standpunkten darstellen, wobei insoweit für den Standpunkt der Gutheißung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft eine Ausnahme zu machen ist.1111 Die Ausnahme

BVerfGE 124, 300, 330. BVerfGE 124, 300, 331. 1110 Barczak, StudZR 2010, 309, 314, 317; Enders, in: FS Wahl, S. 283, 301; Hong, DVBl. 2010, 1267, 1271; Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, §  102 Rn.  68; Lepsius, Jura 2010, 527, 533; Hoffmann-Riem, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 106 Rn. 122; Volkmann, NJW 2010, 417, 420, Hochmann, Le négationnisme, S. 321; Michael, ZJS 2010, 155, 161 f.; Fohrbeck, Wunsiedel, S. 104, 131, 133, 142; Höfling/Augsberg, JZ 2010, 1088, 1095; Martini, JöR n. F. 59 (2011), 279, 302 f.; Hwang, ZStW 2013, 209, 218, 229 f.; Rusteberg, StudZR 2010, 159, 163 f.; Handschell, BayVBl. 2011, 745, 748 ff.; Hoffmann-Riem, Versammlungsfreiheit, Ein Grundrecht bürgerschaftlicher Selbstbestimmung, S. 66; Hanschmann, KJ 2013, 307, 309 f.; Ulbricht, Volksverhetzung und das Prinzip der Meinungsfreiheit, S.  356  ff.; verteidigend Degenhart, JZ 2010, 306, 310; vgl. hierzu auch Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 125. 1111 Masing, JZ 2012, 585, 589. 1108

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nimmt nur das Allgemeinheitserfordernis zurück; die übrigen Anforderungen an den Grundrechtseingriff, insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip, bleiben unberührt.1112 Die Ausnahme ist abschließend. Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts lässt keinen Raum, die Ausnahme auf andere Äußerungen auszudehnen oder weitere Ausnahmen hinzuzufügen.1113 Eine Verharmlosung, die nicht zugleich Billigung, Verherrlichung oder Rechtfertigung ist, fällt schon nicht darunter, da die Ausnahme strikt auf die Gutheißung des Nationalsozialismus beschränkt ist. Verharmlosungstatbestände unterliegen dem Sonderrechtsverbot.1114 Folglich wäre eine gesetzliche Regelung, die die Leugnung des Holocaust verbietet, eine taugliche Schranke im Sinne des Art. 5 II GG, die nur die übrigen Anforderungen wie insbesondere die Verhältnismäßigkeit erfüllen müsste; eine Bestimmung, die die Leugnung des Armeniergenozids unter Strafe stellte, wäre per se verfassungswidrig, weil sie verbotenes Sonderrecht darstellte und die Anforderungen des qualifizierten Gesetzesvorbehalts des Art. 5 II GG schon nicht erfüllte.1115 Eine Bestimmung, die es sanktionierte irgendein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu leugnen, genügte der Anforderung der Allgemeinheit des Schrankengesetzes in Art. 5 II GG. Sie könnte nur aus anderen Gründen verfassungswidrig sein. Das Bundesverfassungsgericht geht im Ergebnis von einem strengen Sonderrechtsverbot aus. Ein Schrankengesetz ist nicht verfassungskonform, wenn es Sonderrecht darstellt. Ein Gesetz, das nicht als Sonderrecht zu qualifizieren ist, muss darüber hinaus den übrigen Anforderungen des Art. 5 II GG genügen; es muss insbesondere verhältnismäßig sein. Im Zuge der zur Feststellung der Verhältnismäßigkeit notwendigen Abwägung zwischen dem staatlich verfolgten legitimen Zweck und den Interessen des Grundrechtsträgers kann die Gefahr, die aus einer Äußerung für die freiheitliche demokratische Grundordnung oder für Rechte Dritter resultiert, berücksichtigt werden. Art. 18 GG bzw. der Gedanke des Grundrechtsmissbrauchs wirken als Faktoren der Verhältnismäßigkeitsprüfung.1116 Dabei spielt der demokratiefeindliche Inhalt der Äußerung mittelbar eine Rolle. Der geäußerte Inhalt kann im Rahmen der beschriebenen Abwägung nicht außer Acht gelassen werden. Der Konflikt zwischen freiheitssichernder Toleranz und sicherheitsgewährender Intoleranz wird gelöst, indem der Inhalt der Äußerung beurteilt wird.1117 Ein Gesetz, das es verbietet, historische Völkermorde oder historische Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu leugnen, ist allgemein im Sinne des Art.  5 II GG. Wird dieses nun auf eine Verharmlosung des Holocaust angewendet, muss bei Prüfung der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung des Eingriffs

Hong, DVBl. 2010, 1267, 1272. Hong, DVBl. 2010, 1267, 1272. 1114 Hong, DVBl. 2010, 1267, 1275. 1115 Hochmann, Le négationnisme, S. 332. 1116 Siehe hierzu oben Kapitel 4, A., I., 3., c). 1117 Vgl. Determann, Kommunikationsfreiheit im Internet, S. 444; Schlink, Der Staat 15 (1976), 335, 356; Löwer, in: Hillgruber/Waldhoff (Hrsg.), 60 Jahre GG, S. 65, 79; Hochmann, Le négationnisme, S. 509. 1112

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B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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im Rahmen der Beurteilung seiner Angemessenheit berücksichtigt werden, dass es sich um die Verharmlosung des Holocaust in Deutschland handelt. Für bestimmte nationalsozialistische Äußerungen besteht nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ohnehin die dargelegte Ausnahme vom Sonderrechtsverbot. Alle anderen nationalsozialistischen Äußerungsinhalte werden auf diese Weise aber ebenso zu Lasten des Grundrechtsträgers berücksichtigt. b) Der Inhalt der Äußerung bei Auslegung und Anwendung des Art. 10 II EMRK In der EMRK wird der Inhalt der Äußerung bei Auslegung und Anwendung der Schrankenklausel des Art. 10 II EMRK ebenfalls relevant. Der EGMR rekurriert auf Ebene der Prüfung der Rechtfertigung eines Eingriffs in die Garantien aus Art. 10 I EMRK, insbesondere im Rahmen der Beurteilung der Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft, regelmäßig auf den Inhalt der Äußerung.1118 Im Urteil Perinçek differenzierte der EGMR im Zuge der Abwägung der widerstreitenden Interessen zwischen dem Holocaust und anderen schweren historischen Verbrechen. Der Gerichtshof argumentierte, der Nationalsozialismus sei ein Sonderfall und dem Holocaust komme Ausnahmecharakter zu. Auf diese Weise rechtfertigt der EGMR seine Ungleichbehandlung zwischen Äußerungen, die den Holocaust leugnen und solchen, die andere historische Verbrechen negieren.1119 Im Fall Erbakan erweckt die Argumentation des Gerichtshofs den Eindruck, der EGMR gewichte „Hassreden“ aus Gründen der Rasse anders als „Hassreden“ aus Gründen der Religion; für „Hassreden“ mit rassistischer Motivation stellt er strengere Anforderungen an die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs.1120 Häufig geht der EGMR ausdrücklich darauf ein, der Inhalt der Äußerung sei im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen zur Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs heranzuziehen.1121 Der Inhalt der Äußerung überwiegt auch das vom Beschwerdeführer vorgebrachte Motiv, wenn sich dieses im Wortlaut der Äußerung nicht wiederfindet oder ein Widerspruch zwischen Motiv und Inhalt der Äußerung vorliegt. Der Gerichtshof geht so davon aus, dass der Empfängerhorizont, welcher sich im Wesentlichen nach dem Wortlaut der Äußerung ermitteln lasse, entscheidend sei.1122 Widersprüche und Mehrdeutigkeiten lässt der

1118 Vgl. etwa EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 69 ff.; EGMR, 8. 7. 2008, Vajnai ./. Ungarn, Nr. 33629/06, Z. 52; EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 251 ff.; EGMR, 20. 10. 2015, M’Bala M’Bala ./. Frankreich, Nr. 25239/13, Z. 41; vgl. hierzu Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 10 Rn. 76. 1119 EGMR, 15. 10. 2015 (GK), Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 251 ff. 1120 EGMR, 6. 7. 2006, Erbakan ./. Türkei, Nr. 59405/00, Z. 66. 1121 EGMR, 9. 2. 2012, Vejdeland u.  a. ./. Schweden, Nr. 1813/07, Z. 52; EGMR, 4. 12. 2003, Gündüz ./. Türkei, Nr. 35071/97, Z. 42; EGMR, 22. 4. 2010, Fatullayev ./. Aserbaidschan, Nr. 40984/07, Z. 83; EGMR, 20. 10. 2015, M’Bala M’Bala ./. Frankreich, Nr. 25239/13, Z. 41. 1122 Vgl. EGMR, 9. 2. 2012, Vejdeland u. a. ./. Schweden, Nr. 1813/07, Z. 54.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Gerichtshof dabei nicht außer Acht.1123 In dieser Art berücksichtigt der EGMR den Inhalt der Äußerung bei Prüfung der Voraussetzungen des Art. 10 II EMRK. Weder in der Konvention selbst noch in der Rechtsprechung des EGMR findet sich eine dem Erfordernis der Allgemeinheit des Art. 5 II GG vergleichbare Anforderung inhaltlicher Neutralität der Grundrechtsbeschränkungen.1124 Art.  10 II EMRK enthält Anforderungen an beschränkende Maßnahmen, eine Inhalts- oder Standpunktneutralität wird für die gesetzliche Grundlage eines Eingriffs in die grundrechtliche Freiheit des Art.  10 I EMRK aber nicht verlangt. Äußerungsverbote, die an Inhalte anknüpfen, sind in der EMRK damit schon von vornherein nicht gleichermaßen verpönt.1125 Der Wortlaut des Art. 10 II EMRK eröffnet einer wertund inhaltsbasierten Beurteilung umgekehrt sogar Raum, weil er mit dem Maßstab der demokratischen Gesellschaft eine Wertorientierung verlangt.1126 Insbesondere rechtfertigt zudem Art. 17 EMRK, der im Rahmen der Anwendung des Art. 10 II EMRK herangezogen wird,1127 eine am Inhalt der Äußerung orientierte Beurteilung, ob die Beschränkung dieser gerechtfertigt werden kann.1128 c) Der Inhalt der Äußerung bei Auslegung und Anwendung des Art. 52 III GRC Die Rechtfertigung einer Beschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit kann in der GRC ebenfalls am Inhalt der getätigten Äußerung orientiert werden.1129 Insofern ist auf die Ausführungen zur Ebene der EMRK zu verweisen. Da die GRC mit Art. 54 GRC eine dem Art. 17 EMRK entsprechende Vorschrift kennt und Art. 52 III GRC die Schrankenklausel des Art. 10 II EMRK zur Anwendung bringt, sind die genannten Erwägungen hier gleichermaßen gültig. d) Die Rechtfertigungsebene als systemgerechter Ort zur Berücksichtigung des Inhalts der Äußerung In allen drei Grundrechtsordnungen wird der Äußerungsinhalt – in unterschiedlicher Intensität und Weise – auf der Ebene der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs berücksichtigt. In keinem Fall werden demokratiefeindliche Äußerungen ungeachtet ihres Inhalts grundrechtlich geschützt, weil der Schutzbereich unabhängig von

EGMR (GK), 25. 11. 1997, Zana ./. Türkei, Nr. 18954/91, Z. 57 ff. Vgl. Enders, JZ 2008, 1092, 1094; Hong, ZaöRV 2010, 73, 126; Hochmann, Le négationnisme, S. 276 ff. 1125 Hochmann, Le négationnisme, S. 306. 1126 Mensching, Hassrede im Internet, S. 240; vgl. Hochmann, Le négationnisme, S. 508; Grote/ Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 26. 1127 Siehe hierzu ausführlich oben Kapitel 4, A., I., 3., a). 1128 Arndt/Schubert, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 17 Rn. 8; siehe Kapitel 4, A., I., 2., a). 1129 Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 11 Rn. 11.52. 1123 1124

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Inhalten ausgelegt wurde. Eine demokratiefeindliche Äußerung, die schädlichen Inhalts ist und Allgemeininteressen schwerwiegend beeinträchtigt, wird regelmäßig keinen grundrechtlichen Schutz genießen; der Äußernden wird mit einem geltend gemachten Abwehranspruch gegen eine staatliche Beschränkung in der Regel nicht durchdringen, weil zwar ein Grundrechtseingriff vorliegt, dieser aber gerechtfertigt ist. Eine solche Differenzierung nach dem Inhalt der Äußerung im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs ist systemgerecht.1130 Inhaltliche Wertungen können auf diese Weise im Einklang mit den jeweiligen Bestimmungen der Grundrechtskataloge berücksichtigt werden.1131 Demokratiefeindliche Inhalte wirken jedenfalls zu Lasten des Äußernden und können auch regelmäßig grundrechtskonform beschränkt werden. Während die EMRK es in weitem Umfang zulässt, dass inhaltlich differenziert gegen Äußerungen vorgegangen wird, stellt das Bundesverfassungsgericht strenge Anforderungen in Form des Sonderrechtsverbots. Das Verständnis des Bundesverfassungsgerichts vom Sonderrechtsverbot als Verbot der Standpunktdiskriminierung weist dabei eine gewisse Nähe zu der Unterscheidung zwischen Inhaltsdiskriminierung („content discrimination“) und Standpunktdiskriminierug („viewpoint discrimination“) im US-amerikanischen Verfassungsrecht auf.1132 In den USA führt eine „viewpoint discrimination“ in aller Regel zur Verfassungswidrigkeit.1133 Das Bundesverfassungsgericht versteht den Begriff der Standpunktdiskriminierung allerdings enger als der Supreme Court. Damit liegt der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts zwischen der Rechtsprechung des EGMR, die inhaltsbezogene Beschränkungen von Äußerungen regelmäßig zulässt, und der streng meinungsneutralen Vorgehensweise der amerikanischen Gerichte.1134 Letztlich machen somit alle drei Grundrechtskataloge den grundrechtlichen Schutz davon abhängig, welchen konkreten Inhalt eine demokratiefeindliche Äußerung hat. Das Grundgesetz verbietet war Sonderrecht; der Inhalt der Äußerung wird unter bestimmten Bedingungen dennoch für den grundrechtlichen Schutz berücksichtigt. Ein demokratiefeindlicher Inhalt wird regelmäßig zu Lasten des Grundrechtsträgers wirken und in der Regel wird im Einzelfall kein grundrechtlicher Abwehranspruch bestehen. Die kontextsensible Beurteilung des staatlichen Handelns ermöglicht es aber, dass in Ausnahmefällen, in denen sich aus dem Kontext ergibt, dass eine Äußerung mit demokratiefeindlichem Inhalt dennoch grundrechtlichen Schutz verdient, dieser gewährt wird.

Kühling, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), EuGR, § 23 Rn. 54. Fox/Nolte, Harvard International Law Journal 36 (1995), 1, 16  ff.; Frowein, in: Kretzmer/ Kershman (Hrsg.), Freedom of Speech and Incitement Against Democracy, S. 33, 39 f. 1132 Hong, DVBl. 2010, 1267, 1270; Enders, JZ 2008, 1092, 1094; Kokott, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR I, § 22 Rn. 120; zum amerikanischen Modell siehe etwa Kagan, The University of Chicago Law Review 60 (1993), 873, 875 ff. 1133 Brugger, AöR 128 (2003), 372, 382. 1134 Hong, DVBl. 2010, 1267, 1270; Martini, JöR n. F. 59 (2011), 279, 302. 1130 1131

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IV. Das „Gewaltpotenzial“ der Äußerung Zwischen der Kundgabe rassistischer Diskriminierungen und der Anwendung physischer Gewalt kann in bestimmten Fällen ein Kausalzusammenhang bestehen. Regelmäßig weisen Hassreden oder andere demokratiefeindliche Äußerungen ein „Gewaltpotenzial“ in diesem Sinne auf oder stehen in einem engen Verhältnis zu einer Gewaltanwendung. Die neue Sprachphilosophie geht davon aus, dass in jedem Sprechen zugleich ein Handeln liegt.1135 Sprachwissenschaftlich wird vertreten, zwischen der öffentlichen Verherrlichung eines Mordes und dem Aufruf dazu müsse keine substanzielle Grenze liegen. Dies wird im Fall von politischen Äußerungen besonders deutlich. Gerade bei der Äußerung extremistischer und menschenrechtswidriger Ideologien ist der Übergang zur unmittelbaren Aggression beinahe nahtlos, weil es insoweit keine eindeutigen Grenzen gibt und Überschneidungen möglich sind.1136 Eine politische Meinungsäußerung ist meist bereits ihrer Natur nach darauf gerichtet, irgendwann handlungswirksam zu werden. Sie zielt auf die Durchsetzung, Geltung und Ausbreitung. Zwar hat sie dann nach wie vor auch einen geistigen Gehalt, aber auch schon dieser geistige Gehalt kann treffen und verletzen.1137 Die Äußerung könnte aus diesem Grund außerhalb des grundrechtlichen Schutzbereichs zu sehen sein, weil sie den Bereich der „geistigen Auseinandersetzung“, deren Freiheit das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit garantiert, verlässt und damit ihren Anspruch auf grundrechtlichen Schutz per se verliert. 1. Kein Schutz von Gewalthandlungen Wenn Meinungsbildung nicht mehr durch Argument und Gegenargument, sondern mit den Mitteln von Gewalt und Zwang betrieben wird, liegen die entsprechenden Äußerungen nicht im Schutzbereich der Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit in EMRK, GG und GRC.1138 Anders formuliert: Der Schutzbereich der

1135 Vgl. hierzu Austin, How to Do Things with Words; Searle, Speech Acts; McGonagle, MCM(2013)005, S. 15; siehe hierzu Schlussanträge GA Maduro zu EuGH, 10. 7. 2008, Feryn, Rs. C-54/07, Z. 16, der in der öffentlichen Äußerung eines Arbeitgebers, Personen einer bestimmten Rasse oder ethnischen Herkunft nicht einzustellen, einen faktischen Ausschluss dieser Personen aus dem Bewerbungsverfahren und dem Betrieb des Arbeitgebers und darin wiederum nicht nur die Ankündigung einer Diskriminierung, sondern bereits die Diskriminierungshandlung selbst sieht, weil darin ein sog. „speech act“, eine Sprachhandlung, liege. Siehe zur Rechtsprechung des EGMR in diesem Zusammenhang Belavusau, European Public Law 2010, 373, 377. 1136 Vgl. Masing, JZ 2012, 585, 588; siehe hierzu auch Rosenfeld, Cardozo Law Review 24 (2002/2003), 1523, 1565, der davon ausgeht, Abgrenzungsprobleme seien stets vorhanden und daher nur bedingt argumentativ einsetzbar. 1137 Vgl. im Ergebnis ähnlich Tulkens, in: FS Bratza, S. 279, 282, 293 f.; Rigaux, in: Van Hoecke (Hrsg.), Epistemology and Methodology of Comparative Law, S. 292. 1138 Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 38; Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S.  60  f.; siehe hierzu Bonello, in: FS Bratza, S.  249, 350, der argumentiert, es könne Situationen geben, in denen Gewalt den größten Schutz der Meinungsfreiheit benötigt. In

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Meinungsfreiheit erfasst nur die Kommunikation als rein geistigen Vorgang und unterliegt einer – insofern ungeschriebenen – immanenten Grenze der Friedlichkeit.1139 Die Kommunikationsgrundrechte schützen den geistigen Meinungskampf als solchen, nicht aber die zwangsweise Durchsetzung von Meinungen.1140 Andernfalls fehlt es an einem schutzwürdigen Akt der Kommunikation.1141 Dementsprechend endet der Schutzbereich dort, wo das Feld geistiger Auseinandersetzung verlassen und physische oder psychische, wirtschaftliche oder vergleichbare Druckmittel an Stelle von Argumenten zur Meinungsbildung eingesetzt werden.1142 Fraglich ist, wann eine Äußerung das Feld geistiger Auseinandersetzung verlässt und nicht mehr Element eines rein geistigen Meinungskampfes ist. Für die Garantien der Versammlungsfreiheit (Art.  11 EMRK, Art.  12  GRC, Art. 8 GG) wird Unfriedlichkeit in allen drei Grundrechtskatalogen dann angenommen, wenn physische Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen geschehen oder drohen. Das Bundesverfassungsgericht nimmt für Art. 8 GG in Anlehnung an §§ 5 Nr. 3, 13 I Nr. 2 VersG an, dass die Versammlung keinen „gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf“ nehmen darf, um in den Schutzbereich des Art. 8 I GG zu fallen.1143 Gewalttätigkeit liegt vor, wenn der Täter aktiv körperlich auf Personen oder Sachen einwirkt; der Begriff „aufrührerisch“ betrifft nur das Mittel des aktiven gewaltsamen Widerstands gegen rechtmäßig handelnde Vollstreckungsbeamte – auch hier ist zumindest eine geringfügige körperliche Einwirkung notwendig.1144 Der EGMR geht ebenso davon aus, eine Versammlung dürfe, um in den Schutzbereich des Art.  11 EMRK zu fallen, nicht mit gewalttätigen Zielen organisiert werden oder einen gewälttätigen Verlauf nehmen.1145 Entscheidend ist nach allen Situationen von Revolutionen wegen unerträglicher Unterdrückung demokratischer Strukturen oder massiver und systematischer Verletzung von Menschenrechten, in denen friedliche Mittel gegen die Tyrannei nichts ausrichten könnten und keine alternativen Wege vorhanden seien, könne es legitime Gewalt geben. Es sei nicht ausgeschlossen, dass im Kreis der Mitgliedstaaten ein solcher Fall einmal eintreten könnte. 1139 BGH, VI ZR 37/82, NJW 1984, 1226, 1229; OLG Köln, 15 U 98/69, NJW 1970, 1322, 1324; Wendt, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 12; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 35, 35a, 178; Sodan, in: Sodan (Hrsg.), Grundgesetz, Art. 5 Rn. 7; Michael, ZJS 2010, 155, 156; Dörr, VerwArch 93 (2002), 485, 490; Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, §  60 Rn. 28; Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 210; im Ergebnis ablehnend Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 78; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 176; Ipsen, JZ 1997, 473, 480; Sachs, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 81, S. 537; vgl. hierzu auch BVerfGE 25, 256, 265 f. 1140 Michael, JZ 2010, 155, 156; Kloepfer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 164 Rn. 67. 1141 Sondervotum der Richter Pastor Ridruejo, Costa und Baka zu EGMR, 8. 7. 1999, Karatas ./. Türkei, Nr. 23168/94; vgl. hierzu Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 62. 1142 BVerfGE 25, 256, 265; BVerfGE 62, 230, 244; Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102 Rn. 41; Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 10; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 5 Rn. 85; Schulze-Fielietz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 73; vgl. auch Hoffmann-Riem, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 106, Rn. 122; kritisch hierzu Volkmann, JZ 2010, 417, 419. 1143 Vgl. etwa BVerfGE 69, 315, 360; BVerfGE 73, 206, 249. 1144 Kloepfer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, § 164 Rn. 66. 1145 Vgl. zum Beispiel EGMR, 2. 10. 2001, Stankov u. a. ./. Bulgarien, Nr. 29221/95, Z. 77.

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drei Grundrechtsgarantien, dass keine physischen Gewalttätigkeiten geschehen. Damit sind äußere Handlungen von einiger Gefährlichkeit „wie Gewalttätigkeiten oder aggressive Ausschreitungen gegen Personen oder Sachen“ gemeint.1146 Sonstige Beeinträchtigungen Dritter, Provokationen und/oder das Hervorrufen negativer Emotionen genügen nicht.1147 Zielen Handlungen lediglich auf ein Lächerlichmachen, etwa durch Werfen von faulem Obst oder Farbbeuteln, und nicht auf Verletzungen von Leib oder Leben oder erhebliche Sachbeschädigungen, liegen die Handlungen im Schutzbereich des Grundrechts.1148 Diese Grenzziehung kann nicht ohne Weiteres für einzelne Äußerungen angewendet werden; vielmehr sind für die Meinungsfreiheit eigene Grenzen im Zusammenhang mit einem „Gewaltpotenzial“ der Äußerungen zu ziehen. Ein physischer Gewaltakt gegen Personen oder Sachen ist keine Äußerung, die im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegt.1149 Körperlicher Zwang im Sinne von vis absoluta fällt aus dem Schutzbereich der Grundrechtsgarantien heraus.1150 Ein solches Verhalten dient nicht der geistigen Vermittlung von Inhalten und wird aus diesem Grund nicht geschützt.1151 Umgekehrt liegen rein geistige Äußerungen, die in keiner kausalen Beziehung zu einer Gewalthandlung stehen – vorbehaltlich anderer Faktoren – im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit.1152 „Hassreden“ sind selten selbst Gewaltakte, sondern sie sind Äußerungen, die entweder eine Drucksituation erzeugen oder möglicherweise handlungsleitendes Hoffmann-Riem, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 106 Rn. 55. Vgl. zum Beispiel EGMR, 2. 10. 2001, Stankov u. a. ./. Bulgarien, Nr. 29221/95, Z. 86; Rixen/ Scharl, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art. 12 Rn. 9; BVerfGE 104, 92. 1148 Hoffmann-Riem, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 106 Rn. 55. 1149 Murswiek, Der Staat 45 (2006), 473, 495; Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 200 Rn. 33; Degenhart, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 61 Rn. 63; Tillmanns, in: Thiel (Hrsg.), Wehrhafte Demokratie, S.  25, 28; Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, §  60 Rn. 30; teilweise wird dies mit dem Gewaltmonopol des Staats, das bei einer Einbeziehung von Gewaltakten in den grundrechtlichen Schutzbereich konterkariert würde, begründet Isensee, in: FS Graßhof, S. 289, 295; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, § 115 Rn. 51, 114 (Die Menschenrechte tasteten das Gewaltmonopol des Staates nicht an, sondern erforderten es, weil es die physische Sicherheit der Bürger gewährleiste. Die Freiheitsrechte setzten das befriedete Gemeinwesen voraus und das Gewaltmonopol biete ihnen weiten Raum, in dem der friedliche Wettstreit der geistigen, der politischen sowie der wirtschaftlichen Potenzen der Gesellschaft legitim ausgetragen werden könne. Das Gewaltmonopol könne daher nicht durch die Grundrechte beeinträchtigt werden, indem man gewalttätige Aktionen im Schutzbereich der Meinungsfreiheit sehe. Die Beziehung zwischen Grundrechten und Gewaltmonopol gestaltete sich nicht so, dass die Grundrechte dieses in der Lage seien einzuschränken, sondern die Grundrechte seien umgekehrt auf den Bestand des Gewaltmonopols angewiesen. Dies spreche für einen Ausschluss gewalttätiger Handlungen aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit.); vgl. auch Isensee, Der Staat 20 (1981), 161, 175. 1150 Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, § 60 Rn. 30. 1151 Kapries, Die Schranken der Grundrechte, S. 92. 1152 Siehe hierzu im Einzelnen Volkmann, NJW 2010, 417, 419; Leisner, JZ 2005, 809, 813; Sottiaux, European Constitutional Law Review, 7 (2011), 40, 61; als Spielmann/Schuster, in: Leutheusser-Schnarrenberger (Hrsg.), 60 Jahre EMRK, S. 165, 173; vgl. hierzu auch Ost, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 449, 471. 1146 1147

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Potenzial haben und zu einem Gewaltakt – möglicherweise von oder gegenüber einer dritten Person – in einer bestimmten (kausalen) Beziehung stehen. Die Frage, ob eine Gewaltanwendung gegenüber einer Person eine vom Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie der Meinungsfreiheit umfasste Handlung ist, ist deshalb nicht zentral. Es ist vielmehr relevant, ob eine Äußerung im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegt, wenn sie kausal für eine spätere Gewalthandlung ist, weil sie aufstachelt oder hetzt und Dritte zu gewaltsamen Akten veranlasst. Hassreden und andere demokratiefeindliche Äußerungen sind regelmäßig dadurch gekennzeichnet, dass sie zwar nicht selbst einen Gewaltakt darstellen, mit einem solchen aber in einer bestimmten Verbindung stehen.1153 Der Einfluss dieser Verbindung der Äußerung zu einem Gewaltakt auf ihren grundrechtlichen Schutz ist zu untersuchen. 2. Kein ausdrücklicher Friedlichkeitsvorbehalt für den Schutzbereich der Meinungsfreiheit Die „Missbrauchsklauseln“ der Grundrechtskataloge stellen allgemein und im Besonderen unter Bezugnahme auf das „Gewaltpotenzial“ der Äußerung keine taugliche Grundlage dar, den Schutzbereich der Grundrechtsgarantien einengend auszulegen. Die Bestimmungen der Grundrechtskataloge zur Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK, Art. 11 GRC und Art. 5 I 1 Alt. 1 GG) enthalten auch keine ausdrücklichen Einschränkungen des grundrechtlichen Schutzbereichs auf „friedliche“ oder „gewaltlose“ Äußerungen. Zwar ist der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit in allen drei Grundrechtsordnungen ausdrücklich auf „friedliche“ Versammlungen begrenzt; physische Gewalt gegen Menschen oder Sachen, die droht oder ausgeübt wird, fällt jeweils aus dem Schutzbereich des Grundrechts heraus und es liegen nur friedliche Versammlungen innerhalb dessen.1154 Die individuelle Meinungsäußerungsfreiheit, auf die nicht Art. 8 I GG, Art. 11 EMRK oder Art. 12 GRC, sondern Art. 5 I 1 Alt. 1 GG und Art. 10 EMRK sowie Art. 12 GRC anwendbar ist, bleibt davon allerdings unberührt.1155 Ebensowenig ist aber ein Umkehrschluss in der Weise möglich, dass Art. 10 EMRK, Art. 11 GRC und Art. 5 I 1 Alt. 1 GG jedenfalls keine Schutzbereichsgrenze der „Friedlichkeit“ oder des „Gewaltpotenzials“ kennen, weil die Bestimmungen – im Gegensatz zu Art. 11 I EMRK, Art. 12 I GRC und Art. 8 I GG – eine solche Grenze nicht ausdrücklich im Wortlaut enthalten.1156

Vgl. hierzu Boventer, Grenzen politischer Freiheit, S. 63; Rosenfeld, Cardozo Law Review 24 (2002/2003), 1523, 1529. 1154 Grabenwarter/Pabel, EMRK, §  23 Rn.  69 (Art.  11 EMRK); Rixen/Scharl, in: Stern/Sachs (Hrsg.), GRCh, Art.  12 Rn.  9 (Art.  12  GRC); Höfling, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art.  8 Rn.  31; Bröhmer, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 19 Rn. 38. 1155 Vgl. hierzu Ulbricht, Volksverhetzung und das Prinzip der Meinungsfreiheit, S. 343 f. 1156 Merten, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR III, §  60 Rn.  28; Merten, in: FS Herzog, S.  281, 283 f.; vgl. hierzu Bethge, in: Kube/Mellinghoff/Morgenthaler/Palm/Puhl/Sailer (Hrsg.), Leitgedanken des Rechts, § 49 Rn. 11. 1153

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Die Grundrechtsordnungen enthalten auch ansonsten keine Regelungen, die den Schutzbereich der Meinungsfreiheit auf Äußerungen begrenzen würden, die in keinem Zusammenhang zu Gewalt stehen. Art. 24 II GG ist keine solche Bestimmung.1157 Dabei handelt es sich um eine Ermächtigung an den Staat, Hoheitsrechte abzutreten und international bzw. völkerrechtlich zu kooperieren; 24 II GG verpflichtet den einzelnen Grundrechtsträger nicht, internationale Zusammenarbeit zu befürworten und zu fördern.1158 Der Einzelne ist nicht Adressat des Art. 24 II GG,1159 sondern er ist frei, ein Weltbild zu hegen, das nicht auf internationalen Frieden ausgerichtet ist.1160 Eine Äußerung, die dieses zum Ausdruck bringt, liegt nicht wegen Art. 24 II GG außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit. 3. Das „Gewaltpotenzial“ bei demokratiefeindlichen Äußerungen Hassreden sind regelmäßig Äußerungen, die durch den Einsatz psychischer Mittel ihre Empfänger bewusst manipulieren und dazu verleiten wollen, gewaltsame Handlungen gegenüber den Opfergruppen zu begehen. Die Äußerungen können handlungsleitendes Potenzial haben, wenn sie darauf ausgerichtet sind, dass ihre Forderungen und Ideen verwirklicht werden. Eine fremdenfeindliche Äußerung, die im öffentlichen Raum (auf einer Kundgebung) getätigt wird und gegen Flüchtlinge oder Menschen einer bestimmten Staatsangehörigkeit oder Herkunft gerichtet ist und in der der Äußernde erklärt, „die im Dorf lebenden minderwertigen Flüchtlinge müssten einmal ordentlich verprügelt werden, damit sie das Land wieder verließen und die Mittel nicht mehr beanspruchten, die den eigenen Staatsbürgern zustünden“, diskriminiert, hetzt und bietet eine Handlungsanleitung, wie dem Hass Ausdruck zu verleihen und dem „Problem“ „Abhilfe zu schaffen“ wäre. Der Äußernde übt nicht selbst Gewalt aus, er ruft dazu aber auf und leitet eine Handlung an. Fraglich ist, ob eine solche Äußerung im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegt oder ob sie aus dem Grund, dass sie zu einer Gewalthandlung anleitet, außerhalb des Schutzbereichs zu sehen ist.1161 Dabei ist zwischen zwei denkbaren Fällen des „Gewaltpotenzials“ einer Äußerung zu differenzieren. Zum einen kann ein „Gewaltpotenzial“ einer Äußerung in dieser selbst liegen. Zum anderen kann das Gewaltpotenzial auch darin liegen, dass die Äußerung andere Personen zu gewaltsamen Handlungen anleitet oder aufhetzt.

A. A. Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121, 123. Leist, Versammlungsrecht und Rechtsextremismus, S. 107; Arndt, BayVBl. 2002, 653, 657. 1159 Rühl, NVwZ 2003, 533, 534. 1160 Arndt, BayVBl. 2002, 653, 658. 1161 Vgl. hierzu Frowein, AöR 105 (1980), 169, 172. 1157 1158

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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a) „Gewaltsame Äußerungen“ Eine Drohung, die mit einer vorgehaltenen Waffe ausgesprochen wird, ist keine geschützte Verhaltensweise, weil darin kein kommunikativer Akt liegt.1162 Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist nicht betroffen, weil das Feld „geistiger Auseinandersetzung“ verlassen wird. Andere Formen der vis compulsiva, wie bloße Drohungen mit Nachteilen oder Übeln, sind regelmäßig vom Schutzbereich umfasst.1163 Die Wirkung einer solchen Drohung hängt von den konkreten Umständen ab, in denen sie getätigt wird; nur bei kontextsensibler Beurteilung kann festgestellt werden, inwieweit die Äußerung das Opfer tatsächlich beeinträchtigt. Eine solche Äußerung liegt im Schutzbereich der Meinungsfreiheit, kann aber unter Umständen zulässig beschränkt werden, weil staatliche Eingriffsmaßnahmen durch den Schutz gewichtiger Interessen gerechtfertigt werden können. Der grundrechtliche Schutzbereich endet zudem dort, wo andere zu einem Rückzug aus dem kommunikativen Prozess veranlasst werden. Eine Äußerung liegt dann nicht mehr im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit, wenn der Äußernde dem Kommunikationspartner die eigene innere Freiheit zur Willensentscheidung und Willensbildung nimmt.1164 Eine Kommunikation im Sinne der grundrechtlichen Garantien ist dann nicht mehr möglich. Dies liegt vor, wenn physische Gewalt angedroht wird; es ist aber auch dann anzunehmen, wenn gedroht wird, wirtschaftliche oder soziale Macht einzusetzen und der Adressat der Äußerung so eingeschüchtert wird, dass er sich aus dem kommunikativen Prozess zurückzieht.1165 Eine Hetze gegen eine bestimmte Personengruppe kann dazu führen, dass die Betroffenen öffentliche Plätze meiden oder Veranstaltungen nicht mehr besuchen. Insbesondere „Hassreden“ sind unter bestimmten Bedingungen geeignet, eine Druckwirkung zu erzeugen und die Betroffenen einzuschüchtern.1166 Sie können ein Opfer unter Umständen dazu veranlassen, sich aus der öffentlichen Diskussion zurückzuziehen und zu schweigen.1167 Die Meinungsäußerungsfreiheit der Opfer wird dann beeinträchtigt, weil sie durch Äußerungen der Hassredner dazu veranlasst werden, nicht mehr am öffentlichen Diskurs teilzunehmen. Die staatliche Schutzpflicht aus den grundrechtlichen Kommunikationsfreiheiten greift unter bestimmten Bedingungen ein.1168 Selbst wenn man dies annimmt, so wäre es jedoch nur unter Berücksichtigung des konkreten Kontexts und der Umstände einer Äußerung möglich, zu beurteilen,

Kapries, Die Schranken der Grundrechte, S. 92; Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 71. Kapries, Die Schranken der Grundrechte, S. 92. 1164 Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR IX, § 200 Rn. 33; Grimm, NJW 1995, 1697, 1699. 1165 Lehmann, Der Schutz symbolträchtiger Orte vor extremistischen Versammlungen, S. 134. 1166 Schmahl, Rechtsgutachten, S. 44. 1167 Vgl. Holoubek, JRP 2006, 84, 85 f. 1168 Siehe hierzu Ladeur, KuR 2010, 642, 643. 1162 1163

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

welche Wirkung sie auf das Verhalten der Opfer hat. Um die oben genannten Einflüsse einer Äußerung auf das Verhalten der angesprochenen Personen festzustellen und zu werten, muss der Kontext einer Äußerung im Einzelnen ausgewertet werden. Dieselben Worte können bei unterschiedlichen Begleitumständen zu unterschiedlichen Reaktionen führen und verschiedene Wirkungen erzeugen. Ob eine solche Äußerung schutzwürdig ist, kann nur unter Berücksichtigung des Kontexts festgestellt werden. Die Äußerung muss deshalb kontextsensibel beurteilt werden. Hierzu bieten die Schrankenklauseln die taugliche Grundlage. Die Äußerungen können darüber unter Berufung auf kollidierende Rechte der Opfer regelmäßig zulässig beschränkt werden. Eine Äußerung, die ihren Empfänger durch Druck, Einschüchterung oder sonstige Einwirkung entweder zum Schweigen oder unter Ausschluss seiner Willensfreiheit zu einer Handlung veranlasst, ist vom Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie der Meinungsäußerungsfreiheit umfasst. b) Vermittlung des „Gewaltpotenzials“ der Äußerung über deren Folgen Neben der direkten Beeinflussung des Opfers der „Hassrede“, kann das „Gewaltpotenzial“ einer Äußerung auch aus ihren Folgen erwachsen bzw. kann es darin begründet liegen. So wird teilweise angenommen, Rassenhetze und rassistische Propaganda könne als Ursache für schwere Kriegsverbrechen angesehen werden, Propagandisten von Völkermord müssten für die Folgen ihrer planmäßigen Agitation verurteilt werden.1169 Der wichtigste Grund, öffentlichen Manifestationen des Rassenhasses mit den Zwangsmitteln des Rechts zu begegnen, beruhe auf deren Beziehung zur Anwendung physischer Gewalt.1170 Sie seien geeignet, die Toleranzschwelle ihrer Empfänger gegenüber Gewaltanwendungen herabzusetzen.1171 Dies führe dazu, dass die Hemmschwelle in Bezug auf Gewaltanwendungen herabgesetzt würde.1172 In bestimmten Konstellationen könnten schon vereinzelt vorgetragene rassistisch-diskriminierende Kundgaben als erster Schritt zu einem allgemeinen Verhaltensmuster von Aufstachelung zu Rassenhass gegen eine Minderheit beitragen. Eine „Hassrede“ könne dazu beitragen, dass ein spezifisch rassistisches Meinungsklima entstehe, aus dem sich eine Motivation entwickle, Hassverbrechen in Form von Gewaltverbrechen zu verüben.1173 Im Sinne einer „bad tendency“1174 führte die Äußerung dazu, dass die Gesellschaft insgesamt oder die einzelnen

Kübler, Äußerungsfreiheit und rassistische Propaganda, S.  155, 175; vgl. hierzu Kretzmer, Cardozo Law Review 8 (1987), 445, 463. 1170 Kübler, Äußerungsfreiheit und rassistische Propaganda, S.  155, 182; Brugger, Der Staat 42 (2003), 77, 94. 1171 Kübler, Äußerungsfreiheit und rassistische Propaganda, S. 155, 182. 1172 Schmahl, Rechtsgutachten, S. 44. 1173 Schmahl, Rechtsgutachen, S. 41. 1174 Sottiaux, European Constitutional Law Review 7 (2011), 40, 54. 1169

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Empfänger der Äußerung aufgestachelt würden sodass sie gegenüber anderen Mitgliedern der Gesellschaft gewalttätig werden könnten.1175 Würde der Schutzbereich der Meinungsfreiheit so interpretiert, dass eine Äußerung, die einen Dritten zu Gewalthandlungen veranlasst, nicht von diesem umfasst ist, so würde der grundrechtliche Schutz des Äußernden vom Verhalten eines Dritten abhängig gemacht. Wenn als Anknüpfungspunkt für Freiheitseinschränkungen soziale Wirkungen von Meinungsäußerungen herangezogen werden, werden vermittelte Effekte zur Grundlage des grundrechtlichen Schutzes gemacht; erst durch eigene Entscheidungen Dritter werden die Folgen verwirklicht, die zur Grundlage dafür gemacht werden, dem Äußernden den grundrechtlichen Schutz per se zu versagen.1176 Nimmt ein Dritter, motiviert, bestärkt oder veranlasst durch eine verbale Äußerung eines anderen, eine Gewaltanwendung an dritten Personen oder Sachen vor, ist fraglich, ob und inwieweit es möglich und gerechtfertigt ist, dem Äußernden diese Gewaltanwendung zuzurechnen und seinen grundrechtlichen Schutz davon abhängig zu machen. Regelmäßig wird ein Zusammenhang zwischen der Äußerung und der Gewalt vorliegen. Für eine Zurechnung kann dies aber nicht genügen. An dieser Stelle ist dann entscheidend, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Schaden eintreten und in welcher Beziehung der Äußernde und die Äußerung zu diesem Schaden – herbeigeführt durch einen Dritten – stehen muss, damit eine Zurechnung vertretbar ist. Dies erinnert an die Rechtsprechung des US Supreme Courts, der eine clear and present danger verlangt, damit eine Zurechnung insoweit erfolgen kann, dass die Äußerung nicht vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst wird.1177 Die amerikanische Rechtsprechung entwickelte eine „Hate Speech“-Doktrin, die sie in ständiger Rechtsprechung verfolgt und nach der nicht vom Schutzbereich umfasste Äußerungen definiert werden.1178 Es muss sich um qualifizierte Formen von „Hassreden“ handeln (Imminent Lawless Action).1179 Hierzu muss eine „eindeutige und gegenwärtige Gefahr“ einer gewalttätigen Ausschreitung – im Sinne eines tatsächlichen Risikos – noch vor Ende einer vollständigen Diskussion gegeben sein.1180 Es

1175 Vgl. Sottiaux, European Constitutional Law Review 7 (2011), 40, 47; kritisch hierzu Sondervotum der Richter Sajo, Zagrebelsky und Tsotsoria zu EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07 (Sondervotum kritisiert die Annahme, es bestünde die Gefahr, dass weniger informierte Bürger beeinflusst würden. Diese Ansicht sehe die Menschen wie „dumme Individuen“, die nicht in der Lage seien Argumente und Gegenargumente abzuwägen, weil sie nur ihren irrationalen Emotionen folgten. Die Menschen müssten aber für hinreichend intelligent gehalten werden, eine informierte Entscheidung zu treffen.). 1176 Bull, in: FS BVerfG, S. 163, 175; vgl. hierzu Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 778. 1177 Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 201, 197 ff.; vgl. ausführlich hierzu Hailbronner, JöR n. F. 22 (1973), 578; Brugger, AöR 128 (2003), 372, 392. 1178 Vgl. Keller/Cirigliano, ZaöRV 2010, 410. 1179 Keller/Cirigliano, ZaöRV 2010, 410 f. 1180 US Supreme Court, Schenck v. United States, 249  U. S.  47 (1919), Nos.  437, 438 argued January 9, 10, 1919, decided March 3; US Supreme Court, Brandenburg v. Ohio, 395 U. S. 444 (1969), No. 492, argued February 27, 1969, decided June 9, 1969.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

muss eine unmittelbare Gefahr eines unrechtmäßigen Akts, eine konkrete Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Aktionen, infolge der Äußerung bestehen.1181 Erst wenn konkrete und unmittelbar drohende Tätlichkeiten angenommen werden können, also eindeutig von einem Handlungsaufruf ausgegangen werden muss, weil ein unmittelbarer zeitlicher und sachlicher Zusammenhang zwischen der Äußerung und der vorgenommenen Handlung besteht,1182 darf der Staat eingreifen.1183 Das amerikanische Recht stellt damit sehr hohe Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und den Unmittelbarkeitszusammenhang zwischen der Äußerung und dem Schadenseintritt infolge der Äußerung. Fraglich ist, ob der Schutzbereich der europäischen Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit nach einem solchen Ansatz interpretiert werden kann. Der Begriff der „Meinungsäußerung“ als solcher könnte so verstanden werden, dass nur die „geistige Wirkung“ von Meinungsbekundungen grundrechtlich schutzwürdig ist.1184 Alle Äußerungen, die in ihrer Wirkung darüber hinausgehen, würden dann – zumindest insoweit – aus dem Schutzbereich herausfallen. Anders formuliert bedeutete dies, dass demokratiefeindliche Äußerungen dann nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheitsgarantien liegen können, soweit sie wegen ihrer gravierenden Wirkungen nicht mehr als „Meinung“ bzw. „opinion“ qualifiziert werden könnten.1185 Dieser Gedanke darf nicht so verstanden werden, dass eine einfache Kausalbeziehung zwischen einer Äußerung und Gewalthandlungen genügt, um letztere der Äußerungsperson zuzurechnen und infolgedessen die Äußerung außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit zu sehen. Folge einer Äußerung kann

Justice Oliver Wendell Holmes, in: US Supreme Court, Abrahams v. United States, 250 U. S. 616, 630 (1919) („We should be eternally vigilant against attempts to check the expression of opinions that we loathe and believe to be fraught with death, unless they so imminently threaten immediate interference with the lawful and pressing purposes of the law that an immediate check is required to save the country“); Justice Louis D. Brandeis, in: US Supreme Court, Whitney v. California, 274 U. S. 357, 377 (1927) („No danger flowing from speech can be deemed clear and present, unless the incidence of the evil apprehended is so imminent that it may befall before there is opportunity for full discussion. If there be time to expose, through discussion, the falsehood and the fallacies, to avert the evil by the process of education, the remedy to be applied is more speech, not enforced silence“); siehe hierzu Frowein, AöR 105 (1980), 169, 173. 1182 Bezemek, Freie Meinungsäußerung, S. 205. 1183 Brugger, JöR n. F. 52 (2004), 513, 537 f. 1184 Vgl. hierzu Häntzschel, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), HStR II, S. 651, 652, insb. Anm. 24. Nach Häntzschel ist das „rein Geistige“ überschritten, „wenn die Meinungsäußerung entweder selbst eine Handlung, wie z. B. die Vorbereitung oder Ausführung eines Hochverrats darstellt, aber auch dann, wenn sie unmittelbar eine Anstiftung, Aufforderung oder mittelbar eine Anreizung zu einem bestimmten Handeln ist“; aber auch „die besonderen äußeren Umstände“ könnten „eine unmittelbare Gefährdung von Rechtsgütern“ begründen. Auch „das Beleidigen, Beschimpfen und böswillige Verächtlichmachen“ und die damit verbundene Verletzung von Rechtsgütern als eine Art und Weise der Meinungsäußerung, die „über das Maß hinausgeht, was zum geistigen Überzeugen erforderlich ist“ falle aus dem Bereich der rein geistigen Wirkungen heraus und dürfe daher ohne Rücksicht auf die Meinungsfreiheitsgarantie verboten werden; vgl. hierzu auch Frowein, AöR 105 (1980), 169, 182 f. 1185 Vgl. hierzu Hochmann, Le négationnisme, S. 238. 1181

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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gegebenenfalls ein Verhalten einer oder mehrerer anderer Personen sein. Handelte es sich um tätliche Übergriffe durch eine vom Äußernden verschiedene Person auf Dritte, läge schon die Äußerung des Grundrechtsträgers außerhalb des Schutzbereichs, weil die Folgen und die Äußerung als Gesamtheit betrachtet würden und eine Gewalttätigkeit an irgendeiner Stelle des Gesamtgeschehens – in dem Verhalten des Grundrechtsträgers selbst oder eben in dem auf die Äußerung folgenden Verhalten anderer Personen – dazu führte, dass die Äußerung nicht im Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie läge. Die Qualität der Kausalbeziehung zwischen der Äußerung und den Folgen bliebe hierbei außer Betracht, eine einfache Kausalität genügte. Im Extremfall würde dies zum Beispiel bedeuten, dass ein Redner, der in einem wissenschaftlichen Kontext rassistische Thesen erörtert, sich von diesen aber klar und eindeutig distanziert, gleichzeitig vor deren Gewaltpotenzial warnt und dieses deutlich kritisiert, dennoch strafrechtlich für einen aus Anlass seiner Rede, aber aus einem Missverständnis seiner Äußerungen resultierenden Gewaltakt gegen die angesprochene Bevölkerungsgruppe, verantwortlich gemacht werden könnte, ohne dass seine grundrechtliche Garantie auf Meinungsäußerungsfreiheit relevant würde; der Schutzbereich wäre nicht betroffen und das Grundrecht somit nicht Maßstab für die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns. Eine pauschale Zurechnung aller Handlungen Dritter, die im Sinne einer einfachen Kausalität infolge einer Äußerung vorgenommen werden, ist nicht vertretbar. Die effektive Gewährleistung der Meinungsäußerungsfreiheit würde zu weitgehend beeinträchtigt, da ein Abschreckungseffekt dazu führen würde, dass Äußerungen nicht mehr getätigt würden. Die Zurechnung der Folgen einer Äußerung müsste, um dies zu vermeiden, jedenfalls nach der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und der konkreten Ausgestaltung der Kausalbeziehung zwischen Äußerung und schädigender Handlung differenziert erfolgen. Man könnte nun davon ausgehen, sogenannte fighting words, also Äußerungen, die drohen unmittelbar in eine Tätlichkeit umzuschlagen, lägen nicht im Schutzbereich.1186 Es käme auf eine Unmittelbarkeitsbeziehung zwischen der Äußerung und einem Gewaltakt an. Die Grenze wäre dort zu ziehen, wo das kommunikative Element unmittelbar in eine tätliche Gewalt umschlägt. Die Unmittelbarkeit könnte durch zeitliche, personelle oder andere Kriterien definiert werden.1187 Ein relevanter Faktor müsste sein, ob die Folgen der Äußerung erst als Fernwirkung der Äußerung drohen oder ob deren Realisierung bereits mit der Äußerung in Gang gesetzt wurde.1188 Weiter wäre wesentlich, ob durch die Art der Äußerung ihre Wirkungen erkennbar würden. Maßgeblich könnte sein, ob die Äußerung auf konkrete Personen, Personengruppen oder reale Situationen Bezug nimmt.1189 Eine Äußerung, die – wenn sie auch nicht direkt dazu auffordert – ein

Brugger, Der Staat 42 (2003), 77, 86; Brugger, AöR 128 (2003), 372, 392. Fohrbeck, Wunsiedel, S. 225. 1188 Vgl. BVerfGE 124, 300, 342. 1189 Vgl. BVerfGE 124, 300, 342. 1186 1187

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Szenario einer Gewaltanwendung realistisch beschreibt und darstellt ist unmittelbarer mit einer Gewaltanwendung verbunden, als eine Äußerung, die vage Theorien, Gedanken und Lehren verbreitet, bei denen die Umsetzung keine Rolle spielt. Ein Kaskadeneffekt wäre zu berücksichtigen, bei dem eine „Hassrede“ selbst noch niemanden zu einer Gewaltanwendung veranlasst, aber eine andere Person zu einer erneuten „Hassrede“ motiviert wird. Wenn diese Hassreden dann eine kritische Masse erreichen und schließlich unmittelbar in eine Gewaltanwendung münden, ist fraglich, ob die erste „Hassrede“ bereits als unmittelbar in Verbindung mit der Gewaltanwendung stehend bezeichnet werden könnte.1190 Fraglich ist weiter, ob nur zeitlich unmittelbar auf die Äußerung folgende Gewaltanwendungen relevant sein können oder ob auch langfristige Gewaltreaktionen ausreichen, die sich aus einem vom Äußernden geschaffenen gesellschaftlichen Klima der Intoleranz in großem zeitlichem Abstand zu der Äußerung selbst entwickeln. Hiergegen wird zu Recht vorgebracht, die Berücksichtigung von Langzeitfolgen dieser Art werfe unüberwindbare Probleme auf, da die langfristigen Folgen einer Äußerung zum Zeitpunkt der Entscheidung über ein Verbot dieser Äußerung meist nicht abgeschätzt und nicht bewiesen werden können.1191 Teilweise wird vertreten, wenn die Anwendung von vis absoluta durch einen Dritten verursacht werde, bestehe kein Unterschied zu einer Situation, in der der Äußernde selbst Gewalt anwendet. Der gewalttätige Äußerungsadressat müsse allerdings als verlängerter Arm, also als objektives Werkzeug des Äußernden, handeln. Störungen des (öffentlichen) Friedens unterhalb der Schwelle eigenhändiger Anwendung von vis absoluta lägen in diesen Fällen nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit.1192 Hierfür sei hinreichend, dass die Äußerung entweder unmittelbar zur Gewaltanwendung führe oder dass es nur noch vom Zufall abhängig sei, ob die Gewalthandlung eintritt oder nicht. Gehe von der Äußerung eine konkrete Gefährdung in diesem Sinne aus, sei der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nicht eröffnet.1193 Sehr pointierte und aggressive Hetzreden, die konkrete Aufforderungen zur Gewaltanwendung enthalten, seien hiervon betroffen. Dies könnte etwa bei einer Äußerung gegeben sein, die die Anwendung von Gewalt durch Dritte gezielt provoziert; eine rassistische oder diffamierende Äußerung mit konkretem Bezug zu einer bestimmten Personengruppe oder Bevölkerungsminderheit könnte diese Anforderung erfüllen.1194 Aufforderungen zur Anwendung von vis compulsiva hingegen seien damit nicht vergleichbar und deshalb – wie die eigenhändige Anwendung von vis compulsiva – grundrechtsgeschützt.1195 Fraglich ist auch, wie mit einem Fall umzugehen wäre, in dem die Opfer eines geleugneten

Sajó, in: Sajó (Hrsg.), Militant Democracy, S. 209, 216. Buyse, International and Comparative Law Quarterly 2014, 491, 499. 1192 Kapries, Die Schranken der Grundrechte, S.  92  f.; vgl. hierzu Hoffmann-Riem, in: Merten/ Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 106 Rn. 122; Volkmann, JZ 2010, 417, 419. 1193 Vgl. hierzu Loewenstein, Verfassungslehre (2000), S. 352. 1194 Vgl. Ladeur, K&R 2010, 642, 646. 1195 Kapries, Die Schranken der Grundrechte, S. 93 f. 1190 1191

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Verbrechens aus Rache in Reaktion auf die leugnenden Äußerungen gewaltsam gegen den Leugner vorgehen und die Gewaltanwendung so von den Opfern gegen den Äußernden selbst gerichtet wäre.1196 Zutreffend ist, dass in einem Fall, in dem eine unmittelbare Beziehung zwischen einer Äußerung und einer Gewaltanwendung einer zuhörenden Person gegenüber einer dritten Person festgestellt werden kann, eine Zurechnung der Gewalt zum Äußernden zumindest erwogen werden muss. In der Feststellung der Unmittelbarkeitsbeziehung liegt aber die Schwierigkeit. Das „Gewaltpotenzial“ einer Äußerung ist ein vages Kriterium.1197 Jede Meinungsäußerung hat Wirkungen; ob diese aber auf die Überzeugung anderer begrenzt sind, oder einen Schaden verursachen, ist schwierig feststellbar.1198 Um sachgerecht zu beurteilen, ob eine relevante Unmittelbarkeitsbeziehung besteht, sind unterschiedliche Erwägungen anzustellen: Es wäre zu erörtern, ob das Opfer in der Äußerung – zum Beispiel durch Nennen konkreter Namen – individuell definiert wurde,1199 ob die Adressaten der Äußerungen derart beeinflusst wurden, dass sie zu einem unabhängigen, eigenen Urteil über die Situation nicht mehr in der Lage waren, ob die Art der Gewaltanwendung mit der Äußerung in Verbindung steht, und ob die Motivation zur Gewaltanwendung (allein) aus der Äußerung stammt oder andere Faktoren hinzutreten, die einen evidenten Zusammenhang zwischen Äußerung und Handlung des Dritten erkennen lassen und deutlich machen, dass es sich bei der Äußerung um einen eindeutigen öffentlichen Appell handelt. Das Medium, in dem die Äußerung getätigt wird, ist ebenfalls von entscheidendem Einfluss. Wird eine Äußerung über Massenmedien verbreitet, ist die Wahrscheinlichkeit einer gewalttätigen Reaktion größer als im Falle ihrer Veröffentlichung in einer Zeitung mit stark eingeschränkter Verbreitung. Die Unmittelbarkeitsbeziehung kann im Einzelfall auch stark vom sozio-politischen Kontext abhängen, in dem die Äußerung getätigt wird.1200 Die Tendenz der Äußerung kann durch diesen verändert werden. In einer ohnehin angespannten politischen Lage vermögen rassische Diskriminierungen und fremdenfeindliche Äußerungen eventuell eine Aufstachelung des gesellschaftlichen Klimas zu erzeugen, die unter anderen Umständen ohne Wirkung geblieben wären.1201 Die allgemeine Sicherheitssituation in einer Region oder einem Staat kann ebenfalls ein Umstand

Douglas, in: Hennebel/Hochmann (Hrsg.), Genocide Denials and the Law, S. 49, 52. Vgl. Volkmann, NJW 2010, 417, 419; Ladeur, K&R 2010, 642, 644; Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S.  585; Grote/Wenzel, in: Dörr/Grote/Marauhn (Hrsg.), KoKo, Kap. 18 Rn. 127; Bader, Journal of Ethnic and Migration Studies 2013, 320, 323; Hufen, Staatsrecht II, § 6 Rn. 20; Sottiaux, European Constitutional Law Review 7 (2011), 40, 57; Sachs, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD III/2, § 81, S. 539 f.; Dietlein, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD IV/2, § 114, S. 118. 1198 Wendt, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 72; vgl. hierzu Frowein, AöR 105 (1980), 169, 182 f. 1199 Tulkens, in: FS Bratza, S. 279, 290. 1200 Brugger, JöR n. F. 52 (2004), 513, 538. 1201 Vgl. Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 23 Rn. 35. 1196

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

sein, der die Zurechnung im Einzelfall zu Gunsten oder zu Lasten des Äußernden beeinflusst.1202 Zu berücksichtigen ist außerdem die Autorität des Redners, mit der dieser die Äußerung sendet, die dann von jenen empfangen wird, die die Handlungen infolgedessen vornehmen.1203 Das Verhältnis zwischen Äußerndem und Empfängern ist relevant dafür, welche Wirkung die Äußerung auf die Zuhörer hat. Der Unmittelbarkeitszusammenhang könnte erst dann abschließend beurteilt werden, wenn der Schaden bereits eingetreten ist. Vorher müsste nach der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts gefragt werden. Dann ist aber zu klären, welche Anforderungen an diese Wahrscheinlichkeit zu stellen sind und wie das Vorliegen einer Wahrscheinlichkeit zu belegen ist.1204 Jedes soziale Risiko kann nicht genügen. Darüber hinaus hängen die Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit von den betroffenen Opferrechten und anderen Faktoren ab.1205 Sie können nur für jeden Einzelfall bestimmt werden. Sind zentrale Persönlichkeitsrechte betroffen, wird man zum Beispiel einen niedrigeren Wahrscheinlichkeitsmaßstab anlegen als bei anderen Grundrechten. Zudem müsste zumindest erwogen werden, welche Rolle der Wille des Äußernden für die Zurechnung spielt. Der Wille, etwas zu äußern ist nicht äquivalent zu dem Willen, bestimmte Folgen mit einer Äußerung auszulösen. Wenn man annimmt, dass dieses subjektive Element auf Ebene des Schutzbereichs eine Rolle spielt, so ergibt sich bereits bei Ermittlung dessen die Notwendigkeit, alle relevanten Umstände des konkreten Kontextes zu berücksichtigen. Nur auf diese Weise kann – soweit dies überhaupt möglich ist – die Motivlage des Äußernden sachgerecht beurteilt werden. Selbst wenn man nun über die Erwägung dieser Aspekte, den Anforderungen der europäischen Grundrechtskataloge entsprechend, eine Unmittelbarkeitsbeziehung darzulegen vermag, so bedeutet die Erwägung aller dieser Einzelfaktoren eine umfassende Erörterung aller Umstände des jeweiligen konkreten Kontexts einer Äußerung. Ob das Verhältnis zwischen einer Äußerung und ihren Folgen so unmittelbar ist, dass es die Verantwortlichkeit des Äußernden für die Folgen seiner Äußerung begründen kann, kann nur vor dem Hintergrund des konkreten Kontexts einer Äußerung beurteilt werden. Zeitgeist, Umfeld, Auditorium, Redner, Rhetorik, Sprache und alle sonstigen Umstände des konkreten Kontextes der Äußerung sind relevant, um feststellen zu können, ob es einen Unmittelbarkeitszusammenhang zwischen einer Äußerung und einer Gewaltanwendung gibt, die die Zurechnung der Äußerungsfolgen rechtfertigt. Eine kontextsensible Beurteilung ist zwingend. Es ist notwendig, umfassend alle Umstände des konkreten Kontexts zu untersuchen, um die Zurechnung der Äußerungsfolgen an den Äußernden sachgerecht beurteilen zu können.

Sottiaux, European Constitutional Law Review 7 (2011), 40, 61. Vgl. hierzu Jakobs, ZStW 97 (1985), 751, 782 ff. 1204 Siehe hierzu Hochmann, Le négationnisme, S. 420, 437; Fohrbeck, Wunsiedel, S. 228; Brugger, Der Staat 42 (2003), 77, 86. 1205 Sajó, in: Sajó (Hrsg.), Militant Democracy, S. 209, 217. 1202 1203

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Eine solche kontextsensible Beurteilung, in die die tatsächlichen Umstände der Äußerung einbezogen werden, wird bestimmungsgemäß im Rahmen der Grundrechtsschranken durchgeführt. Die Schrankenklauseln der Grundrechtsgarantien bieten dafür im Gegensatz zu den grundrechtlichen Schutzbereichen eine Grundlage. Selbst wenn eine Unmittelbarkeitsbeziehung zwischen einer Äußerung und einer gewaltsamen Handlung einer anderer Person besteht, liegt die Äußerung trotzdem in allen drei Grundrechtskatalogen im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien. Es handelt sich bei der Beurteilung, ob eine Gewaltanwendung unmittelbare Folge einer Äußerung ist, nicht um rechtliche Überlegungen zur Auslegung der Begriffe, die den Schutzbereich des Grundrechts beschreiben, sondern um tatsächliche Überlegungen zum Kontext einer Äußerung. Die Äußerung ist eine „Meinung“ bzw. eine „Opinion“ im Sinne der jeweiligen Bestimmungen. Löst eine Äußerung Gewalt aus, so kann dies unter Umständen ihre Beschränkung rechtfertigen. Der Kontext einer Äußerung trägt zur Identifizierung eines Aufrufs zu Gewalt wesentlich bei. Er darf nicht außer Acht gelassen werden.1206 Gerade im Bereich der politischen Auseinandersetzung können politische Kampfformen auftreten, deren Qualifizierung als Gewalthandlungen auf den ersten Blick plausibel erscheinen könnte, in einem zweiten Zugriff aber den Ausschluss essenzieller und legitimer Formen öffentlicher Auseinandersetzung über politische Fragen bedeuten würde.1207 Diese Umstände müssen im Einzelfall kontextsensibel beurteilt werden. Hierfür ist die Auslegung und Anwendung der Schrankenklausel der bestimmungsgemäße Ort.1208 Der Schutz, den eine Äußerung genießt, wenn sie nur im Schutzbereich des Grundrechts liegt, muss einer Äußerung mit Gewaltpotenzial zukommen. Die Begründungslast des Staats wird erhöht und eventuelle missbräuchliche Rückgriffe auf ein „Gewaltpotenzial“ können durch zusätzlich zu erfüllende rechtsstaatliche Anforderungen eingehegt werden. An dieser Stelle ist zusätzlich auf einen Zusammenhang zwischen dem Kriterium des „Gewaltpotenzials“ und jenem der Differenzierung nach dem Inhalt der Äußerung hinzuweisen. Der Gebrauch des Kriteriums „Gewaltpotenzial“ führt zwangsläufig dazu, dass man vage und unbestimmte Begriffe wie „Gewalt“ oder „Gefahr für den öffentlichen Frieden“ anwendet. Eine Definition sowie die Subsumtion unter diese Begriffe fällt aber gerade wegen des vagen Charakters der Begrifflichkeiten nicht leicht. Es besteht die Gefahr, dass der Rückgriff auf den Inhalt der Äußerung als Ausweg aus diesem Definitions- und dem daraus wiederum resultierenden Subsumtionsdilemma gewählt wird.1209 Da aber das Kriterium des Inhalts der Äußerung kein geeignetes zur Festlegung einer Schutzbereichsgrenze ist, spricht auch dies dagegen, das „Gewaltpotenzial“ einer Äußerung zum Kriterium des grundrechtlichen Schutzbereichs zu machen.

Jacobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 430. Vgl. Steinberger, Konzeption und Grenzen freiheitlicher Demokratie, S. 598. 1208 Misera-Lang, Dogmatische Grundlagen der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 135 f. 1209 Vgl. Huster, NJW 1996, 487, 490. 1206 1207

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

4. Zwischenergebnis Das „Gewaltpotenzial“ einer Äußerung ist kein taugliches Kriterium des grundrechtlichen Schutzbereichs der Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit. Dies gilt sowohl für die EMRK, als auch für das Grundgesetz und die Grundrechtecharta. Das „Gewaltpotenzial“ kann schon nicht beurteilt werden, ohne dass alle Faktoren des Kontextes einer Äußerung berücksichtigt werden. Es muss anhand einer tatsachen- und kontextbezogenen Analyse ermittelt werden.1210 Diese findet bestimmungsgemäß auf Ebene der Schranken statt. Im Ergebnis ist eine Grenzziehung im Schutzbereich nach dem „Gewaltpotenzial“ somit für alle drei Grundrechtsebenen abzulehnen. Den Äußerungen muss zwingend auch dann der Schutz zukommen, den bereits der grundrechtliche Schutzbereich vermittelt, wenn sie ein „Gewaltpotenzial“ im beschriebenen Sinn aufweisen. Die rechtsstaatlichen Sicherungen, die greifen, wenn der Schutzbereich betroffen und das Grundrecht damit Maßstab der Rechtmäßigkeit des staatlichen Handelns ist, sind von erhöhter Relevanz, wenn es darum geht, ein relativ unbestimmtes Kriterium wie ein „Gewaltpotenzial“ einer Äußerung anzuwenden, um den grundrechtlichen Schutz eines Verhaltens zu beurteilen. Auf Ebene der Grundrechtsschranken spielt das „Gewaltpotenzial“ der Äußerung dann aber eine Rolle. Einer Äußerung mit „Gewaltpotenzial“ kommt kein absoluter grundrechtlicher Schutz zu. Das „Gewaltpotenzial“ wirkt regelmäßig zu Lasten der äußernden Person. Äußerungen, die zu Hass und Gewalt aufstacheln oder aufrufen bzw. die Schwelle zu einer individualisierbaren, konkret fassbaren Gefahr einer Rechtsverletzung bergen, können regelmäßig grundrechtskonform beschränkt werden. Der Schutzbereich bleibt vom „Gewaltpotenzial“ aber unberührt. Auf Ebene der EMRK beeinflusst ein „Gewaltpotenzial“ einer Äußerung die Prüfung der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft. Der EGMR berücksichtigt, inwieweit eine Äußerung einen Aufruf zu Gewalt1211 enthält oder zu Hass aufstachelt.1212 Er bringt dies zu Lasten des Grundrechtsträgers in die Abwägung 1210 Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art. 10 Rn. 80; Jacobs/White/Ovey, The European Convention on Human Rights, S. 430; Sottiaux, European Constitutional Law Review 7 (2011), 40, 57 ff. 1211 EKMR, 21. 10. 1997, Sener ./. Türkei, Nr. 26689/95, Z. 83; EGMR, 2. 10. 2003, Kizilyaprak ./. Türkei, Nr. 27528/95, Z. 39; EGMR, 29. 3. 2005, Alinak ./. Türkei, Nr. 40287/98, Z. 45; EGMR, 10. 7. 1998, Sidiropoulos u. a. ./. Griechenland, Nr. 26695/95, Z. 45 f., 43; EGMR (GK), 8. 7. 1999, Sürek Nr. 1 ./. Türkei, Nr. 26682/95, Z. 62; EGMR, 7. 3. 2006, Hocaoğullari ./. Türkei, Nr. 77109/01, Z. 39; EGMR, 1. 3. 2005, Birol ./. Türkei, Nr. 44104/98, Z. 29; EGMR, 7. 2. 2006, Halis Doğan ./. Türkei, Nr. 75946/01, Z. 35 ff.; EKMR, 13. 1. 1998, Baskaya u. Okcuoglu ./. Türkei, Nr. 23536/94 u. 24408/94, Z. 73; EGMR, 8. 7. 1999, Erdogdu u. Ince ./. Türkei, Nr. 25067/94 u. 25068/94, Z. 52, 62, 70; EGMR, 7. 2. 2002, E. K. ./. Türkei, Nr. 28496/95, Z. 79; EGMR (GK), 8. 7. 1999, Gerger ./. Türkei, Nr. 24919/94, Z. 50; EGMR, 8. 7. 1999, Ceylan ./. Türkei, Nr. 23556/94, Z. 36; EGMR (GK), 8. 7. 1999, Arslan ./. Türkei, Nr. 23462/94, Z. 48; EGMR, 4. 12. 2003, Gündüz ./. Türkei, Nr. 35071/97, Z. 48; EGMR, 11. 4. 2006, Dicle Nr. 2./. Türkei, Nr. 46733/99, Z. 33; EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08, Z. 37, 44. 1212 EKMR, 21. 10. 1997, Sener ./. Türkei, Nr. 26689/95, Z. 45 („Nor does it incite people to hatred, revenge, recrimination or armed resistance“); EGMR, 31. 1. 2006, Giniewski ./. Frankreich, Nr. 64016/00 („does not incite disrespect or hatred“); EGMR, 29. 4. 2008, Kutlular ./. Türkei, Nr.

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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der widerstreitenden Interessen im Rahmen der Prüfung der Notwendigkeit eines Grundrechtseingriffs in einer demokratischen Gesellschaft ein.1213 Das „Gewaltpotenzial“ wird in der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs nicht vergleichbar mit dem US Supreme Court erst dann berücksichtigt, wenn eine Gefahr im Sinne einer clear and present danger vorliegt. In einigen neueren Entscheidungen scheint der EGMR sogar tendenziell das Erfordernis einer konkreten Gefahr bzw. eines konkreten Risikos, dass auf einen Aufruf zu Gewalt Gewalthandlungen oder auf eine „Hassrede“ gewaltsame Hasstaten folgen, zu relativieren und es genügen zu lassen, dass ein Risiko besteht, dass sich in der Gesellschaft ein Klima des Hasses entwickelt.1214 Im Fall Féret ging der Gerichtshof davon aus, dass die Aufstachelung zu Hass nicht notwendigerweise einen Aufruf zu einem bestimmten Gewaltakt oder einem anderen strafbaren Vorgehen erfordere. Angriffe auf Personen, die lächerlich machten, diffamierten oder verletzten, genügten ebenso wie Aufstachelungen zu Diskriminierungen, um staatliche Maßnahmen gegen rassistische „Hassrede“ zu rechtfertigen. Die Meinungsfreiheit werde in einem solchen Fall nicht verantwortungsvoll eingesetzt und es werde die Würde der Menschen angegriffen. Politische Äußerungen, die zu Hass aufgrund von religiösen, ethnischen oder kulturellen Vorurteilen aufstachelten, stellten eine Gefahr für den sozialen Frieden und die politische Stabilität in demokratischen Staaten dar.1215 Auch eine Aufstachelung zu Ablehnung und Feindschaft ließ der EGMR in einem Urteil genügen.1216 Im Fall Vejdeland stellte der EGMR fest, es müsse kein Aufruf zu Gewalt gegeben sein. Ein Aufruf zu Hass, der kein solcher zu Gewalt ist, könne hinreichend sein, um einen Eingriff zu rechtfertigen.1217 Der EGMR verlangt jedenfalls keine Gefahr im Sinne des clear and present danger -Tests als Bedingung für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in die Meinungsäußerungsfreiheit.1218 Das Potenzial einer Äußerung, Gewaltanwendungen hervorzurufen, genügt, um ihre Beschränkung zu rechtfertigen.1219 Die Frage, ob eine Aufstachelung zu Hass

73715/01, Z. 49 („les propos du requérant n’incitent pas à la violence et ne sont pas de nature à fomenter la haine contre les personnes qui ne sont pas membres de la communauté religieuse à laquelle appartient le requérant“); EKMR, 6. 9. 1995, Remer ./. Deutschland, Nr. 25096/94 („inciter a la haine“); vgl. hierzu EGMR, 3. 10. 2017, Dimitriyevsky ./. Russland, Nr. 42168/06, Z. 97 ff. 1213 Vgl. Zusammenfassung in EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 206. 1214 EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 73 („l’incitation à la haine ne requiert pas nécessairement l’appel à tel out el acte de violence ou à un autre acte délictueux“); vgl. hierzu Mensching, Hassrede im Internet, S. 108 ff.; Mensching, in: Karpenstein/Mayer (Hrsg.), EMRK, Art.  10 Rn.  80; Hochmann, Le négationnisme, S.  437. Zum außerhalb der Frage nach Begrenzungen des Schutzbereichs stehenden und deshalb hier nicht näher behandelten Kriterium der Aufstachelung zu Hass und Gewalt bzw. des Gewaltaufrufs und dessen konkreter Ausgestaltung in der Rechtsprechung des EGMR vgl. etwa Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 168 ff.; Hochmann, Le négationnisme, S. 437 ff.; Sottiaux, European Constitutional Law Review 7 (2011), 40; Sottiaux, ZaöRV 2003, 653; Bonello, in: FS Bratza, S. 349; Sottiaux, NQHR 2005, 585. 1215 EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07, Z. 73; vgl. auch bereits EGMR, 10. 5. 2001, Le Pen ./. Frankreich, Nr. 55173/00 („the mere tendency sufficed to justify the restriction“). 1216 EGMR, 10. 5. 2001, Le Pen ./. Frankreich, Nr. 55173/00. 1217 EGMR, 9. 2. 2012, Vejdeland u. a. ./. Schweden, Nr. 1813/07, Z. 55. 1218 Vgl. hierzu Sottiaux, NQHR 2005, 585, 590. 1219 Vgl. Buyse, International and Comparative Law Quarterly 2014, 491, 500.

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

und Gewalt vorliegt, beurteilt der Gerichtshof anhand aller relevanten Umstände des konkreten Kontexts.1220 So muss nach Auffassung des EGMR berücksichtigt werden, ob aus dem Kontext erkennbar wird, dass dem Empfänger der Äußerung vermittelt wird, dass der Rückgriff auf Gewalt notwendiges und gerechtfertigtes Mittel der Selbstverteidigung gegen einen in der Äußerung benannten Aggressor ist. Eine Äußerung, die konkrete Namen nenne, schaffe wegen der Individualisierung potenzieller Opfer jedenfalls das Risiko einer tatsächlichen Gewaltanwendung gegenüber diesen konkreten Personen.1221 Der Gerichtshof erörtert das „Gewaltpotenzial“ einer Äußerung auf diese Weise kontextsensibel. Der Kontext ist schon wesentlich, um begründet feststellen zu können, ob ein „Gewaltpotenzial“ von der Äußerung ausgeht. Kommt der Gerichtshof vor dem Hintergrund aller relevanten Kontextfaktoren zu dem Ergebnis, dass die Äußerung Gewalt propagiert und dazu aufstachelt, führt dies regelmäßig dazu, dass sie im Einklang mit Art. 10 II EMRK beschränkt werden kann. In Ausnahmefällen kann aber etwas anderes anzunehmen sein. Es kann Umstände geben, unter denen von einer Äußerung, der in allen anderen Situationen und Kontexten jedenfalls „Gewaltpotenzial“ zu attestieren wäre, ausnahmsweise keinerlei Risiko gewaltsamer Handlungen ausgeht. Dies muss berücksichtigt werden und in diesem Fall dazu führen, dass der Grundrechtsschutz nicht wegen eines „Gewaltpotenzials“ versagt wird. Die Ebene der Grundrechtsschranken ist der systemgerechte Ort, an dem auf diese Weise eine kontextsensible Beurteilung stattfindet. Für die Garantie aus Art.  11  GRC gelten gemäß Art.  52 III GRC die genannten Erwägungen gleichermaßen. Das Kriterium einer Aufstachelung zu Gewalt und Hass findet sich auch im übrigen Unionsrecht. Der bereits erwähnte Rahmenbeschluss 2008/913/JI der Europäischen Union lässt eine Aufstachelung zu Gewalt und Hass (Art.  1  lit. a und b) bzw. die Wahrscheinlichkeit der Aufstachelung (Art.  1  lit c und d) genügen, um eine Äußerung mit negativen Konsequenzen zu belegen.1222 Der EuGH definiert den Begriff einer Aufstachelung zu Hass aus der RL 97/36/EG1223 entsprechend.1224 Für das Grundgesetz gelten analoge Annahmen. Auch hier ist das „Gewaltpotenzial“ einer Äußerung nicht unerheblich, sondern findet zu Lasten des Äußernden in der Grundrechtsprüfung Berücksichtigung. Das Bundesverfassungsgericht prüft ebenfalls – vergleichbar mit dem EGMR – im Rahmen der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs, ob von einer Äußerung Gefahren ausgehen, die „mittelbar auf

EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 232 ff.; siehe hierzu Sottiaux, ZaöRV 2003, 653, 674 f. 1221 EGMR (GK), 8. 7. 1999, Sürek Nr. 1 ./. Türkei, Nr. 26682/95, Z. 62; vgl. hierzu auch EGMR, 2. 10. 2001, Stankov and the United Macedonian Organisation Ilinden ./. Bulgarien, Nr. 29221/95, 29225/95, Z. 107, 111; EGMR, 31. 3. 2015, Öner u. Türk ./. Türkei, Nr. 51962/12, Z. 24; vgl. hierzu Sudre, Droit européen et international des droits de l’homme, S. 634; Oetheimer, RTDH 2007, 63, 73. 1222 Siehe hierzu Bock, ZRP 2011, 46, 47. 1223 Siehe hierzu bereits oben Kapitel 3, A., I., 3. 1224 EuGH, 22. 9. 2011, Mesopotamia Broadcast A/S METV und RoJ TV A/S gegen Bundesrepublik Deutschland, Rs. C-244/10 und C-245/10, Z. 42, 44 f. 1220

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Realwirkungen ausgelegt sind und etwa in Form von Appellen zum Rechtsbruch, aggressiven Emotionalisierungen oder der Herabsetzung von Hemmschwellen rechtsgutsgefährdende Folgen unmittelbar auslösen können“.1225 Die Außenwirkungen der Äußerung müssen – so das Gericht – bei den Empfängern eine „Handlungsbereitschaft auslösen“, „auf Dritte unmittelbar einschüchternd wirken“ oder „Hemmschwellen herabsetzen“.1226 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genügt ein „vorgelagerter Rechtsgüterschutz“ bei mittelbaren Außenwirkungen von Äußerungen, die „ihrem Inhalt nach erkennbar auf rechtsgutsgefährdende Handlungen hin angelegt sind.“1227 Damit knüpft die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts an Gefahren an, die sich in der Wirklichkeit konkretisieren könnten.1228 Für das Gericht ist maßgeblich, ob die „Schwelle zur enthemmenden Gewaltverherrlichung“1229 durch die Äußerung überschritten wird.1230 Die Art und Weise der Kommunikation müsse, so das Bundesverfassungsgericht, „bereits den Übergang zur Rechtsgutsverletzung greifbar in sich“ tragen und die „Schwelle zu einer sich abzeichnenden Rechtsgutsverletzung überschreiten“.1231 In einem Sachverhalt, in dem dies der Fall ist, stützt dies die Rechtfertigung der staatlichen Eingriffsmaßnahme und wirkt zu Lasten des Äußernden. Der Billigung bestimmter, tatsächlich begangener besonders schwerer Verbrechen misst das Bundesverfassungsgericht in der Regel ein hinreichend konkretes und intensives Gefährdungspotenzial bei, um diese Anforderungen zu erfüllen.1232 BVerfGE 124, 300, 335; siehe zum außerhalb der Frage nach Begrenzungen des Schutzbereichs stehenden und deshalb hier nicht behandelten Erfordernis der Eingriffsschwelle einer individualisierbaren, konkret fassbaren Gefahr einer Rechts(guts)verletzung bzw. einer bestimmten Gefährdungslage im Rahmen des Art. 5 II GG in der Rechtsprechung des BVerfG im Einzelnen BVerfGE 124, 300, 331 ff.; vgl. hierzu würdigend Weiler, Der Tatbestand „Volksverhetzung“ im europäischen Vergleich, S. 89; Stegbauer, NStZ 2000, 281, 284; Schmahl, Rechtsgutachten, S. 43; Rusteberg, StudZR 2010, 159, 165  ff.; Barczak, StudZR 2010, 309, 318; Handschell, BayVBl. 2011, 745, 750; Hong, DVBl. 2010, 1267, 1272 ff.; Hong, ZaöRV 2010, 73, 122 ff.; Masing, JZ 2012, 585, 587; Enders, JZ 2008, 1092, 1097; siehe zu den Anforderungen an die anzustellende Gefahrenprognose BVerfGE 120, 300, 344, sowie auch BVerfG, 1 BvR 1106/08, Z. 15, 24. 1226 BVerfGE 124, 300, 335. 1227 BVerfGE 124, 300, 335. 1228 BVerfGE 124, 300, 335. 1229 BVerfGE 124, 300, 343. 1230 Im Ergebnis überschritt nach Ansicht des BVerfG die Glorifizierung von Rudolf Hess als Form der Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft unter den Umständen des gegegebenen Sachverhalts die erforderliche Schwelle (BVerfGE 124, 300, 343). Es handle sich bei der Gutheißung der Gewalt- und Willkürherrschaft des Nationalsozialismus – vorbehaltlich besonderer, eine andere Beurteilung erfordernder Umstände im Einzelfall, die die Vermutung der Überschreitung der erforderlichen Schwelle durch die Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft wegen schädlicher Folgewirkungen widerlegten – nicht mehr um eine bloß anstößige geistige Relativierung des Gewaltverbots. Vielmehr löse die Kundgabe einer positiven Bewertung dieses Unrechtsregimes Widerstand, Einschüchterung und Enthemmung aus (BVerfGE 124, 300, 311, 336). 1231 BVerfG, 1 BvR 461/08, Z. 20. 1232 Hong, ZaöRV 2010, 73, 123 f.; siehe hierzu kritisch Douglas, in: Hennebel/Hochmann (Hrsg.), Genocide Denials and the Law, S. 49, 52. 1225

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Nach der Konzeption der europäischen Grundrechtskataloge ist auf allen hier untersuchten Ebenen des Grundrechtsschutzes mit leichten Nuancierungen ein tatsächlich festgestelltes „Gewaltpotenzial“ maßgeblicher Grund für die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs. Die hohen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts bzw. die Unmittelbarkeitsbeziehung zwischen Äußerung und schädigender Handlung, die die amerikanische Rechtsprechung stellt (clear and present danger), werden in den europäischen Grundrechtskatalogen nicht verlangt.1233 Dementsprechend liegt die Schwelle verhältnismäßiger Eingriffe niedriger. Den europäischen Garantien ist bereits dann Genüge getan, wenn aus einer Äußerung erkennbar Gefährdungslagen resultieren.1234 Es bedarf keiner konkreten, unmittelbaren Gefahr des Schadenseintritts im Sinne der amerikanischen Konzeption.1235 Das amerikanische Rechtssystem fordert eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit des Schadens- bzw. Gefahreintritts als die europäischen Rechtsordnungen. Dies spiegelt auch die Rechtsprechung der europäischen Gerichte wider.1236 Die unterschiedlichen Ansatzpunkte zwischen amerikanischer und europäischer Lösung können damit erklärt werden, dass grundlegend verschiedene Prämissen und Vorverständnisse von öffentlichem Meinungskampf, Menschenbild, Verhältnis zwischen Individuum und Staat und von der Steuerung des „Marktes der Meinungen“ vorliegen.1237 So korrespondiert das strenge Kriterium des clear and present danger  -Tests mit der Konzeption der „formellen Demokratie“ bzw. der Theorie des Wertrelativismus, die in den USA prägend sind.1238 Hier tritt die Gewaltgrenze nämlich als wertfreie Grenze dessen auf, was in der Demokratie akzeptabel ist.

Teilweise wird in Sondervoten in den Urteilen des EGMR aber gerade eine Rechtsprechungswende hin zu einem Gebrauch des Kriterium der „clear and present danger“ nach dem Vorbild des US Supreme Court gefordert: Sondervotum des Richters Sajó, dem sich die Richter Zagrebelsky und Tsotsoria angeschlossen haben, zu EGMR, 16. 7. 2009, Féret ./. Belgien, Nr. 15615/07; teilweise abweichendes Sondervotum des Richters Bonello zum Fall EGMR (GK), 8. 7. 1999, Sürek Nr.  1 ./. Türkei, Nr. 26682/95; teilweise abweichendes gemeinsames Sondervotum der Richter Tulkens, Casadevall und Greve zum Fall EGMR (GK), 8. 7. 1999, Sürek Nr.  1 ./. Türkei, Nr. 26682/95; Sondervotum des Richters Bonello zu EGMR (GK), 8. 7. 1999, Arslan ./. Türkei, Nr. 23462/94; Sondervotum des Richters Bonello zu EGMR, 8. 7. 1999, Polat ./. Türkei, Nr. 23500/94. 1234 Vgl. hierzu Schmahl, Rechtsgutachten, S. 42 f. 1235 Hochmann, Le négationnisme, S. 439 f.; Bonello, in: FS Bratza, S. 349, 354. 1236 Vgl. Wieruszewski, ZEuS 1/2015, 65, 67; Hong, DVBl. 2010, 1267, 1273; Hong, ZaöRV 2010, 73, 122; Brugger, JöR n. F. 52 (2004), 513, 537 f. 1237 Siehe hierzu Mensching, Hassrede im Internet, S. 246, 323 ff.; Pech, La liberté d’expression, S.  391, 404  ff.; Kahn, in: Hennebel/Hochmann (Hrsg.), Genocide Denials and the Law, S.  77, 84; Haupt, Boston University International Law Journal 2005, 299, 316; Lester, in: MacDonald/ Matscher/Petzold (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, S. 473 f.; Tulkens, in: FS Bratza, S.  279, 295; Sottiaux, ZaöRV 2003, 653, 655; Niewenhuis, NQHR 18 (2000), 195; Bleich, Journal of Ethnic and Migration Studies 2014, 283, 296; Brems, Journal of Human Rights 2002, 481, 482; Gusy, in: Jahrbuch Menschenrechte, 2012/2013, S. 124 f.; Sondervotum des Richters Yudkivska, dem sich der Richter Villiger angeschlossen hat zu EGMR, 9. 2. 2012, Vejdeland u. a. ./. Schweden, Nr. 1813/07; Michael/Morlok, Grundrechte, Rn. 640 ff. 1238 Brems, Journal of Human Rights 2002, 481, 482. 1233

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Die in Europa vertretene „materielle“ Demokratiekonzeption bzw. die Theorie der „werthaften“ und „wehrhaften“ Demokratie hingegen geht davon aus, dass ein Kernbestand an Rechten, insbesondere Grundrechte, als materielle Werte in die Definition von Demokratie und Rechtsstaat einbezogen werden.1239 Eine Gefahr für diese Werte besteht aber nicht erst dann, wenn tatsächlich und unmittelbar ein Umschlagen in Gewalt im Sinne einer clear and present danger gegeben ist, sondern bereits in einem früheren Stadium. Für diese materiellen demokratischen Werte tritt ein Schaden schon dann ein, wenn nur ein potenzielles Risiko einer Gewaltanwendung vorliegt. Bereits dieses ist mit der materiellen Demokratiekonzeption unvereinbar. Daher sind die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts in Form einer Gewaltanwendung in Europa systemkonform geringer als in den USA. Äußerungen mit „Gewaltpotenzial“ liegen im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit in EMRK, GG und GRC. Die schädlichen Folgen einer Äußerung bleiben aber nicht unberücksichtigt. Das Risiko einer Aufstachelung zu Gewalt und Hass gegen Personen oder Personengruppen in der Bevölkerung und in der Gesellschaft ist maßgeblicher Faktor der Beurteilung des Grundrechtsschutzes, der dem Äußernden zukommt. Dem wird Rechnung getragen, indem das „Gewaltpotenzial“ auf Ebene der Grundrechtsschranken zu Lasten des Grundrechtsträgers wirkt und es regelmäßig dazu führt, dass kein Abwehranspruch gegen eine staatliche Maßnahme, die die Äußerung verbietet oder beschränkt, besteht. Dies belegt die dargestellte Rechtsprechung für alle drei untersuchten Ebenen der Grundrechtsgewährleistung.

V. Spezialvorschrift im Grundgesetz: Art. 26 I GG Für die Ebene des Grundgesetzes tritt im Zusammenhang mit dem „Gewaltpotenzial“ einer Äußerung eine spezielle Problematik auf. Hier könnte sich über Art. 26 I GG eine konkrete Grenzziehung im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit ergeben, für die eine Entsprechung in den europäischen Grundrechtskatalogen fehlt. Art. 26 I GG regelt, dass Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskriegs vorzubereiten, verfassungswidrig und unter Strafe zu stellen sind. Die Frage, ob Art. 26 I GG den Schutzbereich des Grundrechts der Meinungsäußerungsfreiheit begrenzt, ist umstritten.1240 Da Art.  26 I GG aber Handlungen betrifft, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche

Siehe hierzu näher oben Kapitel 2, B., II. Grundsätzlich befürwortend Gusy, JZ 2002, 105, 108; Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121, 123  ff.; Hellhammer-Hawig, Neonazistische Versammlungen, S.  55; Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD IV/1, §  107, S.  1236; Leist, Versammlungsrecht und Rechtsextremismus, S. 123; ablehnend Dörr, VerwArch 93 (2002), 485, 490; Lehmann, Der Schutz symbolträchtiger Orte vor extremistischen Versammlungen, S. 214; vgl. auch Battis/Grigoleit, NJW 2001, 2051. 1239 1240

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskriegs vorzubereiten, ist bereits zweifelhaft, ob Art. 26 I GG auf die hier untersuchten Äußerungen tatbestandlich anwendbar ist. Wenn Art. 26 I GG jedoch tatbestandlich nicht einschlägig ist, kann seine Rechtsfolge, insbesondere eine sich daraus ergebende Schutzbereichsgrenze dahingestellt bleiben.1241 Aus dem Wortlaut der Bestimmung ist bereits erkennbar, dass der Kreis der nach Art. 26 I GG verbotenen Handlungen eng zu fassen ist; er umfasst nur Handlungen, die in ihrer Störungsqualität der Vorbereitung eines Angriffskriegs vergleichbar sind.1242 Zwar kann nach verbreiteter Auffassung neben Kriegspropaganda auch jedes Eintreten für nationalen, rassistischen oder religiösen Hass, durch das zur Diskriminierung, Feindseligkeit oder Gewalt aufgestachelt wird, unter Art.  26 I GG subsumiert werden;1243 entscheidend ist aber, dass diese Hetze geeignet sein muss, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören. Zusätzlich wird aus dem Wortlaut auch deutlich, dass die Intensität einer unter die Bestimmung fallenden Handlung der Vorbereitung eines Angriffskriegs gleichkommen und völkerrechtswidrig sein muss.1244 Der Telos der Bestimmung ist die Absage an kriegerische Expansion und die Durchsetzung der Staatsraison mit den Mitteln des Kriegs.1245 Dies macht eine konkrete Gefahr einer schweren, ernsten und nachhaltigen Aufhetzung, die zu einem ernsthaften Risiko für das friedliche Zusammenleben der Völker führt, erforderlich.1246 Systematisch steht Art. 26 GG im Kontext der Art. 23, 24 und 25 GG. Daraus ergibt sich, dass sein Regelungszweck im Bereich der zwischenstaatlichen Beziehungen, des Verhältnisses zwischen Staaten und Völkern, liegt. Die Bestimmung regelt nicht den innerstaatlichen Frieden, sondern jenen zwischen den Staaten und Völkern.1247 Kriegspropaganda ist unter den Tatbestand des Art.  26 I GG zu subsumieren, weil sie auf zwischenstaatliche Beziehungen bezogen ist. Rassenhetze kann im Einzelfall auch hierunter fallen, wenn und soweit sie sich gegen andere Völker oder Staaten richtet und so ausgestaltet ist, dass die friedliche Koexistenz der Staaten in der internationalen Staatengemeinschaft oder die Beziehung der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten oder Völkern massiv gefährdet wird. Hierfür genügt aber nicht jede beliebige Äußerung; vielmehr muss sie zu

Vgl. Rühl, NVwZ 2003, 533, 534 f. Jarass, in: Jarass/Pieroth (Hrsg.), GG, Art. 26 Rn. 3; Arndt, BayVBl. 2002, 653, 658. 1243 Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 26 Rn. 16; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 26 Rn. 45; Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121, 123; Battis/Grigoleit, NJW 2001, 2051; Hernekamp, in: Von Münch/Kunig (Hrsg.), GG, Art. 26 Rn. 17; a. A. Arndt, BayVBl. 2002, 653, 659 (Einschränkung nur auf kriegshetzende Äußerungen; Ablehnung der Ausweitung auf Rassen-, Klassen-, Religionsoder Demokratiehetze). 1244 Fohrbeck, Wunsiedel, S. 125 f.; Hoffmann-Riem, NVwZ 2002, 257; Arndt, BayVBl. 2002, 653, 658.; a. A. Battis/Grigoleit, NVwZ 2001, 121. 1245 Siehe hierzu und zum Folgenden Rühl, NVwZ 2003, 533, 535. 1246 Hellhammer-Hawig, Neonazistische Versammlungen, S. 57. 1247 Brenner, ThürVBl. 2003, 241, 242; Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 190. 1241 1242

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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„schweren, ernsten und nachhaltigen Beeinträchtigungen im zwischenstaatlichen Verkehr führen können“.1248 Innerstaatliche Belange sind von Art.  26 I GG nicht erfasst. Solche innerstaatlichen Belange sind aber weit überwiegend im Zusammenhang mit den hier betrachteten Äußerungen relevant. Sowohl bei revisionistischen als auch bei anderen demokratiefeindlichen Äußerungen geht es meist ausschließlich und jedenfalls vorrangig um Interessen, die innerhalb des demokratischen Systems bestehen bzw. das Zusammenleben unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen betreffen. Zwar können diese staatenübergreifend betroffen sein oder unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und ihrem Aufenthalt angesprochen sein. Dies bedeutet aber noch nicht, dass die Äußerung etwas mit dem Zusammenleben der Völker zu tun hat. Art. 26 I GG betrifft teleologisch zwischenstaatliche Sachverhalte, Grenzstreitigkeiten und kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Staaten, also Beeinträchtigungen der internationalen Beziehungen.1249 Erstens müssen inhaltlich zwischenstaatliche Belange betroffen sein und zweitens muss eine gewisse Intensität der Äußerung gegeben sein. Die allgemeine Kundgabe nationalsozialistischer oder rechtsextremistischer Inhalte reicht dafür nicht aus.1250 Ebenso verhält es sich mit den anderen hier untersuchten Äußerungsinhalten. Die Äußerung von Rassenhass oder Fremdenfeindlichkeit genügt für sich genommen nicht. Selbst wenn man zum Beispiel annehmen möchte, dass die Leugnung eines historischen Verbrechens in einem anderen Staat die internationalen Beziehungen belasten kann, so bleibt dies jedenfalls auch unterhalb der erforderlichen Intensitätsschwelle und kann nicht mit Kriegspropaganda oder Kriegshetze gleichgestellt werden. Dies ist auch dann noch zutreffend, wenn es sich um eine Äußerung einer bekannten Persönlichkeit handelt, deren Kundmachungen große Aufmerksamkeit erlangen. Im Kreis der hier untersuchten Äußerungen, sind keine Fälle denkbar, in denen die genannten Tatbestandsvoraussetzungen kumulativ vorliegen könnten und die einer Kriegshetze insofern gleichgestellt werden könnten.1251 Art.  26 I GG hat tatbestandlich für die hier betrachteten Fallkonstellationen keine Relevanz. Eine Grenzziehung im Schutzbereich nach dieser Bestimmung ist schon deshalb abzulehnen. Äußerungen, die unter dem Begriff der „Hassreden“ behandelt werden, können im Regelfall nicht unter Rückgriff auf Art. 26 GG außerhalb des Schutzbereichs des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG gesehen werden, weil die Regelung nicht anwendbar ist. Ob Art. 26 I GG den Schutzbereich des Grundrechts beeinflusst, kann vor diesem Hintergrund dahinstehen.

BVerwG, DÖV 1983, 118, 120. Vgl. Wiefelspütz, KritV 2002, 19, 36; so auch BVerwG, NJW 1982, 194, 195. 1250 Hoffmann-Riem, NVwZ 2002, 257, 261; Schaefer, Grundlagen einer ordoliberalen Verfassungstheorie, S. 210; Baudewin, Öffentliche Ordnung, S. 196; a. A. OVG Münster, NJW 2001, 2986; Leist, Versammlungsrecht und Rechtsextremismus, S. 110; Fohrbeck, Wunsiedel, S. 125 f. 1251 Vgl. Dörr, VerwArch 93 (2002), 485, 490; a. A. Leist, Versammlungsrecht und Rechtsextremismus, S. 108 f. 1248 1249

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

VI. Kollidierende Grundrechte Im Schrifttum wird teilweise angenommen, der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien sei schon nicht betroffen, wenn eine Äußerung Grundrechte anderer Personen beeinträchtige.1252 Grundrechtlich gewährleistete Freiheitsräume begrenzten sich gegenseitig. Dies führe dazu, dass die Freiheit des einen nur nach Maßgabe der Freiheit des anderen bestehe.1253 Kollidierende Grundrechte anderer Personen seien taugliche allgemeine, bereits auf der Schutzbereichsebene angesiedelte Grenzen grundrechtlich geschützter Freiheit.1254 Die Grundrechte stünden nämlich „tatbestandlich unter Gegenseitigkeitsvorbehalt“.1255 Schutzbereiche wären auf Fälle beschränkt, in denen keine individuelle Freiheit anderer in Anspruch genommen wird.1256 Kollidierende Grundrechtspositionen seien in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, dass sie für alle Beteiligten möglichst wirksam würden. Dieser Ausgleich der widerstreitenden grundrechtlichen Positionen sei dabei keine Frage des rechtfertigungsbedürftigen Eingriffs, sondern eine solche des Schutzbereichs. Die Grundrechtsordnung müsse nämlich als Gegenseitigkeitsordnung verstanden werden.1257 Der Einzelne könne sich gegenüber einfachrechtlich vermittelten staatlichen Maßnahmen nicht auf grundrechtliche Positionen berufen, wenn und soweit es grundrechtliche Interessen anderer auszugleichen gelte.1258 Gleichzeitig geht diese Ansicht aber davon aus, dass das Übermaßverbot, die Verhältnismäßigkeitsprüfung, – jedenfalls auch – bereits auf Ebene des Schutzbereichs relevant sei und angewendet werden müsse.1259 Der Ausgleich werde nämlich im Wege einer Abwägung der kollidierenden Schutzbereiche unter wechselseitiger Berücksichtigung ihres spezifischen Schutzziels im Einzelfall bewirkt.1260 Unter Berücksichtigung der einem Grundrecht im Einzelfall zukommenden Bedeutung und des Grads seiner Gefährdung ließen sich so verallgemeinerungsfähige Ergebnisse erzielen. Durch die offengelegten Begründungen und die in ihnen notwendig enthaltenen Wertungen werde dem rechtsstaatlichen Erfordernis der

Vgl. hierzu Möllers, NJW 2005, 1973, 1978. Ossenbühl, JZ 1995, 633, 636. 1254 Bamberger, Der Staat 30 (2000), 355, 372. 1255 Bamberger, Der Staat 30 (2000), 355, 373 unter Verweis auf das Vorgehen des BVerfG im Sprayer von Zürich-Beschluss (BVerfGE 28, 243), in dem das BVerfG feststellte, dass der Schutz des Art. 5 III GG „von vornherein nicht auf die eigenmächtige Inanspruchnahme oder Beeinträchtigung fremden Eigentums zum Zwecke der künstlerischen Entfaltung“ auszuweiten sei; vgl. hierzu auch Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, S. 98. 1256 Böckenförde, Der Staat 42 (2003), 165, 175 f.; vgl. Möllers, NJW 2005, 1973, 1978. 1257 Bamberger, Verfassungswerte als Schranken vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 56 f. 1258 Bamberger, Verfassungswerte als Schranken vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 63. 1259 Bamberger, Verfassungswerte als Schranken vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S. 64. 1260 Bamberger, Verfassungswerte als Schranken vorbehaltloser Freiheitsgrundrechte, S.  53  f.; Bamberger, Der Staat 30 (2000), 355, 376. 1252 1253

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Nachvollziehbarkeit gesetzgeberischer und gerichtlicher Entscheidungen Rechnung getragen. Der Konflikt kollidierender Grundrechtsschutzbereiche sei im Einzelfall nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz zu lösen. Einige gehen restriktiver, aber bei gleicher Grundannahme, davon aus, nur der instrumentalisierende Gebrauch der Rechte anderer sei keine grundrechtlich geschützte Tätigkeit.1261 Andere wiederum nehmen an, der Schutzbereich sei nur im Sonderfall der Verletzung der Menschenwürde eines Dritten nicht betroffen.1262 Äußerungen lägen außerhalb des Schutzbereichs, soweit sie die Menschenwürde eines Dritten bzw. Dritter verletzten und deshalb als Schmäkritik zu qualifizieren seien. Schmähkritik falle nämlich schon nicht in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit.1263 Die dargestellte Ansicht geht davon aus, dass bereits der Schutzbereich durch widerstreitende Grundrechtspositionen Dritter begrenzt und der konkrete Umfang des Schutzbereichs durch Abwägung widerstreitender grundrechtlicher Rechtspositionen zu ermitteln sei. Danach ist auf der Ebene des Schutzbereichs eine Abwägung der im Einzelfall widerstreitenden Interessen im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorzunehmen und je nachdem, welches grundrechtliche Interesse im Einzelfall überwiegt, sind die grundrechtlichen Schutzbereiche zu begrenzen. Im Schutzbereich des „unterlegenen“ Grundrechts wird eine Grenze gezogen. Legt man einen solchen Ansatz an die demokratiefeindlichen Äußerungen an, so könnte man vertreten, der Schutzbereich der Meinungsfreiheit sei dann nicht betroffen, wenn durch die Äußerung die grundrechtliche Rechtsposition der Opfer der „Hassrede“ unverhältnismäßig weit eingeschränkt werde. Im Fall von „Hassreden“ werden aufseiten der Opfer auf allen drei Grundrechtsschutzebenen regelmäßig grundrechtlich geschützte Individualinteressen, insbesondere grundrechtlich geschützte Komponenten der Persönlichkeitsrechte, beeinträchtigt. Neben den öffentlichen Interessen daran, dass demokratische Werte eingehalten werden, sind auch individuelle Rechte von grundrechtlicher Qualität betroffen.1264 Zum Schutz dieser Rechte bestehen unter bestimmten Bedingungen staatliche Schutzpflichten aus den Garantien der Grundrechtskataloge und in einigen Fällen auch aus anderen internationalen Verpflichtungen der Staaten;1265 die Verpflichtung des Staats, diese Schutzpflicht zu erfüllen kann mit dessen Pflicht zur Achtung der Meinungsfreiheit des Äußernden kollidieren und in Einklang zu bringen sein. Allerdings ist die Kollision nicht auf der Ebene des Schutzbereichs aufzulösen; hierfür sehen die Beschränkungsvorbehalte ausdrücklich Regelungen vor. Die

Langer, JuS 1993, 203, 206. Vgl. zur Frage der Menschenwürde als Schranke der Meinungsfreiheit ausführlich Groß, JöR n. F. 66 (2018), 187 ff. 1263 Müller-Franken, Meinungsfreiheit im freiheitlichen Staat, S. 48; Rauer, Rechtliche Maßnahmen gegen rechtsextremistische Versammlungen, S. 54 f.; Michael, ZJS 2010, 155; Schaefer, DÖV 2010, 379, 384; Fechner, in: Stern/Becker (Hrsg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 5 Rn. 96. 1264 Insbesondere zum zutreffenden Aspekt des Schutzes von Minderheiten durch Verbote revisionistischer oder ausländerfeindlicher Äußerungen Petersen, Archiv des Völkerrechts 55 (2017), 98, 99, 109 f. 1265 Cremer, in: Wissen schafft Demokratie, S. 139, 141. 1261 1262

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

grundrechtlichen Interessen der Opfer – selbst wenn sie beeinträchtigt werden  – werden nicht auf der Ebene des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit relevant.1266 Sie werden, so sehen es die Rechtsgrundlagen vor, im Rahmen der Grundrechtsschranken berücksichtigt. Hier treten die Opferrechte als „Gegenrechte“ zur Meinungsäußerungsfreiheit ein. Die den negativen Verpflichtungen des Staats zur Achtung der Meinungsfreiheit widerstreitenden positiven Verpflichtungen zum Schutz der Opferrechte sind als Gründe der Rechtfertigung eines Eingriffes in die Meinungsäußerungsfreiheit in den Bestimmungen vorgesehen. Im System der EMRK liegt das Einfallstor für betroffene Rechte Dritter im legitimen Ziel des „Schutzes des guten Rufes oder der Rechte anderer“ („for the protection of the reputation or rights of others“/ „à la protection de la réputation ou des droits d’autrui“). Das legitime Ziel der staatlichen Maßnahme ist der systemgerechte Ort, an dem die Rechte der von „Hassrede“ betroffenen Opfer in die grundrechtliche Beurteilung einbezogen werden, nämlich im Rahmen des Art. 10 II EMRK, der die Anforderungen an die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs regelt. Hier können auch etwaige positive Verpflichtungen der Staaten zum Schutz vor rassendiskriminierenden Äußerungen relevant werden.1267 Die Konvention sieht bereits ihrem Wortlaut nach vor, dass der Schutz der Grundrechte Dritter staatliche Grundrechtseingriffe in die Rechte aus Art. 10 EMRK rechtfertigen kann. Sie nennt diese aus diesem Grund ausdrücklich im Beschränkungsvorbehalt des Art. 10 II EMRK. Für die Grundrechtecharta gilt dies wegen der Vergleichbarkeit des Art.  11  GRC mit Art. 10 EMRK und mit Blick auf Art. 52 III GRC gleichermaßen. Auch das Grundgesetz regelt in Art. 5 II GG in einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt die Anforderungen an die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs und nennt die persönliche Ehre und die Jugend, deren Schutz ein Staat zu seiner Rechtfertigung heranziehen kann, wenn er in die Rechte aus Art. 5 I 1 Alt. 1 GG eingreift. Der Schutz von Grundrechten Dritter ist auch hier legitimer Zweck einer staatlichen Maßnahme, die die Meinungsfreiheit beschränkt. Die Auslegung von Art. 5 I 1 Alt. 1 GG bleibt von den Grundrechten Dritter unberührt. Damit führen auf allen drei Grundrechtsebenen gerade die Schranken – nicht der Schutzbereich – kollidierende Interessen Dritter oder auch der Allgemeinheit in die Grundrechtsprüfung ein. Daher kommen sie bestimmungsgemäß auf Ebene der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs zum Tragen.1268 Folglich muss der Schutzbereich e contrario als von kollidierenden Grundrechten Dritter unberührt interpretiert werden. Wäre der Schutzbereich schon nicht eröffnet, hätte die ausdrückliche Nennung der Rechte und Freiheiten anderer bzw. des Schutzes der Ehre und der

Kahl, Der Staat 43 (2004), 167, 192; Kahl, AöR 131 (2006), 579, 610; Wittreck, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 III Rn. 49. 1267 Siehe hierzu bereits oben Kapitel 2, C., I.; vgl. Zimmer, Hate Speech im Völkerrecht, S. 286 ff.; siehe hierzu auch Petersen, Archiv des Völkerrechts 55 (2017), 98 ff., 107 ff., der nachvollziehbar davon ausgeht, der EGMR habe seine Kontrolldichte in dem Sinne zu variieren, dass diese umso höher ist, je stärker eine Norm bzw. deren Anwendung im Einzelfall dem Schutz der Mehrheitsbevölkerung dient; schütze eine Norm dagegen eine Minderheit, sei ein Missbrauch in der Regel unwahrscheinlich, sodass ein größerer Beurteilungsspielraum für die Mitgliedstaaten verbleiben könne. 1268 Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 66. 1266

B. Spezifische Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen …

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Jugend in den Schrankenvorbehalten keinen Sinn. Sie sind gerade als Gründe vorgesehen, die einen Eingriff in den in den Grundrechtsbestimmungen festgelegten Schutzbereich rechtfertigen können, sofern insbesondere auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt wird. Die kollidierenden Grundrechte anderer Personen sind nur auf der Ebene der Grundrechtsschranken relevant.1269 Dies entspricht dem herrschenden dreistufigen Grundrechtsprüfungsschema, welches für alle drei Grundrechtsebenen angenommen wird. Im Ergebnis sind kollidierende Grundrechte nicht auf Ebene des Schutzbereichs, sondern auf jener der Grundrechtsschranken zu berücksichtigen. Sie sind Objekt der staatlichen Schutzmaßnahme, die das Grundrecht der Meinungsfreiheit beeinträchtigt. Die Intention, die Grundrechte Dritter zu schützen, rechtfertigt die staatliche Maßnahme, die die Meinungsfreiheit beeinträchtigt. Das Grundrecht der anderen Person beschränkt die grundrechtliche Freiheit des „Hassredners“ nicht. Erst die Maßnahme des Staats beeinträchtigt diese Freiheit. Da die staatliche Maßnahme unter Umständen dem Schutz der Grundrechte der Opfer dient, kann sie gerechtfertigt werden. Der Staat kann sich auf seinen Auftrag zum Schutz der Grundrechte Dritter berufen und diesen im Rahmen der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs geltend machen. Eine nähere Erörterung der von „Hassrede“ betroffenen Rechts- und Grundrechtsposition der von den Äußerungen angesprochenen Individuen, kann vor diesem Hintergrund hier unterbleiben. Es konnte gezeigt werden, dass die Rechtsund Grundrechtspositionen der Opfer für den grundrechtlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht relevant sind. Äußerungen, die Grundrechte Dritter beeinträchtigen, genießen andererseits aber keinen vollständigen Grundrechtsschutz. Wenn grundrechtliche Positionen Dritter durch demokratiefeindliche Äußerungen beeinträchtigt werden, dann werden diese im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit den widerstreitenden Interessen abgewogen. Dabei wird die Abwägungsentscheidung, soweit Grundrechtspositionen der Opfer betroffen sind, die am Kern der Persönlichkeit des Individuums liegen, davon entscheidend beeinflusst werden. Dabei wirkt insbesondere die grundrechtliche Qualität der Rechtspositionen der Opfer zu Lasten des Äußernden. Ist die Menschenwürde einer Person oder einer Personengruppe beeinträchtigt und handelt es sich bei der Äußerung um reine Schmähkritik,1270 wird die Abwägung – vorbehaltlich besonderer Umstände – regelmäßig zu Lasten des Äußernden ausgehen.1271 Die Meinungsfreiheit tritt in der Regel hinter die Menschenwürde zurück.1272 Vgl. im Ergebnis Stern, in: Stern (Hrsg.), Staatsrecht der BRD IV/2, S. 624 ff.; Von Arnauld, Die Freiheitsrechte und ihre Schranken, S. 81 f. 1270 Eine Meinungsäußerung ist dann als Schmähkritik anzusehen, wenn sie jenseits von – auch polemischer und überspitzter – Kritik eine Herabsetzung der Person bezweckt (vgl. statt vieler BVerfGE 82, 272, 284). 1271 Vgl. statt vieler BVerfGE 82, 43, 51; BVerfGE 66, 116, 151, 99, 185, 196; BVerfGE 93, 266, 293 f.; vgl. hierzu Von der Decken, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Henneke (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz: GG, Art. 5 Rn. 8; Bethge, in: Sachs (Hrsg.), GG, Art. 5 Rn. 33. 1272 BVerfG, 1 BvR 369/04, 1 BvR 370/04, 1 BvR 371/04, Z. 29; BVerfGE 93, 266, 293; siehe zum Problem der „Schmähkritik“ bei Kollektivbeleidigungen BVerfGE 93, 266, 299 ff.; vgl. zum Problem der Betroffenheit von Persönlichkeitsrechten bei „Hassreden“, die sich gegen Kollektive richten EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 253. 1269

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Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

Der EGMR berücksichtigt die Opferrechte bei Prüfung des Art. 10 II EMRK.1273 Er ging in bestimmten Fällen davon aus, dass die Rechtspositionen der Opfer von „Hassreden“ im Schutzbereich von Art. 8 EMRK liegen und staatliche Schutzpflichten auslösen.1274 Als solche bezieht er sie dann über das legitime Ziel der „Rechte anderer“ in die Rechtfertigungsprüfung und in die Abwägung der widerstreitenden Interessen ein. Art. 8 EMRK wird damit als Gegenrecht im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gegen Art. 10 EMRK in Stellung gebracht, obwohl eine ganze Gruppe und keine einzelne Person in ihrem Persönlichkeitsrecht betroffen ist.1275 Auch eine besondere Schutzbedürftigkeit der Opfergruppe muss nach Auffassung des EGMR im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen eine Rolle spielen.1276 Im Fall Leroy argumentierte der EGMR mit einem Recht auf Nichtdiskriminierung der Opfer.1277 Der EGMR erkennt in einigen Urteilen ein subjektives Recht jener, die von „Hassrede“ betroffen sind, an und er bringt dieses gegen die Meinungsäußerungsfreiheit in Stellung. In Bezug auf revisionistische Äußerungen erörterte der EGMR im Fall Perinçek, inwiefern grundrechtliche Rechtspositionen der in den Äußerungen angesprochenen Individuen bzw. Bevölkerungsgruppen betroffen waren. Hier unterschied der EGMR im Zusammenhang mit einer Äußerung der Leugnung des Genozids am armenischen Volk in den Jahren nach 1915 zwischen den Rechten und Interessen der Opfer und Überlebenden des Verbrechens einerseits und den Rechten und Interessen der Nachkommen der Opfer andererseits.1278 Grundsätzlich erkannte er aber (ausdrücklich) an, dass die durch die Äußerung beeinträchtigten Rechte der Opfer der revisionistischen Äußerung zumindest in bestimmten Konstellationen dem Schutz des Art. 8 EMRK unterfallen könnten.1279 Sodann bezog er diese Rechte in die Abwägung der widerstreitenden Interessen ein und er stellte sie damit Art. 10 EMRK gegenüber.1280 Einen ähnlichen Ansatz verfolgte er auch in anderen Fällen revisionistischer Äußerungen.1281

Siehe hierzu beispielhaft EGMR, 22. 4. 2010, Haguenauer ./. Frankreich, Nr. 34050/05, Z. 47 f.; EGMR, 8. 7. 2008, Vajnai ./. Ungarn, Nr. 33629/06, Z. 34; EGMR, 3. 11. 2011, Fratanolo ./ Ungarn, Nr. 29459/10, Z. 14; EGMR, 24. 7. 2012, Fáber ./. Ungarn, Nr. 40721/08, Z. 57 ff. 1274 EGMR (GK), 15. 3. 2012, Aksu ./. Türkei, Nr. 4149/04, 41029/04, Z. 58 ff.; EGMR, 22. 4. 2010, Haguenauer ./. Frankreich, Nr. 34050/05, Z. 78. 1275 Siehe hierzu ausführlich Hochmann, RTDH 2013, 179 ff. 1276 EGMR (GK), 15. 3. 2012, Aksu ./. Türkei, Nr. 4149/04, 41029/04, Z. 75. 1277 EGMR, 2. 10. 2008, Leroy ./. Frankreich, Nr. 36109/03, Z. 42 ff. 1278 EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 155 ff. 1279 EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 155 ff., 251. 1280 EGMR (GK), 15. 10. 2015, Perinçek ./. Schweiz, Nr. 27510/08, Z. 155 ff., 251 ff. 1281 EKMR, 24. 6. 1996, Marais ./. Frankreich, Nr. 31159/96; EKMR, 26. 6. 1996, D. I. ./. Deutschland, Nr. 26551/95; EKMR, 6. 9. 1995, Remer ./. Deutschland, Nr. 25096/94; EKMR, 16. 1. 1996, Rebhandl ./. Österreich, Nr. 24398/94; EGMR, 24. 6. 2003, Garaudy ./. Frankreich, Nr. 65831/01; EKMR, 9. 6. 1998, Nachtmann ./. Österreich, Nr. 36773/97; EGMR, 20. 4. 1999, Witzsch ./. Deutschland, Nr. 41448/98; EGMR, 7. 6. 2011, Gollnisch./. Frankreich, Nr. 48135/08. 1273

C. Zwischenergebnis zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

425

Die Opferrechte sind also relevant für den grundrechtlichen Schutz einer Äußerung. Sie sind aber kein Kriterium des Schutzbereichs, sondern wirken auf Ebene der Grundrechtsschranken. Ihr Schutz ist legitimes staatliches Ziel, das mit dem grundrechtlichen Interesse des Äußernden kontextsensibel im Einzelfall abgewogen werden muss. Wenn grundrechtliche Interessen der Opfer von einer Äußerung betroffen sind, wirkt dies zu Lasten des Äußernden. Im Ergebnis führt dies regelmäßig dazu, dass die Meinungsäußerungsfreiheit zurücktreten muss und die widerstreitenden Interessen überwiegen. Deren Gewicht ist erheblich erhöht, wenn es die Äußerung grundrechtlich geschützter Interessen der Opfer beeinträchtigt. Ein Abwehranspruch ist für den Träger der Meinungsäußerungsfreiheit regelmäßig nicht gegeben, seine Äußerung genießt aber jenen Schutz, den der grundrechtliche Schutzbereich vermittelt.

C. Zwischenergebnis zum Schutzbereich derMeinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen Das vorangegangene Kapitel konnte zeigen, dass die Auslegung der relevanten Bestimmungen nicht begründen kann, dass demokratiefeindliche Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs der Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit liegen. Weder die „Missbrauchsklauseln“ haben die Rechtsfolge, dass die Äußerungen, auf die sie anwendbar sind, nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegen, noch ist aus einer Auslegung der Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit zu begründen, dass demokratiefeindliche Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs zu sehen sind. Alle drei Grundrechtskataloge enthalten sog. „Missbrauchsklauseln“. Es handelt sich dabei um Art. 18 GG, Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC. Während die beiden letztgenannten Bestimmungen im Wesentlichen den gleichen Anwendungsbereich und die gleiche Rechtsfolge haben, nimmt Art. 18 GG eine Sonderstellung ein. Die Grundrechtsgarantien, auf die die „Missbrauchsklauseln“ anwendbar sind, sind vergleichbar. Alle drei Bestimmungen beziehen sich nur auf sog. „Verhaltensgrundrechte“, zu denen die Meinungsfreiheit gehört. Die Tathandlungen erfassen auch vergleichbares Verhalten der Grundrechtsträger. Das „Schutzobjekt“ bzw. „Schutzgut“ scheint ausgehend vom Wortlaut unterschiedlich zu sein, ist aber ebenfalls sehr ähnlich ausgestaltet. Die Bestimmungen erfassen totalitäre Äußerungsinhalte. Die Unterschiede im Wortlaut der drei „Missbrauchsklauseln“ werden durch teleologische und historische Auslegung überwunden. Ein Unterschied konnte bezüglich des tatbestandsrelevanten Verhaltens herausgearbeitet werden. Der Bezugspunkt für die Beurteilung der Gefährlichkeit des Betroffenen für das Schutzgut ist nicht identisch. Während Art. 17 EMRK das konkrete Verhalten in Gebrauch eines Grundrechts heranzieht, muss bei Art. 18 GG eine Zukunftsprognose angestellt und die Gefährlichkeit des Betroffenen in der Zukunft

426

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

beurteilt werden. Dieser Unterschied führt zu abweichenden Anwendungsbereichen der „Missbrauchsklauseln“. Die Unterschiede setzen sich auch bei der Rechtsfolge der „Missbrauchsklauseln“ fort. Die Rechtsfolge der Verwirkung in Art.  18  GG ist eine Besonderheit der „Missbrauchsklausel“ des Grundgesetzes, die Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC nicht vorsehen. Die Rechtsfolgen der Art.  17 EMRK und Art.  54  GRC beziehen sich vielmehr auf die „Anlasstat“. Sie regeln das Schicksal des konkreten grundrechtsmissbräuchlichen Verhaltens, das Anlass zur Grundrechtsprüfung gibt. Art. 18 GG betrifft die „Anlasstat“ zwar auch, die Gegenüberstellung der verschiedenen „Missbrauchsklauseln“ konnte aber zeigen, dass das Grundgesetz bezüglich der „Sanktionierung“ grundrechtsmissbräuchlichen Verhaltens über die europäischen Grundrechtskataloge hinausgeht. Die Rechtsfolge der Verwirkung, die sich auf zukünftiges Verhalten des Grundrechtsträgers bezieht, ist in den europäischen Grundrechtskatalogen nicht vorhanden. Ein der Rechtsfolge der Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC vergleichbarer Einfluss des grundrechtsmissbräuchlichen Charakters einer Äußerung auf deren Grundrechtsschutz ist zwar auch im System des Grundgesetzes gegeben; die Verwirkung verursacht aber einen Verlust des Grundrechtsschutzes für zukünftiges Verhalten des Grundrechtsträgers, das nicht identisch mit dem sog. „Anlassverhalten“ ist. Die europäischen Grundrechtskataloge enthalten keine Bestimmung mit einer solchen Rechtsfolge. Im Hinblick auf die Auswirkung, die der grundrechtsmissbräuchliche Charakter einer Äußerung für deren Grundrechtsschutz hat, sind die drei „Missbrauchsklauseln“ vergleichbar. Keine der Bestimmungen lässt eine Äußerung, auf die sie anwendbar ist, aus dem Schutzbereich der grundrechtlichen Garantie der Meinungsfreiheit herausfallen. Vielmehr beeinflussen die „Missbrauchsklauseln“ in allen drei Grundrechtskatalogen die Rechtfertigung eines Eingriffs in die Meinungsäußerungsfreiheit. Eine Auslegung der Bestimmungen der Art.  10 I EMRK, Art.  5 I 1  GG und Art.  11 I GRC führte ebenso wenig zu dem Ergebnis, dass demokratiefeindliche Äußerungen außerhalb des Schutzbereiches derselben liegen. Bei allen drei Bestimmungen ließe sich dies zwar mit dem Wortlaut der Bestimmungen vereinbaren, teleologische Auslegungserwägungen sprechen in allen drei Fällen aber dagegen, den Schutzbereich in dieser Weise restriktiv auszulegen. Sowohl allgemein als auch gerade in Bezug auf demokratiefeindliche Äußerungen lässt sich der ratio der Regelungen entnehmen, dass der Schutzbereich umfassend zu interpretieren ist. Zwar deuten in allen drei Fällen historische Anhaltspunkte darauf hin, dass man bei Schaffung der Grundrechtskataloge Sicherungen der demokratischen Gesellschaft einfassen wollte, und dabei gerade faschistische und totalitäre Äußerungen verhindern und in ihrem Einfluss auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung begrenzen wollte. Daraus kann aber nicht abgeleitet werden, dass diese Äußerungen nicht vom Schutzbereich umfasst sind. Sinn und Zweck der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien wurde gerade darin gesehen, faschistischen Tendenzen entgegenzuwirken, die unliebsame Meinungen und regimekritisches Verhalten stets zu unterbinden suchten. Eine restriktive Interpretation des Schutzbereichs in diesem Zusammenhang würde diesem Anliegen widersprechen.

C. Zwischenergebnis zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit …

427

Neben diesen Ergebnissen aus allgemeinen Auslegungserwägungen konnte gezeigt werden, dass keines der spezifischen Merkmale demokratiefeindlicher Äußerungen eine restriktive Interpretation des Schutzbereichs legitimieren kann. Ein „Vorbehalt der streitbaren Demokratie“ genügt als „Großformel“ rechtsstaatlichen Anforderungen grundsätzlich nicht. Andere Grenzziehungen im Schutzbereich, die zu einem Ausschluss (bestimmter) demokratiefeindlicher Äußerungen führen könnten, konnten auch nicht begründet werden. Weder die Unwahrheit einer Tatsachenbehauptung, noch ein bestimmter Inhalt oder ein spezifisches „Gewaltpotenzial“ einer Äußerung können das Ergebnis, das aus der Auslegung der Grundrechtsbestimmungen bzw. jener der „Missbrauchsklauseln“ gewonnen werden konnte, widerlegen oder überwinden. Ungeachtet der genannten Merkmale der demokratiefeindlichen Äußerungen kann ein sachgerechtes Ergebnis im Sinne eines möglichst umfassenden Grundrechtsschutzes und der Verhinderung staatlichen Missbrauchs nur darin liegen, die Äußerungen im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien zu sehen und ihnen den Schutz zukommen zu lassen, den der Schutzbereich vermittelt. Dies gilt selbst für die Spezialfälle der nationalsozialistischen Äußerungen bzw. der Leugnungen nationalsozialistischer Verbrechen. Letzteres ist für die deutsche wie für die europäische Rechtsordnung gleichermaßen anzunehmen. Im Einzelnen sind Tatsachenbehauptungen in allen drei Grundrechtskatalogen in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantie einzubeziehen. Für das Grundgesetz konnte gezeigt werden, dass eine Unterscheidung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen so großen Schwierigkeiten begegnet, dass eine Ausgrenzung erstgenannter aus dem Schutzbereich entweder ein sehr hohes Risiko der gleichzeitigen Ausgrenzung subjektiver Stellungnahmen enthält oder praktisch irrelevant ist, weil stets ein subjektives Element in einer Äußerung gefunden werden kann. Da Tatsachenbehauptungen somit einzubeziehen sind, wurde erwogen, ob nach der Wahrheit einer Tatsachenbehauptung differenziert werden kann. Dabei konnte gezeigt werden, dass dies mit unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden ist. Aussagen, die irrtümlich getätigt werden, müssen vom Schutzbereich umfasst sein. Tatsachenbehauptungen leisten meist ebenso wie Werturteile einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung. Dies spricht dafür, Tatsachenbehauptungen innerhalb des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit zu sehen. Eine Differenzierung zwischen Werturteilen und Tatsachenbehauptungen kann nicht begründet und gerechtfertigt werden. Gerade Leugnungen und Lügen enthalten regelmäßig ein subjektives Element. Aus diesem Grund sind unwahre Tatsachenbehauptungen vom Schutzbereich des Grundrechts umfasst. Gleichermaßen liegt auch der Sonderfall der Leugnung erwiesener bzw. klar etablierter historischer Tatsachen auf allen drei Grundrechtsebenen im Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Dies gilt auch für die Holocaustleugnung. Eine Differenzierung nach dem Inhalt der Äußerung kann nicht durch einen Rekurs auf Art.  17 EMRK gerechtfertigt werden. Die Art der Rechtsfolge des Art.  17 EMRK steht dem entgegen. Die Bestimmung begründet – im Fall ihrer Anwendbarkeit – die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs, sie begrenzt nicht

428

Kapitel 4: Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher …

den Schutzbereich des Art. 10 EMRK. Selbst im Grundgesetz werden nationalsozialistische Äußerungen vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 5 I 1 Alt. 1 GG umfasst. Auch wenn man annimmt, dass das Grundgesetz eine spezifisch antinationalsozialistische Tendenz aufweist bzw. einen besonders vom Nationalsozialismus abkehrenden Charakter hat, lässt sich nicht begründen, dass nationalsozialistische Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegen. Der Inhalt einer Äußerung lässt den grundrechtlichen Schutzbereich unberührt. Das Grundgesetz enthält keine Bestimmung, die dem entgegensteht. Der Inhalt einer Äußerung ist sohin ohne Bedeutung für die Frage, ob die Äußerung vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst ist. Er wird erst für die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs relevant. Auch das „Gewaltpotenzial“ einer demokratiefeindlichen Äußerung führt nicht dazu, dass sie nicht vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst ist. In allen drei Grundrechtskatalogen fehlt eine ausdrückliche Grundlage für eine solche restriktive Interpretation des Schutzbereichs. Das Grundgesetz kennt eine solche zwar für Art. 8 GG, nicht aber für Art. 5 I 1 GG. Die EMRK und die GRC weisen keine Regelung auf, die regelt, dass Äußerungen mit „Gewaltpotenzial“ außerhalb des Schutzbereichs der Garantien der Meinungsfreiheit liegen. Auch in den europäischen Grundrechtskatalogen ist eine Friedlichkeitsausnahme im Sinne einer Schutzbereichsgrenze im Wortlaut nur in Art. 11 EMRK bzw. in Art. 12 GRC für kollektive Äußerungen vorgesehen. Gewaltakte liegen nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit, „Hassreden“ und andere demokratiefeindliche Äußerungen, die ein Risiko enthalten, dass andere Personen aufgestachelt werden und infolgedessen Gewalt gegenüber Dritten anwenden, sind vom Schutzbereich umfasst, ihre Beschränkung kann aber mit ihrem „Gewaltpotenzial“ begründet werden. Art.  26 I GG vermag ebenso wenig zu begründen, dass „Hassreden“ nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegen. Dies folgt schon daraus, dass die Äußerungen, die den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit bilden, soweit ersichtlich nicht in den Anwendungsbereich der Regelung fallen. Grundrechte Dritter können einen Eingriff in die Meinungsäußerungsfreiheit unter bestimmten Bedingungen und insbesondere unter der Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit des Grundrechtseingriffs rechtfertigen, sie begrenzen den Schutzbereich dieser aber nicht. Im Ergebnis ist nicht begründbar, dass demokratiefeindliche Äußerungen und insbesondere „Hassreden“ nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen. Sowohl im Grundgesetz als auch in der EMRK und in der GRC sind sie vom Schutzbereich der Regelungen der Art. 5 I 1 Alt. 1 GG, Art. 10 EMRK und Art. 11 GRC umfasst.

Kapitel 5: Schlussbetrachtung – Hassreden im Schutzbereichder Meinungsäußerungsfreiheit

Inhaltsverzeichnis A. Zusammenfassung der Ergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  429 B. Abschließende Würdigung der Rechtsprechung vor dem Hintergrundder ­Auslegungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  431 C. Schlussbetrachtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  436

A. Zusammenfassung der Ergebnisse Die vorliegende Untersuchung konnte zunächst in Kap. 2 zeigen, dass die im Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit liegenden Grundrechtsordnungen der EMRK, des GG und der GRC Bestimmungen enthalten, denen das Konzept der „streitbaren Demokratie“ zugrunde liegt. Die Grundrechtsordnungen erkennen die grundsätzliche Möglichkeit an, das Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit zum Zweck des Schutzes und der Verteidigung demokratischer Mindeststandards durch staatliche Maßnahmen einzuschränken.1 Ausgehend davon konnte sodann in einer umfassenden Darstellung und Systematisierung der Rechtsprechung der zuständigen Rechtsprechungsorgane zunächst gezeigt werden, dass die Rechtsprechung des EGMR keine einheitliche Vorgehensweise in Bezug auf den Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen verfolgt. Teilweise wird unter Rückgriff auf Art. 17 EMRK begründet, dass eine Äußerung nicht vom Schutzbereich umfasst ist, in anderen Fällen wird bei vergleichbaren Sachverhalten eine demokratiefeindliche Äußerung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit einbezogen und die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs geprüft. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hingegen schließt konstant unwahre Tatsachenbehauptungen aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit aus und bezieht alle anderen Äußerungen in diesen ein. Die

1

Siehe Kapitel 2, C., D.

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by 429 Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2019 A. K. Struth, Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58153-7_5

430

Kapitel 5: Schlussbetrachtung – Hassreden im Schutzbereich …

Rechtsprechung des EuGH ist in so geringer Zahl vorhanden, dass daraus kein gesicherter Befund zum Fehlen oder Vorliegen bestimmter Linien erzielt werden kann. In der Literatur werden einige Thesen vertreten, in welchen Fällen der EGMR den Schutzbereich in welcher Weise auslegt und in welchen Konstellationen er auf Art. 17 EMRK zurückgreift oder dies unterlässt. Diese konnten im Wege einer Analyse der Rechtsprechung des EGMR und mit Hilfe einer Gegenüberstellung jener des Bundesverfassungsgerichts hierzu überprüft und zum Teil widerlegt werden. Art. 17 EMRK wird immer auf Ebene der Zulässigkeit angewendet, wenn er herangezogen wird, um zu begründen, dass eine Äußerung nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegt. Die Anwendung der „Missbrauchsklausel“ der EMRK ist nicht zwingend davon abhängig, ob die Parteien sie im Verfahren vor dem EGMR geltend machen; der Gerichtshof beurteilt den Sachverhalt von Amts wegen rechtlich und kann Bestimmungen der EMRK anwenden, die die Parteien nicht vorbringen. Die Frage danach, wer Urheber einer Äußerung ist, spielt bei keinem der Gerichte auf Ebene des Schutzbereichs eine entscheidende Rolle. Die Rechtsprechung des EGMR differenziert im Schutzbereich teilweise nach den Inhalten der Meinungsäußerungen. Nationalsozialistische und andere rechtsextremistische Äußerungen sowie Holocaustleugnungen werden regelmäßig aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgeschlossen, während revisionistische Äußerungen über andere historische Ereignisse in der Rechtsprechung des EGMR im Schutzbereich des Art. 10 EMRK gesehen werden. Darüber hinaus lassen sich inhaltliche Kriterien der Rechtsprechung aber nicht identifizieren. In einigen Fällen nimmt der EGMR auch bei anderen Äußerungsinhalten an, sie lägen nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Das Bundesverfassungsgericht lehnt es ab, eine Äußerung wegen ihres Inhalts, insbesondere auch wegen ihres nationalsozialistischen Inhalts, außerhalb des Schutzbereichs zu sehen. Wenn eine Äußerung Werturteile enthält, ist sie, selbst bei einer Äußerung nationalsozialistischen Gedankenguts, vom Schutzbereich des Art. 5 I 1 GG erfasst. Die Rechtsprechung des EGMR geht in allen Fällen, in denen sie die Äußerung als Leugnung klar etablierter historischer Tatsachen interpretiert, davon aus, dass der Schutzbereich des Art. 10 EMRK als Rechtsfolge des Art. 17 EMRK nicht betroffen ist. Klar etablierte historische Tatsachen in diesem Sinne sieht der Gerichtshof bisher nur im Holocaust. Das Bundesverfassungsgericht grenzt die reine, direkte Leugnung des Gesamtgeschehens des Holocaust als erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung aus dem Schutzbereich aus. Das Kriterium des Grades der „Schädlichkeit“ der Äußerung spielt in der Rechtsprechung der Gerichte auf Ebene des Schutzbereichs keine Rolle. Der Gewaltbezug der Äußerung ist für keines der Gerichte systematisch ausschlaggebend, den Schutzbereich des Grundrechts der Meinungsäußerungsfreiheit unangewendet zu lassen.2 Eine vergleichende Betrachtung zwischen den „Missbrauchsklauseln“ der europäischen Grundrechtskataloge, Art. 17 EMRK, Art. 54 GRC und Art. 18 GG, konnte insbesondere zeigen und klarstellen, dass Art. 18 GG mit der Rechtsfolge der Verwirkung eine Besonderheit aufweist, die Art. 17 EMRK und Art. 54 GRC nicht regeln. Demokratiefeindliche Äußerungen fallen regelmäßig in den Anwendungsbereich 2

Siehe Kapitel 3, C.

B. Abschließende Würdigung der Rechtsprechung vor dem Hintergrund …431

der „Missbrauchsklauseln“.3 Daraus resultiert aber nicht, dass sie nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegen würden. Ein Verhalten, das grundrechtsmissbräuchlich ist, liegt in allen drei untersuchten Grundrechtsordnungen im Schutzbereich des Grundrechts der Meinungsfreiheit.4 Eine Auslegung der Regelungen der Art. 10 I EMRK, Art. 11 I GRC und Art. 5 I 1 Alt. 1 GG kann ebenso wenig begründen, dass der Schutzbereich in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen nicht betroffen ist.5 Weder die Unwahrheit,6 noch ein die Grundlagen der demokratischen Gesellschaft verneinender Inhalt,7 noch ein „Gewaltpotenzial“,8 noch eine Verletzung der Grundrechte Dritter9 durch eine Äußerung sind Merkmale, bei deren Vorliegen eine Äußerung nicht im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegt. Demokratiefeindliche Äußerungen liegen im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien des europäischen Grundrechtsschutzes.10 Ein Ausschluss aus dem Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit ist zum Schutz demokratischer Mindeststandards und der eventuell betroffenen individuellen Rechtspositionen der Opfer nicht notwendig. Dies ist deshalb anzunehmen, weil es keinen vollständigen Grundrechtsschutz für eine Äußerung bedeutet, wenn diese im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegt. Vielmehr kann der „streitbare“ Charakter der Rechtsordnungen und damit das legitime Bedürfnis nach Schutz vor rassistischen, xenophoben und revisionistischen Äußerungen auf Ebene der Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs, insbesondere im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, hinreichend berücksichtigt werden und zur Versagung grundrechtlichen Schutzes für Äußerungen führen, die die demokratische Gesellschaft nicht tolerieren kann.

B. Abschließende Würdigung der Rechtsprechung vor dem Hintergrund der Auslegungsergebnisse Im Rahmen dieser Untersuchung konnte gezeigt werden, dass sich vor allem die Rechtsprechung des EGMR zu Auslegung und Anwendung der EMRK durch einen stark kasuistischen Ansatz auszeichnet. Eine einheitliche Linie des EGMR hinsichtlich des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen ist bislang nicht vorhanden.11 3

Siehe Kapitel 4, A., I., 2., d).

4

Siehe Kapitel 4, A., I., 3., d).

5

Siehe Kapitel 4, A., II., 1., e) (zu Art. 10 I EMRK); Kapitel 4, A., II., 3., e) (zu Art. 5 I 1 Alt. 1 GG).

6

Siehe Kapitel 4, B., II., 3.

7

Siehe Kapitel 4, B., III., 7.

8

Siehe Kapitel 4, B., IV., 4.

9

Siehe 4, B., VI.

10

Siehe Kapitel 4, C.

11

So im Ergebnis auch Woods, in: Peers/Hervey u. a. (Hrsg.), The European Charter, Art. 54 Rn. 44.

432

Kapitel 5: Schlussbetrachtung – Hassreden im Schutzbereich …

In der Rechtsprechung wird Art.  17 EMRK meist unter Hinweis auf eine Verletzung oder Gefährdung der Werte oder des Geistes der Konvention herangezogen und der Schutzbereich ausgeschlossen oder angenommen, der Eingriff sei über die „Missbrauchsklausel“ gerechtfertigt. Zum einen wirft die unpräzise Formulierung der „Werte bzw. des Geistes der Konvention“ Bedenken auf,12 und zum anderen ist es zweifelhaft, dass Art. 17 EMRK in einem Fall den Schutzbereich beeinflussen soll, in einem anderen Fall aber die Rechtfertigung eines Eingriffs begründet. Eine „abgestufte Rechtsfolge“ in diesem Sinn lässt Art.  17 EMRK nicht zu. Der Rückgriff auf diffuse Kategorien wie „Werte“ oder „Geist“ der Konvention birgt außerdem die Gefahr, dass der Anwendungsbereich des Art. 17 EMRK sehr weit ausgelegt wird und schließlich Äußerungen erfasst, deren Verbot mit der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantie und vor allem ihrer hohen Bedeutung in einer demokratischen Gesellschaft nur schwer in Einklang gebracht werden kann.13 Zugleich ist in einigen Fällen eine nicht vollständig nachvollziehbare Zurückhaltung des EGMR in Bezug auf die Anwendung des Art. 17 EMRK festzustellen, die einer rechtssicheren und konsequenten Anwendung der „Missbrauchsklausel“ ebenso entgegensteht.14 Der EGMR vermeidet darüber hinaus eine Definition des Begriffs der „Hassrede“ ebenso wie eine endgültige Bestimmung der Grenzen des Schutzbereichs des Art. 10 EMRK in Bezug auf demokratiefeindliche Äußerungen. Dies entspricht der gängigen Praxis des Gerichtshofs, keine Definitionen endgültigen Charakters einzuführen. Damit erhält der Gerichtshof sich einen Spielraum für Entscheidungserwägungen in der Zukunft.15 Dies mag in Anbetracht der Aufgabe des Straßburger Gerichtshofs zur Entscheidung von Einzelfällen nachvollziehbar sein; eine solche „flexible“ Lösung in Bezug auf den Schutzbereich der Meinungsfreiheit widerspricht aber den Bestimmungen der EMRK. Weder die Auslegung des Art. 17 EMRK noch jene des Art. 10 EMRK ergeben, dass demokratiefeindliche Äußerungen außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheit liegen. Rechtsfolge der „Missbrauchsklausel“ der EMRK ist es, dass sie die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs unter bestimmten Bedingungen begründet. Ein flexibler Einsatz je nach konkretem Zusammenhang auf Ebene des Schutzbereichs oder auf jener der Rechtfertigung eines Eingriffs in diesen kann nicht durch Auslegung begründet werden. Die Auslegung der Bestimmungen ergibt, dass „Hassreden“ im Schutzbereich des Art.  10 EMRK liegen. Wenn der Gerichtshof in Fällen von Hassreden oder revisionistischen Äußerungen dennoch davon ausgeht, dass der Schutzbereich nicht eröffnet ist, widerspricht dies den Vorgaben der Konvention. In einer Gesamtbetrachtung bleibt für die Rechtsprechung des EGMR aber vor allem der Eindruck, dass keine einheitliche Linie vertreten

12

Cannie/Voorhoof, NQHR 2011, 54, 62 f.

Steiger, in: Pabel/Schmahl (Hrsg.), IntKommEMRK, Art. 17 Rn. 9, 36; Hare, in: Hare/Weinstein (Hrsg.), Extreme Speech and Democracy, S. 62, 78.

13

Vgl. hierzu Van Drooghenbroeck, in: Dumont u. a. (Hrsg.), Pas de liberté pour les ennemis de la liberté?, S. 139, 191 ff.

14

15

Oetheimer, L’harmonisation de la liberté d’expression en Europe, S. 62.

B. Abschließende Würdigung der Rechtsprechung vor dem Hintergrund …433

wird. „Hassreden“ und demokratiefeindliche Äußerungen liegen in einigen Fällen innerhalb, in anderen Fällen außerhalb des Schutzbereichs. Eine konsistente Entscheidungspraxis ist nicht gegeben. Dies ist nicht mit dem Argument zu rechtfertigen, einer klaren Argumentations- und Entscheidungslinie des Gerichtshofs stehe ein praktisches Problem entgegen. Teilweise wird argumentiert, der Gerichtshof setze sich aus Richtern mit unterschiedlichem juristischen und kulturellen Hintergrund zusammen und diese Diversität der Ansichten, Ansätze und Konzeptionen von Recht und Grundrechten sei ursächlich dafür, dass der Gerichtshof nur mit sehr großen Schwierigkeiten zu einer harmonisierten und einheitlichen Linie kommen könne.16 Die internationale Pluralität und Diversität der Zusammensetzung des Gerichtshofs werde – so wird es im Schrifttum vertreten – einer an Rechtssicherheit und Transparenz orientierten Lösung in der Rechtsprechung immer entgegenstehen.17 Hierin liegt kein überzeugendes Argument gegen den Anspruch, dass vorhersehbare Rechtsprechungslinien entwickelt werden müssen, um den Rechtsunterworfenen ihre Rechte und Pflichten transparent zu machen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt klarere Linien. Allerdings ist den Entscheidungen zu widersprechen, die unwahre Tatsachenbehauptungen aus dem Schutzbereich des Grundrechts ausschließen. Tatsachenbehauptungen sind stets in den Schutzbereich einzubeziehen und das Kriterium der Wahrheit ist als solches des Schutzbereichs ungeeignet. Das Bundesverfassungsgericht muss sich entgegenhalten lassen, dass es die Frage, ob der Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit betroffen ist, bereits von Wertungen abhängig macht, die im Rahmen der Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs erst zu berücksichtigen sind.18 Eine Bewertung der Rechtsprechung des EuGH ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich, da es bisher nur wenige Entscheidungen gibt und über Linien und Muster in der Rechtsprechung des EuGH noch keine letztgültigen Aussagen getroffen werden können. Die positivierte Verankerung der Unionsgrundrechte in der GRC dürfte aber in einiger Zeit dazu führen, dass auch der EuGH über Grenzen im Schutzbereich der Chartagrundrechte und damit auch des Art. 11 I GRC zu entscheiden hat.19 Die Rechtsprechungserwägungen des EuGH zum Anwendungsbereich der Grundfreiheiten einschließlich entsprechender Konkurrenzüberlegungen zeigen, dass der EuGH derartige Fragen grundsätzlich behandelt.20 Im Ergebnis besteht in Bezug auf den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit in Fällen demokratiefeindlicher Äußerungen kein Unterschied zwischen den drei betrachteten Grundrechtskatalogen.21 Weder die Auslegung der „Missbrauchsklauseln“ noch jene der Grundrechtsgarantien selbst führt zu dem Ergebnis, dass

Oetheimer, L’harmonisation de la liberté d’expression en Europe, S. 125. Oetheimer, L’harmonisation de la liberté d’expression en Europe, S. 125. 18 Ipsen, Staatsrecht II, Grundrechte, Rn. 418. 19 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 52 GRC Rn. 48. 20 Vgl. statt vieler EuGH, 25. 3. 2004, Karner, Rs. C-71/02, Z. 46  f.; siehe hierzu Kühling, in: V. Bogdandy/Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 689. 21 So im Ergebnis auch Jestaedt, in: Merten/Papier (Hrsg.), HbGR IV, § 102 Rn. 39. 16 17

434

Kapitel 5: Schlussbetrachtung – Hassreden im Schutzbereich …

demokratiefeindliche Äußerungen nicht vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit umfasst sind. Zutreffend ist, dass der EGMR in Bezug auf demokratiefeindliche Äußerungen größeren Herausforderungen begegnet als nationale Verfassungsgerichte. Als internationaler Gerichtshof entscheidet er nicht wie ein nationales Verfassungsgericht im Rahmen einer konkreten, ihm gut bekannten Verfassungsordnung, sondern jeweils im Zusammenhang mit einer Gesellschaft eines der Mitgliedstaaten. Er prüft den Sachverhalt am Maßstab europäischer Standards. Der Gerichtshof muss die demokratischen Mindeststandards der Konvention, die die Äußerungen nicht beeinträchtigen dürfen, zunächst definieren. Dabei sind die unterschiedlichen Demokratiekonzeptionen der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen.22 Der Begriff der „demokratischen Gesellschaft“ muss konkretisiert werden. Zudem ist zu präzisieren, inwiefern den Mitgliedstaaten ein Beurteilungsspielraum bei der Festlegung der Mindeststandards der demokratischen Gesellschaft zukommt. Diese Hindernisse sind zwar nicht unüberwindbar, machen die Aufgabe für den Gerichtshof aber komplex und erschweren die Entscheidungsfindung des EGMR gegenüber jener des Bundesverfassungsgerichts.23 Dieser Umstand ist bei einer Würdigung der Rechtsprechung des EGMR stets zu berücksichtigen. Das Ergebnis, „Hassreden“ im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit zu sehen, ist aus einem weiteren Grund sinnvoll. Der spezifische nationale Kontext, in dem eine Äußerung getätigt und beschränkt wird, spielt eine maßgebliche Rolle.24 Die demokratischen Gesellschaften der westlichen Mitgliedstaaten der EMRK sind in einer anderen Situation als die Staaten, die noch von der Überwindung des Kommunismus geprägt sind. Deutschland weist mit dem Nationalsozialismus ebenfalls eine spezifische Vergangenheit auf und zeigt einen anderen Umgang mit nationalsozialistischen und sonstigen rechtsextremistischen Äußerungen als andere Staaten. Dies illustriert, dass nationale (historische) Besonderheiten gerade im Umgang mit demokratiefeindlichen Äußerungen eine Rolle spielen müssen, und dass sich dies auch in der rechtlichen Würdigung einer staatlichen Maßnahme in Bezug auf diese Äußerungen abbilden muss. Die Demokratiefeindlichkeit einer Äußerung kann nicht losgelöst von der konkreten, nationalen demokratischen Ordnung, in der sie getätigt wird und gegen die sie gerichtet ist, beurteilt werden. Die Besonderheiten können aber auf Ebene des Schutzbereichs nicht berücksichtigt werden. Ein Weg, ihnen Rechnung zu tragen, ist hingegen die Gewährung eines Beurteilungsspielraums für die Mitgliedstaaten. Anhand dieses sog. „margin of appreciation“, den der EGMR den Mitgliedstaaten gewährt, variiert der Gerichtshof seine Kontrolldichte in Bezug

Harvey, European Law Review 29 (2004), 407, 418. Harvey, European Law Review 29 (2004), 407, 411. 24 Hierzu und zum Folgenden Grabenwarter, Meinungsfreiheit und Schutz der verfassungsrechtlichen Ordnung aus europäischer Sicht, S. 12. 22 23

B. Abschließende Würdigung der Rechtsprechung vor dem Hintergrund …435

auf die Abwägung der widerstreitenden Interessen im Einzelfall.25 Hierzu gelangt er aber nur, wenn er die Äußerungen in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantie einschließt und dann auf Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung den nationalen Besonderheiten durch Gewährung eines Beurteilungsspielraums Rechnung trägt. Er reduziert seine Kontrolldichte und überlässt es den Mitgliedstaaten, vor dem Hintergrund ihrer spezifischen innerstaatlichen Situation zu beurteilen, ob es gerechtfertigt war, die Meinungsäußerungsfreiheit zu beschränken. Die Grenzen des Beurteilungsspielraums sind vom EGMR zu überprüfen, aber die nationalen Besonderheiten werden auf diese Weise berücksichtigt. Der Gerichtshof wird erst dadurch, dass die Äußerungen im Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit liegen, in die Lage versetzt, die nationalen Besonderheiten in Betracht zu ziehen. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung nach Art.  10 II EMRK ist der Ort, an dem tatsächliche Faktoren wie gesellschaftliche Entwicklungen und Gegebenheiten in die Grundrechtsprüfung eingeführt werden. Liegt die Äußerung nicht im Schutzbereich des Art. 10 EMRK, können sie für die Entscheidung des EGMR keine Rolle spielen, weil auf Ebene des Schutzbereichs nur normative Erwägungen zur Auslegung der Konventionsbestimmung angestellt und schließlich der Sachverhalt unter die Regelung subsumiert werden kann. Hierbei ist kein Raum, tatsächliche ­Elemente des jeweiligen gesellschaftlichen Umfelds zu berücksichtigen. Im Ergebnis ist die Rechtsprechung zu kritisieren, wenn sie annimmt, demokratiefeindliche Äußerungen und insbesondere „Hassreden“ lägen nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Zumindest ist aber einheitlich zu entscheiden. Das ist notwendig, um den Mitgliedstaaten zu ermöglichen, ihre demokratische Ordnung effektiv, aber konventionskonform zu verteidigen und für den einzelnen Grundrechtsträger zu gewährleisten, dass er seine grundrechtliche Freiheit so umfänglich wie möglich wahrnehmen kann. Ein Abschreckungseffekt, der daraus resultieren könnte, dass Unsicherheiten über die Reichweite der Meinungsäußerungsfreiheit bestehen, wäre dem Grundrechtsschutz abträglich. Die Kritik, die in dieser Arbeit an der Rechtsprechung – vor allem an jener des EGMR – geübt wird, kann wie folgt zusammengefasst werden: Zunächst ist die uneinheitliche Vorgehensweise der Rechtsprechung im Umgang mit demokratiefeindlichen Äußerungen zu kritisieren. Eine konsistente Linie fehlt. Dies muss aus der Perspektive von Rechtssicherheit und Rechtsklarheit kritisch beurteilt werden. Darüber hinaus sind jene Entscheidungen, die davon ausgehen, dass demokratiefeindliche Äußerungen nicht im Schutzbereich der Meinungsfreiheit liegen, zu kritisieren, weil sich dieses Ergebnis nicht überzeugend durch die Auslegung der relevanten Bestimmungen begründen lässt. Die Äußerungen sind in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien einzubeziehen und es ist eine ausführliche Prüfung der Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs durchzuführen, die berücksichtigt, dass es sich um eine demokratiefeindliche und insbesondere grundrechtsmissbräuchliche Äußerung handelt. Der Äußerung ist der Schutz zu gewähren, der bereits dadurch gegeben ist, dass der grundrechtliche Schutzbereich

25

Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 18 Rn. 20 ff.

436

Kapitel 5: Schlussbetrachtung – Hassreden im Schutzbereich …

der Meinungsfreiheit betroffen ist. Die staatliche Maßnahme muss zumindest auf gesetzlicher Grundlage, in Verfolgung eines legitimen Ziels und verhältnismäßig vorgenommen werden. Das Ergebnis, ob ein Abwehranspruch gegen eine staatliche Maßnahme besteht oder nicht, ist dabei grundsätzlich offen; eine grundrechtsmissbräuchliche Äußerung kann aber tatsächlich regelmäßig grundrechtskonform beschränkt werden.

C. Schlussbetrachtung Im Ergebnis sind alle untersuchten demokratiefeindlichen Äußerungen und insbesondere „Hassreden“ auf allen drei untersuchten Ebenen des europäischen Grundrechtsschutzes vom Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien umfasst. Alle Äußerungen stellen „Meinungen“ im Sinne des Art. 5 I 1 Alt. 1 GG bzw. „expressions“ oder „opinions“ im Sinne des Art. 10 I EMRK und „Meinungsäußerungen“ im Sinne des Art. 11 I GRC dar. Daraus resultiert kein unbedingter Grundrechtsschutz im Sinne eines Abwehranspruches gegen staatliche Beschränkungen. Bei den Garantien der Art. 10 EMRK, Art. 5 I 1 Alt. 1 GG und Art. 11 I GRC handelt es sich nicht um absolut gewährleistete Grundrechte. Einschränkungen durch staatliche Maßnahmen sind möglich. Sie müssen am Maßstab der Anforderungen an ihre Rechtfertigung aus Art. 10 II EMRK, Art.  5 II GG und Art.  52 I, III GRC i. V. m. Art.  10 II EMRK geprüft werden. Der Grundrechtsschutz steht unter dem Vorbehalt der Beschränkungsklauseln. Die „Missbrauchsklausel“ des jeweiligen Grundrechtskatalogs ist dabei maßgeblich. Die demokratiefeindliche Haltung, die in einer Äußerung zum Ausdruck kommt, wird im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen mit entsprechendem Gewicht zu Lasten des Grundrechtsträgers berücksichtigt. Daneben kommen alle Faktoren des Kontexts der konkreten Äußerung zum Tragen. So kann eine kontextsensible und rechtsstaatlich abgesicherte Beurteilung des grundrechtlichen Schutzes der Äußerung des Einzelnen erfolgen, die alle relevanten Faktoren – den individuellen Grundrechtsschutz, die Bedeutung der Meinungsfreiheit in und für die Demokratie sowie den Schutz demokratischer Mindeststandards im Interesse der Allgemeinheit – berücksichtigt. Die Herstellung von Konkordanz zwischen den genannten widerstreitenden Interessen ist nur unter Würdigung aller Umstände des konkreten Kontexts der Äußerung im Einzelfall möglich. Außerdem zwingen die Anforderungen der Rechtfertigungsklauseln den Staat unter anderem dadurch, dass sie eine gesetzliche Grundlage verlangen, dazu, den staatlichen Grundrechtseingriff zu begründen. Darin liegt ein rechtsstaatlich bedeutsamer Sicherungsmechanismus gegen politisch motivierte, missbräuchliche Beschränkungen der Meinungsfreiheit. In dieser Arbeit wird weder im Ansatz noch im Ergebnis vertreten, dass „Hassreden“ unbedingter Grundrechtsschutz zu gewähren ist. „Hassreden“ sollen nicht mit den Mitteln des Verfassungs-, Konventions- oder Unionsrechts verteidigt werden. In dieser Untersuchung wird aber vertreten, dass „Hassreden“ im Schutzbereich

C. Schlussbetrachtung437

der Meinungsfreiheit liegen. Dies verleiht einem Äußernden noch keinen Abwehranspruch, wenn der Staat seine „Hassrede“ beschränkt oder verbietet. Es gewährleistet ihm aber eine kontextsensible Auseinandersetzung mit seinem Einzelfall, in der alle tatsächlichen Umstände berücksichtigt werden; auf diese Weise werden ihm rechtsstaatliche Mindeststandards zuteil, deren Achtung ebenso Anspruch einer Grundrechtsordnung ist wie die Einhaltung demokratischer Mindeststandards. Die geminderte Schutzwürdigkeit der Äußerungen wird auf Ebene der Abwägung mit gegenläufigen (Grund-)rechtspositionen berücksichtigt. Gleichzeitig hat es Auswirkungen für den einfachen Gesetzgeber. Er agiert nicht im grundrechtsfreien Raum, wenn er Verbote demokratiefeindlicher Äußerungen erlässt oder andere Regulierungen vornimmt, sondern muss die grundrechtliche Garantie der Meinungsfreiheit achten und insbesondere die Vorgaben der Schrankenklauseln wahren. Das berechtigte Interesse daran, demokratische Mindeststandards einzuhalten, kann auf diesem Weg hinreichend, wenn nicht besser, berücksichtigt werden. Die grundrechtsmissbräuchliche und demokratiefeindliche Ausrichtung einer Äußerung kann einbezogen und im Lichte des Kontexts gewichtet werden. Im Rahmen der Abwägung der widerstreitenden Interessen werden subversive Äußerungen sachgerecht und angemessen beurteilt. Es ist nicht vertretbar, aber auch nicht notwendig, die Äußerung hierfür außerhalb des Schutzbereichs der Meinungsäußerungsfreiheitsgarantien zu sehen. Dem Rechtsstaat ist es umgekehrt zumutbar und angemessen, die höchstmögliche Begründungsleistung zu erbringen, die strukturierteste Auseinandersetzung mit dem Einzelfall zu zeigen und die strengsten Voraussetzungen zu erfüllen, wenn ein elementares Recht des Einzelnen, wie es die Meinungsäußerungsfreiheit ist, beeinträchtigt wird.

Summary

Hate Speech and Freedom of Expression. The Scope of Protection in Cases of Anti-Democratic Speech under the European Convention on Human Rights, the Basic Law for the Federal Republic of Germany and the Charter of Fundamental Rights of the European Union In a democratic society, the right to freedom of expression as well as the protection of basic democratic values and principles such as tolerance, the equality and dignity of all human beings and pluralism are of ultimate importance. A statement of a person or a group can be within the scope of application of the right to freedom of expression, which constitutes democracy, and at the same time be an attack on democracy. This is the case, for example, where the statement denies the equality of all human beings or aims at the installation of a totalitarian system. The question whether or not such statement should be prohibited or restricted shows like almost no other the interrelation between liberty and democracy. It is uncertain whether the scope of protection of fundamental rights in a democratic legal system is limited to a behaviour which respects the basic principles of democracy. It could be argued that the protection by the human rights is only granted to behaviour that preserves these basic democratic principles or at least does not negate or threaten them. This could be justified in particular by recourse to the legal notion of the „abuse of rights“, which exists in the different systems of fundamental rights. This thesis examines the question whether or not such a limitation of the scope of protection of human rights results from Art. 10 ECHR, Art. 11 I CFR and/or Art. 5 I 1 of the German Basic Law and includes a comparative analysis of the ECHR, the CFR and the German Basic Law in this regard. By interpreting Art. 17 ECHR, Art.  54 CFR and Art.  18 of the German Basic Law, it is studied what constitutes an abuse of fundamental rights and what consequences such an abuse entails. Ultimately, it is shown that there is no place for a limitation of the scope of protection of the right to freedom of expression in the examined area. At the same time, it is argued that such a limitation is not necessary, because protection

© Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., to be exercised by 439 Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg 2019 A. K. Struth, Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung, Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, https://doi.org/10.1007/978-3-662-58153-7_6

440Summary

of democracy can be ensured at a later stage: during the examination of the justification of an interference to the right to freedom of expression. In this way, the democratic legal system and the public can be sufficiently protected from antidemocratic efforts.

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Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht

Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht Hrsg.: A. von Bogdandy, A. Peters Bde. 27–59 erschienen im Carl Heymanns Verlag KG Köln, Berlin (Bestellung an: Max-Planck-Institut für Völkerrecht, Im Neuenheimer Feld 535, 69120 Heidelberg); ab Band 60 im Springer-Verlag GmbH 278 Anna Katharina Struth: Hassrede und Freiheit der Meinungsäußerung. 2019. XV, 472 Seiten. Geb. € 109,99 277 Franziska Sucker: Der Schutz und die Förderung kultureller Vielfalt im Welthandelsrecht. 2018. XXIV, 635 Seiten. Geb. € 109,99 276 Clemens Mattheis: Die Konstitutionalisierung des Völkerrechts aus systemtheoretischer Sichtweise. 2018. XXIV, 557 Seiten. Geb. € 109,99 275 Aydin Atilgan: Global Constitutionalism. 2018. X, 312 Seiten. Geb. € 114,99 zzgl. landesüblicher MwSt. 274 Andreas Kolb: The UN Security Council Members‘ Responsibility to Protect. 2018. XXI 624 Seiten. Geb. € 199,99 zzgl. landesüblicher MwSt. 273 Matthias Goldmann, Silvia Steininger (eds.): Democracy and Financial Order: Legal Perspectives. 2018. V, 228 Seiten. Geb. € 114,99 zzgl. landesüblicher MwSt. 272 Jochen Rauber: Strukturwandel als Prinzipienwandel. 2018. XXXIV, 970 Seiten. Geb. € 159,99 271 Anja Höfelmeier: Die Vollstreckungsimmunität der Staaten im Wandel des Völkerrechts. 2018. XX, 356 Seiten. Geb. € 89,99 270 Rudolf Bernhardt, Karin Oellers-Frahm: Das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. 2018. XII, 344 Seiten. Geb. € 89,99 269 Philine Wehling: Wasserrechte am Nil. 2018. XVI, 351 Seiten. Geb. € 84,99 268 Katharina Berner: Subsequent Agreements and Subsequent Practice in Domestic Courts. 2018. XLV, 298 Seiten. Geb. € 114,99 zzgl. landesüblicher MwSt. 267 Josephine Asche: Die Margin of Appreciation. 2018. XII, 255 Seiten. Geb. € 84,99 266 Nele Yang: Die Leitentscheidung. 2018. XI, 362 Seiten. Geb. € 84,99 265 Roya Sangi: Die auswärtige Gewalt des Europäischen Parlaments. 2018. XV, 179 Seiten. Geb. € 69,99 264 Anna Krueger: Die Bindung der Dritten Welt an das postkoloniale Völkerrecht. 2018. XII, 434 Seiten. Geb. € 89,99 263 Björnstjern Baade: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Diskurswächter. 2017. XVIII, 543 Seiten. Geb. € 99,99 262 Felix Lange: Praxisorientierung und Gemeinschaftskonzeption. 2017. XIV, 403 Seiten. Geb. € 94,99 261 Johanna Elisabeth Dickschen: Empfehlungen und Leitlinien als Handlungsform der Europäischen Finanzaufsichtsbehörden. 2017. XIX, 277 Seiten. Geb. € 84,99 260 Mohamed Assakkali: Europäische Union und Internationaler Währungsfonds. 2017. XV, 516 Seiten. Geb. € 99,99 259 Franziska Paefgen: Der von Art. 8 EMRK gewährleistete Schutz vor staatlichen Eingriffen in die Persönlichkeitsrechte im Internet. 2017. XV, 220 Seiten. Geb. € 69,99 258 Tim René Salomon: Die internationale Strafverfolgungsstrategie gegenüber somalischen Piraten. 2017. XXXII, 743 Seiten. Geb. € 129,99 257 Jelena Bäumler: Das Schädigungsverbot im Völkerrecht. 2017. XIX, 379 Seiten. Geb. € 89,99 256 Christopher Peters: Praxis Internationaler Organisationen - Vertragswandel und völkerrechtlicher Ordnungsrahmen. 2016. XXVIII, 498 Seiten. Geb. € 99,99 255 Nicole Appel: Das internationale Kooperationsrecht der Europäischen Union. 2016. XVIII, 608 Seiten. Geb. € 109,99 254 Christian Wohlfahrt: Die Vermutung unmittelbarer Wirkung des Unionsrechts. 2016. XIX, 300 Seiten. Geb. € 84,99 253 Katja Göcke: Indigene Landrechte im internationalen Vergleich. 2016. XVII, 818 Seiten. Geb. € 139,99 252­ Julia Heesen: Interne Abkommen. 2015. XXI, 473 Seiten. Geb. € 94,99 251 Matthias Goldmann: Internationale öffentliche Gewalt. 2015. XXIX, 636 Seiten. Geb. € 109,99 250 Isabelle Ley: Opposition im Völkerrecht. 2014. XXIII, 452 Seiten. Geb. € 94,99 249 Matthias Kottmann: Introvertierte Rechtsgemeinschaft. 2014. XII, 352 Seiten. Geb. € 84,99

247 Jürgen Friedrich: International Environmental “soft law”. 2014. XXI, 503 Seiten. Geb. € 94,99 zzgl. landesüblicher MwSt. 246 Anuscheh Farahat: Progressive Inklusion. 2014. XXIV, 429 Seiten. Geb. € 94,99 245 Christina Binder: Die Grenzen der Vertragstreue im Völkerrecht. 2013. XL, 770 Seiten. Geb. € 119,99 244 Cornelia Hagedorn: Legitime Strategien der Dissensbewältigung in demokratischen Staaten. 2013. XX, 551 Seiten. Geb. € 99,99 243 Marianne Klumpp: Schiedsgerichtsbarkeit und Ständiges Revisionsgericht des Mercosur. 2013. XX, 512 Seiten. Geb. € 94,99 242 Karen Kaiser (Hrsg.): Der Vertrag von Lissabon vor dem Bundesverfassungsgericht. 2013. XX, 1635 Seiten. Geb. € 199,99 241 Dominik Steiger: Das völkerrechtliche Folterverbot und der “Krieg gegen den Terror”. 2013. XXX, 821 Seiten. Geb. € 139,99 240 Silja Vöneky, Britta Beylage-Haarmann, Anja Höfelmeier, Anna-Katharina Hübler (Hrsg.): Ethik und Recht - Die Ethisierung des Rechts/Ethics and Law - The Ethicalization of Law. 2013. XVIII, 456 Seiten. Geb. € 94,99 239 Rüdiger Wolfrum, Ina Gätzschmann (eds.): International Dispute Settlement: Room for Innovations? 2013. XIV, 445 Seiten. Geb. € 94,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 238 Isabel Röcker: Die Pflicht zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung nationalen Rechts. 2013. XXIII, 410 Seiten. Geb. € 89,95 237 Maike Kuhn: Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Mehrebenensystem. 2012. XIII, 325 Seiten. Geb. € 79,95 236 Armin von Bogdandy, Ingo Venzke (eds.): International Judicial Lawmaking. 2012. XVII, 509 Seiten. Geb. € 94,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 235 Susanne Wasum-Rainer, Ingo Winkelmann, Katrin Tiroch (eds.): Arctic Science, International Law and Climate Change. 2012. XIX, 374 Seiten. Geb. € 84,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 234 Mirja A. Trilsch: Die Justiziabilität wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte im innerstaatlichen Recht. 2012. XIX, 559 Seiten. Geb. € 99,95 233 Anja Seibert-Fohr (ed.): Judicial Independence in Transition. 2012. XIII, 1378 Seiten. Geb. € 169,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 232 Sandra Stahl: Schutzpflichten im Völkerrecht - Ansatz einer Dogmatik. 2012. XXX, 505 Seiten. Geb. € 94,95 231 Thomas Kleinlein: Konstitutionalisierung im Völkerrecht. 2012. XLII, 940 Seiten. Geb. € 149,95 230 Roland Otto: Targeted Killings and International Law. 2012. XVIII, 661 Seiten. Geb. € 109,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 229 Nele Matz-Lück, Mathias Hong (Hrsg.): Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem - Konkurrenzen und Interferenzen. 2012. VIII, 394 Seiten. Geb. € 89,95 228 Matthias Ruffert, Sebastian Steinecke: The Global Administrative Law of Science, 2011. IX, 140 Seiten. Geb. € 59,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 227 Sebastian Pritzkow: Das völkerrechtliche Verhältnis zwischen der EU und Russland im Energiesektor. 2011. XXIV, 304 Seiten. Geb. € 79,95 226 Sarah Wolf: Unterseeische Rohrleitungen und Meeresumweltschutz. 2011. XXIII, 442 Seiten. Geb. € 94,95 225 Clemens Feinäugle: Hoheitsgewalt im Völkerrecht. 2011. XXVI, 418 Seiten. Geb. € 89,95 224 David Barthel: Die neue Sicherheits- und Verteidigungsarchitektur der Afrikanischen Union. 2011. XXV, 443 Seiten. Geb. € 94,95 223 Tilmann Altwicker: Menschenrechtlicher Gleichheitsschutz. 2011. XXX, 549 Seiten. Geb. € 99,95 222 Stephan Bitter: Die Sanktion im Recht der Europäischen Union. 2011. XV, 351 Seiten. Geb. € 84,95 221 Holger Hestermeyer, Nele Matz-Lück, Anja Seibert-Fohr, Silja Vöneky (eds.): Law of the Sea in Dialogue. 2011. XII, 189 Seiten. Geb. € 69,95 zzgl. landesüblicher MwSt. 220 Jan Scheffler: Die Europäische Union als rechtlich-institutioneller Akteur im System der Vereinten Nationen. 2011. XXXV, 918 Seiten. Geb. € 149,95 219 Mehrdad Payandeh: Internationales Gemeinschaftsrecht. 2010. XXXV, 629 Seiten. Geb. € 99,95 218 Jakob Pichon: Internationaler Strafgerichtshof und Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. 2011. XXVI, 399 Seiten. Geb. € 89,95 217 Michael Duchstein: Das internationale Benchmarkingverfahren und seine Bedeutung für den gewerblichen Rechtsschutz. 2010. XXVI, 528 Seiten. Geb. € 99,95

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