Goethes Dramen. Neue Interpretationen


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Goethes Dramen. Neue Interpretationen

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e.' musikalisches< Mixtum compositum zwischen Tanzspiel und Opera buffa, aber ohne eigentliche Handlung, entstand im März oder April 1773 und war für Goethes Darmstädter Freundeskreis bestimmt, blieb aber - wohl wegen der zahlreichen, nur jener Personengruppe verständlichen Anspie¬ lungen - ungedruckt. Die Handschrift fand sich unter den Papieren Friedrich Heinrich Jacobis. Das Potpourri der Tempi und Temperamente weist eine ganze Reihe schwankhafter Elemente auf. So nennt der Verfasser sich als Jünger des grobianischen Schelms in Rabelais’ Roman Pantagruel »Panurgo secondo«, aber auch, seinen Zustand bezeich¬ nend, »flamminio« und als promovierten Juristen »Dottore«, was zugleich eine ste¬ hende Figur der Commedia dell’arte war. Das turbulente Spiel beginnt mit einer komischen Huldigung an die Langeweile, über die sich vermutlich der Freundeskreis in einem (nicht erhaltenen) Brief bei seinem abwesenden Spiritus rector Goethe beklagt hatte. Denselben >Musenanruf< hatten zuvor schon Hamann und Herder benützt,7 was dem Kreis bekannt war und womit Goethe daher ein Signal der anti-aufklärerischen Fronde und zugleich deren >Väter< zitierte. Die Tanz-Farce ironisiert aber auch jedes elitäre Denken, indem sie die pseudo-pietistische Gruppe (»Gemeinschaft der Heili¬ gen«) am Ende parodistisch-urchristlich zum Einbezug der ganzen Menschheit auffor¬ dert: »Weiber und Kinder / Zöllner und Sünder / Kritaster, Poeten / Huren Propheten« (160). Schon die verschiedenen Tempi suggerieren im übrigen die Vielfalt der Indivi¬ dualitäten und ihr Eigenrecht im »Concerto« des gesellschaftlichen Lebens. Ein Fastnachtspiel vom Pater Brey: Diese früheste Satire Goethes in dramatischer Form richtete sich gegen den hessen-darmstädtischen Prinzenerzieher Franz Michael Leuchsenring.8 Sie war aber zugleich als Polterabendbelustigung für Herder und Caroline Flachsland gedacht, deren Hochzeit am 2. Mai 1773 stattfand. Auf dieses Datum bezog sich die in typischem Hans-Sachs-Stil gehaltene Spielanweisung »auch wohl zu tragieren nach Ostern« (171), während das Motto (»Frauen und Jungfrauen zum goldenen Spiegel«) Wielands 1772 erschienenen didaktischen Roman Der goldene Spiegel paro¬ dierte und zugleich eine Stichelei gegen Herders Braut enthielt. Leuchsenring hatte sich in Darmstadt offenbar in einer vor allem Johann Heinrich Merck mißfallenden Weise >missionarisch< betätigt, den in Bückeburg ein Pfarramt versehenden Herder bei dessen Braut zu vertreten gesucht und auch Mercks Ehe gestört. Merck ist im Schwank als Würzkrämer der aufklärende Gegenintrigant, während Leuchsenring-Brey als »falscher Prophet«, Herder als wackerer Hauptmann Balandrino und seine Braut Caroline als Leonora porträtiert werden. Das Spiel zeichnet humoristisch die >Gefahren< der langen Braut- und Wartezeit des Paares. Leonora erscheint dabei geistig beschränkt und seelisch verführbar, obwohl sie treu bleibt. Das Paar nahm Goethe den derben Spaß übel, vor allem auch dessen raschen und in den Schriften von 1789 wiederholten Druck.9 Wichtiger als diese Personalien ist die Satire auf eine Zeiterscheinung, auf einen bestimmten Typus sittenrichterlich-missionarischen Eifers, der Goethe besonders zuwider war, wenn dabei zur gefühlvollen Schwärmerei sublimierte Erotik im Spiel war. Ob Jesusliebe oder sexuelle Begehrlichkeit das Kontaktmotiv der hier karikierten >Frommen< sei, wird als unerkennbar bezeichnet. Sie wollten »Miteinander ins Bett

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oder ins Himmelreich« (173), unterstellt der Gewürzkrämer dem belauschten Paar. Nicht daß der Schwank den Liebenden das Recht zum ersteren abspräche. Im Gegen¬ teil. Wo erotische Anziehung am Werk ist, in der ja die Natur spricht, soll ihr willfahrt und »Hochzeit gemacht« werden, wie es der Bräutigam in blasphemischer Umkehr eines Paulus-Wortes10 am Ende vorschlägt. Nur der verlogenen Verbrämung des sinnlichen Triebes wird hier der Prozeß gemacht, dem »unendlichen ausdruck von Geilheit im Verbiegen und Verschmiegen«, wie es in den Fortsetzungsnotizen zu Hanswursts Hochzeit heißt (258f.). Sie irritiert besonders, wo sie sich mit rationalisti¬ scher Pedanterie, Gesinnungsschnüffelei und geistlichem Hochmut paart. Das Motiv der Rettung einer >Unschuld< durch den zur rechten Zeit herbeigeeilten Freund war alt und gehörte zum festen Bestand der Schäferpoesie. Goethe hatte es selbst in seinem anzüglich-lehrhaften Gedicht Ziblis verwendet, das auch eine Verbin¬ dung zu Satyros darstellt. Ebenso traditionshaltig dürfte die schwankhafte Abfuhr gewesen sein, die dem »Seelenschnüffler« bereitet wird, als man ihn statt zu einer bekehrungsbedürftigen Gemeinde zu den Schweinen schickt.11 Erstaunlich ist an diesem nur 334 Verse umfassenden Schwank vor allem Goethes bereits vollkommene Beherrschung der dramatischen Technik des Fastnachtspiels. Eine bestehende Ordnung wird vorausgesetzt, der Anfang der Handlung zeigt deren Stö¬ rung, und ihr Ende bringt die Wiederherstellung.12 Die einzelnen Auftritte sind nur durch die Lehr- und Zeigeabsicht des Verfassers motiviert und erfolgen je auf das für den verborgen wartenden Spieler bestimmte Stichwort hin. Sobald sein Name fällt, erscheint er auf der Bühne. Und die Hauptaufgabe wird, genau wie meistens bei Hans Sachs, nicht dem darstellerischen Talent der Hauptfigur übertragen, die wenig zu sagen und zu tun hat, sondern der die Phantasie des Zuhörers mobilisierenden Schilderung durch die Nebenfiguren. Zu dieser kenntnisreich eingesetzten dramaturgischen Technik kommt aber nun Goe¬ thes überschäumender Sprachwitz, auf den nur hingewiesen werden kann. Ganze semantische Felder (Geruch, Gerücht, riechen, schnuppern, schnauzen, lecken, schlekken) werden gebildet und evozieren das Animalische der prätendierten >GeistlichkeitHeiligkeit< der Griechen vergriff, so der aufgeklärte Theologe am Leib und Geist des Neuen Testamentes. Beide >Vergehen< werden satirisch gerächt durch eine vorgestellte, überraschende Heimsuchung der >Helden< und durch ein Verhör mit anschließender Verhöhnung. Bahrdt wird als Philister karikiert (den seine Gattin »Kind« nennt), Wieland als weinerlich-eitler Literat. Beide reagieren konsterniert und offenbaren ihr klägliches Unvermögen, Wucht und Größe jener Gestalten, die sie, dem verzärtelten Zeitgeschmack folgend, verharmlost haben, überhaupt zu erfassen. Goethe nimmt hier zweimal eine im Grund schon historistische, sicher von Herder beeinflußte Haltung ein und spricht im Ton von Luthers »Das Wort sie sollen lassen stahn« sein Veto gegen jede Modernisierung des für unantastbar erklärten Kulturgutes. Dabei gibt es aber genaugenommen keine lebendige Kulturvermittlung, bei der nicht das Tradierte den neuen Vorstellungen angepaßt würde. Auch Goethes grobianische Bilder des Griechen- und Urchristentums waren mehr Projektion einer Sturm-undDrang-Sehnsucht als historische Wirklichkeit. Aber die deutsche Germanistik nahm lange aus Abneigung gegen das als französisch empfundene Rokoko Wielands einseitig Partei für den jugendlichen Pamphletär.14 Goethes Angriffe richteten sich hier gegen gewichtigere Persönlichkeiten als im Palle Leuchsenrings. Jenen auf Wieland bedauerte er bald, vor allem, als der Verunglimpfte sich von der großmütigsten Seite zeigte. Auch Bahrdt machte gute Miene zum bösen Spiel, als die Satire auf ihn als Einzeldruck 1773 mit falschem Ort (Gießen) in Darmstadt erschien. Er war im übrigen wegen seines dezidierten Rationalismus schon vorher vielfach angegriffen worden und verlor schließlich alle seine Ämter, wozu aber auch ein absonderlicher Lebenswandel beitrug.15 Satyros oder der vergötterte Waldteufel: Auch von diesem Schwank, der unter die Selbstparodien zu zählen ist, hat man aufgrund eines Goetheschen Hinweises während Jahrzehnten angenommen, es handle sich um eine Personalsatire. Der Autor von Dichtung und Wahrheit erinnerte sich, in Pater Brey einen »zarten und weichen«, in Satyros einen »tüchtigem und derbem« Zeitgenossen karikiert zu haben; den Namen des ersten nannte er, den des zweiten verschwieg er (GA 10,615). Die Vorschläge der Germanisten zur Püllung dieser Lücke waren zahlreich, und die entsprechende Diskus¬ sion dauerte bis zur Jahrhundertmitte,16 obwohl Eduard Castle schon 1918 gegen solche Vorbildsuche protestiert und betont hatte, sie ziele am Wesen dieses Schwanks vorbei.17 Das Stück, ein Miniaturdrama nach allen Regeln der Gattung mit Exposition, Schür¬ zung des Knotens, Krisis, Konflikt und überraschender Lösung, ist ein komisch¬ ironisches Meisterwerk, gibt aber dem Leser bis heute Probleme auf. Vor allem scheint es schwierig zu verstehen, warum der Text Lieblingsbegriffe und Leitvorstellungen des jungen Goethe in großer Zahl enthält, auch einen Glanz der Sprache und eine Beredsamkeit entfaltet wie sonst keiner der Schwänke, und gleichzei¬ tig dies alles in der Figur des >Helden< ironisiert. Das erste zeigen Vergleiche mit den zur selben Zeit entstandenen Liebes- und Naturgedichten, mit Prometheus und Urfaust unwiderleglich.18 Die Verherrlichung der Frühzeit, Eros als weltschaffende Macht, der Gesang als elementarste menschliche Sprache, die Befreiung vom Zwang unnatürlicher Regeln, die Rückkehr zum vollen, gottmenschlichen Dasein im Zeichen eines dynami-

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sehen Spinozismus und optimistischen Rousseauismus - all das ist Teil der >Botschaft< dieses aus den Wäldern in ein seltsames, historisch-geographisches Niemandsland zwischen Hellenismus und Christentum gelangten >HeldenKunstwerk< wird der chaotischen Realität als - freilich plump-illusionistischer - >Kosmos< entgegengehalten. Und solche Kunst des falschen Bewußtseins befriedigt offenkundig das Wunschdenken des besseren, bürgerlichen Publikums. Goethe hat das kleine Unikum offenbar geschätzt. Er hat noch 1781 mit seiner Weihnachtsüberraschung Das Neueste von Plundersweilern für Anna Amalia daran angeknüpft.26 Und der provozierende Charakter des Werkleins hat unlängst Peter Hacks zu einer Bearbeitung gereizt, die den ideologiekritischen Aspekt herausstellt.27 Des Künstlers Erdewallen - Des Künstlers Vergötterung: Die beiden kleinen Künstler¬ farcen tragen den Untertitel »Drama«. Erst wenn man sie zusammenhält, wird ihr Schwankcharakter und die Ironie auch des zweiten, in variierend-gereimten Versen verfaßten, erkennbar. Das erste konfrontiert Berufung und Beruf, Wunschtraum und armselige Wirklichkeit eines Porträtisten. Goethe hatte, als er es im Herbst 1773 schrieb, vermutlich William Hogarths satirischen Kupferstich »The distressed Poet« vor Augen.28 Entsprechend der Schwankperspektive aller Stücke dominiert die harte Realität. Dem klagenden Künstler wird von seiner Muse empfohlen, sich ins Unver¬ meidliche zu schicken. Denn als er sich trotz seiner nach Brot verlangenden Kinder weigern will, die häßliche Gattin eines reichen Auftraggebers zu idealisieren, gibt ihm die Muse zu bedenken: »Ist sie garstig bezahlt sie doch« (229).

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Das zweite Dramolett wäre mit seinen nur 26 Versen Goethes kürzester Schwank, ist aber für sich allein kaum verständlich. Goethe schrieb es auf seiner Rheinreise im Sommer 1774 und übertrug dann beide Stücke ins Stammbuch von Lavaters Zeichner Friedrich Schmoll. Das im Erdewallen noch unfertig auf des Malers Staffelei stehende Idealgemälde der »Venus Urania« ist in der Vergötterung nun fertig. Doch nicht der »Meister« ist sein Schöpfer, sondern dessen einstiger Lehrer. Die beiden Farcen zusammen zeigen somit drei Generationen. Die zweite und dritte weiß nichts mehr von den Mühsalen der ersten und »vergöttert« deren Genie. Hanswursts Hochzeit: Diese Farce ist Fragment geblieben. Der Untertitel »oder Der Lauf der Welt« läßt an ein spätmittelalterliches morality play wie den Everyman denken; die mysteriöse Gattungsbezeichnung »ein mikrokosmisches Drama« spannt ebenfalls die Erwartungen. Beides ist bereits Teil der geplanten »Publikumsbeschimp¬ fung«. Das aggressive Potential wurde aber, wie der lange Ekelnamen-Katalog zeigt, an dem auch Genossen Goethes sich schreibend beteiligten,29 erst zu einem Teil in dialogisierten Text umgesetzt. Obwohl im treuherzigen Hans-Sachs-Ton gehal¬ ten, steht dieser derbste von Goethes Schwänken mit seinen Koprolalien näher bei Rabelais und Fischart als beim biederen Stil des Nürnberger Meisters. Was Goethe dazu trieb, sich hier den überdimensionalen Phallos des antiken Satyrspiels umzubin¬ den, läßt sich nur vermuten.30 Beteiligt war wohl sein Unbehagen über die mit dem Großerfolg des Götz verbundene plötzliche Berühmtheit und die entsprechende Neugier der Öffentlichkeit. Das zeigt etwa die folgende Ermahnung des Vormunds: »Die Welt nimmt an euch unendlichen Theil / Nun seid nicht grob wie die Genies sonst pflegen« (249). Doch ist auch denkbar, daß Goethe für sein unfrei gewordenes Verhältnis zur Frankfurter Bankierstochter Lili Schönemann hier einen >outlet< suchte; dann bestünde eine gewisse Verwandtschaft zwischen dem Schwank und dem Gedicht Lilis Park aus demselben Jahr: beide wären ein Gemisch aus Protest und Selbstparodie. Wie Prometheus den Göttern, trotzt hier Hanswurst den Bürgern und weigert sich, sich gemäß den Anweisungen seines Vormunds nach allgemeinem Brauch zu betragen. Er ist im eigentlichen Wortsinn hemmungslos und pocht auf die Erlaubtheit, weil Ehrlichkeit einer entsprechenden Praxis. Gleich wichtig wie die Rolle des Mündels ist im ausgeführten Teil jene des Vormunds. Dessen 48 Verse langer Eingangsmonolog ist eine deutliche Kontrafaktur des Anfangs des Faust. Während sich Faust aber das Mißlingen seines Ringens nach Erkenntnis eingesteht, bekennt Brustfleck vor dem Publikum das Versagen seiner Pädagogik. Hauptthema ist also die Unerziehbarkeit, ja Unzähmbarkeit des >Helden< in jeder Hinsicht; sein sexuelles Verhalten ist dabei nur das anstößigste Beispiel. Doch wird das gesellschaftlich Verlangte auch durch den Vormund als reine Konvention enthüllt. Ihre Formen sind nicht etwa notwendig für das Zusammenleben, sondern bloßer Schein; ihre Abschaffung wäre somit natürlich und längst fällig. Nur hat das bisher noch niemand gewagt. So erscheint Hanswurst als eine Art negativer Kulturheros, als konsequenter Anarchist und darin verwandt mit Satyros, dem zuerst vergötterten, dann verteufelten »homme des bois«. Damit ist die fundamentale Ambivalenz auch dieses Spiels angedeutet; es >schwankt< in der Tat zwischen Satire der existierenden, als verlogen und lächerlich porträtierten

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Gesellschaft und Ironie für die eigene, als unmündig dargestellte Opposition. Es protestiert gleichsam in zwei Richtungen, und insofern ist es Farce.

Zusammenfassung und Auswertung der Ergebnisse Was die Aussage dieser Spiele angeht, so kann summarisch folgendes festgestellt werden: Materielle Bedürfnisse, libidinöse Wünsche und Aggressionen erscheinen als die primären Lebensmächte. Wo >Veredlungen< erfolgten, sind sie Firnis geblieben oder führten zu Impotenz und lächerlicher Anmaßung. Triebansprüche der Individuen machen alle Domestikations- und Sublimationsversuche zunichte. Auch religiöse, soziale, ethische und rechtliche Setzungen, Normen und Werte halten dem Anspruch und Angriff kraftvoller Egoismen nicht stand. Der Stärkere setzt sich immer durch. Genuß ist das oberste der Lebensgüter. Er steht jedem nach seiner Kraft zu; diese bestimmt sein Anrecht auf Glück und allgemeine Achtung. Der Glaube an einen Fortschritt der Menschheit wie überhaupt die Idee einer Lenkung des Geschichtspro¬ zesses erscheinen in skeptisch-ironischem Licht. Ein Bewußtsein ewiger Wiederkehr des Gleichen im >Kampf ums Daseinbarbarischen< Ursprünglichkeit und Schönheit. Aktualisierungsversuche, die sie verfälschen müssen, sind ein Sakrileg einer entarteten Zeit. Wenn als Anreger und geistige >Väter< dieser Werkgruppe, die der Denk-, Seelen- und Geschmackskultur der Aufklärung wohl eindeutiger als alle anderen Produkte Goethes zuwiderlief, in gehaltlicher Hinsicht mindestens vier Autoren, nämlich Hamann, Herder, Rousseau und Spinoza wichtig waren,31 so gilt dasselbe in formaler Hinsicht nur für einen einzigen: für Hans Sachs. Seine Sprache, sein Vers und sein dramatischer Stil bilden die noch wesentlich stärkere, auffälligere Klammer um fast alle von Goethes Schwänken, die ohne den Tonfall des frei adaptierten Knittelverses und ohne das Muster der lapidar-kurzen, von Wortwitz und Situationskomik lebenden Spielproduk¬ tion des Nürnberger Meisters nicht denkbar wären.32 Die Wanderbühnen- und Puppen¬ spieltradition sowie Relikte älterer Bänkelsängerpoesie mochten da und dort Anregun¬ gen geboten haben, wiegen jedoch leicht, verglichen mit dem für Goethe epochema¬ chenden Ereignis der Entdeckung der Sprach-, Streit- und Spielformen des 16. Jahr¬ hunderts. Nun gilt es aber, sich vor Augen zu halten, daß diese ganze >niedere Welt< voll satirischer Aggressivität und derbkomischem bis zotenhaftem Humor praktisch gleich¬ zeitig mit dem Anfang des Faust, den Studierzimmer- und Gretchen-Szenen, mit dem Ewigen Juden, dem Mahomet- und Prometheus-Fragment, mit Götz zweite Fassung, mit Liebesgedichten wie Willkommen und Abschied und Mailied, mit Hymnen wie Wandrers Sturmlied und Ganymed, mit Werther, Clavigo und Stella entstanden ist.

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Hinzu kämen noch zahlreiche kritische und theoretische, vornehmlich religiösen und ästhetischen Fragen gewidmete Schriften. Diese Parallelität ist natürlich schon immer bekannt gewesen. Die Forschung hat sich aber damit schwergetan und noch keinen Konsens erreicht. Lange dominierte eine wohl noch zum Erbe des Idealismus gehörende Stockwerkvorstellung. Goethes Schwänke werden darin dem Souterrain seines geistigen Haushalts zugewiesen. Ihrer Produktion wird allenfalls eine gewisse Entlastungs- oder Entspannungsfunktion zugeschrieben. Aber ansonsten gelten sie vor allem als Allotria, und ihr Aussagewert ist somit geringer als jener des >ernsthaften< CEuvres.33 Doch eine solche Zweiteilung in Opera maiora und Opera minora ist höchstens vom Einzelwerk aus gesehen oder wirkungsgeschichtlich zu rechtfertigen, genetisch-pro¬ duktionsästhetisch aber nicht. Denn sie widerspricht völlig jedem modernen Begriff der Person. Auszugehen ist also von einem geistigen Gesamtzustand, der die Basis schöpfe¬ rischer wie jeder menschlichen Tätigkeit bildet und nahelegt, die Tatsache, daß gelegentlich die linke Hand etwas anderes tut als die rechte, nicht zu bagatellisieren, sondern zum Gegenstand ernsthafter Untersuchung zu machen. Konkret und auf unseren Fall bezogen führt das zur These, Goethes Hauptwerke dieser Epoche seien ohne gleichzeitige Erklärung des Entstehens und der Funktion der Schwänke gar nicht zu deuten. Soweit ich sehe, hat Gundolf dies in seinem Goethe zum erstenmal klar ausgesprochen.34 Seinen und einigen in gleicher Richtung weisenden, aber differenzier¬ teren Überlegungen Emil Staigers35 schließen sich auch die folgenden an. Für Gundolf mehr noch als für Staiger kennzeichnen den jungen Goethe nach seiner kurzen pietistischen Phase während der schweren Erkrankung des Jahres 1769 ein zunehmend tragisches Weltbild, große Unsicherheit und schwere Anfälle von Melan¬ cholie. Ob der so Bedrohte sich schließlich dank seiner Doppelnatur, die ihn doch auch in hohem Maß glücksfähig machte, oder dank seiner Ausdrucksbegabung wieder auffing, ist wohl nicht mehr zu entscheiden. Es kam vermutlich beides zusammen. Jedenfalls dürfte unbestritten sein, daß eine schöpferische Betätigung durch die dabei sich vollziehende Objektivierung des Problemstoffs Möglichkeiten der Selbstanalyse und Selbstheilung enthält. Und wer nun die ganze Goethesche Produktion jener Jahre ins Auge faßt, wird bemerken, daß zwischen einzelnen Werken zwar eine unglaubliche Spannweite lag, daß aber auch zahlreiche Verbindungslinien zwischen ihnen bestanden, und - vor allem - daß kaum ein in den außerwerklichen Zeugnissen auftauchendes Existenzproblem ungestaltet blieb. Mit diesem Stichwort der Existenzproblematik ist hier nicht nur Persönliches gemeint. Goethes scharfer Intellekt erfaßte sehr rasch Krisen des Denkens und Glaubens seiner Zeit, und seine Offenheit und Ungefestigtheit ließen sie ihn als eigene erleben und erleiden. Auf vieles dieser Art scheinen nicht nur die >Hauptwerke< wie Götz und Werther, sondern auch die Schwänke eine Antwort gewesen zu sein. Für deren Beurteilung fällt vor allem ins Gewicht, was der Übergang von der dualistischen Weitsicht des Christentums zu jener eigenen, monistischen, stark von Spinoza geprägten des »ev xai Jtäv« und »deus sive natura« in Goethe an Erschütterun¬ gen erzeugte. Man hat - vor allem anhand der großen Hymnen - bisher vorwiegend das Befreiende, das neue Naturgefühl und die neue Befähigung zu religiös-erotischer Ekstase betont. Doch das war nur die eine, positive Seite dieser grundlegenden

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Umkehr; es ist bezeichnend, daß sie sich ausschließlich in lyrischer Form äußerte, in der solitärsten, gesellschaftsfernsten Gattung. Götz und Werther zeigen, daß dem Träger dieses Weltbildes mindestens ebenso große Gefahren drohten, indem sich die Freiheit des Wollens - wie die Shakespeare-Schrih es formulierte - im Zusammenprall mit geschichtlichen Mächten als eine nur »prätendierte« herausstellte (GA 4,124) oder, im Roman, indem die sich verändernden Verhältnisse das auf der Dauer des Einheitsge¬ fühls bestehende Individuum in ausweglose Vereinsamung trieben. Das waren der Plus- und der Minuspol, zwischen denen das Selbst des jungen Goethe in dieser Phase in fast manisch-depressiver Weise hin und her gerissen erscheint, indem es seine Existenz bald trotzig behauptete - bald enthusiastisch preisgab, wobei, wie angedeutet, nur die auf den Augenblick abstellende Lyrik beidem ein Glücksgefühl abgewinnen konnte, im Drama und Roman aber das mit solchem Dasein in Extremzu¬ ständen verbundene Krisenhafte zum Ausdruck kam. Das hing auch mit der größeren >Gesellschaftlichkeit< jener Gattungen zusammen. Im Bereich von Staat, Religion, Recht und Ethik mußte Goethes Monismus zwangsläufig zu Problemen führen, vor allem zu einer Norm- und Wertkrise, letztlich zur Ununter¬ scheidbarkeit von gut und böse, richtig und falsch, und damit zur Verwerfung aller >positiven< Setzungen, zu starker Ambivalenz und, in deren Folge, zu fast totaler Toleranz, ja Indifferenz, deren >Unmöglichkeit< aber das Subjekt natürlich regi¬ strierte. Ein Symptom dieser Krise, die in der Übertragung biologischer und naturphilosophi¬ scher Ideen auf die gesellschaftliche und geschichtliche Welt ihren Ursprung hatte, sind etwa folgende Sätze aus Goethes Rezension von Sulzers Schrift Allgemeine Theorie der Schönen Künste aus dem Jahre 1772: »Was wir von Natur sehen, ist Kraft, die Kraft verschlingt, nichts gegenwärtig, alles vorübergehend, tausend Keime zertreten, jeden Augenblick tausend geboren, groß und bedeutend, mannigfaltig ins Unendliche; schön und häßlich, gut und bös, alles mit gleichem Rechte nebeneinander existierend« (GA 13,29). Wer an die Naturhaftigkeit oder auch nur Naturgebundenheit der menschlichen Existenz glaubte, mußte mit seinem Weltbild schon vor Darwin und Nietzsche zwangsläufig in die Nähe eines Denkens Jenseits von Gut und Böse< geraten. Daß dies bei Goethe der Fall war, deutet auch seine Berufskrise als Jurist an. Und vielsagend ist in diesem Zusammenhang seine Bemerkung in Dichtung und Wahrheit, daß er bei Freunden wie Merck, die mehr gesellschaftsbezogen dachten, mit diesem Denken Anstoß erregte. So ist der sonst seltsame Satz wohl zu verstehen: »Die unüberwindliche naive Gutmütigkeit meines Wesens war ihm schmerzlich; das ewige Geltenlassen, das Leben und Lebenlassen war ihm ein Greuel« (GA 10,787). Genau diese Toleranz erscheint aber im Prometheus-Fragment als Basis einer kaum praktikablen neuen Anthropologie. Sie wird vom Menschenvater an bezeichnender Stelle, als nämlich ein Streit ausgebrochen und eine Aggression geschehen war, die eigentlich Sanktionen erfordert hätte, wie folgt formuliert: »Ihr seyd nicht ausgeartet meine Kinder! Seyd arbeitsam und faul Und grausam mild Freigebig geitzig!

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Gleichet all euren Schicksaals Brüdern Gleichet den Tieren und den Göttern.« (GA 4,194f.) Damit war aber kein Streit zu schlichten. Denn dieser Satz läßt zu, daß sich der jeweils Stärkere nimmt, was ihm gefällt und erreichbar ist, also das Faustrecht. Genau das doziert auch der »große Kerl« Herakles in Götter Helden und Wieland, wenn er die »engbrüstige« Moral des »tintenklecksenden Säkulums«, das Wieland vertrat, mit den Worten verspottet: »Laster das ist wieder ein schönes Wort. Dadurch wird eben alles so halb bey euch dass ihr euch Tugend und Laster als zwey Extrema vorstellt zwischen denen ihr schwanckt. Anstatt euern Mittelzustand als den positiven anzusehn, und den besten, wies eure Bauren und Knechte und Mägde noch thun« (225). Interessant ist, daß als Vorbild für die neue >Moral< das noch nicht zivilisationsverdor¬ bene >niedere Volk< hingestellt wird, dem von den Kulturkritikern seit Haller mehr Ursprungsnähe und damit ein größerer Anteil an der »bonte naturelle« zugeschrieben wurde. Aber Haller wie Rousseau verstanden diese »bonte« durchaus moralisch; in Goethes Schwank dagegen ist sie reine Vitalität und kreatürliche Spontaneität. Auch mit jener Tradition des »edlen Wilden« der Aufklärung wird somit hier gebrochen. Das >Herkulische Prinzip< meinte Totalität, Fülle, Ganzheit und ungeschmälertes Recht, sich auszuleben. Es lief aber auf eine Praxis der Gewalt und eine Philosophie des »tout comprendre - tout pardonner« hinaus, auf »cosi fan tutte«. Ob das ein Übel oder das einzig Mögliche, weil allein Naturgemäße sei, das eben stellten die Schwänke insgesamt zur Diskussion. Sie konnten es frei und unter Vermei¬ dung aller Entscheidungen fordernden Problematik tun. Denn ihre Welt war eine Kunst- und Spielwelt, aus welcher grundsätzlich jeder Ernst und alle Verpflichtung zur Stringenz des Denkens und Konsequenz des Handelns verbannt blieben. Sie zeigen ein humoristisches, also Konflikte mit Lachen quittierendes, apriorisches Einverständnis des Subjekts mit der Welt. Das gilt auch für die vom Anlaß her satirischen Stücke, denn auch Kritik und Aggression stehen bei Goethe im Schwank ganz unter dem Aspekt des Komischen, und dieses impliziert immer Toleranz. Im Schwank ist akzeptierbar, was in anderen Gattungen Probleme bereitet, vor allem solche der Rezeption. Das zeigt nicht nur der ausbleibende Erfolg der Mitschuldigen, den Goethe selbst dem befremdend Burlesken und der moralischen Indifferenz des Stückes zuschrieb; das zeigen auch der erste Teil des Faust und Egmont. Das Verhalten der Männer gegenüber ihren verlasse¬ nen Geliebten soll vom Zuschauer sowohl als notwendig wie als schuldhaft verstanden werden. Aber der >moralischen Welt< fällt das schwer, wie die Wirkungsgeschichte beweist. Nur in der moralfreien Welt des Schwanks ist weder die rücksichtslose Aufhebung einer Ambivalenz noch das ebenso >unsittliche< Verharren in ihr ein Odium. Der Schwank allein hat das Prärogativ der Folgenlosigkeit und damit des reinen Spiels. In seinem Bereich ist erlaubt, was im real-gesellschaftlichen und dessen Widerspiegelung in der Kunst nie sein darf: die totale moralische Indifferenz, wo alles recht hat und somit jede Rechtsprechung hinfällig ist. Daß aber die Schwank-Ansicht der Welt nur eine Möglichkeit neben anderen und nur eine Phase sein konnte, die wieder verlassen werden mußte, so wichtig sie als mora¬ lisch-philosophisches Experimentierfeld für Goethe auch war, dürfte nun ebenfalls klar geworden sein. In jenem Zustand des fröhlich betriebenen Leerlaufs und der prinzipiel-

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len Gleich-Gültigkeit, in welchem sich das Subjekt einredet, alles kehre wieder und alles sei folgenlos, konnte man wohl eine Zeitlang Entspannung und Erholung suchen, aber nicht dauernd verbleiben; denn in ihm müßte die humane Existenz zur animali¬ schen degenerieren, ein Schritt, mit dem in einigen Schwänken bewußt gespielt wird, aber wohl eben zu dem Zweck, diese Möglichkeit zu erproben, um sie aus eigenem Entschluß und bewußt dann verwerfen zu können. Ein witziges Abbild solchen Vegetierens gab Goethe am Ende der Schwankperiode in dem kleinen Gedicht Genialisch Treiben, worin er sich selbst als kynischen Philoso¬ phen und seltsamen >Heiligen< ironisiert: »So wälz ich ohne Unterlaß, Wie Sankt Diogenes, mein Faß. Bald ist es Ernst, bald ist es Spaß; Bald ist es Lieb, bald ist es Haß; Bald ist es dies, bald ist es das; Es ist ein Nichts und ist ein Was. So wälz ich ohne Unterlaß, Wie Sankt Diogenes, mein Faß.« (GA 1,454) Gewiß waren Goethes Schwänke insgesamt auch Ausdruck einer Opposition gegen den literarischen Zeitgeschmack und Zeitstil, was schon immer betont worden ist. Und insofern waren sie Teil eines ästhetischen Programms, dem auch Götz - als kühner Vorläufer eines >epischen< Theaters -, dem die pindarischen Hymnen und die Gedichte im Volksliedton wie vieles andere angehörten. So gesehen reagierten die Schwänke auf zahlreiche epochentypische Erscheinungen innerhalb der aufgeklärt-empfindsamen, protestantisch-bürgerlichen Bildungsschicht der vierziger bis sechziger Jahre, aus der Goethe stammte und die er von Grund aus kannte. Insofern waren sie alle >SatireHöhere< im Menschen. Er sieht die Welt als Narrenhaus und Tummelplatz chaotischer Triebe, Egoismen und Aggressionen. Der einzige von ihm zugegebene Lebenszweck ist Lustgewinn animali¬ scher Art. Er verhöhnt jegliches Ideal, glaubt an die ewige Wiederkehr des Gleichen und bietet als Regisseur in diesem vermeintlichen totalen Leerlauf Faust seine Unterhal¬ tungen an, doch mit der Absicht, diesen aufs »Faulbett« und damit endlich zur Bestätigung der eigenen Weitsicht zu bringen. Diese Weitsicht deckt sich weitgehend mit jener der Schwänke. Wir haben gesehen, daß bei Goethe in den siebziger Jahren offensichtlich eine temporäre Neigung bestand, sie zu totalisieren. Das geschah in den behandelten Spielen. Sie weisen nirgends über sich hinaus. In ihnen dominieren der beschriebene Materialismus, die Ambivalenz und die Indifferenz gegenüber allen moralisch-religiösen oder gesellschaftlich-politischen Nor¬ men und Werten. Andere Werke derselben Periode widersprechen aber diesem Men¬ schenbild vollständig. Und so stehen sich in jener Phase gegensätzliche, einander ausschließende Positionen unvermittelt gegenüber. Die endgültige Fassung des Faust scheint nun dasjenige Werk zu sein, in welchem dieser Gegensatz aufgehoben wurde, und zwar durch die Figur Mephistos. In ihr ist alles Schwankmäßige wieder da, aber es wird zugleich in seine Schranken gewiesen als nur eine, einseitige, eben >untere< Ansicht des Menschen und der Welt; es wird zur Funktion in einem größeren Ganzen. Auf diese Weise bekommt es zugleich Recht und Unrecht; das eine, insofern es sich dienend einfügt; das andere, wo es sich für allmächtig hält und verabsolutiert. Es darf das >ObereSchwank< mit dem fachspezifischen, der die komische Verserzählung des Spätmittelalters und Humanismus meint, wird auch hier - wie seit langem in der Forschung - in Kauf genommen. 3 Ein anderer, das Lachen »über« von einem Lachen »mit« dem komischen Helden unterscheidender

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Vorschlag ist von Hans Robert Jauß vorgelegt worden; er operiert wirkungspsychologisch und geht vom Akt der Identifikation des Lesers/Zuschauers aus. Vgl. Hans Robert Jauß: Uber den Grund des Vergnügens am komischen Helden. In: Das Komische. Hrsg, von Wolfgang Preisendanz und Rainer Warning. München 1976. S. 103 ff. Vgl. etwa Hermann Henkel: Goethes satirisch-humoristische Dichtungen dramatischer Form. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Litteraturen 92 (1894) S. 305-342; 93 (1894) S. 69-110. Vgl. Theodor Verweyen: Eine Theorie der Parodie. München 1973. Sie folgen aus Gründen der Darstellung nicht der Chronologie, sondern thematischen oder gattungs¬ mäßigen Zusammenhängen. Vgl. Johann Georg Hamanns Titel Sokratische Denkwürdigkeiten für die lange Weile des Publikums (1759) und Herders Fragmente Uber die neuere deutsche Literatur (1767), wo bereits humoristisch von der »lieben Götter Langeweile« gesagt wird, sie sei »die Mutter so vieler Menschen und menschlicher Werke« (Sämmtliche Werke. Hrsg, von Bernhard Suphan. Bd. 1. Berlin 1877. S. 139). Persönlichkeit und Leben dieser früher kaum greifbaren Gestalt sind erst vor kurzem durch eine ausgezeichnete Edition und Darstellung erschlossen worden. Vgl. Briefe von und an F. M. Leuchsenring 1746-1827. Hrsg, und komment. von Urs Viktor Kamber. T. 1: Briefe. T. 2: Kommentar. Stuttgart 1976. Goethe gab den Schwank, zusammen mit Des Künstlers Erdewallen und Jahrmarktsfest zu Plunders¬ weilern und eingeleitet vom Prolog Neueröffnetes moralisch-politisches Puppenspiel, im Sommer 1774 an seinen bedürftigen Frankfurter Gefährten J. M. Klinger, der die vier Texte zur Herbstmesse desselben Jahres drucken ließ und den Erlös behalten durfte. In Goethes Schriften (1787-90) erschien der Pater Brey im 8. Band. - Zum Arger Herders vgl.: Herders Reise nach Italien. Briefwechsel mit seiner Gattin vom August 1788 bis Juli 1789. Hrsg, von Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried von Herder. Gießen 1859. S. 273. Vgl. Galater 3,3: »Im Geist habt ihr angefangen, wollt ihr’s denn nun im Fleisch vollenden?« Auch im Esther-Spiel der Erstfassung des Jahrmarktsfests ist es die Absicht des frommen Mardochai, »Die Schwein zu Lämmern [zu] recktifizirn« (GA 4,168). Das Motiv, daß ein Pfaffe den Schweinen sittliche Besserung predigt, stammt aus Boccaccio. Vgl. Manfred Fuhrmann: Lizenzen und Tabus des Lachens - Zur sozialen Grammatik der helleni¬ stisch-römischen Komödie. In: Das Komische (Anm. 3) S. 65 (nach Northrop Frye). Erich Schmidt ermittelte das Totengespräch Demokrit von Johann Elias Schlegel als wahrscheinlich¬ ste Vorlage, das seinerseits eine Parodie des französischen Democrite von Mathurin Regnier (1573-1613) war; vgl. E. Sch.: Zu »Götter, Helden und Wieland«. In: Goethe-Jahrbuch 1 (1880) S. 378 f. Das setzen die Literaturgeschichten bis heute fort. So schreibt etwa Werner Kohlschmidt in seiner Darstellung Vom Barock bis zur Klassik: »Der Hauptangriffspunkt war die persönliche wie literari¬ sche Eitelkeit Wielands, daneben seine religiöse Heuchelei, die Beschränktheit seines Standpunktes, vor allem seine französierende Mißhandlung der Antike.« In: W. K.: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 2: Vom Barock bis zur Klassik. Stuttgart 1965. S. 543. - Erst Roger Ayrault rückte 1965 deutlich von dieser Linie ab; vgl. R. A.: Une »farce« de Goethe dans ses annees de Sturm und Drang: »Götter, Helden und Wieland«. In: Etudes Germaniques 20 (1965) S. 161-171. Literatur zu den Neuesten Offenbarungen Gottes: Gustav Frank: Dr. Carl Friedrich Bahrdt. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Aufklärung. In: Räumers Historisches Taschenbuch. Folge 4. Jg. 7 (1866) S. 203-370. - J. Collins: Prof. Carl Friedrich Bahrdt in Gießen. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins 5 (1894) S. 167-170. - Baldur Schyra: Goethes Verhältnis zu Carl Friedrich Bahrdt. In: Goethe. N. F. des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 27 (1965) S. 193-204. Im Zentrum stand lange Zeit Herder - wegen des Namens »Psyche«, den Caroline Flachsland im Darmstädter Kreis erhalten hatte, aber besonders wegen angeblicher eigener Ähnlichkeiten mit der Figur des Satyros. Doch wurden auch die folgenden Zeitgenossen Goethes als mögliche >Modelle< genannt: Johann Bernard Basedow, August Siegfried von Goue, Hamann, Christoph Kaufmann, Klopstock, Friedrich Wilhelm Riemer und Rousseau. Den letzten Identifizierungsversuch, den Freimaurer von Goue betreffend, machte Ferdinand Josef Schneider 1949; vgl. F. J. Sch.: Goethes »Satyros« und der »Urfaust«. Halle a. d.S. 1949. Vgl. Eduard Castle: »Pater Brey« und »Satyros«. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 5 (1918) S. 56-98.

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Martin Stern

18 Besonders wertvoll ist diesbezüglich die Untersuchung von F. J. Schneider (Anm. 16), der die Verwandtschaft der Kosmogonien in Urfaust und Satyros überzeugend herausarbeitet. - HansMartin Rotermund vermutete wegen der Nähe des Schwanks zu Goetheschen kosmogonischen Vorstellungen von 1770 eine frühere Entstehung, was aber hinfällig ist, wenn der selbstparodistische Aspekt beachtet wird; vgl. H.-M. R.: Zur Kosmogonie des jungen Goethe. In: Deutsche Viertel¬ jahrsschrift für Literatur- und Geistesgeschichte 28 (1954) S. 472-486. 19 Vgl. den Brief Goethes an Zelter vom 11.5.1820 (GA 21,392-394). 20 Vgl. meinen eigenen Deutungsversuch im Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 81/82/83 (1977/78/79) S. 89-102. 21 Die demokratischem Schlußverse »Drum treibs ein jeder wie er kann / Ein kleiner Mann ist auch ein Mann« (GA 4,243) wurden nach Ernst Beutlers Mitteilung ein Lieblingswort der Mutter Goethes (vgl. GA 4,1052). Der Prolog hinterließ auch Spuren in Schillers Prolog zum Wallenstein (vgl. Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 8. Weimar 1949. S. 361). 22 Zum Text der zweiten Fassung vgl. Goethes Werke. Hrsg, im Aufträge der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887ff. Abt. I. Bd. 16. S. 395-406. Diese Fassung wurde am 20.10. und 6.11.1778 in Ettersburg gespielt. 23 Vgl. etwa die Bemerkung von Georg Brandes: »Goethe hat diesen Scherz nach seiner bedauerlichen Gepflogenheit auf irreführende Art wieder und wieder umgearbeitet.« In: G. B.: Goethe. Berlin 1922. S. 97. 24 Goethes Esther-Spiel lehnte sich schon in seiner ersten Fassung an eine Tragödie gleichen Themas von Hans Sachs an. Der Stoff war vom 16. Jahrhundert an bei Schul- und Wanderbühnen beliebt. Vgl. Carl Engel [Hrsg.]: Deutsche Puppenkomödien. Bd. 6. Oldenburg 1874. 25 Dabei bleibt allerdings die Frage offen, warum es damals - 1773 - nicht wie praktisch alles andere veröffentlicht oder an Freunde weitergegeben worden ist. Zu Fischer-Lambergs These vgl. den Kommentar in: Der junge Goethe. Hrsg, von H. F.-L. Bd. 3. Berlin 1965. S. 451-453. Dort auf S. 148-160 auch das zweite Esther-Spiel. 26 Zum Text s. Goethes Werke (Anm. 22) Abt. I. Bd. 16. S. 41-56. - Zur Deutung vgl. Paul Weizsäcker: »Das Neueste von Plundersweilern.« Beiträge zur Erklärung einiger Stellen. In: Vierteljahrsschrift für Litteraturgeschichte 6 (1893) S. 67-78. - Walter H. Bruford: »Das Neueste von Plundersweilern.« Literature and society in 1781. In: Maske und Kothurn 10 (1964) S. 468-483. 27 Vgl. Günther Cwojdrak: Goethe, Hacks, Kruczkowski. In: Die Weltbühne 30 (1975) S. 1513-15. Ferner Ruth-Ellen Boetcher Joeres: Hereinspaziert! Hereinspaziert! Goethe and Hacks at the »Jahrmarktsfest zu Plunders weilern«. In: The Germanic Review 51 (1976) S. 259-277. 28 Vgl. Konrad Hämmerling: William Hogarth. Dresden 1950. S. 96f. 29 Eine genauere Angabe über Entstehung und geplante Fortsetzung, als sie die erhaltenen Manuskripte erkennen lassen, machte Goethe im 18. Buch von Dichtung und Wahrheit (GA 10,781-784). 30 Die unmittelbare Vorlage war nicht ein antiker Text, sondern ein von Christian Reuter 1695 veröffentlichtes, ebenso obszönes Singspiel Harleqvins Hochzeit-Schmauß; vgl. Reinhold Köhler: »Harlekins Hochzeit« und Goethes »Hanswursts Hochzeit«. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 20 (1876) S. 119-126. 31 Zur erst vor kurzem voll erkennbar gewordenen Bedeutung des jüdischen Philosophen für Goethe vgl. Martin Bollacher: Der junge Goethe und Spinoza. Studien zur Geschichte des Spinozismus in der Epoche des Sturms und Drangs. Tübingen 1969. 32 Zwar ist zu vermuten, daß Goethe Hans Sachs bereits in Leipzig in Gottscheds Nötigem Vorrat begegnete (dort als Negativ-Beispiel); das würde erklären, warum er sich schon in der verlorenen Satire auf Professor Christian August Clodius aus jener Zeit dieses Verses bedienen konnte, wie Dichtung und Wahrheit erinnert (GA 10,333f.). Aber zur >Offenbarung< wurden ihm der Meister und dessen Vers erst, als er im April 1773 in Darmstadt den Kemptener Quartdruck von 1612 in die Hände bekam; vgl. Max Herrmann: »Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern«. Berlin 1900. S. 73. Zu den verstechnischen Fragen vgl. David Chisholm: Goethe’s Knittelvers. A Prosodie Analysis. Bonn 1975. - Auf Goethes Huldigung im Gedicht Erklärung eines alten Holzschnittes vorstellend Hans Sachsens poetische Sendung (GA 2,103-108) und auf den Einleitungsprolog zu Johann Ludwig Deinhardsteins dramatischem Gedicht Hans Sachs (GA 3,679f.) kann hier nur hingewiesen werden. Sie zeigen beide, wie Goethes Verhältnis zum Nürnberger Meister nach dem Abklingen der Genieperiode historisch wurde. 33 Noch Heinrich Meyer behauptet in seiner 1951 erschienenen Monographie, die Schwänke - mit Ausnahme von Götter, Helden und Wieland - hätten »weder poetischen noch künstlerischen Wert«;

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Satiren Farcen und Selbstparodien

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vgl. H. M.: Goethe. Das Leben im Werk. Hamburg-Bergedorf 1951. Unveränd. Neuaufl. Stuttgart 1967. S. 115. Friedrich Gundolf sieht in den Schwänken insgesamt ein »eigenes Heilverfahren« Goethes; vgl. F. G.: Goethe. 9., unveränd. Aufl. Berlin 1920. S. 159. Vgl. Emil Staiger: Goethe. Bd. 1: 1749-1786. Zürich 1952. (Schwänke: S. 187-203.) Vgl. dazu Walter Müller-Seidel: Komik und Komödie in Goethes »Faust«. In: Das deutsche Lustspiel. Hrsg, von Hans Steffen. Bd. 1. Göttingen 1968. S. 94-119. Vgl. Walter Hinck: Komödie als »Nationalrepräsentation«. In: W. H.: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie. Stuttgart 1965. S. 358-379.

HANS-ALBRECHT KOCH

Die Singspiele

Goethe und das deutsche Singspiel Das deutsche Singspiel des 18. Jahrhunderts ist seiner Entstehung nach ein Amalgam aus den lustigen Zwischen- oder Nachspielen zu den Haupt- und Staatsaktionen der Komödiantentruppen und drei ausländischen musiktheatralischen Formen: der franzö¬ sischen Opera comique, der italienischen - aus Neapel stammenden, in Venedig aber mit Elementen der Commedia dell’arte angereicherten - Opera buffa und der engli¬ schen Bailad opera. Opera comique und Opera buffa sind von französischen und italienischen Schauspielergesellschaften im deutschen Sprachgebiet eingeführt worden. Alle drei Formen haben gemeinsam, daß sie sich parodistisch gegen die an den Hoftheatern gespielte große Oper richten, nach volkstümlicher Einfachheit streben und das Bedürfnis weiter Kreise nach leichten unterhaltenden Theaterstücken zu erfüllen suchen. Der Prozeß der Amalgamierung ist regional sehr verschieden verlaufen: In grober Näherung sind wenigstens zwei Entwicklungen voneinander zu unterscheiden, und zwar eine, die etwa 1715 in Wien beginnt und stark von der Opera buffa abhängt, und eine, die knapp dreißig Jahre später in Berlin einsetzt und sich zunächst an der Ballad opera, bald aber mehr an der Opera comique orientiert und deren Zentrum sich dann nach Leipzig verlagert. Die von beiden Entwicklungen hervorgebrachten Bühnen¬ stücke werden als >Singspiele< bezeichnet - mit einem Ausdruck, der schon im 18. Jahrhundert als Gattungsname, sei es im Untertitel der Stücke selbst, sei es in der theoretischen Literatur, aus der nur die Namen Christoph Martin Wieland und Ernst Christoph Dreßler hervorgehoben seien, wenig einheitlich verwendet worden und dessen befriedigende Präzisierung auch späterer Forschung nicht recht gelungen ist.1 Die Wiener Entwicklung reicht von den Hanswurstiaden Joseph Stranitzkys über die Singspielkomödien von Joseph Felix Kurz-Bernardon und über das 1778 von Joseph II. eröffnete »Teutsche Nationalsingspiel«, dessen größter Erfolg Mozarts Entführung aus dem Serail gewesen ist, bis zu den Zaubersingspielen der Wiener Vorstadtbühnen, die in der Zauberflöte kulminieren, und läuft aus in der Wiener Lokalposse.2 Die Berliner und Leipziger Entwicklung führt von der Übernahme englischer Gesangspossen im Gefolge der Beggar’s opera - 1743 wird mit deutschem Text, aber mit den Originalme¬ lodien The devil to pay or the wives metamorphos’d von Charles Coffey und John Mottley durch die Schauspielertruppe Johann Friedrich Schönemanns in Berlin aufge¬ führt - zur Ausbildung einer deutschen Operette, deren Wegbereiter als Textdichter Christian Felix Weiße, der Jugendfreund Lessings und Autor des Kinderfreunds, und als Komponist Johann Adam Hiller gewesen sind. Weiße hatte 1759/60 bei einem Aufenthalt in Paris die Chansons der Opera comique kennengelernt. 1766 hatte er für die Kochsche Schauspielertruppe noch einmal Die verwandelten Weiber bearbeitet, die mit einer neuen Musik von Hiller in Leipzig aufgeführt wurden. Die Chansontexte eigneten sich vorzüglich für die Gestaltung

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einfacher Gesellschaftslieder mit eingängigen Melodien, die das Publikum bald nachsin¬ gen konnte. Aus der Zusammenarbeit von Weiße und Hiller entstanden bis 1768 noch mehrere solcher - von den Zeitgenossen meist >Operetten< genannten - Singspiele, die in Leipzig mit großem Erfolg aufgeführt wurden. Das gemeinsame Kennzeichen all dieser Singspiele war, daß sie für singende Schauspieler, nicht für ausgebildete Sänger konzipiert waren, so daß der gesprochene Dialog hinter den Gesangseinlagen nicht in dem Maße zurücktrat, wie das später gelegentlich im Wiener Singspiel der Fall war. Die meisten dieser Operetten folgten Sujets der Opera comique und brachten das Landle¬ ben in empfindsamer Stilisierung auf die Bühne. Auch der Verzicht auf rezitativische Behandlung der Dialoge entsprach der Opera comique. 1768 mußte Gottfried Heinrich Koch mit seiner Truppe Leipzig unter dem Druck der Professorenschaft verlassen - ein später Triumph der Gottsched-Anhänger, in deren Programm einer Literaturreform das Singspiel als Genus mixtum keine Duldung fand und wechselte nach Weimar, wo er 1770 die erfolgreichste aller Hiller-Weißeschen Operetten spielte: Die Jagd, die Albert Lortzing noch 1830 einer Neubearbeitung wert fand. Die Jagd war der als Komponistin dilettierenden Herzogin Anna Amalia gewid¬ met, unter deren wohlwollender Teilnahme in Weimar eine Pflege des Singspiels begann, die Wieland auf einen ersten Höhepunkt führte und an die Goethe später anknüpfen konnte. Goethe hatte während seiner Leipziger Studentenzeit die Vorstellungen der Kochschen Truppe häufig besucht, war mit Hiller und Weiße persönlich bekannt geworden und hatte außerdem durch seine Besuche im Hause Breitkopf von den neuen musikalischen Bestrebungen erfahren. Die Opera buffa und die Opera comique waren ihm durch die Aufführungen der Truppe Theobald Marchands in Frankfurt längst geläufig. Aus einem Brief an seine Schwester Cornelia vom 27. Oktober 1766 wissen wir, daß Goethe sich bereits damals mit dem Plan zu einer »opera comique La sposa rapita« beschäftigte, von dem aber außer dem Titel nichts überliefert ist. Es scheint, daß Goethe sich nach diesem frühen Plan dem Operettengenre in produktiver Absicht erst wieder 1773 zugewandt hat. Anlaß dazu dürfte der freundschaftliche Umgang mit dem Offenbacher Seidenfabrikanten und Komponisten Johann Andre gewesen sein, mit dem Goethe durch Vermittlung Johanna Fahlmers oder Philipp Christoph Kaysers gerade zu dem Zeitpunkt zusammentraf, als Andres erste Operette mit dem Titel Der Töpfer in Frankfurt zur Aufführung anstand. Wahrscheinlich wollte Goethe auch in einem Operettenlibretto mit Wielands im Frühjahr 1773 erschienener Alceste wetteifern, auf die er im Herbst desselben Jahres zunächst mit der Farce Götter, Helden und Wieland reagiert hatte. Die etwa gleichzeitig beginnende Arbeit an Erwin und Elmire eröffnet die lange Reihe teils ausgeführter, teils Fragment gebliebener Werke, die aus Goethes jahrzehntelanger Beschäftigung mit Singspiel und Oper hervorgegangen sind. Sie führt zunächst von den in Anlehnung an die zeitgenössischen Operetten gestalteten Schauspielen mit Gesang Erwin und Elmire und Claudine von Villa Bella zu den für das Weimarer Liebhaber¬ theater geschaffenen Singspielen Lila, Der Triumph der Empfindsamkeit mit der Einlage Proserpina, Jery und Bätely und Die Fischerin. Sie umfaßt das dem Vorbild der Opera buffa angenäherte Singspiel Scherz, List und Rache und das von Mozarts Hochzeit des Figaro beeinflußte Fragment Die ungleichen Hausgenossen ebenso wie die Neufassung von Erwin und Elmire und Claudine von Villa Bella im Stil der italieni-

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sehen Oper mit ihren Rezitativen. Zu ihr gehören ferner ein Opernfragment Circe und die nicht vollendete Fortsetzung der Schikanederschen Zauberflöte sowie der Plan zu den Mystifizierten. (Unter diesem Titel sollte der spätere Groß-Cophta ursprünglich ein Singspiel werden.) Genannt seien schließlich noch die späten Ansätze zu einer orientalischen Oper Feradeddin und Kolaila. Die genannten Werke überspannen mehr als vierzig Jahre und begleiten in ihrer Mehrzahl die Arbeit am Faust, auf dessen Vertonung Goethe eine Zeitlang gehofft hatte. Dem Zeugnis eines Briefes Otto Heinrich von Loebens an Justinus Kerner vom 29. August 1814 zufolge hat Goethe vielleicht sogar Beethoven bei der Begegnung in Teplitz eine Bearbeitung des Faust für die Komposition in Aussicht gestellt.3 Noch im Gespräch mit Eckermann vom 12. Februar 1829 heißt es zur Komposition des Faust: »>Ich habe einen Brief von ihm [Zelter]er schreibt unter andern, daß die Aufführung des Messias ihm durch eine seiner Schülerinnen verdorben sei, die eine Arie zu weich, zu schwach, zu sentimental gesungen. Das Schwache ist ein Charakterzug unsers Jahrhunderts [...] Maler, Naturforscher, Bildhauer, Musiker, Poeten, es ist, mit wenigen Ausnahmen, alles schwach, und in der Masse steht es nicht bessere >Dochgebe ich die Hoffnung nicht auf, zum Faust eine passende Musik kommen zu sehen.< >Es ist ganz unmöglich*, sagte Goethe. >Das Abstoßende, Widerwärtige, Furchtbare, was sie stellenweise enthalten müßte, ist der Zeit zuwider. Die Musik müßte im Charakter des Don]uan sein; Mozart hätte den Faust komponieren müssen. Meyerbeer wäre vielleicht dazu fähig, allein der wird sich auf so etwas nicht einlassen; er ist zu sehr mit italienischen Theatern verflochten.«*4 Zu einer Zusammenarbeit Goethes mit einem der hervorragenden Komponisten seiner Zeit ist es nicht gekommen. Die Musik Franz Schuberts, der ihm Liedkompositionen zugeschickt hatte, blieb ihm fremd. Goethe scheint weder die Vertonung der Claudine von Villa Bella aus dem Jahre 1815 noch die Komposition einer Arie aus den Ungleichen Hausgenossen durch Schubert gekannt zu haben. Als sich Schuberts Vertonung von Goethe-Liedern dem Dichter bei einem Vortrag der Erlkönig-Ballade durch Wilhelmine Schröder-Devrient 1830 zum erstenmal erschloß, war Schubert schon nicht mehr am Leben. Nach dem Vortrag äußerte Goethe: »Ich habe diese Komposition früher einmal gehört, wo sie mir gar nicht Zusagen wollte, aber so vorgetragen, gestaltet sich das Ganze zu einem sichtbaren Bild.«5 So beschränkte sich die von Goethe immer wieder gesuchte Zusammenarbeit mit Komponisten auf eine solche mit zwar achtenswerten, aber keineswegs genialen Musikern wie den Freunden Johann Andre und Philipp Christoph Kayser, die Goethe noch in Frankfurt kennengelernt hatte. Gerade Kayser drängte Goethe immer wieder zur Komposition seiner Singspieldichtungen. Die Verbindung blieb eng, auch als Kayser seinen Wohnsitz nach Zürich verlegt hatte. Von der Zusammenarbeit mit Kayser erhoffte Goethe sich lange Zeit den Durchbruch des deutschen Singspiels - bis dieser endlich nach Goethes eigener Äußerung durch Mozarts Entführung aus dem Serail gelang. Goethe, der Kayser nach Wien schicken wollte, damit er sich im Umgang mit Gluck schulen sollte, überforderte den mit wenig Selbstvertrauen ausgestatteten Freund mit seinen Ansprüchen ganz offensichtlich. Goethes Interesse für Gluck und die Choroper war durch Johann Friedrich Reichardt

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geweckt worden, der unter Friedrich dem Großen und Friedrich Wilhelm II. in Berlin als Hofkapellmeister tätig war und außer Goethe-Liedern auch Erwin und Elmire, Claudine von Villa Bella und Jery und Bätely vertont und eine Bühnenmusik zum Faust geschrieben hatte. Der zunächst enge Kontakt zwischen Goethe und Reichardt war durch dessen offene Sympathien für die Ideen der Französischen Revolution eine Zeitlang getrübt. Zu erneuter Annäherung kam es wieder, als Goethe sich für die literarischen Arbeiten der Romantik zu interessieren begann und Reichardt 1802 auf dessen Landsitz in Giebichenstein bei Halle aufsuchte, wo unter anderen Dichtern auch Eichendorff und Tieck verkehrten. Die Freundschaft Goethes mit Reichardt hatte die Weimarer Schauspielerin Corona Schröter vermittelt, die selbst Goethe-Texte, so auch Die Fischerin, vertont hatte. Außer Corona Schröter komponierten in Weimar als Dilettanten noch die HerzoginMutter Anna Amalia und der Kammerherr Siegmund von Seckendorff.6 Der entscheidende Grund für das Ausbleiben der Zusammenarbeit mit einem der großen Komponisten wie Beethoven oder Schubert dürfte Goethes unsicheres und unselbständiges Urteil in musikalischen Fragen gewesen sein. Wie leicht Goethe in dieser Hinsicht zu beeinflussen war, zeigt sich besonders deutlich etwa daran, daß Carl Friedrich Zelter seine Vorbehalte gegen Beethoven ohne Mühe dem Dichter vermitteln konnte. Viel, häufig zu viel gab Goethe im Alter auf die Ansichten dieses >Ratgebersmodernen< musikalischen Bestrebungen der Zeit einzunehmen trachtete. Erst die helfende und vor allem die fordernde Teilnahme eines anspruchsvollen Musikers, wie sie der als Librettist erfolgreichere Hugo von Hofmannsthal später bei Richard Strauss gefunden hat, hätte Goethes Singspieldichtungen eine über den Tag hinausreichende Wirkung auf musikdramatischem Gebiet zu geben vermocht. So aber liegt die Bedeutung dieser Gelegenheitsarbeiten wohl mehr in den Anregungen, die zahlreiche spätere Komponisten für die Vertonung einzelner Stücke - etwa der Romanze Das Veilchen oder der Ballade Der Erlkönig - aus ihnen gezogen haben, und in der gleichsam katalysatorischen Funktion, die einzelne der Singspieltexte für andere Arbeiten Goethes gehabt haben: hervorgehoben sei etwa die Übertragung stofflicher Elemente und einzelner Motive aus der Zauberflöten-Fortsetzung in die Faust-Dich¬ tungAis eine späte Wirkung der Goetheschen Singspieldichtung mag man die Rechtferti¬ gung ansehen, die Hofmannsthal aus Goethes Librettistentätigkeit für seine eigenen Arbeiten für das Musiktheater gezogen hat. Ganz in die ästhetische Terminologie Goethes verfällt Hofmannsthal, wenn er über dessen Singspiele schreibt: »Werfen wir einen glücklichen, nicht seelenlosen Blick auf diese >NebenwerkeRäuberromantik< bühnenfähig geworden ist. Stehen doch in ihrer Nachfolge nicht nur Schillers Räuber, sondern auch noch Opern wie Conradin Kreutzers Nachtlager von Granada und Bizets Carmen. In einem der Schemata zu Dichtung und Wahrheit von 1816 schrieb Goethe: »Claudine von Villa Bella war früher fertig geworden, als ich, im Gegensatz von den Handwerks-Opern, romantische Gegenstände zu bearbeiten trachtete und die Verknüpfung edler Gesin¬ nungen mit vagabundischen Handlungen als ein glückliches Motiv für die Bühne

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betrachtete, das zwar in spanischen Gedichten nicht selten ist, aber uns neu war zu jener Zeit, jetzt aber oft gebraucht, ja verbraucht worden.«16

Lila Durch den Schloßbrand 1774 war auch das Weimarer Schloßtheater vernichtet worden. Mitglieder des Hofes und Weimarer Bürger gründeten zum Ersatz das Herzogliche Liebhabertheater. Für diese Bühne schrieb Goethe im Dezember 1776 ein »Feenspiel«, das am 30. Januar 1777 mit der Musik von Siegmund von Seckendorff zum Geburtstag der Herzogin Luise aufgeführt wurde. Ob diese Urfassung, von der nur einige Bruchstücke (Feenchöre, Gesänge der Feen Almaide und Sonna) erhalten sind, bereits den Titel Lila tragen sollte, ist ungewiß. Von den späteren Fassungen unterscheidet sich die erste dadurch, daß in ihr der Mann durch die Trennung von der Geliebten in hypochondrische Verdüsterung geraten ist, aus der er in die tätige Gemeinschaft der Menschen zurückgebracht werden soll. Eine zweite Fassung von fünf Akten wurde im Februar 1788 fertig, und im gleichen Jahr überarbeitete Goethe das Werk in Italien noch einmal und zog die Handlung dabei auf vier Akte zusammen. In dieser Form erschien das Drama 1790 im 6. Band der Schriften. In der zweiten Fassung handelt es sich nicht mehr um die Heilung einer Hypochondrie, sondern einer tiefen Melancholie - der empfindsamen Werther-Krankheit vergleichbar -, die in Wahnsinn umschlägt, so daß Lila »>das Wahre als Gespenst verdächtige wird, »während für sie die Bilder und Gestalten ihrer Phantasie zur eigentlichen Wirklichkeit werden«.17 Formal vereinigt die zweite Fassung Elemente des Feen- und des Festspiels. Die erneute Umarbeitung in Italien ist gekennzeichnet durch eine stärkere Hervorhebung der Rolle Friedrichs, durch die Verknüpfung des Liebesschicksals des zweiten Paares mit Lilas Heilung, auf die hin so die Rollen aller Beteiligten konzentriert werden, durch die Einführung der beiden Rückschläge in Lilas Heilung, durch die psychologische Vertiefung der Rolle der Fee Almaide und schlie߬ lich ganz wesentlich durch die Ausgestaltung der Rolle des Doktor Verazio, der »als phantasievoller Regisseur den Verlauf des Psychodramas überwacht [...] Erst jetzt verdient der Magus durch seine ärztliche Erfahrung und persönliche Ausstrahlungs¬ kraft den Namen eines Psychotherapeuten; erst jetzt ist er nicht nur Partner im gesprochenen Dialog, sondern hat als Sänger die gehaltvollste Arie vorzutragen.«18 Die ältere Forschung pflegte das Stück als eine Anspielung auf das gespannte Verhältnis Karl Augusts zu Luise zu nehmen und es gleichsam als einen »Erziehungsversuch Goethes an dem jungen Herzogspaar zu deuten. Brown vermochte demgegenüber Ansätze Pniowers aus der Einleitung zum 8. Band der Jubiläumsausgabe weiterführend - nachzuweisen, daß Goethe in Lila mindestens ebensosehr seine Beziehung zu Charlotte von Stein im Sinn hatte, woraus sich auch zwanglos erklären würde, daß in der ersten Fassung der Mann an Verdüsterung leidet.183 In den Namen des Stücks sind zahlreiche Anspielungen versteckt: Mit »Sternthal« meinte Goethe sich selbst, wohnte er doch am »Stern«, »Altenstein« war leicht auf Charlottes Mann zu beziehen. Im Spiel stellt Altenstein den Oger dar; dazu paßt, daß Goethe in einem Brief an Charlotte vom 3. Januar 1777 schrieb: »Grüßen Sie den Freund Oger« und damit den Oberstallmeister von Stein meinte. Auch der Name der Fee Sonna aus der ersten Fassung deutet auf

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Charlotte von Stein, für die Goethe in seinen Tagebüchern als Chiffre das astronomi¬ sche Zeichen für die Sonne, den Punkt im Kreis, verwendete. Dies alles schließt natürlich nicht aus, daß Goethe die Doppeldeutigkeit des Werks, die den weniger Eingeweihten manche Anspielung auf Karl August und Luise beziehen ließ, durchaus willkommen war. Weitere Bezugspunkte zu Goethes Biographie hat Karl Robert Eissler in seiner umfassenden psychoanalytischen Studie zu Goethe,19 die in der Forschung bislang nur unzureichend rezipiert wurde, namhaft machen können. Wahrscheinlich spiegelt Lila auch Verhältnisse im Kreis der Darmstädter Empfindsamen, denen Goethe eine Zeitlang nahestand und zu denen die Weimarer Herzogin Luise durch ihre Herkunft Verbindung hatte. Caroline Flachsland, Luise Henriette Friederike von Ziegler und Henriette von Rousillon wurden in diesem Kreis Psyche, Lila und Urania genannt, Goethe selbst der Wanderer. An Luise von Ziegler war Goethes Gedicht Pilgers Morgenlied gerichtet. Anregungen für die Gestalt des Doktor Verazio mögen von Goethes Bekanntschaft mit dem am Darmstädter Hof als Erzieher und Psychologe wirkenden Franz Michael Leuchsenring ausgegangen sein. »Goethe was full of anger and contempt for him and satirized him in two plays, Das Jahrmarkts fest zu Plunders¬ weilern and Ein Fastnachtsspiel vom Pater Brey. But in Weimar Goethe found himself in exactly the position that Leuchsenring held at Darmstadt. Now Goethe too was informed of many intimate secrets and the threads of behind-the-scenes court life came together in his hand [. ..] Thus Lila was also a programmatic justification of what Goethe thought one of his functions at court to be. In the first Version the passive desire was apparently shown undisguised. In the second version, traces of passivity Step into the background. That to which he had to submit in his relationship to Charlotte von Stein is now presented as a part of his own ideal of activity. As the ensuing Plessing20 episode demonstrates, Goethe was not ready for such activity at that time. Nor did he succeed in straightening out the difficulties that lay between the Duke and the Duchess.«21 Von Gewicht ist auch Eisslers Hinweis auf den möglichen Zusammenhang der zweiten Lila-Fassung mit dem Tod von Goethes Schwester Cornelia am 7. Juni 1777, der die Hervorhebung von Lilas Stellung als Schwester erklären könnte. »In this play the emphasis is upon the desire to restore the sister’s health and to have her live with the none-too-interesting Baron von Sternthal. The wish to possess the sister has been changed to the wish to heal her, which indicates a loosening of the object¬ relationship in favor of narcissistic elements without a total giving up of the love-object. Since Goethe probably divined the connection between Cornelia’s breakdown and her Separation from him, one may surmise that the content of Lila’s delusion - namely that her husband is kept a captive of evil spirits - is a depiction of the way Cornelia, in Goethe’s imagination, feit about his stay in Weimar.«22 Die erwähnten biographischen Bezüge dürften für Lila von größerer Bedeutung gewesen sein als literarische Quellen, unter denen für einige Einzelheiten des Stoffes das Drama L’Hypochondriaque, ou le Mort Amoureux von Jean de Rotrou aus dem Jahre 1629 in Betracht kommen könnte, das Goethe wohl zur Gänze im Original und nicht, wie häufig angenommen, nur aus der Zusammenfassung im 1768 erschienenen 2. Band der Bihliotheque du Thedtre Frangois depuis son Origine gekannt haben dürfte.23 In diesem Stück hält sich der Geliebte nach der falschen Nachricht vom Tode seiner Geliebten selbst für tot, wird aber von seinem Wahn geheilt, indem vor seinen Augen

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scheinbar tote Personen durch Musik wieder zum Leben erweckt werden. Dieses >musiktherapeutische< Motiv, das besonders in der Tanzszene mit dem Oger zur Wirkung kommt, verbindet Lila mit der Fortsetzung der Zauberflöte, in der Papagenos Flöte gleichfalls eine belebende Funktion hat. Auch die Grundsituation beider Stücke ist ähnlich: Ein munterer Hof versucht, ein trauerndes und in seiner Trauer voneinan¬ der geschiedenes Herrscherpaar wieder zueinanderzuführen. In beiden Stücken kommt die Rettung von einem weisen Mann. Zahlreiche Anregungen erhielt Goethe ferner von der Lektüre der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, die er in Antoine Gallands französischer Übersetzung las.24 Von besonderer Wichtigkeit ist die Histoire de Cedadad et de ses freres, doch sind Motive wie Quacksalberei, Gefangenschaft der Prinzes¬ sin, Dämonen usw. auch aus anderen Erzählungen der Sammlung kontaminiert. Für die Spinnrad-Motive ist die Herkunft aus Antoine Hamiltons Contes de Feerie si¬ cher. Die zweite Fassung des Stücks vertonte Friedrich Ludwig Seidel. 1818 wurde Lila in dieser Komposition in Berlin im Opernhaus Unter den Linden aufgeführt. Seidel hatte Goethe schon 1815 von seiner Komposition und der Absicht einer Aufführung unterrichtet. Goethe riet damals ab und schrieb am 3. Februar 1816: »Das Stück, wie es gegenwärtig vorliegt, ist vor vielen Jahren aus dem Stegreife geschrieben, um von einer eben vorhandenen Gesellschaft von Liebhabern ohne große Umstände aufgeführt zu werden. Wenn es aber gegenwärtig auf einem großen Theater erscheinen und Effect machen sollte, so müßte man das Personal gleichfalls kennen und das Stück darnach umarbeiten. Um dieses zu thun, fehlt es mir an Zeit und an Stimmung: denn das Theater hat, nachdem dieses Stück geschrieben worden, zwei ähnliche Opern erhalten, nemlich Nina25 und neuerlich die Schweizerfamilie26. Beide sind auch psychische Curen eines durch Liebesverlust zerrütteten Gemüths, und diese zu überbieten gehörte großer Aufwand an Erfindung und Ausführung.« Als die Berliner Oper auf der Aufführung beharrte, gab Goethe zwar noch eine Reihe von Hinweisen für die szenische Einrich¬ tung, konnte aber den befürchteten Mißerfolg nicht verhindern.

Jery und Bätely Den Anstoß zu dem kleinen Singspiel Jery und Bätely27 erhielt Goethe im Herbst 1779, als er auf der Rückreise aus der Schweiz den als Zeitvertreib und Volksbelustigung beliebten Zweikampf junger Leute beobachtete. Er schickte Kayser den Text am 29. Dezember zusammen mit einem Brief, der wegen der Bemerkungen zur Typologie der Musikeinlagen auch für die Theorie des Singspiels im 18. Jahrhundert von Interesse ist, zu der Goethe sich - im Gegensatz zu Wieland - nur selten geäußert hat: »Ich schicke Ihnen hier, lieber Kayser, eine Operette, die ich unterwegs für Sie gemacht habe. Es sind die allereinfachsten Umrisse, die Sie nunmehr mit Licht, Schatten und Farben herausheben müssen, wenn sie frappiren und gefallen sollen [...] Sie werden ohne meine Erinnerung sehen, daß es mir drum zu thun war, eine Menge Gemüthsbewegungen in einer lebhaft fortgehenden Handlung vorzubringen und sie in einer solchen Reihe folgen zu lassen, daß der Componist sowohl in Übergängen als Contrasten seine Meisterschaft zeigen kann. Hierüber Mehreres, wenn Sie mir selbst erst Ihre Gedanken geschrieben haben. Nur eins muß ich noch vorläufig sagen: ich bitte Sie,

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darauf Acht zu geben, daß eigentlich dreierlei Arten von Gesängen drinne Vor¬ kommen. Erstlich Lieder, von denen man supponiret, daß der Singende sie irgendwo auswendig gelernt und sie nun in ein und der andern Situation anbringt. Diese können und müssen eigne, bestimmte und runde Melodien haben, die auffallen und jedermann leicht behält. Zweitens Arien, wo die Person die Empfindung des Augenblicks ausdrückt und, ganz in ihr verloren, aus dem Grunde des Herzens singt. Diese müssen einfach, wahr, rein vorgetragen werden, von der sanftesten bis zur heftigsten Empfindung. Melodie und Accompagnement müssen sehr gewissenhaft behandelt werden. Drittens kommt der rhythmische Dialog, dieser gibt der ganzen Sache die Bewegung, durch diesen kann der Componist die Sache bald beschleunigen, bald wieder anhalten, ihn bald als Declamation in zerrissnen Tacten tractiren, bald ihn in einer rollenden Melodie sich geschwind fortbewegen lassen. Dieser muß eigentlich der Stellung, Handlung und Bewegung des Acteurs angemessen sein, und der Componist muß diesen immerfort vor Augen haben, damit er ihm die Pantomime und Action nicht erschwere. Dieser Dialog, werden Sie finden, hat in meinem Stück fast einerlei Sylbenmaß, und wenn Sie so glücklich sind, ein Hauptthema zu finden, das sich gut dazu schickt, so werden Sie wohl thun, solches immer wieder hervor kommen zu lassen und nur durch veränderte Modulation, durch Major und Minor, durch angehaltenes oder schneller fortgetriebenes Tempo die einzelnen Stellen zu nüanciren. Da gegen das Ende meines Stücks der Gesang anhaltend fortgehen soll, so werden Sie wohl verste¬ hen, was ich sage; denn man muß sich alsdenn in Acht nehmen, daß es nicht gar zu bunt wird. Der Dialog muß wie ein glatter goldner Ring sein, auf dem Arien und Lieder wie Edelgesteine aufsitzen. Es versteht sich, daß ich hier nicht von dem vordem prosai¬ schen Dialog rede, denn dieser muß nach meiner Intention gesprochen werden, ob Ihnen gleich frei bleibet, nach Gefallen hier und da Accompagnement einzuweben.« Trotz eines weiteren Briefs an Kayser vom 20. Januar 1780, in dem Goethe seine Vorgaben an den Komponisten noch einmal detailliert erläuterte, kam Kayser mit der Aufgabe nicht zurecht, so daß Goethe den Text Seckendorff zur Komposition übergab. Nachdem die Rolle von Bätelys Mutter noch rasch in die Männerrolle von Bätelys Vater umgeschrieben worden war, da der Weimarer Liebhaberbühne eine Altistin fehlte, wurde das Stück am 12. Juli 1780 mit Corona Schröter in der weiblichen Titelpartie gegeben. Die Absicht, auch Jery und Bätely in Italien für die Ausgabe der Schriften neu herzurichten, verwirklichte Goethe erst nach der Heimkehr. Im Gegensatz zu der allgemeinen Tendenz seiner Überarbeitungen der Singspiele verwandelte Goethe dabei ursprünglich versifizierte Dialogpartien in Prosa. Der wahrscheinliche Grund dafür war, daß Kayser und Seckendorff die Erwartungen nicht erfüllen konnten, die Goethe in dem zitierten Brief für die Behandlung des rhythmischen Dialogs< geäußert hatte. Kayser war überdies inzwischen auch mit der Komposition von Scherz, List und Rache gescheitert, in der auf die Rezitative ebenfalls viel ankommen sollte. In neuen Vertonungen von Reichardt und Peter von Winter wurde dann Jery und Bätely später sehr erfolgreich in Weimar, Wien und Berlin aufgeführt. Zu diesen späten Erfolgen trugen das Interesse an >Schweizer-Stücken< bei, das durch Schillers Wilhelm Teil entfacht war, und die Eigenschaft des »le naturel et le simple« der Fabel, was

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Goethe 1832 gegenüber Frederic Soret hervorhob, nachdem eine französische Überset¬ zung von Jery und Bätely den Beifall des Pariser Publikums gefunden hatte.28

Die Fischerin In seinen Tagebucheintragungen notierte Goethe unter dem 5. August 1781: »Zu Cronen.29 Die Arien zu der Fischerin30 berichtigt.«31 Eine Woche, bevor das Stück am 22. Juli 1782 mit der Musik von Corona Schröter aufgeführt wurde, sandte Goethe den frischen Druck an Caroline Herder mit einem Versbrief: »Diess kleine Stück gehört, so klein es ist, Zur Hälfte Dein, wie Du beim ersten Blick Erkennen wirst, gehört Euch beiden zu, Die Ihr schon lang für Eines geltet. Drum Verzeih’, wenn ich so kühn und ohngefragt, Und noch dazu vielleicht nicht ganz geschickt, Was er dem Volke nahm, dem Volk zurück Gegeben habe.« Die Verse spielen auf die Volkslieder in der Fischerin an, die Goethe aus Herders Volksliedersammlung in überarbeiteter Form übernommen hat: das englische Lied Es war ein Ritter, das wendische Hochzeitslied Wer soll Braut sein?, zu dem Goethe eine Schlußstrophe ergänzte, das dänische Lied vom Wassermann O Mutter, guten Rat sowie das schon einmal von Lessing im 33. der Briefe, die neueste Literatur betreffend mitgeteilte litauische Brautlied Ich hab’s gesagt schon meiner Mutter. Schließlich hatte Herders Übertragung einer dänischen Vorlage die Anregung zu der 1776 entstandenen Ballade Der Erlkönig gegeben, mit der Dortchen zu Beginn des Stücks auftritt. Von den mehr als zwanzig Komponisten, die diese Ballade vertont haben, seien wenigstens genannt: Beethoven, Carl Loewe, Giacomo Meyerbeer, Schubert, Friedrich Silcher, Louis Spohr und Zelter. Das Stück, bei dessen Aufführung die Komponistin die Partie von Dortchen über¬ nahm, war ganz auf die Verhältnisse der Tiefurter Bühne angelegt. Über die Auffüh¬ rung berichtete Goethe am 27. Juli 1782 an Knebel: »Da Du das Locale so genau kennst, wirst Du Dir beim Lesen den schönen Effect denken können. Die Zuschauer sassen in der Mooshütte, wovon die Wand gegen das Wasser ausgehoben war. Der Kahn kam von unten heraus pp. Besonders war auf den Augenblick gerechnet, wo in dem Chor die ganze Gegend von vielen Feuern erleuchtet und lebendig von Menschen wird.« Eine entsprechende Anmerkung nahm Goethe in den Druck im 7. Band der Ausgabe bei Cotta (1807) auf. Auf die zitierte Äußerung gründet die Vermutung, daß die Idee zur Fischerin, über deren Entstehungsgeschichte nichts Genaues bekannt ist, Goethe am Abend des 22. August 1778 bei der Illumination der Ilmufer für die Herzogin Anna Amalia gekommen sei.

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Scherz, List und Rache 1784 faßte Goethe den Entschluß, mit Kayser zusammen ein Singspiel in der Art der Opera buffa zu schaffen.32 Mehrere Jahre hindurch korrespondierten beide über das neue Singspiel und erörterten die Details der Ausführung. So schrieb Goethe am 25. April 1785: »Ich habe im Recitativ weder den Reim gesucht, noch gemieden. Deßwegen ist es meist ohne Reim, manchmal aber kommen gereimte Stellen in demselben vor, besonders wo der Dialog bedeutender wird, wo er zur Arie übergeht, da denn der Reimanklang dem Ohre schmeichelt. Weiter ist keine Absicht dabei, und gedachte Stellen bleiben deßwegen immer Recitativ, der Componist mag sie nachher trocken oder begleitet ausführen. Eben so zeichnet sich, was nach meiner Absicht melodischer Gesang sein sollte, durch den Rhythmus aus, wobei dem Componisten frei bleibt, bei einigen Arien zu verweilen und sie völlig auszubilden, andre nur als Cavatinen pp. vorübergehen zu lassen, wie es der Charakter der Worte und der Handlung erfordert. Sollten Sie aber da, wo ich Recitativ habe, eine Arie und, wo ich Arie habe, ein Recitativ schicklicher finden, so müßten Sie mir es erst schreiben, damit die Stelle gehörig verändert würde. Überhaupt wünschte ich, daß Sie mir von Zeit zu Zeit schrieben, wie Sie das Stück zu behandlen gedächten, besonders wenn Sie es einmal im Ganzen überlegt und wegen kluger Vertheilung des musikalischen Interesse sich einen Plan gemacht haben. So sind z. E., obgleich das Stück auf Handlung und Bewegung gerichtet ist, an schicklichen Orten dem Gesang die schuldigen Opfer gebracht. Wie die Arien: Hinüber, hinüber! pp. Sie im tiefen Schlaf zu stören, p. O kannst du noch Erbarmen, p. Eben so steht der Gesang: Nacht o holde! zu Anfang des vierten Acts als das, in den letzten Acten der italienischen Stücke beliebte und hergebrachte, Haupt-Duett da, u.s.w., und tausend solcher Absichten von Anfang bis zu Ende, die Sie alle wohl ausstudiren werden.« Am 20. Juni riet Goethe Kayser: »Als ich das Stück schrieb, hatte ich nicht allein den engen Weimarischen Horizont im Auge, sondern den ganzen deutschen, der doch noch beschränkt genug ist. Die drei Rollen, wie sie stehen, verlangen gute, nicht außerordentliche Schauspieler; eben so wollte ich, daß Sie den Gesang bearbeiteten, für gute, nicht außerordentliche Sänger. Discant, Tenor und Baß, und was in dem natürlichen Umfang dieser Stimmen von einem Künstler zu erwarten ist, der ein glückliches Organ, einige Methode und Übung hat [...] Denken Sie sich alles als Pantomime, als Handlung, eben als wenn Sie ohne Worte mehr thun müßten, als Worte thun können. Die Alten sagten: saltare comoediam. Hier soll eigentlich saltatio sein. Eine anhaltend gefällige, melodische Bewegung von Schalkheit zu Leidenschaft, von Leidenschaft zu Schalkheit.« In diesen Anweisungen an den Komponisten ist der Einfluß von Wielands singspiel¬ theoretischen Veröffentlichungen spürbar, der die Aktion als drittes gleichwertiges Element des Singspiels neben Poesie und Musik hervorgehoben und auf die Bedeutung

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der Beschränkung in Sujet und Personal hingewiesen hat, damit die Gattung Singspiel nicht nur an den gut ausgestatteten Hoftheatern, sondern mit geringem Aufwand auch vor den Bürgern jeder mittleren deutschen Stadt gespielt werden könne.33 In Scherz, List und Rache kam Goethe Wielands Absichten, das Singspiel als eine Kunstform des Bürgertums zu etablieren, am nächsten. Über Kaysers angefangene Komposition äußerten sich zwar Herder, Einsiedel und Wieland durchaus lobend gegenüber Goethe. Aber noch vor dem Abschluß sah Goethe in Weimar Mozarts Singspiel Entführung aus dem Serail, dessen Musik sich Goethe nach wiederholten Besuchen der Aufführung erschloß. Zwar schien er im Winter 1785/ 1786 noch nicht davon überzeugt, daß durch die Entführung sein und Kaysers gemein¬ samer Plan hinfällig geworden sei. Goethe berichtete dem Komponisten noch am 23. Januar 1786 über die Anregung zur freieren Behandlung der Rhythmen, die er aus Glucks Kompositionen Klopstockscher Gesänge empfangen hatte, und trieb Kayser im Februar zur Eile an. Ernsthafte Zweifel an der Vollendung der gemeinsamen Arbeit finden sich - trotz des gegenteiligen Wortlauts - in Goethes Brief vom 5. Mai 1786: »Gewiß, ich bin Ihnen recht viel Dank schuldig, an einem glücklichen Ende zweifle ich nicht und wünsche nur eine glückliche Aufführung. Ihre Gedanken über meine Vorschläge, das Stück zu produciren, erwarte ich und habe noch so tausenderlei zu sagen. Wenn nur das Schreiben nicht so eine halbe Sache wäre. Acht Tage Gegenwart würde ein schöner Genuß, ein schöner Vortheil sein. Hätt’ ich die italienische Sprache in meiner Gewalt wie die unglückliche teutsche, ich lüde Sie gleich zu einer Reise jenseits der Alpen ein, und wir wollten gewiß Glück machen. Leben Sie wohl, Sie einziger aus meiner Jugend Überbliebner, in unglaublicher Stille Herangewachsner.« Zu dem erhofften Zusammensein kam es, als Kayser Goethe im Herbst 1787 in Rom besuchte. Damals erkannte Goethe, daß seine Freundschaft zu Kayser als dem »einzi¬ gen aus [seiner] Jugend Überbliebnen« ihn über dessen Leistungsfähigkeit getäuscht hatte, und erst in der Rückschau der Italienischen Reise rechtfertigte Goethe den Fehlschlag des gemeinsamen Unternehmens mit der bekannten Äußerung über Die Entführung aus dem Serail: »Man vergegenwärtige sich jene sehr unschuldige Zeit des deutschen Opernwesens, wo noch ein einfaches Intermezzo, wie die Serva Padrona von Pergolese, Eingang und Beifall fand. Damals nun producirte sich ein deutscher Buffo Namens Berger, mit einer hübschen, stattlichen, gewandten Frau, welche in deutschen Städten und Ortschaften, mit geringer Verkleidung, und schwacher Musik, im Zimmer, mancherlei heitere aufregende Vorstellungen gaben, die denn freilich immer auf Betrug und Beschämung eines alten verliebten Gecken auslaufen mochten. Ich hatte mir zu ihnen eine dritte mittlere, leicht zu besetzende Stimme gedacht, und so war denn schon Vorjahren das Singspiel Scherz, List und Rache entstanden, das ich an Kaysern nach Zürich schickte, welcher aber, als ein ernster gewissenhafter Mann, das Werk zu redlich angriff und zu ausführlich behandelte. Ich selbst war ja schon über das Maß des Intermezzo hinausgegangen, und das kleinlich scheinende Sujet hatte sich in so viel Singstücke entfaltet, daß selbst bei einer vorübergehenden sparsamen Musik drei Personen kaum mit der Darstellung wären zu Ende gekommen. Nun hatte Kayser die Arien ausführlich nach altem Schnitt behandelt, und man darf sagen, stellenweise glücklich genug, wie nicht ohne Anmuth des Ganzen.

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Allein wie und wo sollte das zur Erscheinung kommen? Unglücklicherweise litt es, nach frühem Mäßigkeitsprincipien, an einer Stimmenmagerkeit; es stieg nicht weiter als bis zum Terzett, und man hätte zuletzt die Theriaksbüchsen des Doctors gern beleben mögen, um ein Chor zu gewinnen. Alles unser Bemühen daher, uns im Einfachen und Beschränkten abzuschließen, ging verloren, als Mozart auftrat. Die Entführung aus dem Serail schlug alles nieder, und es ist auf dem Theater von unserm so sorgsam gearbeiteten Stück niemals die Rede gewesen.«34 Im Herbst 1789 dachte Kayser noch einmal für kurze Zeit an eine Umarbeitung. Seine in der Italienischen Reise mitgeteilten Gründe für das Scheitern wiederholte Goethe in einer Eintragung in den Tag- und Jahres-Heften 1819 noch einmal. Vertont wurde das Stück, ohne daß es zur Aufführung gelangte, 1801 oder 1802 auch von E. T. A. Hoffmann.

Der Zauberflöte Zweiter Teil Am 16. Januar 1794 wurde Die Zauberflöte in Weimar zum erstenmal auf geführt. Für diese Aufführung hatte Goethes Schwager Vulpius den Text Emanuel Schikaneders in sehr nachteiliger Weise bearbeitet. Die Zauberflöte wurde auf dem Weimarer Hoftheater, bis Goethe 1817 dessen Leitung niederlegte, insgesamt 89mal gespielt.35 Den großen Eindruck, den diese Oper auf Goethe machte, dokumentieren zahlreiche Äußerungen des Dichters und viele Stellen in seinen Werken. Nach fast dreißig Jahren sprach er mit Frederic-Jacob Soret am 13. April 1823 darüber: »Nous avons parle du poeme sur lequel a ete compose La Flüte enchantee; poeme auquel Goethe a fait une continuation qu’il n’a point encore publiee,36 n’ayant pas trouve de musicien capable ä son avis de traiter ce sujet. II trouve la premiere partie remplie d’invraisemblances et de niaiseries mais feconde en contraste et attribue ä son auteur une grande entente dans Part d’amener des effets theätraux.«37 Das Gespräch zeigt, daß Goethe sich den Zugang zur Zauberflöte über das dichterische Substrat gesucht und sich zur Fortsetzung des Werks vor allem durch die in Schikaneders Textbuch enthaltenen theatralischen Effekte< hatte anregen lassen. Eine Anspielung in Hermann und Dorothea38 ist einerseits ein Hinweis darauf, wie bekannt die Figuren der Oper 1796 schon waren, so daß jemand, der nur Adam und Eva, nicht aber Tamino und Pamina kannte, verlacht werden konnte, andererseits eine versteckte Deutung der beiden Gestalten aus der Zauberflöte, da Tamino und Pamina genauso wie Adam und Eva als Inbegriff des Menschenpaares gedacht waren. Außer den theatralischen Effekten< reizten die zahlreichen freimaurerischen Symbole der Zauberflöte Goethe zur Nachahmung. Dabei leitete ihn die Überlegung, daß diese Symbole in ihrer sinnlichen Erscheinung auch dem uneingeweihtem Zuschauer unmit¬ telbar Eindruck machen, dem sich die maurerischen Konnotationen nicht erschließen. Im Gespräch über den eben abgeschlossenen »Helena«-Akt äußerte Goethe am 29. Januar 1827 zu Eckermann: »Aber doch [...] ist alles sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht, jedem gut in die Augen fallen. Und mehr habe ich nicht gewollt. Wenn es nur so ist, daß die Menge der Zuschauer Freude an der Erscheinung hat; dem Eingeweihten wird zugleich der höhere Sinn nicht entgehen, wie es ja auch bei der Zauberflöte und andern Dingen der Fall ist.«39

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Einem Zeugnis aus Karl August Böttigers Nachlaß zufolge war Goethe wohl schon Ende 1795 mit dem Plan zu einer Fortsetzung der Zauberflöte40 befaßt: »Goethe hat nach einer reifen Überlegung, warum die Zauberflöte einen solchen unbegreiflichen Eindruck auf’s deutsche Publicum macht, selbst einen Versuch gemacht, den zweiten Theil dazu im Text zu verfertigen, weiß aber keinen Compositeur dazu zu finden. Es ist nicht wie die Zaubercither41 und andere dergleichen Nachäffungen und Wiederholun¬ gen, sondern Fortsetzung und Erhebung des Stücks, wobei doch alle die vorigen Personen und Decorationen Vorkommen, was also für die Direction sehr vortheilhaft sein müßte.«42 Am 24. Januar 1796 schrieb Goethe dem Wiener Komponisten Paolo Wranitzky, der sich nach dem Libretto erkundigt hatte: »Ich habe gesucht, für den Componisten das weiteste Feld zu eröffnen und von der höchsten Empfindung bis zum leichtesten Scherz mich durch alle Dichtungsarten durchzuwinden«, und fügte dem Brief folgendes Promemoria bei: »Der große Beifall, den die Zauberflöte erhielt, und die Schwierigkeit, ein Stück zu schreiben, das mit ihr wetteifern könnte, hat mich auf den Gedanken gebracht, aus ihr selbst die Motive zu einer neuen Arbeit zu nehmen, um sowohl dem Publico auf dem Wege seiner Liebhaberei zu begegnen, als auch den Schauspielern und Theater-Directionen die Aufführung eines neuen und complicirten Stücks zu erleich¬ tern. Ich glaubte meine Absicht am besten erreichen zu können, indem ich einen zweiten Theil der Zauberflöte schriebe; die Personen sind alle bekannt, die Schauspieler auf diese Charaktere geübt, und man kann ohne Übertreibung, da man das erste Stück schon vor sich hat, die Situationen und Verhältnisse steigern und einem solchen Stücke viel Leben und Interesse geben [...] Damit dieses Stück sogleich durch ganz Deutsch¬ land ausgebreitet werden könnte, habe ich es so eingerichtet, daß die Decorationen und Kleider der ersten Zauberflöte beinahe hinreichen, um auch den zweiten Theil zu geben. Wollte eine Direction mehr darauf verwenden und ganz neue dazu anschaffen, so würde der Effect noch größer sein, ob ich gleich wünsche, daß, selbst durch die Decorationen, die Erinnerung an die erste Zauberflöte immer angefesselt bliebe.« Goethe forderte für den Fall der Annahme einhundert Dukaten und versprach eine rasche Vollendung des Textes. Bereits am 6. Februar antwortete Wranitzky indes, er könne mit Schikaneders und Mozarts Arbeit nicht rivalisieren, und verlangte - ganz entgegen Goethes Intentionen - eine Lockerung der Anbindung an die erste Zauber¬ flöte. Daraufhin zerschlugen sich Verhandlungen mit Wranitzky, und der Text blieb zunächst liegen, bis Goethe ihn 1798 noch einmal vornahm, nachdem Iffland bei einem Weimarer Gastspiel den Wunsch geäußert hatte, den zweiten Teil der Zauberflöte auf dem Berliner Theater aufzuführen.43 Trotz Ifflands Aufforderung vollendete Goethe das Stück nicht und gab ein Fragment, das etwa die Hälfte des erhaltenen Textes umfaßt, an den Bremer Verleger Friedrich Wilmans zum Abdruck im Taschenbuch. Der Liebe und Freundschaft gewidmet auf das Jahr 1802. Am 4. August 1803 fragte Goethe Zelter: »Wie steht es um die Musik des zweyten Theils der Zauberflöte?« und wollte den Freund mit dieser Frage zur Komposition bewegen. Zelter indes mißver¬ stand den Satz und bezog ihn auf Winters Musik zu Schikaneders ZauberflötenFortsetzung,44 die damals gerade in Berlin aufgeführt wurde. Nach einer erneuten Anfrage Ifflands verwies Goethe 1810 auf den bereits 1807 erfolgten Druck des Fragments in der Ausgabe der Werke bei Cotta. Er erwähnte zwar noch in einem Brief an Kirms am 27. Juni 1810, daß sich ein weiterer Teil der Ausarbeitung und ein Plan

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des Ganzen - diese Texte sind uns in den Paralipomena erhalten - bei seinen Papieren fände, doch verlief auch dies Briefgespräch über eine Vollendung des Werks ohne Ergebnis. Eine Bitte Zelters veranlaßte Goethe zwar noch am 15. März 1814 zu der Bemerkung: »Gegen die Zauberflöte will ich meine Gedancken hinwenden, vielleicht macht sie der Frühlingsäther wieder flott«, aber nicht zur Weiterarbeit. Daß sich kein Komponist für die zweite Zauberflöte fand, lag unter anderem auch an der Dichte des Textes, in dem es auf Nuancen des Worts ankam, die durch Musik eher verdeckt als hervorgehoben worden wären. Als Beispiel dafür mag die Eingangsszene dienen, in der die von Monostatos und dem Chor zu singenden Versen kleinste Verschiebungen im Konsonantismus größte Bedeutungsunterschiede bewirken sollen: »Halb ist es getan [...] Bald ist es getan« (239). Auch die Vielfalt der Versmaße, deren jeweiliges Ethos der betreffenden Situation entspricht, mußte ein Komponist eher als Einschränkung denn als Eröffnung musikalischer Möglichkeiten ansehen. Je länger die zweite Zauberflöte ohne Aussicht auf Vollendung und Komposition blieb, um so mehr übernahm Goethe einzelne Motive, die in der Oper angelegt waren, in andere Dichtungen: Sarastros »brüderlicher Orden« wurde umgestaltet zur »Gesell¬ schaft vom Turm« im Wilhelm Meister; die Wechselreden der Wächter in der zweiten Zauberflöte gleichen beinahe aufs Wort den Reden des Alten mit den Königen in dem 1795 entstandenen Märchen; die Genius-Symbolik der Euphorion-Szenen des zweiten Faust ist in Goethes Zauberflöte vorgebildet; ursprünglich wohl der Zauberflöte zugehörige Verse gehen später ein in das »Vorspiel auf dem Theater« zu Faust. Es ist hier nicht der Raum aufzuzeigen, wie sehr Goethes Fortsetzung der Zauberflöte in zahlreichen Einzelheiten an diese >angefesselt< ist. Einige Hinweise müssen genü¬ gen:45 Die Motive des Leidens, der Prüfung, des Bewährens wiederholen sich; ebenso die Verschränkung der beiden Lebensweisen, die sich in den Paaren Pamina-Tamino und Papagena-Papageno gegenüberstehen, und die Verschränkung der beiden Sphären, die durch die Reiche Sarastros und der Königin der Nacht repräsentiert werden; schließlich findet sich in den Unterhaltungen Papagenos und Papagenas manch wörtli¬ ches Zitat aus Schikaneders Libretto. An einem Beispiel sei die von Goethe verfolgte Absicht der Steigerung der Schikaneder¬ schen Dichtung verdeutlicht: In Sarastros Abschiedsszene wird das aus der ersten Zauberflöte übernommene Prüfungsmotiv dadurch bedeutsam erweitert, daß nunmehr der Obere des Ordens, der bisher nur die Ungeweihten zu prüfen hatte, selbst in eine Prüfung geschickt wird. Sarastro rückt so auch aus der Sphäre göttlicher Unfehlbarkeit in menschliche Horizonte, wozu auch die Verse seiner Abschiedsarie stimmen, in denen er eine - wenn auch gefaßte - Klage nicht unterdrückt (255). Die Verbindung göttlicher und menschlicher Züge in der Gestalt Sarastros entspricht Goethes anthropomorphischer Religiosität. Die von Sarastro repräsentierten Prinzipien der Menschlichkeit, Sittlichkeit und Frömmigkeit können nur im Handeln - um sich als Handelnder, nicht bloß als Schauender zu bewähren, muß Sarastro seine Pilgerschaft beginnen - wirksam in Erscheinung treten. Dramaturgisch gibt die Pilgerschaft die Möglichkeit, Sarastro in den weiteren Verlauf der Handlung unmittelbar einzubeziehen. Er wird dabei auch dem Spott Papagenos, des Mannes aus dem einfachen Volk, preisgegeben: Eine ironische Spiegelung der Worte des Priesterchors »Kluge schwanken, Weise fehlen« (252) liegt in Papagenos Bemerkungen über den stolpernden Kräutersucher Sarastro (262).

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Vergegenwärtigt man sich, daß Sarastro in Schikaneders Dichtung auch als Anspielung auf Joseph II., den zwar aufgeklärten, aber absoluten Herrscher verstanden wurde,46 so läßt sich auch Sarastros Pilgerschaft in Goethes Fortdichtung allegorisch auf das Schicksal der durch die Französische Revolution entmachteten Herrscher beziehen dies um so mehr, als auch sonst in der zweiten Zauberflöte die politischen Verhältnisse der Zeit berührt werden - etwa im Wechselgesang und im Duett der beiden Wächter (265 f.): In den Worten des ersten Wächters, daß die Zeit vergehe, spricht sich die Hoffnung aus, daß die Nacht und also die Herrschaft der Königin verschwinden werde. Aus der resignierten Frage des Zweiten »Aber wie?« läßt sich entnehmen, daß dieser Wandel ein mühseliger ist, und aus der Feststellung »Uns nie«, daß dieser Wandel für die beiden Wächter selbst gar keine Veränderung bringen wird. Auch die Wechselrede zwischen dem Alten und den Königen im Märchen handelt ähnlich von den Folgen der Französischen Revolution, und für die politische Auslegung des Märchens hat Goethe selbst in einem Brief an Schiller vom 26. September 1795 einen Fingerzeig gegeben, wo er das Märchen mit dem Zeitgeschehen zusammenrückt und schließlich äußert, Märchen seien »ä l’ordre du jour«.47 Was den Abschluß der unvollendeten Dichtung angeht, so liegen eine Reihe von Rekonstruktionsversuchen zur Wiedergewinnung des Schlusses vor, die sich auf das erhaltene Szenar und die Paralipomena stützen.48 Diese Versuche können hier nicht im einzelnen referiert werden,49 die Ergebnisse lassen sich in folgender Übersicht dar¬ stellen:50 A. v. Wei¬ len (WA) Sarastro und Kinder Genius Pamina Tamino Papageno Monostatos Papageno Papagena Kinder Genius wird gefangen Pamina Tamino die vorigen Monostatos die vorigen Königin Sarastro Königin Monostatos Schlacht Tamino siegt Papageno gerüstet Weiber und Kinderspiel Monostatos unterirdisch Brand. Zeughaus Die Überwundenen.51 Priester

3

Junk

MüllerBlattau

3 6 2 8, 10

3, 8, 10 6 2 10

4

4

6

4

Koch 8? 3? 2, 10? 3? 8?, 10? 6

4

Am Schluß des Stücks dürfte der von Monostatos gelegte Brand dem letzten Aufbegeh¬ ren der Nachtgewalten in der ersten Zauberflöte entsprechen. Enden sollte das Libretto nach dem Brauch der Barockoper mit einem Tableau aller an der Handlung beteiligten Personen, wie das Szenar angibt: »Die Überwundenen. Priester.« In Goethes Dichtung lassen sich wenigstens drei Bedeutungsebenen erkennen: Zum

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einen drücken sich in Goethes Zauberflöte ganz persönliche Lebensbezüge des Dichters aus: Man denke etwa daran, daß sich in den Kinderszenen des Stücks Goethes Liebe zu dem kleinen Volk in Weimar niedergeschlagen hat, dem er alle Jahre die Kinderbälle im Haus am Frauenplan ausrichtete, oder daran, daß ihm kurz vor Beginn der Arbeit an seiner Zauberflöte ein Sohn aus der Ehe mit Christiane Vulpius bald nach der Geburt gestorben war, ein Ereignis, das Frau von Stein mit dem hämischen Spott der Eifersüchtigen begleitet hatte, deren Züge sich in dem Bild der Königin der Nacht eingezeichnet finden. Zweitens bezieht sich das Werk - wie bereits bemerkt - auf zeitgeschichtliche Ereig¬ nisse und hat drittens eine allgemeine Bedeutungsschicht: Es handelt von den Sorgen eines Elternpaares um ein neugeborenes Kind, von der Macht der Mutterliebe (Paminas Weg in die Gruft zu ihrem Kind), aber auch von der Ohnmacht des mütterlichen Wunsches, ihr Kind jedem Zugriff feindlicher Bedrohung zu entziehen (Versinken des Kästchens vor Paminas Augen), von der Selbstgewißheit des neu in die Welt Tretenden (Aufschwingen des Genius) und von seiner Gefährdung, die auch im »geistigen Lauf« nicht aufhört; es handelt weiter vom Wechsel der Stimmungen (Flötenszene), von Ernst und Heiterkeit, von Licht (Sarastro) und Nacht (Königin), die zugleich für Leben (Sarastros Zauber mit den Eiern) und Tod (die Helfer der Königin schließen das Kind in einem Sarg ein) stehen, von dem Ineinandergreifen dieser Gegensätze (der Sarg ist ein goldener, er versinkt mit dem Altar der Sonne; die Eltern dringen aus dem Lichtbereich in die Sphäre der Nacht; Sarastro tritt der Königin gegenüber) usw. Die Fülle der Symbolik, die Mehrzahl der Bedeutungsschichten und schließlich die Auflösung tragischer Konflikte in die Paradoxie des Nebeneinander von Unvereinba¬ rem - all dies rückt Goethes Zauberflöte in die Nähe des Märchens in jenem weiten Sinn, in dem Goethe auch von Faust einmal als einem »inneren Märchen« (an Heinrich Meyer, am 20. 7. 1831) gesprochen hat.

Anmerkungen Goethes Singspiele werden zitiert nach: Johann Wolfgang Goethe: Singspiele. Hrsg, von Hans-Albrecht Koch. Stuttgart 1974. (Reclams Universal-Bibliothek. Nr. 9725 [4].) Nachweise in Klammern unmittel¬ bar hinter dem Text. Zitate aus Goethes Briefwechsel folgen der Weimarer Ausgabe (WA): Goethes Werke, hrsg. im Aufträge der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887ff. (Abt. 4 und Abt. 1, Bd. 32) und sind im Text durch Angabe des Empfängers und Briefdatums belegt. Neben den Literatur¬ hinweisen in den Anmerkungen vgl. für die Sekundärliteratur jeweils auch den Abschnitt >Singspiele< in der Auswahlbibliographie (S. 329-331). Dort aufgeführte Arbeiten werden hier nicht mehr eigens genannt. 1 Zu den hier erwähnten Zusammenhängen vgl. Hans-Albrecht Koch: Das deutsche Singspiel. Stuttgart 1974; ferner aus der älteren Literatur: Hans Michael Schletterer: Das deutsche Singspiel von seinen ersten Anfängen bis auf die neueste Zeit. Augsburg 1863. Nachdr. Hildesheim / New York 1975; Georg Calmus: Die ersten deutschen Singspiele von Standfuß und Hiller. Leipzig 1908. Nachdr. Walluf 1973. - Mit dem deutschen Singspiel des 18. Jahrhunderts hat sich das Kolloquium 1979 der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert an der Gesamthochschule Wuppertal unter Leitung von Rainer Gruenter befaßt. Die Veröffentlichung der Beiträge zu diesem Kolloquium wird 1981 (Heidelberg: Winter) erscheinen. - Von Wielands singspieltheoretischen Schriften seien genannt: Briefe an einen Freund über das deutsche Singspiel Alceste (1773), Über einige ältere deutsche Singspiele, welche den Namen Alceste führen (1773), Versuch über das Deutsche Singspiel und einige

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dahin einschlagende Gegenstände (1775); ferner sei verwiesen auf Ernst Christoph Dreßler: TheaterSchule für die Deutschen, das Ernsthafte Singe-Schauspiel betreffend. Frankfurt a. M. 1777. 2 Vgl. hierzu den Überblick von Jürgen Hein: Das Wiener Volkstheater. Darmstadt 1978. Bes. S. 9-37. 3 Vgl. Max Unger: Ein Faustopernplan Beethovens und Goethes. Regensburg 1952. S. 22. 4 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Einf. von Ernst Beutler. Zürich 1948. S. 313. 5 Otto Erich Deutsch: Schubert. Die Dokumente seines Lebens, gesammelt und erläutert. Leipzig 1964. S. 582. - Zu Goethes Verhältnis zu Schubert allgemein vgl. Georg Knepler: Schuberts Goethelieder und Goethes Musikverständnis. In: Impulse 1 (1978) S. 136-155. 6 Zu Goethes Beziehung zu Musik, Oper und Singspiel sowie zu einzelnen Komponisten vgl. außer den Einführungen und Erläuterungen der verschiedenen Ausgaben von Goethes Werken sowie dem Abschnitt >Singspiele< der Auswahlbibliographie: Karl Blechschmidt: Goethe in seinen Beziehungen zur Oper. Düren 1937; Hans-Albrecht Koch (Anm. 1) S. 87-94; Hans Joachim Moser: Goethe und die Musik. Leipzig 1949; Willi Schuh: Goethe-Vertonungen. In: Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Bd. 2. Zürich 1953. S. 663-760; W. Stander: Johann Andre. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Singspiels. In: Archiv für Musikforschung 1 (1936) S. 318-360; Richard Benz: Goethe und Beethoven. Stuttgart 1948; Otto Erich Deutsch: Beethovens Goethe-Kompositio¬ nen. In: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg 8 (1930) S. 102-133; Jan Racek: Beethoven und Goethe in Bad Teplitz. In: Festschr. für Erich Schenk. Graz 1962. S. 406-416; Romain Rolland: Goethe und Beethoven. Übertr. von Anton Kippenberg. Zürich 21948; vgl. auch Anm. 3; Carl August Hugo Burkhardt: Goethe und der Komponist Ph. Chr. Kayser. Leipzig 1879; Edgar Refardt: Der »Goethe-Kayser«. Ein Nachklang zum Goethejahr 1949. Zürich 1950; Heinrich Spieß: Philipp Christoph Kayser und Goethes Notenheft vom Jahre 1778. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 17 (1931) S. 132-153; Walter Salmen: Johann Friedrich Reichardt. Komponist, Schriftsteller, Kapellmei¬ ster und Verwaltungsbeamter der Goethezeit. Freiburg i.Br. 1963; ders.: Goethe und Reichardt. In: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg N. F. 1 (1963) S. 52-69; Werner Deetjen: Siegmund Freiherr von Seckendorff. Beiträge zu seinem Leben. In: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg 10 (1935) S. 261-291; Georg Richard Kruse: Zelter. Leipzig 21930; Momme Mommsen: Goethes Freundschaft mit Zelter. Zu Zelters 200. Geburtstag. In: Goethe. Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft N. F. 20 (1958) S. 1-5; J. W. Schottländer: Zelters Beziehungen zu den Komponisten seiner Zeit. In: Jahrbuch der Sammlung Kippenberg 8 (1929/30) S. 134—248. 7 Hugo von Hofmannsthal: Einleitung zu einem Band von Goethes Werken, enthaltend die Singspiele und Opern. In: H. v. H.: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hrsg, von Herbert Steiner. Prosa IV. Frankfurt a.M. 1966. S. 174. 8 Vgl. die Auswahlbibliographie sowie Hans-Albrecht Koch: Goethe als Librettist. Zu seinem Sing¬ spiel »Erwin und Elmire«. In: Neue Zürcher Zeitung. Fernausg. Nr. 47 vom 27. Februar 1976. S. 27f. 9 Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher. Hrsg, von Heinrich Funck. Weimar 1901. S. 296. 10 Zitiert nach WA I, 38, 420. 11 WA I, 29, 160. 12 Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. Bd. 8: Singspiele. Mit Einl. und Anm. hrsg. von Otto Pniower. Stuttgart 1903. S. 354. 13 WA I, 32, 143 f. 14 Eckermann (Anm. 4) S. 339. 15 Herders Reise nach Italien. Herders Briefwechsel mit seiner Gattin, vom August 1788 bis Juli 1789. Hrsg, von Heinrich Düntzer und Ferdinand Gottfried von Herder. Gießen 1859. S. 347. 16 WA I, 29, 216. 17 Gottfried Diener: Goethes »Lila«. Heilung eines »Wahnsinns« durch »psychische Kur«. Verglei¬ chende Interpretation der drei Fassungen. Frankfurt a.M. 1971. S. 67. 18 Ebd. S. 124. 18a Vgl. Thomas K. Brown jr.: Goethes »Lila« as a fragment of the great confession. In: Studies in honor of John Albrecht Walz. Lancaster 1941. S. 209-220. 19 Kurt Robert Eissler: Goethe. A psychoanalytic study. 1775-1786. Bd. 1. Detroit, Michigan, 1963. Bes. S. 230-247, 248-291. 20 Im November 1777 unternahm Goethe eine Reise in den Harz - vgl. die Ode Harzreise im Winter -, um den jungen Friedrich Viktor Lebrecht Plessing von empfindsamer, wertherhafter Hypochondrie zu heilen. 21 Eissler (Anm. 19) S. 243.

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22 Ebd. S. 246. 23 Wie Ernst Feise gegenüber der älteren Forschung gezeigt hat (Quellen zu Goethes »Lila« und »Triumph der Empfindsamkeit«. In: The Germanic Review 19 [1944] S. 36-47). 24 Vgl. Katharina Mommsen: Goethe und 1001 Nacht. Berlin 1960. S. 36—56. 25 Von D’Alayrac-Marsollier. 26 Von Josef Weigl. 27 Vgl. Eduard Castle: Die Wiener Aufführung von »Jery und Bätely« 1810. In: Chronik des Wiener Goethe-Vereins 57 (1953) S. 27 f.; Eissler (Anm. 19) Bd. 2 (1963) S. 1217-19; Georg Ellinger: Zu Jery und Bätely. In: Goethe-Jahrbuch 10 (1889) S. 237-239; Joseph K. Ratislav: Die Wiener Aufführung von »Jery und Bätely« 1810. In: Chronik des Wiener Goethe-Vereins 58 (1954) S. 67. 28 Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Flodoard Freiherrn von Biedermann erg. und hrsg. von Wolfgang Herwig. Bd. 3, 2. Zürich/Stuttgart 1972. S. 844. 29 Corona Schröter. 30 Neben den in der Auswahlbibliographie genannten Arbeiten sei noch erwähnt Franz Tetzner: Der Schlußgesang in Goethes Fischerin. In: Goethe-Jahrbuch 29 (1908) S. 173f. 31 WA III, 1, 129. 32 Vgl. WA IV, 6, 317. 33 Vgl. Hans-Albrecht Koch: Christoph Martin Wielands Singspieldichtungen und Singspieltheorie (im Druck für den Anm. 1 zitierten Sammelband). 34 WA I, 32, 144 f. 35 Vgl. Marvin Carlson: Goethe and the Weimar theatre. Ithaca/London 1978. S. 78-88. 36 Gemeint ist die Veröffentlichung des vollendeten Textes, denn das Fragment war 1823 bereits mehrfach gedruckt. 37 Goethes Gespräche (Anm. 28) Bd. 3, 1 (1971) S. 491. 38 V. 222-229. 39 Eckermann (Anm. 4) S. 223. 40 Vgl. Peter Branscombe: Die Zauberflöte. A lofty sequel and some lowly parodies. In: Publications of the English Goethe Society N. S. 48 (1978) S. 1-21; Arthur Henkel: Goethes Fortsetzung der »Zau¬ berflöte«. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 71 (1951) S. 62-69; Oskar Seidlin: Ist das »Vorspiel auf dem Theater« ein Vorspiel zum »Faust«? In: O. S.: Von Goethe zu Thomas Mann. Göttingen 1963. S. 56-64. - Weitere Literatur in der Auswahlbibliographie und bei Koch (Anm. 45) S. 129. 41 Von Wenzel Müller. Dieses Stück wurde - in einer Bearbeitung des Textes durch Vulpius - 1795 in Weimar gespielt. Es handelt sich nicht um die einzige >Fortsetzung< der Zauberflöte; Schikaneder selbst schrieb zum Beispiel Das Labyrinth, das Peter von Winter vertonte. 42 Karl August Böttiger: Literarische Zustände und Zeitgenossen. Bd. 1. Leipzig 1838. S. 49. 43 Vgl. Goethes Brief an Schiller vom 9. Mai 1798: »Im Grunde ist schon so viel geschehen daß es thörig wäre die Arbeit liegen zu lassen.« Es finden sich aus dieser Zeit mehrere Tagebuchnotizen Goethes, die die Arbeit an der Zauberflöte bezeugen. Und doch scheint sie nur wenig vorangekommen zu sein. Vielleicht liegt das an Schillers Warnung, Goethe solle »sich durch die Oper nur nicht hindern lassen, an die Hauptsache zu denken« (Brief vom 11. Mai 1798); mit der »Hauptsache« dürfte die Arbeit am Faust gemeint gewesen sein. 44 Vgl. Anm. 41. 45 Ausführlicher dazu Hans-Albrecht Koch: Goethes Fortsetzung der Schikanederschen »Zauberflöte«. Ein Beitrag zur Deutung des Fragments und zur Rekonstruktion des Schlusses. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1969. S. 121-163. Bes. S. 131-153. 46 Die Königin der Nacht wurde allegorisch auf Maria Theresia bezogen - diese allegorischen Deutun¬ gen lagen für Schikaneders Text um so näher, als Maria Theresia den Logen feindlich gegenüberstand, während Joseph II. die Freimaurerei förderte. 47 Vgl. auch Koch (Anm. 45) S. 149. 48 Bislang ausschließlich im Variantenteil der WA zugänglich. 49 Vgl. Koch (Anm. 45) S. 153-161. 50 Die Zahlen beziehen sich auf die Nummern der Paralipomena in WA; vom Szenar ist nur der Teil wiedergegeben, der sich auf die unausgeführten Szenen erstreckt. 51 Die Interpunktion nach einer coniectura palmaris von Junk aufgrund des Inhalts und der Beobach¬ tung, daß in dem Szenar durchweg nachlässig interpungiert ist und daß Groß- und Kleinschreibung unregelmäßig gehandhabt sind.

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Götz von Berlichingen »Erzähl das noch einmal, vom Berlichingen«

(I, 1) Text und Geschichte: Lesekontexte »Wehe der Nachkommenschaft die dich verkennt.«1 Fast scheint es, daß der letzte Satz des Stückes uns treffen müßte. Götz als Charakter und als Stück zieht außerhalb der germanistischen Pflichtlektüre im Moment wenig Leser oder Theater an.2 Ob diese Rezeptionssituation aber Resultat einer Verkennung ist, muß zunächst offenbleiben. Zu konstatieren ist eine offenbare Diskrepanz zwischen der Wirkung des Stückes bei seinem Erscheinen3 und seiner heutigen relativen Wirkungslosigkeit. Nicht daß der Götz von den Zeitgenossen widerspruchslos akzeptiert worden wäre. Gerade die Kontroverse, die er provozierte, machte seine Wirkung aus. Und wenn auch die GötzKontroverse bei weitem nicht das Ausmaß der Werber-Diskussion erreichte, so ist sie doch in bezug auf die ästhetischen Wertvorstellungen in dem Maße aufschlußreicher, als hier nicht so sehr wie im Fall des Werther moralische Prinzipien zur Diskussion standen als Fragen des Geschmacks, der Komposition, des Theaters und der allgemei¬ nen Ästhetik. Freilich einer der Hauptpunkte, die Mißachtung der klassizistischen dramatischen Einheiten, die in fast allen zeitgenössischen Rezensionen diskutiert werden, scheint von heute aus gesehen wenig interessant. Längst ist, was die Zeitgenos¬ sen an der Form positiv oder negativ aufregte, als »offene Form«4 zur gängigen, ja dominanten dramatischen Form geworden, die zudem in den historischen Paradigmen von Lenz und Büchner wirkungsvollere Modelle und Möglichkeiten gefunden hat als im Götz. Dennoch hat Goethes Stück gewissermaßen ein Signal gegeben. Und wichti¬ ger noch: die ästhetischen Prinzipien, die dem zugrunde liegen, haben implizit und explizit - zum Teil bis heute - auch den kritischen Diskurs informiert. Diese Prinzipien sind weniger klar definierte Kategorien als vage, allgemeine Wertprä¬ missen, die am besten sich in einigen Schlüsselwörtern des kritischen Vokabulars illustrieren lassen. Dazu gehören Vokabeln wie >UrsprünglichkeitUnmittelbarkeitNatürlichkeitWahrheitGanzheitIch< und >Subjektungebrochenen< Individuum sich an einem verstümmelten Paradigma artikuliert? Und so wie der Titel Verstümmelung anzeigt, ist das letzte Wort »verkennt«. Gewiß, es meint die Zukunft, die den Helden verkennen möchte. Aber abgesehen davon, daß diese Zukunft der fiktiven Realitätsebene die reale Gegenwart ihrer Artikulation meint, drängt die Frage sich auf, ob nicht schon der Held sich selbst verkennt. Und was die Unmittelbarkeit betrifft, so wird die des Helden ebenso zu befragen sein wie die des Textes. Immerhin sollte in bezug auf den Text aufhorchen lassen, wenn Goethe selbst von der ersten raschen, >unmittelbaren< Niederschrift an Herder schreibt: »Es ist alles nur gedacht« (Juli 1772), um dann in einer zweiten Fassung das zu eliminieren, was reflektierende Vermittlung andeuten könnte und darin, wie stilistische Untersuchungen gezeigt haben,8 auch erfolgreich war. Das deutet doch an, daß der Schein des Unmittel¬ baren, Natürlichen, der die zweite Fassung gegenüber der ersten kennzeichnet, Pro¬ dukt einer Kunstanstrengung ist. Indem wir im folgenden einige dieser Bruchstellen genauer lesen, indem wir lesen, wie die Fiktion im Moment ihrer Artikulation sich schon dekonstruiert, hoffen wir etwas von dem aufzulesen, was sich an konkreter Wahrheit und konkreter Geschichte in den Text eingeschrieben hat.

Das verstümmelte Subjekt Die zentrale Stellung der Götz-Figur als großer Charakter scheint zumindest auf der intentionalen Ebene eindeutig genug. Autor, Text und Rezipienten sprechen davon. Das »Andenken eines braven Mannes« zu retten gibt Goethe in einem Brief vom

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28. November 1771 an Johann Daniel Salzmann als Motiv seiner Arbeit an. Und im Text selbst fehlt es nicht an Erhebungen der Figur von dem ersten bewunderndprovokativen Geschichtenerzählen vom »getreuherzigefn] Berlichingen« (1,1) über die messianische Lobpreisung des Bruder Martin (1,2) bis zur letzten Beschwörung seiner verkannten Größe. Kein Wunder also, wenn Leser bis in die Gegenwart dieses Bild von Götz teilen, um so mehr, als in seiner Gestalt ein Ideal sich verkörpert, in dem die Sturm-und-Drang-Bewegung ihre Parole fand.9 Als Ort einer Rede ist er freilich auch ein Topos, eine rhetorische Figur, deren Fiktionalität ihr jedoch nichts von ihrer Gewalt über den Diskurs nimmt. Nicht nur die geisteswissenschaftliche Kritik, auch die historisch und soziologisch ausgerichtete, war und ist häufig genug bereit, die Fiktion vom autonomen, ganzen Individuum nicht nur zu übernehmen, sondern auch als Widerspiegelung einer bürgerlichen Realität zu lesen, was selbst wieder zu einem literaturhistorischen Topos und Gemeinplatz geworden ist.10 Wo solch ungebrochene Individualität Leitbild ist, bleiben die fehlende rechte Hand und ihr verdeckendes Substitut, die eiserne Hand, meist ausgespart. Erst Ilse A. Graham hat in einem scharfsinnigen Aufsatz auf ihre zentrale Funktion aufmerksam gemacht.11 Ironischerweise aber zeigt sich die Macht jener im 18. Jahrhundert entwic¬ kelten Topik über den literaturwissenschaftlichen Diskurs gerade hier, wo die methodi¬ sche Präzision zur Artikulation der Bruchstellen führt, nur um sie mit den Kriterien eben jener Topik als künstlerisches Mißlingen darzustellen, das in der zweiten Fassung in dem Maße korrigiert sei, als der Einbruch jener Spaltung verdeckt wird. Zwar wächst dem Götz auch hier keine Hand nach, ihr Fehlen aber wird >organischer< überwachsen. Das organizistisch-biologistische Vokabular der Kritikerin paßt sich nicht nur der des Textes und dessen Kontext an, sondern übersteigert es auf eine Weise, die nach der politischen Wirkung solcher Metaphorik und Rhetorik in neuerer Zeit bedenklich anmuten muß. Dennoch hat Ilse Graham einige wesentliche Aspekte des Textes formuliert, an denen festzuhalten ist. Zunächst die mehr als nur verdeckende Funktion der eisernen Hand auf der intentionalen Ebene: sowohl für Goethe wie seine Zeitgenos¬ sen war sie nicht in erster Linie Zeichen der Verstümmelung, sondern Symbol von Kraft und Heroismus, Opposition zu allem Galanten und Glatten.12 Dennoch wird sie auf einer andern textlichen Ebene zunehmend »zum Zeichen für eine letztlich tragische Lebensunfähigkeit des Helden, trotz all seiner kraftstrotzenden Vitalität«.13 Dazu kommt noch eine weitere und, wie mir scheint, die interessanteste Funktion: Die rechte Hand wird im Text zu einem ablösbaren Requisit, das zwischen den Figuren hin und her wandert: Götz gibt dem Bischof die rechte Hand zurück, die dieser ihm gereicht hat; Weislingen ist die rechte für ihn und wird wieder zur rechten Hand des Bischofs. Damit wird die fehlende reale Hand zum gleitenden Signifikanten, der nicht nur Regie über die Konstellation der Figuren zueinander führt, sondern diese selbst dezentriert, indem sie ihre ganze Identität nirgends finden als außer sich, in dem, was ihnen fehlt. In dieser letztem Funktion erst wird die fehlende Hand (be-)greifbar, nicht in einer organizistischen Ideologisierung, die selbst nur ihr fantasmatischer Widerschein ist. Die dezentrierende und die prätendierte Ganzheit des Subjekts unterminierende Funk¬ tion wird vor allem deutlich im Verhältnis von Götz und Weislingen, die, so sehr sie gegeneinander gesetzt sind, bis zum Ende miteinander verkoppelt und aufeinander angewiesen sind. Bereits die erste Szene ist überschattet von Weislingen als ihrem

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abwesenden Zentrum. Zwar wird eine Geschichte über Götz erzählt, aber sie wird provoziert von Weislingens Bamberger Reitern und handelt vom Bischof, dessen »rechte Hand« (1,1) Weislingen ist, und von Götz als demjenigen, der Weislingen als seine rechte Hand sucht. Götzens eigenes Denken und Reden bei seinem ersten Auftritt (1,2) ist beherrscht vom abwesenden Weislingen, den er braucht, damit es ihm wieder wohl geht: »wenn ich dich habe Weislingen, will ich mirs wohl seyn lassen« (1,2). Und so wie Weislingen für Götz das abwesende Ich ist, ist Götz für Weislingen das verdrängte Ich, ohne das er doch nichts ist (1,3). Versöhnt mit ihm, ist auch sein Selbst ihm zurückgegeben: »Götz theurer Götz hast mich mir selbst wieder gegeben« (1,5). Götz selbst glaubt, durch diese Versöhnung seine verlorene rechte Hand in Weislingen wieder zu erhalten (1,3.5). Götz ist also keineswegs eine ganze, in sich ruhende Individualität, wie oft behauptet wird. Dennoch besteht ein Unterschied zwischen ihm und Weislingen: zwar ist er dezentriert, aber seine Identität ist doch relativ stabil auf den einen Punkt Weislingen bezogen, während für diesen auch die dezentrierten Identitätspunkte gleiten. Ist es einmal Götz, in dem er sich selbst findet, ist er das nächste Mal der >wahre< Weislingen als rechte Hand des Bischofs: »Er [Götz] ist berichtet, daß ich wieder Weislingen bin« (11,9). Eine Nuance ist jedoch nicht zu überlesen: die zweite Identität ist im Diskurs der andern konstituiert, dadurch gesell¬ schaftlich vermittelte Identität. So bleibt doch auch für ihn die privat-menschliche (und damit im bürgerlichen Kode >unmittelbarereIndividuums< Götz steht, begreift sein Handeln in der Kategorie der Notwendigkeit, während die auf der Gegenseite der Wertskala situierte Maria es als Ausdruck seines Willens sieht: Maria: »Es ist sein guter Wille so« - Elisabeth: »Wohl muß er lieber Carl« (1,3). Damit ist im Stück selbst die Fiktion von Götz als selbsttätigem, aus seinem Willen handelnden Subjekt in die Perspektive der sentimentalischen Figur verlegt, einer Figur, die wie Weislingen, wie Carl alle Merkmale bürgerlicher Empfindsamkeit aufweist. Man könnte in einer nicht allzu waghalsigen Verallgemeinerung sagen: die realen bürgerlichen Figuren sind repräsentiert im Paradigma Weislingen - Maria - Carl, während das Paradigma GötzElisabeth - Georg das fiktionale Ideal- und Gegenbild darstellen. Diese Gegenbild¬ funktion von Götz und seinesgleichen wird gestützt durch den Produktions- und Rezeptionskontext. Es ist in diesem Zusammenhang von mehr als biographischem Interesse, wenn Goethe in seinem Brief an Salzmann vom 28. November 1771 die Rettungsaktion eines »braven Mannes« in einem Schreibkontext erzwungener öffentli¬ cher Untätigkeit ansiedelt als einen »wahren Zeitvertreib, den ich hier so nöthig habe, denn es ist traurig an einem Ort zu leben wo unsre ganze Wircksamkeit in sich selbst summen muß«. Dem entspricht im Rezeptionskontext die Situierung des oben zitierten Hymnus von Lenz auf den immer tätigen und geschäftigen Mann Götz; die zitierte Stelle folgt auf eine lange einführende Skizze einer Entfremdungssituation, in der vom realen Menschen nichts bleibt »als eine vorzüglich-künstliche kleine Maschine, die in die große Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufte nennen besser oder schlimmer hineinpaßt«.17 Damit rückt auch Goethes in Dichtung und Wahrheit ausge¬ sprochene schuldhafte Identifizierung mit den schlechten Liebhabern Weislingen und Clavigo in einen mehr als nur privaten Zusammenhang: aus der Sicht des realen Bürgers des 18. Jahrhunderts ist Götz die Idealfigur, die man retten möchte, Weislingen die Realfigur, in der man sich gespiegelt findet.18 Da aber die Idealfigur Fiktion der Realfigur ist, bleibt sie nicht unberührt von deren Brüchen, die der Text verdeckt und

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subversiv artikuliert, so wie die eiserne Hand die Verstümmelung verdeckt und akzentuiert.

Geschichte Unversehens und der Kürze wegen vielleicht etwas abrupt sind wir, der Spur des verstümmelten Subjektes folgend, zu Aussagen gekommen, die eine gesellschaftlich¬ historische Dimension aufweisen. Die Rolle, die die geschichtliche Sphäre im Stück spielt, ist umstritten bis zu Versuchen, sie als irrelevant zugunsten einer reinen Charaktertragödie aus dem Text auszuschließen.19 Nun ist freilich zu unterscheiden zwischen dem Geschichtlichen als Thema und Stoff des Textes und jener historischen Dimension, die sich im Text als eine historische Stimme artikuliert und zu mir als historischem Subjekt spricht. Die erste interessiert in einem literarischen Text nur sekundär als Medium für die Artikulation jenes Zeitraumes, aus dem der Text spricht und zu dem er spricht. Da in diesem Fall aber ein historisches Thema Medium der Artikulation ist, ist zunächst nach seiner Rolle zu fragen. Goethe selbst berichtet in Dichtung und Wahrheit von den ausführlichen historischen Studien, die er im Zusammenhang mit Götz trieb, und erklärt als leitende Intention der Bearbeitung, dem Stück »immer mehr historischen und nationalen Gehalt zu geben, und das, was daran bloß leidenschaftlich war, auszulöschen« (HA 9,572). Dieser rückblickenden Interpretation entspricht die zeitgenössische Rezeption, in der neben der Diskussion der Form immer wieder auf den »nationalen Gehalt< verwiesen wird. Als >nationales< Stück galt es den Zeitgenossen in mehrfacher Hinsicht. Auf politischer Ebene entsprach es einem Erwartungshorizont, der angesichts der realen politischen Zerstückelung Deutschlands in der Geschichte und Mythologie nach Fiktionen suchte, die den Weg zu einer realen einheitlichen politischen und kulturellen Nation Deutsch¬ land bahnen sollten. Während aber die in diesem Kontext beliebten Bardengesänge und germanischen Mythologeme in nebelhafter Ferne und stimmungsvoller Aufgelöstheit blieben, bot der Götz die Illusion eines historischen Kolorits, das konkreter sprach als jenes schwerterklirrende patriotische Pathos.20 Dieser patriotisch-politische Aspekt ist jedoch nicht zu trennen von seinem gesellschaftlichen als einem Patriotismus des Bürgertums, das in Opposition gegen die französische //q/kultur eine eigenständigere, bürgerlich-deutsche Kultur sucht.21 Damit wird der Götz als theatergeschichtliches Ereignis zum Paradigma und Modell eines Dramas, das dem klassizistischen französi¬ schen Theater entgegengehalten werden kann. Und schließlich repräsentiert der Götz als historisches Drama eine neue geschichtsphilosophische Perspektive, die in der Geschichte nicht bloß allgemeinmenschliche Exempel sieht, sondern gerade das Parti¬ kuläre und Besondere am historischen Moment hervorhebt und so den Individualitäts¬ begriff selbst zu einer historischen Kategorie macht.22 Es liegt nahe, den Götz in jenen Kategorien zu lesen, in denen Goethe selbst sein Vorbild Shakespeare las. Von dessen Stücken heißt es in der rhapsodischen Rede Zum Shakespeares-Tag: »[...] seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt [...], in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unseres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt« (HA 12,226). Nun ist aber gerade gegen Interpretationen, die Götz nach diesem Modell als Tragödie eines Ichs,

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das an seiner Zeit zugrunde geht, lesen, geltend gemacht worden, daß Götz an sich selbst, nicht an seiner Zeit zugrunde gehe. Ilse Graham, der wir in einigen wichtigen Punkten gefolgt sind, kommt zu der extremen Formulierung: nicht Götzens Zeit, sondern Götz selbst sei aus den Fugen. Und als verstümmeltes Subjekt haben wir ihn ja auch charakterisiert. Es ist nun aber merkwürdig, daß Graham auf der Spur des verstümmelten Subjekts einen verstümmelten Körper gar nicht erwähnt. Götz sagt über den Kaiser: »Ich weiß er wünscht sich manchmal lieber todt, als länger die Seele eines so krüplichen Körpers zu seyn« (111,20). Damit markiert die Metapher, die den Körper von Götz kennzeichnet, auch seine Zeit und den Staat, und nirgends ist angedeutet, daß die erste kausal für die zweite Verstümmelung sei, eher noch lassen sich Zeichen für ein umgekehrtes Verhältnis finden. Die Konstellation Individuum-Geschichte / Gesell¬ schaft läßt sich zunächst als Parallelkonstellation lesen. So wie das bürgerliche Subjekt sich nur als Widerspruch konzipieren und behaupten kann, kann es auch seine Geschichte nur widersprüchlich artikulieren: schwankend zwischen rückwärts gewand¬ tem Geschichtspessimismus und vorwärtsweisender Utopie, zwischen rebellischer Gesellschaftskritik und konservativer Ängstlichkeit. Der zeitgenössische Enthusiasmus für den >nationalen Gehalt< mutet merkwürdig an angesichts eines Textes, der eigentlich wenig Zuversicht für die Gegenwart und Zukunft ausspricht. Von emanzipatorischem Optimismus einer aufsteigenden Klasse ist da wenig zu spüren. Leitmotiv scheint eher eine absteigende Linie der Geschichte zu sein. Götz selbst sagt schon früh eine Zukunft voraus, wo Männer wie er selbst sehr rar sein werden (1,2). Und eines seiner letzten Worte lautet, daß er die Seinen »in einer verderbten Welt« zurückläßt (V,14). Demgegenüber dürfen freilich nicht jene Stellen überlesen werden, in denen sich eine ausgesprochen zukunftsweisende Utopie artiku¬ liert. Ungefähr in der Mitte des Stückes spricht Götz seine Perspektive der Zukunft aus: »Denn wir sehen im Geist unsere Enkel glücklich. Wenn die Diener der Fürsten so edel und frey dienen wie ihr mir, wenn die Fürsten dem Kayser dienen wie ich ihm dienen mögte« (111,20). Modellhaft ist diese Utopie zunächst ihrer allgemeinen Struktur nach, die dem Dreizeitigkeitsmodell entspricht, das Freud jedem Phantasieren zugrunde legt.23 Sie geht aus von der Mangelerfahrung der Gegenwart (der »krüpliche« Staatskör¬ per: 111,20), orientiert sich am Modell einer als glücklich phantasierten Vergangenheit und projiziert sich in die Zukunft. Dieser ganze Prozeß ist bereits in der ersten Formulierung eingeschlossen, wird aber im Verlauf des Gesprächs noch weiter entfal¬ tet. Gerade in dieser artikulierten Entfaltung beginnen die immanenten Widersprüche die Utopie zu sprengen. Georg stellt die beunruhigende Frage: »Würden wir hernach auch reiten?« (111,20). Der Sprengstoff dieser simplen Frage liegt in dem, was sie impliziert und fürchtet: daß eine Zeit, die zu jener ruhigen Idylle geworden ist, Subjekte wie ihn und Götz nicht brauchen kann. Ihr idealisierter Tätigkeitsdrang, ihre >Männlichkeit< und >Naturwüchsigkeit< braucht den Zwist, ohne den sie ihre Identität verlieren. Götzens Antwort ist denn auch keine eigentliche, er kann das Problem nur aufschieben, indem er nach der Beruhigung und Befestigung des Reichs auf den Krieg gegen die äußeren Feinde, »gegen die Wölfe die Türken« (111,20) verweist. Nicht zufällig gleitet hier auch die Metapher: der Wolf, unter dessen Signatur Götzens eigene Existenz und Tätigkeit steht, wird hier zum feindlichen Gegenbild, aber gerade dadurch auch die Bedingung seiner Identität als tätigem Subjekt. Und anders herum: indem er die »Wölfe« vernichtet, muß er sich selbst vernichten, um seine Utopie zu

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realisieren. Auf der Realitätsebene des Stückes treten denn auch die implizierten Befürchtungen Georgs schon bald zutage. Wenn im 4. Akt Götz und Georg nichts mehr zu kämpfen haben und das Stück eigentlich in Versöhnung und Idyllik enden könnte, sind sie beide todunglücklich, der eine zum Schreiben resigniert, der andere zur Jagd, die ihm als der erste Schritt zu den spießbürgerlichen »Pantoffeln« erscheint (IV,5). Der Widerspruch, der hier auf der Ebene des Utopischen sich abzeichnet, markiert die gesamte geschichtliche und gesellschaftliche Sphäre des Stückes. Es ist darin paradigma¬ tisch für eine Grundkonstellation des Dramas im Sturm und Drang, das noch in seiner revolutionären Gestik von der Melancholie überschattet ist.24 Im Götz ist der rebelli¬ sche und gesellschaftskritische Gestus von vornherein weniger ausgeprägt als in andern Stücken des Sturm und Drang. Nicht zufällig bleibt als Paradigma des Rebellischen im Götz am ehesten noch ein verbaler Kraftausdruck im allgemeinen Bewußtsein. Den¬ noch geht die kritische Rebellion weiter als das, aber, gebrochen wie sie im Ansatz schon ist, auch weniger weit. »Freiheit« ist ein Leitmotiv des Stückes. Ihre dreimalige Beschwörung (»Es lebe die Freyheit«, 111,20) führt Götz zur Formulierung seiner Utopie. So richtig es ist, in diesem Ruf nach Freiheit politisch und gesellschaftlich emanzipatorische Tendenzen des 18. Jahrhunderts ausgedrückt zu sehen, liest man doch an der historischen Realität vorbei, wenn man nicht das Gegenwort »Gefängnis« mitliest, das als das Andere der Freiheit ebenso leitmotivisch das Stück durchzieht und eine Kondition markiert, die ihren Drang nach Freiheit kaum anders als in Gefängnis¬ mauern artikulieren kann.25 Eine eigenartige Umkehrung vollzieht sich dabei: in dem Maße, wie die Situation des Gefangenseins das Subjekt im innern bezeichnet als seine Unfähigkeit, sich von autoritären Bindungen zu lösen und gegen die gesellschaftliche Unfreiheit anzugehen, wird das Gefängnis zur Äußerlichkeit und die Freiheit zu einer innern erklärt. Auch darin ist der Götz exemplarisch: ist zunächst die Freiheit durchaus noch als reale und äußere gemeint und Gefängnis ein Elend, über das kein anderes geht (wie es in der ersten Fassung 11,1 noch heißt), so beginnt ab dem 4. Akt eine zunehmende Verinnerlichung des Freiheitsbegriffs. Bereits in IV, 1 sagt Elisabeth: »Laß sie gefangen seyn, sie sind frey!« Die letzte Konsequenz davon ist eine Freiheit, die identisch ist mit dem Tod: »Himmlische Luft. - Freyheit! Freyheit!«, sind Götzens letzte Worte, und Elisabeth respondiert: »Nur droben bey dir. Die Welt ist ein Gefängnis« (V,14). Wie sehr diese Verschiebung der Freiheit vom Diesseits ins Jenseits, von außen nach innen ihren Grund in der Gefangenschaft eben jenes Innern hat, das zum Ort der Freiheit erklärt wird, zeigt sich am deutlichsten in der Beziehung zum Kaiser. Die Konstellation Götz-Weislingen-Kaiser variiert in nur leicht verschobener Form das im Sturm-und-Drang-Drama beliebte Motiv des Bruderzwists, der gleichzeitig - bald offen, bald verdeckt - einen Vater-Sohn-Konflikt einschließt.26 Götz und Weislingen sehen sich in ihrer Erinnerung als Brüder und Zwillinge vor einer Vaterfigur in einer patriarchalischen Idylle glücklich, die dann in Götzens Utopie zum Gesellschaftsideal mit dem Kaiser als Vater wird. Der >Bruder< jedoch stört die Idylle und intrigiert gegen den >Lieblingssohn< des Vaters (Kaiser) und indirekt gegen diesen selbst. Zwar ist die politische Autorität des Kaisers schwach und im Schwinden begriffen, wie überhaupt die meisten Vaterfiguren im Sturm und Drang Autoritätsverlust anzeigen, aber gerade in dieser äußern Schwäche eine merkwürdige Gewalt über jene haben, die offen oder

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versteckt gegen sie rebellieren. So ist zwar das letzte Wort Götzens »Freyheit«, aber das vorletzte, das sich davorstellt und jene Freiheit verstellt und verschiebt, heißt: »Es lebe der Kayser« (111,20). Götz stirbt gewissermaßen mit dem Kaiser (vgl. IV,5), weil er ohne ihn so wenig sein kann wie ohne Weislingen und sich selbst nie mehr verkennt, als wenn er aus sich selbst zu sein und zu handeln glaubt. Die Bindung, die Götzens Freiheit und Autonomie verstellt, kommt jedem rebellischen Gestus in die Quere. So sehr der historische Stoff ein revolutionäres Drama nahelegt, so sehr scheut der Text davor zurück. Der Bauernkrieg, dessen gesellschaftlich-politische Gründe in der ersten Fassung noch angedeutet sind, erscheint in der zweiten fast nur noch als Szene eines blutrünstigen Horrors um seiner selbst willen. Gerade darin aber, ebenso wie in der Wahl des Götz anstatt des stärkeren Sickingen als Hauptfigur ist dieses Stück historisch realistisch, nicht in bezug auf die dargestellte Geschichte, aber in bezug auf die im Text sich artikulierende Geschichte des Bürgertums im 18. Jahrhun¬ dert, dessen Ängste und Widersprüche hier deutlich werden. Im Schatten dieser Ängste steht auch die Volkstümlichkeit, die dem Götz seit seinem Erscheinen häufig zugespro¬ chen wurde. Es ist eine Volkstümlichkeit - vertraut bis in die Gegenwart -, die das >Volk< anders nicht fassen kann als im Bild einer idealisierten Statisterie, die den Helden verherrlicht, oder im Bild des schreckenerregenden Pöbels. Das Volk ist darin das genaue Analogon zum Doppelbild der Frau als Madonna und Hure in der Phantasmatik des autoritär-patriarchalischen Charakters. Das Doppelbild erscheint auch hier in einer der faszinierendsten Figuren des Stückes: Adelheid. Gegensätzlichstes trifft in ihr zusammen und wird gelegentlich von Interpre¬ ten wieder isoliert. Den einen erscheint sie als »eine Natur, ebenso echt und ursprüng¬ lich wie Götz«,27 den andern als Verkörperung des >dekadenten< Hoflebens28. In der Opposition Natur-Hof ist ein Kode des bürgerlichen Denkens ausgesprochen, der grundlegend das Gesellschaftskonzept der Zeit strukturiert. >Gesellschaft< definiert sich in ihrer Position zur Natur. Die Wertakzentuierung liegt - oberflächlich wenigstens auf der >NaturNatürliche< verdächtig und unheimlich ist. So ist Adelheid weder Verkörperung der Natur noch eines dekadenten Hoflebens,

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sondern Verkörperung beider rhetorischer Topoi, Verkörperung der realen Ambiva¬ lenz. Als erotisches Faszinosum, das sie selbst für den Autor darstellte, ist sie das Unerreichbare für Götz, dem sie an Format doch so ähnlich ist, und, entrückt in die Hofsphäre, die rhetorische Tabuzone und reale Wunschzone gleichzeitig ist.

Geschichte als Text »Zwischen Lessing und Goethe liegt das Shakespeare-Bild Herders: die als Drama gedeutete Geschichte und das als Geschichte gedeutete Drama«.29 Die Implikationen der Herderschen Shakespeare-Deutung, nach der eigentlich alle Stücke Shakespeares »Histories« sind, weil Geschichte (history) immer schon dramatisch gelesene Geschichte, »plot« und »story«, ist, reichen weit über die Literatur->Geschichte< hinaus auf den Begriff der Historizität selbst. In der Struktur, in der Herder, Goethe und die Zeitgenossen Geschehen als Geschichte(n) erzählen, wird Formproblematik lesbar als Geschichtsproblematik. Lesbar wird sie auch hier zunächst als Widerspruch. Denn wenn, um beim Beispiel Herder zu bleiben, Geschichte einerseits im biologischen Modell einer konsequenten Lebenslinie erscheint, so stellt er andererseits gerade im Shakespeare-Aufsatz der delimitierten aristotelischen Handlungslinie mit Anfang, Mitte und Ende das Nebeneinander vielfältiger Begebnisse entgegen. Kontinuität und Diskontinuität, Partikularität und Ganzheit stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander. Bereits die Zeitgenossen lasen das Problem, das der Götz ihnen stellte, auf diese Weise. Sofern die Struktur des Stückes mit seiner Vielzahl oft diskontinuierlicher Szenen nicht einfach als regelwidrig abgelehnt wurde, galt es, ein Prinzip der Ganzheit und Einheit zu finden. Dies geschah durch ein Verrücken der Perspektive. Christian Heinrich Schmid verlegt in seiner Merkur-Rezension die Szene von der Bühne in die Einbildungskraft, und Justus Möser suchte den Perspektivenpunkt in einer Höhe, die unser sterbliches Auge kaum noch erreicht.30 Vom Standpunkt des rationalen Diskurses aufgeklärter bürgerlicher Subjekte ist ein solcher Punkt im buchstäblichen und meta¬ phorischen Sinne verrückt, weil er Grundprinzipien eines rational geordneten Diskur¬ ses unterminiert. Die >objektiveverrücktWahrheit< ausspricht, die vom rationalen Diskurs verdeckt wird. Liebetrauts Rede wird denn auch nur bis zu einer gewissen Grenze geduldet, an der sie buchstäblich verboten wird: »Einen andern Discours Liebetraut« (1,4). In solchen Diskursspannungen artikuliert sich eine weitere struktur(de)formierende Dichotomie: die zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung. Es ist die Struktur, die die Natur von der Gesellschaft, das Rohe vom Gekochten/Gebratenen (vgl. Carls Apfel in 1,3), Georg von Carl, Elisabeth von Maria, Götz von Weislingen trennt. Hier ist gewissermaßen der produktive Kern aller Widersprüche, die generierende Dialektik des Vermittelten, das die >Unschuld< des Unvermittelten sich als fiktiven Ursprung setzt. Unmittelbarkeit als ästhetisches, ethisches, politisches und gesellschaftliches Ideal wird zum totalisierenden Mythos des Bürgertums im 18. Jahrhundert, verkörpert/entkörpert im Schein der Schönen Seele, die Hegel dann als das unglückliche Bewußtsein aufdecken wird. Es ist bereits dem Text des Götz eingeschrieben, nicht nur in der Verstümmelung seines Helden, sondern in der Problematisierung des Textes selbst. Denn wenn Götz einer¬ seits immer wieder dem schriftlich vermittelten Wissen - z. B. der Geographie Carls (1,3) - die unmittelbare Erfahrung entgegenstellt, spricht diese Erfahrung doch gerade als schriftlich vermittelte »Geschichte« seines Lebens, als Biographie. Als Dramatisie¬ rung dieser Geschichte ist der Götz einerseits Versuch einer Rückführung der Geschichte zur Unmittelbarkeit der Begebnisse, aber gleichzeitig schriftliche Vermitt¬ lung zweiten Grades. Dem entspricht denn auch eine wiederkehrende Selbstreflexion des Textes in der Problematisierung des Geschichtenerzählens. Mit der Aufforderung zum Wiedererzählen einer Geschichte vom Berlichingen wird die Aktion provokativ in Gang gesetzt. Das Erzählen hat hier eine spezifische Funk¬ tion: die Bamberger zu ärgern. Es verweist darauf, daß auch der Text als Ganzes, der die Geschichte vom Berlichingen »noch einmal« erzählt, auf verschiedenen Ebenen fungieren soll, unter anderem auch als Provokation der Zeitgenossen. Die Funktion des Geschichtenerzählens als Eingriff in ein gegenwärtiges Geschehen ist ein wiederkehren¬ des Motiv im Götz, besonders deutlich wiederaufgenommen in der Weise, wie Liebe¬ traut (11,3) das Erzählen als Fangstrick für Weislingen braucht. Oft scheint es, als ob Handeln in diesem Stück nur stattfinden könnte, wo schon eine Geschichte ist. Gerade darin aber liegt die Bedrohlichkeit des Erzählens: daß es die Fiktion der Unmittelbar¬ keit unterminiert, indem es sie erzählt, daß es das Handeln seiner >Unschuld< beraubt, indem es davon berichtet und, scheinbar nachkommend, sich doch beständig vorgängig behauptet. Denn Geschichten sind auch Modelle, Vor-Schriften, denen das Handeln folgen soll. Das gilt zunächst hauptsächlich für die >sentimentalischen< Figuren wie Maria, die Carl die Geschichte vom frommen Kind erzählt (1,3). Hier ist freilich die

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Vermittlung schon so weit, daß der Buchstabe alles andere verschlungen hat: Carl verbindet offenbar nicht einmal einen Sinn mehr mit den Wörtern, sie sind für ihn nur noch eine mühsam nachgesprochene Sequenz von Buchstaben und Silben. In der ersten Fassung folgte denn auch hier der heftigste Angriff Elisabeths gegen die »Mährgen«, die die Kinder verderben. In der zweiten Fassung geschieht dieser Angriff indirekt - durch das Erzählen einer andern Geschichte: von Götz und dem Schneider in Stuttgart. Damit wird den verderblichen »Mährgen« die aus der Erfahrung genommene Geschichte mit Modellcharakter entgegengestellt. Diese Differenz von »Mährgen« und »Geschichte« kann letztlich freilich nicht über die Aporie hinwegtäuschen, in die der Text die Fiktion der Unmittelbarkeit führt. Götz selbst wird - widerwillig - zum Schreibenden, was er verächtlich als »geschäftige[n] Müssiggang« abtun möchte (IV,4). Dazu kommt noch die Ironie, daß Götz schreibt, um nicht verkannt zu werden, aber gerade im Akt des Schreibens sich aufgibt als der Götz, als den er sich beschreibt. Er gibt buchstäblich, wie er sagt, seine »Haut« an sein »Wort« (IV,4). Goethes Text nimmt ihn beim Wort, erzählt die Fiktion noch einmal für seine bürgerliche Zeitgenos¬ senschaft, die darin sich zu finden glaubt.

Anmerkungen 1 Sämtliche Götz-Zitate nach folgender Ausgabe: Goethe: Götz von Berlichingen. (Paralleldruck beider Fassungen.) Hrsg, und bearb. von Jutta Neuendorff-Fürstenau. Berlin 1958. Nachweis von Akt (römische Ziffer) und Szene (arabische Ziffer) unmittelbar hinter dem Text: Nachweise sonstiger Goethe-Zitate ebenfalls im Text nach: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg, von Erich Trunz. Hamburg 1948 ff. (= HA) mit eingeklammerter Sigel, Band- und Seitenzahl. Zitate aus Goethes Briefwechsel mit Nachweis des Empfängers und Briefdatums. 2 Vgl. dazu Fritz Martini: Goethes »Götz von Berlichingen«. Charakterdrama und Gesellschafts¬ drama. In: Dichter und Leser. Groningen 1972. S. 28. 3 Für die Wirkung des Stückes im 18. Jh. vgl. die Dokumente in: Zeitgenössische Urteile über Götz und Werther. Hrsg, von Hermann Blumenthal. Berlin 1935; Goethe im Urteil seiner Kritiker. Hrsg, von Robert Mandelkow. Bd. 1. München 1975. 4 Zum Begriff der »offenen Form« vgl. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München 41969. 5 Emil Staiger: Goethe. Bd. 1. Zürich 1952. S. 85. 6 Benno von Wiese: Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. Hamburg 21952. S. 64. 7 Daß die Staigersche Interpretation von einem bewußt antimodernistischen Gestus getragen ist, erklärt die Merkwürdigkeit nur teilweise. Wer aufmerksam Rezensionen zur gegenwärtigen Literatur liest, findet, daß viele von Staigers explizit und polemisch gegen den Zeitgeist gerichteten Konzepten implizit auch noch kritische Diskurse leiten, die dem Anschein nach ein weniger antagonistisches Verhältnis zur Moderne haben. Enthusiastische Diskurse über Beckett und Kafka schließen die geheimen Fiktionen von Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit nicht aus. 8 Vgl. dazu Ilse Graham: Vom Urgötz zum Götz. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 9 (1965) S. 260 ff. 9 Vgl. Edward Mclnnes (The Sturm und Drang and the Development of Social Drama. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 46 [1972] S. 61): »The Drama of the Sturm und Drang has been acknowledged as the climactic expression of a new dynamic awareness of the individual. >Es ist eine Wollust, einen großen Menschen zu sehen< - in these words of the modest Martin in Goethe’s >Götz von Berlichingen< the informing sensibility not only of one play but of a whole dramatic epoch is proclaimed.« Freilich zeigt gerade dieser Aufsatz dann, wie wenig die dramatischen Figuren als autonome Individuen fungieren. - Der Zusammenhang mit den ästhetischen Konzepten der Zeit wird deutlich in einem Satz von Franz, der gewissermaßen eine Poetik des Sturm und Drang enthält, wenn er, von Liebe zu Adelheid ergriffen, sagt: »So fühl ich denn in dem Augenblick, was den Dichter

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macht, ein volles, ganz von Einer Empfindung volles Herz« (I, 5). Auch hier ist jedoch die ironische Unterminierung schon eingeschrieben: es ist eben dieser Zustand eines ganzen, einigen Gefühls, der Franz außer sich bringt, ihn jeder Autonomie beraubt und zur Schachfigur einer andern Figur macht. Zur Problematik dieses Gemeinplatzes und eines bürgerlichem Bewußtseins überhaupt in der Fiteratur des 18. Jh.s vgl. Peter U. Hohendahl: Empfindsamkeit und gesellschaftliches Bewußtsein. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 16 (1972) S. 176-207. Ebenfalls die detaillierte Untersuchung von Gerhart von Graevenitz: Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Aspekte deutscher bürgerlichen Fiteratur im frühen 18. Jahrhundert. In: Deutsche Vierteljahrsschrift, Sonderheft (1975) S. 1-82. Ilse A. Graham: Götz von Berlichingen’s Right Hand. In: German Life and Letters N. S. 16 (1963) S. 212-228. Weitergeführt sind die Diskussion des Motivs und die Konsequenzen, die die Autorin daraus zieht, in ihrem Aufsatz »Vom Urgötz zum Götz« (Anm. 8). Graham (Anm. 8) S. 247. Ebd. S. 248. Ekkehard Gerstenberg: Recht und Unrecht in Goethes Götz von Berlichingen. In: Goethe 16 (1954) S. 267. (Abbildung des Wappens S. 273.) Auf die Frage des Epimetheus im Prometheus-Fragment »Wie vieles ist denn dein?« antwortet Prometheus: »Der Kreis, den meine Wirksamkeit erfüllet! / Nichts drunter und nichts drüber!« (HA 4,178). Jakob Michael Reinhold Lenz, zitiert in: Goethe im Urteil seiner Kritiker (Anm. 3) S. 26. Ebd. S. 24. Daß es sich hier tatsächlich um ein paradigmatisches Phänomen handelt, zeigt die materialreiche, wenn auch gelegentlich einseitig akzentuierte Studie von Knud Willenberg: Tat und Reflexion. Zur Konstitution des bürgerlichen Helden im deutschen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1975. - Willenberg weist nach, wie der bürgerliche Held im Drama des 18. Jh.s durch die Unfähigkeit zu handeln sich konstituiert und das Handeln den vorbürgerlichen und nichtbürgerlichen Figuren aufgeladen wird. Zur Diskussion dieser Problematik vgl. Martini (Anm. 2). Goethe selbst hatte schon früh, Jahre vor dem Götz, ironische Distanz zur Bardendichtung seiner Zeit eingenommen. Vgl. den Brief an Friederike Oeser vom 13. 2. 1769. Das wird besonders deutlich in Justus Mösers Verteidigungsschrift der deutschen Literatur (und des Götz im besondern) gegen Friedrich II., in der er Friedrich entgegenhält, der Hofgeschmack sei nicht dem ganzen Volk bekömmlich. In Deutschland waren es vor allem Herder und Möser, die diese geschichtsphilosophische Perspek¬ tive entwickelten. Eine theatergeschichtliche Konsequenz dieser Perspektive ist ein bisher auf der Bühne unbekannter historischer Realismus, der sich u. a. in den Kostümen der ersten GötzAufführung bemerkbar machte. Vgl. dazu Friedrich Sengle: Das historische Drama in Deutschland. Stuttgart 21969. S. 38. Vgl. Sigmund Freud: Der Dichter und das Phantasieren. Studienausgabe Bd. 10. Frankfurt a. M. 1969. S. 169-180. Vgl. dazu Gert Mattenklott: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. Stuttgart 1968. Vgl. dazu Henry Schmidt: The Language of Confinement. Gerstenberg’s »Ugolino« and Klinger’s »Sturm und Drang«. Demnächst in: Lessing Yearbook. - Jacques Lacan hat dieselbe Dichotomie am Existentialismus aufgezeigt und damit gleichzeitig ihre Aporie im imaginär-illusionären Ich-Begriff verankert. Was er am spätbürgerlichen Existentialismus aufdeckt, ist der frühbürgerlichen Autono¬ miefiktion bereits eingeschrieben: »[...] läßt sich der Existentialismus an den Rechtfertigungen abschätzen, die er den subjektiven Sackgassen gibt, die eben daraus resultieren: Eine Freiheit, die sich nirgends so authentisch bejaht wie innerhalb der Mauern eines Gefängnisses [...]« (J. L.: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: J. L.: Schriften I. Olten / Freiburg i. Br. 1973. S. 69). Zu den weiteren Implikationen des Bruderzwist-Motivs vgl. Fritz Martini: Die Feindlichen Brüder. Zum Problem des gesellschaftskritischen Dramas von J. A. Leisewitz, F. M. Klinger und Fr. Schiller. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 16 (1972) S. 208-265. Staiger (Anm. 5) S. 85. Carl Hammer: Goethe and Rousseau. Resonances of the Mind. Lexington 1973. S. 59. B. von Wiese (Anm. 6) S. 54. Schmid in: Zeitgenössische Urteile ... (Anm. 3) S. 14 f.; Möser in: Goethe im Urteil seiner Kritiker (Anm. 3) S. 94.

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I »Nach alle den vorhergehenden Situationen, worin er sich seit Jahren befunden hatte«, lesen wir über den jungen Anton Reiser, »war ihm nun die Rolle des Klavigo gleichsam Zweck seines Lebens geworden, das durch tausend drückende Lagen einmal ganz unter die Herrschaft der Phantasie zurückgedrängt war, die nun über dasselbe ihre Rechte ausüben wollte. — Die Saite war bis zur höchsten Spannung hinaufgewunden, und nun sprang sie. -«' Der Verfasser des Anton Reiser, Goethes Freund Karl Philipp Moritz, hatte als Schauspieler angefangen und wußte sehr wohl, warum er seinem Romanhelden und alter ego diesen Wunsch mitgegeben und ihn schließlich auch die Enttäuschung hatte erleben lassen, die heißersehnte Rolle einem Rivalen überlassen zu müssen. Theatererfolg und -Wirkung sind Clavigo, dem bühnengerechtesten aller Goetheschen Dramen, im großen und ganzen recht treu geblieben. Das im August 1774 veröffent¬ lichte Werk wurde noch in jenem Herbst in Augsburg gespielt, wobei Beaumarchais der zwar kaum Deutsch konnte, aber genug von der Bühnenhandlung verstand, um sich zu überzeugen, daß Goethe sie durch Hinzufügung eines Duells und eines Begräbnisses »verdorben« habe - sich zufällig unter den Zuschauern befand. Die wohl glanzvollste der frühen Aufführungen fand am 23. August 1775 in Hamburg statt; obwohl (oder weil?) der berühmte Friedrich Ludwig Schröder den Carlos spielte, mußte das Stück auf Betreiben des spanischen Residenten kurz darauf wieder vom Spielplan abgesetzt werden. Es folgten Aufführungen in Gotha, Dresden, Frankfurt. Zum Geburtstag des Herzogs Karl Eugen, am 11. Februar 1780, wurde Clavigo an der Hohen Carlsschule gegeben, mit dem Eleven Schiller, der das Stück zwar ausgewählt hatte, aber »abscheulich« spielte und sich durch »Brüllen, Schnauben und Stampfen« hervortat, in der Titelrolle.2 Aus demselben Jahr ist eine Aufführung in Nördlingen unter dem Titel Clavigo, oder wie der innerliche Schmerz töten kann verbürgt. Die Wiener Premiere fand 1786 im Hofburgtheater statt; die Berliner konnten das Drama seit 1787 wiederholt sehen, 1810 sogar in Ifflands Inszenierung. Unter Goethes eigener Regie ging es 1792 in Weimar, 1803 in Lauchstädt und Rudolstadt über die Bretter. Noch am 9. Oktober 1828, über ein halbes Jahrhundert nach der Erstveröffentlichung, war bei einer Abendveranstaltung bei Ottilie von Goethe »jedermann [...] im Anhören versunken und davon hingerissen«, als Ludwig Tieck aus Clavigo vorlas: »Die Lichter brannten trübe, niemand dachte daran oder wagte es, sie zu putzen, aus Furcht vor der leisesten Unterbrechung; Tränen in den Augen der Frauen, die immer wieder hervor¬ quollen, zeugten von des Stückes tiefer Wirkung«.3 Goethe selbst war an diesem Abend nicht anwesend. Vielleicht hatte er sich die Quarantäne auferlegt, durch die er im Alter derartige Erschütterungen von sich fernzuhalten pflegte. So sicher sich Clavigo, wie unter Goethes Dramen sonst nur noch Faust /, bis in unsere Tage hinein auf der Bühne bewährt hat (man denke etwa an die Hamburger FritzKortner-Inszenierung von 1969), so zwiespältig war von Anfang an die Behandlung,

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die dem Stück in der Literaturkritik und -geschichtsschreibung widerfuhr. Das ist, wie wir sehen werden, zum Teil im Werk selbst begründet; zum Teil liegt es aber auch an einer Kette von Umständen, die den Verdacht nahelegen, Clavigo sei unter einer Art von Unstern geboren. Auf jeden Fall sah sich derjenige Teil des Publikums, der soeben den Götz genossen und sich ein weiteres Drama dieser Art erhofft hatte, nun in seiner Erwartung enttäuscht.4 Nur sechs Wochen nach Clavigo aber erschien der schon im Frühsommer abgeschlossene Werther, mit dem Resultat, daß die so überaus intensive und langwährende Reaktion auf den Roman die kritische - im Gegensatz zur dramatur¬ gischen - Rezeption des Dramas zunächst einmal verunsicherte und hintanhielt. So haftet den frühen Clavigo-Rezensionen ein verhaltener Ton an, den die Götz- und Werber-Rezeption nicht kennt. Bei Clavigo hielt im übrigen der Zuspruch (»Als ein Meister, dem jede Form gleich gilt, hat sich Herr Göthe hier unter das Joch der Regelmässigkeit geschmiegt, ohne daß man ängstlichen Zwang bemerkte«)5 mit fast mathematischer Genauigkeit der Ablehnung die Waage (»Die wahre Geschichte des Clavigo ist kürzlich in Hamburg aus dem Französischen übersetzt erschienen. Bekanntlich hat Göthe den Stoff zu seinem Clavigo daraus genommen. Die deutsche Muse rächt sich an dem Verfasser des Götz, und Clavigo wurde nur ein mittelmäßiges Stück«)6. In der Forschung schließlich dürfte Goethes Aussage, er habe das Werk in acht Tagen verfaßt, diesem ebenso geschadet haben wie Mercks bekanntes Urteil über Clavigo als »Quark« mitsamt der Erwiderung des Dichters, er hätte damals »ein Dutzend Stücke der Art« schreiben können.7 In den Ohren der positivistischen Goethe-Forscher, denen es weitgehend um die Entstehungsgeschichte der Werke zu tun war und die im Faust und dessen sechzigjähriger Genese das Maß aller Dinge sahen, werden sich diese kraftgenialisch-burschikosen Bemerkungen um so enttäuschender ausgenommen haben, als es scheinen mußte, Goethe habe sein Werk selbst nicht ganz für voll genommen. Nachdem der Widerstreit der Meinungen um die Mitte des ^.Jahrhun¬ derts noch einmal aufgeflammt war, wobei Adolf Stahr den negativen und Hermann Hettner den positiven Standpunkt am rigorosesten vertrat, ist es recht stille geworden um Clavigo, über den sich auch heute noch kein einhelliges Urteil herausgebildet hat: ein Sachverhalt, der eine Forscherin an Schillers Wallenstein gemahnte, von dem es heißt, es »schwankt sein Charakterbild in der Geschichte«.8 Irgendwie nicht gewichtig genug, um mit den großen Dramen in einem Atem genannt, als Theaterstück andrer¬ seits zu überzeugend, um etwa mit den Singspielen als Nebenwerk abgetan zu werden, fristet Clavigo, immerhin das erste Werk, das Goethe unter eigenem Namen veröffent¬ lichte, in der Forschung wie in vielen Werkausgaben ein kümmerliches Dasein. Durchaus bezeichnend dafür ist der Umstand, daß das Stück im fünften Band der Berliner Ausgabe unter die »kleinen Dramen« versetzt und zwischen Prolog zum neueröffneten moralisch-politischen Puppenspiel und Stella eingezwängt wurde. Es kann uns hier nicht darum zu tun sein, eine Clavigo-Renaissance in die Wege zu leiten; eine solche, wenn überhaupt denkbar, müßte ohnehin von der Bühne - von Film und Fernsehen? - ausgehen. Wie bei jeder Beschäftigung mit klassischer Literatur stellt sich aber auch bei diesem Werk die Frage: Was hat es uns noch zu sagen? Wenn uns Clavigo in der Tat noch (oder wieder) etwas zu sagen hat, dann leitet sich dies nicht aus dem biographischen Hintergrund her, um dessentwillen man sich früher so gern mit ihm befaßte. Für uns ist der Anlaß, aus dem Goethe sich an die Arbeit machte, von nur

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noch antiquarischem Interesse; man kann in Dichtung und Wahrheit nachlesen, wie er Beaumarchais’ gerade verdeutschte Denkschrift zu einer Gesellschaft junger Leute mitnahm, daraus vorlas und von seiner Partnerin im Mariage-Spiel ersucht wurder die Erzählung in ein Drama zu verwandeln, welches er denn innerhalb einer Woche auch ablieferte.9 Als Bruchstück der großen Konfession schließlich, als »Bewältigungs¬ stück«, berührt uns Clavigo heute um so weniger, als es nicht viele Aussagen von Goethe gibt, denen die Germanisten so einmütig widersprochen haben wie seiner Behauptung, er habe »zu der Zeit, als der Schmerz über Friedrikens Lage mich beängstigte«, die »hergebrachte poetische Beichte« fortgeführt und auch dieses Drama als Teil eben jener »selbstquälerischen Büßung« verfaßt.10 Mit Georg Gremplers apodiktischem Satz: »Nicht als poetische Beichte, nicht als Resultat reuiger Betrachtun¬ gen und selbstquälerischer Büßung zum Zwecke innerer Absolution haben wir den Clavigo in erster Linie aufzufassen, sondern als den Ausfluß des überströmenden Produktionsdranges« wird man kaum rechten wollen.11 Clavigo erscheint uns lesenswert vor allem, weil sich an ihm mit exemplarischer Deutlichkeit jene Hohlräume und Doppelbödigkeiten studieren lassen, die klassische Schriftwerke ansetzen, indem sie altern und sich zugleich regenerieren. Stefan George hat den Substanzwandel, kraft dessen diese Werke die Zeit überdauern und sich jeder Generation in neuem Licht offenbaren, im Hinblick auf Goethe selbst einmal so umschrieben: »Doch ahnt ihr nicht dass er der staub geworden seit solcher frist noch viel für euch verschliesst und dass an ihm dem strahlenden schon viel verblichen ist was ihr noch ewig nennt.«12 Die auf den Dichter gemünzten Zeilen treffen auch auf sein Drama zu. Vieles ist an Clavigo in der Tat »verblichen«, von Hohlräumen, also ihrer Bedeutung entleerten Begriffen wie der mit dem Degen zu wahrenden Familienehre (oder der Braut als Spielzeug in den Händen des Verlobten) bis hin zu Doppelbödigkeiten, die heutzutage des Kommentars bedürften wie der »gute Geschmack«, den Clavigo durch seine Zeitschrift zu fördern gedenkt, oder das »jüdische Ab- und Zulaufen« des Käufers, den Buenco in Clavigo zu sehen vermeint.13 Wichtiger freilich ist, was Clavigo noch für uns »verschliesst«. Ohne einer seichten »Relevanz« das Wort reden zu wollen, stellen wir fest, daß Goethe hier den Typ des Aufsteigers, des Karrieremachers durchexerziert hat zu einer Zeit, als es diesen noch kaum gab: im Ancien regime. Clavigo, in Goethes Sicht ein »unbestimmter, halb gros halb kleiner Mensch«,14 wirkt eben deshalb überzeugender als mancher Bühnenschurke Schillerscher oder auch Brechtscher Provenienz, der Himmel und Erde in Bewegung setzen oder die ökonomischen Produktionsverhältnisse bemühen muß, um halbwegs glaubhaft zu agieren. Clavigo und Carlos sind hingegen menschlich-allzumenschlich, sind geschichts-, ja fast schon gesichtslose Typen und auch deshalb unheimlich modern. Kaum weniger modern will uns im übrigen die Struktur dieses Werkes erscheinen, auf das man beispielsweise ohne Zusatz oder Abstrich Rolf Hochhuths Beobachtung zum Stellvertreter anwenden darf, nämlich daß sich der Verfasser »die freie Entfaltung der Phantasie nur soweit erlaubt hat, als es nötig war, um das vorliegende historische

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Rohmaterial überhaupt zu einem Bühnenstück gestalten zu können«.15 Tatsächlich haben wir in Goethes Clavigo unter anderm auch einen direkten Vorläufer des Dokumentarstücks vor uns und somit ein Experiment, das seiner Zeit um zweihundert Jahre voraus war. Mit einer gewichtigen Einschränkung freilich, die überhaupt den wunden Punkt dieses Dramas bezeichnet und die Emil Staiger denn auch ganz allgemein auf die Formel: »Die Not des Helden ist zu privat« gebracht hat.16

II Dem hier vorliegenden »Rohmaterial«, dem Fragment de mon voyage en Espagne des Pierre Augustin Caron de Beaumarchais zufolge, erhält dessen Vater im Februar 1764 ein Schreiben von seiner in Spanien verheirateten Tochter Madame Guilbert, aus dem hervorgeht, daß die bei ihr wohnende jüngere Schwester Marie-Louise zweimal kurz vor der Hochzeit von ihrem Verlobten sitzengelassen und nun einer Nervenkrise anheim gefallen sei. Beaumarchais, in Versailles als Musiklehrer der Töchter Ludwigs XV. beschäftigt, bespricht sich mit seinem Vater und beschließt, an Ort und Stelle nach dem Rechten zu sehen, d. h. die Familienehre durch Bestrafung des Verräters wieder¬ herzustellen und die verlassene Schwester nötigenfalls nach Paris zurückzubringen. Er erhält Urlaub vom Hof, diskutiert mit dem Bankier Duverney einige in Spanien zu erledigende finanzielle und politische Angelegenheiten und fährt mit einem Begleiter nach Madrid, wo er im Mai 1764 eintrifft. Noch am Ankunftstage gelingt es ihm, auf einem Empfang die Bekanntschaft des Mannes zu machen, um dessentwillen er die lange Reise auf sich genommen hatte: Don Jose Clavigo y Fajardo, vor vierunddreißig Jahren als Sohn armer Leute bei Lanzarote geboren und durch Ehrgeiz und Tüchtigkeit inzwischen zum königlichen Archivar und einflußreichen Journalisten auf gestiegen. Ohne seinen Namen oder den Grund seiner Reise preiszugeben, läßt sich Beaumarchais mitsamt Begleiter auf den nächsten Tag zum Frühstück einladen. Clavigo, ein angesehener und gefährlicher Mann - »un homme aussi accredite que dangereux«, heißt es im Original -, empfängt die beiden um so freundlicher, als Beaumarchais ihn (den, wie er verbindlich hinzufügt, wohlbekannten Herausgeber der Zeitschrift El pensador) einlädt, korrespondierendes Mitglied einer gelehrten Gesell¬ schaft zu werden. Nachdem er sein Opfer derart umgarnt und arglos gemacht hat, legt der Franzose die Schlinge und zieht sie blitzschnell zu am Ende seiner berühmten, von Goethe fast unverändert übernommenen und von Sainte-Beuve und anderen als wahres Meisterstück gepriesenen Abrechnung mit seinem Gegenüber. Vor Clavigo, der wie ein vom Anblick der Schlange gelähmter Vogel das scheinbar so ungefähre Unheil immer zielstrebiger auf sich selbst zukommen sieht, rekapituliert Beaumarchais zunächst die Vorgeschichte von dem Pariser Kaufmann, dem ein schon betagter Freund nahegelegt hatte, zwei seiner Töchter nach Madrid zu schicken, wo sie bei ihm wohnen und sich ausbilden sollten. So geschah es denn auch: die Mädchen lebten sich in der Hauptstadt ein, leiteten nach dem Tod ihres Wohltäters dessen Firma und nahmen in ihren Freundeskreis alsbald auch einen unbemittelten jungen Mann von den Kanarischen Inseln auf (bei diesem Detail, das er auf sich beziehen muß, schwant Clavigo bereits nichts Gutes - »toute sa gaiete s’evanouit ä ces mots qui le designaient«). Der junge Mann macht Marie-Louise den Hof, wird von der älteren Schwe-

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ster angehalten, sich erst einmal eine Existenz aufzubauen, und verlobt sich schließlich mit der jüngeren in aller Form, nachdem er sich durch den Erfolg seiner Zeitschrift einen Namen gemacht und vom König das Versprechen einer baldigen Anstellung erhalten hatte. Eines Tages jedoch verschwindet Clavigo plötzlich; die Aussicht, früher oder später eine schöne Spanierin aus gutem Hause heimzuführen, erscheint dem ehrgeizigen Mann wünschenswerter als die Heirat mit einer landfremden, keineswegs reichen und auch nicht mehr jungen Frau. Er taucht erst wieder auf, als ihn die Freunde, unter ihnen der französische Gesandte am Hof in Aranjuez, an sein Heiratsversprechen erinnern. Die Verlobung wird in der Gesellschaft ein zweites Mal bekanntgegeben und anberaumt. Im letzten Augenblick aber zieht sich der unbeständige Bräutigam wiederum zurück, nicht ohne bei den Schwestern durchblicken zu lassen, daß es ihnen als Ausländerinnen schlecht anstünde, wenn sie auf einen Spanier Druck ausüben wollten. Marie-Louise, die ihm das erstemal verziehen, deren Liebe sich nun aber in Haß gewandelt hat, erleidet jetzt einen Nervenzusammenbruch. Madame Guilbert aber schreibt einen Brief nach Frankreich, aufgrund dessen ihr Bruder alles stehen und liegen läßt - »patrie, devoirs, famille, etat, plaisirs« - und nach Madrid eilt, um seinen Schwestern beizuste¬ hen und den Verräter zu bestrafen. Die souverän entworfene und durch in den Text verflochtene Regieanweisungen dramatisch bereits vorgeformte Exposition endet mit den Worten: »Und dieser Bruder, das bin ich [...] und dieser Verräter, das bist du!« Unter Androhung eines Duells zwingt Beaumarchais den zerknirschten Clavigo zur Unterzeichnung einer Ehrenerklärung, in der letzterer sich des Wortbruchs schuldig bekennt. Mit dieser Erklärung will der Franzose seinen Gegner am Hof unmöglich machen und aus dem Amt treiben. Vorerst gewährt er ihm freilich einigen Aufschub und verspricht sogar, einen Versöhnungsversuch mit Marie-Louise in die Wege zu leiten. Das ist ganz im Sinne des Gesandten, der Beaumarchais rät, die Schwester nach wie vor mit Clavigo zu verheiraten, da dieser eine Zukunft hat - »cet homme est fait pour aller loin«. Beaumarchais verzichtet vorerst nicht nur auf die Rache. Er befreundet sich sogar mit Clavigo, der seinerseits, aus Sorge um sein Ansehen, den reumütigen Liebhaber hervorkehrt und schließlich eine öffentliche, in der gemeinsamen Unterzeichnung eines Heiratsabkommens gipfelnde Aussöhnung mit Marie-Louise zuwege bringt. Der Bru¬ der leiht seinem Schwager-in-spe Geld und erwirkt für ihn die Heiratserlaubnis beim Minister Grimaldi. Erst als er erfährt, daß Clavigo sich ihm wiederholt durch heimli¬ chen Wohnungswechsel zu entziehen gesucht und das Gerücht verbreitet hat, man habe ihn mit vorgehaltener Pistole zur Unterzeichnung des Heiratsversprechens genötigt, erwacht Beaumarchais aus seiner Sorglosigkeit. Es ist höchste Zeit. Ein warnender Brief des Gesandten sowie die Mahnung eines spanischen Offiziers, Madrid sicherheitshalber sofort zu verlassen, bewegen ihn nun zum kühnen, alles entscheidenden letzten Schritt. Anstatt unverrichteter Dinge nach Paris zurückzukehren, verfaßt er eine Denkschrift über die ganze Angelegenheit und fährt nach Aranjuez. In Grimaldis Vorzimmer trifft er den ehemaligen Minister Whal, einen rechtschaffenen Mann, der ihn zum König geleitet. Dieser ermuntert ihn, seine Denkschrift vorzulesen, und enthebt Clavigo wegen seines unehrenhaften Benehmens daraufhin seines Amtes. Nach Beilegung dieser Affäre, die über einen Monat in Anspruch nimmt, kümmert sich Beaumarchais um seine übrigen Geschäfte und kehrt

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1765 nach Paris zurück, nicht ohne sich bei Grimaldi für die Begnadigung des vom Hof verbannten Clavigo eingesetzt zu haben. Das Fragment de mon voyage en Espagne, viertes und letztes der Memoires de Beaumarchais dans Vaffaire Goezman, klingt in ein Lob der spanischen Rechtspre¬ chung aus. Der Verfasser, der Bestechung des Pariser Gerichtspräsidenten Goezman angeklagt, spielt hier die spanische Justiz, die ihm, dem Fremden, gegen den übermäch¬ tigen Clavigo zu seinem Recht verholfen hatte, gegen die korrupte Rechtsprechung in Frankreich aus. Eben weil es sich bei den Memoires um Verteidigungsschriften handelt, setzt sich Beaumarchais auch in dieser mit dem Prozeß nur lose verbundenen Denk¬ schrift ins rechte Licht als weltgewandter, aber aufrechter und von seinen Mitmenschen stets das Beste erwartender Ehrenmann. Hier steht kein Wort davon, daß Marie-Louise kein wehrloses Mädchen, sondern eine erfahrene Frau von vierunddreißig war,17 und auch keines über Beaumarchais’ Abschiedsgeschenk an den König (er vermachte ihm seine Mätresse, die Marquise de St. Croix).

III Was tat Goethe nun mit dem derart vorgegebenen Material, wie »entschlackte« er es,18 da er der eigenen Aussage zufolge doch »ein Drama fürs Aufführen« schreiben wollte, »damit die Kerls sehen, dass es nur an mir liegt, Regeln zu beobachten«?19 - wobei im Vorübergehen darauf hingewiesen sei, daß er mit diesem Werk nicht auf den Überra¬ schungseffekt rechnen durfte, den Götz ausgelöst hatte und Werth er auslösen sollte; die Positionen von Beaumarchais und Clavigo waren im Erwartungshorizont des literari¬ schen Publikums von 1774 recht genau fixiert. - Zunächst reduzierte er die Handlung auf drei Tage und auf Madrid als einzigen Schauplatz. Bezeichnet man Clavigos Wohnung mit A, Guilberts mit B und die neutrale, beiden Parteien zugängliche Straße mit C, dann ergibt sich in der Szenenfolge der denkbar einfachste Wechsel des Schauplatzes in den fünf Akten: AB - A - B - AB - C. Darüber hinaus gab er dem Drama das geschlossene Ende, das der Denkschrift fehlt, an deren Schluß sich Clavigo dank der Fürsprache seines Gegners auf dem Wege zur gesellschaftlichen und berufli¬ chen Rehabilitation zu befinden scheint. Obwohl wir über Marie-Louises weitere Schicksale nichts erfahren, legt gerade dieses Schweigen die Vermutung nahe, daß auch sie sich von dieser Krise erholen wird.20 Beaumarchais selbst wendet sich nach vollzoge¬ ner Sühne - und man kann aus seinem Text unschwer einen Seufzer der Erleichterung heraushören, ein händereibendes »So, das wäre geschafft!« - den Geschäften zu, die Duverney ihm in Paris aufgetragen hatte. Die Welt ist heil, die Ereignisse bleiben Episode im Leben der handelnden Personen. Ganz anders im Drama. Sofern ihm psychologischer und gattungsimmanenter Zug¬ zwang nicht bereits den Weg gewiesen hatten, benutzte Goethe im letzten Akt Motive aus Hamlet, aus dem (von ihm selbst aufgezeichneten) Volkslied Vom Herrn und der Magd, aus der englischen Ballade Lucy and Colin, vielleicht auch aus Romeo und Julia und Voltaires Uingenu und weiteren Werken, in denen der Zweikampf am Grab der Geliebten oder die unvermutete Begegnung des treulosen Liebhabers mit dem Leichen¬ zug des verlassenen Mädchens eine Rolle spielt. Im Drama muß die Welt durch den Tod des Missetäters erst wieder heil gemacht werden; dort muß auch Marie sterben,

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und Beaumarchais, trotz vollbrachter Rache weit entfernt von jeglichem Triumph, um sein Leben fliehen: seiner Sicherheit gelten die letzten Worte des Stückes (Sophies »Rette dich, Bruder!«) sowie die Geste, mit der es schließt (Sophie macht eine Bewegung, »ihn zu entfernen«). Nichts zeigt indes klarer, daß wir es mit einem vollblütigen Theaterstück zu tun haben und keiner bloßen Nachdichtung, als die Unmöglichkeit, sich auch für die zusätzlichen, von Goethe frei erfundenen Personen ein Weiterleben vorzustellen; weder bei Buenco, der ganz in Maries, noch bei Carlos, der trotz erheblicher Eigenbewegung ganz in Clavigos Dunstkreis aufgeht. Ein solches Weiterleben ist allenfalls bei Sophie denkbar, der einzigen Person, die aus der Denk¬ schrift (wo sie durchweg Madame Guilbert heißt, obwohl ihr Mann nicht erwähnt wird) bruchlos ins Drama übernommen wurde. Ihre Schwester Marie hingegen, die bei Goethe völlig in der Liebe zum Mann aufgeht und überdies schwerkrank ist, hat mehr mit anderen Frauengestalten des jungen Dichters gemein, mit der Schwester des Götz oder mit Gretchen, als mit ihrer bei aller Leidenschaftlichkeit doch recht robusten Vorgängerin in der Denkschrift. Beaumarchais selbst, der sich in seiner Selbstdarstellung so weltmännisch gibt, ist bei Goethe zum Stürmer und Dränger geworden. Seine Handlungen werden nicht von den Erfordernissen des praktischen Lebens (etwa dem Wunsch, den guten Namen der Familie zu bewahren und die unversorgte Schwester unter die Haube zu bringen), sondern von Gefühlswallungen bestimmt: »O hätt ich ihn drüben über dem Meere!« tobt er gegen Clavigo vor den Schwestern, gegen Ende des 4. Aktes, »Fangen wollt ich ihn lebendig, und an einen Pfahl gebunden stückweise seine Glieder ablösen, vor seinem Angesichte braten und mir’s schmecken lassen, und euch auftischen, Weiber!«21 Diese Kraftmeierei, die schier unglaublich anmutet aus der Feder des Mannes, der soeben den Werther beendet hatte, und die sowohl durch die Umkehrung des Bildes vom Edlen Wilden als auch durch die ans Lächerliche grenzende Disproportion von Schuld (das gebrochene Eheversprechen) und Sühne (der Tod am Marterpfahl) auffällt, wurde zwar im endgültigen, für die Schriften von 1787 durchgesehenen Text gestri¬ chen.22 Gleichwohl ist Beaumarchais in Sprache und Gestik die radikalste Figur des Dramas geblieben, deren Radikalität sich notabene im Affektiven, gewissermaßen im Hormonspiegel des Cholerikers erschöpft und nirgends die Weltordnung als solche in Frage stellt. Wenn man nicht die Schilderung von Zuständen, die einem Clavigo oder Carlos den Aufstieg ermöglichen, bereits als Sozialkritik ansehen möchte, dann bleibt man in diesem Punkt - an dem sich Clavigo wohl am weitesten von Dramen wie Emilia Galotti, Götz von Berlichingen und Kabale und Liebe entfernt - auf Buenco angewie¬ sen, dem es immerhin nahegeht, nichts gegen den »falschen Höfling« unternehmen zu können. Er ist allerdings ein denkbar unglaubwürdiges Sprachrohr gegen die absoluti¬ stische Gesellschaftsordnung, dieser »unbedeutende ruhige Bürger von Madrid« (265), dessen politische Weisheit denn auch in dem Befund »Der König ist groß und gut« (283) gipfelt. In der Tat bewahrheitet sich Gundolfs Feststellung, Goethes Clavigo habe so wenig mit Spanien zu tun wie sein Mahomet mit dem Orient oder Prometheus mit Griechenland, vorzüglich im Hinblick auf Buenco, der nicht nur wegen der augenscheinlichen Verwandtschaft mit Brackenburg gut in jene Egmont-Welt passen würde, die im verklärend-musikalischen Ende des Clavigo bereits vorweggenommen

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IV Clavigo gehört zu den Dramen, die mit dem Titelhelden stehen oder fallen. Er ist mit Abstand die wichtigste Person des Stückes, zumal man annehmen darf, daß sich Goethe bei der Lektüre der Denkschrift zunächst von Clavigo selbst als einem »Pendant zum Weislingen im Götz, vielmehr Weislingen selbst in der ganzen Rundheit einer Haupt¬ person« angezogen fühlte.24 Nun ist sein Held unter anderm gewiß auch ein potentierter Weislingen, mit dem er den Ehrgeiz und ein mit Minderwertigkeitsgefühlen gepaartes Geltungsbedürfnis und letztlich auch die Furcht vor der unwiderruflichen Entscheidung gemein hat. Clavigo ist aber mehr und anderes als ein Glied in jener Kette willensschwacher, obschon attraktiver Männer, die von Weislingen über Clavigo, Werther und Fernando bis zum Eduard der Wahlverwandtschaften führt. Löst man ihn aus dem Gewebe der literaturgeschichtlichen und autobiographischen Bezüge heraus und betrachtet man ihn ganz für sich, nicht als Glied in obiger Kette oder Vexierbild des ewig fluchtbereiten und darob schuldbewußten jungen Goethe, sondern als »blo¬ ßen« Clavigo, dann vermeint man in ihm neben dem Aufsteiger noch einen weiteren, in dieser Erscheinungsform wiederum durchaus modernen Menschentyp zu erkennen: den Intellektuellen. Er ist kein Dichter wie Tasso und erst recht kein Genie wie Faust und auch kein Mann des praktischen Handelns, aber ein Mensch mit vielseitigen In¬ teressen, blühender Phantasie und der Gabe des Wortes. Ist es nun Zufall, daß ihm das Wort »Gott« ein einziges Mal über die Lippen kommt, in seiner Agonie im letzten Akt, während es in der vorausgehenden Szene (Guilberts Wohnung im 4. Akt) von Marie einmal, Beaumarchais zweimal und Sophie gleich viermal gebraucht wurde? Wenn ihn der Himmel wenig zu kümmern scheint, so ist er doch auf der Erde auch nicht recht zu Hause, dieser »Fremde, der ohne Stand, ohne Namen, ohne Vermögen hieher kam« (261), der im Grunde »kein Kavalier ist« (292) und von Carlos denn auch an »das graue Jäckchen und die bescheidene Miene« gemahnt wird, mit denen er einst in Madrid eingetroffen war (294). Von seinen Werken erfahren wir nur, daß sie, wie so viel Geschriebenes im 18. Jahrhundert, der Verbreitung des guten Geschmacks dienen. Als Intellektuellen dieser spezifischen Prägung - man ist versucht zu sagen: als Literaten - lernen wir ihn gleich nach Auf gehen des Vorhangs kennen, und es gibt vielleicht kein anderes Drama in der deutschen Literatur, das mit einer derart bündigen und zugleich subtilen Selbstanalyse des Helden einsetzt: »Clavigo (vom Schreibtisch aufstehend). Das Blatt wird eine gute Wirkung tun, es muß alle Weiber bezaubern. Sag mir, Carlos, glaubst du nicht, daß meine Wochenschrift jetzt eine der ersten in Europa ist?« Da ist schon der ganze Clavigo: begabt und ehrgeizig, »fremdgesteuert« und weniger auf die Substanz bedacht als auf den Eindruck, den er hinterläßt, zynisch und im Grunde genommen doch ein armer Kerl, der selbst in guten Stunden (und so relativ unbekümmert wie in der Eingangsszene werden wir ihn im ganzen Verlauf des Stückes nicht wieder sehen) nicht ohne Billigung und Beifall des Freundes auskommen kann. Dennoch stellt auch dieser Clavigo, dem das Alle-Weiber-Bezaubern Zweck des Schreibens ist, noch eine veredelte Version des Urbilds aus der Denkschrift dar. Aus Beaumarchais’ geistlosem Intriganten ist ein bei aller Schwäche recht einnehmender Mensch geworden. Wer aber ist der Freund? Goethe hat die Figur des Carlos bekanntlich nach Rezept verfertigt und dies in einer Aussage kommentiert, die zum Aufschlußreichsten gehört,

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was er überhaupt über eines seiner Werke gesagt hat: »Der Bösewichter müde«, lesen wir in Dichtung und Wahrheit, »die aus Rache, Haß oder kleinlichen Absichten sich einer edlen Natur entgegensetzen und sie zugrunde richten, wollt’ ich in Carlos den reinen Weltverstand mit wahrer Freundschaft gegen Leidenschaft, Neigung und äußere Bedrängnis wirken lassen, um auch einmal auf diese Weise eine Tragödie zu motivie¬ ren.«25 Die Schlußbemerkung, dieses beiläufig gesprochene »um auch einmal auf diese Weise eine Tragödie zu motivieren«, wird vom rückschauenden Dichter keinem Shakespeare auf der Höhe seines Schaffens und keinem Voltaire im Alter in den Mund gelegt, sondern sich selber: einem Vierundzwanzigjährigen, der einen einzigen Büh¬ nenerfolg hinter sich hatte. Hätte er den Satz 1774 niedergeschrieben und wäre er nach Clavigo gestorben, dann klänge dies so überheblich und provozierend wie ähnliche Äußerungen aus der Feder des jungen Brecht, der seine kritischen Ausgangspositionen ja auch erst durch die im Lauf vieler Jahre erbrachten Leistungen legitimieren mußte. So, wie sie jetzt dastehen, an den Anfang einer Reihe von überwältigenden dramati¬ schen Schöpfungen gestellt, drücken diese Worte, auch wenn sie aus autobiographi¬ scher Perspektive ein wenig geglättet sein mögen, das monumentale Selbstvertrauen aus, das Goethe (notabene als Dichter, weit weniger als Menschen) in jenen Jahren beseelte. Es fragt sich, ob er dieses Selbstvertrauen in bezug auf Clavigo zu Recht hegte oder ob sich die Überheblichkeit, mit der er mitsamt den »Bösewichtern« auch einen Großteil der abendländischen Tragödie beiseite schob, nicht doch gerächt hat. Liegt eine der Schwächen des Stückes nicht darin, daß Clavigo und Carlos eben keine Bösewichter sind und daß der Versuch des letzteren, das bloße Machtstreben dem Freund gegenüber in die Idee des außerordentlichen Menschen zu kleiden, trotz der hochpathetischen Sprache keinen Ersatz für die fehlende psychologische Spannung bietet? - »Mit deinem Herzen, deinen Gesinnungen, die einen ruhigen Bürger glücklich machen würden, mußtest du den unseligen Hang nach Größe verbinden! Und was ist Größe, Clavigo? Sich an Rang und Ansehen über andre zu erheben? Glaub es nicht! Wenn dein Herz nicht größer ist als andrer Herzen, wenn du nicht imstande bist, dich gelassen über Verhältnisse hinauszusetzen, die einen gemeinen Menschen ängstigen würden, so bist du mit allen deinen Bändern und Sternen, bist mit der Krone selbst nur ein gemeiner Mensch!« (292f.). Das ließe sich hören, trotz des Wertherischen Tonfalls, wenn wir einen Hamlet oder Julius Caesar oder auch nur einen Wallenstein vor uns hätten, dem die Krone tatsächlich in Reichweite gerückt war. Clavigo aber fehlt neben der Größe sogar die Zielstrebigkeit, während Carlos andrerseits das Dämonische und Teuflische abgeht, das etwa Marinelli in Emilia Galotti oder Wurm in Kabale und Liehe auszeichnet. Dieser Schwäche ist auch mit dem pfiffigen Vorschlag nicht abzuhelfen, »Clavigo und seinen vertrauten Freund Carlos in einer Person zusammenzuschlagen, d. h. alle Gespräche Clavigos mit Carlos als Selbstgespräche aufzufassen.«26 In der Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels mag es einen Schritt in Richtung Realismus darstellen, daß der Einbruch des Bösen nun nicht mehr von außen und von oben erfolgt, durch fürstliche Willkür, sondern im Charakter des Helden selbst angelegt ist. Vom dramentheoretischen Standpunkt aus mag es einleuchten, daß hier »Charaktere wie sie in moralischer Hinsicht gewöhnlich sind, unter Umständen, wie sie häufig eintreten, [...] so gegen einander gestellt [werden], daß ihre Lage sie zwingt, sich gegenseitig, wissend und sehend, das größte Unheil zu bereiten, ohne daß dabei

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das Unrecht auf irgend einer Seite ganz allein sei«, ja es mag sogar stimmen, daß Clavigo, mehr noch als Hamlet, Wallenstein, Faust und Le Cid, als »vollkommenes Muster dieser Art« von Tragödie dienen kann.27 In der Praxis kann das alles nicht darüber hinwegtäuschen, daß dem Stück der Sympathieträger fehlt, die Person, die unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme so auf sich ziehen könnte wie Götz oder Egmont, Maria Stuart oder Wilhelm Teil, Penthesilea oder der Prinz von Homburg. Daß Clavigo trotzdem eminent spielbar geblieben ist, erklärt sich sowohl aus dem Interesse, das wir dem Titelhelden (unbeschadet seiner mangelnden tragischen Dimen¬ sion) als Charaktertyp entgegenbringen, als auch aus Goethes sprachlichem Können, seiner souveränen Handhabung der drei Einheiten und den zahlreichen kleinen Pinsel¬ strichen, mit denen er das Porträt der handelnden Personen präzisiert. Wir erwähnten bereits den Anfang des 1. Aktes. Ein weiteres Beispiel dieser unscheinbaren und deshalb vielleicht um so größeren Kunst ist das Bild von den schadenfrohen Hofjun¬ kern, das Carlos seinem Freunde ausmalt für den Fall, daß dieser die »trippelnde, kleine, hohläugige Französin« (291) tatsächlich heiraten sollte: »Pah! ruft einer und rückt den Hut in die Augen, der Franzose hätte mir kommen sollen! und patscht sich auf den Bauch, ein Kerl, der vielleicht nicht wert wäre, dein Reitknecht zu sein« (292). Da klingt nichts hohl, das gehört nicht zu den überlebten, sondern zu den zukunftswei¬ senden Aspekten des Werkes: in ihrer psychologischen Treffsicherheit nimmt die Bemerkung Faust vorweg (»Schlange! Schlange!« - »Gelt! daß ich dich fange!«), in ihrer Funktion als unterschwellige Bühnenanweisung wird sie erst wieder von Kleist erreicht werden (man denke etwa an den »raschen, seinen Helmbusch erschütternden Schritt«, mit dem der Kämmerer in Michael Kohlhaas auf den Abdecker zugeht), in ihrer Bildhaftigkeit - so möchte man fortfahren - ahnt sie gleichsam den Film voraus, in dem der Typ des streitsüchtigen Aufschneiders seit eh und je eben dadurch gekennzeichnet ist, daß er sich den Hut in die Augen rückt... Gleichviel. Es ist kein Wunder, daß die Bemerkung Clavigo ins Herz trifft und seine völlige Selbstaufgabe auslöst und daß diese Selbstaufgabe ihrerseits in einer Bemerkung ausgedrückt wird, die ins Herz des Dramas trifft: »Rette mich, Freund! mein Bester, rette mich! Rette mich vor dem gedoppelten Meineid, vor der unübersehlichen Schande, vor mir selbst - ich vergehe!« »Rette mich [...] vor mir selbst«: das ist das Thema des Clavigo, das Thema eines großen Teils der dramatischen Literatur überhaupt.

Anmerkungen 1 Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Stuttgart 1972 [u. ö.]. (Reclams Universal-Bibliothek. Nr. 4813 [6].) S. 359. 2 Schillers Persönlichkeit. Urtheile der Zeitgenossen und Documente. Gesammelt von Max Hecker und Julius Petersen. T. 2. Weimar 1908. S. 4. 3 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Zürich 1948.

S. 291; 4 Eine Übersicht über die frühe Clavigo-Kritik unter besonderem Hinweis auf Götz enthält Ingrid Strohschneider-Kohrs: Goethes Clavigo. In: Goethe-Jahrbuch 90 (1973) S. 37ff. 5 Almanach der deutschen Musen. Leipzig 1775. In: Goethe im Urtheile seiner Zeitgenossen. Hrsg, von Julius W. Braun. Bd. 1. Berlin 1883. S. 134.

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6 Deutsche Chronik. Augsburg 1774. Zitiert nach: Goethe im Urtheile seiner Zeitgenossen (Anm. 5) S. 55. 7 Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg, von Erich Trunz. Hamburg 1948 ff. (Im folgenden zitiert als: HA.) Bd. 10. S. 72. 8 Regine Otto: Clavigo. In: Goethe-Jahrbuch 90 (1973) S. 22. 9 HA 10,71 f. 10 HA 9,521 f. 11 Georg Grempler: Goethes Clavigo. Halle a. d. S. 1911. (Reprogr. Walluf 1973.) S. 167. 12 Stefan George: Goethe-Tag. In: Der siebente Ring. Berlin o.J. [1907]. S. 10f. 13 HA 4, 260. 268 bzw. 282. Alle weiteren Zitate aus Clavigo nach dieser Ausgabe (Seitenzahl in Klammern nach Zitat). - Als Analogie zur Doppelbödigkeit von »jüdisch« s. etwa: »Sie müssen uns schon entschuldigen, nicht wahr? Es sieht noch ein bißchen polnisch hier aus« (Gerhart Hauptmann: Michael Kramer. Berlin 1966. S. 1119) und »Sie kennt [...] nicht den Ausdruck >polnische Wirt¬ schaft [.. .] Bruder Lutz [...] gibt eine knappe Erklärung [...] wiederholt das Wort >früherdamalsunmoralischWerther< die Unannehmlichkeiten an der Grenze zweier bestimmter Verhältnisse mit Ungeduld ausgesprochen sind, so ließ man das in Betracht der übrigen Leidenschaftlichkeiten des Buches gelten, indem jedermann wohl fühlte, daß es hier auf keine unmittelbare Wirkung abgesehen sei.«19 Die Wahl eines bestimmten Standes bedingt jedoch keineswegs auch die Wahl eines entsprechenden Milieus, und wenn Goethe die mit dem höheren gesellschaftlichen Standpunkt gewonnene Souveränität zur freien Entfaltung eines moralisch fragwürdi¬ gen Spiels unter Liebenden nutzt, so liegt es ihm fern, dies in einer Weise zu tun, die auch nur im geringsten an die Sitten der Großen Welt erinnert. Jeder Anklang ans Rokoko, das die Liebe zu einem Gesellschaftsspiel mit festen Regeln ritualisiert hatte, wird vermieden. Das Besondere des Stückes besteht gerade darin, daß es die Liebenden in einem Raume zusammenführt, der überhaupt außerhalb der Gesellschaft zu liegen scheint. Schon der 1. Akt spielt im gesellschaftlichen Niemandsland, auf der Poststelle. In Stellas stiller und abgelegener Behausung sodann, die den Schauplatz der übrigen Akte und einen Kontrast zum lärmigen Posthaus bildet, entwickelt sich ein »Kammer¬ spiel«20 von der privatesten Intimität. Auch die drei Hauptcharaktere sind auf ein am herkömmlichen Muster gemessen unkonventionelles Verhalten angelegt. Bereits zu Beginn des Stückes heißt es von Fernando, daß er »kuriose Principia« habe.21 Und daß

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die beiden Frauen keinerlei Eifersucht gegeneinander zeigen, ja daß beide an bestimm¬ ten Punkten der Handlung gewillt scheinen, zugunsten der Nebenbuhlerin großmütig auf die eigenen Ansprüche zu verzichten, ist so ungewöhnlich, daß man hierin bereits ein utopisches Element erblicken muß. Trotz einer doppelten Polarität, einer Polarität zwischen absolut treuer Weiblichkeit und unbeständig schwankender Männlichkeit und einer Polarität zweier verschiedener Arten von Weiblichkeit, entwickelt sich daher kein Drama des Gegeneinander, sondern der wechselseitigen Anziehung. Das will nicht heißen, daß es statisch und spannungslos sei. Ohne daß die gegenseitige Sympathie aufgehoben würde, verändert sich das Kräftefeld ständig, findet ein Austausch der Positionen statt. Auf der Bühne herrscht Unruhe, Nervenanspannung, nicht nur als Ausdruck der Bewegung der Herzen, durch überraschende Begegnungen und Umschwünge, sondern auch infolge des szenisch permanent gegenwärtigen Bewußtseins, daß einer in dem Spiel zuviel ist. Die utopische Möglichkeit, es zu dritt miteinander zu versuchen, mit der erst der Schluß überrascht, kommt vorläufig noch nicht in den Blick. Die drei Beteiligten stehen unausgesprochen zunächst unter dem Gesetz der binären Bindung und des ausgeschlossenen Dritten und damit unter dem Zwang zu einer >paarigen< Lösung. Das ist eine Komponente der traditionellen Gesittung, die trotz der Ferne von der Gesellschaft in diesem erotischen Experiment immer noch zur Geltung kommt. Irgendeine Wahl muß getroffen werden, aber welche? Bezeichnend, daß nach dem Auftakt im 1. Aufzug, wo nacheinander Cäcilie und Fernando (jeweils mit Nebenper¬ sonen) auftreten, fast drei Akte hindurch abwechselnd immer nur zwei der drei Hauptpersonen eine Szene bilden, ein Durchprobieren der Möglichkeiten. Es finden sich zunächst Stella und Cäcilie auf der Bühne zusammen, danach Stella und Fernando, Fernando und Cäcilie, Stella und Fernando. Übersehen sollte man nicht, daß auch die schwesterliche Liebe zwischen den beiden Frauen einen nicht unwichtigen Part in diesem Spiel einnimmt. Stella bietet Cäcilie sogar einen Bund fürs Leben als eine Art Ersatzbeziehung an: »Wir wollen einander das sein, was sie [die Männer] uns hätten werden sollen! Wir wollen zusammen bleiben! - Ihre Hand! - Von diesem Augenblick an laß ich Sie nicht!« (320 f.). Solche Kompensation männlicher Untreue durch weibliche Solidarität mag, sobald Fernando wieder aufgetaucht ist, ihren Sinn verlieren, denn die Möglichkeit des Liebesglücks rückt wieder nahe; aber es ist klar, daß mit der Freundschaft der beiden Frauen der erste Schritt zum Schluß hin getan ist, die ternäre Bindung im Ansatz vorbereitet wird. - Erst gegen Ende des 4. Aktes befinden sich zum erstenmal alle drei gleichzeitig, jedoch nur kurz, auf der Bühne, womit die äußerste Zuspitzung der Situation signalisiert ist. Immerhin wird danach noch einmal eine >gesittete< Lösung versucht. Cäcilie will Fernando an Stella abtreten und mit ihm nur in Briefkontakt bleiben, was Fernando, in diesem Moment ganz nüchterner Realist, mit der Begründung ablehnt: »Als Scherz wär’s zu grausam; als Ernst ist’s unbegreiflich!« (344). Das Unbegreifliche des Vorschlags eröffnet aber schon die utopische Perspek¬ tive. So erzählt denn Cäcilie, die eingedenk des schwesterlichen Bundes fest auf Stellas Wohl bedacht bleibt, auch bald darauf die Geschichte des Grafen von Gleichen, die das happy ending einleitet. Allerdings bleibt unklar, was die legendenhaften Schicksale des mittelalterlichen Kreuzritters über die bloß äußerliche Konstellation hinaus mit den Schicksalen Stellas, Cäcilies und Fernandos eigentlich zu tun haben sollen22 und mit welchem Recht Cäcilie behaupten kann, Stella habe Fernando »gerettet«, gar noch »von

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ihm selbst gerettet« (347). Das Heraufbeschwören eines ebenso irrealen wie suggestiven Musters wirkt eher wie ein Deus ex machina, konzediert der Dichter seinem Helden doch geradezu die wenig glaubwürdige Naivität, die Lösung als Geschenk des Himmels zu betrachten: »Gott im Himmel, der du uns Engel sendest in der Not, schenk uns die Kraft, diese gewaltigen Erscheinungen zu ertragen!« (346f.). Es versteht sich, daß die Problemlösung dieser ersten positiven Schlußfassung des Dra¬ mas für Fernando gar nicht besser ausfallen kann. Er, der es eigentlich gar nicht verdient hat, gelangt in den Genuß eines doppelten Glücks, denn er darf sowohl die Geliebte wie die Gattin behalten, die beide sich mit ihm in schöner Harmonie zusammenschlie¬ ßen. Was sich hier ausdrückt, ist - wer könnte das leugnen - ein Männertraum. Es ist die Wunschphantasie eines männlichen, seinem männlichen Selbstverständnis nachsin¬ nenden Autors, und es ist dies um so mehr, als der Zusammenschluß ganz von der Position des Mannes aus gedacht ist. Das Schlußtableau zeigt, wie Fernando beide Frauen in Besitz nimmt: er umarmt sie und ruft »Mein! Mein!« Die beiden Frauen ihrerseits, die aufgrund der gemachten Erfahrungen das Recht hätten, Vorbehalte anzumelden und Bedingungen zu stellen, hängen sich ihm statt dessen an den Hals und erklären sich willig als sein Eigentum: »Ich bin dein! [...] Wir sind dein!« (347). Damit nicht genug, erfüllt sich hier für Fernando die Sehnsucht nach einem Zustand der Vollkommenheit, in dem er nicht nur mit Frauengunst beglückt, sondern auch von seinem Ungenügen und seiner Unruhe, seinen Zwiespälten und seinen Schwankungen erlöst wird. Worin ist diese Erfüllung begründet? Das Liebesmotiv ist in der Stella auch symbolisch zu verstehen. Denn was Fernando in der Liebe sucht, ist mehr, als sie unter normalen Umständen gewähren kann: einen Ersatz der ewigen Seligkeit, das Paradies auf Erden. Er ist, wie sein Dichter, einer von denen, die im Zuge der Säkularisierung gelernt haben, den Sinn des Lebens nicht mehr in der Hoffnung auf das Jenseits, sondern in dem Genuß des Diesseits zu sehen. »Wir wollen einander nicht aufs ewige Leben vertrösten! Hier noch müssen wir glücklich seyn«, schreibt Goethe im September 1775 an Auguste von Stolberg.23 Auf der Suche nach irdischen Paradiesen findet schon Werther das Reich der Liebe, vielmehr: er findet es nicht nur, es rückt ihm gleichzeitig als unerreichbar wieder fern. Dabei wird nun diese Sphäre erstmalig mit Kategorien beschrieben, die einst dem religiösen Bereich Vorbehalten waren: Werther erlebt die Liebe als sakrales Gefühl und erfährt Liebesleid, nach dem Muster der biblischen Passion, als heiliges Martyrium.24 In der Stella kehrt diese Sakralisierung der Liebe wieder, und zwar bezeichnenderweise weniger im Zusammenhang mit der irdischeren Gattin als mit der >himmlischeren< Geliebten. Wenn Stella Fernando ihr Herz aufschließt, so öffnet sich ihm ein »Heilig¬ tum« (342). Sie, die »ganz Liebe« ist, ist auch »ganz Gottheit« (329). Ein »Engel des Himmels« (327), ist sie fähig, »Himmelstau« zu spenden (325). Nicht von ungefähr besitzt sie ein nahes Verhältnis zu Kindern, zu den Wesen, die noch nicht der sündigen Welt angehören. Übrigens ist auch der Liebe Cäcilies diese Verstiegenheit ins Religiöse nicht ganz fremd. Wenn Cäcilie den Zustand beschreibt, in dem sie sich befand, nachdem Fernando sie verlassen hatte, so scheut sie sich nicht zu behaupten: »[...] ein Gott mangelte mir« (309). Nicht fern liegt dann der Gedanke, die Liebe als »Goldene Zeit« oder »Seligkeit« zu verstehen, vor allem wenn es sich, wie bei den beiden Frauen, um das Erlebnis der

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ersten Liebe handelt. Stella: »Nein, du bist nicht zum Himmel zurückgekehrt, goldne Zeit! du umgibst noch jedes Herz in den Momenten, da sich die Blüte der Liebe erschließt« (319). »Ein Jahrtausend von Tränen und Schmerzen vermöchten die Selig¬ keit nicht aufzuwiegen der ersten Blicke, des Zitterns, Stammelns, des Nahens, Weichens« (320). Fernando seinerseits erinnert sich an die frühere Zeit mit Stella wie an ein mythisches Glück. Wenn er an die vielen Male denkt, wo er mit der Geliebten »gedankenvoll« aus dem Fenster auf den Brunnen schaute und »still dem Rinnen des Wassers zusah« (314), so beschwört er das Gefühl der Ewigkeit und Unendlichkeit herauf, das solch ein Begriff von Liebe mit sich führt.25 Selbst Außenstehenden war das Außergewöhnliche dieses Zustandes aufgefallen. So weiß die Postmeisterin zu berich¬ ten: »Mein Mann seliger war bei Jahren und nicht leicht zu rühren; aber er erzählte nichts lieber als von der Glückseligkeit der beiden Leute, so lang sie hier zusammen lebten. Man war ein ganz anderer Mensch, sagte er, nur zuzusehn, wie sie sich liebten« (312). . Teuer ist Fernando aber vor allem das selige Vergessen, das die Liebe gewährt und das er in Stellas Armen von neuem zu erleben hofft, das Vergessen seiner »Schicksale«, »allen Verlustes«, seiner »Schmerzen«, auch seiner »Reue« (314). Die Gegenwart der Geliebten enthebt ihn der Zeit und damit allen Sorgen und Nöten, Erinnerungen und Befürchtungen, wie sie an das Zeitliche geknüpft sind,26 mehr noch, sie reinigt und erfrischt seine Seele: »Engel des Himmels! Wie vor ihrer Gegenwart alles heiter wird, alles frei! - Fernando, kennst du dich noch selbst? Alles, was diesen Busen bedrängt, es ist weg; jede Sorge, jedes ängstliche Zurückerinnern, was war - und was sein wird! Kommt ihr schon wieder? - und doch, wenn ich dich ansehe, deine Hand halte, Stella! flieht alles, verlischt jedes andre Bild in meiner Seele!« (327). Eine logische Folge ihrer Heiligsprechung, erweist sich die Liebe hier als Sakrament, als Gnadenmittel, das die Sünden des Mannes tilgt. Die Idee der Läuterung durch die Liebe wird Goethe auch weiterhin beschäftigen. In dem schon zitierten Brief an Auguste von Stolberg vom September 1775 schreibt er, daß »doch mein innerstes immer ewig allein der heiligen Liebe gewiedmet bleibt, die nach und nach das Fremde durch den Geist der reinheit der sie selbst ist ausstöst und so endlich lauter werden wird wie gesponnen Gold«.27 Wenn die Hingabe an den seligen Augenblick das Bewußtsein von Vergangenheit und Zukunft auslöscht, dann tilgt sie aus dem Bewußtsein freilich auch eingegangene Verpflichtungen und reuig oder nicht reuig gefaßte Vorsätze, und dann vereitelt sie nichts geringeres als die Kontinuität der Treue, der Treue Fernandos, auch sich selbst gegenüber. Daß Fernando in Stellas Arme zurückkehrt, scheint zwar der Beweis einer Doppelbegabung: »so flatterhaft und so treu!« (325). Aber wenn er kurz nach der stürmischen Wiedersehensszene mit Stella seiner Gattin begegnet, so stimmt ihn die Gegenwart der gleichfalls geliebten Cäcilie wiederum um, und er beschließt, mit ihr und Lucie heimlich fortzureisen. Freilich begeht er den Fehler, sich von Stella zunächst »losmachen« zu wollen (334), ein unmögliches Unterfangen, da er, von der Gegenwart der Geliebten überwältigt, notwendig wieder schwach werden muß. Fernando erscheint also schwankend und moralisch fragwürdig, weil er in einem besonderen Maße eindrucksfähig ist.28 Er ist immer fasziniert von derjenigen der beiden geliebten Frauen, die sich ihm gerade gegenüber befindet. Aufs höchste entflammt, vermittelt er dann als Illusion, auch sich selbst gegenüber, was bei beiden Frauen Wahrheit ist: das

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Gefühl der unbedingten und dauerhaften Hingabe. Wäre er weniger impressionabel, so wäre er moralischer, jedoch auch nicht so empfänglich für die reinigende Wirkung der Liebe. Gerade daß er sich der Illusion der völligen Hingabe zu überlassen vermag,-läßt ihn allen Segen der Liebe erfahren. Unstreitig erweist sich der selige Liebesaugenblick jedoch hier als ambivalent. Erteilt die Liebe Fernando die Absolution, gar noch in Momenten, wo er sich und andere über seine Liebesfähigkeit täuscht, und befreit sie ihn von den Ansprüchen des Gestern und des Morgen zugunsten der reinen Gegen¬ wart, so sanktioniert sie unfreiwillig seine »Flatterhaftigkeit« - einer der Widersprüche des an Widersprüchen reichen Dramas. Als Goethe die Stella schrieb, beschäftigte ihn nicht nur der Gedanke an die Läute¬ rungskraft der Liebe und an die Seligkeit des Liebesglücks. Nachdem er mit seinen eigenen Liebesaffären, insbesondere mit der bereits einige Jahre zurückliegenden Trennung von Friederike Brion auch die Vergänglichkeit von Liebe und Liebesglück erfahren hatte, konnte er nicht mehr so tun, als sei das Heiligtum der Herzensbindung gegen Sakrileg gefeit. Wie im Werther die Unerreichbarkeit des Paradieses, so wird in der Stella vielmehr auch die Zerstörung des Paradieses beklagt. Zwar wird das Goldene Zeitalter am Schluß des Dramas wiederhergestellt. Zunächst aber, besonders in den ersten beiden Akten, ist das Stück erfüllt von schmerzlicher Wehmut. Alle Beteilig¬ ten, die Frauen wie Fernando, trauern einem verlorenen Zustand nach. Symbol des Verlustes ist vor allem Stellas verstorbenes Kind. Der Tod ist in dem Drama gegen¬ wärtig, und wenn sich Stella mit dem »Rasenaltar« (335), unter dem das Kind liegt, eine Gedenkstätte geschaffen hat, so hat sie hier auch schon das eigene Grab vorbe¬ reitet. Eine vielleicht nur banale Feststellung: Goethe ist schon zu dieser Zeit kein so weltfremder Utopist, sich einen schönen Traum vorzugaukeln, ohne sich gleichzeitig der bitteren Wirklichkeit bewußt zu sein. Ehrlicherweise muß er sich natürlich auch eingestehen, daß das Reich der Geschlechterliebe durchaus ein Reich von dieser Welt ist und teil hat an der irdischen Gebrechlichkeit. Schlimmer noch: schon das einstige Glück der nichtsahnenden Stella und des Ehebrechers Fernando war im Grunde ein Scheinglück, innerlich gebrandmarkt durch Fernandos Verschweigen der Wahrheit. Menschliche, männliche Schwäche ist es jedoch nicht allein, an der die Verhältnisse zerbrechen. Daß Cäcilie, mit der Fernando zunächst ebenfalls eine »schöne, glückliche Zeit« verlebt hatte (328), ihrem Gatten zuletzt nur noch eine »redliche Hausfrau« sein konnte und er ihren »Umgang notwendig schal finden mußte« (332), daß selbst Stellas Zauber für ihn nach einiger Zeit seinen Reiz verlor, daß überhaupt alles Glück sich abnutzt und langweilig wird, das ist in den Augen des Autors der Lauf des Lebens und ein trauriges Verhängnis. Wer sich als Leser oder Zuschauer nicht von dem emotionalen Überschwang der Sprache überrumpeln läßt, sondern genau und aufmerksam registriert, was auf der Bühne eigentlich vor sich geht, wird finden, daß das Stück neben und zugleich mit seiner utopischen Tendenz einen desillusionierenden Realismus verfolgt. Das Motiv des Reisens deutet gleich zu Beginn darauf hin, daß den Herzen Ruhe, »jenes ewige Bleiben« (333), versagt ist. Überhaupt ist bemerkenswert, daß ein »Schauspiel für Liebende« in so seltsam unpersönlicher, herber, gleichsam zugiger Umgebung anhebt. »Man hört einen Postillion blasen« (Regiebemerkung, 307), die Postmeisterin schreit

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nach ihrem Jungen, Personen in Reisekleidern treten auf, Gepäck wird hereingetragen. Der rauhe Umschlagplatz des Lebens, nicht der Garten der Liebe bietet sich dar. Im weiteren Verlauf des Dramas ist der Autor zynisch genug, ständig Hoffnungen aufzubauen, um sie, mit Ausnahme des happy ending, auch immer wieder zu zerstö¬ ren. Ist es schon ein grausames Spiel des Zufalls, daß nicht nur eine der beiden Frauen Fernando wiederfindet, sondern beide zugleich, so daß die eine aller Wahrscheinlich¬ keit nach nur auf Kosten der anderen glücklich werden kann, so treibt der Autor mit seinen Figuren ein noch grausameres Spiel, wenn er ihnen erlaubt, sich jeweils kurzfristig eine Erneuerung der schönen alten Zeit vorzuspiegeln, die sich bald als Illusion erweist. Daß es sich um trügerischen Schein handelt, wird zunächst nur dem Zuschauer klar, der jeweils mehr weiß als die betroffenen Personen auf der Bühne. Wenn mit Beginn des 3. Aktes Stella und Fernando in der Wonne des Wiedersehens schwelgen, dann weiß der Zuschauer schon, daß sich auch Cäcilie am Ort befindet, daß sie die Gattin Fernandos ist und daß sie ihren Gatten erkannt hat, während Fernando seinerseits Cäcilie noch nicht gesehen hat und Stella nicht weiß, daß sie Fernandos Frau ist. Mit der Anwesenheit Cäcilies im Hintergrund fällt für den Zuschauer zwangsläufig ein Schatten und eine böse Vorahnung auf die glutvolle Liebesszene, und man fragt sich, ob diese unter solchen Umständen mehr sein kann als dramatische Ironie. Noch krasser ist der Kontrast zwischen subjektivem Glücksgefühl und unheilvoller Wirklichkeit in den ersten beiden Szenen des 4. Aktes. Man sieht Stella in ihrer »Einsiedelei«, am Grabe ihres Kindes und in Erwartung Fernandos. Sie schaudert vor diesem Grab; durch das neu aufgeblühte Glück ist ihr der Gedanke an den Tod ferngerückt: »Du blühst schön, schöner als sonst, liebe, liebe Stätte der gehofften ewigen Ruhe - Aber du lockst mich nicht mehr - mir schaudert vor dir - kühle lockre Erde, mir schaudert vor dir — [...] Er ist wieder da! - und in einem Wink steht rings um mich die Schöpfung lebevoll - und ich bin ganz Leben — und neues, wärmeres, glühenderes Leben will ich von seinen Lippen trinken! - Zu ihm - bei ihm - mit ihm in bleibender Kraft wohnen! - Fernando! - Er kommt!« (335). In Wahrheit hätte Stella allen Grund, vor dem Erscheinen des Geliebten zu schaudern. Der Zuschauer, er allein, weiß, daß Fernando inzwischen Cäcilie begegnet ist, daß er beschlossen hat, mit Cäcilie abzureisen, und daß er gleich mit der heimlichen Absicht zu Stella kommen wird, sich unauffällig von ihr »loszumachen«. Ein makabres Stück Ironie wiederum, wie Stella in der Folge in nichtsahnendem Jubel ihre heiligsten Gefühle verschwendet, ja das Glück der ersten seligen Stunden mit Fernando zurückerobert glaubt, während doch jeder Satz in Wahrheit nichtig ist und an einen Partner gerichtet, dem es bei seinem Entschluß zwar längst nicht mehr wohl ist, der einem Umfall sogar nahe scheint, in diesem Augenblick aber den denkbar unwürdigsten Adressaten abgibt.29 So wäre es nicht ganz falsch, Goethes Stella nicht nur als utopisches, sondern auch als pessimistisches Drama aufzufassen. Wo statt einer gütigen Vorsehung ein blindes Geschick zu walten scheint und sich statt Ordnung eine schier unauflösliche Verwor¬ renheit herstellt, wo solche, die reinen Herzens sind, leiden müssen, allerdings auch Unlauterkeit sich nicht so leicht aus der Affäre zu ziehen vermag, da bezeichnet der Begriff »Elend«, einer der Leitbegriffe des Stückes,30 den aktuellen Zustand der Welt. Von dieser Seite her betrachtet, verlangt das Stück eher einen tragischen Schluß. Goethe nahm daher nicht nur einen äußeren Eingriff vor, wenn er ungefähr 30 Jahre nach der

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Erstfassung den glücklichen Ausgang strich und an seine Stelle die Katastrophe setzte: Stella nimmt Gift, Fernando erschießt sich. Die Erzählung des Grafen von Gleichen wird beibehalten, aber nur als dramaturgisches Mittel des retardierenden Moments..31 So wird das atmosphärisch dichte Gewebe von wehmütigen Erinnerungen, vergeblichen Hoffnungen, trügerischen Illusionen konsequent zu Ende gewoben, um im nächsten Augenblick um so brutaler zerrissen zu werden. Während der utopische Schluß den sehr unkonventionellen, etwas frivolen Träumen des Autors entsprochen hatte, gehorcht der tragische Schluß seinem Wirklichkeitssinn und der traditionellen Moral. Wird damit aus dem »Schauspiel für Liebende« ein Trauerspiel für Moralisten, verliert das Stück allerdings einen Teil seines poetischen Reizes. Unstreitig vermittelt der tragische Schluß eine moralische Befriedigung, wenn man sieht, daß Schuldbewußtsein und Tod Ordnung schaffen. Lieber sehen wir es jedoch, wenn uns die Poesie in das Reich der ungeahnten Möglichkeiten entführt.

Anmerkungen 1 Das Stück entstand zum größten Teil in den ersten Monaten des Jahres 1775. Es erschien im Januar 1776 in Berlin bei Mylius unter dem Titel Stella. Ein Schauspiel für Liebende in fünf Akten, von J. W. Göthe. Ein leicht geänderter Text erschien 1787 in Bd. 4 der Schriften. Die Uraufführung erfolgte am 8. Februar 1776 in Hamburg. - Zitiert wird im vorliegenden Aufsatz nach: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg, von Erich Trunz. Hamburg 1948 ff. (Im folgenden zitiert als HA.) Bd. 4. Nachweis in Klammern unmittelbar hinter dem Zitat. 2 Vgl. Bernhard Luther: Das Problem in Goethes »Stella«. In: Euphorion 14 (1907) S. 62 ff. 3 Emil Staiger: Goethe. Bd. 1. Zürich/München 51978. S. 185. Im Kontrast zu diesem verständnislosen Urteil vgl. die feinfühlige Interpretation von Peter Pfaff, der gerade nachweist, wie sorgfältig Goethe motiviert: Das Glücksmotiv im Jugend werk Goethes. Heidelberg 1965. Bes. S. 60 ff. 4 Die meisten Rezensionen und Darstellungen behaupten fälschlicherweise, daß Fernando Stella erst begegnet, nachdem er mit Cäcilie gebrochen hat. Richtig ist, daß zur Zeit der Streifzüge, die er mit dem Verwalter unternimmt und bei deren Gelegenheit er Stella kennenlernt, der Bruch mit Cäcilie noch nicht vollzogen ist, sonst könnte der Verwalter von jener Zeit nicht behaupten, daß »wir uns entschließen mußten, entweder die eine oder die andere unglücklich zu machen« (328). 5 Der Text mit dem neuen Schluß und der Bezeichnung Ein Trauerspiel erschien erst 1816 in Bd. 6 der Zweiten Gesamtausgabe. 6 Vgl. die bei Julius W. Braun abgedruckten Rezensionen in: Goethe im Urtheile seiner Zeitgenossen. Bd. 1. Berlin 1883. S. 228 ff. Zur Rezeption der Stella vgl. Hippolyte Loiseau: »Stella« et Popinion de son temps. In: Revue de PEnseignement des Langues Vivantes 44 (1927) S. 341-347; ders.: »Stella« et la critique moderne. In: Revue de PEnseignement des Langues Vivantes 45 (1928) S. 241-248; HeinzDieter Weber: Stella oder die Negativität des Happy End. In: Rezeptionsgeschichte oder Wirkungs¬ ästhetik. Hrsg, von H.-D. W. Stuttgart 1978. S. 142-167. Im Zusammenhang mit der Rezeptionsge¬ schichte dürfte interessieren, daß die Stella in den letzten Jahren verhältnismäßig häufig auf deutschsprachigen Bühnen zu sehen war. Erwähnt seien etwa die Darmstädter Inszenierung von Luc Bondy aus dem Jahre 1973, die Zürcher Inszenierung aus dem gleichen Jahr, die Hamburger Inszenierung unter Wilfried Minks in der Spielzeit 1976/77 und die Heidelberger Inszenierung unter Frank Günther, ebenfalls 1976/77. Für die Zeit von 1947 bis 1975 nennt eine neuere Statistik insgesamt 20 Inszenierungen im Bereich der Bundesrepublik mit insgesamt 384 Aufführungen (Dieter Hadamczik / Jochen Schmidt / Werner Schulze-Reimpell: Was spielten die Theater? Bilanz der Spielpläne in der Bundesrepublik Deutschland 1947-1975. Hrsg, vom Deutschen Bühnenverein. Köln 1978. S. 40). 7 Dieses Mißverständnis zieht sich durch die Rezeptionsgeschichte bis heute. Noch Eduard Castle (Stella. In: E. C.: In Goethes Geist. Wien/Leipzig 1926. S. 104—130) versteht das Stück als »Biga¬ miedrama« (S. 128); selbst Weber (Anm. 6) übernimmt die Kategorie Bigamie ungeprüft (S. 148 f.).

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8 Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg, von Ernst Beutler. Zürich 1948-71. (Im folgenden zitiert als: GA.) Bd. 14. S. 111. 9 HA, Briefe, 1,189. 10 Walther Kluge (Goethes Stella. Diss. Erlangen 1920 [Masch.]) spricht von »Naturzwang« und sieht bei Goethe einen »ethischen Naturalismus« (S. 47 u. ö.). 11 Hinweise auf die Ähnlichkeit zwischen Lili und Stella bereits bei Wilhelm Scherer: Bemerkungen über Goethes Stella. In: W. Sch.: Aufsätze über Goethe. Berlin 1886. S. 125-160. Bes. S. 140ff. 12 Zur Frage, welche Vorbilder sowohl bei Stella wie bei Cäcilie Modell gestanden haben könnten, vgl. außer der in Anm. 11 erwähnten Studie auch Fritz von Jan: Ein Modell zu Goethes Stella. In: Euphorion 1 (1894) S. 557-564; Castle (Anm. 7); Konrad Leisering: Das »Stella«-Erlebnis Goethes. In: Goethe. Viermonatsschrift der Goethe-Gesellschaft 5 (1940) S. 160-177. Was Goethes Quellen überhaupt angeht, so wurden auch motivische Anlehnungen an das Bürgerliche Trauerspiel und das rührende Schauspiel vermutet, so bei Jacob Minor: Zur Stella. In: Aus Goethes Frühzeit. Bruch¬ stücke eines Commentares zum jungen Goethe. Hrsg, von Wilhelm Scherer. Straßburg/London 1879. S. 126-130; Gustav Kettner: Goethes Stella. In: Sokrates. Zeitschrift für das Gymnasialwesen 68 (1914) N. F. 2. S. 177-190. 13 HA 10,110. 14 Von einem »psychological experiment« spricht Hubert J. Meessen: »Clavigo« and »Stella« in Goethe’s Personal and Dramatic Development. In: Goethe Bicentennial Studies. Hrsg, von H. J. M. Bloomington 1950. S. 197, 200. Meessen sieht das Problem des Stückes aber nur in dem Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Liebe, er verkennt völlig die Bedeutung der Konstellation Stella-Cäcilie. 15 Vgl. Castle (Anm. 7) S. 126 ff. 16 GA 8,763. 17 GA 8,764. 18 Vgl. das Gedicht Lilis Park. 19 Dichtung und Wahrheit (HA 10,116). 20 Rudolf Bach: Glanz der Hoffnung - Schwermut der Einsicht. Die beiden Fassungen der »Stella«. In: R. B.: Leben mit Goethe. München 1960. S. 25. 21 Die Postmeisterin: »Man sagte, der Herr hätte kuriose Principia gehabt; wenigstens kam er nicht in die Kirche; und die Leute, die keine Religion haben, haben keinen Gott und halten sich an keine Ordnung« (312). 22 Einen spekulativen Versuch, das Stück von der Sage des Grafen von Gleichen her zu deuten, unternimmt Andreas Amwald: Symbol und Metamorphose in Goethes »Stella«. Stuttgart 1971; wenig überzeugend, zumal Amwald die Bedeutung der erotischen Dimension herabspielen und in dem Dreierbund eine »Geistgemeinschaft« (S. 13) sehen möchte. 23 HA, Briefe, 1,193. 24 Vgl. Herbert Schöffler: Die Leiden des jungen Werther. Ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund. In: H. Sch.: Deutscher Geist im 18. Jahrhundert. Göttingen 21967. S. 176ff. 25 Vgl. Paul Kluckhohn: Die Auffassung der Liebe im 18. Jahrhundert und in der Romantik. Halle a.d.S. 21931. S. 187. 26 Zum Zeitaspekt des Liebesglücks vgl. Pfaff (Anm. 3) S. 16 ff. 27 HA, Briefe, 1,195. 28 Vgl. Meessen (Anm. 14) S. 200: »Fernando is ever subject to the impression of the moment.« 29 Darüber hinaus sieht sich Fernando gezwungen, das betrügerische Verhalten selbst einzugestehen. Denn die Tochter der Postmeisterin, Annchen, kommt hinzu und meldet, daß zur Abreise alles fertig sei und man nur noch auf den Herrn Hauptmann warte. 30 Wolfgang Kayser: Kommentar zu Goethes »Stella« in HA 4,553.555. 31 Ebd. S. 556.

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»Stücke von dieser Art sind nicht gemacht, großes und starkes Interesse einzuflößen. Die Handlung ist weder sehr wichtig noch sehr verwickelt.« So beginnt eine Rezension der Geschwister aus dem Jahr 1789 in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste.1 Im 7. Buch von Dichtung und Wahrheit hat der Dichter allerdings die in dieser Zeitschrift demonstrierte Urteilsfähigkeit über literarische Gegenstände »wo nicht erbärmlich, doch wenigstens sehr schwach befunden«.2 Aber auch in der neueren Forschung stützt sich das Urteil noch auf die Handlung des Stückes, das dann beiseite geschoben wird, da es »keine beträchtliche Novität«3 biete. Sein Sinn, so wird argumentiert, »erschöpft sich in dem Umschlag der Geschwister- in Gattenliebe, einem Vorgang also, [...] der aber doch wohl allein im Hinblick auf Frau von Stein Interesse gewinnt und uns auch heute noch kühl ließe, wäre der lebensge¬ schichtliche Hintergrund nicht so deutlich sichtbar«.4 Mit einem biographisch begrenz¬ ten Erkenntnisinteresse setzt man sich der Gefahr aus, zur Kategorie literarischer Konsumenten gerechnet zu werden, die Goethes Aphorismus dergestalt abkanzelt: »Der Dichter verwandelt Das Leben in ein Bild. Die Menge will das Bild wieder zu Stoff erniedrigen.«5 Sieht man also von der Gepflogenheit ab, aus rein stofflichem Interesse der Identifikationsleidenschaft von Gestalten der Lebenswelt mit den fiktionalen Personen der Kunstwelt zu frönen, so ist doch gerade bei diesem kleinen »Kabinettstück«,6 das nicht wie etwa Götz von Berlichingen, Egmont oder Clavigo auf ein historisch vorgeformtes Repertoire zurückgreift, der persönliche Anteil des neuen Mitgliedes am Weimarer Musenhof und der Einfluß von dessen individueller Lebens¬ stimmung auf die dichterische Aussage unverkennbar. Was von der Entstehung der Geschwister, von sonstigen Bruchstücken einer großen Konfession,7 die den gleichen Lebensabschnitt betreffen und von Goethes Anteil an der frühen Theatergeschichte des Dramas bekannt ist, soll daher der Interpretation vorangeschickt werden.

I Im Herbst 1775 wurde dem Gast des Herzogs Karl August eine »enthusiastische Aufnahme«8 in Weimar bereitet. Begeisterte Schilderungen über sein dichterisches Talent und die Ausstrahlungskraft seiner Persönlichkeit zirkulierten bereits vor seiner Ankunft am Hof.9 Charlotte von Stein war er als »ein großes Genie« angepriesen worden, dessen Werther sie »entzücken und in Tränen schmelzen« werde.10 Auch der Prinzenerzieher Christoph Martin Wieland setzte große Hoffnungen auf den Dichter aus Frankfurt, dessen jugendliche Angriffe der erfahrene Literat taktvoll beiseite geschoben und damit den Weg zu einer »Seelenvereinigung«11 mit diesem liebenswür¬ digsten, größten und besten Menschensohn12 bereitet hatte. Die aristokratische Gesell¬ schaft unter der belesenen und komponierenden Fürstin Anna Amalia konnte von dem vielseitigen Besucher geistige und künstlerische Förderung erwarten, ohne auf die

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juristischen und administrativen Fähigkeiten des Rechtsgelehrten verzichten zu müs¬ sen, die er vielmehr bald im Staatsdienst als Geheimer Legationsrat unter Beweis stellen sollte. Der achtzehnjährige Landesfürst fand in Goethe nicht nur einen weitblickenden Ratgeber, auf dessen Urteil er in den Regierungssitzungen keineswegs verzichten wollte,13 sondern auch einen anregenden und amüsanten Begleiter auf Reise und Jagd. Auf dem Heimweg von einem Jagdausflug mit dem Herzog nach Thalbürgel bei Jena wurden - so beschreibt es Goethe im Tagebuch - am 26. Oktober 1776 Die Geschwister »erfunden«.14 Der Dichter brachte das kleine Drama gleich am 28. und 29. Oktober zu Papier und diktierte in seinem Garten während der zwei folgenden Tage den Text für eine Abschrift. Das Milieu, in welchem er die Personen des Schauspiels ansiedelt, ist gerade durch den Kontrast bemerkenswert, den es zu Goethes eigener Umwelt der damaligen Zeit bildet. Das Stück läßt keine Rückschlüsse auf einen Verfasser zu, dessen Leben sich zwischen Staatsrat und Redouten an einem Ort bewegt, den Mme. de Stael noch 1803 als »pas une petite ville mais un grand chäteau« ansieht.15 Die Geschwister zeigen vielmehr Menschen aus der kleinbürgerlichen Gesellschaftsschicht in einem Lebensraum engbe¬ grenzter Häuslichkeit. Noch ein Jahr nach der Entstehung des Dramas schreibt Goethe in einem Brief an Charlotte von Stein über seine »Liebe zu der Classe von Menschen [...] die man die niedre nennt! die aber gewiss für Gott die höchste ist. Da sind doch alle Tugenden Beysammen, Beschräncktheit, Genügsamkeit, Grader Sinn, Treue, Freude über das leidlichste Gute, Harmlosigkeit, Dulden ~«.16 Im ersten Weimarer Jahr zieht sich Goethe gern von der politischen Bühne und dem Rampenlicht der neuerworbenen Fürstengunst hin und wieder in einen stillen Familien¬ kreis zurück. »Das hilft dann dazu«, bemerkt Wieland, »daß er das Herumtreiben in dem großen Rade wieder desto besser aushalten kann.«17 Auch Charlotte von Stein sieht deutlich, daß es für den Außenseiter nicht leicht ist, wirklich in der Welt des Adels und des Hofes Fuß zu fassen und »Gutes zu stiften«.18 Sie charakterisiert seine Rolle folgendermaßen: »Goethe est ici un objet aime, et hais, vous sentirez qu’il y a bien de grosses tetes qu’ils ne le comprennent pas.«19 Es nimmt also nicht wunder, wenn Goethe sein kleines Drama aus der Intimsphäre des Bürgertums zuerst als sehr private Schöpfung nicht zur Veröffentlichung freigeben wollte, sondern sich damit an seine eigene Familie wendet: »Hier habt ihr ein klein Blümlein vergiss mein nicht. Leßts! lassts den Vater lesen, schickts der Schwester und die soll mir’s wiederschicken, niemand solls abschreiben. Und das soll heilig gehalten werden so kriegt ihr auch wieder was.«20 Der Schwester Cornelia hatte Goethe seit langem alles mitgeteilt, was ihm wirklich am Herzen lag. Er pflegte sich brieflich mit ihr über seine Erlebnisse zu unterhalten und ihr »jedes kleine Gedicht, wenn es auch nur ein Ausrufungszeichen gewesen wäre«, zu zeigen.21 In der Geschwisterliebe des Dramas sind sicher manche charakteristischen Züge aus dem Verhältnis zu Cornelia porträtiert worden. »Sie war neben mir heraufge¬ wachsen und wünschte ihr Leben in dieser geschwisterlichen Harmonie fortzusetzen«, schreibt Goethe rückblickend in Dichtung und Wahrheit und fährt fort: »Im innersten Vertrauen hatten wir Gedanken, Empfindungen, Grillen, die Eindrücke alles Zufälli¬ gen in Gemeinschaft.«22 Obwohl der Bruder im Wesen der erwachsenen Cornelia nicht die mindeste Sinnlichkeit zu erkennen vermochte, konnte er sich doch bei ihrer Verlobung der Eifersucht nicht erwehren;23 wie auch Cornelia bei einer jugendlichen

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Schwärmerei des Bruders das Objekt seiner Neigung durchaus als Nebenbuhlerin betrachtete hatte.24 Trotzdem würde eine Deutung von Marianne in den Geschwistern als Abbild der Schwester der Intention des Dichters zuwiderlaufen. Um Cornelias Individualität, ihrem geliebten, unbegreiflichen Wesen25 gerecht zu werden, hätte Goethe den breiten Raum eines Romans im Stil von Samuel Richardson beansprucht, in welchem der Charakter des Ganzen im epischen Erzählverlauf durch unendliche Einzelheiten hervorgerufen wird. Der Plan für eine derartige Fiktionalisierung fiel später dem »Tumult der Welt«26 zum Opfer; aber die Intensität der geschwisterlichen Bindung hat Goethe bei Cornelias Tod noch mit folgendem Bild illustriert: »Mit meiner Schwester ist mir so eine starcke Wurzel die mich an der Erde hielt abgehauen ■worden, dass die Äste, von oben, die davon Nahrung hatten auch absterben müssen.«27 Die Verwurzelung im gemeinsamen Lebensbereich, die Unzertrennlichkeit, das unbe¬ dingte Vertrauen und das Gefühl von Geborgenheit und leidenschaftsloser Zufrieden¬ heit in der Nähe des Bruders bezeichnen Lebenserfahrungen, die kaum noch der dichterischen Ausschmückung bedurften, sondern so, wie sie Goethe erlebt haben mochte, auf die fiktionale Situation übertragen werden konnten. Während nun aber die Geschwister aus dem Frankfurter Patrizierhaus gerade durch die »heilige Scheu der nahen Verwandtschaft«28 auseinandergehalten wurden, bestand eine solche natürliche Schranke nicht in Goethes Verhältnis zu Charlotte von Stein, welches er als »das reinste, schönste, wahrste, das ich ausser meiner Schwester ie zu einem Weibe gehabt«,29 beschreibt. Im Frühjahr und Sommer 1776 bis zur Niederschrift der Geschwister zeichnet sich in Goethes Briefen an die Freundin ein immer engeres Verhältnis und eine wachsende Verbundenheit ab. Aber die Frau des Oberstallmeisters scheint auf einer Seelenfreund¬ schaft zu bestehen, die die Grenzen einer schwesterlichen Zuneigung nicht überschrei¬ ten darf. So etwa stellt sich die Beziehung in Goethes zahlreichen Briefen dar, wobei allerdings Charlottes schriftliche und mündliche Antworten nicht überliefert sind. Goethe geht ganz in der Rolle des Werbenden und Drängenden auf. Der Überschwang des Gefühls und alle Beteuerungen, wieviel sie ihm bedeute, müssen offenbar von Charlotte immer wieder auf ein bestimmtes Maß zurückgeschnitten werden, das den Anstandsregeln am Weimarer Hof entspricht. Etwas unmutig ruft der Dichter aus: »Leb ich doch stets um derentwillen / Um derentwillen ich nicht leben soll.«30 Die gesellschaftlichen Rücksichten werden durch die Grenzen von Charlottes Entgegen¬ kommen gewahrt, wie die Bedeutungsverschiebung im folgenden Ausdruck des glei¬ chen Gedankens deutlich macht: »Hab mich nur ein bissei lieb. Ich [...] hab dich lieber als du magst.«31 So mischen sich schon ganz am Anfang Töne »einer anhaltenden Resignation«32 in das Glück des Einvernehmens, und es tauchen Zweifel darüber auf, wieweit Charlotte die Zuneigung erwidert. Goethe schreibt denn auch später, daß ihre Liebe »mit dem Abseyn wächst, denn wo ich weg bin können Sie auch die Idee lieben die Sie von mir haben, wenn ich da bin, wird sie offt gestört, durch meine Thor und Tollheit«.33 In einem Brief an Wieland vom April 1776 hatte Goethe schon versucht, die Macht und Bedeutsamkeit der Charlotte von Stein durch den Gedanken der Seelenwan¬ derung zu erklären. »Ja, wir waren einst Mann und Weib!«34 ruft der Briefschreiber aus. Charlottes Reaktion auf diese Annahme muß allerdings etwas kühl ausgefallen sein. Sie kann die Beziehung allenfalls im Sinne pietistischen Gedankengutes als Verschwiste-

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rung der Seelen auffassen, nicht aber als Ziel der Freundschaft die Rolle der Frau oder Geliebten akzeptieren.35 Noch ehe Goethe das Thema der Geschwister- oder Gattenliebe zu dramatisieren beginnt, verfaßt er am 14. April 1776 darüber ein Briefgedicht an Charlotte. Als poetische Konfession persönlichster Art36 beschreiben die fünf Strophen den Versuch des Lyrikers, sich über die Beziehung zu der Freundin klarzuwerden, der er sich schicksalhaft verbunden fühlt. Der zentrale Glücksbegriff des Gedichts ist in die Vergangenheit einer erinnerten Zeit verlegt: »Ach du warst in abgelebten Zeiten / Meine Schwester oder meine Frau« (Str. 3). Was wenige Monate später im Drama zunächst als Konflikt erscheint, einer glücklichen Verbindung der »Geschwister« aber schließlich nicht im Wege steht, wird hier als Voraussetzung für eine Harmonie betrachtet, die sich weder in der Gegenwart verwirklichen läßt noch durch einen tiefen Blick in die Zukunft heraufbeschworen werden kann. Von der Melancholie seines alten Schicksals, das ihm zumutet, nicht geliebt zu werden, wenn er liebt,37 versucht sich Goethe zu lösen, indem er seine Leiden in ein Drama verwandelt.38 Er arbeitet im August 1776 am Falcken, einer Dramatisierung von Boccaccios Novelle über die hingebungsvolle, aber zunächst aussichtslose Werbung Federigos um die verheiratete Giovanna.39 Diese Gestalt sollte Züge von Lili Schönemann tragen. Außerdem erbat sich aber der Dramatiker ausdrücklich die Erlaubnis, einige Tropfen von Charlottes Wesen hinein¬ gießen zu dürfen.40 Die Charlotte-Dichtungen41 werden dann im Oktober durch die »Erfindung« der Geschwister fortgesetzt, die ohne den exotischen Schauplatz von Boccaccios leiden¬ schaftlich bewegter Welt, ohne die ekstatische Sprache des einzig erhaltenen Dialogs vom Falcken-Fragment und ohne die verwickelten Handlungsstränge des Novellenstof¬ fes das schlichte Bild einer gegenseitigen Zuneigung malen. Der Dichter hat es - nun von der eigenen entsagungsvollen Lebenserfahrung abweichend - mit dem kleinen Goldrahmen einer idyllischen Glücks Verheißung ausgestattet. Vom rasch beendeten kurzen Werk sendet er gleich eine Handschrift an die Familie ab; die Herzogin Luise liest das Exemplar, das Charlotte von Stein zugedacht ist, und Luise von Göchhausen fertigt eine Kopie an, die sich später bezeichnenderweise als Geschenk des Verfassers in Charlotte Kestners Nachlaß findet.42 Dem allgemeinen Lesepublikum wird das Schau¬ spiel erst nach elf Jahren, also 1787 durch Joachim Göschens Edition zugänglich. Während das Briefgedicht an Frau von Stein als rein private Aussage zu Goethes Lebzeiten in keine seiner Lyriksammlungen aufgenommen wurde, tritt der Dramatiker mit den Geschwistern lange vor dem Erstdruck an die Öffentlichkeit. Diese besteht zunächst aus einem kleinen Publikum von Freunden und Gönnern, vor denen das Stück bereits am 21. November des Entstehungsjahres aufgeführt wird. Der Spielplan des herzoglichen Liebhabertheaters in Weimar verzeichnet bis zum Oktober 1816 dreißig weitere Inszenierungen, von denen die meisten unter Goethes eigener Leitung stehen. Der intime Charakter des Schauspiels wird noch durch die Besetzung bei der Uraufführung unterstrichen:43 Goethe selbst spielt den Wilhelm; Amalie Kotzebue übernimmt die weibliche Hauptrolle, ihr fünfzehnjähriger Bruder August, der später selbst ein erfolgreicher Dramatiker werden sollte, tritt als der Briefträger auf. Die zahlreichen Aufführungen, sei es in Leipzig, Frankfurt, Berlin oder an den kleinen Bühnen fürstlicher Sommertheater, beweisen die Beliebtheit des Lustspiels. Christian Gottfried Körner berichtet beispielsweise an Friedrich Schiller: »Ifflands moralische

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Stücke [...] sollen nicht gefallen haben; dagegen aber die Geschwister sehr gut aufgenommen worden sein.«44 Goethes Mutter legt einem Brief den Frankfurter »Commedien-Zettel« bei und bemerkt: »Die Geschwister (wie du ersehen wirst) sind an der Tages-Ordnung.«45 Das zeitgenössische Theaterpublikum ist bei der Rezeption des Einakters nicht unbedingt auf die Kenntnis des lebensgeschichtlichen Hintergrundes angewiesen. Die persönliche Anteilnahme des Dramatikers an der Marianne seines Stücks wird im Lauf der Zeit immer mehr als ein Interesse an verschiedenen Darstelle¬ rinnen dieser Rolle erklärt, und Goethe hat solchen Spekulationen selbst Nahrung gegeben, wenn man seine Tagebuchnotizen über die ersten Proben liest oder die mündliche Mitteilung heranzieht, daß Die Geschwister mit Dlle. Kotzebue »nicht ohne wechselseitige Neigung« gespielt wurden.46 Ein handgreifliches Ergebnis solcher Gerüchte und außerdem ein Kuriosum der Theatergeschichte ist ein Schauspiel in einem Akt von Otto Franz Gensichen, das anläßlich von Goethes Geburtstag am 28. August 1877 auf der Weimarer Hofbühne, dann in Hamburg und am 25. Oktober des gleichen Jahres in Berlin gespielt wurde. Der Titel des Stücks, Euphrosyne, bezieht sich nicht nur auf die Grazie, die Frohsinn und Heiterkeit bringt und damit die unterhaltende Funktion des Theaters unterstützt, sondern auch speziell auf die Schauspielerin Christiane Neumann-Becker, der Goethe diesen Namen in einer Elegie aus ihrem Todesjahr 1797 beilegte. Als Schülerin von Corona Schröter und Schützling der Herzogin Anna Amalia hatte sie mehrfach die Marianne der Geschwister dargestellt, die für sie besonders geeignet schien, da sie ihrem natürlichen Wesen entsprach. »Wenn kunstlose Gemütsart und einfache Erziehung, Unschuld und Herzlichkeit, Sittsamkeit, Anstand und edles Selbstgefühl die Haupt¬ züge dieser Rolle ausmachten«, schreibt ein Bewunderer ihres Spiels, »so war Frau Becker ganz dafür geeignet.«47 Was Gensichen unter lebhaftem Beifall über diese Euphrosyne auf die Bühne brachte, faßt der Theaterkritiker Theodor Fontane, der die Aufführung in Berlin besuchte, so zusammen: »Die vierzehnjährige Christiane Neumann, schon damals eine gefeierte Schauspielerin, soll als Marianne in den Goetheschen Geschwistern auftreten. Sie studiert die Rolle, und ihr Lehrmeister ist niemand Geringeres als Goethe selbst, damals ein angehender Vierziger. Es geschieht das, was in ähnlichen Situationen so oft zu geschehen pflegt, er vergißt die Vierzig, den Lehrer und sogar die Exzellenz und ist in Gefahr, in einen regelrechten Liebhaber umzuschlagen. Die Kleine weiß sich indessen seiner geschickt zu erwehren und der Anfall geht vorüber.«48 In der heiteren und festlichen Weimarer Hofgesellschaft hatten selbst Schabernack, Parodie und Travestie ihren berechtigten Platz.49 Auch bemerkt Goethe selbst über die Situation des Theaters zu Beginn seiner dramatischen Karriere, daß »das Glück der Bühne [...] mehr auf der Persönlichkeit der Schauspieler als auf dem Werte der Stücke« beruhe.50 Diese Tatsache kann durch verschiedene Rezensionen der Geschwister belegt werden, in denen das Interesse der Kritiker sich immer wieder auf die weibliche Hauptdarstellerin konzentriert.51 Um dem Schauspiel gerecht zu werden, sollte man es aber auf seinen Stellenwert in der Entwicklung des Weimarer Liebhabertheaters hin betrachten, mit dessen Leitung der Herzog seinen Freund aus Frankfurt seit dem 1. Oktober 1776 betraut hatte. In dieser Position geht es Goethe um die gewissenhafte Erfüllung einer kulturpolitischen Auf-

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gäbe, die bereits - angeregt durch die Lektüre von Justus Mosers Patriotischen Phantasien - das Gesprächsthema bei der ersten Begegnung mit Carl August gebildet hatte.52 Der neuernannte Theaterdirektor bemüht sich also darum, »den Kontakt herzustellen zwischen ausübendem Künstler und einem aktiv teilnehmenden, ihn fördernden und gewissermassen tragenden Publikum«.53 Während er in der Praxis der Bühne Erfahrungen sammelt, formuliert er seine Theorie in Wilhelm Meisters theatrali¬ scher Sendung. Die Realität der geselligen Kultur der Zeit wird dabei nicht außer acht gelassen. Der Verfasser von Dichtung und Wahrheit charakterisiert rückblickend die Weimarer Hofgesellschaft durch »Gutmüthige Beschränktheit, die sich zur wissenschaftl. und literaren Cultur emporzuheben sucht«.54 Diesem Bildungsziel kommt der Dramatiker mit seiner Auffassung über die Bedeutung des Liebhabertheaters entgegen, die darin liegt, »daß ethische Gesinnung in Handlung umgesetzt wurde und sich solcherweise >gute Menschern gemäß dem in Tasso und in >Das Göttliche< ausgespro¬ chenen Ideal spielend verwirklichen konnten - wobei der hier erscheinende Doppelsinn von >spielend< sehr wohl bedacht ist«.55 Die Aufführung der Iphigenie am 6. April 1779, in der der Dichter selbst die Rolle des Orest übernimmt, ist in dieser Hinsicht der Höhepunkt des Weimarer Liebhabertheaters. Wie weit es gerechtfertigt ist, Die Geschwister aus dem Status der Gelegenheitspoesie herauszuheben und dem Schauspiel einen Platz auf der Entwicklungslinie zum klassischen Drama zuzuweisen, will die folgende Interpretation zeigen.

II Ein Kaufmann mittleren Alters läßt die Tochter seiner verstorbenen Geliebten in seinem Hause heranwachsen. Das Mädchen hält ihn nicht für einen Vormund, sondern für ihren Bruder, dem ihre ganze Neigung und Fürsorge gilt. Die unwillkommene Werbung eines älteren Freundes löst endlich das Zugeständnis gegenseitiger Liebe zwischen Wilhelm und Marianne aus, deren glückliche Ehe das Ende dieses Einakters ankündigt. Die Beziehungen, die die Hauptfiguren verbinden, lassen eine Reihe bekannter Motive anklingen, die aber nicht im Sinn der literarischen Tradition zum Tragen kommen. Schon der Titel des Stückes in Verbindung mit der Liebesthematik deutet auf das Motiv des Inzests hin. Dieser Titel erweist sich aber als irreführend, da bereits Wilhelms zweites Selbstgespräch die wahren Verwandtschaftsbeziehungen klärt und in dem folgenden Monolog Marianne deutlich als Mündel und nicht als Schwester bezeichnet wird. Daß Goethe vor der Darstellung der Geschwisterehe keinesfalls zurückgeschreckt ist, beweist Mignons Lebensgeschichte. Die Enthüllung der wahren Identität führt im vorliegenden Schauspiel zu einem harmonischen Abschluß und nicht wie im Wilhelm Meister oder beispielsweise bei Christian Fürchtegott Gellerts Carlson und Marianne (Lehen der schwedischen Gräfin von G***) in eine unausweichliche Tragik. Der Inzest wird in Gotthold Ephraim Lessings Nathan der Weise vermieden, weil Recha und der junge Tempelherr rechtzeitig als Geschwister erkannt werden. In Friedrich Schillers Drama verhindert dann die Entdeckung der Blutsverwandtschaft, daß Beatrice als Braut von Messina ihrem Bruder angetraut wird. Eine zeitgenössische epische Ausformung dieses Konfliktstoffes in der Geschichte der Miß Fanny Wilkes von Johann Timotheus Hermes

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erwähnt Goethe ausdrücklich als literarische Quelle, bei deren Lektüre sich Marianne dazu veranlaßt fühlt, Schlüsse auf die eigene Lebenssituation zu ziehen. Ein weiteres Motiv aus dem Repertoire vorangegangener Literatur, das auch schon in Goethes früheren Werken mehrfach vorkommt, ist die Doppelliebe, mit der er sich sowohl in Stella als auch im Werther auseinandersetzt. Handelt das Drama von der Liebe eines Mannes zu zwei Frauen, so schildert der Briefroman die Konstellation: eine Frau und zwei Männer (Werther und Albert). Dieses letztere Motiv klingt in den Geschwistern durch Fabrices Werbung um das von seinem Freund geliebte Mädchen an. Es führt aber weder zu einer tragischen Situation noch zu der komischen Variante, für die »die Permanenz der Unentschiedenheit des Mannes« typisch ist.56 Fabrices Heiratsantrag überrumpelt zwar die Protagonistin; sie zieht ihn aber nicht ernsthaft in Erwägung, obwohl sich der ältliche Freier zu dieser Hoffnung berechtigt fühlt. Goethe greift das Situationsmotiv vom verliebten Alten auf, führt es aber nicht im üblichen Sinn aus. Der alternde Faust versuchte, die versäumte Jugend durch Mephi¬ stos Verjüngungstrunk nachzuholen.57 Fabrice dagegen findet sich mit seinem Jungge¬ sellendasein ab und entsagt. Er wird auch nicht gemäß der Komödientradition lächer¬ lich gemacht oder gar von einer jungen Frau betrogen. Obwohl seine Auffassung von Liebe und Ehe Marianne schwerlich Zusagen kann, hat er sich doch als treuer Freund erwiesen, dem zumindest Achtung und ein Stammplatz am Abendtisch gebührt. Der Altersunterschied der »Geschwister«, wie ihn Goethe dann im Mann von fünfzig Jahren negativ bewertet, tut ihrer Liebe keinen Abbruch. Auch in dieser menschlichen Beziehung greift der Lustspieldichter in keiner Weise auf das beliebte Muster von den Heiratsabsichten des lüsternen alten Vormunds auf sein junges Mündel zurück, wie es beispielsweise Pierre Augustin Caron de Beaumarchais 1775 in seiner Komödie über Dr. Bartholo und die lebenslustige Rosina schwankhaft verwandt hatte. In Wilhelms Weltflucht, dem zurückgezogenen, isolierten Dasein, das zunächst nur durch die Erziehung des ihm anvertrauten Kindes einen Sinn erhält, geht der Dramati¬ ker auf ein Thema ein, das sich im 18. Jahrhundert, was Figuren wie der Palemon des Earl of Shaftesbury, der Theages von Wieland und der Hutten von Schiller beweisen, besonderer Beliebtheit erfreut. Marianne und Fabrice charakterisieren beide Wilhelm als Hypochonder, mit einem Begriff also, der zur Entstehungszeit der Geschwister mit dem des Menschenfeindes synonym war. Als Nebenmotiv taucht in den hier genannten Bearbeitungen das Keuschheitsgelübde auf. Schillers Misanthrop will es von Angelika erzwingen, während es Wilhelms Pflegetochter freiwillig ablegen möchte, um wie das alte schrumpfliche Geschwisterpaar aus dem Hause von gegenüber immer neben dem vermeintlichen Bruder leben zu dürfen (366). Es ist sicher kein Zufall, daß Goethes Hypochonder nicht wie die Menschenfeinde seiner Zeitgenossen als wohlhabender Adliger auf einem Landsitz lebt, sondern als verarmter Kaufmann im begrenzten Lebenskreis der engen Bürgerstube. Was den englischen Moralisten und die beiden schwäbischen Dichter an diesem Menschentyp interessierte, ist das philosophische Konzept des Eudämonismus und die Idee einer idealen Gesellschaft, die anhand der vorbildlichen Erziehung eines vom Einfluß der Welt abgeschnittenen Mädchens demonstriert werden soll. In Goethes Einakter fehlt sowohl die philosophische als auch die gesellschaftskritische Tendenz. Als Realpoliti¬ ker im Staatsdienst des Weimarer Hofes ist er durchaus mit den sozialen Mißständen des Landes vertraut. »Glaube mir«, schreibt er an Johann Caspar Lavater, »unsere

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moralische und politische Welt ist mit unterir[d]ischen Gängen, Kellern und Cloaken miniret, wie eine große Stadt zu seyn pflegt, an deren Zusammenhang, und ihrer Bewohnenden Verhältniße wohl niemand denkt und sinnt.«58 Diese Zustände versucht der tatkräftige Minister zu verbessern; der Dichter läßt sie als Quelle stofflicher Inspiration außer acht. In den Geschwistern äußert sich nicht der einflußreiche Staatsbeamte, der auf dem politischen und kulturellen Wirkungsfeld in Weimar erproben will, »wie einem die Weltrolle zu Gesichte stünde«.59 Hier spricht vielmehr der Dramatiker, dem es darauf ankommt, »dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben«,60 und der seine fiktionalen Personen deshalb absichtlich nicht in glanzvolle Weltrollen kleidet. Er wählt als Darstellungsraum den verinnerlichten Schauplatz der menschlichen Seele. Hier zielt die dramatische Bewegung nicht auf eine in spannungsreicher Handlung mit Schlag und Gegenschlag ausgetragene Entwicklung, sondern auf die fortschreitende Enthüllung eines nuancenreichen Innenlebens. Die dramatische Einheit der Spannung und Entla¬ dung wird dabei durch die Einheit der Stimmung und des Gemütes ersetzt.61 Die Einheit von Ort und Zeit ist von vornherein durch die Form des Einakters gewährlei¬ stet, der weder zu Veränderungen des Bühnenbildes noch zu Zeitsprüngen beim Szenenwechsel Gelegenheit bietet. Die Aufführungsdauer von fünfundvierzig Minuten entspricht etwa der gespielten Zeit. Die Gespräche schließen unmittelbar aneinander an; der Handlungsraum - Wilhelms Kontor - ist jeweils von mindestens einem Sprecher besetzt. Die Außenwelt wird nur einmal nach Wilhelms Spaziergang durch die Vignette der alten Käsefrau auf der Gasse mit einbezogen. Auch hier handelt es sich nicht um ein Geschehnis außerhalb der dargestellten Szene, sondern um einen Kunst¬ griff, der dazu dient, Wilhelms poetische Weitsicht mit Fabrices prosaischem Auffas¬ sungsvermögen zu kontrastieren. Das zentrale Element der Darstellung ist nicht die Handlung, sondern das Wort. Die Charaktere enthüllen sich durch ihre Sprache. Verwicklung und Spannungen beruhen auf verhinderter oder mißverstandener Kommunikation. Die in den Regieanweisungen festgelegten außersprachlichen Mittel der Verständigung verstärken das gesprochene Wort. Das Stück ist durch einen klaren Rhythmus von Selbstgespräch und Zwiege¬ spräch gegliedert: Wilhelms erster Monolog und der kurze Auftritt des Briefträgers können als Vorspiel betrachtet werden, das im knappen Stimmungsbild den Kaufmann an seinem Pult mit Handelsbüchern und Papieren einführt. Er stellt sich als fleißigen und mit kleinen Erfolgen und Freuden zufriedenen Menschen dar, dessen Lebensopti¬ mismus gleich handgreiflich durch den Geldbrief bestätigt wird. Auf diese Einleitung folgt eine Komposition, die fast ganz symmetrisch angelegt ist. Sie beginnt mit Wilhelms Selbstgespräch, das neben den Hinweisen auf die Vorgeschichte auch schon die Liebe zu seiner Pflegetochter deutlich macht. Darauf folgt ein scheinbar oberflächli¬ cher Wortwechsel mit Marianne, der in Wilhelm Erinnerungen und Gedanken herauf¬ beschwört, in die der Zuschauer wieder durch ein Selbstgespräch eingeweiht wird. Im folgenden Dialog zwischen Fabrice und seinem Freund reden beide Männer aneinander vorbei und die wichtigsten Dinge bleiben ungesagt. Ein kleines Zwischenspiel vereinigt alle drei Hauptfiguren auf der Bühne, für deren Zusammentreffen das Kind verant¬ wortlich ist, das denn auch das Gesprächsthema bildet. Diese Szene zu dritt leitet eine Umgruppierung der Personen ein. Wilhelm tritt ab und Fabrice hat zweimal allein das Wort. Seinem ersten Monolog folgt der Heiratsantrag, dem zweiten die Aussprache

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zwischen den beiden Männern. Jetzt neigt sich die soweit ausbalancierte Dialogführung zugunsten Wilhelms, der noch einmal allein auf der Bühne bleibt und im folgenden Zwiegespräch von Mariannes Liebe überzeugt wird. Die abschließende Szene zu dritt löst die Identitätsfrage für Marianne und bringt die Vereinigung des Paares und die Versöhnung mit dem abgewiesenen Freund. Mit diesem Wechsel vom persönlichen Bekenntnis sich selbst bzw. dem Theaterpubli¬ kum gegenüber und einem Gespräch zu zweit oder zu dritt ist die Komposition des Stückes zunächst nur äußerlich beschrieben. Auch kann man zwischen Monolog und Wechselrede nicht immer eine scharfe Trennungslinie ziehen, denn auch das Zwiege¬ spräch ist manchmal nicht mehr als »zweistimmiges Selbstgespräch«,62 das nicht die bühnenmäßige Handlung vorantreiben, sondern die geistige Lage eines Gesprächsfüh¬ rers klären soll. Diese Tendenz bestätigt Goethes Drama als »psychologisches Experi¬ ment, das die Bedingungen eines bestimmten Falles untersucht und die Vieldeutigkeit der menschlichen Seele und ihrer Motive dabei in den Mittelpunkt stellt«.63 Die Dialogführung in den Geschwistern bestimmt nicht nur die Form des Dramas, sondern trägt entscheidend zur Konstitution seiner Sinnebene im Bewußtsein des Zuschauers bei. Spannung auf den Ausgang der Handlung zu erzeugen liegt nicht in der Wirkungs¬ absicht des Stückes, dessen Rezipient jeweils mehr über die Zusammenhänge und Absichten der beteiligten Personen weiß, als diese einander mitzuteilen gewillt sind. Der Dialog wird hier nicht der Strategie der Handlungsführung dienstbar gemacht, sondern der Menschengestaltung. Im Selbstgespräch geben die fiktionalen Personen ein unverfälschtes Bild ihres Innenlebens; im Zwiegespräch neigen sie dazu, ihre wahren Pläne zu verhüllen oder ganz zu verschweigen. Hierbei fällt auf, daß Marianne kein Raum zu Reflexion gegeben wird, denn sie hat keine Geheimnisse, kennt keine Verstellung und zögert nicht, ihre Gefühle offen auszusprechen, sobald sie sich selbst darüber im klaren ist. Wilhelm dagegen will seine Gedanken verbergen. Auf der Bühne allein gelassen, macht er zunächst eine Liebeserklärung an die abwesende Marianne. Hier erfährt der Zuschauer, daß er nicht ihr Bruder ist, sondern sie »mit ganz anderem Herzen, ganz anderen Hoffnungen« (353) liebt. Sie bildet Anfang und Ende seiner Gedanken, die auf das Glück seiner Zukunft gerichtet sind. »Marianne! ich werde glücklich sein, du wirst’s sein, Marianne!« (353). Auf seine leidenschaftliche Apostro¬ phe hin erscheint das Mädchen mit der Frage: »Was willst du, Bruder? Du riefst mich.« Er leugnet aber den Ruf, als er sich aus der erträumten Zukunft in die Gegenwart versetzt sieht, denn er will ihr seine Gefühle noch nicht entdecken. Auf seine Rolle als Liebender weist er allerdings im gleichen Gespräch schon andeutungsweise durch die leise Eifersucht auf Fabrice hin, von dem Marianne gern neue Lieder lernt, um Wilhelm damit aufzuheitern. Anders sieht das Verhältnis von gesprochenem Wort und gemeintem Inhalt aus, wenn Fabrice am Gespräch beteiligt ist. Man muß seine Rede immer wörtlich nehmen, denn es gibt bei ihm keine Tiefendimension, die sich unter der Oberfläche der konkreten Aussage verbergen könnte. Seinen Heiratsantrag kleidet er nicht zufällig in die Sprache des Geschäftsmannes, der einen vorteilhaften Vertrag abschließen möchte. Mariannes Zukunft wird zunächst theoretisch diskutiert, wobei Fabrice vier parallele Fragen über die Möglichkeit einer Wirtschaft zu dritt stellt. Marianne geht auf seinen Ton ein: »Man sollt’s denken. Wenn ich’s überleg, ist’s wohl wahr« (358). Aber ihr Gefühl verwirft das Gedankenspiel als »Märchen« (359), von dem sie immer wieder auf das »Wahre« - die

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Bindung an den vermeintlichen Bruder - zurückkehrt. Für Fabrices Gefühle gibt es wenig Worte. »Soll ich eine lange Rede halten?« fragt er. »Soll ich Ihnen hinschütten, was mein Herz so lang bewahrt?« (360). Statt des Herzensergusses folgt dann ein schon syntaktisch mühsam zusammengebauter Satz, der typischerweise auch nicht seine Liebe, sondern ihr Wesen beschreibt: »Nie hab ich ein Mädchen gesehen, das so wenig dachte, daß es Gefühle dem, der sie sieht, erregen muß, als dich« (360). Aus dieser sprachlichen Not rettet sich der Freier schnell mit einem sachlichen Angebot: »Ich habe Sie erkoren, mein Haus ist eingerichtet« (360). Fabrices Werbung setzt Marianne in eine Verlegenheit, die er selbstgefällig als Liebe deutet. Seine Geste des Knieens und seine Anrufe »Engel, Allerliebste« durchschaut sie sofort und macht sich Vorwürfe, ihn nicht eindeutiger abgewiesen zu haben. Diese Geste ist dem Rollenklischee des Liebhabers entlehnt, zu dem sich der ältliche Bewerber wenig eignet. Sobald er allein ist, bezeichnet er Marianne, mehr seinem eigenen Sprachgebrauch entsprechend, als »lieben kleinen Narren, [dem man] die Tändelei mit dem Bruder erlauben darf« (361). Das Ausmaß seiner Selbsttäuschung wird hierdurch dem Zuschauer, der die Beziehun¬ gen der »Geschwister« kennt, deutlich vor Augen geführt. Die Liebe definiert der nüchterne Bräutigam im gleichen Monolog als »eine Sache, woran man nie den Geschmack verliert« (361), wie er auch später als Zeuge echter Liebe nur erklären kann: »Ich [...] seh’ die Sachen haben sich schon gemacht« (368). Marianne hält eine Heirat, wie er sie im Sinn hat, nur für möglich, »wenn sich Liebe herüber und hinüber ziehen ließe wie Geld, oder den Herrn alle Quartal veränderte, wie eine schlechte Dienst¬ magd« (359). Auch als Fabrice bei seinem Freund um die Hand der »Schwester« anhält, sagt er nicht, was er für sie fühlt, sondern bietet einen Mietvertrag, eine Hausgemeinschaft zu dritt an. Seine Ausdrücke wählt er vorsichtig, um Wilhelms Selbstgefühl zu schonen; sie spiegeln aber in Wirklichkeit das schwache Maß seiner Liebe wider. Es heißt hier zunächst nicht: Ich liebe deine Schwester, sondern »Die nähme ich allenfalls zu mir« (362), oder an anderer Stelle: »Wir wollen zusammen wohnen [...] als Schwager wird’s schon gehen. [...] Es wird alles hübsch!« (361). Hat er seine Heiratsabsicht anfänglich vor dem Freund verborgen, den er erst in gute Laune versetzen will, so sagt er im entscheidenden Gespräch ganz ohne Absicht die Wahrheit: »Den Mann wird sie mehr als den Bruder lieben« (363). Fabrice ist ein Geschäftsmann und ein Verstandesmensch, der vorschlägt: »Laß uns ein klug Wort reden. - Ich liebe Mariannen; gib sie mir zur Frau!« (363). In dieser Form wirbt er um sie, gibt auch gleich zu: »Sie liebt dich mehr, als sie mich liebt; ich bin’s zufrieden« (363). Auf das kluge Wort des Freundes reagiert Wilhelm mit der Bitte: »Laß mich! — ich hab keinen Verstand« (363). Wenn Wilhelm auch seine Liebe vor Marianne verbirgt, um ihre freie Entscheidung nicht zu beeinträchtigen, so zeigt er doch die Differenziertheit seiner Gefühle in den Monologen. Der Zuschauer weiß dadurch schon von seiner Liebe zu Mariannes Mutter Charlotte. Die Kritiker, die in ihrem Eifer diese Charlotte aus »jenem ersten Traum des Lebens« (354) mit Charlotte von Stein gleichsetzen und behaupten, der zitierte Brief der verstorbenen Geliebten stamme wörtlich von der Weimarer Freundin,64 lassen meist die sicher ebenso bedeutungsvolle Namengleichheit von Mariannes Mutter mit der Lotte des Werber-Romans außer acht. Lotte in ihrer friedlichen Häuslichkeit, umge¬ ben von jüngeren Geschwistern, an denen sie die Stelle der frühverstorbenen Mutter vertritt, ist in ihrer sorglosen und unbefangenen Art Marianne ähnlich, die mit der

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gleichen zufriedenen Selbstgenügsamkeit dem Bruder die Wirtschaft führt und das Nachbarskind bemuttert. Weniger einleuchtend ist Gustav Kettners Ansicht, daß in Wilhelm die Gestalt Werthers wiederaufzuleben scheint, »zwar sittlich gefesteter und klarer in seinem Willen, aber dafür auch ohne die Macht der Leidenschaft und die Tiefe der Lebensauffassung«.65 Eine Leidenschaft, wie sie Werther in den Tod treibt, veranlaßt den seelisch robusteren Wilhelm gerade dazu, sein sinnloses Leben zu ändern und in der bürgerlichen Gesellschaft, die der Außenseiter des Sturm und Drang verachtet, Fuß zu fassen. Er wird zum verantwortungsbewußten, strebsamen Kauf¬ mann, für den eher Albert ein Vorbild hätte sein können oder allenfalls Werthers Freund Wilhelm, der Empfänger seiner Briefe, der zur Anpassung und zur Sorge um eine bürgerliche Existenz riet. Ein Werther am Schreibpult, der das Leben als Summe kleiner Freuden genießt, hätte allenfalls in Friedrich Nicolais parodistischer Fortset¬ zung des Briefromans über die Freuden des jungen Werther einen Platz. Weder in der leidenschaftlichen Empfindungsweise noch in der poetischen Wortgewalt ist Wilhelm dem Sturm-und-Drang-Helden ebenbürtig. Er ist sich aber der Grenzen seiner Kom¬ munikationsfähigkeit ebenso bewußt wie Werther, der sich im folgenden Briefzitat darüber Gedanken macht: »Ach könntest du das wieder ausdrücken, könntest du dem Papiere das einhauchen, was so voll, so warm in dir lebt, daß es würde der Spiegel deiner Seele, wie deine Seele ist der Spiegel des unendlichen Gottes!«66 Die Worte des Rationalisten, die nicht aus der Empfindung kommen, sondern nur erdacht, oder was schlimmer ist, vom Wissen anderer abgelernt sind,67 verwirft Werther als »garstiges Gewäsch« und »leidige Abstraktionen«.68 Fabrices Ausdrucksschwäche wird zwar nicht so offen kritisiert, aber sein Mangel an Gefühlen spiegelt sich deutlich in der Armut seiner Sprache wider. Wilhelms Sprachgebrauch ist dagegen überraschend vielseitig. Er äußert sich nicht nur in der performativen Alltagssprache des Geschäftsmannes, sondern bedient sich auch einer poetischen Ausdrucksweise, die sich durch die Beweglichkeit und den Nuancen¬ reichtum von rhythmisch und bildlich differenzierten Redeformen auszeichnet. Einer¬ seits versucht Wilhelm, in den Einzelerscheinungen des Lebens einen Sinnzusammen¬ hang zu finden. Dies führt zu fast sprichwörtlich anmutenden Formulierungen, durch die er eine aus den Erfahrungen kleiner Alltäglichkeiten herausdestillierte Erkenntnis ausdrückt. »Wer klein Spiel spielt, hat immer Freude, auch am kleinen Gewinn, und der kleine Verlust ist zu verschmerzen«, heißt es in der einführenden Rede (352). Andererseits ist Wilhelm ganz den Gefühlsschwankungen des Augenblicks ausgesetzt, wobei sich seine innere Bewegtheit schon am Satzbild zeigt wie in den Ausrufen, Fragen, Satzfetzen und Gedankenstrichen des zweiten Selbstgesprächs. Die starke Wirkung von Wilhelms Äußerungen beruht zum Teil auf den für seinen Stil typischen Mitteln der poetischen Emphase wie Alliteration, bestätigende Wiederholungen, Bin¬ nenreim, Häufung der Attribute oder der Verba mit jeweils gesteigertem Ausdruck¬ wert. Die Differenziertheit von Wilhelms Sprachgebrauch von der knappen sachlichen Mitteilung bis zum Gebet oder Liebesgeständnis wird jeweils durch einen Wechsel im Sprachrhythmus unterstrichen.69 Immer wieder gelingt es Wilhelm, einen Erlebnisinhalt in Bilder zu verwandeln, die sich gleichzeitig vor das innere und äußere Auge des Zuschauers stellen. Marianne wird ihm als »holdes Blütchen« (356) anvertraut. Die Möglichkeit, sie zu verlieren, empfin¬ det er »wie eine Wetterwolke. Es zuckt, es schlägt!« (364). Im gleichen Bild fährt er

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später fort: »So weggeschnitten, weggebrochen alle Aussichten« (365). Aus diesem Metaphernbereich hatte auch Goethe geschöpft, als er den Verlust der eigenen Schwe¬ ster beklagte.70 Marianne nimmt später wie zufällig Wilhelms sprachliche Wendung wieder auf, wenn sie bekennt: »Denn nur mit dir kann ich leben, mit dir allein mag ich leben. Es liegt von jeher in meiner Seele, und dieses hat’s herausgeschlagen, gewaltsam herausgeschlagen -« (366). Eine solche Übereinstimmung, die sich sprachlich manife¬ stiert, besteht auch schon, ehe das Paar zusammenfindet. Wilhelm gesteht Fabrice: »Mir ist ganz wunderbar geworden auf dem Wege. [...]- und das was mich im Tiefsten meiner Seele beschäftigt - Er wird nachdenkend« (362). Dasselbe Vorgefühl bekennt auch Marianne und füllt es ebensowenig wie Wilhelm mit einem festen Inhalt: »Ich denke - ich denke auch nichts. Es ist mir nur manchmal so wunderbar« (358). Seine Glücksvorstellungen kleidet Wilhelm in Bilder aus dem religiösen Bereich. Marianne ist der »Engel«, der sein Haus zum »Heiligtum« macht (364). Die »Seligkeit« seiner erfüllten Hoffnung ist »die goldne Zauberbrücke, die mich in die Wonne der Himmel hinüberführen sollte -« (365). Das Geständnis ihrer Liebe bedeutet für ihn den »Freudenkelch«, den er austrinken muß (367). Die verstorbene Geliebte wird als eine »heilige Frau« angerufen, die segnend von »droben« herunterschaut (354). Auf dem Höhepunkt der Freude und im tiefsten Schmerz versagen die Worte.71 Mehrmals bricht Wilhelm eine Aussage ab und »steht in sich gekehrt«. Diese Haltung nimmt er beispielsweise nach der Vision von Charlotte ein. Er kann ihre Gegenwart zwar durch seine Vorstellungskraft heraufbeschwören; sie lebt aber in Wirklichkeit nur in seinem Innern. Das Bild der Toten wird durch Kindergeschrei, den Anspruch neuen Lebens, vertrieben. Einen ähnlichen Grad von Introspektion, deren Ergebnisse sich nicht in Worte fassen lassen, erlebt Wilhelm auf seinem einsamen Abendspaziergang. Ehe er mit Fabrice über seine Empfindung zu reden versucht, steht er »einige Augenblicke still in sich gekehrt« (362). Das Schweigen dient dazu, eine Pause entstehen zu lassen, in der Wilhelm seine Gedanken sammeln kann. Die Szenenanwei¬ sungen charakterisieren ihn dann als nachdenkend, zerstreut, still, verworren, aus Gedanken auffahrend. Sein Schweigen bezeichnet also gerade nicht eine Gefühllosig¬ keit, sondern eine Steigerung des Gefühlsausdruckes.72 Es ist stärker als Worte; es »geht grad ans Herz« (352), wie es im zweiten Selbstgespräch heißt. Wilhelm steht »stumm in streitenden Qualen« (364),73 als ihm der Verlust der Geliebten droht; und er verstummt »im Umfange seiner Freuden« (367), als sie ihn ihrer Liebe versichert. Wenn hier die starke Reaktion auf eine Mitteilung schweigend verarbeitet wird, so kann Wilhelms Wendung auf die Innenwelt auch eine Flucht aus der Realität bedeuten. Zu Beginn des Schauspiels werden zwei Erfahrungsbereiche aus seinem Leben dargestellt: der Alltag des fleißigen Kaufmanns und die Sehnsuchtswelt eines gemeinsamen Lebens mit Charlotte. Wie im Briefgedicht an Charlotte von Stein ist der Höhepunkt des Glücks in die Vergangenheit verlegt, wobei in Wilhelms Monolog aber jener erste »Traum des Lebens« (354) nicht wie für das lyrische Ich ein unerreichbares Wunschziel bezeichnet, sondern ein echtes Erlebnis, dem der Tod ein Ende setzte. Im Gedicht verhindert ein feindliches Schicksal das wechselseitige Glück. Im Schauspiel dagegen erfüllt sich Wilhelms Glaube, »daß mir das Schicksal verjüngt dich wieder gegeben hat, daß ich nun mit dir vereinigt bleiben und wohnen kann« (354). Diese glückliche Aussicht wird im Verlauf des Dramas mehrfach durch Probleme der Verständigung in Frage gestellt. Solange die beteiligten Personen Geheimnisse vor-

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einander haben und sich gegenseitiges Vertrauen nur zögernd und sparsam zumessen, erweist sich ihre Sprache als unzulänglich. Sie können sich nicht verstehen oder erkennen und weisen sich Rollen zu, die der Wirklichkeit nicht entsprechen.-Die Verwicklung des Dramas geht von Wilhelms absichtlicher, wenn auch gutgemeinter Täuschung aus: er hat Marianne für seine Schwester und Charlottes Tochter für tot erklärt. Er vertraut Fabrice zwar als Geschäftsmann, indem er sich beispielsweise um die Rückgabe des Schuldscheins wenig Gedanken macht, zögert aber, den Freund in sein Geheimnis einzuweihen. Das Bekenntnis wird nicht nur durch Mariannes Auftritt mit dem Knaben verzögert, sondern auch noch dadurch erschwert, daß Fabrice nur widerwillig zuhört. Im ersten Gespräch sind beide Männer so von ihren eigenen Gedanken in Anspruch genommen, daß sie aneinander vorbeireden. »Wenn er mich nur jetzt verschonte«, bemerkt Fabrice in einer Wendung ans Publikum, »heut hab ich ganz andere Sachen im Kopf, und just möcht ich ihn in guter Laune erhalten« (355). Auch Fabrice erklärt sich nicht, sondern er will auf einen günstigeren Augenblick warten. Jeder verkennt dabei die Rolle des anderen. Wilhelm hat bei seinem Freund Gleichgültigkeit gegenüber Frauen vorausgesetzt: »Wie ich dem Schein nach [Marian¬ nes] Bruder war, hielt ich dein Gefühl für das wahre brüderliche« (364). Fabrice deutet seinerseits einen Rollentausch an, der sich als unbeabsichtigte Prophetie erweist: »Den Mann wird sie mehr als den Bruder lieben; ich werde in deine Rechte treten, du in meine, und wir werden alle vergnügt sein« (363). Für Fabrice sind die Herzen auswechselbar. Liebe läßt sich teilen wie Geld, und er neidet dem zukünftigen Schwager nicht den größeren Betrag. Fabrice hat sich für Marianne die Rolle des Hausmütterchens (358) zurechtgelegt. Er fühlt sich durch ihre Fürsorge für das Nachbarskind, das Einüben der Mutterrolle, angesprochen und betrachtet das Mädchen als Besitz - »was mir fehlt und was ich haben werde« (363) -, auf den er »Rechte« hat. Von diesem Anspruch und der Aussicht auf ein häusliches Leben ist er so erfüllt, daß er die Ablehnung seines Heiratsantrages nicht hören kann. Mariannes ängstliche Beendigung des Gesprächs, indem sie ihn an den Bruder verweist, interpretiert er als Jawort. Ihr Zögern erklärt er damit, daß »sie antwortete, wie’s einem Mädchen ziemt« (364). Seinen Versuch, in die Rolle des Liebhabers zu schlüpfen, beschreibt sie ihrerseits ganz nüchtern: »Er war da und redete soviel und stellte mir so allerlei vor« (365). Marianne ist zwar durch die überraschende Werbung verwirrt, spricht aber unumwun¬ den ihre Bindung an den Bruder aus: »Wenn ich ihn nicht hätte, wüßt ich nicht, was ich in der Welt anfangen sollte. Ich tue doch alles für mich und mir ist, als wenn ich alles für ihn täte« (359). Ihn zu verlassen wäre unerträglich - »unmöglich, [.. .] nimmermehr [...] das geht nicht« (358). Als Wilhelm sie zur Rede stellt, formuliert sie ihre Absage an Fabrice ebenso eindeutig und läßt auch für die Zukunft die Möglichkeit einer Sinnesänderung nicht offen. Marianne täuscht sich wohl über ihre eigene Identität, da Wilhelm sie auf die Rolle der Schwester festgelegt hat, nicht aber über seinen Charak¬ ter. Sie liebt ihn, so wie er ist, und zwingt ihn schließlich, ihr Geständnis anzuhören: »Du sollst mich nicht hindern, laß mich alles sagen« (367). Sie äußert ihr Gefühl ohne Vorbehalt und liest ihm das seine, das er zu verbergen sucht, aus den Augen ab. Marianne soll für Fabrice nur eine gute Hausfrau sein und für Wilhelm an die Stelle der verstorbenen Geliebten treten. Ihr praktischer Lebenssinn hindert sie aber nicht daran, sich auch selbst in der Phantasie Wunschrollen zuzulegen. Die Modelle erhält sie aus

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Romanen, durch deren Lektüre sie die mangelnde Lebenserfahrung ergänzt. Wilhelm hat diese Versuche nie ernst genommen und wollte sich in das Spiel nicht hineinziehen lassen. Marianne identifiziert nämlich nicht nur sich selbst mit den tugendreichen verliebten Heldinnen, sondern sie hat das romantische Paar jeweils durch den Bruder in der Rolle des Liebhabers vervollständigt. Dabei wählt sie ihre Beispiele bezeichnender¬ weise aus solchen Romanen, die mit einer Verwicklung oder Entdeckung enden, welche den glücklichen Ausgang verhindern. Sie stattet also mit Hilfe des literarischen Musters ihre Beziehung zu Wilhelm mit allen Attributen romantischer Liebe aus und vergießt dann Tränen über die notwendige Trennung. Wie der Bruder ihre Neigung oft zu mißachten scheint, verzehrt sich der Held ihrer Träume in stiller Sehnsucht und wagt es nicht, seine Gefühle für die Julia im Roman zu gestehen. Mariannes Liebe ist in Wirklichkeit nicht von dem Aussehen und der galanten Lebensart eines Henry Mandeville abhängig. Wilhelm lacht über die Gleichsetzung mit diesem Heinrich und die Zumutung, wie der empfindsame und tugendreiche Engländer in großen Gärten spazieren und sich duellieren zu müssen. Da er selber keine Romane liest, entgeht ihm hier aber die eigentliche Ironie, denn Henrys Gewohnheiten, die Marianne so bewundert, führen ja gerade, nachdem alle andern Hindernisse, Geld¬ schwierigkeiten und Nebenbuhler aus dem Weg geräumt worden sind, zu dem tragi¬ schen Ende: der Held stirbt an den Wunden eines unnötigen Duells, Julia schließlich vor Kummer.74 Mariannes Vorliebe für moralisierende Romane verbindet sie mit der lebenstüchtigen Lotte, von der Werther berichtet, daß sie »mit ganzem Herzen an dem Glück und Unstern einer Miß Jenny teilnehmen konnte«, als sie jung war.75 Im erfüllten Leben der Gegenwart sucht Lotte keine innere Flucht zu einem fremden Schauplatz mehr. Jetzt ist ihr der Autor der liebste, »in dem ich meine Welt wiederfinde, bei dem es zugeht wie um mich, und dessen Geschichte mir doch so interessant und herzlich wird als mein eigen häuslich Leben, das freilich kein Paradies, aber doch im ganzen eine Quelle unsäglicher Glückseligkeit ist«.76 Weder Lotte noch Marianne finden in der Geschichte der Miß Fanny Wilkes ihr eigenes häusliches Leben abgebildet, wie es eher im nächsten Buch des gleichen Verfassers, Sophiens Reise von Memel nach Sachsen geschildert wird. Das 1766 erschienene Erstlingswerk des Theologen Johann Hermes, für das er mit dem Zusatz »so gut als aus dem Englischen übersetzt« Reklame macht,77 führt von Räuber¬ höhlen zu reichen Landgütern, von Bordellen zum Unterschlupf beim braven Nacht¬ wächter, aus der Verfolgung der spanischen Inquisition an die Küste von Frankreich, aus richtungslos treibenden Ruderbooten in Postkutschen, in denen der Verführer lauert, und überall bewährt sich die hart angefochtene Tugend der Miß Jenny, denn diese und nicht die Titelfigur ist die eigentliche Heldin des Romans. Was Marianne aus dieser verwirrenden Vielfalt der Geschehnisse speziell auf ihr eigenes Leben bezieht, ist das Unglück des Liebespaares, das nach rund siebenhundertundfünfzig Seiten endlich für alle ausgestandenen Leiden belohnt werden soll, aber durch die plötzliche Aufdeckung verwickelter Verwandtschaftsbeziehungen wieder getrennt wird. Die Geschwisterehe wird in diesem Roman in allen möglichen Schattierungen dargestellt. Graf Periglio heiratet seine Schwester Giovanna, nachdem er sie aus dem Kloster entführt hat. Die Ehe von Charlotte Hay und Herrn Poor endet mit dem Selbstmord des Bräutigams, der mit den Gewissensqualen, welche die Ehe mit der vermeintlichen Schwester auslöste, nicht leben kann. Daß der Arzt, der sie aufzog, gar

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nicht ihr Vater war, sondern nur der seine, tut seinen Schuldgefühlen keinen Abbruch. Eduard Handsom wurde zu einer Ehe mit Giovanna, alias Mrs. Widow, alias Mrs. Wanton gezwungen, weshalb er nach der Entwirrung des Stammbaumes die tugendrei¬ che Jenny nicht heiraten kann. Sie ist allerdings nicht wirklich seine Stieftochter, wie es im Roman heißt, sondern die Nichte seiner ersten Gattin. Selbst die Liebe zur Tochter einer begehrten Frau ist in diesem inhaltsreichen Werk schon vorgebildet, in dem aber glückliche Ehen höchst selten Vorkommen. Denn die Werbung des Kaufmanns Kinsman um Jenny nach dem Tod ihrer Mutter, die er ebenfalls heiraten wollte, wird abgewiesen. »Die Miß Fanny hätt ich verbrennen können! Ich habe soviel geweint!« (367f.) erklärt Marianne, ohne daß Wilhelm die vielfältigen Verhaltensweisen, die dieses literarische Muster enthält, im mindesten bewußt sind. Für die persönliche Lebenssituation entwirft Marianne ein viel zutreffenderes Phantasiebild, als sie es in Romanen vorge¬ formt finden kann. Denn ihr eigenes Wunschdenken löst die Problematik immer durch einen Märchenschluß auf. Daß sich dieser am Ende des Einakters verwirklicht, erscheint wie die Illustration zu Goethes Maxime, die er in Dichtung und Wahrheit formuliert hat: »Was wir können und möchten, stellt sich unserer Einbildungskraft außer uns und in der Zukunft dar; wir fühlen eine Sehnsucht nach dem, was wir schon im stillen besitzen. So verwandelt ein leidenschaftliches Vorausergreifen das wahrhaft Mögliche in ein erträumtes Wirkliche.«78

Anmerkungen Der Dramentext wird zitiert nach: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg, von Erich Trunz. (Im folgenden zitiert als: HA.) Bd. 4. München 81974. Nachweise in Klammern unmittelbar hinter dem Zitat. 1 Der unbegabte Goethe. Die Anti-Goethe-Kritik aus der Goethe-Zeit. Hrsg, von Leo Schidrowitz. Wien [1924]. S. 106. 2 Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg, von Ernst Beutler. Zürich 1950/71. (Im folgenden zitiert als: GA.) Bd. 10: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. S. 306. 3 Emil Staiger: Goethe. Bd. 1: 1749-1786. Zürich 1952. S. 527. 4 Ebd. 5 GA 10,868. 6 Theodor Fontane: Johann Wolfgang von Goethe »Die Geschwister« [...]. In: Th.F.: Sämtliche Werke. Bd. 22. T. 1: Causerien über Theater. Erster Teil. München 1964. S. 478. Ein »bei aller Betonung des Kleinen doch nie ins Kleinliche verfallendes Kabinettstück« nennt Fontane das Drama in der Rezension einer Aufführung vom 16. 12. 1875. 7 GA 10,312. 8 GA 10,868. 9 Z. B. Carl Ludwig Knebel an Friedrich Justin Bertuch, 11./14.12. 1774 (Gespräche. GA 22,71). 10 Johann Georg von Zimmermann an Charlotte von Stein, Januar 1775 (GA 22,73 f.). 11 Wieland, Anfang Januar 1776 (GA 22,97). 12 Wieland an Luise Karsch, Anfang Januar 1776 (GA 22,98). 13 Carl August mußte sich dabei über den Protest seines Staatsministers Jacob Friedrich von Fritsch hinwegsetzen, der als Präsident des Geheimen Consiliums Einspruch gegen Goethes Berufung erhob. 14 26. 10. 1776 (Tagebücher. GA Erg.-Bd. 2,27). 15 Zitiert nach Karl Vietor: Goethe. Dichtung. Wissenschaft. Weltbild. Bern 1949. S. 63. 16 4. 12. 1777 (GA 18,377).

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17 Wieland, Anfang Februar 1776 (GA 22,98 f.). 18 Charlotte von Stein an Johann Georg von Zimmermann, Anfang März (GA 22,100). 19 Ebd. S. 99. 20 An Frau Aya, Tante Fahlmer und den Familienfreund Johann Caspar Bölling, 6.11. 1776 (GA 18,352 f.). 21 GA 10,605. 22 GA 10,791. 23 GA 10,604. 24 GA 10,255. 25 GA 10,253. 26 GA 10,253. 27 An Catharina Elisabeth Goethe, 16. 11. 1777 (GA 18,373). Vgl. auch GA 10,265 zum Gebrauch dieses Bildes: »Durch Gretchens Entfernung war der Knaben- und Jünglingspflanze das Herz ausgebrochen; sie brauchte Zeit, um an den Seiten wieder auszuschlagen und den ersten Schaden durch neues Wachstum zu überwinden.« 28 GA 10,253. 29 An Charlotte von Stein, 24. 5. 1776 (GA 18,330). 30 An Charlotte von Stein, 29. 6. 1776 (GA 18,335). 31 An Charlotte von Stein, 6. 5.1776 (GA 18,324). 32 An Charlotte von Stein, 2. 5.1776 (GA 18,323). 33 An Charlotte von Stein, 6. 9. 1777 (GA 18,365). 34 GA 18,320. 35 Hanna Fischer-Lamberg: Charlotte von Stein, ein >Bildungserlebnis< Goethes. In: Deutsche Viertel¬ jahrsschrift 15 (1937) S. 396. 36 Paul Merker: Von Goethes dramatischem Schaffen. Siebzig Vorstufen, Fragmente, Pläne und Zeugnisse. Leipzig 1917. S. 24. 37 An Charlotte von Stein, 24. 7.1776 (GA 18,340). 38 An Charlotte von Stein, 8. 8.1776 (GA 18,342). 39 Das überlieferte Bruchstück enthält ein Gespräch Federigos mit seinem Freund Horatio über seine Liebe zu Giovanna. Diese Gefühlsäußerung entspricht keineswegs dem Stil des Weimarer Legations¬ rates gegenüber der Gattin des Oberstallmeisters. Zu dem verhaltenen Liebesgeständnis in den Geschwistern, das knapp drei Monate später geschrieben wird, läßt sich keine Beziehung hersteilen. Vielmehr fühlt man sich durch die Stilprobe des Fragments in die Stimmung des Stürmers und Drängers Werther zurückversetzt, der über seine Lotte in Begeisterung und Verzweiflung gerät. 40 An Charlotte von Stein, 8. 8.1776 (GA 18,342). 41 Barker Fairley: Goethe. München 1953. S. 111. 42 Goethe über seine Dichtungen. Versuch einer Sammlung aller Äußerungen des Dichters über seine poetischen Werke. Hrsg, von Hans Gerhard Gräf. T. 2. Bd. 2. Nachdr. Darmstadt 1967. S. 630. 43 Goethe war als Schauspieler an etwa zwanzig Stücken beteiligt. Er spielte die Titelrolle im Westin¬ dier, dem einzigen Drama, an dem auch Charlotte von Stein mitwirkte, und er stellte dann Personen aus seinen eigenen Dramen dar vom Marktschreier im Jahrmarktsfest zu Plundersweilern bis zum Orest aus der Iphigenie. Eine Aufstellung seiner Rollen sowie zeitgenössische Urteile über sein Spiel finden sich in: Willi Flemming: Goethe und das Theater seiner Zeit. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1968. S. 51 f. 44 5. 10.1787 (Gräf [Anm. 42] S. 635). 45 13.1. 1804 (ebd.). 46 Ebd. S. 642. 47 Ernst Wilhelm Weber: Zur Geschichte des Weimarer Theaters. Weimar 1865. S. 297. 48 Fontane (Anm. 6) S. 590. 49 Jörn Göres: Goethes Ideal und die Realität einer geselligen Kultur während des ersten Weimarer Jahrzehnts. In: Goethe 93 (1976) S. 93. 50 GA 10,619. 51 Vgl. Fontane (Anm. 6) T. 2. S. 31: »Es gibt viele Leute, denen die Frage: >Spielt heute der oder der}< viel wichtiger ist als die Frage: >Wird heute dies oder das gegeben?Missbrauchten Liebesbriefe< in den >Leuten von Seldwylaantwortet< Egmonts Freiheitstraum auf die Sorgenphantasien der vergangenen Nacht, wie schon der Einsatz der Traumerzählung anzeigt: »Hinter seinem Lager scheint sich die Mauer zu eröffnen, [...]« (452). Ganz leicht wird auf den Realitätsstatus des Betrachters angespielt (»scheint«), aber nur, um ihn in die Traumperspektive zu verwandeln, die sich in Leichtigkeit aufbaut, gleichsam von selbst füllt, nicht gelenkt und daher auch nicht gebrochen vom vorstehenden Subjekt. Das vorher so unruhige Treiben der Gedanken sammelt sich in ein »schönes Bild« (453), die Dissonanzen lösen sich harmonisch (vgl. 452) auf. Die traumhafte Wirrnis im Denken des Schlaflosen hat sich geordnet - im Traum des Schlafenden. Die Freiheit in der Gestalt der Geliebten, ihre

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Verkündigung der Zukunft für die niederländischen Provinzen, der Lorbeerkranz des Sieges für Egmont: deutlich sind die >realen< Elemente zu erkennen, die das Drama ausgebreitet hat und die nun in traumlogischer Verschiebung und Steigerung- er¬ scheinen. Egmonts Traum ist dramatisch-psychologisch vermittelt durch den inneren Sieg über die Sorge. Er führt zur Versöhnung mit dem Schicksal, das ihm unter der Herrschaft der Sorge noch »verräterisch« zu walten schien (439). Nun sieht sich Egmont »einem ehrenvollen Tode« - einem Opfertod für die Freiheit - entgegenschreiten (453), ja er erlebt die >reale< Szenerie des Gefängnisses mit den bewaffneten spanischen Soldaten als Schauplatz des niederländischen Freiheitskampfes: »Dich schließt der Feind von allen Seiten ein! Es blinken Schwerter - Freunde, höhren Mut! Im Rücken habt ihr Eltern, Weiber, Kinder!« (454). Daß die »Freunde« seiner Vision gegenwärtig sind, geht auch aus der Szenenangabe - »Auf die Wache zeigend« - hervor: Zeigen ist immer ein Zeichengeben für andere. Egmont erlebt das Zukünftige als das Gegenwärtige,7 seine Vision entwirft die traumlogische Verknüpfung des eigenen Todes mit dem Befreiungs¬ kampf seines Landes als einen simultanen Vorgang. Indem er das Geheiß seines Traumes gegen die >reale< Situation festhält, also gleichsam weiterträumt, kann er den inneren Sieg über die Sorge als triumphale Geste ausdrücken. Darin ist kein »Bruch« zu erblicken,8 sondern zunächst einmal ein Vorgang, dessen innerer Bestimmtheit mit den Maßen eines psychologischen Realismus allerdings nicht beizukommen ist. Daß Traum und Vision auf eine politische Utopie hindeuten, erscheint im Rückblick auf Egmonts politisches Verhalten durchaus plausibel - das durchaus nicht nur von persönlichen Motiven geleitet ist und insofern Schillers suggestiven Generalnenner vom »leichtsinni¬ gen Selbstvertrauen«9 entkräftet. Sein erster Auftritt zeigt ihn beruhigend auf das Volk einwirken, um ein unnötiges Aufreizen des Königs zu vermeiden (394). Sein letztes Gespräch zeigt ihn um das Wohlergehen des Landes besorgt, während er sich mit dem eigenen Untergang im Zeichen seines Schicksalsbewußtseins bereits abgefunden hat: »Laß uns darüber nicht sinnen; dieser Gedanken entschlag ich mich leicht - schwerer der Sorge für dieses Land!« (451). Egmont läßt hier nicht nur die politische Sphäre neben der persönlichen gelten; er setzt sie sogar in einen Vorrang. Insofern ist der politische Gehalt seines Traumpathos, was die subjektive Seite angeht, durchaus vorbereitet. Wie aber steht es mit seiner objektiven Verbindlichkeit? Hier muß sich die Meinung aufdrängen, daß zwischen Egmonts Siegesvision und der realpolitischen Situation, wie sie das Drama zeichnet, ein eklatantes Mißverhältnis besteht. Zwar beredet das niederländische Volk von Anfang an die Mißlichkeiten der Fremdherrschaft, aber es macht entschieden nicht den Eindruck, daß es sich anschickt, die »Tyrannei« zu stürzen - wie Egmont begeistert vor Augen hat (453). Was unternehmen die Niederlän¬ der, »dem Freiesten die Freiheit wiederzugeben«? Sie erteilen Klärchen, als sie auf ein kollektives Handeln drängt, eine desillusionierende Absage nach der anderen (vgl. 434ff.). Egmonts »braves Volk«, in seiner Vision durch die »Siegesgöttin« zum Sieg geführt (453), hat sich in Wirklichkeit furchtsam zurückgezogen. Qualifiziert dieser Sachverhalt das Siegespathos des Schlusses zum bloß subjektiven Palliativ des Helden, in seiner Diskrepanz zur politischen Realität des Dramas für den Betrachter allenfalls durch eine äußere Referenz - sein historisches Wissen um den späteren »Abfall der Niederlande« - gemindert? Handelt es sich um einen »Kunstgriff, die allzutraurige

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Empfindungen über den Tod des unglücklichen Helden zu mildern«?10 Aufweichung, Verkürzung, Verschiebung, Notbehelf - die gewohnten Erklärungen stellen sich ein, wenn so gefragt wird. Vielleicht stimmt die Fragerichtung nicht, die solche Antworten programmiert. Offenbar zielt Goethes Gestaltung des Schlusses nicht auf die politische Utopie als solche (nur in diesem Falle käme ihrer Vermittlung im Realen entscheidende Bedeutung zu). Aber es fehlen auch Anzeichen einer Distanzierung, aus denen gefol¬ gert werden könnte, daß es mit Egmonts visionärer Perspektive eine bloß subjektive Bewandtnis habe. Dies macht doch die Struktureigentümlichkeit des Schlusses aus, daß Egmonts Traum nicht zur Realität hin gebrochen wird, sondern sich in einer traumana¬ logen Perspektive erfüllt, die ihrerseits keiner Einschränkung unterliegt. Wenn die Erwartungen psychologischer Wahrscheinlichkeit oder historischer Vermittlung hier zu einem defizitären Befund kommen, so bleibt immer noch die Möglichkeit, sich auf den Kunstvorgang selbst einzulassen und seine spezifische Logik zu klären. Tatsächlich legen Goethes Äußerungen eine solche Einstellung nahe. Für die Vollen¬ dung des Dramas in Italien hat er bekanntlich eine besondere »Freiheit« in Anspruch genommen11 - und vom Leser erwartet. Man braucht sich nur seine Bemerkung von der »Notdurft des dramatischen Pappen- und Lattenwerks«12 zu vergegenwärtigen, um zu erkennen, wie seine dramatische Intention den Egmont vom Prinzip der kausalen Verknüpfung der Handlungsschritte abrücken möchte, auf das Lessing den Dramatiker verpflichtet hat (und von dem sich Schillers Kritik leiten läßt). Dazu gehört, daß die Bildlichkeit schon in der Sprache eine gesteigerte Bedeutung erhält, die sich nicht mehr auf eine Kommentarfunktion reduzieren läßt. Das zeigt etwa Klärchens Versuch, ihre Landsleute zur gewaltsamen Befreiung Egmonts zu begeistern: »Wie eine Fahne wehrlos ein edles Heer von Kriegern wehend anführt, so soll mein Geist um eure Häupter flammen, [...]« (436). Daraus spricht ihre ganze Liebe und ein Mut, den sie den ängstlichen Niederländern vergebens einzuhauchen versucht. Das Bild der wehen¬ den Kriegsfahne ist aber nicht einfach realistischer Charakterausdruck,13 sondern bezieht umgekehrt den Charakter in eine spirituelle Sphäre ein. Klärchen scheitert mit ihrem Versuch, dem Geliebten die Freiheit zu erkämpfen - aber dieses reale Scheitern stiftet die sinnbildliche Verbindung mit der Freiheit, die sich in Traumerscheinung und Traumpathos vollenden wird. Man kann diesen Vorgang verfolgen über Egmonts ersten Kerker-Monolog, der auf diese Verbindung zuläuft (vgl. 440), und Klärchens Hoffnung, daß Gott dem Geliebten einen rettenden Engel senden werde: »[...] er umgießt den Freund mit mildem Schimmer; er führt ihn durch die Nacht zur Freiheit sanft und still« (442). Noch bleibt ein Vorhalt, denn Klärchen weiß nicht, daß die Freiheit selbst in ihren eigenen Zügen erscheinen wird. Diese Verbindung stellen schließlich Brackenburgs Worte her: »O Egmont, welch preiswürdig Los fällt dir! Sie geht voran; der Kranz des Siegs aus ihrer Hand ist dein, sie bringt den ganzen Himmel dir entgegen!« (444). Was danach noch aussteht, ist die letzte Steigerung: daß das Bild, von der Sprache Zug um Zug gebildet, als Bild selbst präsent wird. Die realen Vorgänge entwickeln sich nicht mehr schrittweise auseinander, sondern werden in die höhere Sphäre einbezogen, welche die Bildlichkeit aufbaut. Zwischen Egmont und Klärchen stellt sich eine Simultaneität des Fühlens und Denkens her, als könnte die räumliche Trennung, ja als könnte der Tod dem Einklang der Seelen nichts anhaben. Wie die Lampe Egmonts Gefängnis erhellt und in Klärchens Haus verlischt, werden beide Räume durch das Beziehungsspiel der Worte, die wie Ruf und Echo erklingen,14 zu

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einer gemeinsamen seelischen Sphäre verbunden. Man könnte an vielen Nuancen belegen, wie minuziös dieser steigernde Sinnbildstil im Schlußakt entfaltet ist. Goethe hat sich, wohl unter dem Eindruck der ihn in Italien so mächtig angehenden bildenden Kunst, die Freiheit genommen, im lebendigen, im sprechendem Bild sein Drama gipfeln zu lassen. Das zweite Formelement, das im Schlußakt gesteigert hervortritt, ist die Musik. Sie »begleitet« Egmonts letzten Schlaf (452) und trägt seine Traumvision. Ihr gehört gleichsam das letzte Wort, wenn sie das Drama mit einer »Siegessymphonie« schließt (454). Goethe unternimmt hier den Versuch, Musik als durchgängiges Stimmungs- und Ausdruckselement in den Zusammenhang eines poetischen Dramas zu integrieren. Wann immer in der langen Entstehungszeit des 1775 in Frankfurt begonnenen Dramas ihm eine solche Zielsetzung vorzuschweben begonnen hat, für die vollendende Arbeit in Rom zwischen Juli und September 1787 ist sie zweifellos verbindlich.15 In einem Brief an den Komponisten Philipp Christoph Kayser (der im November dann in Rom eingetroffen ist) hat Goethe am 14. August 1787 seine Kompositionswünsche für den Egmont präzisiert: es handelt sich um »die Symphonie, die Zwischenakte, die Lieder und einige Stellen des fünften Akts, die Musik verlangen [.. .]«.16 Wenn eine sinnbild¬ lich-musikalische Pantomime das Finale - ein hier durchaus angebrachter Begriff der Operndramaturgie - bildet, so handelt es sich nach diesem Gestaltungsplan nicht um einen plötzlichen Sprung »in eine Opernwelt« (Schiller). Aber auch dem dramatischen Ablauf selbst fehlt es nicht an >moments musicaux< wie dem fröhlichen Ausrufen am Ende der ersten Szene, das »eine Art Kanon wird« (377), oder Klärchens Liedern, deren erstes die »kriegerische Musik«, die Egmonts Traumgesicht mit seinem Siegespa¬ thos vermittelt (453), auch motivisch antizipiert (383). Diese opernhaften Züge sind dem Drama aber nicht künstlich aufgesetzt, sondern die Dialoge drängen von sich aus zum musikalisierten Tableau.17 Daß Egmont seine Verstimmung durch die »Ermahnun¬ gen« des Grafen Oliva mit einem Vergleich andeutet, der auf Musik anspielt, mag als Detail noch nicht weiter auffällig sein: »[...] berührt er immer diese Saite« (399). Doch eine Szene wie diejenige zwischen Klärchen und Egmont im 3. Akt18 ist in ihrer Struktur deutlich auf eine musikalische Vollendung angelegt. Egmont erscheint in prächtigem Gewand mit dem Goldnen Vlies, das in Klärchen - als »Zeichen alles Großen und Kostbaren« - den Gedanken an ihre Liebe weckt (413). Zur Frage stellt sich damit das Verhältnis der persönlichen Gefühlswelt zur Welt der Politik, die Klärchen unbekannt ist und nach Egmonts Schilderung ein durch Vorsicht bestimmtes Verhalten fordert, das bis zur Verstellung gehen kann. Er selbst sieht sich gleichsam in zwei Figuren aufgespalten: »Jener Egmont ist ein verdrießlicher, steifer, kalter Egmont, der an sich halten, bald dieses, bald jenes Gesicht machen muß; geplagt, verkannt, verwickelt ist, wenn ihn die Leute für froh und fröhlich halten [. ..] Aber dieser, Klärchen, der ist ruhig, offen, glücklich, geliebt und gekannt von dem besten Herzen, das auch er ganz kennt und mit voller Liebe und Zutrauen an das seine drückt. [.. .] Das ist dein Egmont.« Glücklich und gelöst stimmt Klärchen in diese Gefühlsbewe¬ gung ein: »So laß mich sterben! Die Welt hat keine Freuden auf diese!« (415). Damit endet der Dialog. Endet auch schon die Szene? Im Augenblick des vollen Einklangs der liebenden Seelen wird - so doch wohl Goethes Intention - die Musik einsetzen, den Gefühlsgehalt der Szene auf ihre Weise ergreifen und weiterschwingen lassen.19 Sie ist als künstlerisches Mittel gedacht, das der Welt des persönlichen Gefühls eigene

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Ausdrucksräume eröffnen und sie damit ins Gegenüber zur poiitischen Sphäre bringen soll, die auf das berechnende Kalkül abgestellt ist.20 Insofern steht das musikalische Finale nicht isoliert - das nimmt sich nur unter normativen gattungspoetischen Prämis¬ sen so aus.21 Immerhin verdient Beachtung, daß Goethe seinen Egmont offenkundig mit Blick auf seine musikalischen Elemente als »Komposition« bezeichnet.22 Neben dem musikalischen Gefühlsausdruck und der gesteigerten Bildlichkeit tritt am Schluß, wie bereits angedeutet, die Sphäre des Träumerischen beherrschend hervor. Egmont erlebt seinen schönsten Sieg im Traum - und niemand ist da, der ihm diesen streitig machen wollte durch eine korrigierende Erinnerung an die Wirklichkeit als das Bewährungsfeld des handelnden Menschen.23 Ein heikler Punkt, das ist nicht zu übersehen. Unter den Rechtfertigungen, zu denen sich Goethe nach den Weimarer »Ausstellungen über dieses und jenes« am Egmont veranlaßt sieht, gilt eine auch der Traumerscheinung. Er zitiert sie aus dem Munde der Malerin Angelica Kauffmann (daher die indirekte Rede), spricht aber mit Sicherheit in eigener Sache. Zunächst geht es um Klärchens Bedeutung für Egmont, die durch »das lakonische Vermächtnis [...] an Ferdinand« (vgl. 452) ins Zwielicht geraten ist, sodann aber um Egmont selbst und seine innere Beziehung zum Träumen: »[...] da die Erscheinung nur vorstelle, was in dem Gemüte des schlafenden Helden vorgehe, so könne er mit keinen Worten stärker ausdrücken, wie sehr er sie liebe und schätze, als es dieser Traum tue, der das liebenswürdige Geschöpf nicht zu ihm herauf, sondern über ihn hinauf hebe. Ja, es wolle ihr wohl gefallen, daß der, welcher durch sein ganzes Leben gleichsam wachend geträumt, Leben und Liebe mehr als geschätzt, oder vielmehr nur durch den Genuß geschätzt, daß dieser zuletzt noch gleichsam träumend wache [.. .]«.24 Besonders der letzte, auf Egmont Bezug nehmende Passus dieser Goetheschen Nachhilfe ist für unseren Zusammenhang wichtig, begründet er doch die Traumhaftigkeit des Schlusses von der »gleichsam« träumerischen Existenz des »Helden« her. Die Verknüpfung mit »Leben«, »Liebe« und »Genuß« - offenbar im Goetheschen Sinne des ganzheitlichen Weitergreifens - macht zugleich auf eine spezifische Bedeutung dessen aufmerksam, was hier »Traum« genannt und auf das Drama bezogen wird. Damit kommt ein übergreifender Kontext in Sicht, der bisher ungenutzte Möglichkei¬ ten anbietet, die »römische Vollendung« des Dramas zu verstehen.25 Es ist zweckmäßig, hier ganz einfach lebensgeschichtlich anzusetzen. Was Goethe nach Italien getrieben und was er dort für sich erhofft (und gefunden) hat, das spricht er wiederholt durch Anspielungen auf einen Traum aus: den »Phasanen Traum«.26 Er »fängt an in Erfüllung zu gehn«, teilt das Reisetagebuch unter dem 19. Oktober 1786 mit: »Denn warrlich was ich auflade kann ich wohl mit dem köstlichsten Geflügel vergleichen, und die Entwicklung ahnd ich auch.«27 Wiederholt kommt Goethe in seinen Briefen auf diesen Traum zurück.28 Als er 1813 darangeht, seine einstigen Notizen und Briefe aus Italien zu sammeln und zu sichten, kommt ihm der »Phasanen Traum« als kompositorisches Mittel gerade recht: In der Buchfassung der Italienischen Reise werden wichtige Stationen durch Bezugnahmen auf ihn ausgezeichnet.29 Die Reise ins gelobte Land des Südens erscheint als ein Wirklichkeit gewordener Traum. Das gilt für den »nordischen Flüchtling«30 zunächst in einem konkreten Sinne vom Eindruck der Landschaft, des Klimas und der Menschen: »eine freye Art Humanität« wird schon am 25. September 1786 den Vicentinern abgesehen.31 Die Neapolitaner als »Menschen von glücklichem Naturell [...], die ohne Kümmernis erwarten können, der morgende Tag werde

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bringen, was der heutige gebracht, und deshalb sorgenlos dahin leben«,32 würden zu Egmont passen. Goethes Dramenheld nimmt das Leben »leicht« und kann seinen Sinn nicht darin erblicken, »aufs Leben zu denken« (399). Wenn Gomez - »den leichteren italienischen Dienst gewohnt« - durch »Schwätzen und Räsonieren« von der spani¬ schen Verhaltensweise absticht, die nur schweigenden Gehorsam kennt (421), so steckt auch darin noch eine Huldigung an die italienische Lebensart. Das Land, wo die Zitronen blüh’n, erfährt Goethe als Traumland. Kein »Druck der Geschäffte«33 lastet hier auf ihm, die »Existenz« hellt sich auf34 unter dem Sehen von Landschaft, Volk und Kunst - dem Wiedersehen dessen, was das Innere als Bild der Sehnsucht längst schon in sich getragen hat. Als das große Reiseziel erreicht ist, fällt ein großes Wort: »[...] ich zähle einen zweiten Geburtstag, eine wahre Wiedergeburt, von dem Tage, da ich Rom betrat.«35 Das Wort von der »Wiedergeburt« zieht sich mit seinen Abwandlungen leitmotivisch durch die Italienische Reise, sicherlich auch kom¬ positorisch eingesetzt innerhalb der späteren Redaktion, aber unverkennbar die Nähe zum Erleben selbst bewahrend. Wenn dieser Wort- und Bildkomplex mit seinem mitschwingenden religiösen Sinn auf die Wandlung und Erneuerung des Ich hindeutet, so tritt er in Wechselbeziehung zu einer anderen Schicht, die mehr retrospektiv die Erfüllung des Vergangenen in der Gegenwart akzentuiert: »Alle Träume meiner Jugend seh’ ich nun lebendig«, heißt es nach der Ankunft in Rom, der »Hauptstadt der Welt«.36 Entsprechend zu Beginn des zweiten römischen Aufenthalts: »Mein jetziges Leben sieht einem Jugendtraume völlig ähnlich [.. .].«37 Der gleiche Brief meldet die Wieder¬ aufnahme der Arbeit am Egmont. Es sollte nicht übersehen werden, wie die >italienische< Lebensart in die Kunstarbeit an diesem Drama hineingewirkt hat. Goethe sagt in dieser Zeit von seiner eigenen Lebensverfassung: »Ich fühle mir einen leichtern Sinn und bin fast ein andrer Mensch als vorm Jahr.«38 Was Italien gewährt, ist das dem Dichter wie seinem Helden so gemäße Aufgehen in der Gegenwart - und dies schließt ein, daß das ängstliche Besorgen der Zukunft, beiden verhaßt, ferngehalten bleibt.39 Wenn für den >nordischen< Menschen die Wendung ins Innere, die Hypochondrie, kennzeichnend ist, so steht dazu das >südliche< Leben als ein solches vertrauender Weltzuwendung in einem glücklich erfahrenen Gegensatz. Hier zieht sich das Leben nicht in die Innenwelt des Subjekts zurück, >verhält< es nicht unter dem Gebot von Pflicht und Sorge, sondern kann in das Weltergreifen zurückschwingen, in den »Genuß« im wohlverstandenen Sinne des Wortes. Der lebensgeschichtliche Augen¬ blick, in dem Goethes Sehnsucht nach Italien - dafür hat Wilhelm Heinse die Prägung »Italienweh« gefunden40 - gestillt wird, bildet nicht nur den zufälligen biographischen Hintergrund der Vollendung des Egmont, der allenfalls in atmosphärischen Details spürbar wäre. Goethes >italienisches< Leben steht in innerer Beziehung zu einem Drama, in dem ein Traum in sich schon die Erfüllung bringt und von der Realität gleichsam abgeschirmt bleibt, zu einer Struktur also, die das Innerste des Subjekts zu welthafter Gegenständlichkeit zu erheben scheint. Nun soll hier nicht behauptet werden, daß sich die Vollendung des Egmont - und damit in gewisser Weise das ganze Drama - allein von diesem biographischen Bezug her fassen läßt, so wichtig er zweifellos ist. In Italien macht Goethe auch eine künstlerische Wandlung durch, die der beschriebenen Ausgestaltung der Traumsphäre nun doch einen distanzierenden Zug gibt. Der erneuten Beschäftigung mit Egmont ist die Umarbeitung der Iphigenie in eine klassisch rhythmisierte Form vorausgegangen. Als

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Goethe das Drama in seiner neuen Gestalt im Januar 1787 vor deutschen Künstlern in Rom vorlas, konnten sich diese nicht gleich zurechtfinden, da sie - »an jene früheren, heftigen, vordringenden Arbeiten gewöhnt« - durchaus »etwas Berlichingisches« erwartet hatten.41 Diese Erwartung aber war von der Entwicklung überholt worden. Immer wieder spricht der >italienische< Goethe davon, wie er im Angesicht der Meisterwerke von Renaissance und Antike die künstlerischen Verfahrensweisen zu erforschen versucht, die sie zur Größe gebildet haben - und von denen er mehr und mehr vermutet, daß sie den Bildungsgesetzen der Natur selbst entsprechen.42 Er sieht zwischen diesem »Kunststudium«, das er bis zu eigenen Versuchen im Zeichnen und Modellieren treibt, und seinem »Autorwesen« einen engen Zusammenhang.43 Als er sich endgültig seiner Bestimmung »zur Dichtkunst« vergewissert, kündigt er als Konsequenz die Absicht an, »daß ich [...] dieses Talent exkolieren und noch etwas Gutes machen sollte, da mir das Feuer der Jugend manches ohne großes Studium gelingen ließ«.44 Als »etwas Gutes« kann ihm nun nicht mehr gelten, was jugendliche Spontaneität, also >Geniekunstiphigenisch< formen. Von dieser Wendung kann die Vollendung des Egmont nicht unberührt geblieben sein. Das Drama, in fast elf Weimarer Jahren Gegenstand vergeblicher Bemühungen, macht Goethe seine Jugend¬ zeit neu gegenwärtig.45 Im Hinblick auf Egmont, Tasso und Faust (auf deren baldige Vollendbarkeit er noch hofft) äußert er im August 1787: »Daß ich meine älteren Sachen fertig arbeite, dient mir erstaunend. Es ist eine Rekapitulation meines Lebens und meiner Kunst [.. .].«46 Dieses Wort ist aber auch nach vorn gerichtet, auf »eine neue Epoche«,47 die in und durch Italien beginnt. Die Literaturgeschichte hat im einzelnen darüber belehrt, was diese Wendung zur >klassischen< Kunstgesinnung Stil- und epo¬ chengeschichtlich zu bedeuten hat. Zu ihr gehört aber auch ein subjektiver Prozeß, nämlich die Wandlung, die sich in Goethes Künstlertum selbst vollzieht. Es ist dieser Umbruch, der sich als Strukturmerkmal des Egmont ausweisen läßt. In seiner Autobiographie hat Goethe aus distanzierter Rückschau dargestellt, wie Götz und Werther entstanden sind: ganz aus der Unmittelbarkeit des Empfindens und Einbildens heraus, ohne Plan oder Schema,48 im >naiven< Zutrauen, daß die schöpferi¬ sche Kraft aus sich selbst heraus Weltgehalte ergreifen und zur Form finden kann. Nach dem Zeugnis der Erinnerung hat er den Werther, das Buch seines Dichterruhms (und eine durchgebildete Komposition dazu), »ziemlich unbewußt, einem Nachtwandler ähnlich, geschrieben«49 - im gleichen Bilde sieht sich auch sein Egmont (vgl. 399). Wie der junge Goethe gedichtet hat, lebt der Held seines Dramas: »fröhlich« und »rasch« (399), immer ganz präsent in der je augenblicklichen Gebärde,50 ohne von einem Gesetz zu wissen, nach dem das Einzelne sich in einen Zusammenhang fügt. Egmont wird für Goethe in der italienischem Rekapitulation, im Lebensaugenblick der Traumerfüllung und zugleich der künstlerischen Selbsterziehung, zum Sinnbild des eigenen Künstler¬ tums. Der Hinweis auf den autobiographischen Gehalt der gedichteten Figur, der ohnehin offenkundig ist, besagt also nicht alles. Es tritt wie in jeder Verbildlichung ein distanzierender Zug hinzu, der sich in der Art spiegelt, wie Egmont im Kerker sein vergangenes Leben im Bunde mit der elementaren Natur (»wo wir die Menschheit ganz, und menschliche Begier in allen Adern fühlen«) vergegenwärtigt: »Du bist nur Bild, Erinnerungstraum des Glücks, das ich so lang besessen [...]« (439). Man ist bei

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aller gebotenen Wahrung der dramatischen Objektivität versucht, darin eine Selbstver¬ ständigung des Dichters mitzuhören. Die Wehmut, daß einstiges Glück zum Traum, mithin unwirklich geworden ist, klingt an. In solchem Sinne ergreift Goethe in der Figur Egmonts sein eigenes Künstlertum mit aller naturgegebenen Schaffenskraft im lebensgeschichtlichen Augenblick seines Versinkens - er ergreift es und gewährt ihm eine Erfüllung im Traum, freilich nur im Traum. Egmont erreicht seines »Wachstums Gipfel« (401) nicht durch eine wesensgemäße soldatisch-heroische Tat, sondern durch ein Traumbild der Seele, das er in die Realität hineinprojiziert. Darin liegt ein letzter Abstand von der Realität als dem Bereich, aus dem alles Träumen kommt und in dem es sich als ein Produktives verwirklicht oder als ein nur Innerliches bricht. Insofern fällt auf den Helden am Schluß auch ein Anflug von Ironie. Die Erfüllung innerhalb seines Träumens verschränkt sich eigentümlich mit einem Vorenthalt, und zwar auf eine Weise, daß sich diese Verschränkung nicht im Blick auf das Drama, sondern im weiteren Horizont von Goethes künstlerischem Wandel durch das Italien-Erlebnis verstehen läßt. Ausgangspunkt dieser Argumentationskette war die Beobachtung, daß Egmont, ver¬ glichen etwa mit Götz, dem entstehungsgeschichtlichen Nachbarn, in seiner vollende¬ ten Gestalt sinnbildliche Bezüge hervortreten läßt, die nicht schon im Stoff angelegt sind, sondern auf die Art der dichterischen Behandlung verweisen. Dazu gehört vor allem die Ausarbeitung der Traumsphäre, deren Bedeutung nicht in ihrer dramaturgi¬ schen Funktion auf geht.51 Sie wird in ihrer Komplexität faßbar, wenn man sie aus dem »Römischen Element« heraus als eine Selbstvergegenwärtigung des eigenen, mit den Egmont-Anfängen verbundenen jugendlichen Künstlertums durch Goethe begreift.52 Was dem träumenden Egmont geschieht, ist ja nichts anderes als eine Spiegelung von Goethes dichterischem Tun: der Verwandlung des Lebens in ein Bild. Auch der Lorbeerkranz, der ihm im Traum gereicht wird, spielt untergründig auf diesen Bezug an. Zwar soll damit der »Sieger« ausgezeichnet werden (453), aber daß diese Aus¬ zeichnung mit dem Topos der Dichterkrönung53 geschieht, ist sprechend genug. Damit wird der Egmont des Dramas nicht zum Dichter umstilisiert, aber doch die verdeckte Künstlerthematik im Bild festgehalten, die für Goethe in der rekapitulieren¬ den Arbeit an diesem Drama wichtig geworden ist. Insofern grenzt Egmont schon an Tasso,54 bei dem die Frage nach dem Dichter in einem anderen Problemhorizont seinem Verhältnis zur höfischen Gesellschaft - nun auch explizites dramatisches Thema wird. Die These, daß Goethe in Egmont sein früheres individualistisches Dichtertum im Bild festhält, kann sich zunächst nur auf die vollendende Schicht des Dramas beziehen. Wird damit für das Ganze nicht doch eine innere Uneinheitlichkeit eingeräumt, diese nur anders beleuchtet als in der traditionellen Kritik? Es kommt darauf an, wie die spätere integrierende Sicht der »römischen Vollendung« mit den früheren Ansätzen vermittelt ist, also die politisch-historische Thematik und die Figurenkonstellationen aufnimmt. Aber genau dieser Vorgang kann nicht überprüft werden, weil kein >UrEgmont< überliefert ist, der allein die sichere Basis eines Vergleichs abgeben könnte. Welche früheren Teile Goethe unverändert übernommen, welche Umarbeitungen er im einzelnen vorgenommen hat, um das »lang vertrödelte Stück«55 auf die vollendende Schicht hin auszurichten, ist methodisch nicht zweifelsfrei auszumachen - wie sich auch die meisten Szenen nicht eindeutig der Frankfurter, Weimarer und römischen Zeit

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zuweisen lassen.56 Für die innere Kontinuität der zeitlich so zerstückelten Arbeit an diesem Drama sprechen allerdings Zeugnisse des Dichters selbst, die nicht ohne zwingenden Grund angezweifelt werden sollten.57 Der Versuch, die hier so betonte und auf die Kunstproblematik bezogene Traumbildlichkeit nun rückläufig zu verfolgen, muß immer mit der Möglichkeit rechnen, gerade an solche Gestaltungsdetails anzu¬ knüpfen, die ihre endgültige Form dem letzten Zugriff zu danken haben. Aber so oder so ergäben sich Anhaltspunkte für die oft angezweifelte dramatische Einheit des Werkes. Sie wird allerdings verfehlt, wenn man über die Spekulation eines >UrEgmont< eine thematische Vorgabe im Sinne des Götz rekonstruiert und darüber die erweiternde, steigernde und doch auch synthetisierende Kunstarbeit der italienischem Zeit ignoriert. Dagegen ist an Goethes dezidiertes Wort zu erinnern: »[...] ich weiß, was ich hineingearbeitet habe, und daß sich das nicht auf einmal herauslesen läßt«58 eine (nicht immer befolgte) Aufforderung, dem Drama gerade in seiner Vielschichtig¬ keit gerecht zu werden. Egmont, so läßt Goethe in Rom Angelica Kauffmann sprechen, habe »durch sein ganzes Leben gleichsam wachend geträumt [.. .]«.59 Vergleich und Sinnbildlichkeit sind die künstlerischen Mittel, mit denen der Held der Sphäre des Traumhaften zugewiesen wird. Er tut dies genaugenommen selbst, indem er sich gleichsam in ein Bild zurück¬ zieht, das die ständigen »Ermahnungen« abwehren soll, auf seine persönliche Sicherheit bedacht zu sein: »Und wenn ich ein Nachtwandler wäre, und auf dem gefährlichen Gipfel eines Hauses spazierte, ist es freundschaftlich, mich beim Namen zu rufen und mich zu warnen, zu wecken und zu töten?« (399). Egmont spricht hier vergleichsweise, dem Modus nach sogar im Irrealis. Der Nachtwandler geht einen gefährlichen Weg, einzig dadurch geschützt, daß er ihn unbewußt geht und nicht jeden Schritt vorher abschätzen muß: Gefährdung und Schutz sind hier nicht zu trennen. Egmont will sich durch diesen Vergleich nicht als Träumer unter lauter Wachenden hinstellen. Es geht ihm um die Bewahrung seiner freien Persönlichkeit, um die eigene »Lebensart« (399)die Egmont auch nach Albas bedrohlichem Einzug in keiner Weise ändern wird (vgl. 423). Das Bild des Nachtwandeins will zu verstehen geben, daß dies Leben aus dem Eigenen heraus durch den Anspruch des ihm Fremden nicht nur gestört, sondern sogar gefährdet würde. Damit zeugt das Bild zugleich von einer vertrauensvollen Hingabe an das Element, das dieses Eigene umschließt und trägt, von einem freundlichen Lebens¬ und Schicksalsglauben60 ohne die fatalistische Valenz, die es etwa bei Büchner erhält.61 Keine düstere Erfahrung des Marionettismus färbt das Bild des Nachtwandeins bei Goethe ein - es hellt ganz im Gegenteil die Dimension auf, in der es für ihn allein Freiheit gibt.62 Egmont erscheint im Drama als das lebendige Sinnbild dieser Freiheit. Ihn charakterisiert schon die Art der Bewegung: daß er »einen freien Schritt« geht, »als wenn die Welt ihm gehörte« (381).63 Die Niederländer sind ihm »hold«, weil ihm »die Fröhlichkeit, das freie Leben, die gute Meinung aus den Augen sieht« (372). Egmonts Freiheit hat ihren Ort nicht in der Deklamation, auch nicht in einer politischen Haltung als solcher - sie liegt in der Spontaneität der Lebensgebärdung aus dem Eigenen der Persönlichkeit heraus, getragen von einem Schicksalsvertrauen, das sich auch in der gewaltigen Anspielung auf den Phaethon-Mythos ausspricht (vgl. 400f.).64 Diese Schicksalsgläubigkeit macht einerseits Egmonts Größe aus und verursacht andererseits seinen Sturz - beides kann nicht voneinander getrennt werden.65 Es ist die Traumanalo¬ gie in der Verknüpfung von Freiheit und Schicksal, von welcher die Schlußwendung

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des Dramas ihren Ausgang nimmt und - als Steigerung in den >wirklichen< Traum - ihre Legitimation bezieht. Seit langem wird dieses Drama Goethes von einer Frage bedrängt, die nicht selten die Vertracktheit einer Gretchenfrage angenommen hat: Wie hast du’s mit der Politik? Die Forschung hat sich oft schwergetan, einer Dichtung gerecht zu werden, die offensicht¬ lich ein politisches Problem exponiert und sich zuletzt doch nicht auf einen politischen Nenner bringen läßt.66 Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Rezeptionsgeschichte, daß die unstrittige poetische Faszination des Egmont mehrfach ignoriert wurde - dann nämlich, wenn eng bemessene politische Fragestellungen nicht auf ihre Rechnung kamen und auf die Ausflucht verfielen, ihre Schwierigkeiten dem Werk selbst anzula¬ sten.67 Egmont, dessen politisches Verhalten man gern durch Widersprüchlichkeit und Inkompetenz gekennzeichnet sah, geriet dann gegenüber Alba und Oranien ins Hinter¬ treffen, ohne daß es gelang, eine solche Wertung schlüssig mit der doch gegenläufigen dramatischen Gewichtung der Figuren zu vereinbaren. Daß Oranien sein politisches Taktieren mit dem Schachspiel vergleicht (403), hat ihm eine Reputation eingebracht,68 die von seiner tatsächlichen politischen Analytik innerhalb des Dramas keineswegs gedeckt wird. Zwar hat er recht, wenn er Egmont vor dem heranrückenden Alba warnt und zur Flucht mahnt - Egmonts Ausruf bei seiner Verhaftung gesteht dies ausdrück¬ lich ein (434). Aber Oraniens Warnung will nur auf die persönliche Sicherung des Freundes hinaus: »Rette! rette dich!« (406). Dagegen bringt Egmont, indem er die Fürstenflucht als »Signal« zu »dem verderblichsten Kriege« bedenklich macht (405), eine Sorge um das Land zum Ausdruck, die der bloßen Argumentation ad hominem politisch überlegen ist.69 Das Gespräch verläuft demnach nicht so, daß sich Recht und Unrecht eindeutig auf beide Positionen verteilen, als hätte es ein überlegener Politiker mit einem gutgläubigen Toren zu tun. Ein Unterschied läßt sich in der Argumenta¬ tionsweise feststellen, darin nämlich, wie die beiden Disputanten ihre Subjektivität einbringen. Egmont beharrt darauf: »Ich muß mit meinen Augen sehen« (406). Dieses Müssen ist sehr betont zu nehmen. Egmonts Sicht entdeckt die Kriegsgefahr in der brisanten Situation, umfaßt also das Ganze der zwischen Spanien und den Niederlan¬ den waltenden politischen Problematik - sie kommt indes an eine Grenze, wenn sie sich innerhalb dieses Ganzen auf die Menschen einstellt und die Möglichkeiten von Philipps oder Albas politischem Handeln einschätzt (402f.406). Auch dann wird nämlich die eigene Sicht festgehalten, der spanischen Gegenseite gleichsam eingesetzt. In Egmonts politische Argumentation greift also das persönliche Lebensgesetz ein, genauer gesagt: die Unmöglichkeit, von ihm ablassen zu können - womit Politik in den metapolitischen Bereich des Schicksals hineinwächst. Oranien kann sich dagegen in fremde Sehweisen hineinversetzen, wie schon der dringende - aber eben unerfüllbare - Wunsch erkennen läßt, Egmont möge »diesmal nur« mit anderen Augen als den seinen sehen (406). Diese Fähigkeit weist ihn als den pragmatischeren, nicht unbedingt auch als den verantwor¬ tungsbewußteren Politiker, auf jeden Fall aber als den seelenärmeren Menschen aus. Wie auch das Seelisch-Menschliche in diesem politischen Disput mitschwingt, zeigt sich an seinen Wirkungen: Immerhin vermag Oranien, der kühle Rechner, über Egmont angesichts des ihm drohenden Schicksals Tränen zu vergießen, während Egmont darauf - also auf die emotionale Regung, nicht auf die politische Argumenta¬ tion reagierend - für einen Augenblick von der ihm wesensfremden »Sorglichkeit« affiziert wird (406f.).

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Was als politische Thematik des Dramas aufgefaßt werden kann, kommt im Dialog zwischen Alba und Egmont auf den Gipfel. Die Szene ist als entstehungsgeschichtliche Hürde belegt70 und hat offensichtlich erst nach mehreren Ansätzen ihre endgültige Form gewonnen. Dieser sind die Spuren von Goethes politischen Erfahrungen im ersten Weimarer Jahrzehnt fraglos anzumerken.71 Goethe hat durch seine eigene Tätigkeit die Politik als Ordnungs- und Wohlfahrtsfaktor anzuerkennen gelernt, aber auch mit Resignation einsehen müssen, welche engen Grenzen ihrer Wirkungsmöglich¬ keit gezogen sind.72 Für einen glorifizierenden Enthusiasmus im Zeichen des Freiheits¬ gefühls bleibt dem Weimarer Goethe keine Stimme mehr73 - der Italienfahrer erinnert sich sogar, daß ihm »von Jugend auf Anarchie verdrießlicher gewesen als der Tod selbst«.74 Solche Vorbehalte haben sich auf die Gestaltung des Dialogs zwischen Egmont und Alba ausgewirkt. Der spanische Herzog, als »Drache«75 von Oranien (406), als »Kreuzspinne« von Vansen (420) bedrohlich ausgemalt, enthüllt sich als Prototyp des politischen Funktionärs. Nicht in allem hat Alba unrecht. Die Gehor¬ samspflicht, unter die er das Volk zwingen will, leitet er aus dessen Unmündigkeit ab (429) - und die kann Egmont nicht grundsätzlich bestreiten, zumal er sich bei früherer Gelegenheit ähnlich ausgesprochen hat (vgl. 415). Dennoch kann kein Zweifel daran aufkommen, daß es eine schlechte Sache ist, der Alba dient: diejenige eines doktrinären, ja terroristischen Absolutismus, der ein Volk ohne Rücksicht auf seine eigenen Tradi¬ tionen unters Joch zwingen will. Das Auftreten der spanischen Soldaten, von Jetter beklommen geschildert (vgl. 416), hat jene Lebensweise ins Bild gebracht, die der Mechanismus von Befehl und Gehorsam produziert - in den nun auch die Niederländer eingespannt werden sollen. Dagegen tritt Egmont beredt für das Herkommen76 ein, für ein lebendiges Verhältnis von Volk und Fürst, in dem Befehl und Gehorsam eingebettet bleiben in ein behutsames Eingehen aufeinander, in ein >Leben und LebenlassenErscheinung< im Drama hat Jetter einen ominösen Einfall (395), der die spätere Behauptung, Egmont sei »so sicher wie der Stern am Himmel«, in ein Zwielicht taucht - und schon kontert Vansen das schöne Bild vom Stern: »Hast du nie einen sich schneuzen gesehn? Weg war er!« (418f.). Wenn man so will, wird Egmonts Schicksal ein Drittes sein: wie eine Sternschnuppe wird sein Leben erlöschen, wie ein Stern sein »Beispiel« (454) leuchten. Daß das Volk nichts tut, um dem bewunderten Helden die Freiheit zu erkämpfen, hängt mit der machtpolitischen Gegebenheit von Albas Schreckensherrschaft zusam¬ men - ganz sicher auch damit, daß nach Goethes Einschätzung das Volk zum Subjekt von Politik und Geschichte nicht befähigt ist.84 Von hier aus nimmt das Drama seine >italienische< Wendung, die nicht mehr nach einem realistischen Maß zu messen ist: Während im Realen nichts mehr für Egmonts Freiheit unternommen wird, steigert sich das innere Geschehen in die Sphäre des Traumhaft-Visionären, bis es in ihr das verklärende Bild der Freiheit erreicht. Dieser Vorgang sei noch einmal - diesmal von Klärchen aus - verdeutlicht. Noch innerhalb der geläufigen Zuordnung von Wirklich¬ keit und Traum bleibt sie mit folgender Vorstellung: »Ängstlich im Schlafe liegt das betäubte Volk und träumt von Rettung, träumt ihres [= des Volkes] ohnmächtigen Wunsches Erfüllung [. ..]« (441). Reales Handeln für Egmont ist unmöglich, also tritt der Traum kompensatorisch ein. Schon einen Schritt weitergegangen ist Klärchen selbst, denn sie wünscht sich »in den tiefsten Kerker, daß ich das Haupt an feuchte Mauern schlage, nach Freiheit winsle, träume, wie ich ihm helfen wollte, wenn Fesseln mich nicht lähmten [...]« (440). Hier ist die Brechung einsehbar, die die Struktur des Schlusses bestimmt: Die real Freie will in realer Unfreiheit von Freiheit träumen.

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Klärchen will in den Traum hinein, weil er jene Sphäre darstellt, die sie mit Egmont noch gemeinsam hat, wenn als Wirklichkeit nur noch der »Kerker« auf seiner und »die Angst der Ohnmacht« auf ihrer Seite bleibt: »Zeit [...], die keine Zeit mehr ist« (443). Damit aber hört der Traum auf, bloßer Traum zu sein, und beginnt den Charakter der Erfüllung anzunehmen. Ein solcher Übergang ist in einer Aufforderung an Bracken¬ burg zu beobachten, die zunächst ganz real gemeint scheint und dann wie unvermittelt in die Verteidigung des Traums umschlägt: »Leise, Lieber, daß niemand erwache! daß wir uns selbst nicht wecken!« (442). Klärchen tritt in jenes Nachtwandeln ein, das der unbewußten Leitung vertraut und nichts mehr von einem Erwachen zur Realität wissen will, die nur noch ein Versagen ist. Dieser Weg endet im Tod, eigentlich erst mit der »Erscheinung« Klärchens als Freiheitsgöttin für den träumenden Egmont. Es war Goethes künstlerisches Wagnis, das Drama mit dieser Struktur des erfüllenden Traums< zu vollenden, die mit der Realzeit inkongruent bleibt. Mehr als eine Andeu¬ tung des >Erwachens< zur historischen Wirklichkeit, des neuen Lebens, konnte diese Struktur nicht tragen.85 Sie sollte in ihrer Einmaligkeit nicht allzu unbedenklich als künstlerischer Notbehelf abgetan werden. Mit Bedacht hat sich dieser Versuch über Egmont eines Eingriffs in die Diskussion um »das Dämonische« enthalten, die in der Forschung mitunter mehr zur Verwirrung als zur Klärung geführt hat. Die folgende Bemerkung erhebt nicht den Anspruch, das Problem »des Dämonischen« im Egmont adäquat (aber was heißt das hier schon?) abzuhandeln. Es gehört zu der Rätselhaftigkeit der Sache, daß sich nicht recht von ihr reden läßt: Goethes bündigste Ausführung darüber ist mit ihrer Häufung von »Wider¬ sprüchen« notwendig auch die paradoxeste. Der Dichter trägt sie vor im Zusammen¬ hang der Erinnerung an seine Schicksalsreise nach Weimar und an die Konzeption sowie beginnende Ausarbeitung von Egmont.86 Nicht von einem Begriff ist die Rede, der auf einen Sachverhalt hin explizierbar wäre, sondern ein Name wird eingeführt für eine »Macht«, ein »Rätsel«, ein ungeheuer-unfaßliches »Wesen«.87 Den Schwierigkeiten der Frage, ob und in welcher Weise »das Dämonische« beim Egmont »im Spiel« ist88 oder ob die späteren Winke einer umdeutenden Alterssicht zugehören, kann man durch forcierte Vereinfachungen nur schlecht entgehen.89 Wenn erst der alte Goethe über den Namen »des Dämonischen« verfügt, so wird dadurch nicht augeschlossen, daß die Erfahrung des »Wesens« schon in die frühere Zeit fällt.90 Als sicher darf aber gelten, daß die spätere Ausführung nicht in allen Einzelheiten, auch nicht in ihrer eher düsteren Grundfärbung, auf das frühere Drama übertragen werden kann.91 Die Beachtung der Traumsphäre in ihrem Zusammenhang mit der Freiheitsthematik und schließlich mit Goethes italienischem Lebensaugenblick eröffnet eine Möglichkeit, zwischen dem früheren Drama und der späteren Sicht zu unterscheiden wie zu vermitteln. Wenn der Glaube an »das Dämonische« der prometheischen Selbsterfahrung der künstlerischen Subjektivität entspringt und sich stufenweise auf das Kosmische überträgt, wenn Goethe vom »dämonischen Dichter« zum »Dichter des Dämonischen« wird,92 dann bleibt immer noch sein Dichtertum selbst das Substrat dieser Entwicklung. Dann ist auch begreiflich, inwiefern Egmont in einen Zusammenhang mit »dem Dämonischen« rücken kann, ohne doch schon vor eine numinose Unbegreiflichkeit zu führen - wie Die Wahlverwandtschaften. Im Drama ist es gerade das Sinnbild des Nachtwandeins, das auf dem Grunde des Schicksalsvertrauens in besonderer Weise von der Freiheit spricht. Und es ist seine verschwiegene Kunstthematik, die in der Rekapitulation des

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Lebens seine schöpferische Kontinuität erschließt und damit auch über die Tragik des Untergangs hinwegträgt: »Ich höre auf zu leben; aber ich habe gelebt. So leb auch du, mein Freund, gern und mit Lust, und scheue den Tod nicht!« (451).

Anmerkungen 1 Über Egmont, Trauerspiel von Goethe; zitiert nach Hans Wagener (Hrsg.): Johann Wolfgang Goethe. Egmont. Erläuterungen und Dokumente Stuttgart 1974. S. 77 (die weiteren Zitate: S. 80 f., 79 und 85 f.). 2 An Herzog Carl August, 1. 10. 1788; zitiert nach: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hamburg 1948 ff. (= HA). Bdi 4. S. 567. - Aus diesem Band wird Egmont im folgenden mit Angabe der Seitenzahl zitiert. Brief- und Gesprächsäußerungen Goethes werden mit Angabe von Datum und Adressat bzw. Gesprächspartner belegt. 3 So Schillers Freund Ludwig Ferdinand Huber in einer 1792 erschienenen Antikritik zu Schiller; zitiert nach Wagener (Anm. 1) S. 89. - In der Beurteilung der Traumerscheinung schloß sich Huber allerdings Schillers Meinung in gemilderter Form an. 4 Im Gespräch mit dem Schriftsteller Stephan Schütze ließ Goethe am 12. 11. 1806 wissen, daß er sein Stück nicht ohne »die Lichterscheinung Klärchens« sehen möchte. 5 An Charlotte von Stein, 20. 3. 1782. 6 Angesichts dieses Tatbestandes erscheint Peter Michelsens Versuch als Überdifferenzierung, nicht das »Gespräch«, sondern allein die »Natur« als die Dimension zu behaupten, in der sich Egmont »verwirklicht« (Egmonts Freiheit. In: Euphorion 65 [1971] S. 295). Vielleicht ist in diesem Zusam¬ menhang der Hinweis nicht überflüssig, daß Goethe selbst - im Gegensatz zu Lavaters physiognomischer Methode - das »Gespräch« als Element menschlicher Selbstenthüllung betrachtet (vgl. Dich¬ tung und Wahrheit, 19. Buch; HA 10,155). 7 Nicht: »Er [...] denkt jetzt nur an Zukunft« (Wolfgang Kayser: Anmerkungen zu »Egmont« in: HA 4,585). Damit wird die Zeitstruktur des Schlusses - die Vorstellung der Zukunft als Gegenwart verwischt. Egmont fällt aus seiner traumhaften Zeitverfügung nicht in die Realzeit zurück; nur in diesem Fall könnte von einem »Zerbrechen« der Gestalt (ebd.) gesprochen werden. 8 Wie Wolfgang Kayser gemeint hat: Egmont deute »die göttliche Freiheit ganz zur Siegesgöttin um« (HA 4,585). Im Traum selbst hat sich der Übergang zur politischen Freiheit bereits vollzogen: »[...] indem sie ihm andeutet, daß sein Tod den Provinzen die Freiheit verschaffen werde [...]« (453). 9 Zitiert nach Wagener (Anm. 1) S. 81. 10 So der anonyme Rezensent der Nürnhergischen gelehrten Zeitung vom 17.3. 1789; zitiert nach Wagener (Anm. 1) S. 87. - Dieses Lob enthält einen versteckten Tadel, wenn anders im Drama nach der Auffassung der Zeit ein »Kunstgriff« als solcher nicht bemerkbar werden darf, sondern ein >verdeckter Funktionalismus< anzustreben ist (vgl. dazu Max Kommerell: Lessing und Aristoteles. Frankfurt a. M. 1940, 41970. S. 26). 11 »Es war eine unsäglich schwere Aufgabe, die ich ohne eine ungemessene Freiheit des Lebens und des Gemüts nie zustande gebracht hätte« (Italienische Reise, 3. 11. 1787; HA 11,431 - vgl. 10. 11. 1787; HA 11,433). 12 Italienische Reise, 3.11.1787 (HA 11,432). - Goethe unternimmt hier - vermutlich auf einen Einwand Herders hin - den Versuch, im Hinblick auf Klärchen die Vermittlung »zwischen der Dirne [= dem Mädchen] und der Göttin« gleichwohl nach dieser engeren, als unzuständig hingestellten dramatischen Logik plausibel zu machen. 13 Wie es Roger Nicholls hinstellt, um den Einwand einer »artificiality of pure allegory« abzuwehren: »[...] this impulse to action [...] is a natural expression of her character« (Egmont and the Vision of Freedom. In: The German Quarterly 43 [1970] S. 195). 14 Wie z. B. das biblische Bild vom rettenden Engel (Egmont: 439, Klärchen: 442; vgl. Apg. 5,19). Die zeitlich-symbolische Koinzidenz zwischen Klärchen und Egmont im 5. Akt, in einigen neueren Arbeiten wie eine neue Entdeckung offeriert, ist in aller Ausführlichkeit bereits in einer älteren Publikation dokumentiert (und zwar bei Bernhard Seuffert: Beobachtungen über dichterische Komposition II. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 3 [1911] S. 572 f.).

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15 Auch daß Egmont entgegen der ursprünglich geplanten Anordnung neben den - in Italien umgearbei¬ teten - Singspielen Erwin und Elmire und Claudine von Villa Bella in einem Band (Bd. 5) der Schriften von 1788 erschienen ist, verdient Beachtung als möglicher kompositorischen Vorgang. 16 Wohlgemerkt: »verlangen« (vgl. Italienische Reise, 1. 9. 1787; HA 11,392 f.). - Am 9. 2. 1788 notiert Goethe: »Kayser geht auch als ein wackrer Künstler zu Werke. Seine Musik zu >Egmont< avanciert stark« (HA 11,518). Dann verliert sich diese Spur - für die Nachwelt als kleines Rinnsal gegen die mächtigen Wogen von Beethovens Egmont-Musik von 1810 ohnehin kaum bemerkbar. Die ursprüngliche Absicht Goethes schloß für Egmont jedenfalls eine komponierte Musik mit ein. 17 Vgl. dazu vor allem die Argumentationen von Elizabeth M. Wilkinson, die die Schlußapotheose durch »the increasingly poetic quality of the language« vorbereitet und also gerechtfertigt sieht (The Relation of Form and Meaning in »Egmont«. In: E. M. W. / L. A. Willoughby: Goethe. Poet and Thinker. London 1962. S. 71), und Paul Böckmann, der - von der Dialoggestaltung ausgehend - im »Mit- und Gegeneinander der Stimmen« eine »Nähe zur Musik« entdeckt (Die Freiheit des Wortes in Goethes »Egmont«. In: P. B.: Formensprache. Studien zur Literarästhetik und Dichtungsinterpreta¬ tion. Hamburg 1966. S. 129). 18 Die zentrale Bedeutung dieser Szene hat - nach dem Zeugnis Caroline Herders - Karl Philipp Moritz hervorgehoben (zitiert in HA 4,568). Böckmann hat an ihr die Einheit von Wort und Gefühl als »Stilgesetz des Dramas« abgelesen (Böckmann [Anm. 17] S. 139f.). Es ist auch kein Zufall, daß Angelica Kauffmann diese Szene ihrem Titelkupfer für den 5. Band von Goethes Schriften (1788) zugrunde gelegt hat (repr. bei Wagener [Anm. 1] S. 59). 19 Ähnlich dazu Nicholls (Anm. 13): »Words are incomplete, only music can carry the necessary emotional climax« (S. 197). 20 In diesem Sinne versucht Goethes Drama »das Problem dramatisches Wort - Musik zu lösen« (Wolfgang Kayser in HA 4,583). Man gewinnt jedoch den Eindruck, daß Kaysers »Anmerkungen« es sind in Wahrheit eingehende Interpretationen - den Implikationen seiner eigenen Formulierung nicht ganz gerecht werden und das Musikalische im Egmont doch wieder als dekorativ-theatralisches Moment auffassen. Immerhin ist bemerkenswert, wie Richard Wagner - völlig unbeachtet von der Goethe-Forschung - in seiner kunsttheoretischen Hauptschrift den Egmont seiner Konzeption des musikalischen Dramas einzupassen vermag: Goethe habe »zum Wunder und zur Musik greifen« müssen in dem Augenblick, als es nicht mehr um eine »historisch-staatliche« Problematik ging, sondern allein noch darum, die »rein menschliche Individualität dem Gefühle darzustellen« - worin Wagner begreiflicherweise einen »ungemein bedeutungsvollen Zug von Goethes höchster künstleri¬ scher Wahrhaftigkeit« erblickt (Oper und Drama. T. 2. In: Gesammelte Schriften und Dichtungen in 10 Bänden. Hrsg, von Wolfgang Golther. Berlin o. J. Bd. 4. S. 70). 21 So äußert sich Emil Staiger: »Ein Kulissenzauber als Ausklang eines im übrigen dem verbindlichen Wort verpflichteten Dramas, [...] das ist in der Tat eine seltsame Ausflucht [...]« (Goethe. Bd. 1. Zürich / Freiburg i. Br. 1952, Zürich / München 51978. S. 291 f.). Es überrascht doch ein wenig, daß Staiger - in der Tradition von Schillers Kritik - die Integration musikalischer Elemente im Egmont beharrlich ignoriert und auf der anderen Seite Klärchen »allein in ihren Liedern lebendig« sieht. 22 Italienische Reise, 8. 12. 1787 (HA 11,444). - Goethe verwendet den Begriff auch allgemein für >Formgestaltungmusikalischen< Sinn. 23 Wie z. B. bei Kleist der Kurfürst nach dem Ruhmestraum des nachtwandelnden Prinzen von Homburg: »Im Traum erringt man solche Dinge nicht!« (V. 77). 24 Italienische Reise, Dezember 1787 (HA 11,458 f.). - Zugleich ist hier ein Beispiel jener kompositori¬ schen Arbeit zu beobachten, der Goethe 1828/29 seine einstige Korrespondenz unterzogen hat und die von Paul Requadt für den Zweiten römischen Aufenthalt herausgestellt worden ist (Die Bilder¬ sprache der deutschen Italiendichtung von Goethe bis Benn. Bern/München 1962. S. 53 ff.). Den Mäkeleien der Weimarer »Freundinnen« wird entgegengehalten, »wie weiblich zart sie [= Angelica] alles auseinanderlegte«. An der >Originalität< des Argumentationskerns ist jedoch nicht zu zweifeln, zumal Goethe mit der Ankündigung, einen »Auszug aus meinem damaligen Antwortschreiben« zu geben, dessen Zusammenhang mit der italienischen Zeit betont. 25 Vgl. die Studie von Walther Linden, die im »römischen Schlüsse« des Dramas »die eigentlichen Probleme« der Interpretation beschlossen sieht, aber ihre Lösung doch nur sehr allgemein als Einmündung von »Sturm und Dranggeist« in eine »geistig weitere Gesinnung« faßt (Goethes Egmont

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und seine römische Vollendung. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 40 [1926] S. 183 und 194). Die Einwirkung der >italienischen< Lebens- und Kunstanschauung auf die Vollendung des Egmont betonen, freilich ebenfalls summarisch: Richard M. Meyer (Goethes italienische Dramen. In: Goethe-Jahrbuch 26 [1905] S. 126-132, bes. 129), Karl Vietor (Goethe. Dichtung, Wissenschaft, Weltbild. Bern 1949. S. 55) und Wolfgang Kayser (HA 4,585 f.). Diese Ansätze versuche ich zu konkretisieren und weiterzuführen. Ausführlich geschildert (mit Bezugnahme auf die voritalienische Zeit): Italienische Reise, 19. 10. 1786 (HA 11,108). Reisetagebuch für Charlotte von Stein; zitiert nach J. W. von Goethe: Tagebücher (Erg.-Bd. 2 der Gedenkausgabe). Hrsg, von Peter Boerner. Zürich 1964. (Im folgenden zitiert als: Tagebücher.) S. 182. An das Ehepaar Herder (13. 12. 1786 und 17. 2. 1787), an Charlotte von Stein (29. 12. 1786). - Die häufigen Anspielungen zeigen auch etwas von den Schwierigkeiten, die Goethe gespürt haben muß, dem Weimarer Kreis die Notwendigkeit seiner Hegire darzutun. Daß das - gar nicht so glückliche Ende der »Traumfahrt« (das Boot mit den prächtigen Fasanen verliert sich im Hafen »zwischen ungeheuer bemasteten Schiffen«: HA 11,108) das tatsächliche Ende seiner Italienreise, nämlich die Diskrepanz zu den Weimarer Freunden, vorweggenommen hat, zeigt Staiger auf (Goethe. Bd. 2. Zürich 1956, 41970. S.59f.). So der Vorabend vor der - langersehnten - Ankunft in Rom (Italienische Reise, 28. 10. 1786; HA 11,124) und der Tag des Aufbruchs von Neapel nach Sizilien (29. 3. 1787; HA 11,224): jeweils wird ein Bezug auf Ankunft und Entladung des »Fasanenschiffs« in der Heimat hergestellt (vgl. auch 22. 9. 1787; HA 11,398). Italienische Reise, 6. 10. 1786 (HA 11,83). Reisetagebuch (Tagebücher. S. 151). Italienische Reise, 12. 3. 1787 (HA 11,199). - Beim zweiten Besuch in Neapel nimmt Goethe Gelegenheit, die neapolitanische Lebensart ausführlich gegen die »nordische Ansicht« (etwa des Reiseschriftstellers Johann Jakob Volkmann) zu verteidigen, es handle sich um Müßiggängerei - mit dem Hinweis, wie günstige Naturbedingungen fröhlich-sorglose Lebensformen ermöglichen (28.5. 1787; HA 11,332 ff.). Tagebuch, 13. 1. 1779 (Tagebücher. S. 72. - Dort in einem Kontext von Zustimmung). Vgl. Reisetagebuch, 10. 10. 1786: »O könnt ich dir nur einen Hauch dieser leichten Existenz hinübersenden« (Tagebücher. S. 174). Italienische Reise, 3. 12. 1786 (HA 11,147). Italienische Reise, 1. 11. 1786 (HA 11,125 f.). - An die traumweckenden römischen Prospekte im Frankfurter Haus erinnert auch Dichtung und Wahrheit (1. Buch; HA 9,14 - vgl. zur »Paradies«Vorstellung von Italien auch ebd., S. 33). Italienische Reise, 5. 7. 1787 (HA 11,365). Italienische Reise, 11.8. 1787 (HA 11,383. - »vorm Jahr«: die Zeit vor der »Flucht« aus Deutschland am 3.9. 1786). Vgl. dazu Staigers Ausführung (Goethe. Bd. 2. S. 9 f., 20 und 22 f.), zum Gegensatz zwischen dem >Nordischen< und dem >Südlichen< auch Requadt (Anm. 24) S. 63 f. Zitiert nach Walther Rehm: Griechentum und Goethezeit. Leipzig 1936, Bern/München 41968. S. 127. Italienische Reise, 10. 1. 1787 (HA 11,157). Vgl. bes. Italienische Reise, 28. 1. 1787 (HA 11,167 f.); ferner Torquato Tasso, V. 3125 ff. Italienische Reise, 28. 8. 1787 (HA 11,388). Italienische Reise, 22. 2. 1788 (HA 11,518 f.); vgl. die Vorform des Arguments HA 11,354. Vgl. Italienische Reise, 30. 7. und 6. 9. 1787 (HA 11,373.394). An Carl August, 11.8. 1787. - Vgl. dazu: Paul Böckmann: Die Rekapitulation unseres Lebens. Zum Individualitätsbewußtsein Goethes. In: P. B.: Formensprache (Anm. 17) S. 210-214. Italienische Reise, 27. 10. 1787 (HA 11,420). Vgl. Dichtung und Wahrheit, 13. Buch (HA 9,570 [bezieht sich auf die erste Götz-Fassung von 1771], HA 9,587); ferner 15. Buch (Schilderung der Entstehung des - Fragment gebliebenen Prometheus-Dramas; HA 10,48). 13. Buch (HA 9,587f.) - Goethe stellt sein »produktives Talent« als Dichter buchstäblich zwischen Tag und Nacht, zwischen Wachen und Träumen (15. Buch; HA 10,47f.) und spricht vom »nacht¬ wandlerischen Dichten« seiner Jugend (16. Buch; HA 10,81).

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50 Angesichts dieser Interferenzen fehlt es in der Forschungsliteratur nicht an vereinzelten Hinweisen auf Egmonts Künstlernähe. Aber sie werden mehr assoziativ gegeben und spielen für die Interpreta¬ tion kaum eine Rolle. So tauchen in den sich oft quälend in die Länge ziehenden Charakterisierungen von Ernst Zimmermann die Wendungen auf, Egmont sei »Dichter seines Lebens« bzw. »Künstler des Lebens« nach Goethes Sinn (Goethes Egmont. Halle a. d. S. 1909. S. 34 und 119) - um dann in platten Resümees aufzugehen wie: »[...] die praktische Lebenskunst Goethes [...] ist der eigentliche Inhalt des Egmont« (ebd., S. 110). Michelsen hat Goethes frühe Lyrik (Willkommen und Abschied) mit Egmonts Lebensart in Beziehung gesetzt (Anm. 6, S. 296) - nur daß Egmont als >Lebensdichter< gar nicht eigens zu dichten braucht! 51 Was beim Götz der Fall ist: Der Traum, in dem Weislingen die eiserne Hand so festhält, »daß sie aus den Armschienen ging wie abgebrochen«, deutet auf seinen neuerlichen Abfall und Götz’ Gefähr¬ dung durch ihn - und wird von Götz post festum auch als solche Hindeutung erkannt (vgl. HA 4,99 f. 151). 52 Vgl. die richtungweisende Rezension von Goethes Zweitem römischen Aufenthalt durch Wilhelm von Humboldt (Werke in 5 Bänden. Hrsg, von Andreas Flitner und Klaus Giel. Bd. 2. Darmstadt 1961. S. 395-417). Dort findet sich ein Hinweis auf die Goethe - wie Schiller - kennzeichnende »Wachsamkeit auf das eigene Schaffen« (ebd., S. 413), ferner die Betonung der exzeptionellen Stellung des Egmont und im Zusammenhang damit der lapidare Bescheid, »daß Göthe nur mit sich selbst vergleichbar ist« (ebd., S. 404). 53 Die Beziehung des Lorbeers auf die Dichtkunst geht auf eine antike Tradition zurück: seine mythologische Zuordnung zu Apollo - diese Verknüpfung tritt neben die feststehende Verbindung der Myrte mit Venus bzw. der Liebe (vgl. dazu Requadt [Anm. 24] S. 19 f.; zur »Dichterkrönung« ferner: Richard Newald: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Berlin 21958. S. 261 f.). Auf das Verhältnis von Dichtung und Liebe bzw. von Lorbeer und Myrte spielt das erste Gespräch des Tasso an (vgl. V. 140ff.). In diesem Drama taucht - als subtile Fortsetzung der Zweideutigkeit des Egmont - nach Tassos Dichterkrönung die Frage auf, ob der Lorbeer nicht doch »um Heldenstirnen wehen« sollte oder ob »gleiches Streben Held und Dichter bindet« (V. 498 und 551). Es erscheint unwahrscheinlich, daß der Dichter des Egmont, der den »Myrtenkranz« ganz im Sinne der Tradition mit der Liebe verbindet (vgl. 438), den Lorbeerkranz ohne Wissen um den Dichteranspruch an seinen Helden vergeben haben sollte - während er diesen Zusammenhang in Dichtung und Wahrheit beiläufig als eine Selbstverständlichkeit erwähnt (4. Buch; HA 9,163). 54 Eine solche Nachbarschaft hat offenbar schon Adam Müller im Auge, wenn er in den Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur (1806) über Egmont ausführt: »Das poetische Gemüt, das im Tasso die Ruhe der Welt zu stören schien, verzehrt sich hier in seinen heilenden Kräften und Absichten« (zitiert nach Wagener [Anm. 1] S. 91). 55 An Charlotte von Stein, 12. 12. 1781 - also sechs Jahre nach Beginn und fast sechs Jahre vor Abschluß der Arbeit. 56 Damit sei nicht bestritten, daß der erste, von Beobachtungen sprachrhythmischer Veränderungen ausgehende Versuch dieser Art - von Jacob Minor - bis heute beachtlich geblieben ist (Entstehungs¬ geschichte und Stil des Egmont. In: Die Grenzboten 42 [1883] S. 361-370). Minors Nachfolger haben oft Vermutungen mit Gewißheit verwechselt und sich am Ziel gewähnt, wenn sie diesen oder jenen Teil des Dramas dieser oder jener Entstehungszeit zugewiesen haben. Das gilt auch für ein so sorgfältiges sprachanalytisches Unternehmen wie das von Heinrich Henel, das in zwei Szenen verschiedene Schichten der Entstehung aufdecken will - mit dem entwaffnenden Eingeständnis, daß »this piece of literary detective work cannot contribute much to the understanding of the play« (Goethe’s Egmont: Original and Revised. In: Germanic Review 38 [1963] S. 7-26, Zitat S.ll). Zimmermanns Monographie kann die sehr ins Detail gehenden Mutmaßungen zur Entstehungsge¬ schichte nicht hinreichend absichern. Sie verkennt im Anschluß an Minors These, daß zwischen der Weimarer und der italienischen Arbeit am Drama kein Gegensatz besteht (Minor, S. 363), völlig die Bedeutung der italienischen Zeit für die Vollendung des Egmont. Dieser wird als Produkt »der ersten Weimarer Zeit« ausgegeben, das schon 1782 »seinem Gehalte nach [?] einen Abschluß gefunden« habe und in Rom nur noch einer komplettierenden »Bearbeitung« unterzogen worden sei (Anm. 50, S. 119 f. und 131). 57 Vgl. Italienische Reise, 5. 7. 1787: »[...] es sind ganze Szenen im Stücke, an die ich nicht zu rühren brauche« (HA 11,366); ferner 3. 11. 1787: »Man denke, was das sagen will: ein Werk vornehmen, was zwölf Jahre früher geschrieben ist, es vollenden, ohne es umzuschreiben« (HA 11,431 f.). 58 Italienische Reise, 3. 11. 1787 (HA 11,431).

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59 Vgl. Anm. 24. - Wichtig ist auch im Kontext der Hinweis, daß der »Gang des Stücks« durchdacht worden ist, also sein Zusammenhang beim >Traum-Argument< im Blick steht (HA 11,459). 60 Goethe verwendet es auch - am fünften Jahrestag seiner Ankunft in Weimar - im Brief an Charlotte von Stein (7. 11. 1780). In £gmonr-Nähe steht auch eine Bemerkung während der Harzreise drei Jahre vorher: »[...] so gewohnt bin ich mich vom Schicksaale leiten zu lassen, dass ich gar keine Hast mehr in mir spüre, nur manchmal dämmern leise Träume von Sorglichkeit wieder auf, die werden aber auch schwinden« (an Charlotte von Stein, 4. 12.1777). Dem inneren Schicksalsvertrauen erscheinen »Träume« als Medium des Fremden und Bedrohlichen: eine Konstellation, die für den >italienischen< Goethe der £graont-Vollendung undenkbar wäre. 61 In Dantons Tod wird nicht etwa der handlungsunwillige Titelheld, sondern sein Gegenspieler Robespierre, der ansonsten das Handeln bis zum »Schrecken« zu treiben pflegt, von solcher Fraglichkeit heimgesucht (vgl. das Ende seines >Nachtmonologs< im 1. Akt). 62 Vgl. Michelsens klärende Erläuterung des Zusammenhangs von Schicksal und Freiheit (Anm. 6, S. 292). Horst Hartmann hat dagegen zu diesem Punkt nur marxistische Akrobatik anzubieten, die Meinung nämlich, »daß Egmonts nachtwandlerische Sicherheit ihre Basis in der Überzeugung findet, auf der richtigen Seite im Dienst des menschlichen Fortschritts zu wirken« (Goethes Egmont. Eine Analyse. In: Weimarer Beiträge 13 [1967] S. 56). Dieser Interpret versucht das Drama zur »Partei¬ nahme für die bürgerliche Revolution« - als historisch notwendige Vorbedingung der proletarischen - zu stilisieren (S. 48). Mittlerweile hat der Einmarsch der spanischen Truppen in die niederländischen Provinzen ein aktuelles Gegenstück gefunden, das jeden denkenden Marxisten einmal in nicht schon verordnete Überlegungen treiben sollte: Prag 1968. 63 Dadurch unterscheidet sich Egmont von allen anderen Figuren des Dramas; vgl. Wolfgang Kaysers Erläuterung (HA 4,588). 64 Vgl. dazu die grundlegende Studie von Leonard A. Willoughby, die das Bild aus einem individuellen Dichtertraum heraus versteht, für den Goethe erst sekundär eine große literarische Tradition (Pindar, Plato und Euripides) entdeckt (The Image of the Horse and Charioteer in Goethe’s Poetry. In: Publications of the English Goethe Society. N. S. 15 [1945] S. 47-70, bes. S. 59 f.). 65 Es wird aber in der idealistischen Denkweise getrennt, die keinen Schicksalsglauben zugestehen kann und immer eine letzte Eigenleistung der Subjektivität erwarten muß. Daher Schillers abfertigender Bescheid an Goethes Egmont: »Wir sind nicht gewohnt, unser Mitleid zu verschenken« (zitiert nach Wagener [Anm. 1] S. 80). 66 Schon der Hegelianer Karl Rosenkranz hat Egmont - im Gegensatz zum »nur« historischen Götz als »politisches Drama« aufgefaßt, das »die Entwicklung eines Volkes zum Staatsbewußtsein« darstelle (Göthe und seine Werke. Königsberg 1847, 21856. S. 187). Zimmermann bezeichnet »ein politisches Drama, dessen Held nicht politisch ist«, als »Zwitterding« (Anm. 50, S. 119). Hermann August Korff hält Egmont für ein nichtpolitisches Drama, behandelt ihn aber unter politischen Vorzeichen als Kampf einer konservativem Freiheit gegen einen scheinbar >fortschrittlichen< Despo¬ tismus (Geist der Goethezeit. T. 1: Sturm und Drang. Leipzig 1923. S. 205-224: »Der Kampf um die politische Freiheit«; darin über Egmont S. 220-224, vgl. bes. S. 224 und 220 f.). Ähnlich widersprüch¬ lich geht es bei Fritz Brüggemann zu (Goethes »Egmont«, die Tragödie des versagenden Bürgertums. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 11 [1925] S. 154), nicht anders bei Wilhelm Mommsen, der nach der von seinem Thema erheischten Jagd auf politische Elemente doch einräumen muß: »Auch der >Egmont< ist natürlich keine politische Dichtung« (Die politischen Anschauungen Goethes. Stuttgart 1948. S. 45 ff.; Zitat S. 49). 67 Besonders gilt das für Hans M. Wolff, dessen Egmont-Interpretation ein lehrreiches Exempel irregehenden Scharfsinns bietet. Aufgrund der Volksszene im 2. Akt macht dieser Interpret Egmont zum »Schüler von Hobbes und Pufendorf« und zum Apologeten eines »schroffen Absolutismus« nur weil er die Bürger zur »Ruhe« mahnt und offenbar nicht gut auf Unruhestifter wie Vansen zu sprechen ist (vgl. S. 394), der Freiheitsparolen im Munde führt. Wie kann man für Alba eine »grundsätzliche Übereinstimmung mit Egmonts politischen Anschauungen« konstatieren? Fragestel¬ lung und Beobachtungsweise können doch einfach nicht stimmen, wenn es zu solchen Äquivokationen kommt - und >natürlich< auch zur Behauptung, daß »erhebliche Unklarheiten« in den »politi¬ schen Anschauungen« des Dramas bestünden (Goethes Weg zur Humanität. München 1951. S. 106 f.). 68 Vor allem bei Georg Keferstein, demzufolge Goethe in Egmont den »politischen Dilettanten« dargestellt hat, der wesensbedingt »schuldig gegenüber der politischen Aufgabe« wird, in Oranien aber den »politischen Menschen großen Stils«, der eine metatragische Welt (des politischen Heils!)

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repräsentiert (Die Tragödie des Unpolitischen. Zum politischen Sinn des »Egmont«. In: Deutsche Vierteljahrsscbrift 15 [1937] S. 346 und 358 f.). Abgesehen davon, daß der Wortlaut des Dramas solche Schwarzweißzeichnung in keiner Weise rechtfertigt: Warum hat sich Goethe denn beim »politischen Dilettanten« aufgehalten, sich durch die »menschlich ritterliche Größe« schon des historischen Egmont einnehmen lassen (Dichtung und Wahrheit, 20. Buch; HA 10,176) und nicht einfach Oranien in den Mittelpunkt gerückt? Zur Revision der gängigen, bei Keferstein kulminierenden Entgegensetzung von >Dilettant< und >Fachmann< hat Elizabeth M. Wilkinson mit ihrem klugen Hinweis auf das »problem of sight« in diesem Drama den entscheidenden Anstoß gegeben (Anm. 17, S. 65; zum Dialog Oranien-Egmont: S. 68 f.). Ähnlich wertet Böckmann (Anm. 17, S. 133 f.). Michelsen hat den Vorstoß weitergeführt, indem er Egmont - m. E. völlig zu Recht - politische Kompetenz zuspricht (Anm. 6, S. 286 f.). Wie schwer es manchem Interpreten fällt, sich vom vertrauten Egmont-Bild des Leichtfußes auch in politicis zu lösen, zeigt das Beispiel von George A. Wells. Er muß Egmonts Kriegsmenetekel als »cogent argument« anerkennen, schwächt es aber sofort wieder ab, indem er es nicht Egmont zurechnet - sondern Goethes ausgleichender dramatischer Strategie (Egmont and >Das Dämonischem In: German Life and Letters. N. S. 24 [1970/71] S. 64). Goethes Stoßseufzer: »[...] wenn der fatale vierte Akt nicht wäre, den ich hasse und notwendig umschreiben muß [...]« (an Charlotte von Stein, 12. 12. 1781). In Italien wird diese Hürde glatt genommen (vgl. Italienische Reise, 30. 7. und 1. 8. 1787; HA 11,373.382). Zu Recht von Mommsen betont, wenn auch die Anwendung auf das Drama - in der Egmont einfach zum »Idealisten« wird (was er nun wirklich nicht ist) - zu schematisch ausfällt (Anm. 66, S. 34 ff., bes. S. 45). Gute Hinweise darauf, wie ernst Goethe im ersten Weimarer Jahrzehnt seine politischen Pflichten genommen hat, gibt auch Harry G. Haile. Nur geht ihm am Ende das Drama in eine lockere Bündelung heterogener Teile auseinander, die künstlerisch auch durch den Hinweis auf »richness in depth« nicht zu retten wäre - wenn man in der Tat die Spuren der »three authors« (»the speculative enthusiast«, »the seasoned minister« und »the sage artist«) genau auseinanderschichten könnte (Goethes Political Thinking and Egmont. In: Germanic Review 42 [1967] S. 96 ff. und 106 f.). Vgl. die Tagebuchnotiz vom 14. 12. 1778 und den Brief an Lavater vom 6. 3.1780 - dazu die Ausführungen von Michelsen (Anm. 6, S. 289 f.). Vgl. dazu das Gedicht Ilmenau (datiert 3. 9. 1783), in dem Goethe sein früheres Dichtertum kritisch betrachtet und einräumt, daß »ich unklug Mut und Freiheit sang / Und Redlichkeit und Freiheit sonder Zwang [...]« (V. 112 f.) Die spätere Wendung an Herzog Carl August ist zustimmend und sogar ein wenig appellativ gemeint: »Du kennest lang’ die Pflichten deines Standes / Und schränkest nach und nach die freie Seele ein« (V. 178 f.; HA 1,110 ff.). Das Gedicht ist ein Beleg für den Wandel von Goethes politischen Anschauungen in der langen Zeit der £grao«£-Entstehung. Ist mit ihm aber plausibel zu machen, daß Goethe - gerade auch als Dichter des Egmont - zum »Verteidiger des Absolutismus« geworden ist (so Hans M. Wolff [Anm. 67] S. 107ff.)? Italienische Reise, 14. 5. 1787 (HA 11,318). Diese Bildbezüge haben in der Forschung einige kühne Einfälle sprießen lassen: ein »Fabelspiel« mit »Archetypen« bei Hans Naumann, demgemäß der junge Goethe »eine unbewußte Metamorphose eines uralt nordländischen Mythos« gegeben hat, Egmont »ein und dieselbe Tragödie der Beliebtheit« darstellt wie die Sagen von Balder und Siegfried (Goethes Egmontmythos. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 71 [1951/52] S. 285 ff.)-eine »balladische Grundkonzeption« bei Walter Hof, die natürlich im Dialog Alba-Egmont nicht aufgeht und ihren Verfechter prompt in die Rolle des Kritikers bringt (Über Goethes »Egmont«. In: Wirkendes Wort 1 [1950/51] S. 91 ff., bes. S. 95). Eine Nachwirkung der Lehre von Justus Möser (Patriotische Phantasien), deren genaue Kenntnis Goethe in Dichtung und Wahrheit bezeugt (vgl. 13. und 15. Buch; HA 9,596 ff.; HA 10,52 f.) und über deren Bedeutung für die Vorstellungswelt des jungen Goethe in der Forschung Einmütigkeit herrscht. So wird gleich anfangs Egmont gegen Philipp, das Niederländische gegen das Spanische abgesetzt: »Unsere Fürsten müssen froh sein wie wir, leben und leben lassen« (372; vgl. 416). Goethe gebraucht die Wendung auch bei der Vergegenwärtigung des eigenen jugendlichen Wesens (Dichtung und Wahrheit, 18. Buch; HA 10,128). Rosenkranz hat eine unterscheidende Nuance gesehen: »Alba ist noch katholischer als die katholische Majestät [...]« (Anm. 66, S. 189). Im übrigen hilft es dem Verständnis des Dramas nicht sonderlich auf, die historische Konstellation mit ihren Verschränkungen von Freiheitskampf und Konservativis¬ mus, Fortschritt und Absolutismus exakt zu explizieren, denn Egmont ist kein historisches Drama in

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dem Sinne, daß es in der Logik einer geschichtlichen Entwicklung fundiert wäre. Das läßt sich auch Friedrich Sengles Bemühung anmerken, Goethes Stück - neben Schillers Wallenstein - für sein Thema zu retten (Das historische Drama in Deutschland. Stuttgart 31974. S. 46-48, vgl. S. 56). Die gespannte Aufmerksamkeit auf »die Befehle des Herzogs« steht nicht zufällig am Anfang der >spanischen< Szenen (420). Zur Sprachdramatik des Dialogs zwischen Alba und Egmont vgl. die erhellenden Bemerkungen Böckmanns (Anm. 17, S. 134). Die Ohnmacht der »Großen auf der Woge der Menschheit« ist die resignierende Einsicht, die schon der erste Monolog der Regentin erreicht (377). Ganz entsprechend äußert sich Goethe selbst in einem Brief an Charlotte von Stein (14. 5. 1778). Mit diesem Vergleich, den er sich gewissermaßen abringen muß, stellt sich Alba in den Horizont des Schicksalsglaubens - zu Egmont, der sich ganz ungebrochen zum »Los« bekennt (401). Vgl. auch Goethes Überlegung in Neapel, ob er nach Sizilien Weiterreisen oder nach Rom zurückkehren solle: »Noch nie bin ich so unentschieden gewesen; ein Augenblick, eine Kleinigkeit mag entscheiden« (Italienische Reise, 17.3. 1787; HA 11,210). Entsprechend kommt die Entscheidung durch Alba über Egmont zustande (vgl. die detaillierte Erläuterung von Wolfgang Kayser in HA 4,580f.). Die Eigentumsverhältnisse, von denen man nach Brecht immer sprechen sollte, klingen in Albas ironischer Bemerkung an, daß »der Adel mit [...] seinen Brüdern [= den Bürgern] sehr ungleich geteilt« habe (431). Ein brisantes Motiv wird daraus für das Drama nicht; sogar Vansen, dem am ehesten das Gegenteil zuzutrauen wäre, bedenkt Egmonts finanzielle Ausstattung ohne kritische Spitze (vgl. 418). Vgl. bei Wagener (Anm. 1) S. 82 f. - Nur Friedrich Gundolfs monumentalisierende Betrachtung schert hier aus, indem sie »die paar Bürgerszenen« abfällig - und abwegig - als »typisierende Abkürzungen« bezeichnet (Goethe. Berlin 1916, u1922. S. 187). Hartmann hilft sich aus dem Dilemma, daß die Erscheinung des Volkes im Drama so gar nicht der ideologisch notwendigen Hochschätzung desselben entspricht, indem er flink eine »Erziehungsab¬ sicht Goethes« für die Volksszenen konstruiert (Anm. 62, S. 64 f.). Man könnte aber dutzendfach belegen, daß der Autor des Egmont eine andere Ansicht von der handelnden Kraft des Volkes hat. Zum »Witz« zugespitzt, hat Kanzler Friedrich von Müller sie als Gesprächsätjßerung überliefert: »Die Menschen werfen sich im Politischen wie auf dem Krankenlager von einer Seite zur andern, in der Meinung, besser zu liegen« (29. 12. 1825). Sie trägt auch die großzügigen Zuordnungen nicht, in die Klaus Ziegler gerät, wenn er ein »Prinzip der volkhaften Artung« (das an sich schon ein Fragezeichen verdient) von Egmont vertreten findet, dann im Klärchen der Traumerscheinung »die göttliche Gestaltwerdung ihres Volkes« erblickt und schließlich in der Schlußvision »die Transzendierung der Idee des Volkes ins metaphysisch-religiöse Absolute« ausmacht (Goethes »Egmont« als politisches Drama. In: Verstehen und Vertrauen. Hrsg, von Johannes Schwartländer [u.a.]. Otto Friedrich Bollnow zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1968. 5. 285 ff.). Ähnliche Spekulationen zum >Volkhaften< finden sich - allerdings noch ohne Zieglers pantheistische Weiten - bereits bei Keferstein (Anm. 68, S. 351 ff.). Vgl. Dichtung und Wahrheit, 20. Buch (HA 10,175 ff.). Das Egmont-Drama erscheint hier als das »Bild«, hinter das sich der Dichter »vor diesem furchtbaren Wesen« flüchtete. Schon das Tagebuch stellt am 4. April 1813 für die Arbeit an der Biographie diese Verbindung her: »Konzeption des Dämonischen und Egmonts« (Tagebücher. S. 324). Vgl. Dichtung und Wahrheit, 20. Buch (HA 10,175 ff.). - Die Bedeutungsvielfalt des Wortes belegen instruktiv die Anmerkungen von Erich Trunz (HA 10,632 f.). Und zwar »von beiden Seiten« - von Egmont und Alba - aus, »in welchem Konflikt das Lie¬ benswürdige untergeht und das Gehaßte triumphiert« (HA 10,176). - Ganz auf »das Dämonische« ist die Egmont-Interpretation von Benno von Wiese abgestellt (Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. Hamburg 1948, 81973. S. 84-89). Zu anderen Einschätzungen kommen die Arbeiten, die mehr die formalen Züge des Dramas beachten, etwa die Studie von Elizabeth M. Wilkinson: »There is in this play from first to last far more talk about freedom than there is about the daemonic« (Anm. 17, S. 66; vgl. S. 70). Ähnlich schränkt Böckmann ein (Anm. 17, S. 126 und 142 f.). Dies muß dem Versuch von Wells entgegengehalten werden, »das Dämonische« gewissermaßen für das moderne wissenschaftliche Verständnis zu >rettenMetaphysisches< als »premature generalization« abtut - dann tut man damit Goethe selbst ab (Anm. 69, S. 58 und 65 f.). Zu den marxistischen Rationalisierungen »des Dämonischen« hat Michelsen das Nötige gesagt (Anm. 6, S. 293 f.).

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90 Vgl. dazu die bedeutende Studie von Walter Muschg, die die Verbindung von >Dämonismus< und Künstlertum - allerdings ohne Einbeziehung von Egmont - betont: Goethes Glaube an das Dämonische. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 32 (1958) S. 321-343, hier S. 327. 91 Goethes Bemerkung, »am furchtbarsten [...] erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgend einem Menschen überwiegend hervortritt«, scheint unterschiedliche Intensitätsgrade dieses Hervortretens zu unterstellen. Die Gegenseite zum »Dämonischen« wird als »der hellere Teil der Menschen« bezeichnet (Dichtung und Wahrheit, 20. Buch; HA 10,177). Man würde Egmont trotz seiner »attrattiva«, seiner >dämonischen< Anziehungskraft auf die Menschen (vgl. ebd. S. 176), eher wohl auf der >helleren< Seite zu sehen haben. So faßt es auch Konrad Schaum auf (Dämonie und Schicksal in Goethes »Egmont«. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. N. F. 10 [1960] S. 141 f.). Zur Verwirrung in der Forschung hat offensichtlich beigetragen, daß man nicht immer strikt zwischen dem »Dämon« als >Entelechie< im Sinne der Urworte. Orphisch (vgl. HA 1,359.403 f.) und »dem Dämonischen« als dem rätselhaften Weltwesen des Altersdenkens von Dichtung und Wahrheit unterschieden hat. 92 Muschg (Anm. 90) S. 338 und 331 ff.

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Iphigenie auf Tauris

Kaum ein anderes Werk im Kanon der deutschen Literatur erfährt bis heute solch widersprüchliche Reaktionen wie dieses Stück. Und keine erneute Beschäftigung mit ihm, sei sie noch so kritisch, vermag der Dialektik von Attacke und Affirmation zu entgehen, verlängert doch jede Deutung, ob einschüchternd oder nicht, an sich schon die Tradition der Befassung mit Klassizität.1 Als schlimmste Bürde der Rezeptionsge¬ schichte von Goethes Iphigenie erweist sich die Monumentalisierung von Autor und Werk, die freilich bereits in der Goetheschen Selbststilisierung und in der verbalen Prätention des Schauspiels angelegt ist. Beide Momente verführten, die schillernden Implikationen des Klassik-Begriffs hinzugenommen,2 ein je repräsentationsbedürftiges Publikum dazu, Text und Person in welthistorische oder menschheitstypologische Grundmuster einzuspannen und paradoxerweise gerade damit ihre Einzigartigkeit zum Verschwinden zu bringen.3 Vom Kreis der Jünger um den Dichter selbst bis zum Ausbau Weimars als deutschem Nationalheiligtum4 nach der Reichsgründung nehmen die Erhöhungsbestrebungen einen gewaltigen Aufschwung und erdrücken mit ihren Klischees auch zunehmend die wissenschaftlich-relativierende Goethe-Forschung.5 Wurden deren positivistische Ergebnisse immerhin noch zur Popularisierung und breiteren Eingemeindung gebraucht,6 so schuf die Vereinnahmung Goethes für den nationalstaatlichen Kulturbetrieb im Bewußtsein von dessen Repräsentanten schließlich doch jenen entstofflichten Geistesriesen, der als Bündnispartner für die eigenen Gro߬ taten herhielt. »Was hätte Iphigenie«, so fragte sich überm Schulaufsatz der Gymnasiast Robert Minder, »1917 beim obersten Kriegsherrn erreicht? Wäre die Probe aufs Exempel bestanden worden? War Literatur nicht Lüge und Drill, mechanisierter Vorwand für Pflichtarbeiten, wo es für die Welt der Erwachsenen schöne Gefühle vorzutäuschen galt, während die Erwachsenen sich weiterhin bedingungslos dem barbarischen Ritual unterwarfen oder es selber praktizierten, diesmal aber in Millionen¬ ausmaß? Schauerliche Parodie: der kaiserliche Herr eröffnet höchstpersönlich das Theater der deutschen Truppen in Lille mit Goethes Iphigenie und drapiert sich in ihre Humanität, um die sittliche Überlegenheit seines Volks zu preisen und totale Opferbe¬ reitschaft von ihm zu fordern. Iphigenie als Gehilfin am Feuerofen.«7 Als Nothelfer beim Bewältigen der Folgen fungierte Goethe nach dem Zweiten Weltkrieg für die Deutschen gleichermaßen in Ost und West,8 und zuverlässig bewährte sich hier wie dort zwischen den Generationen der Goethe-Kanon als Oktroyierungsmittel der Väter und Widerstandsobjekt der Söhne.9 Welch besserer Beweis ihrer Überlebensgroße hätte der Iphigenie jedoch geliefert werden können als ihre Sanktionierung durch eben dieselbe >Kritische TheorieIphigenie auf dem LandeWeimarer Musenhof< »gibt es eine Art von Doppelbewegung: Verhöflichung bürgerlicher Menschen, Verbürgerlichung höfischer Menschen«.26 Ja, in der wechselseitigen Durchdringung von mittelständischer Intelligenz und höfischer Aristokratie27 dürften die Weimaraner geradezu einen Musterfali für diesen Geschichts¬ prozeß ausmachen, bei dem eine Bildungselite des Bürgertums von aristokratischer Lebensführung und Ideologie überformt wurde, doch andererseits ihre Wertvorstellun¬ gen und Beziehungsqualitäten so nachdrücklich vertrat, daß man ihre Wirkung »unter dem Aspekt einer >Akademie< des Großherzoglichen Hofes betrachten« kann.28 Wel¬ cher Preis für die »Gegenstände des Nachdenkens, der Überlegung und Erfahrung der Akademie« am Hof zu zahlen war, das hat Herder in einem herzoglich angeforderten Projektgutachten »zum ersten patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutsch¬ lands« unmißverständlich ausgesprochen.29 Indessen sollte der situationsbedingte Ver¬ zicht auf öffentliche Herrschaftskritik nicht übersehen lassen, daß den bürgerlichen Intellektuellen mit ihrer Einladung an den Hof ausdrücklich der Auftrag erteilt war, in der Privatsphäre ihren Einfluß auszuüben. Und diese weit über die HofmeisterTradition hinauswachsende pädagogische Legitimation nimmt Goethe letzten Endes in Anspruch, wenn er sich Karl Ludwig von Knebel gegenüber beredet, mit der Iphigenie »einige Hände Salz in’s Publicum zu werfen« (Brief vom 14. 3. 1779), und wenn er von der ersten Aufführung eine »Gar gute Wirkung [...] besonders auf reine Menschen«30 verzeichnet. Die Bescheidenheit der Intention und die Genügsamkeit hinsichtlich der Wirkung eines solchen Kolossal-Mythos wie der Atridensage zeigt den doppelten Funktionswandel der Mythologie bei Goethe. Nicht mehr das individualrevolutionäre Pathos des Sturm und Drangs ist Ausdrucksziel,31 doch der Stoff ist auch nicht mehr bloßes Mittel mythologisch-allegorischer Überhöhung des absolutistischen Hoflebens,32 obwohl er zweifellos dieser Verwendungstradition entstammt und gerade deshalb geeignet war, das höfische Milieu in seinem gewohnten Ritual anzusprechen. Anteil an der Familien¬ geschichte der antiken Heroen hatten die abendländischen Herrscherhäuser in ihren mythologischen Stammbäumen seit Jahrhunderten genommen, um der jeweiligen Gegenwart ihre geschichtlich-theologische Tiefenperspektive zu verleihen.33 Und sich spielerisch in mythische Distanz entrückt wie in ihr verklärt zu sehen blieb auch über das 18. Jahrhundert hinaus ein Festbrauch der vielfältigen Formen europäischer Hof¬ kultur.34

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Der Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad, den der Sagenkreis um Iphigenie »mit der antikisierenden Oper wie mit dem klassicistischen Schauspiel«35 in diesem Zusammen¬ hang erlangt hatte,36 als sich Goethe in Weimar mit seiner Dramatisierung beschäftigte, ist am besten daran ablesbar, daß Repliken und Parodien der einflußreichsten Muster entstanden.37 Im Hofleben schien die Präsentation bei persönlichen Festanlässen schon eine gewisse Tradition zu besitzen. So wurde »zu Wien am Geburtstage Maria Theresias 1758« das Trauerspiel Orest und Pylades, oder Denckmaal der Freundschafft von Christoph Friedrich von Derschau ebenso eingesetzt38 wie 1760 »at Augsburg for a countess’ name day«. Und neben diesem letzten Anlaß bekundet sich in einem weiteren Zeugnis nicht nur die Erwünschtheit der Thematik, sondern passagenweise auch die von Goethe aufgenommene Gattung, wo »some of the prose parts were spoken against a musical background, as in a Monodrama«. Vom Mannheimer Hofdichter Mattia Verazzi stammt, an Carl Theodors Hofbühne aufgeführt: Iphigenia in Tauris. Ein musicalisches Schauspiel welches auf Höchst beglücktem Hohen Nahmens-Tag Ihro Churfürstl. Durchleucht zu Pfaltz auf Befehl Ihrer Durchleucht der Frauen Churfürstin an dem Chur-Pfältzischen Hoffe aufgeführet worden, im Jahre 1764.39 Wie beim kurpfälzischen Namenstagsfest der theatralische Gegenstand von der Kurfür¬ stin bestimmt wurde, so waren nach den Spuren der Entstehungsgeschichte persönliche Ereignisse im Leben der jungen Weimarer Herzogin Luise für Goethes Stoffwahl ausschlaggebend. Bedenkt man die kulturelle Führungsrolle der Frauen besonders am Weimarer Hof und die Bedeutung von Anna Amalia wie Frau von Stein für Goethe, dann muß das populäre Sujet mit der Heldin im Mittelpunkt für eine Huldigung wie geschaffen erscheinen. »Es war schon fast eine Gewohnheit Goethes geworden, zum Geburtstage der Herzogin Luise ein neues Schauspiel zu dichten.«40 »Im Anfang des Jahres 1779, kurz vor oder nach dem 30. Januar, dem Geburtstage [...], der diesmal wegen ihrer nahen Entbindung durch keine theatralische Vorstellung gefeiert wurde, setzte sich Goethe, vielleicht auf dringenden Wunsch der Frau von Stein, die Dichtung unseres Dramas vor«.41 Für welche Gelegenheit es im belegbaren Zeitraum seiner Entstehung (14. Februar - 28. März 1779) eigentlich gedacht war, »ist schwer zu entscheiden; zwischen dem Kirchgang der Herzogin, welcher am 14. März nach der am 3. Februar 1779 erfolgten Geburt der Prinzess Luise Auguste Amalia stattfand, und einer nachträglichen Feier des Geburtstages (30. Januar) der regierenden Herzogin am 6. April hat man die Wahl. Zum 14. März erwartete man wohl eine poetische Leistung des Dichters, am Vorabend, dem 13. März, las er die 3 ersten Acte der Iphigenie, welche allein bis dahin fertig geworden waren, dem Herzog und Knebel vor. Am 6. April, dem dritten Ostertag, wurde das Drama zum ersten Mal aufgeführt; das festliche Ereigniss am 14. März zu wählen, möchte man eher geneigt sein; auch der Titel >die Kraftgeborene< würde auf den jüngsten weiblichen Sprössling der herzoglichen Familie [...] hinweisen«.42 Noch vier Jahre später berichtet Therese Heyne ihren Eltern über eine Knebelsche Lesung der Iphigenie, dieser habe »selbst eine Hauptrolle in dem Stück gespielt, da es bei der ersten Niederkunft der Herzogin von Weimar ist vorgestellt worden«.43 Sicher deuten die ersten Selbstzeugnisse Goethes aus der Entstehungszeit mit ihren bekannten Versicherungen und Beschwerden44 nicht nur auf ein generelles Unbehagen an der Verhinderung künstlerischer Arbeit, sondern auch auf eine bestimmte Verpflich¬ tung, wie sie aus der Absicht spricht, »etwas zu bringen, das nicht ganz mit Glanzlein-

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wand-Lumpen gekleidet sei« (Brief an Charlotte von Stein vom 14. 2. 1779).45 Mit leichter Unterhaltung also, einer Farce oder Hanswurstiade etwa, war es bei dieser Gelegenheit nicht getan, auf deren Charakter als Laienspiel bei Hofe die Goethesche Ankündigung verweist, er werde etwas mitbringen, »daß der König und die Königin sagen sollen: mein liebes Löwchen, brülle noch einmal« (Brief an Knebel vom 5. 3. 1779). Als geflügeltes Wort der Weimarer Amüsierszene wiederholt dann Luise von Göchhausen dieses Zitat aus dem 1. Aufzug des Gryphiusschen Schimpfspiels vom Herrn Peter Squenz, wenn sie Goethes Mutter nach Frankfurt den Erfolg der ersten Aufführung meldet und dabei die eigene Bewunderung ironisch zügelt.46 Aber diese galt weder der Novität des Stoffes noch seiner neuartigen Organisation, denn die Gestal¬ tungstradition hatte bereits eine derartige Dichte erreicht, daß Goethe ihr von der Motivik47 über die Genrewahl bis in die Redesituation der Charaktere hinein verpflich¬ tet ist. Antwortet Orest bei Goethe auf die Frage Iphigenies nach ihrem Bruder »O könnte man von seinem Tode sprechen«, so hatte die Antwort bei Johann Elias Schlegel in den Geschwistern auf Taurien (11,1) geheißen: »Er lebt, der Arme lebt... und wünschte, nicht zu leben«.48 Die Namenswahl des Arkas findet sich von »Racine in dessen aulidischer Iphigenie [...] durch die Iphigeniendramen bis kurz vor Goethe«. Und ein Requisit wie »das Schwert Agamemnons, welches Orest im V. Act dem Thoas zeigt, um damit seine Abkunft zu beweisen«, ist sicheres Indiz für die Anknüpfung Goethes an »die Voltaire-Gottersche Tragödie«, die ebenfalls »weiter nichts ist als eine sehr geschickte Verknüpfung bekannter tragischer Scenen«, wobei Götter, der sich »in Goethes Nähe, ja in seinem Freundeskreise«49 bewegte, das den griechischen Tragikern unbekannte Instrument50 dramaturgisch überzeugender einsetzte als der in dieser Hinsicht sorglosere Goethe.51 Der »Archivarius Friedrich Wilhelm Götter [...] hatte in Gotha eine Liebhaberbühne für deutsches Schauspiel eingerichtet - vorher war dort bei Hofe nur französisch gespielt worden« - und »trat selber mit viel Glück auf«.52 Den größten Eindruck machte von den Stücken, die er übersetzte und bearbeitete, »seine Merope, eine Verherrlichung der Mutterliebe. Dies Drama kam 1773 zum Geburtstage der Herzogin Amalie auf die Bühne. Götter hatte sich auch hier an Voltaires Vorlage gehalten, an dasselbe Stück, das Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie vor sechs Jahren unbarmherzig zerrissen hatte; außer anderen Verbesserungen wagte Götter namentlich den Übergang zur neuen Versart des fünffüßigen Jambus, der auf der Bühne noch ungewohnt war.« Allerdings nimmt die lyrische Prosa von Goethes erster Fassung seiner Iphigenie erst Anläufe zum Blankvers,53 der dann im gleichen Jahr noch (1779) seine literarische Sanktionierung »dem erscheinen des Lessingschen Nathan«54 verdankt. Immerhin hatte der Vers, welcher jetzt den Alexandriner der Haupt- und Staatsaktionen ablöste, schon bei Shakespeare das Pathos der höheren Stände getragen. Die Bedeutung sozialer Vorgänge in einem höfischen Drama muß man sich heute in der historischen Rekonstruktion seiner Adressaten, einer äußerlich intakten Hof- und Adelswelt, vergegenwärtigen. Den Antrag eines Königs zurückzuweisen55 ist ein Akt von politischer Tragweite. Gerade für das Weimar des jungen Carl August gilt, worüber Goethe zunehmend klagte, nachdem er anfangs die herrscherlicher Willkür entsprungene Ungebundenheit genossen hatte, daß nämlich der Fürst »nur gewohnt ist zu befehlen, und zu thun« (A: 12).56 Ein wohlbekanntes Element absolutistischen Hoflebens, das die Feudalismuskritik des bürgerlichen Trauerspiels anprangerte, ist die

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Verzweiflung der Heldin, die der Herrscher »mit Gewalt [...] in sein Verhaßtes Bett zu ziehen« (A: 14/12) droht. Und das Wahrheitsproblem der Iphigenie ist nicht zuletzt das Dilemma der höfischen Schmeichelei,57 ebenso wie das Ausweichmanöver vor dem König diplomatisch mit der Bescheidenheitspose (»zu große Ehre«, A: 16) und dem Vorwand getarnt werden muß, ihn nicht in Entsetzen stürzen zu wollen.58 Huldigung und Erhebung widerfahren dem Herrscher, wenn er als Gnadenspender mit den Göttern verglichen59 und von »gemeinen Menschen« (A: 112) abgerückt wird, aber wo diese Götterferne zur Verantwortungslosigkeit führt, setzt wiederum ein Topos der Hofkritik an: »Ein König der das unmenschliche verlangt findt Diener gnug, die gegen Gnad und Lohn, den halben Fluch der That mit giergen Händen faßen. Doch seine Gegenwart bleibt unbefleckt [...]«.60 Endlich verhilft die Standesgleichheit zu größe¬ rem Respekt vor der Person als die Autorität der Priesterin: »Nicht Priesterin! Nur Agamemnons Tochter. Du ehrtest die unbekannte, und der Fürstinn willst du rasch gebieten« (A: 102). Daß Goethe mit der Arbeit an der Iphigenie ernsthaftere Absichten verband als in seinen früheren Beiträgen zum höfischen Divertissement,61 geht aus seiner Bemerkung zu Carl August über seine bisherige poetische Leistung am Hof hervor, er habe »diese gute Gabe der Himmlischen ein wenig zu cavalier« (Brief vom 8. 3. 1779) behandelt. Was ihn jedoch über die »höfische >Demonstration< hinauskommen ließ«, der wir¬ kungsästhetisch die französische Tragödie verpflichtet war, lag zunächst in deren Veränderung »zur bloßen Spielform«.62 Die Formatverkleinerung hängt zweifellos damit zusammen, daß nach dem Brand von 1774 in Weimar eine Hofbühne fehlte,63 aber eine weitere ästhetische Modifikation deutet sich in der musikalischen Unterstüt¬ zung des dichterischen Bemühens an, welche nicht nur »die Seele zu lindern und die Geister zu entbinden« und »die fernen Gestalten leise herüber« (Briefe an Charlotte von Stein vom 14. und 22. 2. 1779) zu rufen, sondern im Schaffensvorgang wohl auch eine Gattung wachzuhalten vermochte, mit der Goethe schon großen Erfolg geerntet hatte. Das erste von den drei Singspielen, die Vorlagen,64 Erwin und Elmire ein Schauspiel mit Gesang, gestaltete eine Episode aus Oliver Goldsmiths Vicar of Wakefield. Es war im Mai 1776 auf dem Liebhabertheater in Weimar gespielt worden; die Musik zu dieser Aufführung stammte von der Herzogin-Mutter Anna Amalia, und bei einer Wiederholung 1777 spielte Corona Schröter die Elmire. Ihr, die Wieland mit »der unendlich edlen, attischen Eleganz ihrer ganzen Gestalt und in ihrem ganz simplen und doch unendlich raffinierten« Kostüm bezauberte, der »schönen Schröter«,65 welcher Goethe das am 30. Januar 1778 zum Geburtstag der Herzogin Luise aufgeführte Melodram Proserpina auf den Leib geschrieben hatte, war die Heroinenrolle in dem neuen Goetheschen Griechenspiel zugedacht, in dessen erster Fassung zuweilen »die Rede einem Opernlibretto«66 gleicht. Sie trug, wohl in einer rezitativischen Mittellage »zwischen gesprochenem Wort und Gesang«, das Parzenlied vor, nachdem sie es erst noch im Monolog ausdrücklich angekündigt hatte: »Es sangen die Parzen ein grausend Lied [...] Ich hört es oft! In meiner Jugend sangs eine Amme uns Kindern vor« (A: 96/98). Der Einsicht, daß Goethe in der Verbindung von klassizistischem Drama und antikisie¬ rendem Singspiel auch das Muster von Wielands Alceste aufnimmt, steht zunächst die Parodie eben dieses Opernversuchs durch die Farce Götter Helden und Wieland im Wege. Doch abgesehen von Wielands souveräner Reaktion auf dieses »Meisterstück

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von Persiflage und sophistischem Witze«,67 ging es beim Angriff auf das Wielandsche Gräzisieren nach und poetische Konkurrieren mit Euripides68 ja um verschiedene Konzepte des Griechentums. Attackiert wurden die Rokoko-Griechen, die »abge¬ schmackten gezierten hagren blassen Püppgens«,69 die Heroen und Heroinen in Schnal¬ lenschuhen und Schnürmiedern, als deren Repräsentantin die Schauspielerin Romana Koch im Mai 1773 bei der Uraufführung von Wielands Alceste im Reifrock paradiert hatte.70 Indessen war für den Parodisten aus der technischen Handhabung des Genres und seiner Ausdrucksformen bei Wieland allerhand zu lernen, das später dem eigenen Griechenspiel zugute kommen konnte: »Das recitativ [...] in freien jambischen versen [...], welche sich mit Vorliebe dem fünffüssigen jambus nähern«; die Bauform, in der sich auch das »Wielandsche singspiel der griechischen tragödie« nähert; das Abgehen von der französischen Tragödie und ihrem Eingangsdialog zwischen Held und Vertrau¬ tem durch den melodramatischen Eingangsmonolog, den es als psychologisierendes Selbstgespräch auch bei Euripides nicht gibt; die arienhafte Gestaltung eines.zentralen Motivs, an einer Stelle bei Wieland zu umschreiben mit den Worten: »der ist nicht vom Schicksal ganz verlassen, dem in der not ein freund erscheint«,71 in Goethes Iphigenie mit den Worten anhebend: »Wem die himmlischen viel Verwirrung zugedacht haben, wem sie den erschütternden schnellen Wechsel von Freude und Schmerz bereiten, dem geben sie kein höher Geschenck als einen ruhigen Freund« (A: 78); schließlich in Wiederholung vieler mythenszenischer Vorbilder der Formelvorrat für bestimmte Situationen, so für die Hadesvision, bei der Alceste dem Gatten ins Schattenreich entschwindet: »Weh mir! Schon hat das Ufer gegenüber / Sie aufgenommen! Liebreich drängen sich / Die Schatten um sie her; sie bieten ihr / Aus Lethens Fluth gefüllte Schalen an.«72 Am »Orestesbild Angelika Kauffmanns, das Goethe in Italien zu sehen bekam«, versicherte er sich, »daß die Szene von Orests Wahntraum, Erwachen und Gesundung (111,2/3) >die Achse des Stückes< sei«.73 Seiner Gestaltung der Hadesvision in der Iphigenie war der Ausbau desselben Motivs zu einem melodramatischen Stück voraus¬ gegangen, in dem nach damaliger Gepflogenheit des Startheaters Corona Schröter monologisch der Wehmut und Trauer über ihre Verbannung in die Unterwelt nach¬ hing. Ein Jahr danach wird Iphigenie in der bunten Mythologie der ersten Fassung von Orest dazu aufgefordert, ihm in »Proserpinens Reich« (A: 68)74 zu folgen. Auch war die Proserpina bei ihrer ersten Veröffentlichung im Teutschen Merkur 1778 als Prosa gedruckt worden. Und neben identischen mythologischen Figuren samt ihrem Schick¬ sal verbinden die zwei Geburtstagsstücke sogar identische Bildvorstellungen. »Vater der Götter und Menschen!« fragt Proserpina zweifelnd, »Ruhst du noch oben auf deinem goldenen Stuhle, / Zu dem du mich Kleine / So oft mit Freundlichkeit aufhobst [.. .]?«75 Im Parzenlied wird es dann von den Olympiern schärfer heißen: »[...] der fürchte sie mehr den sie erheben, auf schroffen Klippen stehn ihre Stühle um den goldnen Tisch« (A: 98). Den Stimmungswert der Klage um Tantalus trug im Falle der Proserpina Karl Siegmund von Seckendorffs »Musik und ihre Verbindung mit Coronas Deklamation«.76 Neben rein arienmäßigem Gesang sprach Corona »die Verse meist ohne jede musikalische Begleitung, also in die Pausen, manchmal freilich auch zu einem liegenden Akkord«. »Ach, das fliehende Wasser / Möcht ich dem Tantalus schöpfen, / Mit lieblichen Früchten ihn sättigen! / Armer Alter! / Für gereiztes Verlangen gestraft!«77

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- diese »Schilderung der Strafen im Hades« begann so, »daß ein Andante lamentabile einleitend die Stimmung gab; dann beklagte Corona in fünf Versen das Schicksal des Tantalus; ein Allegro schloß sich an, und nun wurde in sieben Versen von Ixion und den Danaiden gesprochen; wieder folgte ein Allegro.«78 Mit der Proserpina hatte sich Goethe in einem Genre, dem Melo- oder Monodrama, versucht, das nach seiner Einbürgerung aus Frankreich auch auf dem Theater von Weimar und Gotha gefeiert worden war. Die Gattung kam von der Oper her, »von der Oper ward sie wieder aufgesogen; und ihre Dauer war nur die eines Jahrzehnts, bezeichnenderweise desjenigen, in dessen Mitte der Werther stand. Die Anregung hatte in Paris Rousseau mit seinem Pygmalion gegeben, einer >scene lyriqueSchmerzensköniginWie schwarz und still! / Bin ich endlich einmal angekommen / Uber des Todes Flüsse?< Das Reich der Toten erscheint ihm als Elysium, als Landschaft paradiesischen Friedens und idyllischer Milde: >Wohn’ ich im Lande des Friedens / Endlich einmal? Sichre Ruhe, / Fern von Sturm! Wie wehen / Erquickende Winde / Von Elysiums Thal herüberh Sehnsüchtig erwartet er Deliras Herabkunft: >Bald wirst du zu mir kommen, / Delira, von Dianens Pfeilen / Mir nachgesandt! Deiner Warten / Will ich auf diesen Blumenauen, / Dir entgegengrüßen / Unter diesen seligen Bäumen.< Immer drängender wird seine Erwar¬ tung, glühender seine die Wiedervereinigung ausmalende Phantasie, bis dann Wahn und Wirklichkeit ineinander übergehen: >(Er spannt die Arme aus, Delira läuft hinein.) O Götter, Götter! / Gegeben bist du mir; / Es schlingt mein Arm sich wieder / Um deinen Leib, ich fühle / Nah deines Herzens sanften Schlag. Man glaubte einen Apollo zu sehenSüßlichkeit< folgend, erweist eine statistische Stichprobe, daß der betreffende Wortgebrauch gegenüber dem Prosatext um zwei Drittel eingeschränkt wurde.99 Woran aber lag es, daß vom Programm des Liebhabertheaters ein Stück den besonderen Enthusiasmus der Kenner hervorrief, dessen Manier Goethe bei der Übersendung des »gräcisirenden Schauspiels« an Schiller (Brief vom 19. 1. 1802) so fragwürdig geworden war?100 Ob aus dem unmittelbaren Erlebnis oder aus der Erinnerung, jeweils heben die Augenzeugen den hinreißenden ästhetischen Anblick hervor. »Sein Kleid, so wie des Pylades seins war Grigisch«, berichtet die in der Mitarbeit bei anderen Aufführungen versierte Hofdame und schwärmt: »[...] ich hab ihm in meinem Leben noch nicht so schön gesehn.«101 In der Begeisterung über den überzeugenden Auftritt übertrifft sie noch der herzogliche Leibarzt: »Nie werde ich den Eindruck vergessen, den er als Orestes im griechischen Costüm [...] machte. Man glaubte einen Apollo zu sehen. Noch nie erblickte man eine solche Vereinigung physischer und geistiger Vollkommen-

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heit und Schönheit in einem Manne als damals an Goethe.«102 Was war an jenem 6. April 1779 auf der Liebhaberbühne im Hauptmannschen Haus zu Weimar geschehen?103 Goethe hatte mit seiner Erscheinung und geistigen Autorität den Lebensstil einer künstlerischen Avantgarde beglaubigt, der von seiner Partnerin und Hauptdarstellerin im Hofleben selbst vertreten wurde. Nicht nur auf der Bühne warf sich Corona Schröter in »griechische Tracht«, sondern sie »näherte den Schnitt ihrer Kleider so viel wie möglich dem griechischen« und zeigte sich in ihnen zu Wielands Entzücken in der Gesellschaft.104 Eine neue Identität von Lebensgefühl und Bühnenrolle beanspruchte nach den Rokokogriechen hier also Geltung. Kein schäferliches, spanisches, türkisches oder chinesisches Typenkostüm aus dem Fundus105 war hier zu bewundern, sondern in seiner Extravaganz eigens angefertigt,106 das frühe Signal einer neuen gesellschaftlichen Identität, die sich mit der historischen EchtheitGräcismusWir hoffen Sie sollen mit dem Portal zufrieden seyn, [Johann Ehrenfried] Schumann hat seine ganze Rafaelische und Oeseri¬ sche Ader darauf ausgegossen.. .Antike< und >Naturspartanischen< oder des mehr >athenischenwild< in dieser Szene in genau der gleichen pejorativen Bedeutung fällt wie bei Haller (V. 1910), nämlich als Inbegriff bedauerlicher Regression ins Barbarische. Vor allem wirken die gleich folgenden Zeilen, wenn sie durch zu häufiges Zitieren noch nicht ganz banalisiert sind, wie ein Echo von >Mitschigans beschneiten Ufernc Thoas. Du glaubst, es höre Der rohe Skythe, der Barbar, die Stimme Der Wahrheit und der Menschlichkeit, die Atreus Der Grieche, nicht vernahm? Iphigenie. Es hört sie jeder, Geboren unter jedem Himmel, dem Des Lebens Quelle durch den Busen rein Und ungehindert fließt.« (V. 1937-42) Hier, in der römischen Fassung zwar nicht mehr göttlich begnadet wie die griechische Priesterin - in Weimar hatte sie noch an des Thoas »edles Herz von Göttern« appelliert (A: 110) -, genießt ihr Gegenspieler im Naturbild immerhin das universell-humanitäre Vertrauen der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Säkularisierend haben an der christlich-humanistischen Tradition, in der es gewonnen wurde, Gehalt und Diktion der Goetheschen Iphigenie zweifellos teil.128 Der Stoff speziell und die ihn erfüllende Idee erscheinen bei Goethe in diesem Zusammenhang schon Jahre vor der Weimarer Dramatisierung, so daß es naheliegt, die betreffenden Zeugnisse als Indizien früherer Dramenentwürfe zu werten.129 Geistes- und formge¬ schichtlich für die Goethesche Auffassung bedeutsam, treten ihm die späteren Dramen¬ figuren in der Vermittlung durch Moralphilosophie und Kunstgeschichte entgegen. Auf theologischem Fundament nämlich stellen zur Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis eine Verquickung von beiden Gebieten Lavaters Physiognomische Fragmente dar, zu denen Goethe im Februar 1775 einen Beitrag mit dem Titel Über einige Umrisse aus Wests Pylades und Orest lieferte. »Zugrunde lag das 1766 entstan¬ dene Bild von Benjamin West >Pylades and Orestes brought as victims before IphigeniaWidersinnigkeit< tritt hervor, wo Held und Dichter, Tat und Wort einander entfremdet sind und feindlich auseinandertreten.« Aber ist die »ritterli¬ che Schwärmerei« oder die heroische nach der Krönungsszene und die schäferliche Schwärmerei von Aminta in der ersten Szene von Goethes Stück nicht im Grunde, wie Karl Vossler in anderem Zusammenhang anmerkt, »eine und dieselbe Sache«, nämlich: »Mangel an Sinn für die Wirklichkeit«100? Setzt diesem poetischen Illusionismus101 nicht das aufgeklärte Bildungsprogramm des Hofes, wie es sich in den individuellen Auffas¬ sungen des Herzogs, der Prinzessin, Leonorens und Antonios niederschlägt, eine realistische Alternative gegenüber? Was Tasso mit seinem schäferlichen Leitspruch »Erlaubt ist, was gefällt«, gegen welchen die Prinzessin mit dem bekannten polemi¬ schen Motto Guarinis zu Felde zieht (»Erlaubt ist, was sich ziemt«), eigentlich

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propagiert, ist »Genuß ohne Kampf, Freude ohne Leid«,102 eine Einstellung übrigens, welche nicht nur die Prinzessin bekämpft (11,1), die ihn angeblich »bildend [...] besitzen« soll (V. 1159), sondern vor allem auch Antonio rügt. Antonio wirft Tasso vor, daß er »gewohnt« sei, »zu siegen, überall / Die Wege breit, die Pforten weit zu finden« (V. 1289 ff.), Kränze im »Spazierengehen bequem« zu erreichen (V. 1302), daß ihm zu früh alles in den Schoß gefallen sei; er hält Tasso für einen »Müßiggänger« (V. 2002), dessen »launisch Mißbehagen« auf dem »breiten Polster seines Glücks« ruhe (V. 2969 f.). Alfons gibt er deshalb im Hinblick auf das Sorgenkind den Rat: »O sollt’ er erst erwerben, was ihm nun / Mit offnen Händen angeboten wird: / Er strengte seine Kräfte männlich an / Und fühlte sich von Schritt zu Schritt begnügt« (V. 2952-55). Wie Lotte ihrem Werther wird Antonio deshalb Tasso in der Schlußszene zurufen: »Ermanne dich! Du gibst zu viel dir nach« (V. 3406). Das ist zweifelsohne eine härtere Schule, als die beiden Damen und selbst Alfons (vgl. 1,2; 11,1) für den verwöhnten Zögling vorgesehen haben, in die er aber schließlich aus eigenem Verschulden gerät und in der er in der Tat eine Katharsis von seinen Grillen und Hypochondrien erlebt. Unter dem Aspekt der Erziehung waren der verzärtelnde Einfluß der beiden Leonoren und auch die milde Hand des Herzogs nicht eben förderliche Werkzeuge. Statt der erträumten Einheit von Poet und Heros, Dichter und Kavalier,103 was ohnedies auf eine fruchtlose Utopie nach rückwärts hinausgelaufen wäre, oder den gemeinsamen »Genuß der schönen Welt« (V. 1004; vgl. auch V. 3442ff.) zu erfahren, wie unter anderem die Prinzessin die »goldene Zeit« definiert, statt wie gewohnt »mit vollen Segeln«104 (V. 1288) zu gehen oder Freude, den höfischen Lebenswert, zu empfinden (V. 3239), die »schöne Harmonie« (V. 3060), erleidet er die Dissonanz bis zum Ichverlust, eine beispiellose Ichverkleinerung und »Zernichtung« seines Ichs (V. 3370ff.), totalen Schiffbruch (V. 3445 ff.), und erfährt er den höfischen Unwert des Leids. Aus dieser totalen Umkehrung der Situation, die sich auch darin ausdrückt, daß sein vermeintlich schlimmster Feind am Hofe, Antonio, zu seinem engsten Vertrauten und sichersten Halt wird, während seine ursprünglich vertrauteste Gönnerin, die geliebte und seine Liebe nur dezent erwidernde Prinzessin, ihn verlassen hat, freilich durch sein eigenes Verschulden, erfolgt ein Umschlag, der zum Selbstbekenntnis und damit zur Selbster¬ kenntnis führt. Wenn der historische Tasso in Über die Dichtkunst von drei qualitati¬ ven Teilen der Handlung spricht, der »Peripetie, die man Glückswechsel nennen kann; dem Anagnorismos oder dem Erkennen; und der Katastrophe (perturbazione)«,105 so läßt sich das auch auf die Handlung von Goethes Tasso anwenden. Der Glückswechsel findet statt, als Antonio auftaucht; der »Übergang vom Nichtwissen zum Erkennen« wird hier erst durch die Katastrophe des vorletzten Auftritts (V,4) ausgelöst. Mit dem Anagnorismos, hier der Selbsterkenntnis des Helden, bricht das Drama allerdings abrupt ab, ohne einen Ausblick auf das weitere Schicksal Tassos anzubieten. Es bleibt dem Leser überlassen, ob er die Leerstelle mit Informationen über das weitere Schicksal des historischen Tasso ausfüllen, seine Zuflucht zur Biographie Goethes nehmen oder sich schlicht mit dem offenen Ende des Dramas begnügen will. Torquato Tasso schildert die Identitätskrise eines Poeten im Kontext einer kleinen höfischen Gesellschaft, wie sie Goethe ähnlich in Weimar vorfand. Im ganzen Drama sind Personen, Motive, Themen antithetisch aufeinander bezogen: Tasso - Antonio, Prinzessin - Leonore, Mond - Sonne, Lorbeerkranz - Blumenkranz, Vergil - Ariost, Schmerz - Freude, Einsamkeit - Gesellschaft, Introversion - Extroversion, Woge

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(Echo)106 - Fels, Dichtung - Politik, Vita contemplativa - Vita activa, Poet - Held, Veränderlichkeit - constantia, Seele (Gefühl, Herz, natura) - Klugheit (Verstand, Kalkül, Verstellung, ars), Leidenschaft (Überschwang) - Affektkontrolle (Kälte, Maß). Tassos Einstellung zu sich selbst, zur Umwelt und zu seiner Dichtung wandelt sich im Laufe der Handlung einige Male. Er hat durchaus die proteushaften Züge, die man Wieland und Goethe, aber auch Keats und Heine nachsagte. Was sein poetisches Selbstverständnis betrifft, so versteht Tasso als Voraussetzung seiner Poesie zuerst den Hof zu Ferrara (Herzog Alfons [V. 428-444 ff.]), dann seine Liebe zur Prinzessin (V. 1092ff.) und schließlich die eigene Schmerzerfahrung,107 das pathetische Erlebnis (V,5). Dem entsprechen in der persönlichen Entwicklung:108 auf der höfischen Stufe die Sehnsucht nach politischer Entfaltung (V. 550 f.; V. 791 ff.; V. 2366 ff.), auf der erotischen Stufe der Wunsch nach egoistischer Ich- und Selbsterweiterung (Verselbstung) und auf der pathetischen das Bekenntnis der Selbstentfremdung.109 Aber der »>emblematische< Charakter der Schlußszene« legt wenigstens gleichnishaft, wie Ger¬ hard Neumann ausführt,110 eine Annäherung der Antithesen nahe: Antonio und Tasso »werden zur lebendigen >DoppelhermeNeubarockDasein heißt eine Rolle Spielern. München 1963. S. 94-119. Vgl. Walter Hinderer: Wielands Beiträge zur deutschen Klassik. In: Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. Hrsg, von Karl Otto Conrady. Stuttgart 1977. S. 44—64. Zitiert nach der von Emil Staiger vorbildlich übersetzten und eingeleiteten Edition: Torquato Tasso. Werke und Briefe. München 1978. S. 769. Ebd. S. 753 (Zweite Abhandlung Über die Dichtkunst). Borchmeyer (Anm. 34) S. 106-112. Heinz Otto Burger: Die Geschichte der unvergnügten Seele. In: Burger (Anm. 36) S. 120-143. Vgl. dazu Hanna H. Marks: Der Menschenfeind. In: Schillers Dramen. Neue Interpretationen. Hrsg, von Walter Hinderer. Stuttgart 1979. S. 109-125. Anthony, Earl of Shaftesbury: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Ed. by John M. Robertson. Indianapolis-New York 1964. S. 36 (»No poet [...] can do anything great in his own way without the imagination or supposition of divine presence, which may raise him to some degree of this passion we are speaking of.«). Vgl. auch Burger (Anm. 41) S. 140. Vgl. für diesen Zusammenhang auch das Vorspiel auf dem Theater zu Goethes Faust-, es enthält manche Parallelen zur ästhetischen Auffassung von Goethes Tasso. Siehe auch Gerhard Neumann: Konfiguration. Studien zu Goethes »Torquato Tasso«. München 1965. S. 44 f.; ebenso die Darstellung des Cortegiano bei Wilhelm Flitner: Die Geschichte der abendländischen Lebensformen. München 1967. S. 258 ff. Vgl. das Kapitel »Der Poet und das Gesetz des Dekorum« bei Borchmeyer (Anm. 34) S. 78-83. Wie Hans M. Wolff (Anm. 19) S. 66 ff. Zu Goethes Kunst der »Konfiguration« und dessen Begriff »Parallelismus im Gegensatz« (Brief an Zelter vom 25. 8. 1824) vgl. vor allem Neumann (Anm. 46) S. 11 ff., 15, 17ff. Johannes Mantey (Der Sprachstil in Goethes »Torquato Tasso«. Berlin 1959) hat eine Reihe von Themen in ihrer sprachlichen Manifestation im Drama im ersten Teil seines Buches nach übergeord¬ neten Gesichtspunkten untersucht. Für den Zusammenhang vgl. auch William E. Yuill: Lofty Precepts and Well-Tempered Madness: Generalization and Verbal Pattern in Goethe’s »Torquato Tasso«. In: German Life and Letters N. S. 31 (1977/78) S. 118, 121 f. So Wolff (Anm. 19) S. 69 ff.

Torquato Tasso 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

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B. von Wiese (Anm. 19) S. 63. Wie Silz (Anm. 30) S. 243 ff. Vgl. Goethes eingangs zitierte Ausführungen gegenüber Eckermann am 6. 5. 1827. Siehe dazu die Bestimmungen bei Roman Jakobsen: Linguistik und Poetik. In: Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Hrsg, von Heinz Blumensath. Köln 1927. S. 126. Vgl. Rasch (Anm. 28) S. 104-113; ebenso Neumann (Anm. 46) S. 54ff. Neumann (Anm. 46, S. 83-91) kommt in diesem Zusammenhang zu anderen Ergebnissen. Vgl. Tassos Aminta in der Edition von Staiger (Anm. 38) S. 91. Im Gespräch mit Fr. von Müller am 23. 3. 1823 (GA 23,254). Vgl. dazu Neumann (Anm. 46) S. 101-108. Ebd. S. 102. Die Metapher wird dann Annette von Droste-Hülshoff in der letzten Strophe ihres Gedichts Mondesaufgang in eine ähnliche Beziehung stellen. Vgl. dazu auch die verwandte Metaphernreihe »neuer Tag« (V. 758), »neues Leben« (V. 864), »neue Welt« (V. 855), »schöner Tag [...], goldne Zeit« (V. 1046 f.), »das helle Licht des Tags« (V. 2800) usw.

64 Vgl. Lawrence Ryan: Die Tragödie des Dichters in Goethes »Torquato Tasso«. In: SchillerJahrbuch 9 (1965) S. 298 ff.; s. auch Marie-Luise Waldeck: The Princess in »Torquato Tasso«. In: Oxford German Studies 5 (1970) S. 16ff., 20ff., 23. 65 Was auch Schiller immer wieder in seinen Dramen thematisiert. 66 Der ursprünglich von Guarini (vgl. dazu Fischer [Anm. 24] S. 276 f.) gegen Tasso formulierte Gegensatz wird hier von Goethe geschickt zur Charakterisierung der Positionen von Dichter und Prinzessin verwendet. 67 Vgl. Heinz Otto Burger: Europäisches Adelsideal und Deutsche Klassik. In: Burger (Anm. 36) S. 211-232. 68 Das Verb »schätzen« am Schluß dieses Zitats gehört in den Kontext der Motivreihe »Schatz«, die sich durch den ganzen Text zieht. 69 Anm. 15, S. 224. 70 Vgl. dazu Fausts Verhältnis gegenüber Helena (Faust II, V. 6560ff., V. 9270ff.). 71 Vgl. dazu Karl Reinhardt: Die klassische Philologie und das Klassische. In: Burger (Anm. 27) S. 92 ff. 72 Das Alfons, Antonio, Leonore und selbst auf ihre Weise die Prinzessin verkünden. 73 Für den Zusammenhang vgl. Erhärt Kästner: Wahn und Wirklichkeit im Drama der Goethezeit. Leipzig 1929. S. 23 f., 26; vor allem auch die Studien von Yuill (Anm. 50, S. 124 f.), John R. Williams (Reflections on Tasso’s Final Speech. In: Publications of the English Goethe Society N. S. 47 [1977] S. 47f.) und Mark Boulby (Judgment by Epithet in Goethe’s »Torquato Tasso«. In: Publications of the Modern Language Association 87 [1972] S. 167 ff.) 74 Vgl. dazu Antonios Ausführungen, V. 1237 ff. 75 Zur Motivreihe vgl. z. B. V. 2463, 2749, 3085; s. dazu Kästner (Anm. 73) S. 25, vor allem auch Boulby (Anm. 73) S. 167. 76 Die Begriffe >BetrugScheinVertrauen< bilden eine weitere repräsentative Motivreihe (vgl. etwa HA 5,147f. 157.163 ff. 166: Verstellung/Schein; HA 5,99f. 123.130.151.153f.: Vertrauen). 77 Diesen Zug sagte man vielen Dichtern nach: so Wieland, Goethe, Heine und Keats. 78 Vgl. dazu die Äußerung der Prinzessin: V. 1906-13. 79 Zur dichterischen Selbsterkenntnis Tassos vgl. die anregende Studie von Ryan (Anm. 64) S. 309ff., 320 ff. 80 Auch hierfür läßt sich im Text eine ganze Motivreihe nachweisen (HA 5,89.94.111.118.126. 130.160.161). 81 Das hier verkündete Programm gleicht zum Teil wörtlich einer Tradition, die auch Wieland in seinen Verserzählungen zitiert. 82 Kaiser (Anm. 22) S. 186. 83 Ebd. S. 179 ff. 84 Kaiser bemerkt in diesem Zusammenhang: »Das Leben droht zur Dichtung, die Dichtung zum Leben zu werden« (ebd. S. 194). 85 Die Schilderung Antonios von der Macht des Papstes hinterläßt bei Tasso einen unauslöschlichen Eindruck. 86 Was keineswegs immer der Fall ist. Tasso reagiert oft ganz spontan, aus Stimmungen heraus.

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87 Elizabeth M. Wilkinson (Goethe’s »Torquato Tasso«. In: W. / Willoughby [Anm. 26] S. 75-94) dagegen deutet diese Stelle als spontane Dichtungsfragmente. 88 Tasso beklagt sich, daß der Herzog ihn in politischen Fragen nicht um Rat fragt. Er möchte die Trennung zwischen Dichter und Politiker aufheben. Das Problem der verlorenen Einheit hat-seine berühmteste Darstellung in Schillers Schrift Über naive und sentimentaliscbe Dichtung gefunden. 89 Im Stile von Tassos Aminta. Zum Thema vgl. auch Lieselotte Blumenthal: Arkadien in Goethes »Tasso«. In: Goethe. N. F. d. Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft 21 (1959) S. 1-24. 90 Vgl. dazu auch Kaiser (Anm. 22) S. 205; Neumann (Anm. 46) S. 153 f. 91 Im Hinblick auf den historischen Tasso bemerkte Karl Vossler (Tassos »Aminta« und die Hirten¬ dichtung. In: K. V.: Die Romanische Welt. München 1965. S. 181-193): »Die ritterliche Schwärme¬ rei und die schäferliche sind im Grunde eine und dieselbe Sache: Mangel an Sinn für die Wirklichkeit ihre gemeinsame Quelle« (S. 182). 92 Anm. 22, S. 180 ff. 93 Ryan (Anm. 64) deutet den Zusammenhang mit der Formel: »der antizipierte Weltbesitz schlägt in Weltverlust um« auf andere Weise. 94 Tasso allein hält im Drama fünf (z. T. ausführliche) Monologe, davon drei in dem wichtigen 4. Akt. Die Männer (Alfons und Antonio) des Hofes sprechen bezeichnenderweise nicht selbst ihre inneren Gedanken und Gefühle aus. 95 Vgl. dazu Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 21954. S. 181 ff.; zum Thema s. Rasch (Anm. 28) S. 113-125. 96 Zur Antonio-Figur vgl. die Ausführungen von Rasch (Anm. 28) S. 165 ff. 97 Vgl. die durchaus ähnlichen höfischen Demutsgebärden von Tasso (V. 930 ff., 1568 ff., 2304 ff.) und Antonio (V. 640ff., 1646ff.). 98 Vgl. Goethes berühmte Definition von klassisch und romantisch gegenüber Eckermann vom 2. 4. 1829. 99 Anm. 28, S. 118. 100 Anm. 91. 101 Ebd. S. 185. 102 Ebd. S. 191. 103 Vor einer allzu direkten Zuordnung Goethes zu Tasso mag ein interessanter Hinweis Friedrich Sengles (Anm. 27, S. 261) warnen: Um die Zeit, als Goethe dem Meister Wieland für seinen Oberon einen Lorbeerzweig übersandte, gab er sich selbst »als großer Herr ohne dichterischen Ehrgeiz, als dichtender Kavalier«. 104 Hinweis auch bei Wilkinson (Anm. 87) S. 91 f. 105 Staiger (Anm. 38) S. 772. 106 Zur Deutung von Echo vgl. Förster (Anm. 23). S. 23, Anm. 2. 107 Vgl. Benno von Wiese (Die deutsche Tragödie von Lessing bis Hebbel. Hamburg 71967. S. 100) und Emil Staiger (Anm. 22) S. 423 f. 108 Wertheim (Anm. 29, S. 85) setzt mit ihren Stufen der Steigerung ganz andere Akzente. 109 Auch Ernest Ludwig Stahl (Tasso’s Tragedy and Salvation. In: German Studies presented to Leonard Ashley Willoughby. Oxford 1952. S. 194) notiert »Self-estrangement« als ein »recurrent theme in Goethe’s work«. 110 Anm. 46, S. 154. 111 Ebd. 112 Anm. 87, S. 94.

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Die kleineren Dramen zum Thema Französische Revolution: Der Groß-Cophta, Der Bürgergeneral, Die Aufgeregten, Das Mädchen von Oberkirch

Die Texte1 Der Conte di Rostro nutzt das zeitgenössische Prestige von Geheimgesellschaften, um einen Kreis von Adligen mit dem Versprechen sich gefügig zu machen, daß er sie nach gebührender Vorbereitung in die Loge des Groß-Cophta einführen werde, als der er sich der Gesellschaft schließlich selbst präsentiert. Durchschaut wird er von einer Marquise, die - wiederum vom Groß-Cophta ein Stück weit durchschaut und alsbald mit ihm die Bälle sich zuspielend - ihrerseits ein freches Betrugsmanöver in Arbeit hat: einem Domherrn, der bei Hof in Ungnade gefallen ist und nicht nur rehabilitiert werden, sondern auch die Zuneigung der Prinzessin gewinnen will, vermag sie mit Hilfe fingierter Briefe vorzumachen, daß es ihr gelungen sei, die Prinzessin für ihn günstig zu stimmen. Als letzten Beweis seiner Ergebenheit erwarte diese nun, so läßt die Marquise wissen, daß der Domherr für die Kaufsumme eines sehr kostbaren Halsbandes bürge. Der Domherr schließt mit den Hofjuwelieren den Kaufkontrakt und übergibt der Marquise das Halsband; als Lohn wird ihm ein nächtliches Rendez¬ vous mit der Prinzessin im Schloßgarten in Aussicht gestellt. Die Nichte der Marquise soll dort die Prinzessin agieren, danach wird sich das Gaunertrio - der zugehörige Marquis, ein ausgemachter Strizzi, hat mit dem Halsband und der Nichte freilich seine eignen Pläne - nach England absetzen. Aber im letzten Moment wird das Komplott verraten, die Schweizergarde kann in aller Ruhe abwarten, bis sich die ganze Mann¬ schaft, zu der, um nicht leer auszugehen, auch der Groß-Cophta stößt, im Garten versammelt hat, dann schlägt sie zu. Das »Lustspiel in fünf Aufzügen«, 1791 entstan¬ den, wurde noch im Dezember desselben Jahres in Weimar uraufgeführt. Schnaps, die komische Figur einer französischen Posse, welche auf dem Weimarer Theater mit Erfolg gegeben und von ihrem deutschen Bearbeiter mit einer ebenfalls erfolgreichen Fortsetzung versehen worden war, wird 1793 vom Theaterdirektor Goethe selbst in einer »zweiten Fortsetzung« noch einmal produziert. In diesem »Lustspiel in einem Aufzug« kann er Märten, einem die Zeitungen lesenden und sich um die »Welthändel«, vor allem die Vorgänge in Frankreich kümmernden Bauern, einreden, ein Abgesandter des Jakobinerklubs in Paris habe ihn, Schnaps, bei einer konspirativen Begegnung soeben zum »Bürgergeneral« ernannt und ihn beauftragt, in dieser Region mit geeigneten Helfern die Revolution in Gang zu bringen. Als er Märten, den er zu seinem Korporal ernennt und nach dem Sieg der Revolution zum Richter zu machen verspricht, unverzüglich in die Geheimnisse des revolutionären Kampfes einzuführen beginnt, kommen seine wahren Absichten zum Vorschein: er ist scharf auf ein gutes Frühstück und richtet die »Exempel«, mit denen er seine Unterwei¬ sung veranschaulicht, so ein, daß er sich aus den wohlgefüllten Schränken bedienen

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kann. Aber wie er sich gerade zu Tisch setzen will, kommt Martens Schwiegersohn Görge dazwischen, es setzt Prügel, und der Lärm zieht den Richter ins Haus. Der verdächtigt die ganze Gesellschaft der revolutionären Umtriebe und freut sich bereits auf eine leckere Untersuchung. Da tritt jedoch mit dem Edelmann die Dorfherrschaft in Erscheinung, und alsbald ist die Angelegenheit mit leichter Hand geordnet: wenn sich herausstelle, daß hinter dem ganzen Spektakel tatsächlich nur wieder einer von Schnapsens notorischen Streichen stecke, so müsse »eine solche Kleinigkeit nicht gerügt werden; sie erregt nur Schrecken und Mißtrauen in einem ruhigen Lande. Wir haben nichts zu befürchten. Kinder, liebt euch, bestellt euren Acker wohl und haltet gut haus.« Das Stückchen wurde im Mai 1793 in Weimar uraufgeführt. »Eine deutsche Gräfin, die gerade das revolutionäre Frankreich bereist hat, entschließt sich, ihren Bauern in einem alten Disput über eine Straßenfron, die diese widerrechtlich leisten müssen, entgegenzukommen. Goethe versäumt nicht, die Motive, welche die Begleichung dieser Sache verzögert haben, im menschlichsten Licht zu zeigen. Die Dame prozessiert nicht gern, und außerdem möchte sie dem Erbgrafen, der noch ein Kind und Halbwaise ist, sein Erbe ungeschmälert erhalten. Nachdem aber der böse Amtmann, der das strittige Dokument mit niedrigen (gewinnbringenden) Absichten hinterzogen hat, entlarvt ist, steht einer Versöhnung zwischen liberaler Herrschaft und loyalen Untertanen nichts mehr im Wege. Die >Aufregung< erscheint hinterher als Mißverständnis, das sich bei besserer Orientierung aller Beteiligten hätte vermeiden lassen. Daß es überhaupt zu einer Art von dramatischem Konflikt kommt, ist das zweifelhafte Verdienst eines Barbiers namens Breme, der den Kopf voll angelesener revolutionärer Phrasen hat und die fränkische Bewegung nach Deutschland verpflanzen möchte, wo sie bekanntlich nichts zu suchen hat. Dank mildernder Umstände - seiner Harmlosigkeit - kann er auf den Gnadenweg verwiesen werden.«2 Das »politische Drama in fünf Aufzügen« Die Aufgeregten ist Fragment geblieben: ein großer Teil des dritten und der gesamte fünfte Aufzug sind von Goethe nur in einer Inhaltsskizze ausgeführt worden. Die Handlung des vierten Textes schließlich »geht in Straßburg vor«: eine Gräfin empfängt den Besuch ihres Neffen, eines Barons, der ihr Nachrichten von ihren gefährdeten elsässischen Gütern und Briefe von ihren nach Deutschland emigrierten Söhnen und Töchtern bringt. Darüber hinaus aber hat er ihr noch etwas ziemlich Heikles mitzuteilen: sich selbst auf den Boden der Tatsachen, also der Revolution stellend, hat er die Absicht, die ehemalige Aufwärterin der Gräfin zu heiraten, weil »eine solche Verbindung jetzt für unsereinen so nützlich, so erwünscht und notwendig [ist], als ehmals die Verbindung mit den größten und reichsten Häusern sein konnte«. Eine »politische« Heirat also, zwar ein bißchen neu selbst den neuen Umständen nach, aber im Grunde wie gehabt, und insofern läßt sich ja auch darüber reden. Aber: er liebt diese Marie, zum Interesse kommt wirkliche Neigung, und das raubt der Tante die Fassung. Da aber unvermittelt - Diener, Besucher zu melden, hat man nicht mehr! der Prediger Männer das Zimmer betritt und über den Grund der spürbar dicken Luft aufgeklärt wird, kommt es doch noch zu einer sofortigen Auseinandersetzung über den Heiratsplan des Barons, und es wird versucht, aufgrund einer Einschätzung der Revolution die richtige Strategie des Verhaltens von Adligen zu bestimmen. Mitten in dieser Debatte, also mitten im 2. Auftritt des 1. Aktes, bricht Das Mädchen von Oberkirch, ein »Trauerspiel in fünf Akten«, ab.

Der Groß-Cophta - Der Bürgergeneral - Die Aufgeregten - Das Mädchen von Oberkirch

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Es handelt sich also um keine hervorragenden Stücke, bei diesem Häuflein von Goethes »kleineren Dramen zum Thema Französische Revolution«: nur ein einziger Text käme überhaupt als Spielvorlage für einen veritablen Theaterabend in Frage, die übrigen: eine Posse, ein Fragment, ein Bruchstück. Für ein Goethe-Museum wäre das gewiß eine klägliche Abteilung. Und eine Literaturwissenschaft, die Goethe wie ein Museum verwalten mochte, hat diese Abteilung denn auch zumeist unter Verschluß gehalten. Einer der wenigen Versuche in neuerer Zeit, sich ernsthaft mit einem dieser Texte auseinanderzusetzen, stammt von Lieselotte Blumenthal; ihre sorgfältige und vieles verständlicher machende Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des GroßCophta beginnt mit der zutreffenden Feststellung: »Das Lustspiel Der Großkophta hat einen schlechten Ruf: es gilt als ein mißlungenes Stück, und mit dem Bürgergene¬ ral und den Aufgeregten zusammen bezeichnet es den Tiefstand von Goethes dichteri¬ schem Schaffen. Diese Meinung hat von Anfang an bestanden [.. .].«3 Und als 1970 Adolf Muschgs Bearbeitung der Aufgeregten im Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt wurde, konstatierte Siegfried Melchinger in einer Kritik des Stücks und der Inszenie¬ rung: »Goethe schrieb eine Satire auf die Französische Revolution. Muschg schrieb eine Satire auf die Satire auf... Da den halbfertigen, halbskizzierten Text Goethes keiner kennt, kann sich die Satire nicht gegen das Stück richten, sondern nur gegen den Autor.«4 Es scheint sich also in jedem Fall bei diesen Stücken um mißlungene und daher offenbar zu Recht unbekannte Arbeiten zu handeln. In der Tat kann auch eine neue Interpreta¬ tion dieser Texte nicht den Ehrgeiz entwickeln, das seit langem feststehende ästhetische Urteil über sie einer Revision zu unterwerfen: zu offenkundig sind die dramaturgisch¬ technischen Fehler des Groß-Cophta, allzu leichtfertig springt die Posse vom Bürgerge¬ neral mit der mächtigsten Tendenz des Zeitalters um, und die beiden restlichen Texte signalisieren ein Scheitern schon durch die Tatsache, daß sie erst gar nicht vollendet wurden. Eine Wiederaufnahme des Prozesses über die Qualität dieser Arbeiten hat wenig Sinn. Es fragt sich aber, ob die Folgerung, die aus diesem ästhetischen Mißlingen seit jeher gezogen wird, nicht einer Revision zu unterwerfen ist, die Folgerung etwa, diese Arbeiten einfach zu verdrängen, um das Bild von einem allzeit »großartigen Gelingen«5 Goethes nicht zu trüben. Es fragt sich, ob nicht gerade eine Analyse von Goethes Scheitern die Auseinandersetzung mit diesem Autor noch oder wieder lohnend und lebendig machen könnte6 und ob sich das nicht in besonderem Maße an seinen mißlungenen - Versuchen praktizieren ließe, das Thema Französische Revolution auf das Theater zu bringen. Von der Frage nach den Gründen dieses Mißlingens hat sich bereits Fritz Martini viel versprochen, als er in einer Analyse von Goethes »verfehlten« Lustspielen neben den Mitschuldigen auch den Groß-Cophta untersuchte.7 Sein Interesse kennzeichnete Mar¬ tini jedoch so: »Wir gewinnen für Goethe nicht viel, denn seine Lustspiele bleiben im Vorhof seiner Kunst. Wenn wir hier der Struktur dieses Spiels ein wenig Aufmerksam¬ keit gönnen, geschieht es aus der Erwartung, daß für das objektive ästhetische Problem des Lustspiels, für seine >Kunstgeschichte< vielleicht auch eine Analyse seiner Verfeh¬ lung einen Aufschluß geben kann.«8 Auch Martini hält also daran fest, daß »für Goethe« nur etwas zu gewinnen sei durch die Vergegenwärtigung seiner »Kunst«, eines Heiligtums offenbar, dessen »Vorhöfe« zu betreten sich erübrigen würde, wenn nicht

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ein spezielles wissenschaftliches Interesse gelegentlich einen Besuch als ergiebig erschei¬ nen ließe. Im Gegensatz dazu wird hier davon ausgegangen, daß durch eine Beschäftigung mit seinen mißlungenen Versuchen, das Thema Französische Revolution dramatisch zu behandeln, »für Goethe« durchaus etwas zu gewinnen sei, insofern daraus »für uns« etwas zu lernen ist: wenn wir nämlich fragen, wie Goethes ästhetisches Scheitern in diesen Texten mit deren politischer Tendenz zusammenhängt. Goethe war bekanntlich kein Jakobiner. Hat sich die Art und Weise, wie er das nicht war, in der ästhetisch »verfehlten« Art und Weise ausgedrückt, wie er das Thema Französische Revolution auf das Theater zu bringen versuchte?

Kann man 1793 Galotti heißen? Die politische Tendenz der Aufgeregten hat Adolf Muschg zum Gegenstand einer Analyse des Stücks gemacht, einer Analyse freilich nicht im Medium einer literaturwis¬ senschaftlichen Untersuchung, sondern in dem einer literarischen Bearbeitung, einge¬ denk der von der Literaturwissenschaft sehr oft außer acht gelassenen Tatsache, daß bei einem dramatischen Text »Interpretation« ja zunächst und vor allem seine theatralische Realisierung bedeutet. Dabei, so hat Muschg erläutert, »konnte es natürlich nicht darum gehen, den fehlenden Text - den fünften Akt und den größten Teil des drittenentweder >Goethes Form sich nähernd< oder forsch von ihr abgesetzt für das Theater zu ergänzen. Das eine wäre unverschämte Bescheidenheit, das andere Rechthaberei mit andern Mitteln gewesen. Was die Bearbeitung nach Möglichkeit herzustellen hatte, war nicht zuerst der Text, sondern der Kontext von Goethes Fragment: der historische (zur Korrektur von Goethes Typenkomödie) und der aktuelle (für das Bewußtsein des modernen Publikums). Erst aus beidem ergaben sich hinlängliche Kriterien für eine Revision des Goetheschen Fragments.« Anlaß seiner Bearbeitung sei gewesen, daß Goethe - rechtbehaltend mit einer »subjektiv kavaliersmäßigen, objektiv zynischen Behandlung des deutschen Citoyen« - sich sein Rechthaben »vielleicht etwas zu leicht machte, daß es Souveränität von der falschen Seite war, daß den Nachgeborenen genau an den Stellen, wo ihnen Lachen befohlen wird, das Lachen vergangen ist«.9 Muschgs Kritik an der politischen Tendenz der Aufgeregten von Goethe richtet sich mithin gegen die Anlage des Stücks als »Typenkomödie«. Also versucht er, über eine entsprechende Bearbeitung die politische Tendenz zu korrigieren, indem er die ästheti¬ sche Anlage verändert. Sie setzt völlig konsequent an bei der Figur des Breme von Bremenfeld, des Organisators der »aufgeregten« Bauern. Ein weitgehender Umbau dieser Figur ist der wichtigste Handgriff der Bearbeitung. Goethes Breme ist Chirurgus, d. h. Barbier: er ist der Figaro. Und der ist - bei Beaumarchais - dem Jahrmarkt-Theater entsprungen.10 An diese Tradition hatte Goethe indessen längst auch einen eigenen direkten Anschluß gefunden: »Wie der Einakter Die Mitschuldigen durch Moliere hindurch an die Commedia dell’arte, schließen sich Das Jahrmarktfest zu Plundersweilern, das Fastnachtsspiel vom Pater Brey, dem falschen Propheten und Satyros oder der vergötterte Waldteufel an die Revuetechnik des Fastnachtsspiels, der Hanswurstiade und des Puppentheaters, Der Bürgergeneral und selbst Die Aufgeregten an die zeitgenössische Posse und durch sie

Der Groß-Cophta

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Der Bürgergeneral

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Die Aufgeregten - Das Mädchen von Oherkirch

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hindurch wiederum an das Typenmaterial der Commedia dell’arte an. Durchweg zeigt sich die gleiche Spielkonstellation und Spieltechnik: es wird ein Betrüger oder Heuchler demaskiert, ad absurdum geführt, und die Verwirrungen und Verstörungen, die er mittels seiner Masken und Listen anrichtete, durch sein fingiertes Spiel im fiktiven Spiel verschuldete, können ohne große Mühe unschädlich gemacht werden. So Pater Brey und der Satyros, so Schnaps der Bürgergeneral und Breme von Bremenfeld in den Aufgeregten, und so auch der Groß-Cophta [.. Breme ist zwar der Figaro, aber weit mehr als Beaumarchais’ Figaro bleibt er der theatralischen Sphäre verhaftet, der er entstammt.12 Als Rädelsführer eines zaghaften, gar nicht recht zum Ausbruch kommenden Bauernaufstandes ist er halb Lustige Person, halb komische Figur, wie er da prätentiös sich in die Welthändel mischt, wie er seine vielseitig unklare bürgerliche Existenz zur »verehrungswürdigsten« auf dem »ganzen Erdboden« (1,4) emporschwadroniert, wie er durch sein wichtigtuerisches Gefuchtel mit angeblich weitläufigen politischen Konnexionen die Bedenklichkeiten der mißver¬ gnügten Bauern gegenüber einer gewaltsamen Aktion gegen ihre Herrschaft beschwich¬ tigt, nicht ohne seinen Revolutionsgewinn sich vorab zusichern zu lassen: Schuldener¬ laß, Übereignung eines Grundstücks, günstige Plazierung seiner Tochter. All dies ist mit leichter Hand arrangiert und ständig durchschaubar gehalten und wird, ohne daß nennenswerter Schaden hätte entstehen können, zum Schluß milde abgestellt. Adolf Muschg nun, in der Absicht, diese »kavaliersmäßige« Darstellung eines höchst gerechtfertigten Bauernaufstandes als Typenkomödie politisch zu korrigieren, versucht in seiner Bearbeitung, die Figur des Breme zum Helden eines bürgerlichen Trauerspiels umzustilisieren, also die Typenkomödie in ein bürgerliches Trauerspiel zu verwandeln. »Galotti müßte man heißen«, läßt er seinen Breme im 4. Auftritt sagen, und die Art und Weise, wie er diese Figur im weiteren durchgestaltet, läßt in der Tat die Intention erkennen, mit ihr einer ebenso entschieden wie trickreich ihre Privilegien verteidigen¬ den Feudalklasse - repräsentiert durch die von Muschg entsprechend veränderte Gräfin - einen ebenso entschlossenen wie listigen Widerpart entgegenzusetzen, einen Galotti, der sich zum Jakobiner gemausert hat, einen Galotti also des Jahres 1793: gewillt, revolutionäre Gewalt anzuwenden. Im 25. Auftritt läßt Muschg den Breme Flaschen präparieren, die man »auch werfen« kann, sozusagen Babeuf-Cocktails. Muschgs Kritik an Goethes Stück läuft darauf hinaus, daß es kein bürgerliches Trauerspiel ist, und der Bearbeiter ist bemüht, dieses historische Versäumnis - mit dem Blick auf den »aktuellen Kontext« - nachzuholen. Nun verhält es sich aber so, daß das bürgerliche Trauerspiel als Revolutionsdrama, daß der Held des bürgerlichen Trauerspiels als Revolutionär ein ästhetisch-dramaturgisches Unding ist. Das bürgerliche Trauerspiel, dramaturgisches Konzept eines Theaters als »moralische Anstalt«, war entwickelt worden als Medium einer »Prozeßführung«, als Instrument einer »indirekten Gewaltnahme«.13 Die Darstellung einer direkten Gewaltnahme, der revolutionären (Massen-)Aktion entzieht sich seinen dramaturgischen Möglichkeiten, seinem auf Diskussionen angelegten Kommunikationszusammenhang. Galotti verkörpert eine moralische Position; er und seinesgleichen hatten auf der Schaubühne die moralische Überlegenheit der bürgerlichen Welt über ein korruptes Feudalsystem argumentierend zu vertreten. Die Revolution überholt ihn, und in Versuchen ihrer theatralischen Darstellung und Selbstdarstellung hat er nichts mehr verloren, da stünde er nur im Wege.14 Adolf Muschgs Breme stimmt, wo er argumen-

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tiert und anklagt, dort, wo er die Bühne zur moralischen Anstalt macht. Aber wo er mit seinen Flaschen hantiert, wo er zum Revoluzzer wird, wirkt auch er, freilich auf andere Weise als Goethes Breme, unfreiwillig komisch: weil er ästhetisch und politisch unangemessen ist. So sehr es zutrifft, daß sich die politische Tendenz von Goethes Fragment in der Spielanlage realisiert, an die Goethe sich hier hält, also im Medium der Typenkomödie, so wenig kann es gelingen, diese Tendenz dadurch zu korrigieren und zu verändern, daß man das Stück an eine andere Tradition anzuschließen sucht: an die des bürgerli¬ chen Trauerspiels. Diese Form stand weder 1793 noch späterhin für die Darstellung einer Revolution zur Verfügung. Das Mißverständnis, dem Adolf Muschg unterlag, als er von der gegenteiligen Annahme ausging, gibt freilich Anlaß, den Zusammenhang von politischer Tendenz und ästhetischer Organisierung im Groß-Cophta, im Bürger¬ general und in den Aufgeregten genauer zu bestimmen.

Possen. Nichts als Possen Wenn Goethe in diesen Stücken mit den Mitteln der Typenkomödie arbeitet, dann geschieht das zweifelsohne in denunziatorischer Absicht. Dem Gegenstand der Denun¬ ziation nach unterscheidet sich Der Groß-Cophta allerdings erheblich von den beiden andern Stücken. Bekannter als das Lustspiel vom Groß-Cophta selbst scheinen Goethes Äußerungen darüber zu sein, was ihn an seinem Stoff, einer Pariser Skandalgeschichte, die 1785 sich zugetragen und als »Halsbandaffäre« breite europäische Publizität erfahren hatte, so sehr beschäftigte und verstörte, daß er noch Jahrzehnte später, Eckermann gegenüber, feststellte: »[...] das Factum geht der Französischen Revolution unmittelbar voran und ist davon gewissermaßen das Fundament«.15 Ein Drama zum Thema Französische Revolution ist Der Groß-Cophta also insofern, als Goethe mit ihm einen Vorfall auf das Theater zu bringen suchte, der ihm die Korruptheit des Ancien regime in Frankreich zu besiegeln schien. In einem wesentlichen Punkt allerdings weicht Goethe vom Verlauf der historischen Halsbandgeschichte ab, und schon das gibt einen Fingerzeig, diesem Punkt bei der Bestimmung der politischen Tendenz des Stücks besondere Aufmerksamkeit zuzuwen¬ den: Das historische Vorbild des »Conte di Rostro« ist der Abenteurer Cagliostro, der aber war, wie Goethe sehr wohl wußte, weder »der Initiator noch der Regisseur noch der Hauptdarsteller« der Halsbandgeschichte, vielmehr spielte er »nur in den ersten Akten die Nebenrolle eines betrogenen Betrügers«.16 Auch für die Halsbandgeschichte in Goethes Stück hat er nur eine Nebenrolle inne; gleichwohl setzt Goethe alles daran, ihn als Haupt- und Titelfigur zu präsentieren, ein eklatanter »Widerspruch zwischen Titel und Inhalt«: »Die Handlung wird von der berühmten Halsbandgeschichte bestritten, doch das Stück heißt Der Großkophta. Goethe hat Cagliostro, der als Erzzauberer, Magier und Erneuerer der ägyptischen Freimaurerloge auftrat, zum Helden seines Lustspiels und, gegen die Geschichte, auch zum Mittelpunkt der Halsbandaffäre machen wollen [.. .]«.17 Fritz Martini hat auf die ästhetische Funktion dieser auffälligen Veränderung der historischen Vorlage des Stücks hingewiesen: Cagliostro als seine Hauptfigur sollte

Der Groß-Cophta - Der Bürgergeneral - Die Aufgeregten - Das Mädchen von Oberkirch

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»das Lustspiel zum Lustspiel machen«.18 Die Halsbandgeschichte, Symptom des höfi¬ schen Trauerspiels, soll mithin in Goethes Stück durch das Treiben des falschen Conte zur Posse werden. Das gelingt nicht, kann nicht gelingen, weil, wie Goethe und viele Zeitgenossen genau empfunden hatten, es sich bei dem Pariser Skandal eben nicht um eine bloße Posse gehandelt hatte. Trotzdem bemühte sich Goethe, ihn als solche darzustellen, und um dies ästhetisch zu ermöglichen, collagiert er den Conte in das Komplott. Aber gerade im ästhetischen Mißlingen dieser Operation decouvriert sich deren politisches Motiv, die Absicht, die politische Bedeutung der Halsbandaffäre herunterzuspielen - allerdings nicht im Sinne einer Entlastung der »alten Ordnung« oder gar eines Plädoyers für sie. Goethe führt sehr wohl die Hinfälligkeit dieser Ordnung vor, aber eben nur, soweit sie derlei Possen produziert. Dies aber, das ist die politische Suggestion - und Autosuggestion - des Stücks, tut sie keineswegs durchweg, also überall: nach Weimar beispielsweise hatte man ja schließlich nicht den Cagliostro, sondern Goethe kommen lassen. So richtet sich das Lustspiel durchaus gegen das Ancien regime, es konzediert sogar die Notwendigkeit einer Revolution in Frankreich, plädiert damit aber noch lange nicht für die Revolution als historisches Gesamtphänomen, als Ziel der bürgerlichen Klasse. »Wo ein Gesamtphänomen bürgerlicher und plebejischer Emanzipation zu konstatie¬ ren war, weigert sich Goethe, anderes sehen zu wollen als einen national-französischen Rückschlag auf das korrupte Königtum der Bourbonen.«19 Die verkürzende Wahrneh¬ mung der säkularen Bedeutung einer bürgerlichen Revolution veranlaßt Goethe zur Darstellung der Halsbandaffäre als Lustspiel, und sie ist auch im einzelnen verantwort¬ lich für dessen eklatante technische Fehler. Die ästhetisch hergestellte politische Denunziation geht so zwar von dem Faktum aus, daß die Revolution von der Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt wurde, das Problem aber, das sie zu bearbeiten sucht, ist: eben diesem Faktum Grenzen zu setzen. Auch im Bürgergeneral und in den Aufgeregten versucht Goethe, das Problem im Sinne einer politischen Geographie zu lösen. Paris, das revolutionäre Zentrum, ist weit entfernt. Im deutschen Hinterland - »in so weiter Entfernung vom eigentlichen Schauplatz des Unheils«, weit »ostwärts von der großen Weltbegebenheit« habe man sich, schreibt Goethe in der Campagne in Frankreich, in Weimar befunden - lebt man an der Peripherie, wo die Voraussetzungen ja in der Tat ganz andere sind. Aber dieses Verhältnis von Zentrum und Peripherie ist für Goethe kein dialektisches, die Peripherie ist für ihn nicht das historisch Verspätete, sie ist für ihn vielmehr die entschiedene Alternative zur Bewegung im Zentrum. Und wer, so argumentiert er mit den beiden Stücken, das nicht begreifen will, der macht sich lächerlich: auch in der Posse Der Bürgergeneral und in den possenhaften Zügen der Aufgeregten realisiert sich die politische Tendenz in der Wahl der Spielanlage. Beide Stücke zeigen zu Beginn - und zeigen damit vor, was sie politisch zu bearbeiten gedenken -, wie die ferne Französische Revolution im deutschen Hinterland in die Phantasie eingreift und Lebensgewohnheiten verändert. Die Männer - in den Aufgereg¬ ten - haben abends länger zu disputieren, die Frauen, ihrer wartend, mehr zu stricken, es wird also weniger geschlafen. Aber das führt zu nichts Gutem. Weil der Hofmeister »alle Abend« mit Breme und dem alten Pfarrer zusammenhockt, um die »Zeitungen und Monatsschriften« zu lesen und zu diskutieren, vernachlässigt er seine Pflichten, und das geht so weit, daß sich der junge Graf, völlig übermüdet und sich selbst

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überlassen, gefährlich verletzt. Märten, im Bürgergeneral, ist im Gegensatz zu seiner tüchtigen Umgebung für Schnapsens Mystifikation anfällig, weil er ebenfalls mit großer innerer Anteilnahme die französischen Vorgänge in den Zeitungen verfolgt. Daraus entsteht jedoch nichts als Possen. Wo nämlich so prächtige Figuren wie der Edelmann im Bürgergeneral und die Gräfin in den Aufgeregten die Fäden in der Hand halten, da bleibt die Revolution für alle Zukunft äußerlich. »In einem Lande«, so kann der Edelmann zum guten Schluß festhalten, »wo der Fürst sich vor niemand ver¬ schließt; wo alle Stände billig gegeneinander denken; wo niemand gehindert ist, in seiner Art tätig zu sein; wo nützliche Einsichten und Kenntnisse allgemein verbreitet sind - da werden keine Parteien entstehen. Was in der Welt geschieht, wird Aufmerk¬ samkeit erregen; aber aufrührerische Gesinnungen ganzer Nationen werden keinen Einfluß haben.« Wer das anders sieht, kommt in die Posse.

»Unverzeihlich find ich den Leichtsinn« Unverzeihlich, doch in der Natur des Menschen liegend, sei der Leichtsinn derer, die jetzt hinausspazierten, »zu schauen der guten Vertriebnen / Elend, und niemand bedenkt, daß ihn das ähnliche Schicksal / Auch, vielleicht zunächst, betreffen kann, oder doch künftig«. So läßt Goethe, im 1. Gesang von Hermann und Dorothea, den Apotheker seinen Eindruck vom Verhalten seiner Mitbürger, deutscher Kleinstädter, zusammenfassen, die - »ist doch die Stadt wie gekehrt! wie ausgestorben!« - vor die Tore gerannt sind, einen vorbeiziehenden Flüchtlings-Treck aus dem Linksrheinischen zu besichtigen. Hermann und Dorothea, 1796/97 entstanden, dokumentiert, wie vorher schon die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten,20 eine veränderte Einstellung Goethes zur Französischen Revolution: die Peripherie erscheint nun in die historische Bewegung hineingerissen. »Die französische Revolutionsbewegung hat sich weiter ausgedehnt; der französische Bürgerkrieg verwandelte sich in einen europäischen Krieg, worin es Vordringen und Zurückweichen gab, Sieger und Besiegte. Die franzö¬ sischen Ereignisse ließen sich jetzt nicht mehr in der Haltung des Zuschauers und Schlachtenbummlers betrachten, wie damals in Valmy, sondern wurden zum Schicksal auch in Deutschland und für Deutsche.«21 Und sie ließen sich ebensowenig mehr - auch für Goethe nicht - mit den Mitteln der Posse, der Typenkomödie kommentieren. Die Bemühung um eine politische Geographie, welche in den frühen neunziger Jahren mit diesen ästhetischen Mitteln entworfen werden sollte, war durch die geschichtliche Bewegung sehr schnell als in der Tat »unverzeihlicher Leichtsinn« widerlegt worden. Seit 1794, seit den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, stellt Goethe Betroffene dar, wenn er die Französische Revolution thematisiert. So wenig aufschlußreich das (wahrscheinlich 1795/96 entstandene) Bruchstück Das Mädchen von Oherkirch ist, wobei auch ein überliefertes Schema dieses Trauerspiels zu seiner geplanten Ausführung kaum mehr als Spekulationen erlaubt: es vermag doch einen wichtigen Hinweis darauf zu geben, daß Goethe der Art und Weise, wie er seit kurzem das Thema Französische Revolution episch zu behandeln begonnen hatte, nun auch im dramatischen Fach Geltung zu verschaffen gedachte, nämlich durch die Darstellung im Trauerspiel. Aber auch hierin beweist er kaum eine glücklichere Hand als früher bei seinen Lustspielversuchen. Nachdem er das Stück Das Mädchen von

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Oberkirch unvollendet gelassen hatte, kam es zwar im April 1803 zur Weimarer Uraufführung der Natürlichen Tochter, aber es blieb bei diesem ersten Teil einer geplanten Trilogie. Auch dieses erneute Scheitern scheint mit der politischen Tendenz zusammenzuhän¬ gen, die nunmehr auf der Bühne im Trauerspiel organisiert werden sollte. Gegenüber den frühen neunziger Jahren, der Zeit der Possen, handelte es sich zwar um eine wesentlich veränderte politische Tendenz, aber auch jetzt blieb Goethes Wahrnehmung der Revolution verkürzt. Goethe siedelt nun das Phänomen nicht mehr beim Nachbarn an, er geht jetzt von einer Totalisierung des Problems aus, von einer Betroffenheit aller; doch es bleibt die Totalisierung eines Unheils, dessen Opfer jetzt alle werden können. Diese Deutung der Revolution als eine Gefährdung aller ist der Grund dafür, daß keiner der dramatischen Versuche, sondern eine epische Arbeit bis heute zum dauerhaf¬ testen Dokument von Goethes Auseinandersetzung mit ihr werden konnte: das Epos von Hermann und Dorothea. Episch unbeirrbar, homerisch beglaubigt, vermag der Stolz auf Erreichtes und die Sorge vor einem Einbruch des Inkommensurablen sich ästhetisch angemessen zu präsentieren. Wie da - vor allem bei Hermanns Vater historisches Bewußtsein gerade bis zu einem als Stunde Null verstandenen Brand der Kleinstadt zurückreicht, wie das seitdem, also seit zwanzig Jahren im Wiederaufbau materiell Realisierte als das ein für allemal Realisierbare, ja Anzustrebende gilt, zu erweitern allenfalls - keine Experimente! - durch vorsichtige Operationen in bescheide¬ nem Rahmen, auf jeden Fall erbittert zu sichern gegen alles, was diesen Status quo in Frage stellen könnte - wie all dies mit gänsehauttreibendem Selbstbehagen sich aus¬ stellt: das macht dieses Epos, seiner sprachlichen Kodierung zum Trotz, noch zu einem Roman der Bundesrepublik Deutschland, fragwürdig frisch gehalten, wie, Ulrich Plenzdorf zufolge, der Werther in der Deutschen Demokratischen Republik, durch eine nicht aufgesprengte Kontinuität deutscher Zustände.

Morphologie »Es ist offenbar, daß das, was wir Elemente nennen, seinen eigenen wilden wüsten Gang zu nehmen, immerhin den Trieb hat. Insofern sich nun der Mensch den Besitz der Erde ergriffen hat und ihn zu erhalten verpflichtet ist, muß er sich zum Widerstand bereiten und wachsam erhalten. Aber einzelne Vorsichtsmaßregeln sind keineswegs so wirksam, als wenn man dem Regellosen das Gesetz entgegenzustellen vermöchte, und hier hat uns die Natur aufs herrlichste vorgearbeitet, und zwar indem sie ein gestaltetes Leben dem Gestaltlosen entgegensetzt. Die Elemente sind die Willkür selbst zu nennen...« Diese Sätze aus Goethes Versuch einer Witterungslehre zitiert Emil Staiger in einer Interpretation von Goethes Novelle, einer ebenfalls epischen Auseinandersetzung mit der Bedrohung durch das Inkommensurable, durch den Würfelwurf der Elemente: durch die Revolution. Es sei hier, so kommentiert Staiger, zwar »einzig von den vier antiken Elementen« die Rede. »Doch wir fühlen uns, besonders durch den letzten Satz, befugt, mit einem allgemeineren Ausdruck - >Elementares< - alle Willkür, alles Regel¬ lose, alles Wilde, Wüste zu benennen und, im Geist der Wahlverwandtschaften,

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mancherlei Erscheinungen aus dem Einen >Konflikt des Gesetzlichen und des Ungebändigten< zu verstehn.«22 So oder ähnlich beruft sich eine unpolitisch-politische Interpretation und Abwehr revolutionärer Prozesse als Aufstand eines »Elementaren«, als Willkür und Regellosig¬ keit, als Wildheit und Wüstheit gern und immer wieder auf Goethe. Wobei ja nicht einmal zu Unrecht Goethes Ansicht von der Natur als »gestaltetem Leben«, überhaupt seine naturwissenschaftlichen Ansichten mit seinen politischen Einstellungen in Zusammenhang gebracht werden. So ist es auch durchaus zutreffend, wenn etwa Rudolf Alexander Schröder, bei Gelegenheit seiner Ausführungen über Die Natürliche Tochter, Goethe einen »politischen Morphologen« genannt23 und gemeint hat, seit seinen »ersten entscheidenden Schritten in der Naturkunde« sei auch »die politische, die geschichtliche Betrachtungsweise« Goethes »morphologisch« geworden.24 Und zu Recht ist darauf hingewiesen worden, daß die Einstellungen, mit denen Goethe 1788 aus Italien zurückgekehrt sei, einem Verständnis der bald darauf einsetzenden französi¬ schen Vorgänge entgegengestanden hätten:25 auf dieser ersten italienischen Reise, in einem »öffentlichen Garten« in Palermo, hatte Goethe für sich die »Urpflanze« entdeckt, Bestätigung eines Prinzips der Metamorphose, geprägter Form, die lebend sich entwickelt. Nur: im Gegensatz zu seinen literatur- und geisteswissenschaftlichen Interpreten, die sich auf den Naturwissenschaftler Goethe berufen, war Goethe Naturwissenschaftler. Wenn er wie im Gespräch mit Riemer am 24. Juli 1809 meinte, die »sittlichen Symbole in den Naturwissenschaften« ließen sich »mit Poesie, ja mit Societät« verbinden,26 dann kannte er diese Symbole nicht aus Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, sondern dann sagt er das als Verfasser dieser Schriften, als Naturforscher. Es trifft zu, daß Goethe sein politisches Denken mit dem ideellen Instrumentarium seiner Naturfor¬ schung produziert, dieses Verhältnis wird aber - legitimationsideologisch - verkehrt, wenn Goethes naturwissenschaftliche Überzeugungen für ein sich unpolitisch verste¬ hendes politisches Denken »im Geiste Goethes« in Anspruch genommen werden. Diese Verkehrung hat eine lange und breite Tradition. Goethe stemmt sich der Revolution, einem gewaltsamen Umsturz des politisch und gesellschaftlich Bestehenden, entgegen, wie er sich als Naturforscher der Gewaltförmigkeit einer Naturbeherrschung entgegenstemmt, dem Prinzip einer Naturwissen¬ schaft, wie es, seit seiner theoretischen Begründung durch Francis Bacon, für ihn in den Arbeiten Newtons seinen bislang widerwärtigsten Ausdruck gefunden hatte. Um die Natur beherrschen zu können, muß ihr Zusammenhang zerschlagen werden. Goethe kommt es umgekehrt darauf an, diesen Zusammenhang in einem beharrlichen Prozeß der Annäherung immer besser zu verstehen - und zwar als »Ordnung«. In einem wissenschaftstheoretischen Schema zum Problem »Beobachtung und Denken« notiert er: »Ordnung die beste, wodurch die Phänomene gleichsam ein großes Phänomen werden, dessen Teile sich aufeinander beziehen.« Modell eines so gedachten »großen Phänomens« ist ihm die Natur, in der Poesie erscheint es abgeleitet als organisches Werk, in der »Societät« als Ständestaat. Die moderne Naturwissenschaft zerstört die Ordnung der Natur, der »kranke« Künstler die Ordnung des Kunstwerks, die Revolu¬ tion die politische und gesellschaftliche Ordnung. Interessant ist aber nun, wie dieser Zusammenhang in Goethes Wirkungsgeschichte bis heute hin deformiert, wenn nicht gar zerschlagen erscheint. Kunsttheoretisches wie

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politisches Beharrungsvermögen in der deutschen Tradition stützt sich mit anhalten¬ dem Erfolg auf Goethe: die Abwehr technischer Vorstellungen von Kunstproduktion, die Zurückweisung ästhetischer Phänomene, deren Teile sich nicht (organisch) aufein¬ ander beziehen, sieht in Goethe nach wie vor ihr zuverlässigstes Bollwerk; desgleichen die Abwehr der Vorstellung, daß politische und gesellschaftliche Prozesse keineswegs notwendiger- und schon gar nicht »natürlicherweise« nach dem Bewegungsgesetz Schneckenhaft langsamer Metamorphosen vonstatten gehen müssen. Hier ist Goethe die Norm geblieben, hier gehört er historisch zu den Siegern. Als Naturwissenschaftler aber gehört er zu den Verlierern.27 Goethe ist nicht, wie noch Novalis hoffte, der »Liturg« einer »künftigen Physik« geworden; einen »heiligen Weg zur Physik«,28 zu einer Physik und Naturwissenschaft, die die Natur sich selbst und den Menschen nicht entfremdete, hat es in seiner Nachfolge nicht gegeben. Goethes naturwissenschaftliche Auffassungen und Einsichten, von der »Fachwelt« schon früh als glücklicherweise aussichtslose Behinderungsversuche eines autodidaktischen Dilet¬ tanten abgetan, wurden freilich immer dann gern herangezogen, wenn sie instrumenta¬ lisiert werden konnten als flankierende Ideologeme eines ästhetischen und politischen Konservativismus. Als heute mehr denn je hochbrisante Arbeitshypothesen über einen wissenschaftlich andern Umgang mit der Natur sind aber vielleicht sie, und nicht Goethes politische Ansichten und deren poetische Weiterungen, das eigentliche Poli¬ tikum.

Anmerkungen 1 Es ist nicht uncharakteristisch für eine verbreitete, folglich weiter unten zu erörternde Einschätzung dieser Texte, daß sie auch in vollständigeren Goethe-Ausgaben nicht selbstverständlich enthalten sind. So findet sich etwa in der Hamburger Ausgabe (Bd. 5) nur der Text der Aufgeregten. In diesem Aufsatz wird deshalb vom Beleg von Einzelzitaten aus diesen Texten nach einer bestimmten Ausgabe abgesehen; statt dessen werden Zitate im Text der Analyse so eingeführt (z. B. durch Angabe des Auftritts), daß sie gegebenenfalls leicht auffindbar sind. Und entsprechend wird auch bei GoetheZitaten aus andern Zusammenhängen verfahren, so daß das Auffinden von Textstellen nicht an die Heranziehung einer bestimmten Ausgabe gebunden ist. 2 Adolf Muschg: Um einen Goethe von außen bittend. Walter [!] Muschg über seine Bearbeitung von Goethes »Aufgeregten« und seine Inszenierungsvorschläge. In: Theater heute 11 (1970) H. 11. S. 41. 3 Lieselotte Blumenthal: Goethes »Großkophta«. In: Weimarer Beiträge 7 (1961) H. 1. S. 1. 4 Siegfried Melchinger: Was sagt uns Goethe? Siegfried Melchinger über Walter [!] Muschg »Die Aufgeregten von Goethe«. In: Theater heute 11 (1970) H. 11. S. 41. 5 Benno von Wiese: Einleitung zu: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von B. von Wiese. Berlin 1977. S. 26. 6 So ist Hans Mayers Goethe. Ein Versuch über den Erfolg (Frankfurt a. M. 1973) eigentlich ein Versuch über den Mißerfolg und darin ein wirklich neues Buch über diesen Autor. 7 Fritz Martini: Goethes »verfehlte« Lustspiele: »Die Mitschuldigen« und »Der Groß-Cophta«. In: F. M.: Lustspiele - und das Lustspiel. Stuttgart 1974. S. 105-149. (Über den Groß-Cophta S. 131 ff.) 8 Ebd. S. 140. 9 Muschg (Anm. 2) S. 42. Im gleichen Heft von Theater heute, in dem Muschgs Anmerkungen veröffentlicht wurden, ist auch (S. 45-60) der Text der Bearbeitung selbst abgedruckt (Adolf Muschg: Die Aufgeregten von Goethe. Politisches Drama in 40 Auftritten). Er erschien im Jahr darauf auch in Buchform. 10 »Seiner Ambition nach war Beaumarchais damals sicher ein Verfechter der hohen Komödie, im

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Innersten vielleicht nur des ernsten Dramas; für seine Figaro-Trilogie war dagegen der Umgang mit dem burlesken Jahrmarkt-Theater der entscheidende Impuls. Der Einfluß der Paraden auf den Barbier von Sevilla und auf Figaros Hochzeit kann kaum hoch genug veranschlagt werden [...]« (Norbert Miller: Die Schule der Intrige oder der Bürger als Parvenü. Zur Figaro-Trilogie von Pierre Augustin Caron de Beaumarchais. Nachwort zu: Beaumarchais: Figaros Hochzeit. Frankfurt a. M. 1976. S. 364). Paraden - Parades - war der Sammeltitel von »grotesken Lustspielszenen«, von »Hanswurstiaden im derben Stil der Jahrmarktbühnen« (ebd. S. 361). Martini (Anm. 7) S. 131. Spätestens den »zweiten Figaro«, den der Hochzeit, unterwirft Beaumarchais einer »gründlichen Neufassung«: »Die Erinnerung an die Lustige Person der Harlekinaden verschwand, an seine Stelle tritt der homme nouveau, der sich mit seiner Begabung, seiner Gestalt und seinem Witz auch in den widrigsten Umständen zu behaupten versucht« (Miller [Anm. 10] S. 383). Mit diesem »neugefaßten« Figaro gelingt Beaumarchais seine »ebenso scharfsinnige wie freche und unerschrockene Satire auf die sterbende Gesellschaft seiner Zeit« (ebd. S. 387). Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a.M. 1973. S. 81. Elmar Buck hat darauf hingewiesen, daß, »ganz gemäß der übrigen Kommunikationsformen in Liedern, Wandzeitungen, der Nationalversammlung«, der »theatralische Bereich« einer Selbstdar¬ stellung der Französischen Revolution »mit jenen pompösen Festen ausgefüllt wird, die auf dem Marsfeld inszeniert werden« (E. B.: Der Bürger und sein Theater. Habilitationsschr. Hannover 1976. [Masch.] T. 2. S. 120). Zitiert nach Martini (Anm. 7) S. 139. Wilhelm Mommsen hat angemerkt, Goethe habe für die Vorgeschichte der Französischen Revolution »Ursache und Anlaß« verwechselt, »so gerade auch darin, daß er allezeit die Bedeutung der >Halsbandgeschichte< überschätzte, die ja höchstens Anlaß und Symptom war; gelegentlich stellt er die Halsbandgeschichte für sich selbst an Bedeutung neben die Entdeckung des Zwischenknochens« (W. M.: Die politischen Anschauungen Goethes. Stuttgart 1948. S. 92). Blumenthal (Anm. 3) S. 3f. Ebd. S. 4. Lieselotte Blumenthal hat in diesem Aufsatz die Etappen der Entstehung des Stücks aus einem ursprünglich geplanten, jedoch nur in Bruchstücken realisierten Opernlibretto rekonstruiert. In diesem Rahmen geht sie auf die historische Halsbandaffäre ein, aber auch auf Goethes prekäres Verhältnis zu seinem Zeitgenossen Cagliostro - prekär, weil der doch dem Faust so fern nicht stand sowie zur Freimaurerei; Ungereimtheiten der Figur des Domherrn macht sie verständlich durch einen Vergleich mit dem Tasso, begründet in einer engen entstehungsgeschichtlichen Nachbarschaft. Für all diese Einzelfragen und ihre Weiterungen für eine Interpretation des Stücks sei hier nachdrücklich auf diesen kenntnisreichen Aufsatz hingewiesen. Martini (Anm. 7) S. 145. Martinis Aufsatz analysiert sorgfältig und detailliert die Lustspielstruktur des Stücks, vor allem seine dramaturgisch-technischen Fehler, allerdings, wie bereits angedeutet, aus der schiefen Perspektive, »für Goethe« gebe dies alles wenig her, und mit einer scharf akzentuierten Auffassung der Literatur überhaupt wie des Lustspiels im besonderen als »Spiel und Schein«, als »Befreiung von einer beängstigenden Wirklichkeit durch die ästhetische Form« (S. 132). Das ist ja auch so ganz unrichtig nicht, aber die »Befreiung« kann doch nur deshalb gelingen, weil durch die bestimmte »ästhetische Form« die Entlastung von einem spezifischen Problemdruck bewerkstelligt wird, und es ist doch gerade diese Dialektik, an die eine literaturwissenschaftliche Analyse heranzu¬ kommen hätte. Mayer (Anm. 6) S. 39. Vgl. dazu Joachim Müller: Zur Entstehung der deutschen Novelle. Die Rahmenhandlung in Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« und die Thematik der Französischen Revolution. In: Gestaltungsgeschichte und Gesellschaftsgeschichte. Literatur-, kunst- und musikwissenschaftliche Studien. In Zusammenarbeit mit Käte Hamburger hrsg. von Helmut Kreuzer. Stuttgart 1969. S. 152 ff. Hans Mayer: Goethe. Die Epen. In: H. M.: Zur deutschen Klassik und Romantik. Pfullingen 1963. S. 84. Emil Staiger: Goethes »Novelle«. In: Goethe im XX. Jahrhundert. Spiegelungen und Deutungen. Hrsg, von Hans Mayer. Hamburg 1967. S. 140. Rudolf Alexander Schröder: Goethes »Natürliche Tochter«. In: Goethe im XX. Jahrhundert (Anm. 22) S. 174.

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24 Ebd. S. 173. 25 Vgl. dazu etwa Mommsen (Anm. 15) S. 115: »In der Tat war Goethe niemals weniger bereit, ein politisches Erlebnis, wie die Französische Revolution, wirklich in sich aufzunehmen, als nach der italienischen Reise.« 26 Zitiert nach Karl Mickel: Die Entsagung. Vier Studien zu Goethe. In: Literaturmagazin 2. Von Goethe lernen? Fragen der Klassikrezeption. Hrsg, von Hans Christoph Buch. Reinbek 1974. S. 76. Zuvor (S. 73) hatte Mickel dort festgestellt, in Goethes Dichtungen würden »die desolatesten Verhältnisse versöhnlich evolutionär zusammengefügt«. 27 Vgl. dazu Leo Kreutzer: Wie herrlich leuchtet uns die Natur? Der Naturwissenschaftler Goethe Porträt eines Verlierers, daher aus erstaunlicher Nähe. In: Akzente 25 (1978) H. 4. S. 381-390. 28 Novalis: Werke. Hrsg, und komment. von Gerhard Schulz. München 1969. S. 496f.

HANS RUDOLF VAGET

Die natürliche Tochter

»Bewundert viel und viel gescholten«: kein anderes Werk Goethes scheint damit treffender gekennzeichnet als das große Schmerzenskind unter seinen dramatischen Hervorbringungen, Die natürliche Tochter. Allerdings zeigt die Rezeptionsgeschichte1 des Werkes, daß das Verhältnis von Bewunderung und Ablehnung kein durchgehend ausgewogenes war. In den eindreiviertel Jahrhunderten seit seinem Erscheinen auf der Weimarer Bühne im Jahre 1803 ist dieses Werk lange überwiegend auf Ablehnung oder Verlegenheit gestoßen; die Stimmen der Bewunderung und kritischen Würdigung waren stets in der Minderheit. Die bisher wohl anspruchsvollste Würdigung des Stückes hat jüngst Wilhelm Emrich vorgelegt. Der Gesichtspunkt, unter dem er Die natürliche Tochter zu einem Schlüssel¬ werk der gesamten deutschen Literatur erhebt, ist schon am Untertitel seiner Interpre¬ tation abzulesen: »Zur Ursprungsgeschichte der modernen Welt«.2 Damit werden für Goethes klassizistisches Trauerspiel sehr hohe, man ist versucht zu sagen: extravagante Ansprüche geltend gemacht, die Emrich in den großen Rahmen einer geschichtsphilo¬ sophischen Reflexion über die Folgen der Französischen Revolution stellt. Die apoka¬ lyptische Vision des Mönchs, so argumentiert er, nehme »die vielen modernen Visionen vom Ende unserer Gesellschaft durch einen Atomkrieg bis ins Detail« vorweg, das Schicksal Eugenies decke die heute manifeste »Fesselung des Menschen durch die gesellschaftlich vorgeprägte Sprache« auf, und aus Goethes Trauerspiel im ganzen spreche die prophetische Einsicht in die »totale Politisierung des Lebens« durch die Französische Revolution - eines Lebens, in dem Eugenie und das, was sie repräsentiert, keine Existenzgrundlage mehr habe, weil sie »im Bewußtsein von Welt und Nachwelt« vernichtet worden sei.3 Emrichs höchst positive Deutung des politischen Gehalts gründet auf der Überzeugung, daß erst die moderne, gänzlich »politisierte« Welt die adäquaten Rezeptionsvoraussetzungen gezeitigt habe, unter denen sich Die natürliche Tochter als die dichterische Vorwegnahme einer unheilvollen gesellschaftlichen Ent¬ wicklung enthüllt habe und als eine prophetische Diagnose, in der bereits 1803 »das äußerste gesagt«4 worden sei, was über die moderne Welt gesagt werden könne. Weniger als Antizipation denn als »differenzierte Antwort auf die Zeitproblematik« von 1803 hat Ehrhard Bahr das Stück gedeutet. Seine Interpretation, die gleichzeitig mit der Emrichs erschien, zielt auf die Erhellung der »dialektischen Verbindung des politischen Inhalts mit der ästhetischen Form« und kommt zu dem Schluß, Goethe habe »mittels einer hochentwickelten Symbolik die politischen Veränderungen durch¬ aus historisch-objektiv erfaßt«, indem er die »bürgerliche Ehe« zum »Symbol der ethisch-politischen Regeneration« erhoben habe, und zwar in der Absicht, »im Bünd¬ nis mit dem fortschrittlichen Adel die bürgerlichen Privattugenden in der politischen Öffentlichkeit zu institutionalisieren«.5 Diese grundsätzlich positive Würdigung des im weitesten Sinne politischen Gehalts der Natürlichen Tochter verbindet die beiden Deutungen von Bahr und Emrich; sie ist darüber hinaus charakteristisch für die gegenwärtig dominierende Deutungstendenz.6

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Das heißt jedoch nicht, daß das kritische Mißtrauen gegen Goethes Trauerspiel endgültig überwunden ist. Mitnichten: das »viel gescholten« gilt auch heute noch. Hier sind einerseits die entschieden kritische Deutung nicht nur der Natürlichen Tochter, sondern des gesamten Klassizismus Goethes im Sinne eines gegenrevolutionären kul¬ turpolitischen Programms zu nennen, die Guiliano Baioni7 vorgelegt hat, und anderer¬ seits Hans Mayers anstößige Thesen zum eigentlich »gegenbürgerlichen Geist« des Goetheschen Werkes8. Mayers Urteil über das Trauerspiel ist streng: gerade mit seinem »ernsthaftesten Versuch einer dichterisch-dramatischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Revolution« sei Goethe gescheitert, und zwar deswegen, weil seine Reflexion sich auf »Immanenz und Negativität« beschränkt habe. Das will heißen, dem Werk ermangele ein positives »gesellschaftliches Gegenspiel«, denn »die bürgerliche Welt wird nicht zur Gegensphäre oder gar Gegenkraft«.9 Der hohe politische Gehalt der Natürlichen Tochter, den Emrich, Bahr und viele andere Interpreten verteidigen, ist hier also entschieden reduziert und in Frage gestellt. Aus dieser Widersprüchlichkeit des gegenwärtigen Rezeptionsstandes läßt sich der Ansatz zu einem neuen Interpretationsversuch gewinnen, indem wir gerade die Vor¬ aussetzung in Frage stellen, die den beiden gegensätzlichen Positionen gemeinsam ist: die Überzeugung nämlich, daß Goethes Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution vor dem Horizont der historischen Rolle des Bürgertums zu sehen und zu beurteilen sei. Das Mißlingen, das Hans Mayer konstatiert, meint Goethes Verkennung der Revolution als bürgerlicher Revolution; die »moderne Welt«, auf die Emrich das Werk projiziert, meint bestimmte Phänomene der bürgerlichen Gesellschaft, und das zentrale »Symbol« nach Bahrs Interpretation ist die »bürgerliche Ehe«. Diese scheinbar selbstverständliche Orientierung an der »bürgerlichen Welt« und an einem »bürgerli¬ chen Wertsystem«10 ist aber in Wirklichkeit ein äußerst fragwürdiges Kriterium. Denn das Bürgertum nimmt weder in der Struktur des Trauerspiels noch in seinem intel¬ lektuellen Horizont die zentrale Stelle ein. Auch berechtigen weder die Vorgeschichte des Werkes noch die Auskünfte Goethes zu dem Schluß, daß es ihm um eine Diagnose der Situation oder der Entwicklung des Bürgertums zu tun gewesen ist. Und schlie߬ lich ist allgemein daran zu erinnern, daß die entscheidenden Züge in der politischen Physiognomie des Goetheschen Werkes, von Götz und Werth er bis zu den Wahl¬ verwandtschaften und Faust II, von der Reflexion auf die gesellschaftliche und politische Rolle des Adels geprägt sind. Diese Perspektive des Adels, die von Mayer, Bahr und Emrich zwar anerkannt, aber nicht in den Mittelpunkt der Deutung gestellt wird, ist unseres Erachtens grundlegend für den politischen Gehalt der Natürlichen Tochter. In den Tag- und Jahresheften hat Goethe die bündigste und gewichtigste Auskunft über die Entstehung des Werkes gegeben: »Die Memoiren der Stephanie BourbonConti erregen in mir die Konzeption der Natürlichen Tochter. In dem Plane bereitete ich mir ein Gefäß, worin ich alles, was ich so manches Jahr über die französische Revolution und deren Folgen geschrieben und gedacht, mit geziemendem Ernste niederzulegen hoffte« (HA 10,449). Goethe schrieb diesen Kommentar im Jahre 1825, also über 25 Jahre nach der Konzeption und gut 20 Jahre nach Erscheinen der Natürlichen Tochter. Es fällt auf, daß er von Hoffnung spricht und somit selbst bezweifelt, daß die Gesamtheit seiner Gedanken über die Revolution tatsächlich in

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das Werk eingegangen ist. Da die Trilogie, die Goethe plante und die wahrscheinlich eine historisch umfassendere Auseinandersetzung mit der Revolution und ihren Fol¬ gen geleistet hätte, bezeichnenderweise nicht zur Ausführung kam, ist von dem ersten Teil der Trilogie lediglich eine partielle Behandlung der Revolutionsthematik zu erwarten. Skeptisch stimmt auch das Bild vom »Gefäß« in Goethes Darstellung; es deutet eigentlich nicht auf eine direkte Gestaltung der Revolution und ihrer Folgen. Unwillkürlich stellt man sich darunter ein eigenständiges Gebilde vor, dem die The¬ matik der Revolution erst einzufügen war. Im übrigen stellt auch der Hinweis auf die Herkunft des Stoffes, das Memoirenwerk11 einer unglücklichen, um ihre Legitimie¬ rung kämpfenden französischen Aristokratin, keinen zwingenden, direkten Zusam¬ menhang mit der Revolution her. Es will eher scheinen, daß aus dem Schicksal der Stephanie Bourbon-Conti jenes »Gefäß« gebildet wurde, also der Grundriß einer dramatischen Handlung, die dazu bestimmt war, die Problematik der Revolution aufzunehmen und zu tragen. In welcher Weise Goethe die Verbindung der beiden Komplexe herzustellen hoffte, läßt sich aus den vorangegangenen Werken in etwa erschließen. Natürlich wäre es abwegig, den Zusammenhang mit der Revolution in Frage zu stellen.12 Die Erschütterung Goethes durch jenes »schrecklichste« geschichtliche Ereig¬ nis seiner Lebensepoche (HA 13,39), die entschiedene Gegnerschaft zu der revolutio¬ nären Zeitstimmung unter vielen bürgerlichen Intellektuellen, ist wohl dokumentiert. Von den Venetianischen Epigrammen über die Revolutionsstücke der frühen neunziger Jahre bis zu den Unterhaltungen, den Lehrjahren und Hermann und Dorothea liefert die Reaktion auf die Ereignisse in Frankreich die entscheidenden Anstöße zur literari¬ schen Produktion. Allerdings ist es bemerkenswert, daß nirgends in diesen Werken eine direkte Auseinandersetzung mit der Revolution geschieht. Dort geht es entweder um bloße Revolutionsatmosphärilien,13 die vorwiegend lustspielhaft behandelt werden, oder, wie in dem Versepos, um die drohenden Auswirkungen der Revolution auf Deutschland oder, wie in dem großen Roman, um die geschichtlich notwendigen und wünschbaren Veränderungen im Verhältnis des Adels zum Bürgertum. Nichts läßt von daher eine direkte Auseinandersetzung mit der Revolution in der Natürlichen Tochter erwarten; vielmehr deuten alle Zeichen auf eine indirekte Annäherung, d. h. auf die Absicht, gegenüber den Kernfragen der Revolution auf Distanz zu bleiben und gleichsam bloß ihre Ausläufer dichterisch zu erledigen oder, wie Goethe sich aus¬ drückte, zu »gewältigen« (HA 13,39). Die Einsicht Goethes in die Unangemessenheit und das Ungenügen seiner dramati¬ schen Versuche zur Revolution darf vorausgesetzt werden. Der letzte dieser Versuche, nun schon in der Form eines großangelegten Trauerspiels, Das Mädchen von Oberkirch, mußte 1796 als Fragment aufgegeben werden.14 Gleichwohl stellt dieses Bruch¬ stück eine aufschlußreiche Wegmarke in der Vorgeschichte der Natürlichen Tochter dar. Wie in dem späteren Werk sieht sich Goethe hier zum erstenmal genötigt, den Stoff mit »geziemendem Ernst« zu behandeln; wie dort wählt er eine zu Leiden und Opfer bestimmte weibliche Mittelpunktsfigur als Spiegel der Zeitereignisse, und schließlich greift er in beiden Fällen zum Motiv der unstandesgemäßen Geburt. Dieses Motiv sollte einen zentralen Aspekt der Revolutionsthematik tragen, den Gegensatz von Adel und Bürgertum. Es ist dies aber ein Motiv, das zu der gesellschaftlichen Problematik nicht des Bürgertums, sondern des Adels gehört.15

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Wir wissen nicht, warum Goethe den Plan zu dem Mädchen von Oherkirch nicht ausführte. Wir dürfen aber annehmen, daß er aus diesem Fehlschlag gelernt hat und den hier aufgetretenen Schwierigkeiten bei der Konzeption der Natürlichen Tochter mit Bedacht aus dem Wege ging. Diese Schwierigkeiten lassen sich im Rückblick leicht ausmachen. In dem Plan von 1795/96 ging es um gegenwärtiges Revolutionsgeschehen, denn das historische Ereignis, das ihm zugrunde liegt, datiert von Ende 1793.16 Die Ausführung dieses Plans hätte eine direkte Auseinandersetzung mit den politischen Interessenkämpfen und den von der Revolution geschaffenen historischen Tatsachen erfordert. Das aber entsprach weder der Eigenart von Goethes dramatischer Imagina¬ tion noch seinem neptunistischen, anti-vulkanistischen Temperament, das ihn zum Anwalt des historisch Gewordenen und Evolutionären machte. Die andere Schwierig¬ keit bestand darin, daß die Tragödie Maries, der Titelheldin, aus dem unversöhnlichen Gegensatz der politischen Parteien entsprang, dem Adel einerseits und den Jakobinern und Sansculotten andererseits, und daß dieser politische Antagonismus dramatisch zu vergegenwärtigen war. Von der Gestaltung einer solchen aktuellen, stofflich überbor¬ denden und formal kaum zu bewältigenden Konfrontation hielt ihn sein klassizistisch orientierter Formsinn ab. In der Natürlichen Tochter hat Goethe diese Schwierigkeiten vermieden. Erst hier fand er zu dem seiner Denkweise und seinen politischen Interessen gemäßen Ansatz, der ihn zu der Hoffnung berechtigen mochte, »alles, was ich so manches Jahr über die Revolution und deren Folgen geschrieben und gedacht«, darstellen zu können. Dieser Ansatz ist prinzipiell dadurch gekennzeichnet, daß er versucht, auch das für ihn traumatische Phänomen der Revolution von der Genese und den Anfängen her zu »gewältigen« und den tragischen Sturz Eugenies als einen quasi eigengesetzlichen Vorgang innerhalb des Adels vorzustellen - getreu seiner echt konservativen Überzeu¬ gung, daß Revolutionen in jedem Fall nicht von den Regierten, sondern von den Regierenden verschuldet seien.17 Wie steht es nun aber mit dem Bezug der Dramenhandlung zur Revolution? Der Text des Stückes, so wie es Goethe ausgeführt hat, bietet dafür keine sehr eindeutigen Belege, denn von den direkten historischen Antezedentien der Französischen Revolu¬ tion ist nichts in das Stück eingegangen.18 Eigentlich haben wir nur die Anspielung des Weltgeistlichen im 3. Aufzug auf ein »nahes Sturmgewitter« (V. 1661) und in der vorletzten Szene die Ahnung Eugenies: »Diesem Reiche droht / Ein jäher Umsturz« (V. 2825 f.). Eugenie ihrerseits steht unter dem Eindruck der Vision des Mönchs, der, aus überseeischer Wildnis zurückgekehrt, die ganze Zivilisation des alten Europa einer allgemeinen Katastrophe zutreiben sieht. Diese Umsturzstimmung und Katastrophen¬ vision müßten nun, um der logischen und dramatischen Plausibilität willen, aus der Handlung des Stückes zwingend hervorwachsen und diese gleichsam auf den Begriff bringen. In Erwartung eines solchen zwingenden Zusammenhangs, der von Goethe wohl beabsichtigt war, findet sich der Leser aber von der Handlung des Trauerspiels her im Stich gelassen. Der Versuch des Herzogs, seiner illegitim geborenen Tochter die standesgemäße Anerkennung zu verschaffen, scheitert an einer Intrige ihres legitimen Bruders, der entschlossen verbrecherische Schritte in die Wege geleitet hat, nämlich die Entführung und Verschleppung Eugenies, um die Beschneidung seines Erbanspruchs und damit seiner Macht zu vereiteln. Eugenie aber entgeht dem sicheren Tod auf den

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Fieberinseln, indem sie sich, zunächst widerwillig, in die Ehe mit einem bürgerlichen Gerichtsrat rettet und damit auf die in Aussicht gestellte Legitimierung verzichtet. Das ist in dürren Worten das Handlungsschema. Es rechtfertigt, genau besehen, weder die Katastrophenvision, noch taugt es als symbolisches Korrelat für die politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Gärungen, die der Französischen Revolution vor¬ ausgegangen sind. Vielmehr sind darin noch die Umrisse eines höfischen Intrigenstücks auszumachen, wie es sich so oder ähnlich in jeder beliebigen aristokratischen Gesell¬ schaft - und nicht unbedingt einer, die auf ihren Untergang zusteuert - abspielen könnte. Offenbar tendiert die Anlage dieses Trauerspiels zur Form einer dramatischen Parabel, auf jenes »Parabolische« hin, dem Goethes künstlerisches Interesse im Alter galt. Darauf deutet die durchgängige Stilisierung und Abstraktion von den Personen der Handlung bis zur Struktur und Sprache des Werkes.19 Aber auch der Begriff der Parabel liefert keine völlig befriedigende Auffassung der Natürlichen Tochter. Eine Parabel, zumal in dramatischer Form, bedarf der leichten Sinnfälligkeit und inneremStimmigkeit, wenn ihre Elemente als Funktion eines Sinnganzen und als Chiffren einer Geschichtsdeutung erfaßt werden sollen. Gerade in dieser Hinsicht aber stellt uns Die natürliche Tochter vor eine Reihe von Problemen, die unumwunden auszusprechen sind, wenn wir zu einer nüchternen Würdigung des Werkes Vordringen wollen. Wenn es Goethe tatsächlich um die parabolische Gestaltung des vorrevolutionären Geschehens ging, so müßte das intendierte Geschichtliche auch in der Abstraktion durchscheinen. Demgegenüber ist jedoch eher eine Neigung zur Verdunkelung zu konstatieren. Sie äußert sich besonders darin, daß Goethe die Handlung des Stückes mit einer für unsere Erwartungen irritierenden Nachlässigkeit angelegt hat. Wichtige Fragen im Hinblick auf den Handlungszusammenhang werden nicht beantwortet oder gar nicht gestellt.20 Der eigentliche Gegenspieler Eugenies, ihr Bruder, erscheint überhaupt nicht; über seine Absichten und Motive hören wir bloß Vagheiten und Unverläßliches aus zweiter Hand. Die Stellung des Herzogs sowohl zum König als auch zur Opposition bleibt letztlich unklar. Die politisch durchaus gewichtige Frage, warum er zunächst im Lager der Königsgegner war, wird von Goethe als unerheblich erachtet. Überhaupt bleiben der Charakter und die Zielsetzung der Opposition dunkel. Offenkundig ist lediglich der nachgerade denunziatorische Akzent in der Darstellung jeglicher Oppositionshaltung, die auf das politisch dürf¬ tige Motiv des Neids (V. 469; V. 1091) zurückgeführt wird. Es fällt auch schwer, die zentrale Verbindung von den Intentionen der Opposition zu der Unterminierung des gesamten Staatswesens nachzuvollziehen. Dieser Zusammenhang wird vielfach suggeriert, doch letztlich weigert sich Goethe, deutlich auszusprechen, inwiefern der Kampf der »zwei Parteien« (V. 1777) um Eugenie »dem Staate selbst gefährlich« (V. 1789) wird. Offenbar entspricht es seinen politischen Anschauungen, daß Parteien¬ bildung als solche, also auch Machtkampf und Insubordination, den ständischen Staatsorganismus gefährden.21 Eine weitere Brüchigkeit der Motivierung offenbart sich in der Gestaltung des Königs.22 Seine Haltung gegenüber Eugenie: zunächst Wohlwollen und Gnadenbeweis aus politischem Kalkül, dann jedoch unerbittlicher Vernichtungswille, weist eine ebenso unerklärte wie höchst deutungsbedürftige Kehrtwendung auf, die nicht nur für das Schicksal Eugenies von Belang ist, sondern vor allem auch für die politische Diagnose,

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die Goethe dieser Monarchie stellt. Der König bekennt sich zunächst dazu, »das Rechte, das Beständige [zu] beschützen« (V. 360); wenig später aber sieht er sich zu »nützlich ungerechten Taten« (V. 1800) genötigt, ohne daß wir mit Bestimmtheit anzugeben wüßten, wodurch und von wem. Wir spüren die Absicht, die Unbeständig¬ keit und den Opportunismus dieses Souveräns hervorzukehren und sein Selbstver¬ ständnis als Landesvater (V. 420) und Garant der politischen Ordnung als Selbsttäu¬ schung zu entlarven. Es bleibt jedoch unklar, inwiefern die Führungsschwäche des Regenten die Entwicklung auf einen jähen Umsturz hin beschleunigt und inwieweit der König dafür verantwortlich ist. Keine Unklarheit hingegen herrscht über die Rolle des Bürgertums in der politischen Konstellation der Monarchie; denn die dramatische Funktion des sympathischen Gerichtsrats, Hauptvertreter des Bürgertums, ist eine untergeordnete, unerachtet des beträchtlichen ethischen Gewichts, das Goethe ihm zumißt. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß das politische Selbstbe¬ wußtsein des Gerichtsrats wenig entwickelt ist und daß der Umsturz des Staatsgefüges, auf den die Entwicklung zutreibt, seine Sache nicht ist. Dadurch muß jedoch die Intention des Werkes, die Vorgeschichte der Französischen Revolution zu gestalten, in einer wesentlichen Hinsicht unrealisiert bleiben, insofern diese nämlich als bürgerliche Revolution zu begreifen ist. Diese Mängel, also vor allem Lücken in der Motivation und historische Unstimmigkei¬ ten, verbieten es letztlich, an dem Modell einer umfassenden politischen Parabel auf die historische Revolution in Frankreich festzuhalten.23 Nicht, wie die Kritik lange meinte, daß Goethe den Weg der parabolischen Abstraktion gewählt hat, sondern daß das Parabelgerüst in sich brüchig ist, begründet die Fragwürdigkeit des geschichtlichen Anspruchs der Natürlichen Tochter auf Gestaltung der Revolution von ihren Antezedentien her. Wie und in welchem Sinn ist nun der politische Gehalt dieses Trauerspiels zu bestim¬ men? Die verläßlichste Auskunft darüber bietet gerade bei einem so formbewußten Gebilde wie der Natürlichen Tochter die Struktur des Werkes. Hier ist zunächst von einer Anomalie auszugehen. Während die beiden ersten und letzten Aufzüge ihre Funktion als Exposition und Lösung des Konflikts gattungsgerecht erfüllen, fällt der 3. Aufzug aus dem klassischen Schema der Fünf-Akt-Struktur heraus. Hier, wo die Peripetie der Handlung sinnfällig zu machen wäre, greift Goethe sonderbarerweise zu einem blinden Motiv: dem Schmerz des Vaters über den vermeintlichen Tod seiner Tochter. Uber die eigentliche Peripetie, den Entschluß zur Entführung, erhalten wir nur Andeutungen (V. 837f.; V. 1148 f.); nichts wird davon auf der Bühne vorgeführt. Statt dessen läßt Goethe den 3. Aufzug in einer großen, elegischen Totenklage gipfeln. Ein besonders genauer Interpret des Werkes, Gustav Kettner, rechnete diese Auftritte (111,2.4) zu »den peinlichsten [...], die je ein Dramatiker behandelt hat«24 - peinlich wegen der kalkulierten Lüge, mit der der Weltgeistliche den Schmerz des Herzogs manipuliert. Merkwürdig ist daran aber vor allem, daß der Herzog in den beiden letzten Akten keine Rolle mehr spielt und die ganze breit ausgeführte Situation des väterlichen Schmerzes für den weiteren Gang der Handlung keinerlei motivierende Funktion besitzt. Welchen Sinn kann es aber haben, eine - recht besehen - ungerecht¬ fertigte Totenklage demonstrativ in das Zentrum des Dramas zu stellen? Offenbar erschließt sich der Sinn einer so ungewöhnlichen dramatischen Komposition erst dann,

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wenn wir über die vordergründige Anlage der Fabel hinausblicken auf die Feinstruktur des Bild- und Symbolzusammenhangs. Äußerlich gesehen erleidet Eugenie das Schicksal einer gewaltsamen Entfernung,, im räumlichen wie im gesellschaftlichen Sinn, aus dem Zentrum einer Sozietät, zu der sie aufgrund ihres menschlichen Adels mit größerer innerer Berechtigung gehört als diejenigen, die sie daraus entfernen. Eugenie selbst erfährt ihre gewaltsame Entfernung - psychologisch plausibel - als Verlust des von ihr mit ihrem ganzen Wesen erstrebten Glanzes (V. 2253) und als Sturz aus jener gesellschaftlichen Höhe, zu der sie erhoben werden sollte. Der Sturz vom Pferd, von dem zu Beginn berichtet wird (V. 152) und dessen fingierte Wiederholung den Verschwörern im 3. Aufzug (V. 1161) zum Vor¬ wand für die grausame Täuschung des Vaters dient, erweist sich als das verborgene, symbolische Grundmuster nicht nur ihres eigenen Schicksals, sondern auch der gesell¬ schaftlichen Vorgänge, die dieses Geschick verursachen. So erweitert sich das Bild des Sturzes in der Rede des Mönchs zu der Vision eines Einsturzes des ganzen Staatsge¬ bäudes: »Der feste Boden wankt, die Türme schwanken, Gefügte Steine lösen sich herab, Und so zerfällt in ungeformten Schutt Die Prachterscheinung.« (V. 2799-2802) Wiederum ist zu bemerken, daß auch diese Katastrophenverkündigung von der Hand¬ lung des Dramas nicht überzeugend legitimiert wird, denn der moralische Abscheu des Mönchs vor dem »frechen Städteleben« (V. 2772), das zudem gar nicht vergegenwärtigt ist, eignet sich eigentlich nicht, die Unausbleiblichkeit der umfassenden politischen Katastrophe völlig plausibel zu machen. Wie bei der Gestaltung des Königs und der Rolle der Opposition ist Goethe offenbar bereit, im Hinblick auf die Motivierung eine gewisse Lässigkeit walten zu lassen. Denn der ästhetische Ehrgeiz dieses Werkes richtet sich weniger auf eine lückenlos konstruierte, parabolische Handlung als auf die Komposition eines symbolischen Motivgewebes. Darin aber bildet Goethe eine selbst¬ zerstörerische gesellschaftliche Dynamik ab, die den von Eugenie berufenen »jähen Umsturz« (V. 2826) weit zwingender erscheinen läßt als ein noch so lückenlos motivierter Handlungszusammenhang. Die beiden ersten Akte zeichnen das Bild eines in sich vielfach widerstreitenden politischen Kräftespiels, in dem sich Eugenie wie in einem »Netz« (V. 675) zu verfangen droht.25 Hier herrscht eine die gesellschaftliche Ordnung unterminierende, zentrifugale Dynamik des Auf und Ab und Hin und Her. Aufwärts deutet die vom Herzog betriebene, vom König versprochene und von ihr selbst ersehnte, gesellschaftli¬ che Erhöhung Eugenies, die Anerkennung ihres Adelsstandes. Abwärts weist ihr Sturz vom Pferd sowie die ominöse Vorausdeutung der Hofmeisterin auf das unwiderrufliche Schicksal, »das dich trifft« (V. 1148). Die horizontalen, in sich ebenfalls gegenläufigen Bewegungen in diesem Kräftespiel zeichnen sich in dem Plan des Herzogs ab, seine Tochter dem Thron und damit dem Mittelpunkt der höfischen Gesellschaft nahe zu bringen, und in dem Gegenplan der Verschwörerpartei, sie aus dieser Stellung fernzu¬ halten. Die vielfach variierten Schlüsselwörter dieser widerstrebenden Bewegungen sind »erscheinen« (V. 1067) und »verschwinden« (V. 138).26 Eugenie steht gleichsam am Zerreißpunkt dieser auseinanderstrebenden Bewegungen; ihr Fall ist deshalb unaus-

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bleiblich. Entscheidend für die Intentionen dieses Werkes ist nun der Gedanke, daß die auseinanderstrebenden gesellschaftlichen Kräfte nicht nur die Existenz dieser individu¬ ellen Person bedrohen, sondern vor allem auch die Existenz einer Gesellschaft, die eine solche heillose Dynamik aus sich hervorbringt. Nach dem Selbstverständnis der höfischen Gesellschaft wäre es die Funktion des Souveräns, das politische Kräftespiel zu kontrollieren und zu beherrschen. Dazu ist dieser König aber nicht imstande, denn er scheint innerlich gelähmt von der Ahnung einer unabwendbaren Bedrohung der ständischen Gesellschaftsordnung: »O diese Zeit hat fürchterliche Zeichen: Das Niedre schwillt, das Hohe senkt sich nieder, Als könnte jeder nur am Platz des andern Befriedigung verworrner Wünsche finden, Nur dann sich glücklich fühlen, wenn nichts mehr Zu unterscheiden wäre, wenn wir alle In einem Strom vermischt dahingerissen, Im Ozean uns unbemerkt verlören.« (V. 361 f.) Des Königs Einsicht in diese Gefährdung - er scheint sie vornehmlich in dem Egalitätsstreben zu erblicken - zeitigt aber keine effektiven politischen Gegenmaßnah¬ men. Denn im Grunde hat dieser König längst die Orientierung verloren. Unüberhör¬ bar ist der symbolische Hintersinn seiner allerersten Frage: »Wo sind wir?« (V. 6). In abgewandelter Form wiederholen sie auch Eugenie: »Was ist aus uns geworden?« (V. 227) und der Herzog: »Wo sind wir hingeraten?« (V. 449). Dazu paßt es, daß dieser Regent des Regierens eigentlich überdrüssig ist. Er möchte die Staatsgeschäfte »verges¬ sen« (V. 30) und »entfernten Weltgetöses Widerhall« (V. 32) aus seinem Geist verban¬ nen. Denn im Grunde sehnt er sich nach der Idylle, in der er wie in einem »Bollwerk« (V. 22) gegen die Welt des Hofes und der Regierungsverantwortung abgeschirmt sein will. Darin offenbart sich ein Moment des Rousseauismus im intellektuellen Profil des Königs, und es kann kein Zweifel sein, daß die »fürchterlichen Zeichen« der Zeit auch in ihm ihre Wirkung hinterlassen haben. Abgeschirmt hat sich dieser Regent vor allem vor der »Menge« (V. 304), die er der Herrschaft des Adels überantwortet, jener »wenigen«, die von Geburt dazu geschaffen sind, dem Volk »durch Wirken, Bilden, Herrschen vorzustehn« (V. 305). Da er sich in der Ausübung seiner Souveränität auf den Adel verläßt, erblickt er die größte, unmittelbare Gefährdung des Staates in dem »Zwist« und der »Zwietracht« (V. 312) innerhalb des Adels, die das Staatsschiff »von innen« (V. 373) durchbohren. Und so erschöpft sich seine Staatsführung praktisch in dem Versuch, die Opposition aus den Reihen des Adels zu schwächen. Diesem rein defensiven Kalkül entspringt auch sein Versprechen, Eugenie anzuerkennen, denn dadurch hofft er sich den Herzog zu verbinden. Aber die »Milde« (V. 430) dieses Königs, der als fürsorglicher Landesvater in die Geschichte eingehen will (V. 420 f.), ist gefährlich, seine »Güte« tückisch. Schwankend in seinen politischen Absichten und zu schwach, der adligen Opposition zu widerstehen, zögert er nicht, Gewalt und Terror gegenüber Eugenie zu autorisieren. Es hieße, die politische Physiognomie dieses Königs grob verzeichnen, wollte man ihn als aufgeklärten Souverän deuten, der sich in der »Fürsorge für die Untertanen [...] verzehrt«.27 Viel eher sind der Charakter und die dramatische Funktion dieses Königs

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dahingehend zu deuten, daß er, der selbst an der Spitze der ständischen Pyramide steht, jene auseinanderstrebenden Kräfte verkörpert, die das Staatsgebäude zum Einsturz bringen werden. Sein innerer Zwiespalt von Machtbehauptung und Regierungsüber¬ druß reflektiert auf höchster Ebene den Zwist innerhalb des Adels und zwischen Adel und Souverän. Mit seinen persönlichen und politischen Insuffizienzen als Regent liefert der König selbst den gewichtigsten Beleg für jene Diagnose, die Eugenie in ihrem letzten Monolog ausspricht und die um den Begriff der Dekadenz im ursprünglichen Sinn eines in seine Einzelbestandteile zerfallenden Ganzen kreist: »Die zum großen Leben Gefugten Elemente wollen sich Nicht wechselseitig mehr mit Liebeskraft Zu stets erneuter Einigkeit umfangen. Sie fliehen sich, und einzeln tritt nun jedes Kalt in sich selbst zurück. Wo blieb der Ahnherrn Gewalt’ger Geist, der sie zu einem Zweck Vereinigte, die feindlich kämpfenden? Der diesem großen Volk als Führer sich, Als König und als Vater dargestellt? Er ist entschwunden! Was uns übrigbleibt, Ist ein Gespenst, das mit vergebnem Streben Verlorenen Besitz zu greifen wähnt.« (V. 2826f.) Eugenie, die schon Gestürzte, erhebt sich zu der politisch gewichtigsten Einsicht dieses Werkes, daß nämlich die sich widerstreitenden gesellschaftlichen Kräfte im Adel, die sie gestürzt haben, auch die »Prachterscheinung« der ganzen höfisch-ständischen Ord¬ nung zum Einsturz bringen werden. Wie allen gesellschaftlichen Bewegungen, die sich in der Bildersprache der Natürlichen Tochter abzeichnen, wohnt auch dem Sturz Eugenies eine eigentümliche Dialektik inne. Denn indem sie schließlich die Ehe mit dem bürgerlichen Gerichtsrat akzeptiert, verwandelt sie ihren gesellschaftlich-politischen Sturz in eine moralische Erhöhung. Entscheidend für das Verständnis dieses zentralen Aspekts des Trauerspiels ist der Gedanke der Entsagung. Entsagen muß Eugenie ihren Adelsprivilegien und dem Glanz ihrer gesellschaftlichen Erhöhung, den die Symbolik von Gold, Ordensband und robede-ceremonie subtil vergegenwärtigt.28 Entsagung bedeutet aber nicht nur Verzicht; sie hat hier eine positive und eminent gesellschaftliche Bedeutung.29 In diesem Zusammen¬ hang ist auf eine wichtige Reflexion Goethes aus dem Jahre 1795 zu verweisen, die grundlegend ist für seine Auffassung der von der Französischen Revolution aufgewor¬ fenen gesellschaftlichen Problematik und die für die Interpretation der Natürlichen Tochter noch nicht gebührend berücksichtigt wurde. Sie läßt deutlich erkennen, wie sehr sein Verständnis der Revolution von der Adelsproblematik her geprägt war. Goethe spricht an jener Stelle von dem Gefühl jedes Menschen, privilegiert zu sein. Diesem Gefühl widerspricht die Naturnotwendigkeit und die Gesellschaft, denen niemand zu entgehen vermag. Aus diesem Dilemma von subjektiven Ansprüchen und gesellschaftlicher Determination kann sich der Mensch retten und es so weit bringen, daß die Gesellschaft ihn »ihre Vorteile mitgenießen läßt«, allerdings nur dann, »wenn er seinem Privilegiengefühl entsagt« (HA 12,380).

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Das persönliche Privilegiengefühl ist in Eugenie, der Wohlgeborenen, besonders rein ausgeprägt. Ein Leben ohne Glanz scheint ihr nicht lebenswert (V. 2253), der Bund mit dem Gerichtsrat dünkt ihr im Stadium ihres noch ungebrochenen Standesbewußtseins eine Unmöglichkeit: »Unmöglich ist, was Edle nicht vermögen« (V. 2278), nämlich die freiwillige Aufgabe ihrer Privilegien. Noch sinnt sie auf Rettung, doch ihre Spekulation auf die Unterstützung der Volksmassen, die Protektion der Staatsverwaltung und der Kirche erweisen sich nacheinander als illusionär, weil die Staatsmacht hier in der Tat absolut herrscht und weder dem Volk noch dem Gouverneur und der Äbtissin einen Handlungsspielraum gewährt. Erst die Begegnung mit dem Mönch zeitigt indirekt und entgegen seinem Rat, auf den Fieberinseln als Heilsbringerin zu wirken, eine innere Umkehr. Seine Voraussage einer allgemeinen Katastrophe sowie sein Entschluß, »dem Vaterland« in dieser Krise »zu nützen« (V. 2771), bestimmen schließlich auch Eugenie dazu, die Ehe zu akzeptieren und ihren Adelsstand aufzugeben. So erfüllt sie nicht nur den Rat der Hofmeisterin (V. 893), sondern auch das gesellschaftlich-ethische Gebot, das Goethe als die Forderung des Tages erkannt hatte: sie entsagt ihrem Privilegienge¬ fühl. Zwar glaubt sie, vorläufig dem Bürger sexuelle Enthaltung, also eine sogenannte Entsagungsehe30 auferlegen zu dürfen, doch stellt sie sodann eine vorbehaltlose engere Verbindung (V. 2918) in Aussicht, die ihre Integration in das Bürgertum erst eigentlich vollenden wird. Eugenies Sturz aus ihrem Adelsstand enthält somit auch eine positive, aufsteigende Linie: die ethische Läuterung von einem historisch-objektiv nicht mehr angemessenen Privilegiengefühl. Das ist jedoch nur der eine, persönlich-ethische Aspekt ihres Hinab¬ tauchens in das Bürgertum. Der andere, gesellschaftlich gewichtigere, ist darin zu erblicken, daß ihre Entsagung ein Zeichen setzt, über den Um- und Einsturz der alten ständischen Ordnung hinaus die neuen, zukunftsträchtigen Werte zu stärken. Die Ehe gewährt ihr nicht nur den Schutz ihrer Person, sondern weit darüber hinausreichend »des Bürgers hohen Sicherstand« (V. 2205). Die bürgerliche Ehe als Bollwerk gegen die zerstörerischen Kräfte in der alten Gesellschaft: diesen Gedanken hatte Goethe bereits in Hermann und Dorothea zu einem Hohenlied auf das Bürgertum entwickelt. Eben jenen »hohen Sicherstand« beschwört Goethe in der Natürlichen Tochter noch einmal als das gesellschaftliche Heilmittel gegen die die Ständeordnung zerstörenden Kräfte im Adel. Wir wenden uns noch einmal dem problematischen 3. Aufzug zu, jenem breiten Ruhepunkt, der auf den ersten Blick außerhalb der Dynamik der abfallenden und aufsteigenden Grundlinien des Dramas zu stehen schien, und können nun feststellen, daß Goethe die große Klage des Herzogs mit tiefer innerer Berechtigung in das Zentrum des Trauerspiels gestellt hat. Das blinde Motiv der Totenklage erweist sich als nur scheinbar blind. In einem engen, wörtlichen Sinn ist die Klage unberechtigt; ihre verborgene, tiefere Wahrheit beruht auf dem metaphorischen Sinn, den ihr der größere Motivzusammenhang des Werkes mitteilt. Dieser Zusammenhang manifestiert sich dort am eindringlichsten, wo der Schmerz des Herzogs in der Beschwörung einer alles zerstörenden Naturkatastrophe gipfelt und so das zentrale Bildmotiv des Sturzes und Einsturzes amplifiziert: »Ihr Fluten, schwellt, Zerreißt die Dämme, wandelt Land in See!

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Eröffne deine Schlünde, wildes Meer, Verschlinge Schiff und Mann und Schätze! Weit Verbreitet euch, ihr kriegerischen Reihen, Und häuft auf blut’gen Fluren Tod auf Tod! Entzünde, Strahl des Himmels, dich im Leeren Und triff der kühnen Türme sichres Haupt! Zertrümmr’, entzünde sie und geißle weit Im Stadtgedräng der Flamme Wut umher, Daß ich, von allem Jammer rings umfangen, Dem Schicksal mich ergebe, das mich traf!« (V. 1322f.) Was motiviert die Katastrophenvision des Herzogs? Subjektiv - und irrtümlich - der physische Tod seiner Tochter; auf der metaphorischen Ebene und objektiv berechtigt, die Auslöschung ihrer Existenz als Adliger, die in den beiden folgenden Akten ins Werk gesetzt wird. Der 3. Aufzug reflektiert also die gesellschaftliche Gesamtbewegung, allerdings nicht nur die abfallende Linie auf den Einsturz des ganzen Staatsgefüges hin, sondern auch die gegenläufige Aufwärtsbewegung der ethischen Läuterung Eugenies. Der Herzog, um den Gedanken des endgültigen Verlustes tragen zu können, beschließt, ein »Denk¬ mal der Genesung« (V. 1570) zu errichten, in dem sein Schmerz verewigt und das Andenken an die Gestürzte dem Vergessen entrissen werden soll. Wie im Helena-Akt des Faust ist es allein die Kunst, die das »Bild« (V. 1493) der endgültig Verschwundenen retten und erneuern kann. In der Kunst - das ist wohl der Sinn des geheimnisvollen »du warst, du bist« (V. 1722) - kann das Zerstörte und Vergangene in gewandelter, geistiger Form an die Zukunft weitergegeben werden. Der Herzog, ganz dem Geist der alten Ordnung verhaftet, ist zu einer bewußten, gesellschaftlichen Zukunftsperspektive nicht fähig; aber indirekt, in dem Gedanken der Verewigung, verweist auch seine große Elegie auf einen reduzierten und innerlich gewandelten Fortbestand der natürlichen Wohlgeborenheit, den die zwei letzten Akte des Trauerspiels in Aussicht stellen. Eugenies menschlicher Adel, ihr Glanz im weitesten Sinn, kann als »Talisman« (V. 2853) in einer neuen historischen Epoche weiterwirken.31 So sammeln sich in der Klage des Herzogs die beiden die innere Struktur bestimmenden Bewegungslinien des Dramas wie in einem Hohlspiegel und geben, in verdichteter Form, gleichsam das Konzentrat der gesellschaftlichen Diagnose Goethes zu erkennen: Klage über die Zerstörung der adligen Existenzform und Hoffnung auf ihren Fortbe¬ stand unter unwiderruflich veränderten Bedingungen. Die Struktur der Natürlichen Tochter erweist sich somit als ein feingliedrig durchkomponiertes Ganzes, das einem hochentwickelten künstlerischen Kalkül gehorcht. Die architektonische Ausgewogen¬ heit dieses Stückes erscheint noch um einige Grade demonstrativer als die von Iphigenie und Torquato Tasso?2 Mit dieser Architektonik, in der gleichsam der 3. Akt den Schlußstein bildet, der den Bau auf die Höhe bringt und zusammenhält, leistet die Form des Werkes einen Akt der Abwehr gerade jener Kräfte der Auflösung, die das Trauerspiel zum Gegenstand hat.33 Auf diese Wirkung der künstlerischen Form darf jenes Bild vom Karfunkelstein bezogen werden, der »mit herrlich mildem Scheine [.. .] leuchten« und die »geheimnisvollefn] Schauer [. ..] der öden Nacht [...] hold bele¬ ben« (V. 65 f.) soll. Der Goethesche Klassizismus, viel bewundert und viel gescholten

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auch er, enthüllt darin sein vielleicht charakteristischstes Motiv: die Überzeugung von der verborgenen ethischen und nicht zuletzt auch gesellschaftlichen Wirkung der Kunst. Das Verdikt Hans Mayers, Goethes ernsthaftester Versuch einer Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution sei gescheitert, erweist sich somit in gewissem Sinn als richtig und falsch zugleich. Ein Scheitern ist zu konstatieren, wenn man Goethes Selbstdeutung zum Kriterium nimmt, wonach er in der Natürlichen Tochter versucht habe, die Revolution und ihre Folgen zu gestalten. Davon kann in der Tat nicht die Rede sein, und zwar insofern, als hier - anders als in der Geschichte - das Bürgertum keine aktive, den Verlauf der gesellschaftlichen Umwälzung mitbestimmende Rolle spielt. Auch das Schlußbild des Trauerspiels von der friedlichen, engen Vereinigung von Adel und Bürgertum entbehrt letztlich der geschichtlichen Wahrheit. Das Werk erscheint aber nur dann als mißlungen, wenn man sich an das hält, was Goethe glaubte geleistet zu haben oder leisten zu sollen. Unabhängig davon ist dem Werk ein denkwürdiges Gelingen zu bescheinigen in dem, wovon das Stück tatsächlich handelt: der Rolle des Adels und des Monarchen in dem Selbstzerstörungsprozeß der alten Ständeordnung. Jene Selbstdeutung Goethes ist demnach so zu verstehen, daß sich ihm die große Thematik der Revolution auf die Rolle des Adels in einer vorrevolutionären Situation verengte. Wie schon bemerkt, machte Goethe für alle Revolutionen die Regierenden verantwortlich; das bezeichnet die prinzipielle Grenze seines gleichsam endogenen Verstehens gesellschaftlicher Umwälzungen. Unter dieser Voraussetzung erscheint es andererseits aber durchaus einleuchtend, daß sich sein Nachdenken über die Revolu¬ tion primär auf den Adel richtete. Nach dem Selbstverständnis der Epoche hatte der Adel die politisch entscheidende Funktion, zwischen Souverän und Volk Bindung und Ausgleich herzustellen.34 Der Adel, den Goethe in der Natürlichen Tochter zeigt, ist dieser gesellschaftlichen Aufgabe längst entfremdet; er untergräbt »Vaterland und Thron« (V. 1261), denn er strebt selbst nach Macht und unterminiert so das Gefüge der ständischen Ordnung, das daher notwendig einstürzen muß. Bei genauerem Zusehen enthüllen denn auch alle wesentlichen Motive des Trauerspiels ihre Herkunft aus der Adelsproblematik der Epoche. Die konkrete Motivierung der Intrige des Bruders gegen Eugenie: die Verteidigung seines Erb- und Machtanspruchs, erwächst aus der sozialen Wirklichkeit des Adels und rührt an seine Existenzgrundlage. Ebenso stammt das Motiv der Legitimierung Eugenies aus der standestypischen Rechtsproblematik; die Anerkennung illegitimer Adelskinder, ihre Einführung am Hof und Einsetzung in ihre Rechte und Privilegien: nichts kennzeichnet schärfer die oft endlosen juristischen Auseinandersetzungen innerhalb des Adels im 18. Jahrhundert. Und schließlich stellt sich auch die Integration Eugenies in das Bürgertum als Reflex der zeitgenössischen Adelsproblematik dar, der intensiv diskutierten Frage nämlich, ob sogenannte Mißhei¬ raten dazu beitragen könnten, den Standesgegensatz zwischen Adel und Bürgertum zu überwinden.35 In Wilhelm Meisters Lehrjahren hatte Goethe diese Problematik aus der Sicht des Bürgertums dargestellt und im Sinne der konservativen Adelsdiskussion den Gedanken der »Mißheirat« als Mittel zur Annäherung der Stände und zum sozialen Frieden propagiert. Das Ende der Natürlichen Tochter scheint eine ähnliche politische Botschaft zu enthalten: die Hoffnung, daß aus dem selbstverschuldeten Niedergang des

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Adels und dem Umsturz der bestehenden Ordnung eine Epoche der bürgerlichen Ordnung und des bürgerlichen Sicherstandes hervorgehen möge. Hier ist jedoch zu bemerken - und das erhellt den politischen Gehalt der Natürlichen Tochter am deutlichsten daß sich Goethes Auffassung von der gesellschaftlichen Rolle des Adels seit den Lehrjahren entschieden ins Pessimistische gekehrt hat. Glaubte er dort noch, in gegenrevolutionärer Zuversicht und einem Anflug von fast märchen¬ haftem Geschichtsoptimismus, im Reformadel vom Typ Lotharios und Natalies sowie in der Interessenkoinzidenz des Besitzes zwischen Adel und Bürgertum die Garanten für eine friedliche und zukunftssichere Entwicklung der Ständeordnung erblicken zu können,36 so fällt sein Urteil über den Adel in der Natürlichen Tochter äußerst pessimistisch aus. Ein Stand, der Eugenie aus seinen Reihen entfernt und für die Werte der natürlichen Wohlgeborenheit blind geworden ist, bereitet sich selbst das Schicksal und damit auch dem ganzen Staatsgebäude, das er eigentlich zu tragen berufen ist. Im Lichte dieser Zusammenhänge darf man der Konzeption der Natürlichen Tochter die Absicht einer Selbstkorrektur zuschreiben, ja eigentlich der Zurücknahme jener allzu hoffnungsvollen Diagnose der Lehrjahre.37 Diese Einsicht in die geschichtliche Not¬ wendigkeit einer solchen Zurücknahme findet erneuten Ausdruck in dem fünf Jahre später geschriebenen Roman Die Wahlverwandtschaften. Das sozialgeschichtliche Profil der Natürlichen Tochter tritt demnach am deutlichsten in Erscheinung, wenn wir das Werk, unerachtet der viel höher greifenden Selbstdeu¬ tung Goethes und der sich daran anschließenden geschichtsphilosophischen Spekulatio¬ nen der Interpreten, in den historisch relativ engen Umkreis seiner Reflexion auf die Adelsproblematik stellen. Von daher wäre vor allem jene These einzuschränken, die in der Forschung immer noch Beachtung findet, wonach es Goethe in diesem Trauerspiel um die Gestaltung des »Urphänomens der Revolution« gegangen sei.38 Was immer man sich darunter vorstellen mag: diese These steht auf schwachen Füßen. Der historische Bezugspunkt der Natürlichen Tochter ist die Französische Revolution; die Absicht, das Urbildliche mehrerer Revolutionstypen zu erfassen, läßt sich an keiner Stelle nachweisen. Das historisch naheliegende Beispiel der Amerikanischen Revolution etwa hat mit den hier gestalteten Verhältnissen nichts zu tun. Im übrigen wird der Begriff Urphänomen hinfällig, wenn - wie es hier der Fall ist - das Gesamtphänomen der Revolution überhaupt nicht in den Blick kommt, sondern nur ein Teilphänomen. Die offenbare Tendenz des Werkes zur Abstraktion von der Geschichte und zur genetischen Analyse eines historischen Umsturzes reicht jedoch zur Begründung der problematischen Urphänomen-These nicht aus. Ein noch entschiedenerer Einwand ist schließlich gegen die These Emrichs geltend zu machen, Die natürliche Tochter sei als eine Art poetischer Beitrag »zur Ursprungsgeschichte der modernen Welt« zu deuten. Diese Auffassung impliziert, daß die moderne Welt im wesentlichen aus dem Zusammenbruch des alten Ständestaates und seiner politischen Begleiterscheinungen entstanden sei und daß Goethe diese Zusammenhänge intuitiv begriffen und gestaltet habe. Dagegen ist zu erinnern, daß Goethes Verständnis der Revolution, ihrer Ursachen und Folgen, allzu sehr eingeschränkt war auf die politische Problematik des Adels, als daß er das sehr viel weitere Feld der »Ursprungsgeschichte der modernen Welt« hätte überblicken und gestalten können. Zugespitzt ausgedrückt: Nicht als Vision der Politisierung des modernen Lebens denn als Elegie auf den vom Adel verschuldeten Zusammenbruch des alten Ständestaates stellt sich uns Goethes Drama Die natürliche Tochter dar.

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Anmerkungen 1 Der Text wird zitiert nach: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. 5. Textkrit. durchges. und mit Anm. vers. von Josef Kunz. Hamburg 1952. Nachweis der Versziffern in Klammern im fortlaufen¬ den Text. Zitate aus anderen Werken Goethes erfolgen ebenfalls im Text nach der Hamburger Ausgabe (= HA) mit eingeklammerter Sigel, Band- und Seitenzahl. - Die Aufarbeitung der Rezep¬ tionsgeschichte der Natürlichen Tochter ist ein Desiderat der Goethe-Forschung. Einen knappen Überblick, in dem jedoch fast nur die positiven Würdigungen berücksichtigt werden, gibt Ehrhard Bahr: Goethes »Natürliche Tochter«: Weimarer Hofklassik und Französische Revolution. In: Deutsche Literatur zur Zeit der Klassik. Hrsg, von Karl Otto Conrady. Stuttgart 1977. S. 226 bis 242. 2 Wilhelm Emrich: Goethes Trauerspiel »Die natürliche Tochter«. Zur Ursprungsgeschichte der modernen Welt. In: Aspekte der Goethezeit. Hrsg, von Stanley A. Corngold [u. a.]. Festschr. für Victor Lange. Göttingen 1977. S. 163-182. Vgl. auch Emrichs älteren Beitrag: Marquis de Sade und die natürliche Tochter. In: W. E.: Polemik. Streitschriften, Pressefehden und kritische Essays um Prinzipien, Methoden und Maßstäbe der Literaturkritik. Frankfurt a. M. 1968. S. 52-56. 3 Emrich: Goethes Trauerspiel... (Anm. 2) S. 164, 178, 174. 4 Ebd. S. 179. 5 Bahr (Anm. 1) S. 227, 236 f. 6 Diese Deutungstendenz, die auf eine Neubewertung des Werkes als symbolische Vorwegnahme moderner politischer Verhältnisse zielt, vertreten, mehr oder weniger entschieden, folgende Interpre¬ ten: Emil Staiger: Goethe. Bd. 2. Zürich 1956. S. 366-402; Hans-Egon Hass: Goethe. Die natürliche Tochter. In: Das deutsche Drama. Hrsg, von Benno von Wiese. Bd. 1. Düsseldorf 1958. S. 215-247; Paul Böckmann: Die Symbolik der »Natürlichen Tochter« Goethes. In: Worte und Werte. Hrsg, von Gustav Erdmann und Alfons Eichstaedt. Bruno Markwardt zum 60. Geburtstag. Berlin 1961. S. 11-23; Theo Stammen: Goethe und die Französische Revolution. Eine Interpretation der »Natürli¬ chen Tochter«. München 1966; Derek van Abbe: Truth and Illusion about »Die natürliche Tochter«. In: Publications of the English Goethe Society N. S. 41 (1970/71) S. 1-20; Francis J. Lamport: »Entfernten Weltgetöses Widerhall«: Politics in Goethe’s Plays. In: Publications of the English Goethe Society N. S. 44 (1973/74) S. 41-62. 7 Guiliano Baioni: Classicismo e Rivoluzione. Goethe e la Rivoluzione francese. Napoli 1969. S. 255-272. Zum gegenrevolutionären Impuls des Weimarer Kunstprogramms vgl. auch Hans Rudolf Vaget: Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe. Praxis, Theorie, Zeitkritik. München 1971. S. 108 ff. 8 Hans Mayer: Goethe. Ein Versuch über den Erfolg. Frankfurt a. M. 1973. S. 99. 9 Ebd. S. 40. 10 Vgl. dazu Dieter Borchmeyer: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im Urteil der Weimarer Klassik. Kronberg 1977. S. 323 bis 332. 11 Memoires historiques de Stephanie-Louise de Bourbon-Conti, ecrits par elle-meme. 2 Bde. Paris 1798. - Die Beziehungen zu dieser Quelle sind mehrmals und inzwischen wohl erschöpfend untersucht worden, so von Michel Breal: Une heroine de Goethe. Les personnages originaux de »La Fille naturelle«. In: Revue de Paris 5 (1898) S. 501-536, 803-825; Gustav Kettner: Goethes Drama »Die natürliche Tochter«. Berlin 1912. S. 14-36; Ronald Peacock: Goethes »Die natürliche Tochter« als Erlebnisdichtung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 26 (1962) S. 1-25, bes. S. 19ff. 12 Das geschieht mehr oder weniger eindeutig in den Interpretationen von Hermann Boeschenstein (Goethe’s »Natürliche Tochter«. In: Publications of the English Goethe Society N. S. 25 [1955/56] S. 21-40), der von einem »drama of the making of a great decision and the proclaiming of a lofty conviction« spricht; Hass (Anm. 6), der das Trauerspiel als »Entsagungsdrama« auffaßt; Peacock (Anm. 11), der argumentiert, daß hier eigentlich zwei Dramen verschmolzen seien: eine politische Handlung und ein »subjektives Gefühlsdrama«, d. h. eine im wesentlichen autobiographische »Leben-Tod-Thematik«, der er die größere Bedeutung zuzumessen scheint, und Ilse Graham: Goethe. Portrait of the Artist. Berlin 1977. S. 253-293. 13 Vgl. dazu Peter Demetz: Goethes »Die Aufgeregten«. Zur Frage der politischen Dichtung in Deutschland. Hannoversch-Münden 1952. 14 Vgl. dazu Gustav Roethe: Das Mädchen von Oberkirch (in: G. R.: Goethe. Gesammelte Vorträge und Aufsätze. Berlin 1932. S. 137-162 [zuerst 1895]) sowie Kettner (Anm. 11) S. 11-14.

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15 Zum Problem der sogenannten Mißheiraten, das für die Adelsdiskussion und die Literatur der Zeit von beträchtlicher Bedeutung ist, vgl. das 32. Hauptstück »Von Mißheyrathen der Adelichen« in: Christian Gottlob Riccius: Zuverläßlicher Entwurff von dem landsässigen Adel. Nürnberg 1735. S. 465-477; Friedrich Georg August Schmidt: Fortgesetzte Beyträge zur Geschichte des Adels' und zur Kenntnis der gegenwärtigen Verfassung desselben in Teutschland. Braunschweig 1795. Bes. den Abschnitt »Historische und rechtliche Untersuchung und Entwicklung der Lehre von unstandesmä¬ ßigen Ehen und Mißheyrathen in alten, mittlern und neuern Zeiten«. Zum Verständnis von Goethes Einstellung zur politischen Rolle des Adels und zum Standesgegensatz ist vor allem die bedeutende Schrift von August Wilhelm Rehberg (Über den deutschen Adel. Göttingen 1803) heranzuziehen, dessen konservativ-liberale Position sich in vieler Hinsicht mit den politischen Anschauungen und Neigungen Goethes deckt. 16 Siehe Roethe (Anm. 14) S. 141. 17 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe. Hrsg, von H. H. Houben. Wiesbaden 251959. S. 416 (4. 1. 1824). 18 Vgl. dagegen Bahr (Anm. 1, S. 230 f.), der eine Verbindung zu der berühmten Halsbandaffäre von 1785 zieht. 19 Vgl. dazu besonders Kurt May: Goethes »Natürliche Tochter«. In: K. M.: Form und Bedeutung. Interpretationen deutscher Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1957. S. 89-106 (zuerst 1939); Verena Bänninger: Goethes »Natürliche Tochter«. Bühnenstil und Gehalt. Zürich 1957. S. 90-113; Hass (Anm. 6) S. 226 ff. 20 Vgl. dazu Staiger (Anm. 6) S. 374 f. und Ronald Peacock: Incompleteness and Discrepancy in »Die natürliche Tochter«. In: The Era of Goethe. Essays presented to James Boyd. Oxford 1959. S.118-132. 21 Vgl. dazu R. H. Stephenson: The Coherence of Goethe’s Political Outlook. In: Tradition and Creation. Ed. by Charles P. Magill [u. a.]. Essays in Honour of Elizabeth Mary Wilkinson. Leeds 1978. S. 77-88. 22 Vgl. dazu besonders Kettner (Anm. 11) S. 83 f., 92 f. 23 Vgl. Baioni (Anm. 7) S. 258: »Ora sarebbe certo un grave errore considerare Die natürliche Tochter come la rappresentazione del problema politico della Rivoluzione attribuendo a Goethe degli strumenti di interpretazione del tutto estrani alla sua formazione.« 24 Kettner (Anm. 11) S. 99. 25 Die Symbolik des Netzes untersucht ausführlich Theo Stammen (Anm. 6) S. 167-183. 26 Von der Motivik des Erscheinens und Verschwindens handeln Stammen (Anm. 6) S. 33-98; Bänninger (Anm. 19) S. 42-62. 27 May (Anm. 19) S. 91. Die Deutung des Königs als eines zwar schwachen, aber wohlwollenden Regenten findet sich häufig in den Interpretationen der Natürlichen Tochter. 28 Zur politischen Symbolik des Goldes vgl. Stammen (Anm. 6) S. 184—194; Bahr (Anm. 1) S. 233 f.; Emrich: Goethes Trauerspiel. .. (Anm. 2) S. 169f. 29 Vgl. dazu vor allem Arthur Henkel: Entsagung. Eine Studie zu Goethes Altersroman. Tübingen 21964. S. 37f., 142 f.; Bernd Peschken: Entsagung in »Wilhelm Meisters Wanderjahren«. Bonn 1968. S. 7 f.; Ehrhard Bahr: Die Ironie im Spätwerk Goethes. Berlin 1972. S. 122 f. 30 Zur ethisch-politischen Bedeutung der Entsagungsehe vgl. Ernst Jockers: Soziale Polarität in Goethes Klassik. In: E. J.: Mit Goethe. Gesammelte Aufsätze. Heidelberg 1957. S. 48-89, hier S. 72; Bahr (Anm. 1) S. 236; Borchmeyer (Anm. 10) S. 327f. 31 Vgl. dazu allgemein Heinz Otto Burger: Europäisches Adelsideal und deutsche Klassik. In: H. O. B.: »Dasein heißt eine Rolle spielen.« Studien zur deutschen Literaturgeschichte. München 1963. S. 211-233. Burgers zentrale These, derzufolge es Goethe darum gegangen sei, das Menschenbild der alten Adelswelt Europas zu restaurieren und gleichsam in die bürgerliche Epoche hinüberzuretten, erscheint jedoch insofern fragwürdig, als er über gewichtige Aspekte der Adelskritik in Goethes Werk hinwegsieht. 32 Vgl. den typologischen, auch sozialgeschichtlich interessanten Vergleich der drei Dramen von Theodore J. Ziolkowski: The Imperiled Sanctuary. Toward a Paradigm of Goethe’s Classical Dramas. In: Studies in the German Drama. Ed. by Donald H. Crosby and George C. Schoolfield. A Festschr. in Honor of Walter Silz. Chapel Hill 1974. S. 71-87. 33 Eine verwandte dialektische Deutung der Sprache und Struktur der Natürlichen Tochter liefert Bahr (Anm. 1) S. 235: »Dem Zuschauer wird vorgeführt, wie die >Seelensprache< des klassischen Dramas von der Politik pervertiert wird, wie die Form der >tragedie classique< von den politischen Empor-

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kömmlingen gegen den Herzog und seine Tochter, den Repräsentanten dieser Gattung, verwendet wird.« Siehe den ausgezeichneten Artikel »Adel« von Werner Conze. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hrsg, von Otto Brunner [u. a.]. Stuttgart 1972. S. 1-48. Vgl. auch Günter Birtsch: Zur sozialen und politischen Rolle des deutschen, vornehmlich preußischen Adels am Ende des 18. Jahrhunderts. In: Der Adel vor der Revolution. Zur sozialen und politischen Funktion des Adels im vorrevolutionären Europa. Hrsg, von Rudolf Vierhaus. Göttingen 1971. S. 77-95. Vgl. dazu bes. Rehberg (Anm. 15) und Schmidt (Anm. 15). Dazu Hans Rudolf Vaget: Liebe und Grundeigentum in »Wilhelm Meisters Lehrjahren«. Zur Physiognomie des Adels bei Goethe. In: Legitimationskrisen des deutschen Adels 1200-1900. Hrsg, von Peter U. Hohendahl und P. Michael Lützeier. Stuttgart 1979. S. 137-157. Vgl. dagegen die meines Erachtens unzutreffende Deutung dieser Zusammenhänge bei Borchmeyer (Anm. 10), der in den Lehrjahren ein entschiedenes Bekenntnis zum bürgerlichen »Wertsystem« erblickt und die nachfolgende Entwicklung, einschließlich der Natürlichen Tochter, als eine Weiter¬ führung dieser politischen Tendenz wertet. Siehe Sylvia P. Jenkins: Goethe’s »Die natürliche Tochter«. In: Publications of the English Goethe Society N. S. 28 (1958/59) S. 40-63; Bahr (Anm. 1) S. 231.

CHRISTOPH SIEGRIST

Dramatische Gelegenheitsdichtungen: Maskenzüge, Prologe, Festspiele

Das hier zu besprechende Textkorpus1 scheint auf den ersten Blick sehr heterogen zu sein; seine Entstehung zieht sich über ein halbes Jahrhundert hin und ist unauflöslich mit Goethes Stellung am Weimarer Hof verbunden. Von der Forschung ist es in den meisten Fällen stiefmütterlich behandelt worden, nicht zuletzt weil es sich dem Typus der Erlebnisdichtung nicht subsumieren läßt; erst Wilhelm Emrichs Symbolinterpreta¬ tion hat die Bedeutsamkeit dieser Art von Dichtung erschlossen. Im Unterschied zur Mißachtung von seiten der traditionellen Germanistik hielt Goethe selbst nicht wenig von diesem Teil seiner poetischen Produktion - das belegen viele Äußerungen2 sowie die Tatsache, daß er die Texte durch Aufnahme in die erste Gesamtausgabe (Cotta 1806-10) ausdrücklich als Bestandteil seines Werks legitimierte. Der Gemeinsamkeiten sind viele. Es handelt sich durchgehend um Produktionen, die zu einer bestimmten Gelegenheit verfaßt wurden. Der Begriff der Gelegenheit muß dabei präzisiert und auf das Goethesche Verständnis zurückgeführt werden.3 Goethe war bei den festlichen Anlässen mehr als ein bloßer »Dekorateur«, wie Friedrich Gundolf ab wertend meinte;4 er suchte die un wiederholbare Gunst des Augenblicks zu nutzen, die sich ihm hier nicht im persönlichen Erlebnis, sondern im von außen herangetragenen Auftrag erschloß. Er entwickelte ein eigenes Verständnis für diese aus dem Zeitablauf herausgehobenen Augenblicke: »Das Fest ist der Augenblick, in dem das Zeitliche zum Stehen kommt und in ihm Zeitloses sichtbar wird (in der Ordnung und Organisation der vorher getrennten und disparaten Figuren). Die Festkonstellation ist Symbol des Symbols, insofern in ihr die verworrene Mannigfaltigkeit der Welt in einem überschaubaren Bild zusammengezogen und konzentriert wird.«5 Im Kairos des Festes tritt »die Idee in Erscheinung«,6 treffen Mensch und Welt rein zusammen, ereignet sich im Spiel eine allgemeine Versöhnung - das will ausgeführt sein. Mit der Absenz subjektiver Schaffensmotivation korrespondiert die Struktur dieser Texte, die zur Objektivität in symbolisch-allegorischen Figurationen drängt. Jeder Text wird intensiv auf das jeweilige Publikum bezogen, da Goethes Wirkabsicht darauf zielte, diesem durch seine eigene Beteiligung ein Ab- und Vorbild harmonischer Gesellschaft vorzuführen. Dies konnte nur in der Ästhetisierung des aus dem Alltag herausgehobenen festlichen Augenblicks gelingen. Dabei suchte er seine in Italien gewonnene Einsicht in die Grundgesetzlichkeit von Natur und Kunst anschaulich zu machen: »[.. .] alle Festspiele [...] beschäftigen sich mit der Metamorphose; sei es nun, daß sie als Metamorphose des Menschen, als Verwandlung der Natur und Geburt des Kunstwerks oder, wie in der Pandora, als >Idee< dargestellt wird, als >Resultat aller Erfahrung< und als allgemeingültige Lebensform.«7 Alle diese intentional, strukturell, inhaltlich und im Publikumsbezug eng verwandten Texte tendieren über die sprachliche Form hinaus zu einer Art von Gesamtkunstwerk, als das Goethe das Fest zu gestalten suchte: einzig in der glanzvollen Aufführung mit Musik, Pantomime, reicher Dekoration, Tanz, Kostümen und Requisiten entfaltet sich

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durch Selbstdarstellung der Festgesellschaft, die im Spiel sich verwandelt, ihr Eigentli¬ ches - ein in den Ausgaben überlieferter Text vermag davon (wie eine Partitur) nur eine blasse Ahnung zu vermitteln. Dabei hat Goethe dem Auge eine besondere Dignität zugedacht gemäß seiner Überzeugung: »Die Totalität des Innern und Äußern wird durchs Auge vollendet« (WA 11,5/2,12). In der reinen Schau verbinden sich Erschei¬ nung und Idee zur Erkenntnis, die der festliche Augenblick zustande bringt, nicht als abstrakt vermittelte, sondern als anschaulich gewordene; das Festspiel ist als SchauSpiel mehr als bloße Wortkunst. In der Abwendung vom Erlebnishaften, im Verzicht auf den Ausdruck subjektiver Empfindungen, in der Verwendung symbolisch-allegorischer Verfahren gehören die meisten der dramatischen Gelegenheitsdichtungen in den Umkreis des Spätwerks; die Verbindungen zum Faust II sind überall greifbar, wenngleich von komplizierter Art.

Maskenzüge Mit der Übernahme seiner amtlichen Tätigkeit in Weimar fielen Goethe auch die Pflichten eines Hofpoeten zu. Er hat sich dieser Aufgabe stets willig, wenn auch zeitweise mit wenig Begeisterung unterzogen, verstand er sich doch vornehmlich als mitverantwortlichen Teil der Hofgesellschaft. Goethe war es auch, der die Maskenzüge in die Weimarer Redouten einführte, die nach 1780 im neuerbauten und räumlich größeren Redouten- und Komödienhaus (seit 1801 im Stadthaus) stattfanden und den langweiligen Kleinstadtwinter belebten. Es handelte sich um Bälle mit Maskenfreiheit, die von den Bürgern der Stadt bei teilweise freiem Eintritt besucht werden konnten. »Nur der Livree und Dienerschaft wird der Zutritt in Maske nicht gestattet.«8 Goethe berichtet darüber: »Die Weimarischen Redouten waren besonders von 1776 an sehr lebhaft und erhielten oft durch Masken-Erfindungen einen besonderen Reiz. Der Geburtstag der allverehrten und geliebten regierenden Herzogin fiel auf den 30. Januar und also in die Mitte der Wintervergnügungen. Mehrere Gesellschaften schlossen sich aneinander, teils bildeten sie einzelne sinnreiche Gruppen, davon manches Angenehme zu erzählen sein würde, wenn man sich jenes weggeschwundenen Jugendtraums wieder lebhaft erinnern könnte. Leider sind die meisten Programme sowie die zu den Aufzügen bestimmten und dieselben gewisserma¬ ßen erklärenden Gedichte verloren gegangen, und nur wenige werden hier mitgeteilt. Symbolik und Allegorie, Fabel, Gedicht, Historie und Scherz reichten gar mannigfalti¬ gen Stoff und die verschiedensten Formen dar« (Ankündigung in der Ausgabe von 1806). Die Aufzüge sollten nicht nur unterhalten, sondern im erwähnten Sinne belehren: »Ergetzen sollt ihr, geistreich unterhalten, / Belehren auch und warnen freundlichst milde« (WA 1,4,59). Mit ihrer Hilfe suchte Goethe ein gebildetes Publi¬ kum mit den Gesetzlichkeiten von Natur, Kunst und Gesellschaft bekannt zu machen. Solche über die fürstliche Huldigung, die die Aufzüge stets auch enthalten, hinausrei¬ chende erzieherische Intention erhellt bereits aus dem Festspielplan, den Wilhelm Meister in der Theatralischen Sendung entwirft;9 sie ist noch spürbar in den Zügen des Mummenschanz und des Ägäischen Festes im Faust II. Die Festbesucher waren dabei gleichzeitig aktive Teilnehmer wie passive Zuschauer und verbanden sich im ästheti¬ schen Arrangement zu einem Bild harmonischer Vereinigung: »Doch jeder blickt

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behende nach den Seinen, / Und theiit mit Freunden freudiges Gefühl; / Man eilet, sich harmonisch zu vereinen« (WA 1,16,209). Die tragenden Rollen blieben indes den Angehörigen des Adels, dem engeren Zirkel Goethes Vorbehalten. Die Maske repräsentiert gegenüber dem individuellen Gesicht das Allgemeine, Typi¬ sche und eignet sich damit besonders für ein symbolisch-allegorisches Verfahren. Beim Maskenzug sollte der einzelne im festlichen Augenblick sich aus der eigenen Individua¬ lität wie aus der gesellschaftlichen Konvention lösen und sich antizipierend in einen neuen, höheren gesellschaftlichen Zusammenhang integrieren können: »Die Wirkung dieses Festes fühl’ ich gleich, / Ein neuer Sinn muß uns vereinen« (WA 1,16,257). Die Festspieldichtung führt den Menschen im immerwährenden Prozeß von Bildung und Umbildung vor, sie zeigt die Gesellschaft in der Metamorphose. Viele Programme sind verlorengegangen, und die Beschreibungen, die von einigen im Journal des Luxus und der Moden gegeben wurden, bilden keinen Ersatz. Gelegentlich sind nur einzelne (z. B. auf Seidenbänder gedruckte) Gedichte erhalten, die der Flerzogin überreicht wurden. Goethe hat diese Tatsache einerseits mit Bedauern registriert: »Schade, daß solche Erscheinungen nicht festgehalten, ja nicht einmal, wie gute Theaterstücke, wiederholt werden können.«10 Andrerseits war er sich der Unwie¬ derholbarkeit dieser »Schmetterlinge«11 bewußt: »Der größte Reiz wird bei aller Überlieferung das Unaussprechliche bleiben.«12 Als Vorbilder hat man häufig auf den italienischen Renaissance-Trionfo und die barocken Hoffeste verwiesen, ohne indes den Zusammenhang deutlich machen zu können.13 Fest steht dagegen der große Einfluß des Römischen Karnevals, in dessen buntem Festgewimmel Goethe sich erstmals die symbolische Gesetzmäßigkeit alles Lebendigen erschloß.14 Anfänglich finden sich durchaus Äußerungen des Widerwillens wie die folgende gegen die Auftragsdichtung: »Man übertäubt mit Maskeraden und glänzenden Erfindungen offt eigne und fremde Noth. Ich tracktire diese Sachen als Künstler und so gehts noch [...] Wie Du die Feste der Gottseeligkeit ausschmückst, so schmück ich die Aufzüge der Thorheit. Es ist billich daß beyde Damen ihre Hofpoeten haben« (Brief an Lavater, 19. 2. 1781). Dabei handelt es sich um Unmutskundgebungen des bürgerlichen Individuums, das sich noch nicht in die Hofgesellschaft integriert hat, und um Reaktionen des autonom sich fühlenden poetischen Genies, das einzig aus innerer Notwendigkeit zu poetischer Produktion getrieben sein wollte. Doch in der Ästhetisierung gelingt zunehmend die Versöhnung von bürgerlichem Individualitätsanspruch und höfischer Pflicht - ungleich seiner Tasso-Figur vermag Goethe die beiden wider¬ sprüchlichen Prinzipien zu vereinen. Nach seiner Italienreise verstummen zusehends die Klagen über diese Aufgaben. Vom ersten Maskenzug (zum 30. 1. 1781) hat sich nur das Huldigungsgedicht erhalten, das abschließend von den Verkleideten der Herzogin überreicht wurde.15 Darin wird das durch Johann Heinrich Lamberts Kosmologische Briefe sowie durch Reisebeschrei¬ bungen bekanntgewordene Phänomen des Nordlichts thematisiert. (Kosmologische Themen behandeln auch die Maskenzüge von 1782, 1784 und 1810.) Die Metamor¬ phose von kalter Nacht zu glänzender Tageshelle (die sich in fast allen Texten dieser Gruppe findet) dient der Glorifikation fürstlicher Herrschaft: das Wesen der Herzogin wird mit dem des Lichts verglichen insofern, als beide nicht unmittelbar, sondern nur gebrochen in Erscheinung zu treten vermögen. Goethe verbindet hier einmal mehr

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Dichtung und Naturwissenschaft; ein Naturgesetz wird als Kunstfolge veranschaulicht: »wie das Licht die Metamorphose im Physischen hervorruft, so bewirkt das Wesen der Fürstin [...] die sittliche Metamorphose. Diese offenbart sich in der Tätigkeit des Menschen und führt zur Bildung einer neuen Gesellschaft als einer tätigen Gemein¬ schaft.«16 Die bedeutendsten unter den überlieferten Maskenzügen sind der 11. {Die romantische Poesie, 1815) und der 14. {Festzug dichterischer Landeserzeugnisse..., 1818). Im 11. Maskenzug läßt Goethe (anläßlich der Verlobung der Prinzessin Caroline) die von den Romantikern gepriesenen, zur Mode gewordenen Gestalten mittelalterlicher Dich¬ tung17 in buntem Reigen vorüberziehen. Das aufwendigste und umfangreichste Unter¬ nehmen (mit rund 150 Mitwirkenden) stellt der 1818 anläßlich des Besuchs der Kaiserin-Mutter Maria Feodorowna aufgeführte Maskenzug dar, zu dessen Konzep¬ tion Goethe sich fünf Wochen lang in die Einsamkeit von Berka zurückzog. Einem prologierenden Genius in Pilgertracht folgen mehrere Allegorien, bevor mit Wielands Figuren (Musarion, Oberon) der Reigen »dichterischer Landeserzeugnisse« eröffnet wird. Ihnen folgen entsprechende Figuren aus den Werken Herders, Goethes und Schillers; sie alle sollten die Gültigkeit der klassischen Kunstepoche belegen. Im Epilog, der in hellem Licht vorgetragen wird, folgt auf die Dämmerung des Anfangs die vollentwickelte Blüte von Kunst und Wissenschaft, wie sie sich in Weimar ausgebildet haben. Auch dieser Maskenzug propagiert eine von einem wohlwollenden Fürsten getragene und geförderte Entwicklung mit dem Schwergewicht auf der ästhetischen, wissenschaftlichen und sittlichen Erziehung, von deren Beförderung sich Goethe eine unmittelbare Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Hinblick auf die Realisierung des klassischen Humanitätsideals versprach.

Vorspiele, Prologe In dieser Gruppe von dramatischen Gelegenheitsdichtungen steht naturgemäß das Phänomen der Kunst im Zentrum, wobei Goethe die >Gelegenheit< benutzt, seine Überzeugung von deren Wesen und Funktion dem Publikum zu übermitteln. Interes¬ sant ist besonders das Vorspiel zur Eröffnung des Theaters am 19. September 1807 nach glücklicher WiederverSammlung der Herzoglichen Familie. Im Gefolge der Napoleonischen Kriege war der Herzog nach der französischen Besetzung Weimars und der Niederlage von Jena mehr als ein Jahr lang seinem Lande ferngeblieben, und auch die Herzogin hatte im fernen Schleswig Zuflucht gesucht, zusammen mit Maria Pawlowna (zu deren Einzug Schiller auf Drängen Goethes, dem nichts Passendes einfallen wollte, seine einzige Gelegenheitsdichtung Die Huldigung der Künste verfaßt hatte). Goethe gestaltete sein Festspiel als Friedensspiel: erneut führt die Entwicklung von der grollenden Kriegsnacht zum strahlenden Friedenstag (ähnlich später in Des Epimenides Erwachen). Im Zentrum steht die Allegorie der Majestät im Krönungsornat, welche die Grundsätze aufgeklärter Monarchie verkündet: Weisheit, gepaart mit Macht, schafft Vertrauen und damit die unersetzliche Basis gedeihlicher Entwicklung in der Überein¬ stimmung von kosmischer und menschlicher Gesetzlichkeit:

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»So im Kleinen ewig wie im Großen Wirkt Natur, wirkt Menschengeist, und beide Sind ein Abglanz jenes Urlichts droben, Das unsichtbar alle Welt erleuchtet. Und so grüße jedes Land den Fürsten, Jede Stadt den Ältesten, der Haushalt Grüße seinen Herrn und Vater jauchzend, Wenn sie wiederkehren als die Meister Zu erbauen oder herzustellen.« (WA 1,13/1,30) Dieser hierarchisch-patriarchalische Entwurf weist Goethe als Apologeten des Beste¬ henden aus, das durch Bildung in langsamer Evolution verbessert werden muß, ohne daß die Grundlagen durch gewaltsamen Umsturz angegriffen werden sollten. Im Schlußdialog zwischen Majestät und Frieden wird das utopische Ideal einer gebildeten Nation entworfen, wobei sich der Bürger in seiner häuslichen, sittlichen und vor allem ökonomischen Sphäre zu bewähren, gleichzeitig aber auch zu bescheiden hat. Voraus¬ setzung solch gemeinsamer Beförderung des Gemeinwohls ist die strikte Trennung von der Politik: die Unterordnung des einzelnen unter die fürstliche Herrschaft wird zur Garantie für das Gedeihen des Ganzen erhoben - diese ideologische Rechtfertigung des Status quo führt ganz selbstverständlich in das obligate Herrscherlob am Ende des Prologs. War dieses Werklein in wenigen Tagen zu extemporieren gewesen, so hatte Goethe schon für das frühere Vorspiel zur Eröffnung des Theaters von Laüchstädt (Was wir bringen, 1802) auch nicht mehr Zeit zur Verfügung gestanden. Dieses enthält - im Unterschied zu den übrigen - eine kleine, in sich geschlossene Handlung von stark märchenhafter Struktur. Mit Hilfe eines Zauberteppichs vollzieht sich eine Metamor¬ phose, durch die ein baufälliges Bauernhaus sich in einen glänzenden Palast verwandelt; auch die Personen bleiben davon nicht unberührt: aus den alten Bauersleuten wird ein verjüngtes Oberförsterpaar. Den allegorischen Gehalt dieses Geschehens erläutert der göttliche Interpret Merkur dem Publikum (»[...] den Schleier eilig wegzuheben, der vielleicht / Noch über unsern raschbewegten Scherzen schwebt« [WA I, 13/1,71]): Das alte Bauernhaus repräsentiert das alte Schauspielhaus, während die Entführung auf dem Zauberteppich augenfällig machen sollte, »daß wir, mehr und mehr, / Zu höh’ren Regionen unsrer edlen Kunst / Uns aufzuschwingen, alle vorbereitet sind« (WA 1,13/ 1,72). Zum Schluß wendet Merkur sich dankend und huldigend an die beiden Fürsten, die »auch uns mit Vaterarmen, gütig aufgefaßt« (WA 1,13/1,72): den Kurfürsten von Sachsen und den Herzog von Weimar. Im Glanz der >Kunstnatur< erscheint das verjüngte Bauernpaar, und das (in anderem Zusammenhang gedichtete) Sonett Natur und Kunst wird programmatisch vorgetragen, um den tieferen Sinn der Verwandlung anzudeuten. Die drei überirdischen Wesen, die anfangs in der Bauernhütte Unterkunft gesucht hatten, erweisen sich als Verkörperungen von Schauspiel, Oper und Tragödie. Sentenzartig schließt das Vorspiel mit einem Grundsatz klassischer Kunstkonzeption: »Vom Reinen läßt das Schicksal sich versöhnen / Und alles lös’t sich auf im Guten und im Schönen« (WA 1,13/1,88) - in der Ästhetisierung des schönen Scheins gelingt die Harmonisierung realer Widersprüche, Kunstautonomie bedingt eine Idealisierung, ein verdrängendes Übersteigen der Wirklichkeit.

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Das Impromptu errang so viel Beifall, daß Cotta es einzeln druckte, wobei allerdings die Mängel der Improvisation nicht länger verborgen blieben und der partienweise »platte Dialog« (Schiller) sichtbar wurde. Solches gehört zu den Risiken der Gattung, deren Wirkung auf die »Gesinnungen und die Empfänglichkeit gebildeter Zuschauer, auf die Empfindung und die persönlichen Vorzüge der spielenden Personen, auf gefühlte Recitation, auf Kleidung, Masken und mehr Umstände berechnet war« (WA 1,13/1,3). - Eine 1814 anläßlich der Eröffnung des Theaters von Halle verfaßte Variation dieses Vorspiels stammt im wesentlichen von der Hand Friedrich Wilhelm Riemers, da Goethe damals überraschend mit der Abfassung eines Festspiels für Berlin beauftragt worden war (s. Des Epimenides Erwachen). Die dreizehn Prologe und Epiloge, die Goethe zu bestimmten Gelegenheiten des Weimarer Theaters schrieb, beschäftigen sich hauptsächlich mit Fragen der Wirkung der Bühne. Immer wieder ruft er das Publikum zum Beifall auf: »Der schönste Lohn von allem was wir thun / Ist euer Beifall [...] O seid nicht karg / Mit eurem Beifall! denn es ist ja nur / Ein Capital das ihr auf Zinsen legt« (WA 1,13/1,158). Beifall wie Mißfallen spornen an, schlimm dagegen ist die Stummheit. Goethe gibt zu bedenken, daß die Aufgabe des Theaters eine schwierige sei (»vielleicht in Deutschland mehr, / Als anderswo« [WA 1,13/1,157]). Dennoch ist er von der sittlichen Wirkung der Bühne überzeugt: »Liebt euch, Vertragt euch! Einer sorge für den andern! Dieß schöne Glück, es raubt es kein Tyrann; Der beste Fürst vermag es nicht zu geben. Und so gesinnt besuchet dieses Haus, Und sehet, wie vom Ufer, manchem Sturm Der Welt und wilden Leidenschaften zu. Genießt das Gute was wir geben können, Und bringet Muth und Heiterkeit mit euch; Und richtet dann mit freiem reinem Blick Uns und die Dichter. Bessert sie und uns [...]« (WA 1,13/1,160) Im 6. Prolog rühmt Goethe ähnlich wie im 14. Maskenzug die Stadt Weimar als Beschützerin bürgerlichen Fleißes sowie von Kunst und Wissenschaft: »Wo der Geschmack / Die dumme Dumpfheit längst vertrieb, / Wo alles Gute wirkt, wo das Theater / In diesen Kreis des Guten mit gehört«. Den Aufführungen sei es zu verdanken, »Wenn Herz und Geist / Sich euch erweitern, wenn ihr zu Geschäften / Euch wieder muntrer fühlt, / Wenn der Geschmack sich allgemeiner zeigt, / Wenn euer Urtheil immer sichrer wird« (WA 1,13/1,166). Wichtig ist besonders der 12. Prolog zur Wiedereröffnung des durch einen Brand zerstörten Weimarer Theaters (1821). Goethe selbst hatte sich dafür eingesetzt, daß anstelle eines Volkstheaters wieder ein Hoftheater errichtet wurde. Die kleine Trilogie äußert sich einleitend zu Fragen der Spielplangestaltung, wobei Goethe für eine möglichst große Vielfalt plädiert. Der mittlere Teil führt wieder eine Entwicklung von finsterer Atmosphäre zum hellen Tag vor, wobei die Muse in einem Ziergarten (d. h. einer durch Kunst verschönerten Natur) das Kunstprogramm verkündet:

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»Denn das ist der Kunst Bestreben Jeden aus sich selbst zu heben, Ihn dem Boden zu entführen; Link und recht muß er verlieren Ohne zauderndes Entsagen; Aufwärts fühlt er sich getragen! Und in diesen höhern Sphären Kann das Ohr viel feiner hören, Kann das Auge weiter tragen, Können Herzen freier schlagen. Und so geht’s den Lieben allen Die im Elemente wallen, Welches bildend wir beleben; Wer empfing der möchte geben. In der Himmelsluft der Musen Öffnet Busen sich dem Busen, Freund begegnet neuem Freunde, Schließen sich zur All-Gemeinde, Dort versöhnt sich Feind dem Feinde.« (WA 1,13,1,123) Die ästhetische Erziehung des Menschen im Rahmen eines von einem väterlichen Fürsten gelenkten hierarchisch gestuften Staates schafft letztlich gesellschaftliche Har¬ monie als Überhöhung bestehender Ungleichheit: in der Atmosphäre des Schönen, im festlichen Augenblick sind alle gleich, vermag der Mensch menschlich zu sein. Diese Botschaft verkünden in vielen Formen unter wandelnden Gestalten Goethes dramati¬ sche Gelegenheitsdichtungen.

Paläophron und Neoterpe Das kleine Gelegenheitsspiel entstand 1800 als Geburtstagsüberraschung für die Herzo¬ gin Amalia. Das mitbeteiligte Fräulein Luise von Göchhausen berichtet über die Entstehung: »Ganz kurz vorher war Die stolze Vasthi [von Götter] im Salon der Herzogin wiederholt gegeben worden, und alle Theilnehmenden spielten so allerliebst, daß Goethe, von dem heitern Eindrücke hingerissen, ihnen allsobald gelobte, schnell noch ein neues Stück zu dichten, mit dem sie am Geburtstage die geliebte Fürstin überraschen sollten. Aber bis dahin waren nur noch ganz wenige Tage. Um nun die bei so knapper Frist allerdings schwierige Aufgabe möglichst rasch zu lösen und sowohl sich als die Spielenden in begeisterte Stimmung zu versetzen, ergriff Goethe folgendes heroische Mittel. Er lud sich bei den Hofdamen zum Frühstück, und zwar auf Punsch, ein, versammelte die Personen, denen er Rollen zudachte, um sich und dictirte nun der Fräulein von Göchhausen die verschiedenen Rollen in die Feder, während er selbst im Zimmer gravitätisch auf- und abschritt. Sobald eine Rolle bis auf einen gewissen Punct dictirt war, mußte sie sofort memorirt und sobald die entsprechende zweite Rolle auf das Papier gebracht war, gleich mit dieser zusammen probirt werden, wobei Goethe auf’s lebhafteste antrieb, vorspielte

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und einwirkte. So geschah es dann, daß in zweien Vormittagen das Stück fertig wurde und, nach einer Hauptprobe am dritten Tage, wirklich am 24. October auf’s trefflichste und zu höchster Freude der Herzogin gespielt werden konnte.«18 Goethe ließ es noch einmal 1803 an seinem Theater (zusammen mit Schillers Wallen¬ steins Lager) und 1819 in seinem Privathaus spielen (mit jeweils verändertem Schluß). Thema bildet das durch den Jahrhundertwechsel auf gerührte Verhältnis von Alt und Jung, von Antik und Modern, hinter dem sich Goethes Konzeption von Zeit überhaupt verbirgt. Die beiden Verkörperungen von alter und neuer Zeit mit ihren sprechenden Namen (die von Friedrich Schlegel stammen19) sind ihrerseits von zwei weiteren allegorischen Figuren begleitet, so daß eine strenge Symmetrie entsteht. Die >Handlung< entfaltet sich in einer Abfolge von Entzweiung und Versöhnung, von Kontrast und Ergänzung, von Polarität und Steigerung - einem Schematismus, dem fast alle Festspiele folgen. Die auf der Flucht befindliche Neoterpe stellt sich den Zuschauern vor und beklagt sich, sie werde überall von einem häßlichen Alten verfolgt, so daß sie sich ihres heitern Lebens nicht erfreuen könne; sie sucht Schutz hinter den Mauern eines Tempels. Paläophron tritt als verknöcherter, zu Wandlung und Erneuerung nicht bereiter Greis auf. Beide erscheinen somit als vereinzelte, erstarrte Prinzipien, unfähig zur Entwicklung. Der Kontrast erreicht den Höhepunkt, als der Umschlag einsetzt: hinter der schützenden Mauer wagt Neoterpe einen ersten ruhigen Blick auf ihren Verfolger; auch Paläophron gelangt zu einer positiveren Einschätzung, so daß sich schließlich ein Dialog entspinnt. Damit eine völlige Versöhnung gelingen kann, müssen sie sich ihrer Begleiter entledigen. Als Versöhnungswillige beginnen sie sich auch äußerlich zu verändern: »Du scheinest mir ein jüngerer, / Ein rüstig frischer Mann zu sein« (WA 1,13/1,13) findet Neoterpe, während Paläophron sie als »gesittetes und lieblich ernstes Wesen« (WA 1,13/1,13) erkennt. Als symbolisches Zeichen der Versöh¬ nung tauschen sie ihre Kränze. In der abschließenden Stichomythie beschreibt Goethe den abgelaufenen Prozeß in Naturbildern (Blüte-Frucht, Kern-Schale): Paläophron anerkennt in Neoterpe das Prinzip des Wechsels, der lebendigen Erneuerung; sie dagegen im Alter Reife und Geduld - nur in gemeinsamem Bemühen, als Dauer im Wechsel, vermag die grüne Frucht zu reifen, das Süße in der harten Schale sich zu entwickeln. Neoterpe muß das Sammeln und Konzentrieren, Paläophron dagegen die Hingabe an das Einzelne, an den Augenblick lernen: einzig in der unauflöslichen Spannungseinheit der beiden Prinzipien ist lebendige Entwicklung möglich. Daß solche Versöhnung von Alt und Jung ein utopisches Konstrukt darstelle, war Goethe selbst bewußt; er schrieb dazu an Sulpiz Boissere am 27. September 1816: »P. und N. lösen den Konflikt [...] auf eine heitere Weise, die freilich in dieser zerspalteten Welt nicht denkbar ist.« Das ästhetische Gebilde als Vor-Schein gegen die schlechte bestehende Wirklichkeit: die allegorischen Figuren repräsentieren die Autonomie des Schönen, dessen Gültigkeit unbeschadet aller Tatsächlichkeit für Goethe immer unabweisbarer wurde, da sich in ihm gegenüber der Zufälligkeit menschlicher Verhältnisse ZeitlosGültiges bewahrt: »Der Dichter sucht das Schicksal zu entbinden, Das, wogenhaft und schrecklich ungestaltet, Nicht Maß, noch Ziel, noch Richte weiß zu finden Und brausend webt, zerstört und knirschend waltet.

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Da faßt die Kunst, in liebendem Entzünden, Der Masse Wust; die ist sogleich entfaltet Durch Mitverdienst gemeinsamen Erregens, Gesang und Rede, sinnigen Bewegens.« (WA 1,16,332)

Pandora »Kein anderes Werk verwirklicht so prägnant und vollkommen das, was Goethe unbedingte Kunst nennt. Und kein anderes Werk hat daher auch die Interpreten in derartige Verlegenheit und Ratlosigkeit versetzt wie diese Dichtung«.20 Diese Feststel¬ lung Wilhelm Emrichs signalisiert die Schwierigkeit des Unterfangens, auf engem Raum eine Beschreibung dieses Fragments zu versuchen, von dem Karl Ernst Schu¬ barth gesagt hat: »Diese vier Richtungen [...] die im Werth er und Meister, im Faust und in den Wahlverwandtschaften einzeln veranschaulicht sind, zu einer Gesammtanschauung wiederholt, in die Anschauung des, bei allen seinen [...] widersprechend erscheinenden Kräften dennoch sich harmonisch hervorthuenden [...] Weltganzen aufgelöst, erzeugen jene eigenthümliche, von allen vorigen späteste Production der Pandora, die [...] Allgabe des Goetheschen Vermögens genannt werden kann, wie jene frühem vorhergehenden Leistungen einzelne Gaben des Goetheschen Talentes sind.«21 Es ist das einzige unter den Festspielen (als solches wird es ausdrücklich im Untertitel bezeichnet), das sein Entstehen nicht einem fürstlichen Auftrag verdankt und für eine konkrete Veranstaltung konzipiert wurde: es entstand 1807/08 auf Bitte von Leopold von Seckendorff und Joseph Ludwig Stoll um einen Beitrag für ihren Musenalmanach Prometheus. Doch abgesehen von diesen Äußerlichkeiten unterscheidet es sich von den anderen Texten dieser Gruppe durch »größere Tiefe des Gehalts, durch den Ernst der existentiellen Anteilnahme des Dichters, durch die Mächtigkeit des Wortes, durch die umfassende Größe des Entwurfes« (Josef Kunz).22 Im Falle der Pandora muß einleitend kurz auf die biographische Situation rekurriert werden: »Die Entstehungszeit der Pandora ist eine Zeit der Wandlung und Erneue¬ rung, die sich als Krisis und Peripetie im Widerstreit destruktiver und bewahrender [...] Kräfte äußert«, so charakterisiert Ursula Dustmann23 die Lage. Die Niederlage Preußens in Jena 1806 bedeutete für Goethe das Ende einer Epoche, den Zusammen¬ bruch einer Welt der Ordnung und Sicherheit. »Ich sizze hier auf den Trümmern von Jena und suche meine eigenen Trümmer zusammen«, bemerkte Goethe gegenüber Karl Friedrich von Reinhard (am 16. 11. 1807). Doch gerade in der äußersten Bedrohung erwuchsen die Kräfte der Selbstbehauptung und des Wiederaufbaus. Ent¬ sagung gegenüber unerfüllbaren Wünschen, doch nicht Resignation, tätige Beförde¬ rung der Hoffnung auch im Widrigen hielt Goethe für die angemessene Reaktion in solcher Lage. Natur und Kunst blieben als Bereiche der Ordnung erhalten; in ihnen suchte und fand er Trost und Stärkung angesichts der düsteren Weltläufe. Mit dem Tode Schillers (1805) begann für ihn eine Periode der Einsamkeit: er sah sich zuneh¬ mend isoliert als letzter Vertreter der klassischen Literaturkonzeption in einer zuneh¬ mend fremder werdenden Welt; dazu trat die Erfahrung des Alterns. Damit sind einige Elemente aufgezählt, welche die Rahmenbedingungen für das Entstehen von Goethes Spätwerk bilden. Er selbst notierte in den Tag- und Jahresheften: »Pandora

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sowohl als die Wahlverwandtschaften drücken das schmerzliche Gefühl der Entbeh¬ rung aus«.24 Die Idee zum Festspiel ergab sich Goethe mit Leichtigkeit, ja mit Selbstverständlich¬ keit, da ihm »der mythologische Punct, wo Prometheus auftritt, [...] immer gegenwär¬ tig und zur belebten Fixidee geworden« (WA 1,36,27) war. Seit dem Entwurf zum Jugenddrama sollte ihn die Prometheus-Figur - antikes Pendant zum >modernen< Faust - durch sein ganzes Leben begleiten. Als Flauptquelle benutzte er Flesiod sowie Platons Protagoras. Goethe verstand den Mythos als eine Art von Urphänomen und wies ihm deswegen eine größere Bedeutung zu als den Geschehnissen der >profanen< Geschichte - ganz im Gegensatz zu Schiller. Doch einzig in der schöpferischen Umgestaltung, in der ästhetischen Anverwandlung vermag er ihm erneute Bedeutung abzugewinnen: Wiederholung ohne Steigerung, ohne lebendige Wechselwirkung zwischen Alt und Neu mußte etwas Totes bleiben; er ging deswegen mit der Überlieferung sehr frei um und goß neuen Sinn in neue Konstellationen. Dabei ist in Rechnung zu stellen, daß das Festspiel Fragment geblieben ist: der zweite Teil, welcher die Wiederkehr der Pandora darstellen sollte, ist unausgeführt geblieben, und das Paralipomenon mit Stichworten zur Fortsetzung25 erlaubt nur spekulative Vermutungen - eine weitere Erschwerung für jede Pandora-Deutung. Die biographischen Bedingungen verweisen auf die zeitbezogene Schicht des Werkes. Darüber hinaus stellt Pandora jedoch ein Zeit-Spiel in einem höheren Sinne dar, indem vom Phänomen Zeit schlechthin gehandelt wird. Alle Erscheinung ist der Zeit unter¬ worfen; nur an ihr kann indes Überzeitliches als Dauer im Wechsel sichtbar gemacht werden mit Hilfe symbolischer Darstellung, wie Goethe sie auffaßte: »Das ist die wahre Symbolik, wo das Besondere das Allgemeinere repräsentirt, nicht als Traum und Schatten, sondern als lebendig-augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen« (WA 1,42/2,151 f.). In diesem Sinne stellt Pandora eine Form des urgesetzlichen Wandlungsprozesses alles Lebendigen dar: »Das Festspiel zeigt den Typus in der Metamorphose«,26 wie Dustmann konstatiert. Deutlich erscheint der Ablauf in drei Phasen gegliedert: eine erste, vor der Handlung liegende, mit Pandoras Aufenthalt auf der Erde; darauf folgt die Zwischenzeit mit ihrer Abwesenheit, in der das Festspiel angesiedelt ist, schließlich die dritte Phase von Pandoras Wiederkunft (so hieß das Stück im Erstdruck), die indes nicht mehr ausgeführt wurde, so daß die Hauptfigur, die dem Stück den Namen gibt, überhaupt nicht in Erscheinung tritt - dennoch ist sie der Perspektivpunkt, auf den alles bezogen bleibt. Die >Entwicklung< der Handlung ergibt sich aus dem Wirken der beiden Urphänomene Polarität und Steigerung: »Das Geeinte zu entzweien, das Entzweite zu einigen, ist das Leben der Natur; dies ist die ewige Systole und Diastole, die ewige Synkrisis und Diakrisis, das Ein- und Ausatmen der Welt, in der wir leben, weben und sind« (WA 11,1,296), wie Goethe das an einer berühmten Stelle ausgedrückt hat. Mit Hilfe dieser beiden »großen Triebräder der Natur«27 entfaltet sich alles Lebendige, auch der Mensch und seine Produktion; ihrer Gesetzlichkeit sind somit auch Kultur, Gesellschaft und Geschichte unterstellt. Der Bewußtmachung dieser Einsicht sollten die Festspiele dienen, die stets einen dreiphasi¬ gen (bzw. gelegentlich nur die beiden letzten Phasen umfassenden) Prozeß von Einheit, Entzweiung und wiedergewonnener Einheit auf höherer Stufe oder, optisch gedeutet, eine Entwicklung aus dem Dunkel über das Dämmern ins Helle darstellen. Diese Metamorphose findet stets nur ein vorläufiges Ende, da sie ihrem Wesen nach unab-

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schließbar ist, das Leben sich jeglicher Verfestigung widersetzt - im Bild der Spirale hat Goethe dieses »Fortgehn ins Unendliche« symbolisiert (WA 111,3,336). Deutlich wird die Polarität gleich zu Beginn herausgestellt: die »im großen Stil [...] gedachtfe]« (WA 1,50,297) Szenerie ist zweigeteilt: auf der Seite des Prometheus eine heroische, wilde Fels- und Höhlenlandschaft ohne Symmetrie, auf der des Epimetheus eine wohlgeordnete, kultivierte Gartenlandschaft (Kunstnatur). Das optische Sinn-Bild wird alsbald durch die Selbstdeutung der beiden Figuren ergänzt. In ihnen stellt Goethe zwei Grundtypen menschlichen Wesens dar: den Aktiven und den Passiven, den Vorwärts- und den Zurückschauenden, den auf die Materie und den auf den Geist Gerichteten. Daß die beiden ihre Position absolut vertreten, läßt sie in Konflikt gera¬ ten, begründet aber auch die Notwendigkeit einer Entwicklung: einzig in der komple¬ mentären Ergänzung wird wahres Dasein möglich. Epimetheus denkt unentwegt der erfüllten Vergangenheit nach, wo Pandora ihm angehörte; dem sinnend Versunkenen, dem »Nachtwandler, Sorgenvollen, Schwerbedenklichen« (WA 1,50,311), wie sein Bruder ihn charakterisiert, gehört der Bereich von Schlaf und Nacht zu, er erweist sich als unfähig zu aktiver Daseinsbewältigung. Die Gegenwart mißachtend, wendet er sich in der Erinnerung zurück oder nimmt neue Erfüllung in der Zukunft vorweg. Stets begehrt er das Absolute, will er die Schönheit, Pandora, ganz, statt sich mit dem einzelnen Schönen, das die Gegenwart zu bieten vermag, zufriedenzugeben und sich zu bescheiden. Prometheus dagegen ist der Tätige schlechthin, der ganz in der Aktivität der Gegenwart aufgeht. Er ist Produzent und Garant des Fortschritts, der Schöpfer des >prometheischen< Zeitalters, als dessen Symbol die Erzgewinnung erscheint. Doch führt auch sein Streben letztlich ins Unendliche, da der Fortschritt unabschließbar ist. Die zweckgebundene Nützlichkeit stellt sich in scharfen Gegensatz zum selbstgenügsa¬ men In-sich-Vollendetsein der Schönheit: so hatte Prometheus Pandora, als sie auf Erden weilte, verschmäht. In seiner Optik verwischen sich alle Unterschiede: »Das höchste Gut? Mich dünken alle Güter gleich« (WA 1,50,324). In die trübe Atmosphäre der beiden Titanen bringt Eipore erstes Licht.28 Sie ist die von Pandora in die überirdische Sphäre mitgenommene Zwillingstochter (die andere, Epimeleia, bleibt bei Epimetheus auf der Erde) und erscheint ihrem Vater im Traum. Wieder will er - wie einst in Pandora - das Bild des Schönen festhalten - ebenso vergeblich wie damals; einzig ein vages Versprechen der Wiederkehr der Pandora kann er der Luftig-Flüchtigen abringen. Da bricht sich die dramatische Aktion Bahn: Epimeleia flüchtet schreiend vor dem gewaltsamen Phileros, dem Sohn des Prometheus: die Kinder widerspiegeln in gestei¬ gerter Form den Kontrast der Väter. Von der Kraft des Prometheus gebändigt, bleibt dem von Leidenschaft Überwältigten nur der Tod. Epimetheus versinkt erneut in Erinnerungen (»Die Schönheit besaß ich, sie hat mich gebunden [. ..]« - WA 1,50,328), doch in seine Überwältigung durch den Schmerz des Verlustes dringen Rufe, die einen Brand anzeigen, durch den Epimeleia gefährdet wird; Epimetheus kann sich zur helfenden Tat aufraffen. Da steigt Eos aus dem Meer auf und berichtet vom Todessturz und der wunderbaren Errettung des Phileros durch die Götter: durch Tod vollzieht sich Verwandlung; Epimeleia und Phileros müssen durch Trennung und Todesgefahr hindurch, damit ihre Liebe Dauer zu gewinnen vermag; erst als Geläuterte vermögen sie sich zu ergänzen, so daß in ihrer Liebe die Polaritäten sich vereinigen (symbolisiert durch die feindlichen Elemente Feuer und Wasser). Nur

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wo in solcher Weise die Gegensätze ins Extreme gesteigert sind wie zwischen Prome¬ theus und Epimetheus, zwischen Vätern und Kindern und zwischen den Kindern selbst, kann sich Versöhnendes entwickeln. Zugleich ist damit eine Voraussetzung geschaffen für eine allgemeinere Versöhnung, die erst Pandorens Wiederkehr zu leisten vermag: vorbereitet durch Eipore und Eos, die durch vorläufige Teilversöh¬ nung den Entwicklungsprozeß vorwärtsgetrieben hatten, sollte Pandora die Gegen¬ sätze gänzlich aufheben. Daß auch diese Versöhnung nicht aus dem Nichts, sondern wieder stufenweise und prozeßhaft sich vollziehen sollte, erweisen die Notizen zur Fortsetzung (WA 1,50,457-460). Dabei sollten nicht nur die Hauptfiguren, sondern auch »Winzer, Fischer, Feldleute, Hirten« in die allgemeine Harmonie einbezogen werden. Aus ihrer mitgebrachten Kypsele, dem Geschenk der Allesbringerin, spendet Pandora »symbolische Fülle« (WA 1,50,458); in der Kypsele sind »Tempel / Sitzende Daemonen / Wissenschaft Kunst« (WA 1,50,459) enthalten: auch hier läßt sich die Absicht einer universalen Ästhetisierung als Vorwegnahme realer Versöhnung er¬ kennen. Polarität und Steigerung, Einheit - Widerspruch - neue Einheit, Nacht - Trübe Helle: die Formen der Metamorphose werden in mythologisch-allegorischen Konstel¬ lationen entfaltet, die in symbolischen Handlungen als Erscheinungen in der Zeit zeitlos Gültiges repräsentieren: Leben ist unabschließbar sich fortsetzende, wiewohl gezielte Bewegung, ein stets neu zu leistender Prozeß ohne Ende, da alles Erreichte immer wieder bedroht wird von dämonischen Mächten der Auflösung; nur in der Annahme der Herausforderung bis hin zum Risiko des Selbstverlustes ist Wandlung als Steigerung möglich. Die Figuren des Festspiels nehmen eine Mitte ein zwischen Allegorien, als die ihre sprechenden Namen sie ausweisen, und >lebendigen< Personen; in ihrer teilweise bewegenden Ausdrucksfähigkeit beanspruchen sie unmittelbare Anteilnahme, doch bleiben sie stets Funktionsträger, stellen als Personen Überpersonales dar. Im Sinne dessen, was es darstellt, also seiner Wirkungsabsicht gemäß mußte das Festspiel einen aus dem Alltäglichen herausgehobenen, weihevollen Charakter aufwei¬ sen: dem anspruchsvollen Inhalt konnte nur eine hohe, kunstvolle Sprache entspre¬ chen. Goethe fand ein Vorbild in der griechischen Tragödie, deren Struktur er in Pandora durch Chorpartien, den Verzicht auf Akt- und Szeneneinteilung, durch die Anwesenheit von nie mehr als vier Personen auf der Bühne, die Einbeziehung von Musik u. ä. nachbildete.29 Am auffälligsten prägte sich diese Tendenz der Anverwand¬ lung in der Sprache aus: »Nie hat Goethe bewußter und artistischer berechnend Sprachklänge und -fälle als Kunstmittel, [...] nie die Sprache deutlicher als Spiel [...] gehandhabt«,30 bemerkt Gundolf in diesem Zusammenhang, und auch Staiger erkannte die Großartigkeit dieses Sprechens widerwillig an31. In keiner anderen Dichtung (mit Ausnahme des Faust II) hat Goethe einen solchen Reichtum von antiken Metren mit einer solchen Natürlichkeit verwendet. Die Tendenz dieses Sprechens zur Stilisierung und zur Abstraktion stellt eine Konsequenz des symbolisch-allegorischen Verfahrens dar, schwächt aber die Verständlichkeit des Textes. Goethe selbst hat zugegeben, daß in diesem Stück alles wie »ineinandergekeilt«32 sei. Dennoch finden sich darin lyrische Partien, die sich an Dichte und Musikalität mit seinen besten Gedichten messen können (z. B. Epimetheus’ Klage: »Wer von der Schönen zu scheiden verdammt ist, / Fliehe mit abgewendetem Blick!« [WA 1,50,333]); nie spiegelt sich darin unmittelbares Erleben

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ungebrochen wider: es sind stets vermittelte und reflektierte Formulierungen, die dem Kunstgesetz entsprechen, dem Goethe in Pandora alles unterstellt hat - im Sinne der Gundolfschen Bestimmung: »Pandora ist das abstrakteste, exakteste Kunstwerk Goe¬ thes [...] Hier ist der gewaltsamste Sieg der in Goethes Geist verselbständigten Formprinzipien [...] über den Gehalt, welchen das Ich oder die Welt, sein Herz oder sein Kopf ihm bot.«33

Des Epimenides Erwachen Im Mai 1814 ließ Iffland, damals Generaldirektor der Berliner Theater, über Franz Kirms bei Goethe anfragen, ob dieser sich dazu bereit finden könnte, ein Festspiel für die Siegesfeier nach der Niederwerfung Napoleons in Gegenwart des preußischen Königs und des Zaren zu verfassen. Goethe war von der Ehre sehr angetan, hielt indes die Frist von vier Wochen für eine so bedeutende Sache für zu kurz und sagte ab. Doch wenige Tage darauf besann er sich eines anderen (vielleicht nicht zuletzt wegen der Aussicht, in Berlin die Möglichkeiten einer großen, technisch gut ausgestatteten Bühne ausnutzen zu können), und zwei Tage später konnte er Iffland bereits einen detaillier¬ ten Plan seines >schicklichen< Einfalls vorlegen.34 Dieser reagierte begeistert: »Seit Luthers Reformation ist kein so hohes Werk, dünkt mich, geschehen, als die jetzige Befreiung von Deutschland... Es gibt keine höhere Feier als die, dass der erste Mann der Nation über diese hohe Begebenheit schreibt«.35 Goethe selbst dachte ähnlich groß von diesem Unternehmen: »Ich habe diese Gelegenheit benutzt, um alles zur Sprache und zur Darstellung zu bringen, was in den Gemüthern seit so vielen Jahren vorging, und was sich nun in diesen letzten Zeiten so glücklich entfaltet hat« (WA IV,24,310 f.). Er gesteht den Wunsch ein, »diese Arbeit nicht nur für Berlin, sondern für das ganze Vaterland, nicht nur für den Augenblick, sondern auch für die Zukunft unternommen zu haben« (WA IV,24,311) - eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen sollte. Der Einfall Goethes mutet zunächst sonderbar und weit hergeholt an: »Der Anlass zum Titel ist die bekannte Fabel, dass Epimenides, ein weiser, von den Göttern begünstigter Mann, durch eine Schickung eine ganze Lebens-Epoche verschlafen und dadurch die Erhöhung seiner geistigen Sehkraft gewonnen habe.«36 Die Ausführung dieses mytho¬ logischen Entwurfs erhält stark librettohafte Züge durch Rezitative und Arien, Duette und Chorpartien.37 Goethe ließ sich während des Schreibens häufig Musik Vorspielen.38 Er besprach seinen Text eingehend mit dem Komponisten Bernhard Anselm Weber, der dafür eigens von Berlin nach Berka angereist kam. Trotz der eiligen, intensiven Arbeit kam indes die vorgesehene Aufführung in Berlin nicht zustande: zur Feier der Rückkehr des preußischen Königs wurde am 3. August das Festspiel Asträas Heimkehr von Karl Alexander Herklots gegeben. Iffland mußte mitteilen, die Behörden hätten die Aufführung bis zur Beendigung des Wiener Kongresses aufgeschoben, und vertröstete den verärgerten Goethe auf Oktober. Iffland starb aber im September; auch kam Weber mit dem Komponieren nicht vorwärts, so daß auch der Oktober ohne Aufführung vorüberging. Goethe beklagte sich darüber in bitteren Versen: »Was haben wir nicht für Kränze gewunden! Die Fürsten, sie sind nicht gekommen...

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Epimenides, denk ich, wird in Berlin Zu spät zu früh erwachen... Ich habe der Deutschen Juni gesungen, Das hält nicht bis in October.«39 In Berlin war unterdessen Graf Karl Friedrich von Brühl (der bei der Aufführung von Paläophron und Neoterpe den Alten gespielt hatte) Nachfolger von Iffland geworden, und seiner Initiative war es zu verdanken, daß am Festakt zum Jahrestag der Einnahme von Paris, am 30. März 1815, die erste Aufführung stattfand - »gerade zur rechten Zeit, um dasselbige, was sich die Deutschen bisher so oft in dürrer Prosa vorgesagt, symbolisch zu wiederholen, dass sie nemlich viele Jahre das Unerträgliche geduldet, sich sodann aber auf eine herrliche Weise von diesen Leiden befreit«.40 Karl Friedrich Zelter konnte Goethe von der »bedeutenden Wirkung«41 der Aufführung berichten; dennoch kamen nur noch zwei Wiederholungen zustande - viel zu wenig für Goethe, der sich von einer großen Zahl von Wiederaufführungen viel versprach: »Bei öfterer Wiederholung ist es etwas ganz Anders, da entstehen ohne Blasebalg und Flammen, ohne Kunst und Vorsatz, die zartesten Wahlverwandtschaften, welche jene abgeson¬ dert scheinenden Glieder [wie Dichtung, Komposition, Orchester, Schauspieler, Sän¬ ger, Ausstattung, Publikum] auf die gefälligste Weise zu einem Ganzen verbinden.«42 Daraus entwickle sich der Augenblick, »wo Bühne, Parterre und Logen in ewiger Wechselwirkung begriffen, ein grosses belebtes Ganzes darstellen, das vielleicht das Höchste ist, was Kunst und Kunstliebe zustande bringen und geniessen kann«.43 Auch in Weimar vermochte sich das Festspiel, trotz Goethes Bemühungen, nicht durchzuset¬ zen: die (einzige) Aufführung von 1816 ließ viel Kritik aufkommen, weil die viel bescheideneren Mittel der Aufführung die Problematik des Stückes deutlicher zur Erscheinung kommen ließ. (»Ich habe nie ein Stück gesehen, das mit so grossen Zurüstungen so wenig ausrichtete; darüber ist nur Eine Stimme. Aber freilich ist auch die Musik [...] sehr mittelmässig, und die Ballete, die Cavallerie, die in Bferlin] das Stück auf den Beinen hielten, fehlten natürlich in W[eimar] ganz«44 - dies der Kommen¬ tar des Übersetzers Johann Diederich Gries.) Es kam in Weimar sogar - aus »Gemein¬ heit oder Dünkel«, wie Goethe verbittert kommentierte45 - zu einer Beschwerde des Orchesters über die Minderwertigkeit der Musik. Tatsächlich stellt das Festspiel in seinem symbolischen Beziehungsreichtum dem unmittelbaren Verständnis des Zuschauers große Hindernisse entgegen; die Verbin¬ dung von Mythologie und Zeitgeschichte, von überzeitlicher Bedeutung und aktueller Anspielung ist nicht gelungen. Erst in den Kontext des Spätwerks gestellt, gewinnt es als Lesedrama - seine Relevanz. Auch hier geht es um eine Darstellung der Metamor¬ phose, und zwar der Geschichte. Die »Achse des Stückes«46 bildet die Figur des Weisen, der die unselige Zwischenzeit verschläft und dadurch an Einsicht gewinnt. Ausgehend von einem Zustand der Ordnung und des Friedens, vollzieht sich im Mittelteil eine umfassende Zerstörung, die in der dritten Phase unter Anstrengung und Mitarbeit aller >aufgehoben< wird. Dahinter verbirgt sich der Einfall Napoleons und die Selbstbefreiung der Deutschen. Goethe hat die Französische Revolution als zerstören¬ des, eine natürliche Evolution gewaltsam unterdrückendes Phänomen betrachtet;47 dementsprechend feiert er die einsetzende Reaktion von 1815 als eine Rückkehr zu Ordnung und Sicherheit. Diese Ereignisse stellen indes nur eine Variante eines immer-

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währenden Prozesses dar: jede Ordnung wird durch dämonische Mächte bedroht und von Kriegen zerstört. Dennoch soll der Mensch die Hoffnung nie aufgeben, denn die größte Not ruft nach dem Rettenden, das aber nicht passiv erwartet werden darf, sondern durch unermüdliche Arbeit selbst herbeigeführt werden muß. Dabei verbinden sich tatkräftige Aktivität (Prometheus) mit passiver Einsicht in die ewigen Gesetze, die dem Weisen beschieden ist (Epimetheus, Epimenides) - Tun und Lassen sind die beiden sich notwendig ergänzenden Formen, unter denen menschliches Dasein als Geschichte sich vollzieht. Mit bedeutungsschweren Stanzen eröffnet die Muse das Spiel, indem sie dessen Sinn vorwegnehmend deutet: »Mög5 es euch so ergehen, / Daß aller Haß sich augenblicks entfernte /[...]/ Und alle Welt von uns die Eintracht lernte; / Und so genießt das höchste Glück hienieden: / Nach hartem äußerm Kampf den innern Frieden« (WA 1,16,336 f.). Ein tempelähnliches Wohngebäude bildet die Dekoration - der Tempel als abgeschlossener Bezirk hat, besonders in den Schlußtableaus, eine auffällige Funktion in allen Festspielen und verweist auf den esoterischen Charakter, den diese auch haben.48 Epimenides wird doppelt beschützt, durch den Tempel wie durch den Schlaf (der Schlaf als heilende Kraft und Durchgangsstadium zu einer höheren Stufe kommt an bedeutsamen Stellen in Goethes Werk vor).49 Während dessen treten wilde Heerscharen auf, und Finsternis und Donnern begleiten deren Zerstörungswerk. Auf das Winken des Dämons des Krieges »stürzt die ganze, bisher bestandene Architektur zusammen [...] Alles war dergestalt vorbereitet, dass eine schöne Ruine erscheint«.50 Dem Zerstörungswerk folgen der Dämon der List (der Diplomat) und der der Unterdrükkung (im Kostüm des orientalischen Despoten, wie es die Konvention der Zeit verlangte51). Dieser läßt auf den Ruinen ein scheinhaftes Grün wachsen: »zu verdecken / [...] zu erschrecken / Wachse dieses Zauberthal« (WA 1,16,352) - Natur scheint Kultur zu verschlingen, statt mit ihr in lebendige Wechselwirkung zu treten. Die Figuren von Liebe und Glaube werden vom Unterdrücker gefesselt, einzig der Hoffnung52 vermag er sich nicht zu bemächtigen, und diese ist es denn auch, welche die Befreiung vorbereitet: im 2. Aufzug führt sie den Jugendfürsten zusammen mit den Völkern herbei, die Europa von Napoleon befreit haben: »Sterne versanken und Monden im Blut. / Aber nun wittert und lichtet es gut: / Sonne sie nahet dem himmlischen Thron« (WA 1,16,368). Damit ist der Moment gekommen, Epimenides wieder zu wecken. Dieser erschrickt zunächst über die Zerstörungen: [...] »Keine Spur von jenem alten Glanz, / Nicht Spur von Kunst, von Ordnung keine Spur! / Es ist der Schöpfung wildes Chaos hier, / Das letzte Grauen endlicher Zerstörung« (WA 1,16,370). Die Ruinen werden von den Landbewohnern pantomimisch wiederaufgebaut, die Dekoration verwandelt sich »durch einen glücklichen Mechanismus«53 in eine gegenüber der anfänglichen noch gesteigerte Pracht, wodurch die Idee der Steigerung bildhaft deutlich werden soll. Im Schlußtableau erscheinen alle Widersprüche aufgehoben, Natur ist durch Kunst ergänzt und vervollkommnet. Die Selbstbefreiung als Resultat allgemeiner Anstrengung wird als Wiedergeburt gefeiert: »Und wir sind alle neugeboren Das große Sehnen ist gestillt, Bei Friedrichs Asche war’s geschworen, Und ist auf ewig nun erfüllt« (WA 1,16,379).

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In der festlichen Vereinigung des ganzen Volkes scheint erneut Goethes Gesellschafts¬ utopie durch: »Und Fürst und Volk und Volk und Fürst Sind alle frisch und neu! Wie du dich nun empfinden wirst Nach eignem Sinne frei. Wer dann das Innere begehrt, Der ist schon groß und reich; Zusammen haltet euren Werth, Und euch ist niemand gleich« (WA 1,16,380).

Zusammenfassung Die Intention Goethes, aus scheinbar zufälligen Gelegenheitsaufträgen ebenso Anlässe festlicher Vereinigung wie tiefgreifender Belehrung zu machen, läßt sich aus der Analyse der Texte klar erkennen. Dazu hat diese allerdings auf die Grundpositionen von Goethes literarischer Produktion zu rekurrieren, wie sie sich seit der Italienischen Reise herausbildeten: in der naturwissenschaftlich fundierten Metamorphosetheorie lernt Goethe ein universales Modell erkennen, das auch dem menschlichen Bereich, dem individuellen wie dem gesellschaftlichen in all seinen Ausprägungen bestimmend unterliegt. Was in der Natur als >ewige< Ordnung vorgegeben ist, muß vom Menschen stets aufs neue produziert und gegen starke Widerstände durchgesetzt werden. Der Veranschaulichung (ohne die für Goethe Erkenntnis nicht zustande kommen kann) dieses Erklärungsmodells in künstlerischer Form (denn die Kunst vermag dies reiner zu leisten als die widerspruchsgesättigte Wirklichkeit) unterzieht Goethe sich in der zweiten Hälfte seines Lebens. Damit rückt er ab vom Konfessionscharakter, der seine jugenddichtung ausgezeichnet und der Kundgabe der autonomen Individualität gedient hatte. Neben die Besonderheit des Einzelnen stellt er zunehmend das als unumgänglich erkannte Korrelat des Allgemeinen; biographisch bedeutet das die Abkehr vom Genie¬ treiben und die Übernahme der verantwortungs- und entsagungsvollen Amtstätigkeit. Doch lassen sich nach Goethes Auffassung Allgemeines und Besonderes am reinsten (d. h. dem Vorbild der Natur am nächsten kommend) im Kunstwerk versöhnen, ohne daß er dabei auf die Beförderung einer Versöhnung in der gesellschaftlichen Wirklich¬ keit völlig verzichten wollte. Es ist dies möglich im festlichen Zusammensein, das er mit seinen Festspielen ästhetisch organisiert; hier kann die Versöhnung für einen bedeu¬ tungsvollen Augenblick vorweggenommen, wenn auch nicht festgehalten werden: in ihm erfüllt sich vor-scheinend das, was der Mensch in seinem Alltag immer neu zu leisten hat; im ästhetischen Spiel vermag die Gesellschaft antizipierend anschaulich zu machen, was ihr als Ziel real gesetzt ist - im festlichen Augenblick fallen Gegenwart und Zukunft zusammen, scheint im Zeitlichen Ewiges auf. Daß Goethes Intention nur im Rahmen der Weimarer Hofgesellschaft eine gewisse Erfüllung fand und seine dramatischen Gelegenheitsdichtungen zu seinen vergessensten und schwerstzugänglichen Texten zählen, hängt mit seiner konsequenten Negation der geschichtlichen Tendenzen zusammen, die sich vom Wunschbild einer ästhetischen

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Christoph Siegrist

Erziehung des Menschengeschlechts immer weiter entfernten. Unter den Bedingungen einer sich zunehmend industrialisierenden Gesellschaft mit ihren sich verschärfenden Widersprüchen wurden die festliche Selbstdarstellung wie der Anspruch einer ästheti¬ schen Versöhnung als vorwegnehmender Garant einer evolutionär sich produzierenden realen Versöhnung der Gesellschaft suspekt. Gerade weil sie so extrem auf das jeweilige Publikum hin geschrieben wurden, mußten die Festspiele bei einem veränderten Publikum Befremden auslösen. Goethe setzte einen gebildeten und letztlich gleichge¬ sinnten Teilnehmer voraus, der fähig und bereit war, auf die Künstlichkeiten der Symbolisierung und Allegorisierung mit ihren Anspielungen und Verrätselungen liebe¬ voll einzugehen: eine Rezeptionsvorgabe, welche gerade noch die intime Hofgesell¬ schaft in Weimar erfüllte. Infolge eines anderen Erwartungshorizontes mußte aber einem modernen Publikum der Zugang verschlossen bleiben: man nahm - infolge eines neuen Kunstverständnisses - die strenge Kunstgesetzlichkeit gar nicht mehr wahr; die hierarchische Gesellschaftsutopie mußte in einer Epoche wachsender Forderung nach Demokratisierung sämtlicher Lebensbereiche befremden. Strukturell, formal, inhalt¬ lich, sprachlich und intentional widersprechen diese Texte der Moderne: der große Aufwand, schmählich scheint er vertan. Einzig der hermeneutischen Reflexion erschlie¬ ßen sie fast widerwillig ihre verborgene spröde Schönheit.

Anmerkungen 1 Da diese Texte in den gängigen Ausgaben insgesamt nicht enthalten sind, werden sie nach der Sophien-Ausgabe zitiert: Goethes Werke. Hrsg, im Aufträge der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887 ff. (=WA). Nachweise mit Angabe von Abteilung, Band und Seite in Klammern unmittelbar hinter dem Zitat. 2 Zitiert nach: Goethe über seine Dichtungen. Hrsg, von Hans G. Graf. 3 Tie. in 9 Bdn. Frankfurt a. M. 1901-14. (Im folgenden zitiert als: Graf.) Soweit nicht anders vermerkt, beziehen sich die Bandnummern auf die 1903-08 erschienenen 4 Bde. des 2. Teils: Die dramatischen Dichtungen. 3 Zum Begriff der Gelegenheit vgl. Ursula Dustmann: Wesen und Form des Goetheschen Festspiels. Diss. Köln 1963. S. 46-57. 4 Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 1916. S. 595. 5 Karin Seiffert: Die Entwicklung von Goethes Kunstauffassung an Hand der Festspiele und Masken¬ züge von 1781-1818. Diss. Berlin 1973. S. 68, Anm. 191. 6 Dustmann (Anm. 3) S. 50. 7 Ebd. S. 16. 8 Ilse-Marie Barth: Literarisches Weimar. Stuttgart 1971. S. 109. 9 Vgl. dazu Dustmann (Anm. 3) S. 116-135. 10 Graf (Anm. 2) Bd. 3. S. 420. 11 Ebd. S. 369. 12 Ebd. 13 Wolfgang Hecht: Goethes Maskenzüge. In: Studien zur Goethezeit. Festschr. für Lieselotte Blumen¬ thal. Weimar 1968. S. 130. 14 Ebd. S. 134. 15 Seiffert (Anm. 5) interpretiert ausführlich sämtliche Maskenzüge. 16 Dustmann (Anm. 3) S. 107. 17 Hecht (Anm. 13) S. 38. 18 Gräf (Anm. 2) Bd. 4. S. 3 f. (Es handelt sich um einen Datumsirrtum des Fräulein von Göchhausen: die Aufführung fand am 31. 1. statt.) 19 Ebd. S. 7. 20 Wilhelm Emrich: Goethes Festspiel Pandora. In: Akzente 9 (1962) S. 294.

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Gräf (Anm. 2) T. 1: Die epischen Dichtungen. Bd. 1. S. 467. Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Hamburg 1948 ff. Bd. 5. S. 528. Dustmann (Anm. 3) S. 157. Gräf (Anm. 2) Bd. 4. S. 51.

25 Zum Fortsetzungsplan s. Werner Kohlschmidt: »Pandora«. Zweiter Teil. Zur Deutung des Ent¬ wurfs. In: W. K.: Form und Innerlichkeit. Bern 1955. S. 80-96 26 Dustmann (Anm. 3) S. 56. 27 An Kanzler Müller, 24. 5. 1828. 28 Zum Zusammenhang mit der Farbenlehre s. Dustmann (Anm. 3) S. 195 ff. 29 Vgl. dazu Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff: Goethes Pandora. In: Goethe-Jahrbuch 19 (1898) [Anhang] S. 1-21. 30 Gundolf (Anm. 4) S. 583 f. 31 Emil Staiger: Goethe. Bd. 2. Zürich 1956. S. 449 ff. 32 Gräf (Anm. 2) Bd. 4. S. 52. 33 Gundolf (Anm. 4) S. 586. 34 Abgedruckt bei Gräf (Anm. 2) Bd. 1. S. 303-316. 35 Ebd. S. 302. 36 Gräf (Anm. 2) Bd. 1. S. 303. 37 Ebd. S. 329. 38 Ebd. S. 322. 39 Ebd. S. 345 f. 40 Ebd. S. 373. 41 Ebd. S. 379. 42 Ebd. S. 383. 43 Ebd. S. 378. 44 Ebd. S. 402 f. 45 Ebd. S. 405. 46 Ebd. S. 384. 47 Zum Verhältnis Goethes zur Französischen Revolution und zu Napoleon s. Paul Müllensiefen: Die Französische Revolution und Napoleon in Goethes Weltanschauung. In: Jahrbuch der GoetheGesellschaft 16 (1930) S. 73-108; ebenso Claude David: Goethe und die Französische Revolution. In: Deutsche Literatur und französische Revolution. Göttingen 1974. S. 63-86. 48 Vgl. Dustmann (Anm. 3) S. 22 ff. 49 Ebd. S. 200. 50 Gräf (Anm. 2) Bd. 1. S. 308. 51 So schon im aufklärerischen Staatsroman (Albrecht von Haller, Christoph Martin Wieland), der der Montesquieuschen Klimatheorie folgte. 52 Zur Hoffnung s. die Untersuchung von Karl A. Wipf: Elpis. Betrachtungen zum Begriff der Hoffnung in Goethes Spätwerk. Bern 1974. 53 Gräf (Anm. 2) Bd. 1. S. 313.

WERNER KELLER

Faust. Eine Tragödie (1808)

Ilse Graham in Verehrung

Captain Hutton, einer der vielen reisenden Engländer, die Weimar besuchten, gestand in einem Gespräch mit Goethe ( vom 10. 1. 1825), daß er - nach Egmont und Tasso nun den Faust lese: »Ich finde aber, daß er ein wenig schwer ist.« Lachend erwiderte Goethe, daß er ihm zu dieser Lektüre nicht geraten hätte: »Es ist tolles Zeug und geht über alle gewöhnlichen Empfindungen hinaus.« Faust sei, fuhr Goethe fort, ein »seltsames Individuum« und schwer zu verstehen wie Mephisto auch: »Doch sehen Sie zu, was für Lichter sich Ihnen dabei auftun.« Der Gelehrtenfleiß mehrerer Generationen hat uns in der Zwischenzeit viele Lichter aufgesteckt - jeder Vers ist dutzendfach kommentiert, jede Szene hundertfach interpre¬ tiert. Der Kenntniszuwachs im Detail wird ergänzt durch den Erkenntnisgewinn, den veränderte geschichtliche Erfahrungen vermitteln: Auch die Auffassung eines Kunst¬ werks wandelt sich mit den Wandlungen der Folgezeit, und jede Gegenwart findet neue Probleme vor, die dem historischen Text neue Aspekte abverlangen. Die rezeptionsbe¬ dingte Metamorphose, die Faust aufgrund seiner Breitenwirkung durchmachte, stellt die Aufgabe, einen unmittelbaren Zugang zu diesem durch Bühne und Schule verstell¬ ten Drama zu suchen und seinen geschichtlichen Ort zu bestimmen. Jede Generation ist daher gehalten, den überkommenen Urteilen eine Neuwertung abzugewinnen. Das gegenwartsorientierte Verstehen der Vergangenheit will das Zeitbedingte des Dramas aufzeigen, das Fremdgewordene mit Namen nennen und das Gegenwärtige im Gewese¬ nen aufspüren. Aus der historischen Distanz ergeben sich also Fragen nach dem Gehalt an Zukünftigkeit in einem Werk und Antworten, die der jeweiligen Gegenwart zu einem Stück Selbsterkenntnis verhelfen. Schon der Historiker Heinrich Luden hatte in seinem Gespräch mit Goethe (vom 19. 8. 1806) auf den Hexenspuk und Teufelsglauben im Faust-Fragment und damit auf die Fremdheit des Stoffs hingewiesen, der »mit der Welt, in welcher wir leben, in einem schneidenden Widerspruch« stehe. Diese Fremdheit nahm in der Zwischenzeit noch zu, und zugenommen hat überdies das Befremden, die Abneigung gegen alles »Fausti¬ sche«, das sich auf das simplifizierte oder sinnverfälschte Faust-Drama beruft. Jede heutige Fz^sr-Interpretation muß nüchterne Ideologiekritik mitleisten, denn die Skep¬ sis gegen das »Faustische« kann Goethes Faust nicht ausnehmen, der seine paradigmati¬ sche Bedeutung behält, doch als Protagonist eines Dramas, das die Gattungsbezeich¬ nung Tragödie trägt, alles Vorbildhafte verliert. Oswald Spengler schrieb in seinem Untergang des Abendlandes von Faust als dem »Portrait einer ganzen Kultur«. In allen nachantiken Lebensbereichen - auch in Kunst und Philosophie - sah er das »Faustische« am Werk, vornehmlich in der Technik, die die Natur beherrschen und ihre Kräfte verwerten will.1 Noch 1939 sprach Thomas Mann von dem »denkwürdigen Phänomen«, daß das Abendland »den Symbolwert der Faust-Gestalt für ihr tiefstes Wesen erkannt« habe.2 Inzwischen ist Schreckliches

Faust. Eine Tragödie (1808)

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geschehen. Faust wurde, bis zur Halbkenntlichkeit mystifiziert, zum literarischen Muster für einen verhängnisvollen nationalen Mythos. Davon sind wir Deutschen geheilt. Eine strenge Selbsterkenntnis schließt die strenge Deutung der Faust-Figur ein. Daß Goethe sie hochbewußt zwischen Prometheus und Luzifer angesiedelt hat, ist der ernsten Forschung nicht entgangen; daß sie, richtig verstanden, keine Heroisierung verträgt, äußerten schon Luden und Schubarth, Goethes Gesprächspartner. Faust, der Protagonist, ist widersprüchlich wie das Leben und vieldeutig wie die Wirklichkeit; er ist ein Mensch mit zweigeteiltem Willen und zwiespältigem Wesen. Seit 1945 ist er endgültig entmythologisiert; daran hatten zuvor schon Interpreten wie Konrad Burdach und Wilhelm Böhm gearbeitet. Das Faust-Drama ist uns ferngerückt; daß seine Problematik gegenwartsnah ist, zeigt ein Denkspiel, das die Figur des Teufelsbündners aus dem Spätmittelalter in die Realität des 20. Jahrhunderts transpo¬ niert: Um seinem Forschertrieb leben zu können, läßt sich der Physiker Faust mit einer Diktatur, der modernen Form des kollektiven Bösen, ein.

Vom »Faust«-Buch zu Goethes »Faust«-Dichtung Der historische Faust, wohl um 1480 in Knittlingen geboren, ist ein Zeitgenosse Luthers, Müntzers und Huttens, doch eine Randfigur im Halbdunkel der Zeit, eher Gaukler als Gelehrter, mehr Quacksalber als Arzt. Quellen besagen, daß der vagabun¬ dierende Faust in Nürnberg und Ingolstadt ausgewiesen wird, und wir können nachlesen, daß er, als Astrolog gelegentlich für den Bischof von Bamberg tätig, eine Weile - von Sickingen protegiert - Schüler unterrichtet und einem Vetter Huttens das Horoskop stellt. Die spärlichen Zeugnisse stimmen darin überein, daß er, der sich Meister aller mantischen Künste nennt, ein Renommist, ein bramarbasierender Phan¬ tast und Scharlatan sei: Der gelehrte Abt Johannes Trithemius schilt ihn einen Land¬ streicher und Sittenstrolch. Schon zu Lebzeiten ranken sich um Faust die Legenden; selbst in Wittenberg, das die öffentliche Meinung im protestantischen Deutschland bestimmt, gibt er das Thema für Tischgespräche ab. Wenige Jahre nach seinem Tod der Zimmerschen Chronik zufolge starb er um 1540 bei Freiburg i. Br. eines unnatürli¬ chen Todes - unterstellt Melanchthon seinem Landsmann Faust, ein Teufelsbündner und damit ein abschreckendes Beispiel für die wahren Gläubigen zu sein. Im Jahre 1587 erscheint bei dem Frankfurter Buchhändler Spies die Historia von D. Johann Fausten dem weitheschreyten Zauberer unnd Schwartzkünstler, von der innerhalb eines kurzen Jahrzehnts sage und schreibe 22 Nachdrucke aufgelegt werden. Dem unbekannten Verfasser geht es nicht um eine verläßliche Biographie; er kompi¬ liert vielmehr Gehörtes, Gelesenes und Erfundenes, sammelt Episoden der disparate¬ sten Herkunft, greift nach Zaubersagen und Schwankgeschichten und stellt das Sam¬ melsurium geschickt unter das Motto aus Jak. 4,7, das Geistlichkeit und Leserschaft verbindet: »Seyt Gott underthänig / widerstehet dem Teuffel / so fleuhet er von euch.« Diese Laienpredigt, die ihre unvergleichliche Resonanz weniger der literarischen Qualität des Buchs als vielmehr dem reißerischen Stoff verdankt, erzählt in 68 Kapi¬ teln detailliert von Fausts Disputationen mit Mephostophiles über die Entstehung von Himmel und Erde, von seiner Teufelsverschreibung und Wolkenfahrt, von sei¬ nen Abenteuern an den Höfen, seiner Buhlschaft mit Helena und der Dienerschaft

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Wagners und endigt, wie nachmals Thomas Mann, mit »D. Fausti Weheklag von der Helle«. Schon vor dem Ende des 16. Jahrhunderts sind also Dichtung und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden. Fausts Leben und Treiben zieht im nachhinein jenes allgemeine Interesse auf sich, aus dem Sagen entstehen. Die aufgewühlte Phantasie von Menschen am vermeintlichen Zeitenende schafft sich in Faust eine Symbolgestalt, in der die geheimen Sehnsüchte und offenbaren Ängste angelegt sind. Die Frage liegt nahe, warum eben Faust, dem doch das Mittelmaß des Marktschreiers anhängt, zur bücher¬ marktbeherrschenden Figur werden kann und in auflagenstarken Neubearbeitungen durch Widmann (1599) in Hamburg, den Nürnberger Arzt Pfitzer (1674) und einen Anonymus, der sich der »Christlich Meynende« (1725) nennt - bis hin zur Aufklä¬ rungsepoche wiederaufersteht. Die Faust-Gestalt der Historia trägt einzelne Züge des Paracelsus und des Agrippa, die man insgeheim verdächtigt, doch als Persönlichkeiten bestaunt, und eingeprägt sind ihr die Tendenzen, die den »Zeitgeist« als Verlockung und Gefährdung beschäftigen: der kopernikanische Erkenntnisdrang, der abenteuernde Mut eines Kolumbus, die Forschungsvielfalt eines Leonardo, der auch mit Flugmaschi¬ nen hantiert, die obskure Leidenschaft der Alchimisten und vor allem die Zauberprakti¬ ken der Magier, die sich verborgener Geister- und Naturkräfte bedienen. Der zwielichtige Faust ist so wenig konturiert, seine historische Individualität bleibt so vage, daß man allein ihm, dem Außenseiter, die bedenkliche Physiognomie der Zweifler und Freigeister und die bedenkenlose der Zauberer und Beelzebuben aufdrän¬ gen konnte. Die Historia - fast ausschließlich im protestantischen Raum verbreitet - ist ein Exempel der protestantischen Warnliteratur. Wie die Renaissancekultur in Italien, so leistete der Protestantismus in Deutschland einen unfreiwilligen Beitrag, den stren¬ gen hierarchischen Ordo des Mittelalters aufzulösen. Das verantwortungsvolle Immediatsverhältnis von Individuum und persönlichem Gott, das Luther predigte, war von vornherein gefährdet durch die Autonomiegelüste des Subjekts, und die neugewonnene religiöse Freiheit der Christenmenschen wurde, und nicht nur von den Bauern, zur ständischen Freiheit verallgemeinert, hin und wieder auch als Widerruf überkommener geistig-geistlicher Autoritäten verstanden. Nicht nur das Leben des spätmittelalterlichen Menschen, auch die beginnende Neuzeit ist von religiösen Vorstellungen völlig beherrscht, und wie Sternenglaube und Höllen¬ angst gehört der Teufel zu den lebendigsten Realitäten des 16. Jahrhunderts. Luthers Predigten und Tischreden, Hans Sachs’ dramatische Spiele legen davon ebenso Zeugnis ab wie die geistlichen Dramen jener Epoche. Die Teufels- und Hexenliteratur wird in dieser Zeit popularisiert, der Teufelsbündner-Stoff immer wieder traktiert: Der Teufel, durch Christus zwar überwunden, ist auf Erden allgegenwärtig; das Dasein des Christen ist ein beständiger Kampf gegen ihn - gegen Sünde und Laster. Faust übergab sich dem Bösen, indem er sich frevlerisch seinem Wissenstrieb, der Curiositas, über¬ ließ, und verspielte sein Seelenheil, weil er übermenschliche Kräfte und unmenschliche Lüste genießen wollte. Die Zeitgenossen fabulieren hin und wieder von Fausts Teufels¬ bündnis; für die Historia ist seine Seelenverschreibung eine Tatsache und seine Höllen¬ fahrt die Quittung, der »wol verdiente Lohn« für alle Vermessenheit. Die Verurteilung Fausts als eines freigeisternden Grenzgängers im Volksbuch macht deutlich, daß das Luthertum im Widerstreit von Wissen und Glauben einzig auf die Autorität der Bibel setzt und daß die lutherische Orthodoxie überdies den Erkenntniswillen des Menschen

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durch die Offenbarung der Schrift begrenzt. Papst Gregor XV. verbot noch 1623 das Teufelsbündnis. Das protestantische Volksbuch von Dr. Faust warnt explizit vor dem Abfall von Gott und implizit vor der Versuchung, geistliche Freiheit in geistige Emanzipation umzudeuten. Wenngleich Rom und Wittenberg einander gegenseitig »verteufelten«, hatten sie doch die gleichen Bedenken gegen die ihren eigenen Voraus¬ setzungen und Zielen gehorchende Vernunft: die »hochtragende« Hoffart im Geist und den Hochmut des Wissens, die Superbia. Janusgesichtig wie der historische Faust ist auch seine ambivalente Rezeption: Er fungiert als öffentliches Schreckbild, dem die scheue Sympathie der Zeitgenossen und der Nachwelt gehört. Dem Frankfurter Faust-Buch folgte in kurzem Abstand eine englische Übersetzung, und wohl 1592 schon entdeckte Christopher Marlowe, Shakespeares Vorläufer, die Aktualität des Stoffs und seine Modernität im Verlangen nach unbegrenztem Wissen, Tun und Genuß. Die Überhöhung Fausts geschieht im Namen der Renaissance; Widerruf und Verdammung folgen aus dem Geist der Reformation. Wie rege der Kulturaustausch in jener Zeit war, belegt auch die Tätigkeit englischer Wanderbühnen auf deutschem Boden: Urkunden bezeugen, daß Marlowes Drama schon 1608 in Graz aufgeführt wurde. Zwar verkam die Tragödie, im Laufe der Jahrzehnte bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, zur Moritat, doch wie der Stoff in den Volksbüchern und im Puppenspiel fortwirkte, zeigt seine Verbreitung noch in der Frühaufklärung. Gottsched verspottete 1730 die »Alfanzereien« vom Dr. Faust, die dem Pöbel zur Belustigung dienen, doch Lessing, sein Gegenspieler und Anwalt des englischen Theaters, erkannte die nationale Bedeutung des Stoffs, als er in seinem vielzitierten 17. Literaturbrief vom Februar 1759 resümierte: »Und wie verliebt war Deutschland, und ist es zum Teil noch, in seinen Doktor Faust!« Lessings eigenes Szenenfragment über Faust und sieben Geister erlaubt nur dürftige Schlüsse, indes bezeugen das Berliner Szenarium und der Bericht seines Freundes Friedrich von Blanckenburg (vom Mai 1784) die entscheidende Neuwertung des Wissensdrangs: Faust kann gerettet werden, da Gott »dem Menschen nicht den edelsten der Triebe« gab, um ihn zu verderben. Für die »Stürmer und Dränger« wurde Faust, neben Prometheus, zu einer Identifika¬ tionsfigur. In ihm fand man den kühnen einzelnen, dem weder die biblische Offenba¬ rung noch rationale Erkenntnis genügen, den nicht Gottes- noch Höllenfurcht schrekken. Für Tat und Genuß im Diesseits gibt er sein jenseitiges Seelenheil hin. Nicht nur für Goethe, auch für Lenz, Klinger, Maler Müller u. a. verkörpert Faust den Willen zum geistig-sinnlichen Abenteuer in einer eintönigen und reglementierten, überzivili¬ sierten und naturfremden Epoche. Der junge Goethe kannte das Puppenspiel und den »Christlich Meynenden«, und noch in Dichtung und Wahrheit erinnert er sich, daß »die bedeutende Puppenspielfabel« in ihm »vieltönig klang und summte« (HA 9,413). Wie im Götz ergriff er einen Stoff aus dem 16. Jahrhundert, einer Zeitenwende, in der die Geschichte selbst dramatische Form annimmt, da die überkommenen Normen von neuen Tendenzen negiert werden. Gehört Luther dem Mittelalter an, oder leitet sein Glaubensindividualismus die Neu¬ zeit ein? Der unentschiedene Streit der Historiker läßt sich auch auf Faust übertragen, der, alten Teufels- und Geistervorstellungen verhaftet, ein neues Verhältnis zu ihnen findet, das in einem neuen, kraftvollen Selbstverständnis gründet. Stellte Goethe seinen Götz als einen »Selbsthelfer« in einer konkreten geschichtlichen Situation dar - Fausts Freiheitswille überspringt das Politisch-Gesellschaftliche und zielt auf Selbsthilfe im

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Meta-Physischen. Es geht Goethe also nicht um Wiedererweckung einer abgelebten Zeit, sondern um eine Deutung der eigenen Epoche: In der Vergangenheit wird gesucht, was der Gegenwart fehlt oder ihre verborgenen Tendenzen ausspricht. Der Urfaust, in der Frankfurter Zeit um 1772/73 geschrieben, von Erich Schmidt erst 1887 im Nachlaß der Luise von Göchhausen entdeckt, ist ein großartiger Torso, dessen genaue Entstehungszeit und szenische Genese ungesichert sind. Der junge Autor hatte keinen einheitlichen Plan, und weder damals noch später entwickelte sich das Drama in stetiger Folge, vielmehr mit langen Unterbrechungen und vielen Änderungen im Detail wie in der Konzeption. Der Vergleich ergibt, daß Goethe ungemein viele Handlungs¬ elemente, namentlich genannte Figuren und Lokalitäten, der schriftlichen Überliefe¬ rung und mündlichen Tradition entnimmt. Um der Scholastik und Mystik, um dem Humanismus und der Subkultur um 1500 genugzutun, verwertet er sein erstaunliches alchimistisches und theosophisches Wissen, das er sich während der Frankfurter Krankheit und in Straßburg angeeignet hatte. Indes überlagern sich die Zeiten im dramatischen Text, so daß der Urfaust für uns das genaueste Lebensdokument der Genieperiode darstellt. Der Urfaust, nach Brechts Urteil »hingeworfen in einer wunderbaren Skizzenform«,3 ist in drei disparate Teile gegliedert: in die Gelehrtentragödie, die Universitätssatire und die Gretchen-Handlung, die ein fast abgerundetes Drama im Torso bildet und nur unzulänglich mit den beiden vorhergehenden Partien verbunden ist. Der Protagonist ist, in »Sturm und Drang«-Manier, die exponierte Individualität, die die Horizonte des Menschseins erweitern will, der Grenzgänger, der von den Lebensrändern her aus¬ kundschaften möchte, wer der Mensch ist und was er vermag. Faust' dringt mit Hilfe der Magie auf Einswerdung mit der schöpferischen Natur - nicht nur, um die von der Zivilisation bedingte Entfremdung zu überwinden, sondern um am Werdeprozeß, und zwar ohne Einbuße des individuellen Bewußtseins, teilzuhaben. Auf Begriffe gebracht, heißen die den Urfaust konstituierenden Gegensätze Vernunft und Gefühl, Verstand und Phantasie, Reflexion und Aktion, Wissen und Erfahrung. Das Thema ist der Widerstreit zwischen Geist und Leben, der auch den Straßburger Herder beschäftigte, Fausts Ziel die unmögliche Einheit von Geschöpf und Schöpfer im Endlichen. Dem tödlichen Ernst der Erdgeist-Begegnung folgt schon im Urfaust das Satyrspiel auf dem Fuße: die Wagner-Satire, die von Mephisto inszenierte hintersinnige Komik der Schüler-Szene und schließlich der rüpelhafte Grobianismus-in »Auerbachs Keller«. Mephisto, der mit der Wissenschaft spielt, an der Faust verzweifelt, tritt ohne genü¬ gende Motivierung auf, so daß sein Verhältnis zum Erdgeist und seine Verbindung mit Faust ungeklärt bleiben. Der Advokat Goethe kannte die Prozeßakten, die das Geschick der am 14. Januar 1772 hingerichteten Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt aufzeichneten. Man muß historisch zu verstehen suchen, um die Gretchen-Handlung im Urfaust richtig werten zu können, die prinzipielle Überzeugungen des »Sturm und Drang« mitformuliert und eine radikale Neuwertung der Liebe mitvollzieht: Hier wird die Leidenschaft der Sinne nicht nur dargestellt, sondern - entgegen aller Konvention - auch sanktioniert. Das Gefühl befreit sich zu sich selbst und entzieht sich der Kontrolle des Verstands und den Geboten der Erziehung. Indem die Liebenden ihre Sache auf nichts als auf ihr Gefühl stellen, dispensieren sie sich von überkommenen Moralvorstellungen und emanzipieren sich von Verboten und Normen; indem sie sich dem individuellen Gesetz ihrer »Natur«

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ausliefern, verlassen sie den schmalen Empfindungsraum, den das kleinbürgerliche Leben mit seinen Nöten und Zwängen Menschen zugesteht. Indes: Mit der bedrängen¬ den Abhängigkeit schwindet auch die vorher unbemerkte Geborgenheit. Die Neuwer¬ tung der Sinne und der Sinnlichkeit schließt die Gesellschaft in ihrer erstarrten Form aus; an ihr wird kritisch abgetan, was institutionalisiert ist und menschliche Beziehun¬ gen über Stand, Herkunft und Geschlecht hinweg hemmt, und verworfen, was sich der Subjektivierung entzieht: die unpersönlichen Mächte von Staat und Recht. Die säkula¬ risierende Umdeutung der bis dahin gültigen kirchlichen Bindungen darf nicht nur negativ, als Entleerung sakraler Formen, verstanden werden, da Natur, Liebe und Freundschaft mit religiösem Enthusiasmus - das Wort in seinem etymologischen Sinn verstanden - ergriffen werden. Goethe hat, wie kein anderer neben ihm um 1770, die Gefühlssubjektivität in allen literarischen Gattungen gefeiert; zugleich durchschaute er aber illusionslos die innere wie die äußere Gefährdung seiner gedichteten Figuren: das Gefühl ohne verpflichtende Normen und die Leidenschaft ohne soziales Gewissen. Daher konnte die tragische Antinomie zwischen der individuellen Leidenschaft und der gesellschaftlichen Ordnung des Ganzen vom Werther bis zu den Wahlverwandtschaf¬ ten zu einem Grundthema Goethes werden. Faust scheitert in seinem Doppelleben als Erkennender und auch als Liebender. Da aber seine tragische Disposition mit Notwendigkeit aus dem Widerspruch zwischen dem verabsolutierten Erkenntnisdrang und der geschöpflichen Endlichkeit entsteht und da er nicht an irgendeiner Form des Daseins, sondern an der Existenz selbst leidet, ist anzunehmen, daß Goethe schon in Frankfurt seinem Protagonisten die Rettung »von oben« zugedacht hat. Während seines Aufenthalts in Rom schreibt Goethe drei Szenen, die, Bruchstücke einer großen Konzeption, mit dem gekürzten Urfaust zusammen das 1790 veröffent¬ lichte Faust-Fragment bilden. Der italienischen Reise verdankt Goethe die im unmit¬ telbaren Anschauen von südlicher Natur und antiker Kunst gewonnene Einsicht, daß bei den Alten eine Korrelation zwischen Naturgesetzlichkeit und Kunstform besteht. Da die bildende Natur das Verfahren vorschreibt, dem sich der Künstler zu verpflich¬ ten hat, verwirft Goethes römische Ästhetik folgerichtig das Subjektive und Zufällige: Die Einbildungskraft soll »exakt« Vorgehen, die Gegenstände zum Reden bringen, auf den Typus und das Typische hinarbeiten, das als Variationsbasis allen individuellen Metamorphosen zugrunde liegt. An den drei Szenen läßt sich die neue Kunstgesin¬ nung ablesen. »Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, / Will ich in meinem innern Selbst genießen« (Fragment, V. 249 f.): Faust versteht sich als Individuum, das Lebenstotalität beansprucht und, repräsentativ für die Gattung, sich Welt einverwan¬ deln, sich im Genuß mit allem »amalgamieren« will. »Wald und Höhle« zeigt in seinem Monologteil einen unfaustischen Faust, der für eine Weile in die befriedete Bezugseinheit von Natur und Mensch aufgenommen ist und dem der Blick ins Innere der Welt die eigene Innenwelt durchsichtig werden läßt. Der Süden ermöglicht es Goethe, die Tollheit der nordischen »Hexenküche« zu schreiben. Diese Szene, die Fausts Metamorphose vom Gelehrten zum jugendlichen Liebhaber erklärt, steckt Mephistos uneingeschränktes Hoheitsgebiet ab und zeigt die Ausgeburten einer mi߬ ratenen Schöpfung, die nicht im Menschen, sondern in den Tieren gipfelt. Ein unwirkliches Spiel läuft ab, in dem die närrische Wirklichkeit der Menschen karikiert wird, Sinn in Unsinn umschlägt und Unsinn sich als Sinn ausgibt. Doch inmitten des

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Spuks gewahrt Faust den Spiegel, inmitten des Ungestalten gewahrt er Helena, die gestaltgewordene Schönheit - ästhetisches Zeugnis von Goethes Suche nach dem in Natur und Kunst aufscheinenden Urphänomen. Die Handlungsblöcke des Urfaust unbedingtes geistiges Streben und bedingungsloser Liebesgenuß - werden durch die drei römischen Textteile zusammengerückt. Die ersterwähnte Szene (»Und was der ganzen Menschheit«) motiviert die Weltfahrt; die »Hexenküche« erregt die Begierde nach Sinnenlust; die Dialogpartie von »Wald und Höhle«, im Fragment vor dem »Zwinger« eingefügt, erläutert Fausts Taumel zwischen den Extremen des »Sinnlichen« und des »Übersinnlichen«. Das Fragment von 1790 wurde von Kennern wie Friedrich Schlegel enthusiastisch begrüßt. Wie nachhaltig es die damalige studentische Jugend beschäftigte, läßt sich der Erzählung des Historikers Luden entnehmen, wie entschieden es auch indirekt weiter¬ wirkte, verdeutlicht die Strukturierung von Hegels Phänomenologie des Geistes (1807). Doch trotz des Drängens der Öffentlichkeit ließ Goethe das Fragment jahrelang liegen. Politische, ästhetische und persönliche Gründe hemmten die Fortführung. Von der Französischen Revolution verstört, setzte Goethe grenzüberschreitenden Projekten die bewußte Bejahung der menschlichen Endlichkeit und den Willen zum Ausgleich zwischen Individuum und Gesellschaft entgegen. Der Griechennähe wegen nahm er nach 1790 Gegenwartsferne hin. Seine gegenstandsorientierte Einbildungskraft wider¬ setzte sich der drastisch-derben Fabel mit ihrem Hexenspektakel und Geisterspuk, dem Formwidrigen und Unbestimmten des nordischen Stoffs. Da Goethe an antiken Kunstwerken das Bemühen ablas, den Menschen in seiner geistig-sinnlichen Einheit darzustellen, mußte er den gespaltenen, über sich ins Unendliche hinausdrängenden Faust ablehnen. Seit Italien hing Goethe dem Gedanken der Renaissanceästhetik an, Kunst sei eine andere, zweite Natur; seine Naturforschung überzeugte ihn, das Kunstwerk müsse einem pflanzlichen Organismus gleichen, in dem jeder Teil zugleich Funktion und Zweck eines integralen Ganzen sei. Diese Einheit war für den Faust nicht zu gewinnen, da sich die überlange Entstehungszeit zwangsläufig in kompositioneilen Unstimmigkeiten äußerte. Die Balladendichtung des Jahres 1797 führt Goethe wieder auf den »Dunst- und Nebelweg« des Faust (an Schiller, 22. 6. 1797). Schillers freundschaftliche Teilnahme vermag es, daß sich Goethe im Juni jenes Jahres - mit der Vorbereitung einer neuen Italienreise befaßt - endlich entschließt, die Arbeit an Faust wiederaufzunehmen und an die überwundene Genieepoche wie an die frühe Neuzeit anzuknüpfen. Die pure Pflicht bindet ihn fortan an die Arbeit, und es bedarf über ein Jahrzehnt hinweg der selbstverleugnenden Mühe, um die »barbarische Komposition«, von der er am 27. Juni 1797 an Schiller schreibt, weiterzuführen. Erst die ausformulierte klassische Kunst¬ theorie ermöglicht die Fortsetzung des nichtklassischen Dramas; nur der Vorgriff auf Helenas griechische Welt macht die Plackerei mit dem sentimentalischen Faust erträg¬ lich. Daher kann die These gewagt werden, daß Goethe den ersten Faust-Teil, der 1808 erscheint, zu einem notdürftigen Ende brachte, um sich endgültig von »aller nordischen Barbarei loszusagen« (an Hirt, 25. 12. 1797). Schiller nahm in seinen Briefen vom 23. und 26. Juni 1797 divinatorisch die Probleme vorweg: Es gelte, die erforderliche »Totalität der Materie« zu erreichen und Faust ins handelnde Leben als Hof- und Staatsmann einzuführen; es komme darauf an, den »poetischen Reif« zu finden, um den disparaten alten Szenenbestand und die neuen

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Textpartien zu assimilieren; vor allem aber sei die »Vernunftidee« herauszuarbeiten, die die gedankliche Einheit der Teile garantiere. Auch wenn das wichtige erste Paralipomenon keine strenge Gliederung des nunmehr in zwei Teilen geplanten Werks gibt, setzt es doch Deutungsschwerpunkte: »Ideales Streben nach Einwirken und Einfühlen in die ganze Natur« (HA 3,427) - damit ist Fausts Transzendierungsdrang zustimmend umschrieben, seine Phantasie legitimiert, die sich als Subjekt wie als Objekt setzt; »Lebens-Genuß der Person - von außen gesehen - I. Teil« - diese Formel bezieht sich auf Fausts dumpfes Treiben in der »kleinen Welt« (V. 2052). Die vier Stufen des »Genuß«-Begriffs, die Goethe in seinem Schema verwendet, bezeichnen in abstracto die Absicht und die Rangfolge beider Faust-Teile. »Genuß« bedeutet geistige Aneignung und sinnliche Teilhabe, Ergreifen der Wirklichkeit durch den Menschen im Spiel seiner gesammelten Kräfte. Im »Schöp¬ fungs-Genuß« des Schlußakts von Faust II kulminiert Fausts tätige Existenz: Er genießt sich, schöpfergleich, in seinem Wirken und seinen Werken. Wie ließ sich Fausts exemplarische Bedeutung glaubhaft demonstrieren? wie der heterogene Szenenbestand auffüllen und verknüpfen? Die »große Lücke«, von der in einem Brief an Schiller vom 4. April 1801 die Rede ist, schließt Goethe durch den Selbstmordversuch, das Ostergeschehen und die Studierzimmer-Szenen mit der ent¬ scheidenden, die Seelenverschreibung ablösenden Wettformel. Fausts Wesen, sein Begehren im Genuß, sein Genießen des Begehrens, rechtfertigt der »Prolog«: Der Doktor Faust repräsentiert als »Knecht« Gottes (vgl. V. 299) das Menschengeschlecht in seiner Odyssee durch die Geschichte.

Von der Vielt des Theaters zum Welttheater: Die drei Präludien Obwohl die »Zueignung« vom 22. Juni 1797 ein halbfertiges Stück präludiert, werden weder Gestalten noch Motive oder Probleme der künftigen F^st-Handlung antizi¬ piert. Im nacherlebenden Rückblick spricht das elegische Ich die Phantasiewesen seiner Jugend an, und schon eingangs betont es die Eigenart dieser frühen imaginativen Entwürfe, deren »Zauberhauch« und »Geisterreich« an das Numinose der Faust-Sage wie auch an die unerklärliche Hervorbringung der Einbildungskraft erinnert. Die Strophen sind folgerichtig gegliedert: Die erste Stanze eröffnet den antwortlosen Dialog mit den »schwankenden Gestalten«, die die Bühne des Halbbewußtseins bevölkern; die Mittelstrophen ziehen die Verbindung zwischen Dichtung und Zeit, Dichter und Freunden und geben der Klage über Trennung und Tod und über die Vereinsamung in der Gegenwart nach, für die keinerlei Begründung angeführt wird (doch ist bekannt, wie Goethe in den neunziger Jahren unter den Wirkungen der Französischen Revolu¬ tion und seiner privaten Isolation litt); die Schlußstrophe schließlich überläßt sich dem Gewesenen, dem »Schauer«, der in Goethes Werk oft Transparenz der Zeit und Aufhebung der Zeitenfolge bedeutet und den vollen Anschluß an das alte Werkfrag¬ ment markiert. Der dichterische Weg, als Gefühlsbewegung dargestellt, führt also schrittweise durch die kontrastierte Gegenwart in die Erinnerung zurück - in den Innenraum der Phantasie, die hier mit der Vergangenheit eins ist. Die »Zueignung« thematisiert den imaginativen Prozeß, der den Schemen der Einbildungskraft, den »schwankenden Gestalten«, zur konturierten Bestimmtheit in der fertigen Dichtung

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verhelfen soll. Diese steigen »aus Dunst und Nebel« - das sind nicht nur die Merkmale der Landschaft nördlich der Alpen, die dem »nordischen« Faust entsprechen, »Dunst und Nebel« sind überdies Goethes Metaphern für das Halbbewußte, in dem sich der Gestaltungsvorgang vorbereitet. Die gewesene erfüllte Zeit kann zurückgerufen wer¬ den: Die formelhaften Schlußverse (V. 31 f.) geben Zustand und Gewinn des elegischen Ich wieder, das das Vergangene vergegenwärtigt und das Gegenwärtige weghält. Die Zeiten werden verkehrt, die Seinsmodi vertauscht, so daß sich das Erinnerte als eigentliche Wirklichkeit ausgeben kann. Die Einbildungskraft verhilft dem jetzigen und dem früheren Ich zur Selbstbegegnung und überspielt den Wirklichkeitssinn in seiner Temporalstruktur. Goethes Mühe, sich der Fortsetzung des Az«5£-Fragments zu verpflichten, objektiviert sich in einem Gedicht über die Entstehung von Dichtung. Im »Vorspiel« wird das Theater mit seinen eigenen Mitteln ironisiert und als »Theater« desillusioniert. Der vergnügliche Blick hinter die Kulissen durchschaut die übliche Vermengung des Seins und des Scheins, der Wirklichkeit des Lebens und der Wahrheit der Kunst, und der Interessenkonflikt innerhalb der Trias von Regie, Darstellung und Poesie deutet die gegenseitigen Abhängigkeiten an, die das Publikum selten wahr¬ nimmt. Da in dem Disput zwischen dem »Direktor«, der »Lustigen Person« und dem »Dichter« jeder nur eine Teilwahrheit vertritt, relativieren die drei Positionen einander wie in den Spielen der Frühromantik, und da Goethe seit Mai 1791 das Weimarer Theater leitete, konnte er im behaglichen Spott über den Intendanten auch ein Teil Selbstironie anbringen. Der »Direktor« versteht sich als geschäftstüchtiger Unterneh¬ mer, den die Erfolgspraxis rechtfertigt. Er kennt zur Genüge seinen wichtigsten Mitspieler, das Publikum, dessen Geschmack er lenkt und umschmeichelt. Die »Lustige Person« hat wenig mit dem von Möser reaktivierten Harlekin zu tun. Sie vermittelt zwischen dem gewieften Pragmatiker und dem kunstgläubigen Idealisten und vertritt als Mime, dem Rollendasein und dem flüchtigen Augenblick der Theaterauffüh¬ rung ergeben, die Leichtigkeit des Spiels und die Heiterkeit der Kunst. Der »Dichter», der überraschenderweise nicht von einem konkreten Theaterstück spricht, sondern seine ästhetische Konfession ablegt, verwahrt sich leidenschaftlich gegen die Kunst als Ware und Unterhaltung für die Masse: Sein unbedingter Anspruch kollidiert mit den Bedingungen, die Besitzer und Schauspieler, Bühne und Publikum stellen und denen er sich wider Willen beugen muß. Mit Vorstellungsschemata, die in die Antike zurückrei¬ chen und allesamt belegen, was Dichtung ist und sein soll, entwickelt er eine >aesthetica in nucefascinosum< den Menschen erhebt, als >tremendum< ängstigt. Die Selbstcharakterisierung des Erdgeistes, die an die Sulzer-Rezension Qubiläums-Ausgabe 33,16) erinnert Natur ist »Kraft, die Kraft verschlingt« -, weist ihn als das individualisierte Prinzip des Irdischen aus, als rastlose Kraft, die, auf ewige Selbsttätigkeit ausgerichtet, Dauer im Wechsel, das Vergehen im Werden und das Werden im Vergehen verkörpert. »In Lebensfluten, im Tatensturm / Wall’ ich auf und ab« (V. 501 f.): Mit Hilfe seines Lieblingsbildes, des universalen Webegleichnisses (vgl. V. 1922ff.), versinnlicht Goethe in hinreißenden Versen die Antinomien des Daseinsprozesses; wie die Griechen faßt er die Erdnatur in ihrer Polarität als natura textor, als Webepotenz, auf. Der

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Erdgeist »wirkt« die Erscheinungswelt und vereinigt in sich den Widerspruch von Erschaffen und Zerstören ohne irgendein transzendentes Ziel: Wie in der NaturRhapsodie (HA 13,45 ff.), die das Naturgefühl des »Sturm und Drang« am genauesten wiedergibt, erfüllt sich der Sinn des Lebens im Leben selbst. Die Epiphanie des »Weltund Taten-Genius« (HA 3,427) endet mit der völligen Demütigung Fausts, denn der Erdgeist verkörpert die schaffende Zeit, wirkt als Subjekt der Zeit, deren bloßes Objekt der Mensch Faust ist. Die Ironie der Szene schlägt sich in Fausts Ausweglosigkeit nieder: Die Weiße Magie versagt als Möglichkeit, das Endliche zum Unendlichen hin zu öffnen, und als Befähigung, sich mit dem Geist der Tätigkeit zu messen. Die Schau des Makrokosmoszeichens genügt Faust nicht - dem Erdgeist, der die elementare Erdkraft und den Lebensschrecken verkörpert, kann Faust, der »Über¬ mensch« (vgl. V. 490), nicht genügen. In einem dritten Entgrenzungsversuch will Faust, ausgeschlossen von der Ganzheit des Daseins, das principium individuationis abwerfen, um aus seiner Isolation in das All der Natur überzugehen. Da die Leibge¬ bundenheit des Geistes die früheste und schmerzlichste Erfahrung der menschlichen Endlichkeit ist,will er sich durch Selbstmord aus dem Gefängnis des Körpers, der »Trauerhöhle« (V. 1589), befreien. Die räumliche Beengung verschärft sich zur Diskre¬ panz zwischen dem ungemessenen Gefühl und den vielfachen äußeren Bedingtheiten: Faust lebt »in einem hochgewölbten, engen gotischen Zimmer«, in einem »Kerker« voll »Urväter-Hausrat« (vgl. V. 398 ff. und V. 656 ff.), überdies in einer spießigen Umwelt, wie die Wagner-Satire, in sich zurückgedrängt, wie die Erdgeist-Erfahrung zeigt, gefesselt an die allgemeinen, beschränkenden Konditionen des Daseins (V. 634 ff.) und gebunden durch die Sorge, in deren Gestalt ihm das menschliche' Leben reduziert erscheint (V. 640ff.). Das Lebensfazit, das Faust im zweiten Monologteil zieht (vgl. V. 632ff.), ist ernüch¬ ternd: Alles Geistige ist auf das verunreinigende Stoffliche angewiesen; die Sorge vor der Sorge, vor dem befürchteten Möglichen, verhindert den ruhigen Genuß der Gegenwart. Was das Leben verwehrt, will Faust (wie im Volksbuch des »Christlich Meynenden«) durch einen selbstgewählten Tod erreichen: Befreiung von den Grenzen der Physis, Einswerdung mit dem All und in ihm »reine Tätigkeit« (V. 705) - ein potenziertes Tun also, in dem Wille und Ausführung identisch und ohne stofflichen Erdenrest sind (vgl. V. 634f. und V. 11954ff.). Wie für die Stoiker ist auch für Faust der selbstbestimmte Tod ein Akt der Freiheit, allerdings markiert für ihn das Lebensende den Beginn des eigentlichen, wahren Lebens, so daß der Selbstmord nicht ein Ausdruck der Verzweiflung, sondern ein Fest auf dem Weg zur Alleinheit ist: Der äußerste Lebensdrang führt über das Leben hinaus. In der Phantasie überschreitet Faust die Grenze des Irdischen, und seine übersteigerten Sinne nehmen die Vision des Elias-Wagens als wirklich hin. Ein jünglingshafter Todesrausch erfüllt ihn - im Vorgefühl des letzten Augenblicks kulminiert das Leben wie in der Dithyrambe An Schwager Kronos -, so daß hinter seinem transzendierenden Überschwang alle Wirklichkeit zurückbleibt. Die Osterglocken verhindern, daß der Entschluß zur Tat wird; die Chöre des Passionsspiels retten Faust - für Mephisto. Goethe kontrastiert die Auferstehungsfeier mit Fausts Todeswunsch und Selbsterlö¬ sungswillen und deutet Gegenstrebungen an: Christus übernahm freiwillig die begrenzte Existenzform des Menschen, deren sich Faust entschlagen will. Dekuvriert das Spiel mit dem Tod den Lebensspieler? Beschäftigt sich Faust jeweils mit

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den letzten Dingen, um sich den nächsten zu entziehen? Jedenfalls verdeutlicht Fausts antizipatonsches Pathos den Hiatus zwischen Wort und Tat, den er bis zum Lebens¬ ende nicht zu überbrücken vermag, und da ihn nicht der Glaube zurückhält, sondern die Erinnerung, ist zu folgern, daß Faust sich am Ostermorgen der Vergangenheit überläßt wie zuvor der emphatisch vergegenwärtigten Zukunft. Bleibt daher die konkrete Gegenwart mit ihren konkreten Aufgaben ausgespart? Dient die »offene« Natur, nach der er Verlangen trägt, als gesellschaftsfreier Raum, als Fluchtraum, wie ihn Shaftesbury und Rousseau propagierten? Nach dem dritten gescheiterten Entgren¬ zungsversuch, gegen Ende des Osterspaziergangs mit Wagner, erregt die Abendsonne Fausts Sehnsucht in die ungemessene Ferne des Alls (vgl. V. 1070ff.). Im Volksbuch von 1587 nimmt Faust »Adlerflügel« an; auch Goethes Faust wünscht sich, wie schon Werther, die Ungebundenheit des Vogels, um dem Sonnenlauf folgen zu können. Die Versgruppen demonstrieren nochmals, wie Fausts Phantasie arbeitet, wie der Blick vom Sichtbar-Konkreten zum Imaginativ-Geahnten ohne Zäsur übergeht und das Fernweh, das die Wirklichkeit hinter sich läßt, den Wunschtraum als geschaute Gegenwärtigkeit ausgibt (»Schon tut das Meer sich mit erwärmten Buchten / Vor den erstaunten Augen auf« - V. 1082 f.). Doch der ersehnte »göttergleiche Lauf« (V. 1080) bleibt diesmal ohne den üblichen Transzendierungsdrang: Der erkenntnissuchende Spiritualist entdeckt jetzt seine im »Prolog« angesprochene »andere« Seele - die derbe, welthafte und lebenshungrige. Dieser sinnliche Faust, der um einen »Zaubermantel« fleht, um seinen abenteuernden Trieb ausleben zu können, ist von der Schwarzen Magie verführbar: Wie in alten Teufelssagen und im Volksbuch nähert sich Mephisto in Pudelgestalt. Nicht dem platonischen Schichtenmodell der Seele, sondern der von Augustin in seinen Bekenntnissen (8,10) verhöhnten manichäischen Lehre vom Wider¬ streit der zwei Seelen in der Menschenbrust folgt Goethes Text: Die Polarität des Irdischen reicht in den Menschen hinein und teilt ihn in eine schwankende »Zwienatur« auf (vgl. V. 11 962). Die Versöhnung der Gegenkräfte - die Vitalisierung des Sublimen und die Sublimierung seines Vitaltriebs - versucht Faust vorläufig nicht, vielmehr wird den lebensgierigen Sinnen aufgetragen, was weder dem »Geist« noch der Geistesbe¬ schwörung gelang. Schon in seinem Brief vom 23. Juni 1797 erkannte Schiller die Bedeutung der »Duplizität der menschlichen Natur« für den Gang der Handlung: Das »verunglückte Bestreben, das Göttliche und Physische im Menschen zu vereinigen«, macht Fausts Größe und Elend aus. Schon vor der Wette wird das Lebensgenuß-Motiv angeschlagen: Will der einsame Faust zunächst mehr als Leben - im Gefolge Mephistos will er einfach mehr Leben. Der Tag aus dem Leben des Doktor Faust, der erst nach dem Auftritt des Teufels in höchsteigener Person endet, erlaubt es, Fausts Psychogramm nachzuzeichnen, das aus ekstatischen Aufschwüngen und depressiven Abstürzen zusammengesetzt ist. Faust maßt sich an, »mehr als Cherub« (V. 618), nämlich Seraphim, zu sein, und muß sich eingestehen, daß er nur »dem Wurme« gleicht (V. 498 und V. 653). Elevation und Resignation - die Extreme lösen einander ab. Der Grund: Faust kann die Kluft zwischen Erkenntnisverlangen und Erkenntnisvermögen nicht schließen und die dadurch bedingte Selbstwertkrise nicht ausbalancieren. Der Selbstmord als Klimax der Entgrenzungsversuche scheint die einzige Möglichkeit zu sein, in die Totalität des Seins einzudringen und Totalität in sich aufzunehmen. Indes gibt die psychologische Deu¬ tung des rhetorischen Aktivisten nur die halbe Wahrheit wieder.

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Es ist der Begriff der »Gottebenbildlichkeit«, in dem Fausts Selbstgefühl gründet, und der der verwegenen »Gottgleichheit«, auf die sein »Streben« letztlich zielt (vgl. V. 516; auch V. 614 und V. 3285). Daß der Mensch die Anlage zur Gottheit in sich trage, äußern die »Stürmer und Dränger« in unreflektiertem Selbstgefühl; daß die Mensch¬ werdung Gottes die Gottwerdung des Menschen erfordere, gehört zu den Grundüber¬ zeugungen der Epoche des Idealismus. Goethes spätere Meinung spricht Nereus in den »Felsbuchten des Ägäischen Meers« aus (vgl. V. 8096ff.). Wie die biblisch verheißene Gottebenbildlichkeit (l.Mose 1,26f.), insgeheim zur Gottgleichheit umgedeutet, zur äußersten Anstrengung führt und zur Vermessenheit verführt, demonstriert das FaustDrama. Ich, Ebenbild der Gottheit, das sich schon Ganz nah gedünkt dem Spiegel ew’ger Wahrheit, Sein selbst genoß in Himmelsglanz und Klarheit, Und abgestreift den Erdensohn; Ich, mehr als Cherub, dessen freie Kraft Schon durch die Adern der Natur zu fließen Und, schaffend, Götterleben zu genießen [...]« (V. 614ff.). Ist hier pure Hybris am Werk? Faust kann sich auf Goethes jugendliche Kosmogonie am Ende des 8. Buchs von Dichtung und Wahrheit berufen, wovon nachher noch die Rede sein wird, wenn er zurückstrebt zu seinem Ursprung. Die Einheit, die Unend¬ lichkeit Gottes tritt der »Privatreligion« des jungen Goethe zufolge über in die Mannigfaltigkeit der Teile, die in ihrer Geschöpflichkeit begrenzt sind, doch die Züge des göttlichen Urbilds tragen. Der Mensch ist getrennt von Gott und doch unzertrenn¬ lich mit ihm, in dem er enthalten bleibt, verbunden; er ist ebenbildlich, aber nicht ebenbürtig; er hat teil an der unendlichen Wesenheit des Schöpfers und besitzt doch nur partikulare geschöpfliche Kraft. An diesem Widerspruch, »zugleich unbedingt und beschränkt zu sein«, leidet der Mensch, »und da dieser Widerspruch durch alle Kategorien des Daseins sich an ihm manifestieren und ein vollkommenes Bewußtsein sowie ein entschiedener Wille seine Zustände begleiten sollte; so war vorauszusehen, daß er zugleich das Vollkommenste und Unvollkommenste, das glücklichste und unglücklichste Geschöpf werden müsse« (HA 9,352). Der Mensch - und Faust repräsentiert den Menschen in genere gemäß Goethes Konzeption von 1797 - will sich der Rolle, unbedingt und bedingt in einem zu sein, entschlagen und sich selbst als absolut und autonom statuieren. Darin besteht nach Goethe seine Undankbarkeit und sein luziferischer Teil. Überdies erstrebt Faust in den angeführten Versen weniger ein augustinisches Aufgehen in Gott als ein Übergehen in den Schöpfungsprozeß, weniger eine Rückkehr zum göttlichen Ursprung als vielmehr »Schaffen« und »Genuß« im aktiven Einssein mit der apersonal gedachten Natur. Wir haben gelernt, Faust mit nüchternen Augen zu sehen, doch setzt seine Beurteilung - oder gar seine Verurteilung - voraus, daß das Gesetz, nach dem er angetreten ist, mit in Anschlag gebracht werde: die Erbtugend des »Strebens«, des Werdens und Verwandelns. Die Gottheit ist »Gestaltung, Umgestaltung« (V. 6287); die Natur hat, dem AWwr-Aufsatz gemäß, »fürs Bleiben keinen Begriff und ihren Fluch hat sie ans Stillestehen gehängt« (HA 13,46). Das Absolute von Gott-Natur in Faust ist es, das

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daher zum Absoluten zurückdrängt. Etwas Zweideutiges haftet indessen diesem Drän¬ gen immer an. Auf der komisch-niederen Ebene des Schülers gespiegelt, heißt dies: »Dir wird gewiß einmal bei deiner Gottähnlichkeit bange!« (V. 2050). Im Rückblick wie im Vorblick auf die Studierzimmer-Szenen ergibt sich: Fausts Leiden an der Endlichkeit bedingt seinen Transzendierungsdrang; die überschießende Phanta¬ sie - neben dem Herzen das Organ, aus dem die »Stürmer und Dränger« zu existieren vorgeben - verringert die korrespondierende Wirklichkeit; der Reichtum des Innern bringt mit sich, daß die Außenwelt immer armselig zu sein scheint. Der Widerspruch, unbedingt und beschränkt zu sein, läßt sich daher am sinnfälligsten am Verhältnis von Innerlichkeit und Außenwelt, von Phantasie und Realität zeigen. Das Herz entwirft eine Welt »in sich« (vgl. 491 und V. 778); die Phantasie erweitert »zum Ewigen« (vgl. V. 640 f.); in der Menschenbrust regt sich die eigne Schöpfung (vgl. V. 1560): Immer trifft die innere Unendlichkeit auf die beschränkende Außenwelt. In einer Maxime definiert Goethe den Menschen »als innerlich Grenzenloses, als äußerlich Begrenztes«, das in die Außenwelt eingreife (HA 12,396 f., Nr. 228), doch eben die »Disproportion« von Innen und Außen verhindert den ausgewogenen Bezug. Werther, Tasso und Faust leiden an der Hypertrophie ihrer Einbildungskraft, an der gegenstandslosen Innerlichkeit, die sich ihre solipsistische Welt erschafft und dabei die kompromißgeformte Wirklichkeit von Gesellschaft und Staat übergeht. Die Dialektik von Freiheit und Bindung, auf der Goethe besteht (vgl. HA 12,520, Nr. 1117), bleibt Faust fremd. Er ist der Prototyp jener neuzeitlichen Figuren, die das Wirkliche in das Überwirkliche erweitern wollen, aber, unterwegs zum Unbedingten, das in seiner Bedingtheit Mögliche verfehlen. Daß sich die hochgesteigerte Subjektivität, die im »Sturm und Drang« für den deutschen Sprachraum entdeckt wird, der gegenständli¬ chen Außenwelt in Form der gesellschaftlichen oder staatlich-kommunalen Forderun¬ gen gern entzieht, ist teilweise mit der den Bürgern im 18. Jahrhundert aufgenötigten Abstinenz von politischer Wirksamkeit und der Entstehung des Kulturpessimismus im Gefolge Rousseaus zu begründen. Nietzsche hingegen diagnostiziert den »merkwürdi¬ gen Gegensatz eines Innern, dem kein Außeres, eines Äußeren, dem kein Inneres entspricht«, als »eigenste Eigenschaft« des modernen Menschen.5 Fausts »Modernität« äußert sich in dieser unvermeidbaren Kollision: Erstmals in der Geschichte der Tragödie bedarf eine sich anbahnende Tragik keines Gegenspiels. Faust bedeutet damit Höhepunkt und zugleich Krise des Subjektivismus. Die Entwicklung des Individualis¬ mus zum Subjektivismus seit der Renaissance ist, positiv gesagt, von der Befreiung aus kirchlichem Dogmatismus begleitet, negativ ausgedrückt, bezeichnet dieser Prozeß den Zerfall der Einheit von Glauben und Wissen. Das Ergebnis ist bekannt: Absolute Ichsetzung muß mit Selbstverfehlung, totale Emanzipation mit Isolation, Überbeto¬ nung der Phantasie mit Realitätsverlust bezahlt werden. Daher besteht die Humanitäts¬ philosophie aus guten Gründen auf Maß und Entsagung als Regulativen des lebensim¬ manenten Unendlichkeitsdrangs. Um Herder zu zitieren: Die Natur will nicht allein, daß der Mensch sich ausbreitet, sondern daß er sich auch einschränkt (vgl. Suphan 13,339 f.). Das Resümee der drei Entgrenzungsversuche: Das vom »Herrn« gerechtfertigte,seiner Autonomie innegewordene Individuum will in seinem metaphysischen »Selbsthelfertum« die Ganzheit des Seins nicht nur begreifen, sondern auch - tätig und genießend ergreifen. Den Weg der Mystik des 15. Jahrhunderts - durch Versenkung in den

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Seelengrund das Einssein mit Gott schon im Diesseits zu erfahren - verwirft der Magier Faust; die Idee des Idealismus von der werdenden Gottwelt, die sich des Bewußtseins des Menschen zu ihrer Vollendung bedient, bleibt ihm fremd. Am Ostermorgen endet die Exposition; den Tag über bescheidet sich Faust, Erinnerungen hingegeben und weltoffenen Sinnes, mit Wagner; am Osterabend beginnt, von seinem Fernweh einge¬ leitet, das Spiel zwischen ihm und Mephisto, der »magisch leise Schlingen« (V. 1158) um ihn zieht.

Faust und Mephisto: Ungleiche Partnerschaft Versöhnt mit Gott und Welt und auch mit sich, kehrt Faust in sein Studierzimmer zurück. Doch der Friede, den er in der Selbstbeschränkung findet, ist von kurzer Dauer: Sein Gefühlsrhythmus wechselt wieder in Strophenschnelle; sein religiöses Empfinden ist der bloße Reflex seiner schwankenden Stimmung. Die Übersetzung des Anfangsverses des Johannesevangeliums - ein vorzüglicher Kunstgriff Goethes ermöglicht es Faust, eine neue indirekte Selbstdeutung zu geben. Der kenntnisreiche Exeget folgt dem hebräischen Textsinn und versteht wie Vico und Herder >Logos< als >TatKraft< in Bestimmtheit umsetzt. Die Gottheit als >Tat< - für Faust bietet sich die analoge Selbstinterpretation als Kompensation seiner Handlungsarmut geradezu an. »Im Anfang war die Tat« (V. 1237) - just in diesem Augenblick beginnt folgerichtig die Metamorphose des Pudels als Antwort auf das anfängliche Schöpfungs¬ werk. Fausts Beschwörung bedient sich schließlich ohne Bedenken- christlich-magi¬ scher »Künste«: Dem Antichrist begegnet der Nichtchrist im Namen und im Zeichen Christi (vgl. V. 1305 ff.). Auch die Exposition Mephistos, des Antagonisten, geschieht durch eine Selbstcharak¬ terisierung. »Ein Teil von jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft« (V. 1335 f.). Bekräftigt er einfach das Urteil des »Herrn«, daß er, indem er als Teufel schafft (vgl. V. 343), gegen seine Absicht am göttlichen Weltplan mitwirkt und daher vor allem Anfang schon zum Mißerfolg verurteilt ist? Oder begegnet der »Scholastikus« Fausts Imponiergehabe mit einer raffinierten Sophisterei, indem er ethische Termini durch Aspektvertauschung verrätselt? Will Mephisto, was die Men¬ schen »böse« nennen, nämlich Zerstörung, und erlangt er, was »gut« ist nach seiner Einschätzung, nämlich Vernichtung? Er jongliert hier und später mit Begriffen und operiert mit Perspektiven, um seinen Part voranzutreiben. Da er in der Folge eine Satanologie unter dem Thema des Teils und des Ganzen entwirft (vgl. V. 1346 ff.), die, prima vista, dem bekannten biblischen Mythos verwandt zu sein scheint, bedarf es einer kurzen Digression. Nach biblischer Auffassung, in der orientalische Einflüsse nachwirken, konstituiert ein umgreifender Dualismus die Welt: Gott und Satan, Licht und Finsternis. Dem Neuen Testament zufolge ist der Teufel der »Fürst« und »Gott dieser Welt« Qoh. 12,31; 14,30; 16,11; 2. Kor. 4,4) und der Verderber der Menschen. Luther übernimmt den Teufels¬ glauben, und noch Frühaufklärer wie Christian Thomasius leugnen nicht die Existenz des Teufels, wohl aber die Möglichkeit des Teufelsbunds. Für das 18. Jahrhundert ist Satan die Chiffre für die unheimliche, die unerklärliche und doch reale Macht des Bösen in der Welt. In Goethes jugendlicher »Privatreligion«, die am Ende des 8. Buchs von

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Dichtung und Wahrheit im distanzierenden Altersrückblick dargelegt wird, nimmt Luzifer einen genauen Ort und eine bestimmte Stellung ein. Diese synkretistische Kosmogonie des Frankfurter Goethe, die er sich während seiner langwierigen Gene¬ sung zusammenlas und ausdachte, verhilft zum angemessenen Verständnis von Mephi¬ stos Selbstcharakteristik. »Der neue Platonismus lag zum Grunde; das Hermetische, Mystische, Kabbalistische gab auch seinen Beitrag her, und so erbaute ich mir eine Welt, die seltsam genug aussah« (HA 9,350). Eines der Resultate dieser eklektizistischen Studien ist Goethes halb christlich-religiöser, halb magisch-mystischer Luzifer-Mythos, der einen wichti¬ gen Teil seines Erklärungsversuchs der Weltentstehung bildet: Die Gottheit schafft die ewige, unteilbare göttliche Dreieinigkeit, die aus sich »ein Viertes« hervorbringt, nämlich Luzifer. In diesem ist ein Widerspruch angelegt, denn er ist unbedingt und doch zugleich in der Trinität enthalten - und damit begrenzt. Luzifer nun, dem die Schöpfungskraft übertragen wird, »produziert« das ebenbildliche Engelreich, das ihm anhängt, sich mit ihm auf sich selbst konzentriert und aus Undank und Hybris teilweise von Gott abfällt. Dem Prozeß der luziferischen »Konzentration« entstammen Materie, Körperlichkeit und Finsternis. Um der gefährlich fortschreitenden Verfestigung entge¬ genzuwirken, wird im göttlichen Gegenakt, der »Expansion«, das Gleichgewicht zwischen Zusammenziehung und Ausdehnung - der pulsierende Wechsel des Lebens hergestellt. Das Licht entsteht und mit ihm, »was wir mit dem Worte Schöpfung zu bezeichnen pflegen«, schließlich der Mensch als das Wesen, das - »Ausgeburt zweier Welten« (HA 12,513, Nr. 1049) - den Gegensatz von Geist und Materie, Licht und Finsternis schmerzlich in sich vereinigt und Gott und Welt mühselig in sich verbindet. Der Mensch - gottebenbildlich gedacht - ist, da er wie Luzifer »unbedingt und beschränkt« zugleich ist, nicht nur, wie für Leibniz, der »kleine Gott der Welt« (V. 281), sondern auch deren kleiner Teufel im Undank und in der Selbstüberhebung. Glück und Unglück des Menschen entstammen diesem Widerspruch von Körper und Geist, von endlicher Anlage und der geistigen Disposition fürs Unendliche; aus seiner Sonderstellung zwischen den polaren, einander bedingenden Bereichen der Welt resul¬ tiert seine charakteristische Dualität, der Streit der »zwei Seelen« und der Gegensatz von Streben und Erschlaffen. Man sieht: Aus den Grundgedanken dieser Kosmogonie lassen sich die jugendliche Luzifer-Vorstellung und das Bild vom Menschen ableiten, die Auffassung von Mephi¬ sto und die Einschätzung Fausts; in ihr enthalten sind überdies zentrale Begriffspaare, die Goethes Dichten und Denken lebenslang bestimmen: Die Schöpfung ist ein unaufhörlicher, ein gegenstrebiger Prozeß zwischen den »Pulsen« von Expansion und Konzentration, Diastole und Systole, Emanation und Regression, Ausgang und Rück¬ kehr zum Ursprung; der Mensch als Doppelwesen ist zur Kontraktion - dem »Verselbsten« - genötigt und zur Expansion - der »Entselbstigung« (als einer Weise der Vergeistigung) - aufgerufen (vgl. HA 9,353). Man erinnere sich an Prometheus und Epimetheus in Pandora oder an den Ganymed und den Prometheus der Oden, in denen die erwähnte Antinomie von Selbstverfestigung und Selbstpreisgabe personalisiert ist, und konkretisiere die Kosmogonie durch den »Prolog«: Das hier sanktionierte »Stre¬ ben« erhält seinen vollen Sinn, wenn es als Expansionsdrang, als ruheloses Suchen nach dem Ursprung - dem »Urquell« (V. 324) - verstanden wird. Doch erst Systole und Diastole zusammen machen, gleichberechtigt, im rhythmischen Wechsel, das polar

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strukturierte Leben in seiner Ganzheit aus (vgl. Farbenlehre, § 739). Mit dem nötigen Vorbehalt gegen begriffliche Verkürzungen läßt sich sagen, daß Faust das diastolische, Wilhelm Meister eher das systolische Prinzip in Goethes Werk vertritt. Für die Kritik an Faust gilt das Wort des Abbe in den Lehrjahren: »Wer alles und jedes in seiner ganzen Menschheit tun oder genießen will [...], der wird seine Zeit nur mit einem ewig unbefriedigten Streben hinbringen« (HA 7,573). Doch zurück zur ersten Studierzimmer-Szene, zu Mephistos verschnörkelter Selbstof¬ fenbarung. Weder die Satanologie des »Prologs« noch die Luzifer-Vorstellung der Autobiographie wird von ihm repetiert (vgl. V. 1335 f.), vielmehr geht er auf Verwir¬ rung des verdutzten Faust aus, da Absicht und Resultat - das »Böse« wollen und das »Gute« erreichen - einander widersprechen. Mit aggressivem Freimut expliziert Mephisto seinen Nihilismus als Grund seines Destruktionstriebs und seiner Verkeh¬ rung der menschlichen Wertkriterien. »Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war, / Ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar« (V. 1349 f.): Dem menschlichen Bedürfnis nach Ganzheit - Ganzheit ist ein wenig beachteter Zentralbegriff Goethes, in dem seine einheitliche Menschen-, Natur- und Kunstauffassung gesammelt ist - setzt Mephisto seine Partialität entgegen, die er aus seiner Metaphysik ableitet: Er ist bloßer Teil - einer aus der uniformen Heerschar der Bösen - und »Teil des Teils«, da die Nacht durch die Geburt des Lichts zum Teil des uranfänglichen Ganzen degradiert wurde. Geschickt deutet Mephisto die biblische Genesis um: Im Anfang war die Nacht, und die Nacht war ohne Gott, und Satan war die Nacht. Listig unterschlägt er den Schöpfergott, konsequent entwirft er seine Lehre von der Finsternis, rabulistisch statuiert er die Lichtwerdung als Aufstand gegen den nächtlichen Ursprung. Wie die alte Mythologie, so interpretiert auch Mephisto den Kampf zwischen Licht und Finsternis als Thema des Weltprozesses und der Weltgeschichte, doch kann es nicht wundernehmen, daß er den Sieg für das Dunkel reklamiert, zumal das Licht, von der vergänglichen Körperwelt hervorgebracht, von ihr abhängig und gehemmt ist. Obwohl Mephisto den ewigen Produktionstrieb Gottes, der sich im Kosmos manifestiert, leugnen möchte, kommt er nicht umhin, seine unablässigen Mißerfolge einzugestehen: Die Beständigkeit des »Etwas«, die Welt, erhält sich gegen die teuflische Destruktion, die den alten Zustand des »Nichts« wiederherstellen will (vgl. V. 1363). Die Gesetzmäßigkeit der Natur setzt sich gegen die entfesselten Elementargewalten durch, deren sich Mephisto bedient, und Tier und Mensch überdauern als Gattung trotz des Tods der Individuen, wie Mephisto in seinem widerwilligen Preis des Irdischen einräumen muß (vgl. V. 1369 ff. und V. 9937f.). Den Elementen Luft, Wasser und Erde verdankt sich das ewig neue, das »unverwüstliche« Leben; dem Lebenstrieb widersetzt sich, sofern es zerstörerisch wirkt, das Feuer, das daher Mephistos Attribut ist. Mephisto verkörpert also nicht - wie der Erdgeist - die immanente Dialektik der Natur, das Leben, das unfühlend in verwandelter Gestalt aus jedem Tod hervorgeht, sondern das statische Chaos, in dem alle Formen ausgelöscht sind. Wer »stets das Böse will«, nämlich Gesetzlosigkeit, bestätigt indirekt die Gesetz¬ mäßigkeit der Natur; wer das Menschliche im Menschen bekämpft, ruft Gegenkräfte hervor und begünstigt ungewollt das individuelle Streben und den generellen Fort¬ schritt. Daher ist das Teuflische die dialektische Negation der Geschichte und der Teufel die dialektische Ergänzung zu Faust. Mephistos dürftige Gesamtbilanz gegen Ende der ersten Studierzimmer-Szene rechtfertigt die Meinung des »Herrn« im »Pro-

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log«; die Pentagramm-Episode (vgl. V. 1393 ff.) demonstriert überdies, daß der Teufel »nur frei erscheinen« darf (V. 336) - daß auch seine Macht begrenzt und den vertrackten Gebräuchen und Gesetzen der Hölle unterworfen ist (vgl. V. 1410). Die Gegensätze klären sich: Die Schöpfung, das Leben, dessen »Werden« in der Wasser- und Quell-Metaphorik dutzendfach verbildlicht ist, steht gegen Zerstörung und Erstarrung; das Ganzheitsstreben des Menschen Faust will sich in Wette und Wettstreit gegen Mephisto, den Teil des Teils, behaupten. Der »Stürmer und Drän¬ ger« Faust will Ganzheit in dreierlei Hinsicht: in der Vereinigung sämtlicher Kräfte und Eigenschaften, die die platonisch-christliche Spaltung in Körper und Geist über¬ winden; in der Annahme der polaren Ganzheit des Lebens, »der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen« (V. 465; vgl. auch V. 1766 f. und V. 1773); in der Repräsentanz des ganzen Menschengeschlechts, wodurch sich die Individualität zur Totalität erweitert (vgl. V. 1770). Mephisto hat dafür nur den Spott des Welterfahrenen übrig (vgl. V. 1776 ff.). Das Intervall zwischen der ersten und zweiten Studierzimmer-Szene ist unbestimmt, doch lang genug, um einen neuerlichen Stimmungsumschwung in Faust zu zeitigen, der sich in einer weltschmerzlerischen Elegie - Melancholie ist das Attribut des Genies von Aristoteles über Marsilius Ficino bis zu den »Stürmern und Drängern« - über das vertraute Thema des »engen Erdelebens« (V. 1545) und seiner Pein Luft macht. »Entbehren« ist nach Faust synonym mit Dasein. Der Unterschied zwischen Autor und Protagonist wird hier wieder deutlich, denn Entsagung - die positive Form des »Entbehrens« - schließt für Goethe, und nicht erst seit Rom, Selbstbeschränkung, freiwillige Bejahung der Bedingungen der Natur und der begrenzenden Sittlichkeit ein. Faust beklagt seine tatenlose Verlorenheit im Universum seines Innern, sein Gefühl ohne Wirklichkeit, seinen Willen ohne Wirksamkeit und redet sich seine Verzweiflung ein, die in einer Verfluchungsorgie mündet: Sein Anathema trifft den bloßen Schein und das wahre Sein, Bezüge, Ordnungen und Werte. Faust nimmt die Kardinaltugen¬ den von Glaube, Liebe und Hoffnung (vgl. 1. Kor. 13,13) nicht aus, jene Kräfte also, die, ohne magische Hilfe, in der endlichen Welt ein Nicht-Endliches zu verwirklichen imstande sind. Auch wenn er keinen Gottesfluch ausstößt, nimmt der Mensch Faust in diesen Versklimakes (V. 1587ff.) das Ebenbild des Teufels an. Das Fazit: Fausts maßvergessener Nihilismus verringert die selbstsichere Distanz während seiner ersten Teufelsbegegnung; nach der Abweisung alles Verführerischen in Leben und Natur stellt er sich freiwillig dem Verführer. Der herkömmliche Teufelspakt folgt einem simplen Schema: Der Teufel dienert im Diesseits, der Mensch bezahlt im Jenseits - mit seiner ewigen Verdammnis. Durchtrie¬ ben, wie er ist, macht Mephisto dasselbe Angebot, das für ihn eine sichere Sache zu werden verspricht: »Ich will mich hier zu Deinem Dienst verbinden / Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn; / Wenn wir uns drüben wiederfinden, / So sollst du mir das gleiche tun« (V. 1656—59). Daß Mephisto das »Wenn« temporal auffaßt und nicht konditional, daß er eine eindeutige zeitliche Folge im Verhältnis des »Wenn« zum »Dann« voraussetzt, entspricht den selbstverständlichen Voraussetzungen seiner Offerte. Doch der bislang transzendenzsüchtige Faust bekennt sich mit gewohnter Ausschließlichkeit zur Immanenz des Irdischen, übernimmt die Gesprächsführung, testet Mephisto mit Paradoxien und Anomalien, die auf die Denaturierung der Natur ausgehen (vgl. V. 1678 ff.), und formuliert präzise die Wettbedingungen, die, im

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Gegensatz zum üblichen Pakt, beiden Partnern gleiche Chancen einräumen und den Ausgang der Wette offenhalten. Welche Wettvorschläge folgen mit Notwendigkeit aus Fausts Charakter, der 'die Geduld verflucht (vgl. V. 1606) und dessen Unruhe über das Irdische hinausdrängt? Mit großartiger Konsequenz formuliert Goethe als Wettgegenstand das nie zu befriedi¬ gende »Streben«, das alle zeitliche Sukzession - und in ihr den erfüllten »schönen« Augenblick - transzendieren möchte: »Werd’ ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, / So sei es gleich um mich getan« (V. 1692 f.). Die Wette zielt auf Fausts Identitätswahrung, auf bleibende Übereinstimmung mit seinem entelechischen »Nisus«, dem Drang vorwärts (vgl. u. a. Jubiläums-Ausgabe 39,335). Selbstverlust droht durch die Ruhe des »Faulbetts«, durch lynkeushaftes Selbstgefallen in der Selbst¬ annahme (vgl. V. 11296 ff.) und durch begierdefreien, gestillten Genuß. Begierde und Genuß bilden fortan in Fausts »neuem Lebenslauf« (vgl. V. 2072) die Pole, die er weder vereinen will noch darf (vgl. V. 3249 f.). »Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn« (V. 1699-1702): Der Wetteinsatz betrifft nur das irdische Leben; von einer Seelenverschreibung ist nicht die Rede, da Faust den Verlust der Wette mit dem Verlust des diesseitigen Lebens gleichsetzt und eine Existenz nach dem Tode unbedacht läßt (vgl. V. 1704 ff). Den Wettformeln lassen sich noch andere Folgerungen entnehmen: Wenn das unendliche Wollen das endliche Sein übergeht, wird dem Irdischen der Wert, festgehalten zu werden, abgesprochen; wer wie Faust keinen Augenblick anerkennen kann oder, nach den Bedingungen der Wette, keinen Augenblick anerkennen darf, entpflichtet sich der Beständigkeit menschlicher Beziehungen und damit auch der Treue. Durch die Wette wird die Zeitlichkeit im Fk^st-Drama problematisiert und die Unstillbarkeit des »Strebens« und Genießens statuiert. Was sich im »Streben« als Übereinstimmung mit dem Willen des »Herrn« ausgeben darf, das Ungenügen am Endlichen aufgrund der Abkunft vom Unendlichen, verrät sich als Widerruf der Gleichnishaftigkeit alles Vergänglichen, das für das Unvergängliche steht (vgl. V. 12104 f.). Auch hier erweist es sich, wie fremd Faust seinem Autor sein muß, der den »ewigen« Augenblick noch in einem Altersgedicht, in Vermächtnis, anspricht, der das zur Ruhe gekommene >nunc stans< zu erleben, der als Botaniker im spezifischen Augenblick der individuellen Metamorphose das Typische zu entdecken und seit 1797 das Symbolische bewußt zu gestalten sucht, das gleichnishafte Faktum, das verwandte Gegenstände und Vorgänge paradigmatisch vertritt. Faust, der repräsentativ zu existieren vorgibt, wie der entschei¬ dende Einschub im Fragment von 1790 beweist (»Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, / Will ich in meinem innern Selbst genießen« - V. 1770 f.), der sein individuelles Ich als Welt-Ich anspricht, ist unfähig, exemplarisch zu leben und zu verstehen. Für Mephisto stellt sich die Aufgabe, Fausts ideelles Expansionsstreben einzuschläfern, den neuerwachten Trieb zum Sinnlichen anzustacheln und dabei Faust zum Selbstvergessen im verselbstigten »Beharren«, zum Verweilen im Genießen, zu verführen: »Staub soll er fressen, und mit Lust« (V. 334). Um zusammenzufassen: Weil er am Geist und an Geisterhilfe verzweifelt, läßt sich Faust aufs Leben ein, und zwar mit der gleichen unendlichen Begierde. Doch während der »Herr« im »Prolog« auf Fausts rastloses »Streben« setzt, wettet Faust aus Lebens¬ verachtung auf sein dauerndes Ungenügen.

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Aus der Wette folgt die Rechtfertigung von Fausts Weltfahrt, und aus ihr geht hervor, daß er, nachdem er alle Welterfahrung verfluchte, sich mit der Welt einlassen und zugleich von ihr distanzieren kann: »Du hörest ja, von Freud’ ist nicht die Rede« (V. 1765). Nicht Faust schafft die Umstände, sondern Mephisto, kein Selbstverwirkli¬ chungsstreben treibt den Teufelsbündner, sondern die demonstrative Lust am Uner¬ füllbaren. Die Alternative zur mißglückten Entgrenzung ins Jenseits ist Fausts Verlan¬ gen nach Konzentration aufs Diesseits, auf die »Tiefen der Sinnlichkeit« (V. 1750; vgl. dagegen V. 1330). Doch dazu bedient er sich der Zauberkraft Mephistos. Wenn Faust jetzt verkündet, nur rastlos betätige sich der Mann (vgl. V. 1759), spricht er das Urteil über seine Unmännlichkeit. Faust identifiziert die Gottheit - und auch sich - mit der Tat (vgl. V. 705, 1237, 10188 u. ö.), doch nichts dekuvriert die Faust-\deo\ogie alter und neuer Tage schonungsloser als die Differenz zwischen seinem emphatischen Wort und dem delegierten Tun (vgl. auch V. 2351 ff.). Goethe hat die Taten und Untaten des Faust der »Volksbücher« fast ganz ausgespart; allerdings hat er seinen Protagonisten auch vor Gaukeleien und Scharlatanerien bewahrt. Faust ist kein Handelnder im ersten Teil des Dramas, denn das Handeln zwingt den Menschen, aus der Fülle der Möglich¬ keiten, über die der Wille spielerisch verfügt, sich für eine einzelne konkrete Tat zu entscheiden, die ihn nachträglich noch festlegt (vgl. V. 632 f.). Der Weg von der Potentialität zur Realität führt über die Selbstbeschränkung. Jean Paul durchschaute eine der Absichten des Faust-Dramas, als er am 4. Oktober 1809 an Friedrich Heinrich Jacobi schrieb: »Eigentlich ist’s gegen die Titanenfrechheit geschrieben.« »Ward eines Menschen Geist, in seinem hohen Streben, / Von deinesgleichen je gefaßt?« (V. 1676 f.) Wie legitimiert Faust, dessen labiles Ichgefühl zwischen der Anmaßung, »mehr als Cherub« zu sein (V. 618), und der Selbsterniedrigung, »dem Wurme gleich« zu existieren (V. 653), hin und her schwankt, wie begründet er seine Geringschätzung Mephistos? Das »hohe Streben« zeichnet den Menschen, Faust insbesondere, aus und überdies, wie sich dem 11. Paralipomenon entnehmen läßt, seine produktive Einbil¬ dungskraft, versinnlicht im »schaffenden Spiegel«. Goethe führte die im genannten Paralipomenon skizzierte Disputationsszene nicht zu Ende, wie er auch den Proserpina-Plan im zweiten Teil des Dramas, Fausts Losbittung der Helena, fallenließ. Doch es ist zu mutmaßen, daß eine Disputation zwischen Faust und Mephisto, dieser als fahrender Scholar verkleidet, über Vernunft und Verstand die Grenze der Ratio demonstrieren sollte. Bei der Verteidigung seiner Thesen bleibt Mephisto die Antwort auf die Frage nach dem Ort des »schaffenden Spiegels«, der die Außenwelt nicht allein reflektiert, sondern Welt in der Welt produziert, schuldig. Plotin und Leibniz’ Mona¬ dologie (und der Paragraph 14 seiner Theodizee) stehen Pate bei dieser Vorstellung, wonach der menschliche Geist Wirklichkeit empfängt und, im Kunstwerk beispiels¬ weise, eine Wirklichkeit sui generis gesteigert hervorbringt. So ist die Imagination am Werk, wenn Faust die geometrischen Zeichen des Makrokosmos in sinnenhafte Bilder verwandelt und den Elias-Wagen visionär vorwegnimmt, und es ist die im Eros gründende Imagination, die die Schönheit des schönen Bildes, das im magischen Spiegel der »Hexenküche« erscheint, noch vertieft (vgl. V. 2429ff., überdies V. 1082 f., 4183 ff. und V. 7271 ff.). Daher geht Mephisto immer wieder gegen die überlegene Einbildungskraft an. Aus Insuffizienz und mit genauer Folgerichtigkeit mokiert er sich über den »Kribskrabs der Imagination« (V. 3268), und so klarsichtig wie zynisch entschleiert er die »hohe

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Intuition (mit einer Gebärde)« (V. 3291), die sich ihre notdürftige Triebmaskierung nicht eingestehen mag. Wer ist Mephisto? Er ist die persongewordene reine Intelligenz - im ersten Teil-des Faust ein Rationalist ohne Phantasie und ein Realist ohne Empfindung (»Sie ist die Erste nicht« - HA 3,137). Mephisto relativiert alle Werte und desillusioniert alles Menschliche, das seine Zweideutigkeit als »Ausgeburt zweier Welten« nicht loswird: Im »Streben« nimmt er nur den Irrtum und die vergebliche Anstrengung wahr (vgl. V. 280ff.). Er spioniert beim Selbstmordversuch, bei der Bibelübersetzung und der Katechisation, glossiert, ironisiert und parodiert - er entlarvt das Lächerliche im Erhabenen, wenn dieses zur Selbststilisierung neigt (vgl. V. 3055 ff.), und den anma¬ ßenden Schein (vgl. V. 1806), verkennt aber das wahre Sein, das sich in den einfachen Tugenden der Menschen äußert. Mephisto ist ein intellektueller Virtuose, der zu verdrehen, zu verwirren versteht, ein Zyniker, der das Leben sieht, wie es ohne Sinngebung wäre, und ein Nihilist, der mit Treu und Glauben skrupellos spielt. Mit vielen Attributen des Volksaberglaubens behaftet und doch alles andere als ein Prellund Hinketeufel, gehört er, wie Thomas Mann gelegentlich formulierte, zur »hölli¬ schen G. m. b. H.«6 - beschränkt in der Haftung und manchmal auch in der Ausübung. Der Mephisto des ersten Faust-Teils ist eine gegengöttliche Macht, das verkörperte Prinzip des Bösen - und doch: welche konkrete Vielgestalt gibt ihm Goethe bei, vor allem im zweiten Teil und gemessen an Miltons und Klopstocks Teufeln! Von proteushafter Wandelbarkeit, paßt er sich den selbstinszenierten Gelegenheiten geschickt an; perfekt spielt er seine Rolle (vgl. V. 2010), ohne der Rollenerwartung in Nebenszenen zu entsprechen - ein Meister der Selbstironie aus Selbstdistanz, der Parodie und, im Hexenbereich, der Groteske. Dieser Teufel - »keiner von den Großen« (V. 1641) - ist nicht frei von Widersprüchen, die ihn lebendig machen, er ist lüstern und gemein, verlockt zum Obszönen und prangert es nachträglich an. Seine vielen Rollen und Masken reizen Schauspieler mehr als Fausts erhitztes Pathos, das sich in Lust und Schmerz immer gleichbleibt. Da Mephisto ausgenommen ist aus dem »Werden« der Schöpfung, ist er alt (vgl. V. 6817) und somit doppelt illusionslos, ein Skeptiker auch in eigener Sache. Seine Erfahrung sammelt er in Maximen, gelegentlich mit einem Anflug von Humor - Humor als jene Außerungsform verstanden, in der sich nach überwunde¬ ner Enttäuschung der Lebensernst distanziert zu Wort meldet. Mephisto ähnelt daher hin und wieder jenem Teufel, von dem Jean Paul in seiner Vorschule schreibt, er könne sich ihn »leicht als den größten Humoristen gedenken«. Der Teufel im Jahrhundert der Aufklärung - räumte Goethe mit dem unmäßigen Höllenspuk, mit Hexenzauber und Geisterwesen dem vergangenen Spätmittelalter nicht allzuviel Wirklichkeit und Bedeutung in seiner Gegenwart ein? Bedurfte es für das Faust-Drama des verselbständigten Bösen, wo die Doppelnatur des Menschen dieses Böse als Anlage in sich trägt und seine Willensfreiheit es ermöglicht? Bedurfte es der Personifikation der menschlichen Triebhaftigkeit, die der Alltag lediglich mit dem Firnis der Zivilisation überdeckt, wenn Mephisto das Böse in Faust, dessen »eine« Seele, ist? Als sich Lessing und Maler Müller 1777 in Mannheim über ihre FaustArbeiten unterhielten, warnte Lessing davor, die Teufel, die heutzutage »schon so viel von ihrem Kredit eingebüßt«, wie Dante oder noch wie Klopstock »nach Wahrschein¬ lichkeit« darzustellen, und Friedrich Müller beruhigte seinen Gesprächspartner mit der Erklärung, daß er den Stoff mit Ironie traktiert und das Natürliche und Übernatürliche

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in der Weise verstrebt habe, daß dadurch ein genauer Blick sowohl in die »Höhen als auch Tiefen der menschlichen Natur« möglich werde.7 Gelten die Vorbehalte des Aufklärers Lessing dem Problem der »Wahrscheinlichkeit«, die im Drama zu beachten ist, will es sich nicht von der Wirklichkeit ungebührlich absentieren, so betreffen Hegels Einwände in seiner Ästhetik die Darstellung des bloß Negativen und Bösen. Wie sehr Hegel auch Faust I schätzte, so entschieden lehnte er den Teufel im Drama als »schlechte, ästhetisch unbrauchbare Figur« ab.8 Aber Mephisto ist nicht nur Neid, Lüge und Niedertracht, sondern als Geist der Verneinung und des Widerspruchs das dialektische Moment des Lebens, das die Affirmation des Bestehenden aufhebt und die Geschichte vorantreibt. In einem späten Gespräch mit Eckermann vom 2. März 1831 tat Goethe seinen Mephisto als »negatives Wesen« ab, doch damit verkleinerte er dessen Gestalten- und Bedeutungsreichtum im zweiten Teil des Faust. Wenn noch Friedrich Theodor Vischer die Ansicht vertritt, zur Darstellung des Bösen bedürfe es keines Teufels,9 dann ist ihm beizupflichten, denn der Trieb zum Sinnlich-Negativen in Faust hätte sich auch eigene Mittel und Wege verschaffen können, doch verfehlt dieses Argument Fausts Wettziel, das dieser selbst nach dem Wettabschluß mehrfach verunklärt: Faust stürzt sich »in das Rauschen der Zeit« (V. 1754) und überläßt sich der Leidenschaft der Sinne, aber immer unter der stillen Voraussetzung, daß kein Behagen sein Beharren zu erzwingen, kein Genuß seine Begierde je zu befrieden, zu »betrügen« vermöge (vgl. V. 1696). Er braucht also den leibhaftigen Teufel, um sich in der von Mephisto ermöglichten Lust am Bedingten seiner unveräußerlichen Sehnsucht nach dem Unbedingten zu versichern. Die »Hexenküche« und die »Walpurgisnacht« sind demnach Stationen auf Mephistos Weg, Faust »einzuteufeln« (vgl. V. 3371), und ihre weitläufige Darstellung, die das Anachronistisch-Unwirkliche fabulierfreudig in Kauf nimmt, ist erforderlich, um die Bezugswelt der beiden Antagonisten gleichgewichtig zu vergegenwärtigen. Die komplizierte und wechselhafte Beziehung der beiden Partner vollzieht sich im ersten Teil des Dramas unter einem Doppelaspekt: Mephisto ist Diener und Gegenspie¬ ler in einem. Er verhilft Faust zu dem, was dieser in seiner menschlichen Begrenztheit zwar wollen, aber nicht - oder nur schwerlich - erreichen kann. Die knappste Umschreibung ihres Verhältnisses: Mephisto ist Fausts personifizierter Triebwille, doch nur ausnahmehaft sein verwirklichtes Wollen. Fausts Teilhabe am Teufelszauber bedingt seine prinzipielle Verschuldung; seine konkrete Mitschuld resultiert aus der unheiligen Allianz mit dem Bösen, der in der Gretchen-Handlung auch das Gutge¬ wollte ins Schlimmgetane verkehrt. Denn Mephisto ist nicht nur Helfershelfer bei Taten, sondern auch Urheber von Untaten; unter seinen Händen wird ein Schlafmittel zum Gifttrank. Das Resultat der Partnerschaft in seiner letzten Konsequenz ist die Auslöschung von Gretchens Familie: Mephisto macht Fausts fatale Zweideutigkeit zur letalen Eindeutigkeit. Faust begehrt auf und beschimpft den »Schandgesellen« (HA 3,138), doch vermag er sich nicht von ihm zu lösen, da er vom mephistophelischen Übermaß an Möglichkeiten so abhängt wie von seinem eigenen bitter empfundenen Unmaß. Mephisto muß dienen, doch kann Faust weder ihn noch sich beherrschen. Was als stolze Autonomie des Erkenntnissuchers begann, geht nach der Wette über in die frivole Abhängigkeit von den verantwortungslosen Sinnen. Doch nochmals: Faust ist kein Hedonist, auch wenn er sich so gibt. »Wie fangen wir das an?« (V. 1834; vgl. auch V. 2055ff.): Spricht so nicht eher ein Bücher- als ein Genußmensch?

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In der »Hexenküche«, die aus der Wette folgt, wird Faust physisch und psychisch für die Kavalierstour präpariert. Mit diesem Auftritt gelingt es, der deutschen Literatur das Groteskkomische einzugemeinden. Die Szene ist Goethes Erfindung aus römischen Tagen, die sich völlig freihält vom Hexenwahn des Spätmittelalters, der aus der Hexenbulle Innozenz’ VIII. (1484) und dem Hexenhammer der Dominikaner hervor¬ ging. Die schaurige Wirklichkeit der Hexenprozesse, gegen die der Barockdichter Friedrich von Spee und noch Christian Thomasius und Balthasar Bekker in der Frühaufklärung angehen mußten, ist dem bizarren Spiel der Phantasie mit sich selbst gewichen: Unsinn und Tiefsinn sind ineinander verknäuelt, das Unwirkliche ist mit zeitsatirischen Partikeln durchsetzt, eine verhexte Arithmetik begleitet das anzügliche Treiben. Der versierte Metaphoriker des Ungeziefers, Mephisto, gebietet über das Reich der ekligen Tiere. Faust wird angewidert von »Wust und Raserei« (V. 2339), doch enthusiasmiert vom schönen Bild, das ihm der Zauberspiegel vorgaukelt. Der Verjüngungs- und Liebestrank soll Fausts äußere und innere Wandlung und seine an Tristan und Tannhäuser erinnernde Liebesverfallenheit erklären. Mit Mephisto auf »du und du« (V. 2585), kann Faust eine neue Lebensvariante durchprobieren, ohne daß der Teufel seiner Sache sicher sein dürfte: Im Bezirk des »tollen Zauberwesens« (vgl. V. 2337) wird Faust nämlich der »Inbegriff von allen Himmeln« (V. 2439) zuteil. Mit dem Eros erwacht die Südsehnsucht, die den 2. und 3. Akt von Faust II durchdringt; die Leidenschaft für Helena gilt nicht nur ihrer verführerischen, sondern mehr noch ihrer urbildlichen Schönheit. Daher muß Mephisto darauf sinnen, Fausts nackte Begehrlich¬ keit anzustacheln, damit er - »mit diesem Trank im Leibe« (V. 2603) - in der Frau nicht die Person, sondern das austauschbare Objekt sucht.

Fausts »kleine« Weltfahrt und sein großes Scheitern Wie knapp auch die Handlungsausschnitte der Gretchen-Tragödie gehalten sind, so ergibt die Szenenfolge doch eine vollkommene Lebensganzheit, gebildet aus charakteri¬ stischen Situationen, die Rückschlüsse erlauben und Vordeutungen ermöglichen. Wenige Wortstriche genügen, um eine Person, und zwar in ihrer psychosomatischen Ganzheit, sinnenhaft vorzustellen, und simple Regieanweisungen und konturierte Sprachskizzen reichen aus, um das unaufgeklärte Kleinbürgertum in seiner ehrbaren Rechtschaffenheit und bedrückenden Engherzigkeit zu vergegenwärtigen. Es bedarf nicht der im 19. Jahrhundert gängigen psychologischen Zergliederung, um dem Zuschauer den seelischen Innenraum dieser Menschen - ihre unterdrückten Hoffnun¬ gen, stummen Ängste und verborgenen Regungen - auszuleuchten. »Es war ein König in Thule / Gar treu bis an das Grab«: Das Gefühl eines Mädchens aus dem dritten Stand findet seine naive Sehnsucht nach Liebe und Treue des Mannes in diesen Liedstrophen objektiviert, ohne die sagenhafte Ferne Thules zu bedenken. Da Goethe alles tat, um der Gretchen-Figur die Sympathie der Zuschauer - auch deren »Furcht« und »Mitleid« - zu sichern, scheint selbst eine knappe Charakterisierung dieser Gestalt überflüssig zu sein. Doch die Meinungsvielfalt der Faust-Deutungen nimmt Gretchen nicht aus. Man nannte sie sentimental, ohne den Gefühlsüberschwang anderer Frauengestalten der Empfindsamkeitsepoche an Gretchens Gefühlswahrheit zu messen, und der Dramatiker Peter Hacks befand kürzlich, der »Unwert« ihrer Person

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könne durch den »Wert ihrer Haltung« - ihre unkonventionelle Liebe - nicht auf gewo¬ gen werden: »Sie ist nichts und hat also nichts hinzugeben; sie will nicht lieben, sie muß [.. .].«10 Angesichts solcher Urteile zählt nur der Text; er gibt verläßliche Auskunft darüber, wer Gretchen ist und wer sie wird. Obwohl die Charakterisierungsweisen, die für die exponierten Individuen des damaligen Dramas gelten - das Selbstverständnis, das bewußte Verhältnis zur Gesellschaft und das willentliche zur Zukunft -, weithin entfallen, besitzt das junge Mädchen die Festigkeit eines Ich, von dem her sich seine Eigenschaften folgerichtig ableiten lassen. Gretchen ist selbstlos in der Sorge für die kleine Schwester und dabei unbesorgt um das eigene Selbst in der Liebe zu Faust, doch der Vergleich mit Lenz’ Marie Wesener und Wagners Evchen Humbrecht zeigt die natürliche Sicherheit ihres Wesens, das sich mit keinem Wort und keiner Geste dem privilegierten Partner anzupassen bemüht. Wie Egmonts Klärchen achtet sie ständische Grenzen gering; die anfängliche menschliche Distanz ist durch ihre kümmerliche Ausbildung bedingt. Nicht sie stilisiert sich - der bedrückende Alltag ist ihr zu genau bekannt (vgl. V. 3147) -, sondern Fausts Werbungsrhetorik überhöht sie. Nirgends verleugnet sie ihre Naivität, nicht ihr einfaches Gemüt noch ihren ungeschulten Verstand. Ihre Unwissenheit läßt sie staunen, wo sie stutzen müßte; ihre Unerfahren¬ heit macht sie ratlos; ihre heimliche Liebe hebt sie heraus und isoliert sie zugleich. Zwar reicht ihr Verstand nicht hin, Fausts Glaubensbekenntnis einzuordnen, doch genügt ihr hellsichtiges Gefühl, Mephistos wahres Wesen zu erahnen. »Sie ist nichts« - sie ist zunächst wie die anderen Mädchen dieser Bevölkerungsgruppe auch, doch macht ihre unbedingte Empfindung sie Faust ebenbürtig. Wer von ihr ein reflektiertes Gefühl fordert, hebt sie als Person auf: Ihre Naivität könnte sie nur um den Preis des Verlusts durchschauen. Selbstvergessen und ohne Besitzanspruch, fraglos und klaglos gegen¬ über dem vagabundierenden Mann begibt sie sich jeder Sicherheit und läßt die kleinbürgerliche Ordnung hinter sich, die jedes intensive Leben beengt, die aber im 18. Jahrhundert keine unverheiratete Frau allein und ohne Schaden zu nehmen Über¬ tritt. Die Gefühlsbereitschaft des kleinen Mädchens erleichtert es dem großen Faust, ihre Liebe zu gewinnen; ihre Opferbereitschaft begünstigt die Aufopferung durch den Mann. Auch wenn diese Haltung wenig Lebensklugheit und viel Rollenverpflichtung verrät, so ist doch festzuhalten, daß die junge Frau über ihren Stand hinauswächst und ihre Leidensfähigkeit ihren menschlichen Rang bestimmt. Werthers tragische Erfahrung besteht darin, daß sein Glück und Unglück demselben Grund entstammen: Was den Menschen erhebt, seine Liebe, zerstört ihn auch (vgl. HA 6,51). Die Leidenschaft bringt ihre Unerfüllbarkeit als tödlichen Gegenspieler hervor. »Doch - alles, was dazu mich trieb, / Gott! war so gut! ach war so lieb!« (V. 3585 f.; vgl. auch V. 3518): Gretchen muß den Widerspruch zwischen ihrem reinen Willen und dem schrecklichen Resultat - die Verkehrung der Motive in der Realität - hinnehmen. Daß Liebe in Leid umschlägt, ist eine so allgemeine wie traurige Erfahrung; daß sich Liebe, obwohl sie nichts als sich selbst will, unversehens in ungeheuerliche Schuld verstrickt, ist die bitterste Form des Tragischen für den Gefühlsenthusiasmus der Generation um 1770. Die »Getriebene« distanziert sich nicht, um sich zu entlasten, von ihrem übermächtigen Gefühl, als hätte es sie wider Willen und Zutun bestimmt; sie spricht vielmehr das neue Schicksalsverständnis des »Sturm und Drang« aus: In der großen Leidenschaft durchdringen sich persönliches Wollen und überpersönliches Sollen. Um 1770 dachte man, es verkleinere die Würde des Menschen, wie in der Antike verfügba-

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res Objekt transzendenter Mächte zu sein. In der Dichtung wie in der Theorie - man denke an die Anmerkungen zum Theater von Lenz - wird daher das überpersönliche Schicksal personalisiert und psychologisiert, hineingenommen in das menschliche Innere, so daß Charakter und Schicksal ununterscheidbar eins werden. Beider Überein¬ stimmung erhöht das Selbstgefühl; wer sich ihm überläßt, folgt seiner Bestimmung. Die leidenschaftliche Getriebenheit ersetzt die schicksalhafte Determinante. Für Faust hebt das Naturrecht der Sinne die moralischen Normen auf. Die Konsequenz einer tragi¬ schen Konstellation: Die seliggesprochene Leidenschaft führt zu einem unseligen Ende, das der Mensch nicht wollte und dennoch zu verantworten hat. In dem zitierten Verspaar äußert Gretchen ihr Erschrecken vor einer Welt, in der Leid und Schuld hervorbringt, was »gut« und »lieb« war. Sie büßt für ihre Verschuldung aus Liebe und sühnt die größere Schuld des anderen - auch ihrer Umwelt. Der Extremfall des Kindesmords bot Bürger und Wagner, Lenz und Schiller die Gelegenheit zur Kritik an der damaligen Gesellschaft, in der die unverheiratete Mutter ihr Kind verleugnen oder - in ihrer Ausweglosigkeit - umbringen zu müssen meinte. Die Normen der Familienehre, des Stands und der Zeit rekapituliert Valentin, der seine Schwester aus gedemütigtem Kleinbürgerstolz verstößt. Die kirchliche Sündenvorstellung verschlim¬ mert die öffentliche Ächtung. Auch wer Brecht nicht beipflichtet, in der »Dom«-Szene werde Gretchen »durch die Kirche zum Mord angestiftet«11 - nach der familiären Geborgenheit verliert sie hier den für das Bürgertum des 18. Jahrhunderts entscheiden¬ den religiösen Halt. Nie zuvor in der deutschen Literatur wurde die Verlassenheit einer jungen Frau von Mensch und Gott ergreifender dargestellt als in diesen Szenen, die allesamt dem Urfaust entstammen. Wie zuvor die Liebe werden Schmerz und Schuld in ihrer Unbedingtheit erlebt, so daß Gretchens Bewußtsein darüber seine Orientierungs¬ kraft verliert. In der »Kerker«-Szene - der Wahn ist in Phasen mit wachen Erinnerungs- und Zukunftspartikeln zerlegt - schlägt die Verurteilte die Fluchtmöglichkeit aus: Ihre Schuld ist es, die sie nirgends freiließe. Da sie sich ihrer Erziehung, ihrer unreflektierten Jenseitshoffnung gemäß dem »Gericht Gottes« (V. 4605) übergibt, kann es sich Goethes Versöhnungsglaube in Übereinstimmung mit Luk. 7,47 schon am Ende von Faust I erlauben, die strenge Realität für die begnadende »Stimme von oben« zu öffnen. Die irdische Tragik wird nicht ungeschehen gemacht, doch die Faust-Tragödie erwei¬ tert sich dadurch zum Mysterienspiel. Goethe hat Gretchen, das Mädchen aus dem Volk, im Leben erhöht und im Tod verklärt. Sie ist mehr als nur eine Episode in Fausts Leben oder eine Station auf seiner Weltfahrt. In der Eingangsszene des 4. Akts von Faust II versinnlicht sich ihr Erinnerungsbild in der geistigsten Form der Materie, der Zirruswolke, zu deren Bedeutungskonstanz die transzendierende Bewegung gehört. Die allbekannte Schlußszene von Faust II wird hier antizipiert, in der die Verführte für den Verführer bittet. Aus der Sakralisierung des Eros folgt beim späten Goethe die Mythisierung der Agape, der vermittelnden Frauenliebe. Und Faust? Gewinnt sein Charakter durch seine Liebesbeziehung neue Züge hinzu, die eine Veränderung bewirken und seine Handlungsweise bestimmen? Die anfängliche Besitzgier des Mannes verwandelt sich in Gretchens Zimmer (V. 2721 ff.); der sublimierende Eros beginnt die junge Frau und ihre kleine Welt zu spiritualisieren (»Die Hütte wird durch dich ein Himmelreich« - V. 2708). Von Anfang an fehlt es Faust an Wirklichkeitssinn. Aus realer Unkenntnis oder, was das gleiche ist, aufgrund seiner

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literarischen Bildung - die Zivilisationskritik entdeckt seit Rousseau das einfache »Volk« - romantisiert er die kleinbürgerlichen Verhältnisse. Gretchens Naivität erregt seine Sentimentalität. Faust liebt, wie er lebt - sein hingerissenes Werben, seine Geständnisse und Bekenntnisse sind nie ohne die ihn charakterisierende Zweideutig¬ keit. Sein deklamatorisches Pathos feiert wirklichkeitsvergessen sich selbst und stellt damit seine Aufrichtigkeit in Frage. In der Augenblickserregung der Sinne glaubt er trotz Teufelsbündnis und Hexenküche und trotz Mephistos ironischem Vorbehalt (vgl. V. 3055 ff.) seinen Schwüren und überredet sich, von der Liebe zu fordern, was er ihr nie geben kann - nämlich Dauer: »eine Wonne / Zu fühlen, die ewig sein muß! / Ewig! Ihr Ende würde Verzweiflung sein« (V. 3191 ff.). Faust kennt also den alternativen Ausgang. Der werbende Taktiker verdrängt seine Erfahrung der menschlichen Endlich¬ keit und überläßt sich der Hyperbolik seiner Liebeswunschwelt, als hätte er nie eine Wette über das Ungenügen des Augenblicks abgeschlossen. Faust liebt die junge Frau, doch noch mehr liebt er sein Liebesgefühl. Seine mangelnde Vorsorge für Gretchen offenbart seine Liebesegozentrik, den Selbstgenuß der hochgetriebenen Emotion. Wenn, wie Arthur Schnitzler behauptet, die Liebe immer ein »Symbol« für etwas anderes ist - für Faust bedeutet sie »Entselbstigung«, in der Terminologie der mit der Geniezeit verwandten Expressionisten: Allheit in der Form der Selbstheit. Wie fest die widerwärtige Bindung an Mephisto ist, beweist die zweite Hälfte der »Wald und Höhle«-Szene, die, anders als im Fragment eingeordnet, die Intimbezie¬ hung zu Gretchen einleitet. Einem erratischen Block gleich, ragt der so bedeutsame wie irritierende Monologteil, der eher dem Weltverständnis des italienischen Goethe als dem ungezügelten Charakter des Teufelsbündners zu Gesicht steht, in die GretchenHandlung hinein. Der Bildtradition gemäß bedeutet die Höhle bergende Rückkehr zur Natur und Einkehr in sich selbst: Man erinnere sich an die Minnegrotte in der Ilias, an Tristan und Isolde; in Faust I versinnlicht die Höhle den Zustand der Transparenz von Zeit und Raum. Fausts Dankgebet an den vielumrätselten »erhabnen Geist« bestätigt, daß er in der Abgeschiedenheit der Höhle den Zusammenhang des Geschaffenen - die Bruderschaft alles Lebendigen, die Einheit des Gewesenen und Gegenwärtigen - und den entwirrten Grund der eigenen Existenz visionär »schauen« kann. Faust, »den Göttern nah« (V. 3242), anerkennt erstmals das Gesetz, daß der Geist nicht ohne Stoff, das Gute nicht ohne das Böse sein kann - und entschuldigt damit seine Abhängigkeit von Mephisto, der ihn dorthin drängt, wohin er zögernd will: in »Liebchens Kammer« (V. 3343). Fausts hymnisches »Credo« (V. 3432 ff.) dient Agnostikern und Synkretisten, Panthe¬ isten und allen jenen, die ein schöngeistiges Verhältnis zur Religion pflegen, als Glaubensformel, doch sollte man nicht übersehen, daß Fausts Gefühl für das Unendli¬ che auch werbestrategisch eingesetzt und in einer Szene ausgesprochen wird, in der er Gretchen bewußt über Mephisto täuscht. Sein Bekenntnis ist nicht unreligiös, wohl aber unkirchlich, dennoch kann sich seine Confessio nicht nur auf Rousseaus savoyardischen Vikar und Herders Johannes, sondern auch auf die Kirchenväter berufen: Von alters her trägt der Unsagbarkeitstopos am angemessensten dem Problem Rechnung, wie Gott zu nennen, sprachlich zu »definieren« sei. Auch Origenes und Gregor von Nyssa wußten, daß das endliche Wort des Menschen die Unendlichkeit Gottes nicht ausdrücken kann. Fausts Sprachskepsis ist allerdings zweideutig: Seine Worte sind mehr Surrogate des nicht objektivierbaren Allgefühls als Umschreibungsversuche der

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das konkrete menschliche Handeln bestimmenden Transzendenz. Sein Wortreichtum läßt die Ohnmacht des Wortes vergessen und demonstriert, daß seine Sehnsucht ins Ungebundene die Unverbindlichkeit des »Allumfassers« und »Allerhalters« voraus¬ setzt. Die alte Einsicht, Gott sei unaussprechlich, nimmt Faust auf, doch ist er von einer neuen mehr angetan: Individuum est ineffabile - das »innere Universum« des (großen) Menschen ist sprachlich nicht auszuschöpfen (vgl. u. a. V. 3059 ff.). Vers für Vers formuliert damit das »Credo« Grundüberzeugungen der Geniezeit. Für die Religionsgeschichte markiert es den Übergang zur innerweltlichen Transzendenz, die Gott zur seelischen Potenz deklariert (vgl. die wichtigen Verse 1566 ff.). Von da aus ist es nur noch ein Schritt zu Feuerbachs These, die Religion sei das Produkt psychischer Kräfte und das Gefühl habe seinen Gott »in sich selbst«.12 Die Entgrenzung in der Feidenschaft bedarf, soll ihr Ende nicht Verzweiflung sein, der Begrenzung aus Liebe zum anderen. Faust ist dazu weder willens noch fähig, so daß er nach der Ermordung Valentins den Konflikt zwischen Bindung und Untreue nicht voll empfindet. Daß er in der Walpurgisnacht seine Liebe verraten kann, setzt seine Enttäuschung von ihr voraus: In der »Entselbstigung« ist eine neue Grenze spürbar; der beschworene »ewige« Augenblick enthüllt sich als vergänglich; das Wechselspiel von »Begierde« und »Genuß« (vgl. V. 3249 f.) verlangt nach immer neuen Erfahrungen und Objekten. Fausts Treulosigkeit hat die Interpreten, zumal wenn sie ihn entschuldigen wollten, viel beschäftigt. Gundolf schreibt von der Beichte des jungen Goethe und identifiziert damit den Autor und seinen Protagonisten,13 wovor schon Carl Gustav Carus gewarnt hatte.14 Gundolfs These: Der geniale Mensch müsse aus Treue zu sich untreu gegen die Frau werden. Lukäcs dagegen unterwirft das Verhalten des treulosen Liebhabers dem sattsam bekannten Deutungsschema: Für die Liebe in der Klassengesellschaft ist »selbst in ihrer erhabensten Form«15 - das Ineinander von Wahrheit und Betrug, Treue und Untreue charakteristisch. Zwar konzentriert sich die Adelskritik Lessings und der »Stürmer und Dränger« auf das Thema der Verführung des bürgerlichen Mädchens, doch spart Goethes Drama den expliziten Sozialkonflikt aus: Faust repräsentiert den »strebenden«, nicht aber den ständisch privilegierten Menschen, und Gretchen wächst, vom Autor durch ihre Natürlichkeit gleichsam geadelt, als Liebende ungewollt über ihre Standesgrenze hinaus. Gewiß, Faust und Gretchen gehören verschiedenen Lebens¬ kreisen an, die sich nur kurz berühren, doch über das Ende ihrer Beziehung entscheidet mehr als die Herkunft der Ort, von wo sie kommen - Gretchen war in der Kirche, Faust in der Hexenküche -, und das entgegengesetzte Sehnsuchtsziel, das sie leitet. Faust, vorgeblich der Mann der Tat, bedient sich überdies bei seiner Eroberung der Kupplerdienste des Bösen. Das Gesetz, dem er gehorcht - »Er, unbefriedigt jeden Augenblick!« (V. 11452)-, schließt das »Verweilen«, den Willen zur Dauer, aus. Daher ist eine Verurteilung Fausts zwar folgerichtig, doch nur bedingt zutreffend: Was Amoral ist für den Zuschauer, ist für Faust lediglich Immoral. »Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an« (V. 4406) - Faust gewinnt durch sein Mitgefühl an Menschlichkeit, aber es regt sich zu spät. Er will Gretchens Rettung, doch kann er keine Lebensgemeinschaft mit ihr wollen, denn er gäbe leichter sein Leben als sich. »O wär’ ich nie geboren!« (V. 4596) - der uralte Topos, durch das Buch Hiob und Sophokles’ Oidipus auf Kolonos vermittelt, enthüllt Fausts Verzweiflung: Faust ist fähig, Tragik zu erleben, doch es ist die Tragik - seines Opfers. Goethes Gattungsbe-

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Zeichnung von 1808 - Faust. Eine Tragödie - bezieht sich nicht nur auf Gretchens Geschick, sondern mehr noch auf Fausts Existenzweise, die, indem sie stets das ihr Gemäße will, das Böse — Unglück und Leid — notwendig »schafft«. Wer Faust versteht, begreift nicht mehr, daß er Generationen von Deutschen als Identifikationsmuster dienen konnte. Faust und Gretchen — der Dritte im Bunde ist immer der Teufel. Stört Gretchens Lauterkeit Mephistos Pläne (vgl. V. 2626)? Sie ist Mephistos hilflose Gegenspielerin, während Faust ihn zwar anklagt, verabscheut und verflucht, aber ihm zur Walpurgis¬ nacht folgt. Das Teuflische am Teufel ist, daß er Gretchen, sein Opfer, nicht nur unglücklich, sondern auch schuldig macht. Die »Walpurgisnacht« unterbricht die weitläufige Gretchen-Handlung. Die doppelte Funktion dieser Szene: Goethe will mit dem Teufelsreich die »verkehrte Welt«, den mundus perversus, darstellen, den phantastischen Gegenentwurf zur organischen Schöpfung, das zerstörerische Elementare, die Natur gleichsam im Fieberzustand. Die totale Verkehrung besteht dann, daß auf dem Gipfel des Harzgebirges die niedrigste Sinnlichkeit wartet. Die vom Volksaberglauben gespeiste »Traum- und Zaubersphäre« (V. 3871) meint ganz sich selbst, bedeutet indes noch mehr: Ihre Bildersequenz spiegelt Fausts wilde Lüsternheit und vergegenständlicht seine innere Wüstenei. Faust strebte zum Innersten der Natur; angekommen ist er - während Gretchens tiefster Verlassen¬ heit - in der gegenchristlichen Welt der Teufelsmesse, in der vom Mammon und Sexus beherrschten Triebregion (vgl. V. 4115 ff.). Die unterste Schicht im Menschen ist, isoliert, von teuflischer Art. Mit der Phantasie eines Hieronymus Bosch, eines Höllen-Breughel hat Goethe diese Szene kontrapunktisch zur »Klassischen Walpurgisnacht« in Faust II gestaltet, in der sich das Naturorganische über viele Entwicklungsstufen hinweg zum MenschlichSchönen in Helena steigert. Im Herrschaftsbereich des nordischen Teufels löst sich Fausts gespaltenes Ich in ein Bündel von Es-Trieben auf. Mit der Einheit des Charak¬ ters verliert sich auch seine menschliche Bindung ans Anonyme. Doch im Augenblick des drohenden Selbstverlusts erbildet sich seine Imagination außen, was unbewußt in ihm vorgeht (V. 4183 ff.). Die Vision des todgeweihten Gretchen bedeutet Rückkehr zu seinem besseren Selbst.

Die Sprache der Form und die Formen der Sprache In einem Brief an Schiller vom 7. Dezember 1796 tadelte Goethe an den Deutschen, daß sich ihr Formverständnis nicht über das Silbenmaß hinaus erstrecke, und am 30. Okto¬ ber 1808 klagte er Zelter, niemand wolle begreifen, »daß die höchste und einzige Operation der Natur und Kunst die Gestaltung sei«. Nun ist die Form der Dichtung, wie man weiß, untrennbar eins mit dem, was nach unzulänglichem Sprachgebrauch Gehalt genannt wird, und bekannt ist auch, daß die Wechselwirkung von Form und Gehalt nachzuweisen ist, wenn Evidenz für die Schlüssigkeit einer Interpretation erreicht werden soll: Jeder Gehalt bedingt seine individuelle Form, jede Form gewinnt gehaltliche Bedeutung. Auf den folgenden Seiten können lediglich einige exemplarische Hinweise gegeben werden, die sich aus Raumgründen auf die sprachliche und szenische Bildlichkeit der Gretchen-Partien beschränken.

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Die Wahrheit des einfachen Lebens gewinnen diese Szenen nicht allein durch ihre sinnliche Sprache, die sich sogar versifiziert ihre Natürlichkeit bewahrt, sondern vornehmlich durch die Archetypik der Vorgänge und Zustände, die in den Szenenparti¬ keln »eingefangen« ist. Im »Garten« ist beispielsweise ein Auftritt lokalisiert, ein anderer »Am Brunnen«. Seit dem Hohenlied, seit dem sublimen Marienkult des Mittelalters steht der mauerumgebene, verschlossene Garten als allbekanntes, von den englischen Romanciers des frühen 18. Jahrhunderts, die den Urfaust beeinflußten, oft verwandtes Sinnbild der Virginität; in Goethes Werk dagegen ist der Garten offen, so daß er zur Stätte der ersten Liebesbegegnung werden kann. Das Gegenbild zum Garten ist die Wildnis, in der - wie im »Harzgebirg« - die Hexen und das Obszöne heimisch sind. Natürliche Reinheit und widernatürliche Unreinheit, der Garten und der Brokken: Die Extreme der Gesittung stehen als Landschaftsformen einander entgegen. Der Brunnen ist schon im Alten Testament der Ort, an dem man freite und gefreit wurde, und in der Odyssee tritt Athene mädchengleich, mit dem Wassergefäß, Odysseus entgegen (Od. 7,20). Die Variabilität des Brunnenbilds ist überreich, und man muß mit den Augen der Tradition sehen, die erst durch die Technisierung des 19. Jahrhunderts ihre Geltung verlor, um zu bemerken, warum Goethe den Brunnen (des Lebens) als bewußtes Urbild (vgl. HA 7,541) und die Geste des Wasserschöpfens wie die Gebärde des Wassertragens als zeitlose Form des menschlichen Daseins verstand. Der urbildliche Sinn bleibt präsent, und zwar als Kontrast, wenn die neidische Selbstgerechtigkeit des Mädchens »am Brunnen« über den Leumund eines Menschen verfügt. An dieser Szene läßt sich, wie am »Osterspaziergang«, Goethes wichtige Spiegelungstechnik ablesen: Bärbelchens Geschick deutet auf Gretchens Schicksal vor. Das nämliche Thema wird auf divergierenden Spielebenen abgehandelt. Das Bildwissen vermittelt dem Zuschauer überdies die frühe Einsicht, daß das böse Ende im Anfang beschlossen ist: Man trifft sich im Garten, doch im Garten der kupplerischen Frau Marthe, findet im »Gartenhäuschen« zueinander, doch dringt Mephisto dort ein. Die alten Topoi wie Garten und Brunnen, die sogar dem Volkslied vertraut sind, in dessen Geist der junge Goethe dichtet, werden durch Dingsymbole ergänzt - durch das Goldkästchen beispielsweise (vgl. V. 2783 ff.), dessen vielfältige Bedeutung im zweiten Faust-Teil noch zunimmt. Im Gold materialisiert sich die Vitalkraft und auch die pure Geschlechtlichkeit der walpurgisnächtigen Teufelsbrut, in ihm ist der menschliche Besitztrieb, zugleich aber auch die Armut an Menschlichkeit verdinglicht (vgl. V. 2802 ff.). Das Kästchen läßt sich mit Hilfe der Wanderjahre überdies als erwachende Libido deuten, die geheime Schuld weckt, sein Inhalt, den Gretchen zögernd weggibt, als Anreiz zur unzeitigen Verführung. Lebenshaltungen verbildlichen sich in »Hütte« (V. 2708) und »Hüttchen« (V. 3353), dem systolischen Korrelat zum »Wanderer«, der das expansive Schweifen, Fausts Ausbreitungstendenz, verkörpert. Die »Hütte« steht für Gretchens bejahte Beschränkung im umgrenzten Lebenskreis. Es ist Faust, der die sprachbildliche Verbindung zieht zwischen dem geborgenen Dasein Gretchens und seiner zerstörerischen Existenz, die er als »Wassersturz« charakterisiert (V. 3350), und es ist wieder Faust, der »Unbehauste« (V. 3348), dem gegen Ende seines Lebens Philemons und Baucis’ »Hütte« zum Opfer fällt. »Fluß« und »Strom« sind im »Sturm und Drang« Metaphern für das Genie. Faust, als »Wassersturz« verbildlicht, besitzt demnach eine destruktive Genialität: Der Gegensatz des diastolischen und des systoli¬ schen Lebensprinzips ist für ihn unversöhnbar.

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Die Faust-Dichtung will die Totalität der Welt darstellen, die vom Himmel bis zur Hölle reicht und das weite Geisterreich einschließt. Da sich aber die Welt in ihrer extensiven Fülle nicht wiedergeben läßt, führt sie der Dichter - der »Epitomator der Natur« (HA 12,297) - konzentriert und intensiviert auf ihre (bildhafte) Archetypik zurück. Prägnante szenische Momente - »Zwinger« - werden herausgehoben, schau¬ bare Bühnenaktionen wie der Tod Valentins nur ausnahmsweise zugelassen: Der Zuschauer als Mitspieler kann die in die Szenenfugen verlegten Vorgänge erschließen. Jahrzehntelang stritten sich ivz^s£-Interpreten - »Unitarier« und »Fragmentarier« - um die Stil- und Handlungseinheit dieses komplexen Dramas, da man früher die lineare Geschlossenheit als Qualitätskriterium ausgab. Doch der strengen Funktionalität der Szenenreihung entzieht sich die dargestellte Wirklichkeitsbreite, und die szenisch komprimierten Erfahrungskreise widerstreben der zielgerichteten Finalstruktur. Die Jahresringe von Faust I sind nicht wegzudisputieren: Die »charakteristische« Kunst des »Sturm und Drang«, die auf konkrete Situationen, heräusgehobene Charaktere und individuelle Schicksale in shakespearisierender Manier aus ist, prägt den Gretchen-Part; im »Prolog« dann herrscht die Symbolisierungstendenz der Klassik, die den Einzelfall auf seine gattungsrepräsentative Bedeutung hin behandelt; auch die um die Jahrhun¬ dertwende entstandene »Walpurgisnacht« untersteht einem der Kunstgesetze dieser Zeit: in die Außenwirklichkeit das Gegenbild des unaussprechlichen Innern mit seinen präzisen, doch schwankenden Emotionen einzuarbeiten. Die »offene« Form des Faust werten wir heutzutage - von den atektonischen Stücken Büchners und Strindbergs, Hauptmanns und Brechts belehrt - eher als Vorzug denn als Mangel. Nicht der Akt dominiert, sondern die autarke Szene, in Gruppen gereiht oder schroff gegeneinander gearbeitet, durch vielfache Korrespondenzen - Antizipa¬ tionen und nachfolgende Präsentationen - wie Ruf und Echo verbunden. Die revuehaften Massenszenen gehorchen dem Bauprinzip des Reigens; wie in der alten Tragikomödie werden Gegensatzpaare auf verschiedenen Stilebenen angesiedelt: Der Kontrast zwischen den Figurenpaaren im »Garten« steigert den Ernst und die Ironie der Situation. Die Kontrapunktik der Lebensformen strukturiert und qualifiziert die Personengruppierung; Nebenfiguren wie Wagner erfüllen sich in dienender Antithetik. Die form- und sprachgeschichtliche Bedeutung des Faust läßt sich nur durch den historischen Vergleich ermessen. Die Lebenswirklichkeit, die mit sinnenhafter Unmit¬ telbarkeit dargestellt werden soll, fügt sich nicht länger der vorgeschriebenen stilisti¬ schen Einheit; das Freiheitsverlangen des Protagonisten erwidert die Unbekümmertheit des Autors gegenüber jedem Gattungspurismus. Gewiß, dem nachitalienischen Goethe mißfiel die »barbarische Komposition«, wie er sie Schiller gegenüber (am 27. 6. 1797) nennt, doch der Reichtum der Themen und Motive, der Gedanken und Stimmungen bedarf der angemessenen Vielfalt der Formen und Maße: Im Knittelvers lebt die Zeit des Hans Sachs, in den chorischen Kurzzeilen die frühkirchliche Hymnik auf. In den sogenannten freien Rhythmen äußert sich das Unabhängigkeitsbedürfnis der »Sturm und Drang«-Generation, und die variable Länge des Madrigalverses gehorcht den wetterwendischen Deklamationen und Wortduellen, den Pointen und Gefühlsnuancen. Die Verse tragen, wie »Wald und Höhle« zeigt (vgl. V. 3217-50), zur individuellen Charakterisierung der Kontrahenten bei. Man müßte fortfahren und das Spiel der Klänge und Rhythmen bestimmen, den

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genauen, oft symmetrischen Bau einzelner Szenen, die Bedeutung der strukturbilden¬ den Vierzahl, doch ergäbe sich das immergleiche Resultat: Faust I gewann der deutschsprachigen Literatur neue Provinzen hinzu. Die Skepsis gegen den Protagoni¬ sten berührt nicht die schwervergleichliche Qualität des Kunstwerks. Die ursprüngli¬ che Sinnlichkeit der Sprache, der Volkston, wird geweckt; die Extreme berühren sich das Zarte und Derbe, das Kräftige und Innige; die von der ästhetischen Tradition geschiedenen Gattungen - das Dramatische und das Epische, das Lyrische und Rhetori¬ sche - lösen einander ab und gehen ineinander über. Die Wirkung auf den Zuhörer wird der balladesken Verdichtung aufgetragen: »Stumm liegt die Welt wie das Grab!« (V. 4595).

Statt einer 'Zusammenfassung Auf den vorangehenden Seiten wurde wiederholt versucht, die Faust L implizite Geschichtlichkeit zu bestimmen und die ästhetische Qualität zu beschreiben, die von der historischen Dimension nicht ablösbar ist. Ein Ergebnis der Interpretation: Dem subjektivistischen »Stürmer und Dränger« genügt der aufklärerische Intellektualismus nicht mehr. Hatte noch 1730 für Albrecht von Haller gegolten: »Ins Innere der Natur dringt kein erschaffner Geist« - Goethes Faust will nichts weniger als eben die visionäre Erkenntnis dieses »Innersten« der Welt. Engagiert bekennt er sich nach seinem Scheitern zum Irdischen in seiner Polarität und Totalität; seine Wendung zum säkulari¬ sierten Diesseits spiegelt facettenartig die geschichtliche Entwicklung eines Gutteils jener umwälzenden emanzipatorischen Kräfte, die, konkretisiert und politisiert, die Revolution von 1789 mitbedingten. Reflexe des damaligen öffentlichen Lebens lassen sich überdies indirekt - man denke an die Gretchen-Handlung - erschließen: Die Familie, die Kirche und die Justiz verwalten die tradierten und generalisierenden Normen und tragen in ihrer Erstarrung zur Verschuldung des ihnen entwachsenen Individuums ungewollt bei. Vielfältig sind auch die expliziten Zeitbezüge von Faust /: Die »Hexenküche« beispiels¬ weise verbildlicht im Spiel der Meerkatzen mit der Krone das selbstmörderische Treiben des Ancien regime mit der adligen Würde und der staatlichen Macht; die »Xenien« der »Walpurgisnacht« und des »Walpurgisnachtstraums« gehen mit den Nachfahren einer abgewirtschafteten Epoche und mit literarischen Zeitgrößen satirisch ins Gericht. Der alte Goethe fand nur selten gute Worte für seinen ersten Faust-Teil: »Das Teufels¬ und Hexenwesen machte ich nur einmal«, äußerte er Eckermann gegenüber (am 16. Februar 1826), und noch am 17. Februar 1831 tadelte er das »Subjektive« des Werks, die Selbstreflexionen des Protagonisten und seine Selbstbezogenheit, die nur sich sucht und entdeckt. Daher wird in Faust II die weite Wirklichkeit des Lebens - in den Objektivationen von Staat, Natur und Kunst - zum handelnden Subjekt bestellt. Indes, wie repräsentativ Faust, der Willensmensch, angelegt ist, konstatierte Goethe eindrücklich, als er in seiner Abhandlung über Shakespeare und kein Ende den Charakter der neuzeitlichen Dramenfiguren - im Gegensatz zu den antiken dramatis personae - durch ihr unbedingtes Wollen und ihr unzureichendes Vollbringen bestimmte: Das Wollen »ist der Gott der neuern Zeit« (HA 12,293). Doch diesem

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vergotteten oder auch vergötzten subjektiven Wollen fehlt zur Balance die Verpflich¬ tung des handelnden Menschen gegenüber einem vernunftorientierten, überpersönli¬ chen Sollen. Da sich die singuläre Rezeptionsgeschichte von Faust /, der die Anschauungs- und Gefühlskategorien späterer Generationen mitbildete, auch nicht in Umrissen skizzieren läßt, mag seine anfängliche Wirkung durch Hegel bescheinigt werden, der in seiner Ästhetik an Goethes »absolute philosophische Tragödie« erinnert, »in welcher einer¬ seits die Befriedigungslosigkeit in der Wissenschaft, andererseits die Lebendigkeit des Weltlebens und irdischen Genusses, überhaupt die tragisch versuchte Vermittlung des subjektiven Wissens und Strebens mit dem Absoluten, in seinem Wesen und seiner Erscheinung, eine Weite des Inhalts gibt, wie sie in ein und demselben Werke zu umfassen zuvor kein anderer dramatischer Dichter gewagt hat«.16

Anmerkungen Der Text wird zitiert nach dem von Erich Trunz edierten und kommentierten 3. Band der Hamburger Ausgabe (HA): Goethes Werke. Hamburg 41959. Nachweise erfolgen durch Band- und Seiten- bzw. Verszahl in Klammern unmittelbar hinter dem Text. Zitate aus Goethes Briefwechsel sind im Text durch Angabe des Empfängers und des Briefdatums belegt. Da der knapp bemessene Raum die nötige Auseinandersetzung mit der weitläufigen Forschungsliteratur nicht zuläßt, beschränken sich die Anmerkungen vornehmlich auf Zitatnachweise.

1 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Bd. 1. Wien 1918. Bd. 2. München 1922 [u. ö.]. Bes. Bd. 1. S. 254ff., 405 ff.; Bd. 2. S. 357ff., 627ff. Zitiert wird nach der 48.-52. Aufl., München 1923. S. 138. 2 Thomas Mann: Über Goethe’s »Faust«. In: Thomas Mann. Gesammelte Werke. Bd. 9. Frankfurt a.M. 1960. S. 599. 3 Bertolt Brecht. Gesammelte Werke in 20 Bänden. Frankfurt a.M. 1975. Bd. 17. S. 1280. 4 Vgl. zum ganzen Themenkreis Will-Erich Peuckert: Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und schwarzen Magie. Stuttgart 1936; zudem Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Bd. 1. München 1969. S. 47ff., 220ff. u. ö. 5 Friedrich Nietzsche. Werke in drei Bänden. Hrsg, von Karl Schlechta. Bd.l. München 1960. S. 232. 6 Thomas Mann (Anm. 2) S. 605. 7 Faust. Dramentexte (von Marlowe, Mountfort, Lessing, Simrock, Goethe [Urfaust], Weidmann, Maler Müller und Lenz). Hrsg, und mit einem Vorw. von Margret Dietrich. München/Wien 1970. S. 51 f. 8 Georg Friedrich Wilhelm Hegel. Ästhetik. Hrsg, von Friedrich Bassenge. Berlin/Weimar 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 121 1. S. 219. 9 Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Kritische Bemerkungen über den ersten Theil von Göthe’s »Faust«, namentlich den »Prolog im Himmel« (1857). In: Aufsätze zu Goethes »Faust I«. Hrsg, von Werner Keller. Darmstadt 1974. S. 192-214. 10 Peter Hacks: Faust-Notizen. In: P. H.: Die Maßgaben der Kunst. Gesammelte Aufsätze. Berlin [Ost] 1978. S. 80. 11 Bertolt Brecht. Arbeitsjournal. Zweiter Band 1942-1955. Hrsg, von Werner Hecht. Frankfurt a. M. 1973. S. 903 (Notiz vom 7. 5. 1949). 12 Ludwig Feuerbachs Sämtliche Werke. Neu hrsg. von W. Bolin und F. Jodl (mit Ergänzungsbänden von H.-M. Saß). Stuttgart 1959 ff. Bd. 6. S. 12 f. - Zur Vorstellung von der Unaussagbarkeit des Individuums, die sich bereits im Thomismus finden soll, vgl. den wichtigen Brief Goethes an Lavater vom 20. 9. 1780.

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13 Friedrich Gundolf: Goethe. Berlin 51918. S. 141 ff. 14 Carl Gustav Carus im ersten seiner Briefe über Goethes Faust. Wiederabdr. u. a. in: C. G. C.: Goethe - zu dessen näherem Verständnis. Hrsg, von Ernst Merian-Genast. Zürich 1948. S. 233. 15 Georg Lukäcs: Goethe und seine Zeit. Berlin [Ost] 1953. S. 232. 16 Hegel (Anm. 8) Bd. 2. S. 574.

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Faust. Der Tragödie zweiter Teil

Kein Werk der Weltliteratur hat sich so unerbittlich dem Verständnis und der Deutung entzogen wie die ivz^s£-Dichtung Goethes. Von Anfang an ist die Geschichte ihrer Rezeption eine Folge von meist fragwürdigen Versuchen, eine dergestalt komplexe und heterogene Konstruktion den jeweiligen geistigen, gesellschaftlichen und poetologischen Postulaten der Forschung zu unterwerfen, Kontinuität und Sinnzusammenhang in einem Nexus dramatischer, biographischer oder ethischer Logik zu vermuten, ja, in immer neuen Wendungen Pathos und Dämonie einer exzentrischen Existenz zu Impulsen des deutschen Selbstverständnisses zu machen. Das verführerische Modell des modernen Bewußtseins, das, jenseits aller institutionell verbürgten religiösen oder sozialen Sicherungen, sein eigenes Potential des Fragens und Suchens, des Verneinens und des rein subjektiven Wagnisses behaupten will, hat sich um so leichter aus dem Faustischen Mythos ableiten lassen, als die Gefahren und Absurditäten eines solchen monomanischen Lebenslaufes schließlich in einer Apotheose der Vermittlung, des Verzeihens, der Gnade aufgehoben schienen. Selbst wenn die kritische Betrachtung des zweiten Faust es sich versagt, von der oft entwaffnend vorausgeschickten Formel eines »inkalkulablen« oder »inkommensura¬ blen« Werkes auszugehen, fordert die labyrinthische Topographie des Textes ein ungewöhnliches Maß an Umsicht und Wissen.1 Mehr als tausend Äußerungen Goethes zu Faust2 und dazu die Wirkungsgeschichte verstellen einen gleichsam unbefangenen Blick auf das große, in seiner Aussagefülle erstaunliche Werk.

Zur Entstehungsgeschichte

1 Drei Perspektiven sind es, die seit seiner postumen Veröffentlichung den Zugang zum zweiten Teil des Faust bestimmt und erschwert haben: Zum einen wirkte sich die Unsicherheit auch qualifizierter Leser gegenüber formalen Herausforderungen aus, die ein Nachlassen der dichterischen Disziplin Goethes zu bezeugen schienen3 und erst durch die Forschung der letzten Jahrzehnte als Ergebnis bewußter Strategie erkannt und begründet worden sind. Zum anderen mußte die Frage beunruhigen, in welchem Sinn die im ersten Teil von vornherein angelegte ethische Bewährung der Person Fausts in der oft undurchsichtigen und skizzenhaft durchgeführten Szenenfolge des zweiten weiter betrieben und erfüllt wird. In welchem Sinn also läßt sich das Handlungsgefüge des Ganzen als Zeugniskette einer moralischen Progression des Helden verstehen? Deckt nicht die leichthin angebotene, aber unspezifische Formel des »strebenden Bemühens« einen zweifelhaften Versuch, den exzentrischen Weg und den scheinbar subjektiven Opportunismus Fausts innerhalb einer quasi-religiösen Klammer in seiner Kontinuität zu bestätigen?4

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Schließlich hat der Prozeß der Mythisierung der Faustischen Existenz die kritische Sicht auf das Gedicht immer wieder vorbelastet, jene Apostrophe des »Faustischen Menschen«, die innerhalb des deutschen Selbstverständnisses und einer Kulturkonzeption, in der das Widersprüchliche, Übersteigerte und Destruktive - zwar problemati¬ siert, aber ästhetisch verklärt - eine außerordentliche Faszination ausüben konnte.5 Wenn auf der einen Seite ein über jede angemessene Ordnung hinausdrängender Geist national-psychologisch fesselte, so bot auf der anderen gerade die rücksichtslose Tätigkeit Fausts am Ende seines Lebens charakteristische Züge einer modernen Kultur¬ typologie, deren Endphase von radikalisierter und gewissenloser Technokratie bestimmt wird.6 Derlei geschichtsphilosophische Spekulationen gehen grundsätzlich von der an sich schon fragwürdigen Vorstellung einer positiv oder negativ verstandenen »Perfektibilität« Fausts aus; die neuere Forschung hat sich, im Anschluß an Wilhelm Böhms These vom »nicht-faustischen Faust«, nicht nur dieser mythisierenden Tendenz widersetzt,7 sie hat energisch das Exemplarische an Fausts Existenz, seine »Aufwärts¬ entwicklung [...] zur letzten Stufe der sittlichen Befriedigung«8 überzeugend in Zweifel gestellt9. Goethe selbst war sich der Vieldeutigkeit seines Faust nicht nur bewußt, er neigte vielmehr dazu, sie als Bedingung jedes kritischen Verständnisses vorauszusetzen und mit einer gewissen Freude am hintergründigen Geheimnis oft genug in Briefen und Gesprächen auf sie anzuspielen. Er wußte, daß in der Entfaltung der historisch vorgeformten Faust-Materie stoffliche Erwartungen zu befriedigen waren; vor allem aber lag ihm daran, die traditionellen Bezüge der Biographie des Magiers - Macht, Geschichte, Wissen, Glaube, Schönheit, Kunst, Natur - zum Anlaß einer umfassenden Bestandsaufnahme und Kritik der nachklassischen Zeit, ja des modernen Bewußtseins überhaupt zu nehmen. Ein Blick auf die langwierige Entstehungsgeschichte des zweiten Teils läßt darüber keinen Zweifel. Schon vor dem Abschluß der Arbeit am ersten reflektiert Goethe über die ideellen Möglichkeiten, gewisse Elemente der Faust-Sage in einem zweiten Teil so zu gestalten, daß die implizierte Grundproblematik des Stoffes, die Herausforderung historischer Denk- und Verhaltensformen durch einen radikalisierten Geist, der das Äußerste an eigener Verunsicherung auf sich nimmt, in einem historisch veränderten Bildungs- und Glaubenssystem begreiflich wird. Der Anlage nach, so meinte Schiller 1797, scheint Faust »eine Totalität der Materie nach zu erfordern [...], wenn am Ende die Idee ausgeführt erscheinen soll«.10 Vor einem zeitgenössischen und zeitnahen Problemhorizont sollten die Umrisse einer metaphern¬ reichen Typologie des modernen Verhaltens gegenüber verfügbaren geschichtlichen und existentiellen Alternativen erkennbar werden. Diese Thematik lieferte zunächst die »Idee«, die dem Fortgang der Arbeit zu¬ grunde liegen sollte. Aus der volkstümlich-lyrischen und beschränkten Welt des ersten Teiles sollte Faust in eine anspruchsvollere, problemreichere und im einzelnen bedeutungsvoll symbolisierte Sphäre geführt werden, in der eine Fülle von aktuellen Themen und Denkformen schlüssig und sinnvoll zu verknüpfen war. Schon während der Abschlußarbeiten am ersten Teil setzt Goethe immer wieder zur Fortführung an. Ein Brief Schillers an Cotta stellt Anfang 1800 »zwei beträchtliche Bände« in Aus¬ sicht;11 Goethe selbst verfaßte kurz danach ein Schema zur Dichtung als einem Ganzen, in dem schon wesentliche Züge eines zweiten Teils festgehalten werden. »Tatengenuß nach außen«, heißt es in dieser Skizze, »und Genuß mit Bewußtsein,

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Schönheit: zweiter Teil. Schöpfungsgenuß von innen. Epilog im Chaos auf dem Weg zur Hölle.«12 Zwei Gedichte aus derselben Zeit, Ankündigung und Abschied, lassen, einigermaßen verschlüsselt, ebenfalls auf einen zweiten Teil des Gedichtes schließen. Vermutet werden darf, daß Goethe sich schon um 1800 über den späteren 5. Akt Gedanken machte. In jedem Fall entsteht im September 1800 das »Helena«-Fragment, mit dem der Zauberkreis der »nordischen« Dämonie durchbrochen und der Weg in eine hellere Welt geschaffen werden sollte. Dieses in Ton und Form noch nahezu ungebrochen klassizistische Stück - Schiller, dem Goethe die Episode vorlas, meinte, »der edle hohe Lreist der alten Tragödie weht aus dem Monolog einem entgegen«13 - mußte freilich in einem annehmbaren Verhältnis der »barbarischen« Welt Fausts zugeordnet werden. Wie intensiv die eigentümlich vieldeutige Gestalt Helenas Goethe schon damals beschäftigte, lassen 1804 Reflexionen »Über die Verherrlichung der Helena« erken¬ nen.14 Trotz gelegentlichen Nachdenkens über Einzelheiten der geplanten Fortsetzung lassen die großen Werke der nächsten Jahre - Die Wahlverwandtschaften (1809), die Farbenlehre (1810), Dichtung und Wahrheit (seit 1811) und der West-Östliche Divan (seit 1814) - jede zusammenhängende Arbeit an Faust zurücktreten. Eine vorläufige Inhaltsangabe der ersten 4 Akte wird 1816 für Dichtung und Wahrheit diktiert. Erst 1824 und 1825 rückt der Faust-Komplex wieder in den Kreis unmittelbarer Aufgaben: Goethe arbeitet am 5. Akt, bleibt aber bis 1827 intensiv mit dem HelenaKomplex beschäftigt. Im vierten Band der Ausgabe letzter Hand erscheint in diesem Jahr schließlich der spätere 3. Akt: »Helena. Klassisch-romantische Phantasmagorie. Zwischenspiel zu Faust«. In der mehrfach entworfenen »Ankündigung« dieses Zwi¬ schenspiels wird durch die nun angedeutete Herkunft der Helena aus dem Orkus und die Begegnung von Faust und Helena im »magischen« Bereich der »phantastischen« mittelalterlichen Gebäude des Burghofes die eigentliche Verbindung der Welten der zwei Teile hergestellt. In den folgenden Jahren werden fehlende Handlungspartien »bedacht« und »reguliert«: Goethes Tagebuch läßt den Fortgang des »Hauptwerkes« von 1828 bis zum Abschluß im Dezember 1831 im einzelnen zuverlässig verfolgen. Gewisse Szenen des 1. Aktes werden Ostern 1828 veröffentlicht; im Juli 1831 ist das große Gedicht zustande gebracht; vier Monate später läßt er die Reinschrift des ganzen zweiten Teiles verschnü¬ ren und versiegeln. Aber noch einmal nimmt er Anfang des nächsten Jahres das Manuskript zur Hand: bis Ende Januar liest er der Schwiegertochter Ottilie die unveröffentlichten Teile vor und verzeichnet am 24. im Tagebuch: »Neue Aufregung zu Faust in Rücksicht größerer Ausführung der Hauptmotive, die ich, um fertig zu werden, allzu lakonisch behandelt hatte.«15 Erst nach Goethes Tod erschien 1832 Faust. Der Tragödie Zweyter Theil als Band 41 der »Vollständigen Ausgabe Letzter Hand«.

2 Es kann kaum überraschen, daß Goethes Erwägungen zur Arbeit am zweiten Teil in erster Linie dem strukturellen Problem der Einheit des Werkes galten. Daß der zweite Teil »in Anlage und Ausführung von dem Ersten durchaus verschieden« sei, »indem er in höheren Regionen spielt und dadurch von jenem sich völlig absondert«,16 hat als

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allgemeine Formel nur vorläufiges Gewicht: Es entsprach dem Stoff, zunächst dem der Helena-Episode, daß eine gewisse formale Strenge nötig sei - es »ist meistens in Senaren und andern dem Altertum nachgebildeten Silbenmaßen geschrieben, von welcher Art und Weise in den ersten Teilen keine Spur ist«.17 Wichtiger ist Goethes Hinweis darauf, daß der zweite Teil innerhalb eines längst und gesichert vorhandenen Gesamtkonzeptes (»was ich viele Jahre in Kopf und Sinn herumbewegte«18) durch allmähliches Ausfällen von »Lücken« seine »Gestalt« gewinnen sollte. »Die Schwierigkeit des Gelingens bestand darin, daß der zweite Teil [...] seit fünfzig Jahren in seinen Zwecken und Motiven durchgedacht und fragmentarisch - wie mir eine oder die andere Situation gefiel - durchgearbeitet war, das Ganze aber lückenhaft blieb.«19 Ganz ähnlich betont Goethe in einem Brief an den Freund Zelter, daß er zwar seit Jahren gewußt habe, was er wollte, daß aber seine Arbeitsweise - ich »habe aber nur die einzelnen Stellen ausgeführt die mich im Augenblick interessierten«20 - von einem punktuellen Interesse an bestimmten dichterischen Komplexen ausging.21 Noch deutlicher wird dieses für Goethes Arbeitsweise im hohen Alter überhaupt charakteristische Verfahren in einem Satz des schon zitierten Briefes an Wilhelm von Humboldt bezeichnet: »Und durch eine geheime psychologische Wendung [...] glaube ich mich zu einer Art von Produk¬ tion erhoben zu haben, welche bei völligem Bewußtsein dasjenige hervorbrachte, was ich jetzt noch selbst billige, ohne vielleicht jemals in diesem Flusse wieder schwimmen zu können.«22 Diese oft wiederholte Versicherung einer intensiven Konzentration auf spezifische, nicht so sehr episodisch-dramatische als metaphorisch aufzufächernde Momente schien seit Kuno Fischer die »Fragmentarier« unter den Kommentatoren zu rechtfertigen,23 deren Unbehagen gegenüber dem scheinbar so diffusen zweiten Teil sich entscheidend aus der nicht immer durchsichtigen Überfülle von poetischen Elaborationen herleitete. Die dagegen von den »Unitariern« in der Nachfolge Heinrich Rickerts angebotenen Nachweise einer »einheitlichen« Komposition stützen sich eher auf die im Verhältnis der zwei Hauptgestalten sich entfaltende Sequenz von existentiellen Bewährungsversu¬ chen als auf eine Kohärenz, die sich aus dem strukturellen Zusammenhang eines Systems von symbolisch-tropischer Resonanz ergeben könnte.24 Die Frage nach der »Einheit« des F^5£-Werkes ist von der Goethe-Philologie immer wieder, selten aber mit einer zureichenden Vorstellung von den Implikationen des Begriffes gestellt worden. Die traditionelle Poetik hat ihr ein nahezu absolutes Gewicht an aufschließender Bedeutung zugemessen, das in neueren ästhetischen Theorien nicht mehr gelten kann. Goethe selbst neigte dazu, jeden Versuch, das Gesamtwerk mit einem handlichen Schlüssel aufzuschließen, zu ironisieren und zu verunsichern, indem er mit urbaner Vieldeutigkeit von einzelnen Partien oder auch vom Ganzen zu sagen pflegte: ein »fragliches, wundersames Werk« und »rätselhaft«25, ein »inneres Mär¬ chen«26, »ernst gemeinte Scherze«27, ein »seltsames Gebäu«28. Sicher ist, daß Goethe um 1825 die Gesamtkonzeption des zweiten Teiles gegenüber der des ersten völlig verändert, vom Individuellen zu universaler Typisierung übergeht und ein System von symbolischen Zusammenhängen schafft, das auf einen Kosmos von Urphänomenen, auf Natur, Kunst, Schönheit, Zeit, Geschichte und Dasein verweist.29 Kein Zweifel, daß er diesen unaufhörlich erwogenen zweiten Teil schließlich als »in sich abgeschlossen«30 betrachtete, als eine Komposition freilich, die aus einer Reihe von »Welten« bestehen sollte, deren Abfolge nicht in linearer Verschränkung, sondern als

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vielfältige Spiegelung von Themen, Motiven und intellektuellen Positionen zu begreifen war.31 Gerade zum Verständnis des strukturellen Gefüges, seiner spezifischen Aussage¬ formen und seines »durchkomponierten« Charakters, hat die Äz^s£-Forschung der letzten Jahrzehnte32 die Wege bereitet und erst dadurch den Zugang zu einem Werk freigelegt, das wie kein anderes der deutschen Literatur die Summe eines äußerst subtilen und artikulierten literarischen und dichterischen Bewußtseins in einer Formen¬ sprache von weltliterarischer Fülle vor uns ausbreitet.

Prämissen für den Zugang zum Gedicht

1 Gegenüber Eckermann, der im zweiten Teil »eine weit reichere Welt« ausgebreitet fand als im ersten, präzisierte Goethe den Unterschied nicht im Hinblick auf den Reichtum an ausgebreiteter Handlung, sondern auf eine prinzipiell andere Absicht: »Der erste Teil ist fast ganz subjektiv«, meinte er, »es ist alles aus einem befangeneren, leiden¬ schaftlicheren Individuum hervorgegangen [...]. Im zweiten Teile aber ist fast gar nichts Subjektives, es erscheint hier eine höhere, breitere, hellere, leidenschaftslosere Welt [.. .]«.33 Wir dürfen diese Bemerkung so auslegen, daß aus der Sicht einer klassischen Dramatur¬ gie der erste Teil als - gewiß unregelmäßiges - Charakterdrama betrachtet werden konnte, in dem eine individuelle Entwicklung und Bewährung in bedeutsamen Statio¬ nen aufgezeigt wird. Davon kann im zweiten die Rede nicht sein. Der zweite Teil muß als eine Kette von »Metaphern« verstanden werden, deren Zusammenhang weniger durch die Figur Fausts als vielmehr durch immer wieder ausgelotete und umschriebene Grundvorstellungen Goethes zur Problematik der Moderne hergestellt wird. Die Personen, ob Faust selbst oder der Kaiser, ob Thaies, Helena oder Philemon und Baucis, mögen sich als bekannte und historisch vorgeformte Gestalten oder als Vertre¬ ter scheinbar selbstverständlicher allgemeiner Verhaltensweisen aufführen, als »Gärtne¬ rinnen«, »Holzhauer« oder »Grazien«, sie fungieren nicht als handelnde »Charaktere«, sondern im wörtlichen Sinn als »Redefiguren«, die nicht so sehr über sich, als durch sich dasjenige aussagen, was jeweils als Aspekt der Bedeutungszusammenhänge einsich¬ tig gemacht werden soll: Goethe denkt [im zweiten Teil] »nicht in Personen, sondern in Funktionen, denen er den Namen der Person erteilt.«34 Sie sind Träger von Ideen, die teils allegorisch, teils symbolisch sich in Sprechakten mehr als durch pragmatisch¬ konsequentes Handeln darstellen und explizieren. Wir müssen uns bei der Lektüre daran gewöhnen, daß die Äußerungen dieser redenden Figuren von Fall zu Fall in ihrem unmittelbaren gegenwärtigen Kontext abzuschätzen und zu bewerten sind, daß die »Gültigkeit« einer Aussage nicht von psychologischen Vorurteilen her erschlossen werden kann, sondern sich allein aus ihrem Stellenwert innerhalb eines bestimmten Themenkomplexes ergibt. Die Entstehungsgeschichte des Werkes läßt erkennen, daß nach 1800 Faust als handelndes und reflektierendes Wesen einem umfassenden poetologisch-symbolisierenden Verfahren untergeordnet wird. Wenn es sich im ersten Teil um ein Abwägen der Energien handelt, mit denen sich ein Geist von eigentümlicher und einzigartiger Intensität über eine fragwürdige Ordnung

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hinaus zu behaupten sucht, so stellt sich im zweiten Teil die Frage nach Fausts individuellem Charakter, nach den Potenzen seiner Person nur insofern, als sein Handeln in jedem Falle einer Stufe der Entfaltung eines objektiven geistigen Schemas entspricht und ihr adäquat sein muß. Faust II ist nicht, wie der erste Teil, Darstellung eines subjektiven Verhaltens,35 seiner Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen, son¬ dern die mit dichterischen Mitteln durchgeführte Analyse und Demonstration objekti¬ ver Denk- und Verhaltensweisen in ihrer Folgerichtigkeit. Die Person Fausts ist im zweiten Teil nur mittelbarer Anlaß und Gegenstand des Unternehmens: Faust ist kein Entwicklungsroman, an dem eine Bildungstendenz demonstriert wird.36 Zwar wird er ausdrücklich oder impliziert in jeder Situation vorausgesetzt, aber nicht so sehr als handelndes oder leidendes Subjekt; er bietet vielmehr die Vergegenwärtigung von Aspekten und Alternativen einer »Persönlichkeit« oder einer »Entelechie«, die Goethe als von vornherein gegeben begreift, an der sich »das Substantielle, das Vorhandene, das unverlierbar Gegebene«36* in einer Folge von dichterischen Modellen in immer reinerer Form nachweisen läßt. Weit über die Person Fausts hinaus ist es Goethes Anliegen, die in sich gegliederte Strukturgestalt eines kulturmorphologischen Konzep¬ tes in einander zugeordneten Akten und Szenen, Figuren, Bildern und Redeformen, in seiner Logik ebenso wie in seinen immanenten Paradoxien zu verdeutlichen. Die im ersten Teil vielfach artikulierte Antithetik zwischen Faust und Mephisto ist deshalb im zweiten nahezu durchgehend aufgehoben.37 Mephistos nihilistische Ironie, im ersten Teil konsequent als Haltung ins Spiel gebracht, wird jetzt relativiert zu einem variablen Instrument mehr der ideellen und rhetorischen als der charakterlichen Strategie. In diesem Sinne bilden die Vorgänge und Handlungsstränge des zweiten Teils nicht etwa eine konventionelle dramatische Folge, nicht so sehr ein in Fausts persönlichem Fortschreiten begründetes kausales Nacheinander als vielmehr Elemente eines »sinn¬ bildlichen Verweisungszusammenhanges«.38 In einem Brief aus dem Jahre 1823 präzi¬ siert Goethe Technik und Sinn dieses Verfahrens als die Absicht, »durch einander gegenübergestellte und sich gleichsam ineinander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren«.39 Faust II wird damit die figurierte und inszenierte Entfaltung einer Idee oder eines Ideennexus. Ernst Bloch hat mit Recht die »dialektische Weltfahrt Fausts« in Parallele zu Hegels Phänomenologie des Geistes gestellt.40 Waren im ersten Teil die Phasen der Handlung verhaltensgebunden, so ist das Ver¬ ständnis einzelner Szenen im zweiten Teil von ihrem Stellenwert innerhalb der Entfal¬ tung gewisser Gedanken- oder Symbolkomplexe abhängig. Aus diesem Grunde konnte Goethe auf der einen Seite betonen, ihm müsse daran liegen, »die Fabel eines berühm¬ ten Helden bloß als eine Art von durchgehender Schnur« zu benutzen, »um darauf aneinander zu reihen, was er Lust hat«41; auf der anderen nimmt er immer wieder »einzelne Stellen« im Gesamtkomplex vor und erweitert sie, füllt »gewisse Lücken« der »historischen wie ästhetischen Stetigkeit« halber aus und überläßt es dem »vernünftigen Leser«, Übergänge des »seit fünfzig Jahren in seinen Zwecken und Motiven« durch¬ dachten Werkes zu supplieren42. Sein Vorhaben ist es, »aus kleinen Kreisen Welt in Welt« zu schaffen;43 es bilden deshalb der kaiserliche Hof mit den theatralischen Verwirklichungen seiner Impotenz, das Laboratorium, die Klassische Walpurgisnacht, die griechischen und gotischen Prospekte der Helena-Darstellung, die Kampfvision des 4. Aktes oder die großräumi-

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gen Bilder des letzten die Topographie, innerhalb derer eine Fabelwelt sich darbietet, die in jedem Moment und jeder Figur auf sich selbst, zugleich aber über sich selbst auf Früheres und Kommendes hinausweist. Im übrigen haben die Hofgesellschaft und das Reich der Mütter, die Felsbuchten des Ägäischen Meeres, der Palast des Menelas und Fausts Burghof, das Hochgebirge des 4. Aktes, die Grablegung wie die Bergschluchten von Fausts Apotheose einen und denselben Realitätsgrad. Sie sind metaphorisch zu verstehen, indem sie, wie die Figuren in ihrer jeweiligen Rolle, zur Explikation einer momentanen geistigen Konstellation beitragen. Faust II wird damit zu einem Figuren¬ spiel von höchster künstlerischer Logik, in dem die Gestalten, die uns unmittelbar oder in ihrer historisch-mythischen Funktion vertraut sein mögen, durch ihr Handeln als Maske und ihre subtil pointierte sprachliche Selbstdarstellung zur Deutung herausfor¬ dern. Im Sinne von Goethes Kunsttheorie verhüllt die Kunst in einem Schleier das, was bedeutungsvoll begreifbar gemacht werden soll. Das Offensichtliche wird durch Indi¬ rektion intensiviert. Der Schein vermittelt die hintergründige Wirklichkeit: was einer hier scheint, das ist er. In diesem Rollenspiel handelt allein Mephisto in »Verkleidun¬ gen«, er agiert als Geiz, als Phorkyas oder als Aufseher, gerade um sein Wesen der gemeinten Situation anzupassen. Sein Anteil ist nicht etwa der des einspurig und eindeu¬ tig Bösen, vielmehr der des radikalen Reflektierens gerade dort, wo es gilt, das Dunkle und Auflösende im modernen Bewußtsein, den unabdingbaren Grundton des Chaos im Kosmos, emphatisch zu vermitteln. An der tiefsinnigen Umgestaltung, durch die sich Faust bewährt, kann Mephisto nicht teilnehmen: er vertritt im zweiten Teil das unend¬ lich variable Prinzip des Einwandes, das sich als Gegenstimme und Gegenposition (nicht nur gegenüber Faust, sondern gegenüber jedem Argument in jeder Situation) aktuali¬ siert, als Sinnlichkeit gegenüber der Abstraktion, als närrischer Verkünder der Vernunft am Kaiserhof, als Häßlichster im Bereiche der Schönheit, als rücksichtslos Handelnder da, wo die Weisheit die Vision einer freien Gesellschaft zu realisieren hofft. Die Figuren, die im zweiten Teil in so erstaunlicher Zahl episodisch aufgeführt werden, sind nicht so sehr Personen, die sich durch ihr Handeln zu erkennen geben und engagieren, als Chiffren oder Evokationen innerhalb eines Systems von Bedeutungen, die, wie in jedem »symbolistischen« Werk, Aussagekraft durch angebotene bildliche und rhetorische Korrespondenzen gewinnen. Durch diese Methode der »Anspielung« erhält das Werk seinen eigentümlichen Zitiercharakter: es will, über alle figürliche und szenische Darstellung hinaus, Sinn und Sinnbezüge herstellen. Für die Deutung ist deshalb die Geschehensfolge an sich weniger wichtig als der Blick auf die in den sprachlichen und metaphoristischen Materialien enthaltenen und bildungsgeschichtlich gerechtfertigten Aussagewerte.

2 Faust II ist das Produkt einer literarischen Kultur, in der die Wissensbereiche von Naturwissenschaft, Philosophie, Theologie, Volkswirtschaft, Medizin usw. integriert aufgehoben sind. Spezifischer als der erste Teil ist der zweite ein eminent literarisches Werk, dessen Verständnis vom Nachvollziehen und Deuten literarischer, das heißt sprachlicher Elemente und der literarischen Tradition abhängt.44 Genaues, historisch und poetologisch abgesichertes Lesen bietet den einzig zuverlässigen Zugang zur

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Absicht des Werkes, nicht zuletzt wohl auch zu seiner Einheit. Gelegentlich gesteht Goethe, er sei selbst versucht gewesen, den »zweiten Teil des Faust, von Anfang bis zum Bacchanal, wohl einmal der Reihe nach weg[zu]lesen. Vor dergleichen pfleg ich mich aber zu hüten; in der Folge mögen es andere tun, die mit frischen Organen dazu kommen, und sie werden etwas aufzuraten finden.«45 Gewiß hatte Goethe recht, wenn er daran erinnerte: »[...] man erschöpft eine solche Produktion niemals durch Nach¬ denken, beim jedesmaligen Lesen ist sie wieder neu.«46 Daß theatralische und musikalische Züge thematisch wie formell eine wichtige Rolle spielen, kann nicht bedeuten, daß das Werk etwa als Bühnentext konzipiert wurde: auch die expliziten szenischen oder schauspielerischen »Anweisungen« im Text gehö¬ ren in den literarischen und dichterischen Vorstellungsbereich und sind keinesfalls Direktiven für eine Aufführung.47 Wenn am Ende des Helena-Aktes angegeben wird, daß der Vorhang fällt, daß Phorkyas von den Kothurnen heruntertritt, sich als Mephistopheles zeigt und bereit ist, »insofern es nötig wäre, im Epilog das Stück zu kommentieren«, so wird damit nicht etwa der Schauspieler veranlaßt, sich entspre¬ chend zu verhalten; Formeln dieser Art sind nichts anderes als rudimentäre, dichterisch gemeinte Prosastücke, die (noch) nicht versifiziert sind und sich an einen Leser wenden, der die angegebenen »Gesten« zur Deutung des Aktes im Ganzen und der Rolle Mephistos als Zaubermeister verwenden soll. Goethe selbst fürchtete bekannt¬ lich, daß Bildwerke jeder Art von der intendierten Wirkung des Textes ablenken müßten (»Kupfer und Poesie parodieren sich gewöhnlich wechselweise«)48; an eine Bühnendarstellung des zweiten Faust hat er kaum ernstlich gedacht49. Zwar berichtet ein Besucher im April 1815, Goethe habe die »theatralische Darstellung des ersten Teiles« für »wirklich im Werke« gehalten - »das Ganze muß aber, schon auf den ersten Blick, sich als ein mißliches und abenteuerliches Beginnen ankündigen«.50 Daß er in einem Gespräch mit Eckermann die Aufführbarkeit des Helena-Zwischenspiels erwägt, darf nicht verallgemeinert werden; bei dieser Gelegenheit betont er die konkrete Präzision der Szene: »es ist alles sinnlich und wird, auf dem Theater gedacht [!], jedem gut in die Augen fallen.«51 Auch heute wird sich jeder Versuch einer Aufführung beider Teile - oder jedenfalls des zweiten Teiles - entscheiden müssen, ob die Goethesche Absicht in erster Linie durch das dichterische Wort oder die spektakulären Theaterreize vermittelt werden soll. (Beide Teile ohne Kürzungen aufzuführen würde im übrigen schätzungsweise 23 Stunden in Anspruch nehmen.) Auch die Stellen, an denen Goethe einen Hinweis auf eine Erweiterung des Gesagten durch Musik gibt, sind literarisch gemeint; sie bieten nicht etwa eine Anweisung an Musiker, sondern Aufforderungen an den Leser, die »Anspielung« auf eine musikali¬ sche Facette des Gesagten oder Darzustellenden zu vollziehen und die Vorgänge in musikalischen Spannungs- und Ausdrucksformen zu empfinden. Musik ist Sprachmusik, die den Sinn des Sprechens erhöht. Denn Musik galt Goethe als Form einer modernen Kunst der Sensibilität; an sie wird stets erinnert, wo, wie in der EuphorionEpisode, Zustände der »Verinnerlichung« oder des impulsiven Aufschwunges vermit¬ telt werden sollen. Die musikalischen Kategorien, die z. B dem Naturgedicht zu Beginn des 1. Aktes untergelegt sind, verwirklichen die Konnotationen von >SerenadeNotturnoMattutino< und >Reveille< in sprachlichen und klanglichen Äquivalenten. Der oft versuchte Nachweis, daß Teile von Faust II sich Goethes Absicht nach den Formen der Oper nähern, ist formal völlig einleuchtend, kann aber nicht heißen, daß Goethe an

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eine Opernaufführung des Werkes oder seiner Teile gedacht habe. Es muß für das Verständnis des Gedichtes durchaus an seinem literarischen, seinem Sprachcharakter, festgehalten werden. Die Äußerungen Goethes, in denen er auf musikalische Spekula¬ tionen Eckermanns eingeht, lassen daran kaum Zweifel, nicht zuletzt deshalb, weil Goethes Vorstellung vom grundsätzlich harmonisierenden und lösenden Charakter der Musik seiner Zeit mit dem dunklen Grund des Faust unvereinbar schien: »Ich gebe die Hoffnung nicht auf«, meinte Eckermann, »zum Faust eine passende Musik kommen zu sehen.« »Es ist ganz unmöglich«, erwiderte Goethe, »das Abstoßende, Widerwärtige, Furchtbare, was sie stellenweise enthalten müßte, ist der Zeit zuwider. Die Musik müßte im Charakter des Don Juan sein [.. .]«.52

3 Es versteht sich von selbst, daß das enorm umfangreiche Corpus von Material, auf das im Gedicht so konsequent angespielt wird, ein Wissen von außerordentlicher Breite und Tiefe voraussetzt. Eckermann gegenüber, der einigermaßen philisterhaft bemerkt, es seien darin »einige Denkübungen, und es möchte auch mitunter einige Gelehrsam¬ keit erfordert werden«, versichert Goethe mit liebenswürdiger Ironie: »Ich habe immer gefunden, daß es gut sei, etwas zu wissen.«53 Wenn Goethe für den zweiten Teil betonte, daß »der Verstand mehr Recht daran« habe,54 so war ihm klar, daß das ausgebreitete Wissen einen Leser von beträchtlichem Bildungsstand voraussetzte; dem »vernünftigen Leser« müsse »mehr entgegengearbei¬ tet« werden;55 durch »Miene, Wink und leise Hindeutung«56 sollte ein an sich sprödes Material Profil gewinnen, in dem, »der Welt- und Menschengeschichte gleich - das zuletzt aufgelöste Problem immer wieder ein neues aufzulösendes darbietet«57. Gerade, daß dieses Wissen dem Leser dichterisch »verschlüsselt« angeboten wird, ist eine Spielregel, auf die Goethe gern hinweist: »Wenn es den Leser nicht auch nötigt, sich über sich selber hinauszumuten, so ist es nichts wert. [Es] hat ein guter Kopf und Sinn schon zu tun, wenn er sich will zum Herrn machen von allem dem, was da hineingeheimnisset ist.«58 Bei diesen Lesern wird nicht nur Wissen vorausgesetzt, ihnen wird als unerläßliche Leistung aufgetragen, in dem System von Anspielungen vielfältige Reso¬ nanzen, Bezüge, Zusammenhänge und nicht ausdrücklich formulierte Bedeutungen zu »supplieren«.59 Goethe ist hier der Poeta doctus, der nicht nur Wissen vermittelt, sondern dieses Wissen in einem formalen Projektzusammenhang durchsichtig und in seiner Relevanz wie Vieldeutigkeit begreiflich und verwendbar macht. Insofern Faust ein enzyklopä¬ disches Werk ist, in das alle Gebiete des zeitgenössischen Wissens eingeschmolzen sind, wird der Charakter dieses Wissens selbst, wird die kritische Frage nach dem Stellenwert und dem Gewicht dieses Wissens innerhalb des zeitgenössischen Erlebens und Denkens zu einem der zentralen Themen des Gedichtes. Wie viele Wissensgebiete zumindest punktuell hier berührt werden, bedarf kaum eines ausdrücklichen Nachweises: sie erstrecken sich, um nur einige zu nennen, von Kosmologie, Astronomie, Geographie, Geologie und der Volkskunde zur Politik, zur diplomatischen und militärischen Strategie und zur Finanzwirtschaft, von der Weltgeschichte zu der der Künste und ihrer Stilformen,60 von einer Kenntnis des Theaters, der Musik und des Tanzes zu den

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Verkehrsformen der höfischen Gesellschaft, der Kirche und der Geheimbünde. Durch die Instrumente der Rhetorik und Poetik wird das Sprechen von der Welt jenseits ihrer Faktizität zum Gegenstand der gemeinsamen Betrachtung und des Erlebens;61 Philoso¬ phie und Theologie bilden den begrifflichen Grund, auf dem ein Kosmos von höchster Wirklichkeitsdichte in seiner Ordnung wie seiner Fragwürdigkeit ausgebreitet er¬ scheint.

4 Dieses erstaunliche Universum wird durch zwei umfassende Impulse belebt, durch zwei Wissens- und Erfahrungsklammern zusammengehalten. Die eine besteht aus den Modellen menschlichen Verhaltens und Gestaltens, die sich zugleich in der vergegen¬ wärtigten Kultur der griechischen Antike und der beunruhigenden, relativierenden Erfahrung des modernen Selbstbewußtseins und seiner Alternativen des gesellschaftli¬ chen Verhaltens anbieten. Die andere Systemkomponente sind jene Kategorien und deren folgenreiche Konsequenzen, die sich aus Goethes Einsichten in naturwissen¬ schaftliche Vorgänge ergeben. Beide Dimensionen, die anthropologisch-historische wie die genetische, umfassen die Gegenstände und Themen, innerhalb derer das Bewußt¬ sein in der Gestalt Fausts seinen Weg finden und sich zu seiner höchsten Potenz entwickeln muß; aus ihnen ergeben sich die Motive, Bilder, Stil- und Sprachformen, durch die die Stationen dieses Weges bezeichnet und verständlich gemacht werden. Das Phänomen der Antike hatte axiomatisch im Zentrum der Bildungsvorstellungen des 18. Jahrhunderts gestanden; ihr Verständnis war seit Winckelmann, dem großen Philologen Christian Gottlob Heyne und seinen Schülern Friedrich August Wolf, den Übersetzern von Homer und Sophokles, Friedrich Leopold von Stolberg und Johann Heinrich Voss, und den Brüdern Schlegel bis hin zu so einflußreichen Erforschern der griechischen Mythen wie Friedrich Creuzer in seiner Symbolik und Mythologie der alten Völker (1812) weit über die traditionell normative Hochachtung hinaus entwickelt und differenziert worden. Im zweiten Faust, vor allem den zwei zentralen Szenen des Gedichts, der Klassischen Walpurgisnacht und der Begegnung von Faust und Helena, wird die zutiefst problematisierte Antike in ihrer Faszination, ihrer bewundernswerten Größe und ihrer überzeitlichen Potenz als Gegenstand des subjektiven, ambivalenten Erlebens und Reflektierens, als Stachel im Bewußtsein des modernen Menschen, in dichterischen Bildern objektiviert. Die seit je vieldeutige Gestalt der Helena war für Goethe der Schlüssel zur Welt des zweiten Teils; an der zureichenden Ausarbeitung und Verzahnung dieser phänomena¬ len Gestalt mußte alles gelegen sein. »Dieser Gipfel [...] muß von allen Punkten des Ganzen gesehen werden und nach allen hinsehen.«62 Die Vergegenwärtigung der klassischen Substanz geschieht durch historische oder mythische Figuren und Ereig¬ nisse, die im Kanon der bildenden Kunst verfügbar waren, aber hier freilich nicht in ihrem philologisch oder archäologisch gesicherten, wenn auch polymorphen Charakter zitiert werden, dessen griechische Verständnisform die Gelehrten erklären mochten. Wenn Goethe diese mythologischen Gestalten sorgsam nach ihrer sinnlichen Wirksam¬ keit auswählt - »ich hüte mich und nehme bloß solche, die bildlich den gehörigen Eindruck machen«63 -, so behandelt er sie doch mit größter Freiheit; er ergreift

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Elemente der Überlieferung, der Sage, des Märchens oder gar der christlichen Rezep¬ tion und ordnet diese Aspekte innerhalb seiner dichterischen Absicht zu einer Figur, zu deren wesentlicher Funktion es gehört, sich selbst als Bedeutungsgestalt zu explizieren. Diese rhetorische Selbstdarstellung trägt zu dem streckenweise epischen Charakter des Gedichtes bei: die Figuren sind wie die Szenen einander nebengeordnet, »so daß der eine so viel gilt wie der andere, und niemand sich subordiniert und sich um den andern bekümmert«.64 Während der Philologe sagen könnte, er kenne ja die Gestalt etwa des Kentauren Chiron und wisse, was er in der Antike bedeutet habe, will Goethe eine problematische Situation durch eine Figur erhellen, die zwar Aspekte von Chirons mythologischer Existenz aufweist, eigentlich aber eine synthetische Konfiguration ist, der der Name Chiron eine gewisse dichterische Realität verleiht. Zwar sind Philemon und Baucis jenes altertümliche Paar »an der phrygischen Küste«, die Szene im 5. Akt aber spielt »in der neueren Zeit und in einer christlichen Fandschaft«.65 Wie die inhaltlichen und formalen Aspekte der Antike, so sind auch die des naturwis¬ senschaftlichen Wissens Material für das Zitieren und Anspielen, für das Konkretisieren und Organisieren von Problemkomplexen. Die zentralen Kategorien des Goetheschen Denkens, Metamorphose, Polarität und Steigerung, Analogie, Organismus und Entelechie, werden in Faust II zu strukturbildenden Elementen des Gedichtes.66 Darüber hinaus aber bestimmen Form, Absicht und Ergebnis von Goethes Naturerkenntnis die Funktion der poetischen Aussage und Mitteilung: vorzügliche neuere Studien zu diesem höchst wichtigen Verfahren lassen die Fülle von Vokabeln und Metaphern erkennen, die, aus Goethes Schriften zur Naturwissenschaft stammend und Gedanken¬ gänge seiner Farbenlehre, Mineralogie, Meteorologie und Botanik andeutend, die Ordnungsformen des Faustischen Verhaltens zur Welt liefern.67 Hier wie in der Evokation antiker Gestalten will Goethe vor allem die begriffliche Verallgemeinerung, die Ideenstruktur, aus dem konkreten Detail ableiten, das Reale als Evidenz des Typus, das Gesetzmäßige als Ergebnis der erkennenden und ihrerseits bildschaffenden Einbildungskraft. Das Wissen in seiner unabschätzbaren Vielfalt stellt dem Dichter das Material für das fest und engmaschig geknüpfte Bedeutungsnetz seines Werkes zur Verfügung. Zu diesen vorgegebenen und zu integrierenden Stoffen der antiken Überlieferung und der naturwissenschaftlichen Beobachtung und Beschreibung kommen die Gegenstände des eigentlichen literarischen Wissens, zeitgenössische oder fernerliegende dichterische Reminiszenzen, die Verwendung von Inhalten und Ausdrucksmitteln der europäischen und orientalischen Literatur, vor allem aber die souveräne Beherrschung eines überwältigenden Apparates von Versformen und Rhythmen. Vom Madrigal- und Blankvers, von leichten liedhaften Strophen, wie wir sie aus dem Divan kennen, zu Anklängen an Dante in den Terzinen, den zu allerletzt verfaßten barocken herrscherlichen Antithesen der fast 200 Alexandriner des Kaisers und seiner Staatsmänner, zu Helenas Trimetern, den jambischen Fünffüßlern und schließlich den romantischen Reimstrophen der Himmelfahrt Fausts fesseln immer neue Wunderwerke an Rhythmus und Reimkunst die Aufmerksamkeit des Lesers. Faust II ist, wie Horst Rüdiger eindringlich gezeigt hat, ein ungeheures Spiegelwerk weltliterarischer Traditionen.68 Die Lektüre orientali¬ scher Schriften und Calderons bot Goethe zweifellos wesentliche Anregung für die Organisation des Gedichtes:69 gerade die »barbarischen Avantagen« der »modernen« Dichtung70 rechtfertigen stoffliche und formale Kühnheiten, nicht zuletzt die revue-

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artige Szenenfolge, die »mit einer Art von Ballettschritt« gefugt ist. Wie in Calderons Tochter der Luft geht im Faust II die Haupthandlung »ihren großen poetischen Gang«; auch in Faust II sind »die Zwischenszenen, welche menuettartig in zierlichen Figuren sich bewegen, [...] rhetorisch, dialektisch, sophistisch«.71 Geschichtliches, literarisches und naturwissenschaftliches Wissen ist in Faust II so bewußt und kunstvoll eingeschmolzen, daß nur der Blick zurück bis zur Göttlichen Komödie und vorwärts zu den spätzeitlichen epischen Unternehmungen von James Joyce und Ezra Pound die historische Stelle des Gedichtes einigermaßen angemessen abschätzen kann. Seine Größe liegt nicht zuletzt darin, daß hier noch einmal ein Wissensbestand von überschaubarer und geordneter Vielfalt und von konkreter Aussa¬ geresonanz innerhalb eines menschlichen Erfahrungshorizontes und seiner kulturellen Traditionen ausgebreitet und mit den Werkzeugen der genauesten Einsicht dichterisch ausgebreitet wird. In der Folgezeit wurde das Wissen abstrakt, unübersichtlich und eher befremdend als sinnvermittelnd; es verlor jedenfalls jene gesellschaftliche Verbind¬ lichkeit, von der Goethe bei aller diskreten Skepsis gegenüber der Aufnahmebereit¬ schaft und Einsicht späterer Leser überzeugt blieb.

5 Faust II ist ein langsam und mühsam aus einer umgreifenden dichterischen Absicht gefügtes Werk, das nicht etwa Projektionen persönlicher Erlebnisse vermittelt, sondern als Zeugnis eines unablässig kritischen und objektivierenden Bewußtseins in seinen rhetorischen und strategischen Mitteln verstanden werden muß. Wenn die Technik des »Anspielens«, des bedeutungsvollen Zitierens, des Transponie¬ rens, der Entsprechung und der wiederholten Spiegelung von verbalen und gegenständ¬ lichen Elementen den Stilcharakter des Gedichtes annähernd bezeichnet, so soll damit nicht etwa die Belebung und Galvanisierung vertrauter, vielleicht allzu vertrauter Formeln oder Bilder durch systematisches »Verfremden« gemeint sein. Es wird in Faust II vielmehr jedes einzelne und genau bezeichnete Phänomen in seiner Konkretheit in einen Zusammenhang von Handlung, Szene oder Vorgang, von Sprache, Bild und Rhythmus, von Ironie und Fiktion gestellt und dadurch sowohl in seinem Anspruch an den Leser intensiviert als auch begrifflich verallgemeinert. Distanz gegenüber dem Dargestellten wird gewiß schon durch die nahezu unerschöpfli¬ chen und überraschenden Abwandlungen des Stoffes geschaffen, dessen Herkunft aus dem traditionellen Faust-Buch kaum noch ins Gewicht fällt. In der »großen Welt«, die jetzt in fünf Kreisen als Gegenstand der Betrachtung, des Besinnens und der Einsicht in Szene gesetzt wird, gibt es Anlässe genug, die Frage nach dem Verhältnis von Vordergrund und Hintergrund, von Gesagtem und Gemeintem zu stellen; denn jedes Geschehen gewinnt hier erst dadurch seine Bedeutung, daß es als Fiktion, als Kon¬ struktion erkannt wird, die im einzelnen erfunden, als Ganzes aber sich aus sich selbst rechtfertigt. Für die Geschehensfolge der einzelnen Akte gilt, daß der eine sich nicht aus dem anderen herleiten läßt, sondern in sich geschlossen bleibt: Fausts Begegnung mit Helena wird weder an sich noch in seiner Bedeutung durch die Abenteuer der Walpurgisnacht gerechtfertigt, die späteren kriegerischen Ereignisse und deren Folge nicht etwa aus den Erfahrungen, die Faust im 3. Akt gewinnt; selbst die Ideenfolge des

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letzten Aktes wird durch die Belehnung, die im phantasievollen Geschehen des 4. Aktes ausgesprochen wird, zwar gewissermaßen lokalisiert, nicht aber als ihrerseits unwirklich gerechtfertigt. Es stehen Fiktionen nebeneinander, die, wie gesagt, zum Teil Goethes Freude an orientalischen Fabulierformen reflektieren, wesentlich aber ausdrücklich das Gesetz der Kausalität umgehen, wenn nicht suspendieren sollen. Im Begriff der »Phantasmagorie«, den Goethe auf die erste Fassung des Flelena-Spieles anwandte, wird diese pragmatische Kausalität aufgehoben, während Traum- und Fiktionsbilder, in einem eigentümlichen Licht distanziert, ihre Gültigkeit gewinnen.72 Für das Verständnis dieser fiktiven Methode ist Goethes Hinweis auf den sogenannten Doppelschatten bei Rubens wichtig, durch den das »Natürliche« distanziert, das naive Auge überrascht oder getäuscht wird. Daß der Chor »aus der Rolle fällt«, ist ironische Absicht: »[...] seitdem ich Rubens’ Landschaft mit den doppelten Schatten gesehen und seitdem der Begriff der Fiktionen mir aufgegangen ist, kann mich dergleichen nicht irremachen«, gestand Eckermann. Denn nicht die Logik der Umstände, sondern die der fiktiven Intention und ihrer Zusammenhänge bestimmt die Struktur einer Szene: »Das Lied [im 3.Akt]«, fährt Eckermann fort, »mußte nun einmal gesungen werden, und da kein anderer Chor gegenwärtig war, so mußten es die Mädchen singen.«73 Daß die Fiktion im zweiten Teil des öfteren durch »Theater auf dem Theater« vermittelt wird, ist nur eines, wohl das offensichtlichste von vielen Stilmitteln, deren Zweck es ist, Realität zu denaturieren, um sie dadurch zu verallgemeinern, zu objekti¬ vieren und dem kritischen Urteil zu unterwerfen. In diesen Zweckzusammenhang gehören die zahlreichen Vermummungen, Maskierungen und Personifikationen, die, paradox gesprochen, dem Charakteristischen und Vieldeutigen einer Figur, sei es der des Kaisers als Plutus oder des Mephistopheles als Phorkyas, überraschend Gestalt verleihen. Verwandlung heißt auch hier Verwirklichung und Durchführung des Prin¬ zips Metamorphose, nicht etwa eine psychologisch motivierte Täuschung. Wenn diese Vorgänge als Folge von »Magie« verstanden werden, so wird damit ihr rationaler Fiktionscharakter verwischt. Träume, die an entscheidenden Stellen des Gedichtes rückwärts und vorwärts, sowohl resümierend als rechtfertigend auf Kommendes weisen, gehören zu diesen Mitteln der »Verwirklichung« durch Anspielen. Nicht anders ist das scheinbar desillusionierende Aus-der-Rolle-Fallen Mephistos als ein Hinweis auf die vielfältigen Funktionsmöglichkeiten eines fiktiven Sprechens zu verste¬ hen,wie es etwa in der Mummenschanz-Szene in reinster Form geboten wird. Die kommentierenden Hinweise und Anspielungen des Herolds erweitern dort das Selbstdarstellen der Figuren um eine oder mehrere Dimensionen,74 wobei das kuriose Verfahren (etwa des Mephisto-Geizes), die Unzulänglichkeit der Sprache durch panto¬ mimisches Handeln zu kompensieren (V. 5775), nicht etwa ausgeführt, sondern durch die sprachliche Anspielung realisiert wird. Von ähnlich aufschließender Bedeutung sind an vielen Stellen des Gedichtes die Rätselformeln, durch die die gemeinte »Anspielung« doppelt verstellt, doppelt einsich¬ tig oder gewichtig gemacht werden soll. Nicht Verhüllen, sondern Verdeutlichen ist der Zweck aller dieser Formen der Indirektion. Über ihren Charakter als rhetorische Metaphern hinaus wird ihnen der genau ausgerichtete Wert von Allegorie oder Symbol verliehen. Gerade der Begriff des symbolischen Sprechens, der in seiner allgemeinen Verwendung den im Wort enthaltenen Hinweis auf einen »höheren« Sinn vermittelt,

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versteht sich in Goethes Poetik als ein Anspielen nicht auf eine transzendente Sphäre, sondern auf die zwar vielfältige, aber spezifische und charakteristische Funktionsfülle eines Phänomens oder Begriffes. Daß Faust II ein bewußt organisiertes Bezugssystem von symbolischen Aussagen ist, die durch dichterische Anspielungen Goethesche Grundvorstellungen oder »Urphänomene« wie Gold, Sonne, Schlaf, Schleier, Wasser usw. verständlich machen, hat Wilhelm Emrich mit bewundernswerter hermeneutischer Einsicht eindrucksvoll nachgewiesen.75 Wenn in diesem Sinne Faust II als ein Gedicht verstanden wird, dessen Symbolbezüge seine Intention, ja seine »Einheit« vermitteln, so ist es damit eines der reichsten europäischen Sprachwerke, ein Gedicht geradezu über die Sprache, über die Möglichkeiten des vermittelnden Sprechens innerhalb eines umfassend verwirklichten Systems von rhetorischen und poetologischen Darstellungs- und Ausdrucksmitteln.

Wege zum höchsten Dasein

1 Der »erlebte Graus« des frevelhaften Geschehens im ersten Teil wird im Heilschlaf Fausts, bereitet von den Geistern der Natur, allmählich in Stadien der Erinnerung, des Schauens, der Hoffnung und schließlich der Tat in einen Zustand der Entschlossenheit zum reinen ästhetischen, d. h. sinnlich-reflektierenden Verhalten verwandelt. »Da wird kein Gericht gehalten und da ist keine Frage, ob er es verdient oder- nicht verdient habe.«76 So wie der Anfang des Gedichtes wird auch das Ende Mitleid und Erbarmen sein. In strenggefügten Terzinen von unvergleichlicher Expressivität (V. 4679-4727) artikuliert Faust diesen Zustand intensivster Empfänglichkeit: als Mensch, der sich bewußt in der Natur weiß, d. h., der sich der Natur gegenüber zugleich als Wissender und Fühlender verhalten kann, darf er es wagen, »zum höchsten Dasein immerfort zu streben« (V. 4685). Wie des öfteren im Verlauf des Gedichtes wird Faust in diesem erhöhten Zustand »betroffen«; hier vom »Flammenübermaß« (V. 4708) der aufsteigen¬ den Sonne, von deren absoluter Größe er sich schmerzlich überwältigt abwendet, um in der Überfülle von stürzendem Wasser, dem eigentlichen Element des Lebens, und schäumender Luft die gestaltete Verwirklichung des Lichtes, des Ineinanders von Dauer und Wechsel, »bald rein gezeichnet, bald in Luft zerfließend« (V. 4723), im Bild des Regenbogens zu erfahren. Alles Erleben, »alles menschliche Bestreben« wird in diesem Zustand höchster sinnlicher Bereitschaft (»duftig kühle Schauer« - V. 4724) in spiegelnden, vielsagenden Bildern, am »farbigen Abglanz«, epiphanisch vermittelt. Das Begreifen der im Erleben widergespiegelten Welt ist mit diesem Bild als Aufgabe und Erfüllung der höchsten Daseinsform postuliert. Die objektive und konkrete Wirklichkeit und ihre Aussagen, nicht aber, wie im ersten Teil, Art und Dimension seines subjektiven Empfindens, sind von jetzt an die Gegenstände und Inhalte von Fausts Erleben und Reflektieren. Was sich in den folgenden Akten ereignet, ist eine Kette von Bewußtseinszuständen, die in Fausts Gegenwart oder, oft genug an entschei¬ denden Stellen ohne ihn, als Stufen einer unaufhörlich sich steigernden Existenz aneinandergefügt werden. Alle Gegenstände, Figuren, Ereignisse und Formeln des Denkens und Sprechens werden in diesem fortschreitenden Prozeß in ihren Möglich-

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keiten und dialektischen Spannungen als These und Gegensatz, als Vernunft und Irrtum, als Harmonie und Widerspruch, als Schönheit und Schreckbild vorgestellt. Nichts Abstraktes wird künftig verkörpert, sondern das Wirkliche in seinen vielfältigen Beziehungen erhellt. Mephistopheles als Gestalt und Prinzip der Dämonie überhaupt bietet in jeder Phase dieses Prozesses die Negation des jeweiligen Faustschen Wollens und Wissens - der Narr neben dem Weltmann Faust in der Welt des Kaiserhofes, das Prinzip des Häßlichen im Bereich der Schönheit, das Böse im Bezirk des Sittlichen. Die kaiserliche Pfalz - ursprünglich lokalisiert als der Hof des Kaisers Maximilian I. (1459-1519) - ist der Ort des Autoritätsverlustes, des staatlichen Verfalls und des radikalen Egoismus, einer »Gesellschaft« in ihrer Fragwürdigkeit überhaupt: »Das Land ist ohne Recht und Gerechtigkeit, der Richter selber mitschuldig und auf der Seite der Verbrecher, die unerhörtesten Frevel geschehen ungehindert und ungestraft.«77 Hier weist Mephisto in seiner Rolle als Narr auf einen Schatz - nämlich Gold -, der im Boden verborgen liegt und gewonnen werden muß. Ungeduldig will der Kaiser bis zur Gewinnung die Zeit in fröhlichem Müßiggang vertun; die Szenen des »Mummenschan¬ zes« gehören zu den anspielungsreichsten des Gedichtes. Wilhelm Emrichs eingehende Deutung hat ihren Sinn zuerst aufgeschlossen. Auch hier zeigen, nach dem Vorbild des Römischen Carneval von 1789, Masken Wesentliches an: In diesem »heiteren Fest« werden durch zahlreiche Gruppen von allegorischen Gestalten Formen des Schaffens vorgestellt und die Voraussetzungen für eine im echten Sinne dem »Schein« zugeord¬ nete Kunst abgeschätzt. Der Genius in der Gestalt des Knaben Wagenlenker, wie Mignon in den Lehrjahren und Euphorion in einer späteren Szene ein höchst rätselhaf¬ tes Wesen, verteilt aus seiner geheimnisvollen Kiste Gold an die Menge, die es gierig ergreift, aber davon verbrannt wird; nur an einzelnen bleibt das »Flämmchen« der Inspiration haften. Faust, der als Plutus, d. h. als souveräner Dichter, mit dem Knaben auftritt - beide als Vertreter des Reichtums an Geist und schöpferischer Kraft -, verweist ihn aus der verworrenen Welt »fratzenhafter Gebilde« (V. 5692) zurück in seine ihm angemessene Sphäre. »Nur wo du klar ins holde Klare schaust, / Dir angehörst und dir allein vertraust, / Dorthin, wo Schönes, Gutes nur gefällt, / Zur Einsamkeit! - Da schaffe deine Welt« (V. 5693-96). Der Kaiser, nun in der Maske des großen Pan, des Herrschers über die Welt, bückt sich, um in den lebendigen Schatz von Plutus’ Truhe zu schauen und dort flüssiges Gold, das sich zu Kronen, Ketten und Ringen bildet, zu entdecken; sein Bart fängt Feuer, fällt von ihm ab und demaskiert ihn. Der brennende Bart aber fliegt zurück und droht, ihn und den Maskenhaufen zu verbrennen. Plutus löscht das Feuer. Zwar wird die Machtgier des Kaisers durch das aufflammende Gold bestraft; er kann aber doch in der folgenden Szene von einer Vision berichten, die er in der »glühnden Sphäre« (V. 5989) gehabt hat. Als Fürst von »tausend Salamandern« (V. 6002) haben ihm »der Völker lange Zeilen« (V. 5998) gehuldigt. Diese im »Flammengaukelspiel« (V. 5987) vorgestellte, freilich nicht als echt begriffene Herrschaft könnte durch die heroische Verbindung mit einem Element, dem des Wassers, verwirklicht werden: »[...] weil jedes Element / Die Majestät als unbedingt erkennt« (V. 6003f.). Durch die immensen Räume und Figuren dieses Bereiches mag er den Weg bis in den Olymp finden. Der Kaiser bleibt im »Schein« der trügerischen Existenz der Gesellschaft befangen. Mephistopheles, der, »unmittelbar aus Tausend Einer Nacht«, an erfinderischer Fruchtbarkeit »Scheherazaden« gleicht (V. 6032 f.),

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macht die unwandelbare Leere dieser Lebensform durch seine »Erfindung« des Papier¬ geldes nur um so deutlicher. Hofstaat und Kaiser können ihr unwürdiges, jetzt durch den Kredit inflatorisches Leben weiter betreiben; Mephistopheles, der Narr allein, will sein Geld im wertbeständigen Grundbesitz anlegen. Hier nun, in diesem vieldeutig orchestrierten Phantasiespiel von Schein und Authenti¬ zität, von echter und falscher Leidenschaft, von vermeintlicher und wahrer Größe, soll Faust zum Vergnügen des Kaisers das Abbild höchster Schönheit, Helena, als Erschei¬ nung dem Hof präsentieren. Mephistopheles, machtlos unter dem antiken »Heiden¬ volk«, weist Faust auf den Weg zu den »Müttern«, die im »Grenzenlosen« (V. 6240) und »Leeren« (V. 6251) zu finden sind. Aus diesem raum- und zeitlosen »Nichts« (V. 6256), diesem Reich, in dem die Bilder aller Kreaturen, »regsam, ohne Leben« (V. 6427-30), ewig umgestaltet und bereitgehalten werden, wird er, indem er mit dem flammenden Goldschlüssel der Phantasie den mythisch-geheimnisvollen Dreifuß (V. 6283) berührt, Helena und Paris zur Schaustellung heraufführen. Die in ihrer Flachheit verständnislose Gesellschaft, versammelt vor der magisch hinge¬ zauberten Bühne und ihrem Tempelbau, erlebt nun, kommentiert vom Astrologen und dem Souffleur Mephistopheles, Fausts Berührung des »aus hohler Gruft« (V. 6423) aufgestiegenen Dreifußes und das pantomimische Spiel der »Geister« von Paris und Helena. Die zwei sind hier in ihrer konventionellen mythologischen Bedeutung zu verstehen, als Figuren in einer zur Formel gewordenen Situation, als Schönheit im jugendlichen Bereich. Helena ist hier durchaus noch nicht die vieldeutige historische Gestalt des 3. Aktes. Die Gesellschaft verrät ihre Leere in oberflächlichen, aber charakteristischen Äußerungen zu einem Auftritt, der leichthin als ungefährlich¬ künstliches Schäferspiel (V. 6509) bagatellisiert wird. In steigender ekstatischer Verwirrung und Vermessenheit will Faust die magisch¬ bildhafte Gestalt der Schönheit, der er, »im Priesterkleid, bekränzt, ein Wundermann« (V. 6421), »Neigung, Lieb’, Anbetung, Wahnsinn« zollt (V. 6500), verwirklichen; ermutigt durch seine Erfahrung von »Graus und Wog’ und Welle der Einsamkeiten« (V. 6551 f.) auf der Fahrt zu den Müttern, befangen im verwirrenden Dilemma von Einbildung und Wirklichkeit, wagt er, Helena zu fassen und den Jüngling Paris mit dem Schlüssel zu berühren, der ihm Gewalt über die Erscheinungen gibt. Noch nicht genügend gereift, zu begreifen, daß die Idee der erhabenen Schönheit nicht unvermittelt in die Wirklichkeit umgesetzt werden kann, wird er von einer Explosion zu Boden geworfen. »Die Geister gehen in Dunst auf«; von Mephistopheles fortgetragen, ver¬ sinkt Faust in tiefen Schlaf. »Finsternis« und »Tumult«, symbolisch die Summe aus dem Vorhergegangenen andeutend, beschließen das Geschehen. Was dieser weiträumige 1. Akt des Gedichtes in geistvollen Anspielungen vermitteln will, ist eine noch vorläufige Stufe des Verhältnisses von Realität und Begriff, von Wirklichkeit und den vieldeutigen Zeichen und Bildern, die diese Wirklichkeit erfahr¬ bar machen könnten. Dieses Verständnis kann nur im Erleben der Funktionsweisen der Natur, nicht aber in metaphysisch-ästhetischer Spekulation gewonnen werden. Im gesellschaftlichen Verhalten müßte ein solches Verständnis sich bewähren und könnte, im Nachvollzug der klarsten und reichsten Einsichten in das Wesen der Schönheit, zum gestalteten Bewußtsein, zum höchsten Dasein führen. Wenn Schönheit das aussage¬ reichste Zeichen dieser menschlichen Verständnis- und Gestaltungsfähigkeit ist, so wird hier ihr im strengen Sinn als »Schein« zu verstehender Charakter im rituellen

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unverbindlichen Verkehr des Hofes, jeder Gesellschaft im Stadium illusionär verstan¬ dener Werte, als Schein ohne Substanz, als Form ohne Verständnis für ihre Notwendig¬ keit, ohne Willen zum produktiven Handeln, also in seiner prinzipiellen Negativität gezeigt. Als folgenreich erweist sich diese Problematik der Schönheit im leidenschaft¬ lich beunruhigten Geist Fausts, der hier noch meint, das Bild, die Idee, die Vorstellung von authentischer Schönheit und Größe unvermittelt, d. h. ohne eine zureichende und sichernde Erfahrung der unendlich aussagefähigen Natur, in die Wirklichkeit umsetzen zu können. Die Scheinexistenz der Gesellschaft und sein eigener, vermessener Griff nach dem schönsten Schein sind die Erfahrungen, die Faust, nach Wiederherstellung durch Ohnmacht, Schlaf und Traum auf fernere Wege des Suchens verweisen, zunächst auf den Weg zur Gestalt, zur Person der Helena in ihrer historischen Existenz. %

2 In Fausts ehemaligem Studierzimmer wird zu Beginn des 2. Aktes in einem übermütig¬ ironischen Gespräch zwischen Mephistopheles und dem »Baccalaureus«, dem »Lor¬ beergekrönten«, das Verhältnis von Begriff und Wirklichkeit oder, auf den Sinn des Aktes im Ganzen bezogen, die Problematik der »Schöpfung« von Wirklichkeit aus der Idee präludiert. Als Baccalaureus erscheint in äußerster Folgerichtigkeit derjenige Geistertyp, der sich an den mephistophelischen Reflexionen des ersten Teiles herange¬ bildet hat, die damals dem Schüler den totalen Zweifel, die Relativität aller ethischen Positionen, den gewissenlosen Gebrauch der Sprache und die Ambivalenz alles Wissens als nützliche wissenschaftstheoretische Voraussetzungen empfahlen. Mit »idealisti¬ scher« Arroganz kann er verkünden: »Dies ist der Jugend edelster Beruf! Die Welt, sie war nicht, eh’ ich sie erschuf; Die Sonne führt’ ich aus dem Meer herauf; Mit mir begann der Mond des Wechsels Lauf; Da schmückte sich der Tag auf meinen Wegen, Die Erde grünte, blühte mir entgegen. Auf meinen Wink, in jener ersten Nacht, Entfaltete sich aller Sterne Pracht. Wer, außer mir, entband euch aller Schranken Philisterhaft einklemmender Gedanken?« (V. 6793-6802)78 Die zentrale Figur dieses Aktes ist freilich weder Mephistopheles noch Faust, sondern das im Laboratorium künstlich hergestellte Wesen des Homunculus. Noch 1828 war geplant, das »chemische Menschlein« »den leuchtenden Glaskolben« zersprengen und als »bewegliches, wohlgebildetes Zwerglein« auftreten zu lassen, in dem »ein allgemei¬ ner historischer Weltkalender enthalten sei« (Paralipomenon 73).79 Begriffen werden soll dieses Zwitterwesen, wie Goethe später zu Riemer äußerte, als »reine Entelechie«, als »Geist, wie er vor aller Erfahrung ins Leben tritt; denn der Geist des Menschen komme schon höchst begabt an, und wir lernten keineswegs alles, wir brächten schon mit«.80 »Ihm fehlt es nicht an geistigen Eigenschaften, / Doch gar zu sehr am greiflich

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Tüchtighaften« (V. 8249 f.). Sein Bemühen, sich zu »verkörperlichen« (V. 8252), geht auf in der allgemeinen Tendenz zur Realisation, die genetisch wie philosophisch und ästhetisch im Laufe dieses 2. Aktes in unerschöpflicher Gestaltenfülle projiziert wird. Die Bilder, Begegnungen und Gesten, allesamt Funktionsmetaphern des Entstehens, der Verwirklichung und der Mutation im Natürlichen wie Geschichtlichen, sind in ihrem Aussagereichtum kaum zu überschauen; ihre jeweilige Rolle und Bedeutung kann nur in einem genauen Lesen der sprachlichen und rhythmischen Formen und Anspielungen annähernd begriffen werden.81 Mit den »holzschnittartigen Späßen«82 des ersten Teiles hat diese »tolle Nacht«83 nichts mehr gemein: während die erste Walpur¬ gisnacht »eine Art von infernalischem Schlauch, Behältnis, Sack« bieten sollte,84 ist die »klassische« eine kunstvoll gefügte dichterische Konstruktion. Der erste Anteil der »Phiole« am tätigen Schaffen - »Was gibt’s zu tun?« (V. 6901) - ist seine hellseherische Wiedergabe jener »lieblichsten von allen Szenen« (V. 6920), die Begegnung von Leda und dem Schwan, der Zeugung Helenas im Träumen Fausts, der, von den Erlebnissen des letzten Aktes paralysiert, in seinem ehemaligen gotisch¬ romantisch gewölbten Arbeitszimmer ruht. In den »tausend und abertausend Formen« der klassischen Walpurgisnacht will Homunculus in heroischer Anstrengung Existenz gewinnen. »Klassisch« kann diese Nacht im Sinne des alten Goethe insofern genannt werden, als sie Gestalten aus einem mythischen Bereich archaischer Herkunft in einer Aura des vieldeutigen Pathos, des Tiefsinns, der grotesken Überhöhung versammelt - Gestalten, die, jetzt durchaus unklassisch, aus einem Wissen um ihren Ort in der verändernden, schöpferischen oder auch zerstörenden Zeit handeln. Die Ereignisse dieser Nacht bieten die »Zeichen« für die Erfahrungen von Verwirklichung und Verwandlung, von Teilnahme an genetischen und historischen Prozessen, durch die die drei, Faust, Mephistopheles und Homuncu¬ lus, jeder in den Grenzen seiner ihm zugewiesenen Funktion, ein differenziertes historisches Selbstbewußtsein gewinnen. Wie Faust nach dem »höchsten Dasein«, so strebt Homunculus nach dem »Unerreichlichen« (V. 8205); überall hofft er aufgenommen zu werden, überall Leben mitzuerleben. Der Ungeduldige wird warnend verwiesen auf das Gesetz des langsamen Reifens, der Entwicklung, der Wandlung. Sein Tod im Zerschellen zu Füßen der Meeresnymphe Galatea ist Bestätigung der notwendig irrealen Existenz dieser Figur reiner Möglich¬ keit; darüber hinaus aber ist dieser Tod die Bestätigung seines »herrischen Sehnens« (V. 8470), des Selbstaufgebens in einem Vorgang der liebenden Vereinigung mit der Lebensfeuchte (V. 8461), jenem Element des Wassers,85 das in diesem Akt das eigentlich Schöpferische ist, »mit herrlichem Getön« (V. 8463), überstrahlt vom Leuchten und Flammen des »feurigen Wunders« (V. 8474), des »Eros, der alles begonnen« (V. 8479). Sein Eingehen in die hier magisch vereinten Elemente ist eine Verwirklichung in der Natur als der Voraussetzung einer »Verkörperlichung« seiner Möglichkeiten.86 Homunculus führt Faust und Mephistopheles zunächst durch den Reichtum an Figuren und Formen, die in der Walpurgisnacht in unablässigem Verwandeln, in unaufhörlicher Steigerung sich zauberhaft darbieten. Jeder der drei Wanderer geht bald seinen eigenen Weg; alle nehmen teil an dem unerhörten Schauspiel der Schöpfungsnacht. Mephisto¬ pheles ist zwar gegenüber Homunculus im Nachteil, »der ihm an geistiger Klarheit gleicht und durch seine Tendenz zum Schönen und förderlich Tätigen so viel vor ihm voraus hat«,87 spielt aber seine Rolle als »des Chaos vielgeliebter Sohn« (V. 8027). In der

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mythischen antiken Landschaft bewegt er sich einigermaßen unbehaglich durch die Wirren der Nacht. Seine Begegnungen mit den Fabelwesen, Greifen, Ameisen, Sphin¬ xen, Sirenen, dem Feuerdämon Seismos, vampirischen und gespenstischen Larven und anderen »zitierten« Erscheinungen, führen ihn schließlich zu den Phorkyaden, des Chaos Schwestern (V. 7990), einem radikal häßlichen »Dreigetüm« (V. 7975), das als Urphänomen von sublimer Art den Anteil an Dissonanz darstellt, ohne den Harmonie und Schönheit nicht gedacht werden können. Auf diesem Gang zur höchsten Schönheit verkleidet sich Mephistopheles, der an der echten Metamorphose, der Verwandlung, nicht teilnehmen kann, als häßlichste Mißbildung. Zugleich nimmt er jenen hermaphroditischen Charakter an, der auch in anderen Gestalten Goethes die dämonische Einsicht in die schöpferische Spannung der Gegensätze, des Genialischen, des Sentimentalisch-Reflektiven, ja der Modernität überhaupt andeutet. »Daß Schönheit nicht ohne Häßlichkeit, nicht ohne Chaos, nicht ohne ungeheure Vorzeit, vergeistigte Würde, Erhabenheit und das heißt für das klassische Denken nicht ohne Moderne und Romantik sein kann, ist die Lehre, die Goethe in der Phorkyasverwandlung [...] darstellen und aufzeichnen wollte.«88 Der Weg Fausts ist der eines traumwachen Beobachters der, erstaunt, reflektierend und instinktiv zielbewußt, das »höchste Gebilde der Schönheit«, das immer vielsinnigere Phänomen der Helena, in sich aufzunehmen sucht. Auch sein Bewußtsein lernt das Hintergründige von Gestalten und Ereignissen zu begreifen. Neben Mephistopheles tritt er vor die Sphinxe, die prähistorischen Vertreter von Permanenz und Gesetzmä¬ ßigkeit, und will von hier aus das »Wunder« seiner Initiation in die Geschichtlichkeit erleben: »Wie wunderbar! das Anschaun tut mir G’nüge, Im Widerwärtigen große, tüchtige Züge. Ich ahne schon ein günstiges Geschick; [.••] Vom frischen Geiste fühl’ ich mich durchdrungen; Gestalten groß, groß die Erinnerungen.« (V. 7181-90) Er wird an Chiron verwiesen, den Rastlosen, dauernd bewegten Zeugen der fließenden historischen Zeit, als Kentaur ein Mischwesen, einst Teilnehmer an den Abenteuern der Argonautenheroen und Bewunderer des Herkules, jenes »schönsten Mannes« (V. 7397). Am unteren Peneios, der Sphäre der vegetativen Feuchte, erinnert sich Faust des Leda-Traumes, jetzt freilich nicht im Zustand des unterbewußten Höffens, sondern in Entschlossenheit - »immer weiter strebt mein Sinn« (V. 7291) -, die »schönste Frau« (V. 7398), die »hohe Königin« (V. 7294), die »einzigste Gestalt« Helenas »ins Leben [zu] ziehn« (V. 7439). Auf Chirons Rücken wird er zur Sibylle Manto geführt, der Seherin, die, im Ewigen verharrend, Faust ins »Überzeitliche, in die Unterwelt«,89 weisen soll. Entgegen Chirons Meinung, Faust wolle Helena »mit verrückten Sinnen« aufsuchen (V. 7484), bekennt Manto: »Den lieb’ ich, der Unmögliches begehrt« (V. 7488). Die Begegnung, die in der Unterwelt zwischen Faust und Helena sich ereignen soll, hat Goethe nicht ausgeführt. »Der Hades tut sich auf, Prosperina wird angegan¬ gen«, heißt es 1826 in einer Skizze zum 2. Akt (Paralipomenon 86); noch ausführlicher wird die Situation der Begegnung 1830 in einem Entwurf zum »Prolog des dritten Akts« erwogen (Paralipomenon 91). Aber »Fausts Rede an die Proserpina«, meinte

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Goethe Eckermann gegenüber, »um diese zu bewegen, daß sie die Helena herausgibt; was muß das nicht für eine Rede sein, da die Proserpina selbst zu Tränen davon gerührt wird!«90 In einer Formel von überlegener Hintergründigkeit faßt Goethe gegenüber Felix Mendelssohn den geschichtlichen Sinn der Klassischen Walpurgisnacht zusammen: »Dies Gedicht ist hochsymbolisch intentioniert. Denn es muß sich in der Weltge¬ schichte immerfort wiederholen, daß ein Altes, Gegründetes, Geprüftes, Beruhigendes durch auftauchende Neuerungen gedrängt, geschoben, verrückt und wo nicht vertilgt, doch in den engsten Raum eingepfercht werde. Die Mittelzeit, wo der Haß noch gegenwirken kann und mag, ist hier prägnant genug dargestellt, und ein freudiger, ungestörter Enthusiasmus lodert noch einmal in Glanz und Klarheit hinauf. «91

3 Wie die früheren Akte so steht auch der dritte nicht in einem äußerlichen, wohl aber in einem immanent dialektischen Kausalnexus zum vorhergehenden und folgenden. Die Gestalt Helenas, die im 1. und 2. Akt zuerst in ihrer Funktion als Geschöpf der Einbildungskraft ohne Bezug auf ihren notwendigen Zusammenhang mit der konkre¬ ten Wirklichkeit, in der Walpurgisnacht als erfahrener, aber nicht ausdrücklich darge¬ stellter Mythos bildender und wirkender Naturvorgänge erlebt wurde, wird im 3. Akt in ihrer vollendeten Größe und Schönheit, als historisches Ereignis, im modernen, zugleich gefährdeten und herausfordernden Bewußtsein dauernd produktiv. Daß dieses Bewußtsein die gesamte Bedeutungsspanne des Schönen, und zwar in der umfassenden Sicht der Modernität mitsamt dem Häßlichen und Bösen als Aspekt des Schöpferi¬ schen, einschließt, gehört zu den großartigen Themen der Walpurgisnacht. Klassisches und Romantisches wird hier nicht etwa kontrastierend gesetzt, sondern als Totalphäno¬ men zusammengesehen, und zwar im Hinblick auf den nun zu explizierenden Charak¬ ter der Helena in ihrer geschichtlichen Unmittelbarkeit. Es mußte Goethe daran liegen, daß schon in der Walpurgisnacht »das Klassische und Romantische anklingt und zur Sprache gebracht wird, damit es, wie auf einem steigenden Terrain, zur Helena hinaufgehe, wo beide Dichtungsformen entschieden hervortreten und eine Art von Ausgleichung finden«.92 Noch bestimmter als im vorangehenden Akt wird jetzt durch gerade in ihrer totalen Fiktionalität unmißverständliche Ereignisse der Raum der Kunst, der Raum der höchsten schöpferischen Intensität, durchschritten. Als dem »Hauptstück« des ganzen Gedichtes hat sich Goethe immer wieder diesem erstaunlichen poetisch-philosophi¬ schen Gebilde zugewandt. Denn wenn die Evokation der Schönheit als höchst poten¬ zierter Projektion des Lebens Gang, Sprache und Symbolwelt des Kommenden bestimmt, soll dieses Urphänomen nicht etwa mit den Ausdrucksmitteln eines klassizi¬ stischen Pathos, der edlen Größe linearer Reinheit Winckelmannscher Herkunft darge¬ stellt werden, sondern, ausdrücklich zutiefst ambivalent, als ein von Mephistopheles inszeniertes unerschöpflich »fabulierendes« Zauberspiel.93 Denn hier enthüllt und spielt Mephistopheles seine eigentliche Rolle, die weder jetzt noch früher unmittelbar zerstö¬ rerisch, sondern problematisierend ist. Am Ende des Aktes ist er bereit, souverän, riesenhaft aufgerichtet, sein an sich schon reflektives Werk noch einmal zu »kommen-

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tieren«, noch einmal den Wirklichkeitscharakter des Gezeigten in Frage zu stellen und das Ganze, »insofern es nötig wäre«, als eine sublime dichterische Projektion zu bestätigen. Von diesem Spiel wird in seinem Fortgang des öfteren in musikalisch-opernhaften Formeln und Formen gesprochen, Hinweise auf den barocken und tragisch-dynami¬ schen Charakter auch dieses Teils des Welttheaters, das im Gedicht ausgebreitet wird. Helena selbst tritt nicht, wie im ersten Entwurf, als die theatergeschichtlich eindeutig vorgeformte Heldin vor uns, sondern als eine Gestalt, die in jedem Sinn gefährdet und von unheimlichen Elementen bedroht ist. Neben ihr handelt, verwirrend, auflösend und drohend, Mephistopheles in der dem nordischen Widergeist entsprechenden Verkleidung äußerster Häßlichkeit, als eine »grause Nachtgeburt« (V. 8695). Der räsonnierende Chor spricht im jambischen Trimeter, dem Vers der hohen Tragödie, von Schönheit und Ruhm, von Gefahr und Treue, wird aber von Mephistopheles aufs schärfste an die Herkunft der Chormädchen aus dem Reich der Toten erinnert. Auch Helena darf nicht vergessen, daß ihre eigene Existenz mythischer Art ist, daß ihr Anspruch auf Geschichtlichkeit in ihrem eigenen Bewußtsein erst gesichert, verbürgt und schließlich als Gegenwart überwunden werden muß. Als Figur der höchsten Schönheit wird sie vom Chor besungen; vergegenwärtigt aber kann die zeitlose Gestalt nur werden, indem sie ihre eigene archaisch-mythische Welt verliert und in eine neue, historisch konkrete Welt eintritt. Diese Welt ist hier die des vierten Kreuzzuges, in dem im dreizehnten Jahrhundert fränkische Ritter den Peloponnes unterwarfen und dort ihre Burgen erbauen ließen. In Mephistopheles’ Schilderung jener Zeit, ihrer Sitten und ihrer kunstvoll-romantischen Bauwerke, wird auch von Faust gesprochen, dem »Her¬ ren« (V. 9005f.), seiner »Großheit« (V. 9016), seiner hohen Bildung. In diese Sphäre sublimer Kultur und ritualisierter Empfindungen, in eine ausdrücklich gewählte neue Existenzform rettet sich Helena, von Mephistopheles vor dem scheinbar herannahen¬ den Gatten Menelaos gewarnt; denn: »Unteilbar ist die Schönheit; der sie ganz besaß, / Zerstört sie lieber, fluchend jedem Teilbesitz« (V. 9061 f.). Hier nun, nicht mehr in der antiken Tempelordnung, sondern in »reichen phantasti¬ schen Gebäuden« des Mittelalters, in einer hellen, bunten, lebendigen Gegenwart, begegnen sich Faust und Helena, die nordische Gesinnung und die »wunderbare im Süden« (V. 9225). Angesprochen von Helena (V. 9356), bietet Faust ihr »treue Widmung« (V. 9359); er huldigt der »herrlichen Gestalt« (V. 9352) als »Verehrer, Diener, Wächter all’ in einem« (V. 9364), als Mitregent ihres »grenzunbewußten Reichs« (V. 9363). In einfachem und doch ganz in sanghafter Sprache bindendem Reimspiel erfahren sie, »Schulter an Schulter, Knie an Knie, Hand in Hand« (V. 9403 f.), das Glück des erfüllten Augenblicks: »Vergangenheit sei hinter uns getan!« (V. 9563). Die immer Unstete, immer Treulose, immer Vieldeutige, hier gewinnt sie Dasein in Gegenwart, Treue und Selbstbewußtsein. Der verwegene Versuch Mephistopheles’, durch Hinweis auf das Herannahen von Menelaos, dem Gatten Helenas und Herrscher über Sparta, »widerwärtig« zu stören, kann Faust nicht verwirren: »[...] leeren Hauchs / Erschüttere du die Lüfte. Hier ist nicht Gefahr« (V. 9439 f.); die historische Eroberung des Peloponnes leitet über zur Schilderung der Landschaft im Zentrum dieses Gebietes, dem Arkadien des goldenen Zeitalters, das zunächst von Faust evoziert, dann aber als träum- und märchenhafte Innenwelt, unendlich reich an Natur, Geist und Kunst, von Mephistopheles konstitu-

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iert wird. Es ist die Landschaft, in der sich der »Sprung« Euphorions »von dem Vater zu der Mutter« (V. 9600) ereignet,94 sein geniales Wachsen, die Sorge der Eltern um dessen leidenschafliches Übersteigen aller Formen, schließlich der Substanz des Lebens selbst, in einem Tod aus Sehnsucht nach Wandlung und in dem Wagnis seiner Erfüllung jenseits aller Formen zeitlicher Ordnung. Abgelöst vom scheinbar gesicherten Dasein Fausts und Helenas - nicht etwa als deren klassisch-romantische »Synthese« -, folgt Euphorion dem Zwang zur äußersten Hin¬ gabe an eine maßlose Existenz im Geist und in der Kunst: er wagt sich in Sphären des Erlebens, die jenseits aller Lebensfähigkeit liegen. Goethe hat in der Euphorion-Szene und dem abschließenden Trauergesang eine Apotheose Byrons bieten wollen: Byron, der 1824 als Teilnehmer am Freiheitskampf der Griechen in Missolunghi starb, schien ihm »das größte Talent des Jahrhunderts«; doch er »ist nicht antik und ist nicht romantisch, sondern er ist, wie der gegenwärtige Tag selbst«.95 Wichtiger aber als jeder aktuelle Bezug auf Byron ist die ausdrücklich allegorisierende Verwendung seiner Existenz für das Verständnis Euphorions,96 des Wesens, durch das die letzten Spannun¬ gen des Schöpferischen verdeutlicht werden, die heroische Geste einer nur momentan möglichen Verwirklichung des höchsten Wollens im Künstler. Wie der Knabe Wagen¬ lenker muß auch Euphorion sich vollenden, indem er »sein eigenst Gut verschwendet« (V. 5575). Sein tragischer Tod bedeutet für ihn selbst, wie für Faust und Helena, das Ende eines »höchsten Augenblicks«: »Soll immerfort das Übermaß / Das Allerherrlich¬ ste zerstören?« (Paralipomenon 130). Sein Kleid, Mantel und Lyra hinterläßt er, »Poeten einzuweihen«, als Signatur des Dichterischen überhaupt. Helena muß dem Knaben nachfolgen und in Persephones Reich zurückkehren. Das ergreifende Gesche¬ hen hat das »alte Wort« bestätigt, »daß Glück und Schönheit dauerhaft sich nicht vereint« (V. 9940). In einer Geste von tiefstem symbolischen Sinn umarmt sie Faust »das Körperliche verschwindet, Kleid und Schleier bleiben ihm in den Armen«. Das oft evozierte, hier besonders bedeutsame Bild des Schleiers weist auf die höchste Stufe der Vergegenwärtigung des Schönen.97 Der Chor muß Helena folgen; sein Klagelied erinnert an die Herkunft aus dem Reich der Natur: »So verteilen wir uns Schwestern, nicht zum Scheiden, zum Begegnen / Ewig auf- und niedersteigend, suchend dieses Landes Raum« (Paralipomenon 197). Die Gestalten werden in ihr Element zurückgewiesen; in den elementaren Vorgängen der Natur, im Fließen, Blühen und Reifen müssen sie, die nie »Persönlichkeit« hatten, jetzt aufgehen: »Ewig lebendige Natur / Macht auf uns Geister, / Wir auf sie vollgültigen Anspruch« (V. 9989-91). Die schon erwähnte abschließende Geste, mit der sich die Maske Phorkyas als Mephistopheles zu erkennen gibt, will zweifellos das hier dargestellte »Schöne« als in der Kunst verwirklicht, ja als nur im Kunstwerk zu verwirklichendes Phänomen bezeichnen. Denn seit jenem dichterischen Entwurf um 1800, die Gestalt der Helena als den bedeutsamen Drehpunkt der Fk^-Dichtung, ihr Geschick als »ernsthafte Tragö¬ die« zu skizzieren, bis zur Vollendung des 3. Aktes ein Vierteljahrhundert später hatte sich Goethes Verhältnis zur Antike zwar nicht grundsätzlich geändert, aber doch im Kontext der geistigen und kulturpolitischen Wandlungen seit der Jahrhundertwende erweitert und vertieft. Er erinnert des öfteren daran: Seit sechzig Jahren sei er der Helena »nachgeschlichen«98. Seine anfänglichen Bedenken gegenüber Schiller, die reine Gestalt der Helena müsse durch die »barbarische« Magie des Mephistopheles kontami-

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niert werden," wurden resolut gerade durch die ausdrückliche Einbeziehung des Magisch-Unheimlichen in die Person der Helena zerstreut. Die Mächte der Unterwelt bestimmen künftig ihr Erscheinen wie ihr Verschwinden und damit den Charakter der durch sie realisierten Schönheit. Das »Klassische« hatte offensichtlich im Durchdenken der »romantischen« Erfahrun¬ gen eine historische Dimension gewonnen, durch die Goethes frühere Geschichtsskep¬ sis entschieden modifiziert wurde: Was im Helena-Akt entfaltet wird, ist »das erste große, durch die Vergangenheit des Deutschtums selbst geschaute Bild der Antike«.100 Die adäquate dichterische Bewältigung dieses enorm komplizierten historischen Vor¬ ganges war kein leichtes Unternehmen: »Das Werk [...] ist so seltsam und problema¬ tisch, als ich je etwas geschrieben habe. [...] Das Merkwürdigste bei diesem Stück ist, daß es, ohne den Ort [d.h. die Landschaft des Pelopennes] zu verändern, gerade dreitausend Jahre spielt, die Einheit der Handlung und des Orts aufs genauste beobach¬ tet, die dritte jedoch phantasmagorisch ablaufen läßt.«101 Darüber hinaus aber war der im Jahrzehnt der Weimarer »Klassik« so apodiktisch, ja doktrinär geforderte ästhetische Zugang zur »Bildung« jetzt durch eine wachsende Bereitschaft zur pragmatischen Bewährung im gesellschaftlich-verantwortlichen Han¬ deln vertieft worden. »Es ist Zeit«, so konnte Goethe 1827 schreiben, »daß der leidenschaftliche Zwiespalt zwischen Klassikern und Romantikern sich endlich ver¬ söhne. Daß wir uns bilden, ist die Hauptforderung.«102 Ein seit langem behauptetes humanes Bildungsziel wird jetzt dadurch erweitert, daß es darauf ankomme, »alles in seinem wahren, ethisch-ästhetischen Werte« zu schätzen, »das Älteste wie das Neu¬ ste«.103 Innerhalb dieses historisierten und aktivierten Horizontes muß auch Fausts Bewußtsein eine Stufe höherer Einsicht erreichen: Von Mephistopheles, dem großen modernen Geist, veranlaßt und auf den Weg gewiesen, hat er im »Traum vom schönen Leben«104 begriffen, daß das Antike, die reinste und erfüllteste Schönheit, nur in der Kunst verwirklicht werden kann.

4 Noch einmal metaphorisch beschworen, wandelt sich zu Beginn des - zuletzt geschrie¬ benen - 4. Aktes das Erlebnis letzter Größe in Schönheit zu einer riesigen mythisch aufgetürmten Wolke »und spiegelt blendend flücht’ger Tage großen Sinn« (V. 10054). Helena ist in den archaischen, präexistenten Bereich zurückgekehrt; ohne den Verlust von Gattin und Sohn zu beklagen, ist Faust, »an klaren Tagen über Land und Meer geführt« (V. 10042), im nördlichen Hochgebirge niedergestiegen. Die Wolke, die ihn in die Einsamkeit des Hochgebirges getragen hat, teilt sich, »langsam, nicht zerstiebend« (V. 10043): In einem Teil glaubt er die großartige Gestalt Helenas »majestätisch lieblich« (V. 10051) zu erkennen, die, im Osten »fernen Eisgebirgen gleich« (V. 10053), zu ruhen scheint. Der andere fügt sich zum »entzückenden Bild« (V. 10058) Gretchens, der früh Geliebten: »Wie Seelenschönheit steigert sich die holde Form, / Löst sich nicht auf, erhebt sich in den Äther hin / Und zieht das Beste meines Innern mit sich fort« (V. 10064-66). In diesem erinnernden Blick auf Vergehendes und Vergangenes sind die Voraussetzun¬ gen für die neuen, letzten Lebensstufen gestaltet, der heroische Wille zur Tat und der

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Glaube an jenes »Beste meines Innern« (V. 10066). Noch scheint das Inkalkulable, jenes Dämonisch-Magische, unabweisbar, das alle lauteren Absichten durchkreuzt und das ersehnte »große Werke« nur als Projekt, als Utopie bestehen läßt. Von jetzt an gilt es, im verantwortlichen Handeln für andere alles Subjektive, alles Zeitbedingte zu überwinden, die geleistete Tat gegen alle inneren und äußeren Bedrohungen auszuspie¬ len. In mehreren Entwürfen zur 1. Szene dieses Aktes wird von Fausts »Umwendung zum Besitz« gesprochen (Paralipomenon 106); Mephistopheles unternimmt es jeden¬ falls, »die Zustände der besitzenden Menschen« zu schildern. Sein verführerisches »Tibi dabo«, am anarchisch-tumultuarischen Umsturz oder am »sardanapalischen« Genußleben teilzunehmen, muß Faust zurückweisen, denn gerade das waren ja einst¬ mals die verächtlichen Existenzformen des Kaisers,der erst jetzt, von einem Gegenkai¬ ser bedroht, Entschlußkraft und Tüchtigkeit gewinnt (V. 10407f.). Ihm will Faust zu Hilfe kommen: »Faust aus alter Neigung wünscht dem Monarchen zu helfen« (Parali¬ pomenon 107). Aber das Rein-Gewollte wird durch Mephistopheles’ Handeln entwer¬ tet: Für die Schlacht, die jetzt zu gewinnen ist, mobilisiert er die »drei Gewaltigen«, zerstörerische Elemente, die den chaotischen Charakter des Krieges innerhalb einer grundsätzlich fragwürdigen geschichtlichen Ordnung andeuten sollen. Das Besitztum das bald besiegten Gegenkaisers wird schließlich der Raub von zwei dieser »Gewalti¬ gen«, Habebald und Eilebeute; der im Selbstbewußtsein herangereifte Kaiser reorgani¬ siert das Reich, jetzt gesichert als politische Institution, gefährdet nur an seinen Küsten von der immer wieder einbrechenden Flut. Hier ist Faust entschlossen, Abhilfe zu leisten: Ihm wird vom Kaiser »des Reiches Strand verliehn« (V. 11036), hier kann er wirken, der »zwecklosen Kraft unbändiger Elemente« (V. 10219) menschliche Ord¬ nung entgegensetzen und über die Zerstörung der Zeit hinaus dauernden Ruhm gewinnen. Mit dieser Wendung Fausts von der früheren subjektiven und spekulativen, der sinnlichen und ästhetischen Lebensform zum verantwortlichen gesellschaftlichen Han¬ deln als der Voraussetzung seiner Herrschaft wird eine wichtige Bedeutungssträhne geboten. Ob hier (und später) spezifisch moderne soziale Erkenntnisse Goethes vorgebildet sind oder ob der Sinn des Faustschen Handelns darin besteht, den »Augen¬ blick«, das lastende Erlebnis der Zeitlichkeit, in sinnvoll das Flüchtige überdauernder Tat zu überschreiten, ist immer wieder der Gegenstand eingehender Deutungsversuche gewesen.105 In jedem Falle ist Fausts Entschluß zur Tat noch kein authentischer, denn das Faszinosum von Magie und Radikalität überschattet und verunsichert ihn noch immer.

5 Freiheit zur sittlichen Entscheidung - dies ist das Thema, das im 5. Akt als höchstes Ziel menschlicher Bewährung orchestriert und schließlich in einer Fermate der Hoff¬ nung zu Ende geführt wird. Der jetzt hundertjährige Faust hat die Sicherung des Landes durch Eindämmung der Elemente, seine wirtschaftliche Blüte durch Kanal und Hafenbauten ermöglicht. Noch immer aber ist seine Macht von der »magischen« Hilfe Mephistopheles’ abhängig; von ihr wird er sich lösen müssen. Aber auch jetzt, in einem bedeutsamen Moment der stolzen Überschau über seinen Herrschaftsbereich, muß er

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die rücksichtslose Amoralität erfahren, die sich in Mephistopheles’ Durchführung seiner Befehle äußert, in Wirklichkeit aber, paradox genug, in seinem eigenen großan¬ gelegten Handeln enthalten ist. In der idyllischen »offenen Gegend« der 1. Szene erfährt ein »Wanderer«, der aus der Welt der »Leistung« in die der natürlichen Geborgenheit zurückgekehrt ist, von den zwei Symbolgestalten Philemon und Baucis,106 daß das zivilisatorische Wirken Fausts ihre einfache Lebensform, in der sich »ein Heiliges lebend hält« (V. 8358), eher gefährdet als sichert.107 Das Unheimliche im Charakter Fausts, sein maßloser Wille zu Macht und Neugründung, wird in der Sicht der statisch-genügsamen Existenz der zwei Alten als unvereinbar mit der Ordnung des »alten Gottes« durchschaut.108 Fausts zwiespältiges Wesen wird in der folgenden Palast-Szene noch einmal symbolisch in zwei typischen Verhaltensformen verdeutlicht: Der reflektierende, weit ins Land schauende Türmer Lynkeus, jener luchsäugige Pilot der Argonauten, der bei Tag und Nacht durch Erde, See und Himmel sehen konnte, preist in »tiefer Nacht« die glückbringende Tat Fausts; die im Dienste des Mephistopheles stehenden brutalen »drei gewaltigen Gesellen« weisen auf das zerstörerische Element, das in diesem Tun mitgedacht werden muß. Dieser unendlich belastenden Spannung zwischen Sinn und Tat, zwischen Augenblick und dem Wunsch nach unvergänglicher Wirkung wird sich Faust in einem großen Gespräch mit Mephistopheles bewußt. Gegen jeden Stolz auf das Erreichte setzt er das Leiden am »verfluchten Hier« (V. 11233), durch das sein Besitz räumlich und zeitlich in Frage gestellt wird. Die zwei Alten sind umzusiedeln sie werden von Mephistopheles und den Dreien in einem »flotten Fest« (V. 11285) vernichtet: »Was sich sonst dem Blick empfohlen, / Mit Jahrhunderten ist hin« (V. 11336f.). Der Rauch und Dunst des »unbesonnenen wilden Streichs« (V. 11372), »geboten schnell, zu schnell getan!« (V. 11382), wird, von einem »Schauerwindchen« (V. 11380) angefächelt, zu Faust getragen: Vier graue Weiber schweben heran, Mangel, Sorge, Schuld und Not. Eine von ihnen, die Sorge, muß zugelassen werden, gerade im Moment des Reflektierens über die unerträgliche Abhängigkeit von magischen, dämo¬ nischen, entmenschlichenden Mächten. Noch hat sich Faust nicht »ins Freie« gekämpft, in den Zustand des reinen Wollens und der freien Tat, in dem es der »Mühe wert« wäre, »ein Mensch zu sein« (V. 11407). Hier nun, im Angesicht des nahen Todes muß er erfahren, daß er der Sorge verfallen ist, der Angst, die alle menschliche Existenz unerbittlich begleitet und verdunkelt und in ihrer Zeitlichkeit, ihrer Unvollkommen¬ heit bewußt macht: »In verwandelter Gestalt / Üb ich grimmige Gewalt« (V. 11426f.). Dieser Sorge aber ist Faust entschlossen, herrisch zu widerstehen: zwar weiß er, daß Sorge ein erschreckendes Element des Lebens sein muß - »das geistig-strenge Band ist nicht zu trennen« (V. 11492) —, aber die »Macht« der Sorge, »schleichend groß« (V. 11493), wird er nicht anerkennen. Im letzten Anhauch der Sorge erfährt er ihre Aktualität: Er muß erblinden. »Erfahre sie, wie ich geschwind / Mich mit Verwün¬ schung von dir wende! / Die Menschen sind im ganzen Leben blind, / Nun, Fauste, werde du’s am Ende« (V. 11495-98). Für Faust ist diese äußere Blindheit die Wendung zum inneren »hellen Licht«, durch das sein Urteil, sein Planen, seine Tat, von aller gegenwärtigen Unzulänglichkeit, von aller Verstricktheit ins Dämonische gereinigt werden kann. »Was ich gedacht, ich eil’ es zu vollbringen« (V. 11501): Ein einziger klarer Wille zum verantwortlichen Handeln muß erreichen, »daß ich das größte Werk vollende« (V. 11509). Mephistopheles, jetzt

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der Aufseher über die Arbeiter, die er mit allen Mitteln herantreiben soll, weiß um die Fragwürdigkeit auch dieses letzten Bemühens, durch das Faust das vorher gewonnene Sumpfland urbar und damit über den Augenblick hinaus dauerhaft machen will: Dieses »Letzte« zu vollenden wäre für Faust »das Höchsterrungene«. In einer Vision von idyllisch-paradiesischem Leben, gesichert, tätig, wach und im Gemeindrang bereit, Gefahren abzuwenden, projiziert Faust die Utopie eines Lebens, »frei« vom lähmenden Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit, von den dämonischen Zwängen, mit denen sich Faust selbst so quälend auseinandersetzen mußte, frei auch von der Erniedrigung des Menschen durch Natur und Geschichte. Die Leistung des »Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn« (V. 11580), dies wäre das Ziel eines großen schöpferischen Entwurfes, durch den die Erfahrung der Zeitlichkeit überwunden, ihr magisch-zwin¬ gender Charakter aufgehoben werden könnte: »Im Vorgefühl von solchem hohen Glück / Genieß’ ich jetzt den höchsten Augenblick« (V. 11585f.).109 Hier ist Fausts Lebenstag zu Ende: Er sinkt zurück, sein menschliches Schaffen wird zu Recht von Mephistopheles als vergänglich und »dumm« (V. 11530) abgewertet, Fausts »höchster Augenblick« scheint durch die überwältigende Realität seines Endes wider¬ legt. Freilich reicht der Sinn der Faustschen Entschlossenheit über die Wirklichkeit hinaus: Bei der »Grablegung« Fausts muß Mephistopheles seine eigenen Grenzen gegenüber einem Bewußtsein erfahren, das nicht mehr das eigene Selbst überhöhen, sondern ihm im Werk der gesellschaftlichen Tat Dauer verleihen will. In barocker Theatralik werden seine eigenen »Dickteufel vom kurzen, geraden Horne« und die »Dürrteufel vom langen, krummen Horne« durch die himmelsverwandte Heerschar und das himmlische Licht der Symbole der Liebe überwunden und »Faus.tens Unsterb¬ liches« aus dem irdischen Raum entführt. Wenn hier ein »großer Aufwand« »schmäh¬ lich vertan« ist (V. 11837), wenn ihm Faust, »ein großer, einziger Schatz« (V. 11829), nicht zufällt, so deshalb, weil sich Fausts immer mehr zum höchsten Dasein wan¬ delnde, alles Irdische im kritischen Bewußtsein übersteigende Existenz gerade in der Erfahrung der unausweichlichen Negativität und des unzulänglichen Handelns über alle zeitliche Bedingtheit in die Ewigkeit gesteigert hat (V. 12064).110 Durch eine irdisch-überirdische Landschaft von Wald, Fels und Einöde, die sich als Chor und Echo in mächtigen Versen selbst definiert (V. 11844ff.), in der alles von heiliger Bewegung erfüllt ist und in der die Anachoreten, jene frommen Einsiedler des ersten Jahrhunderts, zwischen den Klüften des mythisch-erhabenen Hochgebirges gelagert, den Anfang seines langen Weges bezeichnen, wird Fausts Unsterbliches, seine »Entelechie«, in die höchste Region der geistigen Läuterung getragen. Aus dem Chor der Anachoreten lösen sich Stimmen, die mit der Schilderung ihres eigenen Wirkens, innerhalb der Rangordnung der Patriarchen den sich aufwärts entwickelnden Zustand der Faustschen Welterfahrung bezeichnen. Zunächst von den »seligen Knaben« belehrt, dann von Engeln getragen, übersteigt »Fausts Unsterbliches« bald die Zeugen seiner wachsenden Teilnahme am Vorgang der geistig-sittlichen Klärung. »In der höchsten, reinlichsten Zelle« bezeugt der Doctor Marianus in wissender und tätiger Liebe die Bereitschaft zur Erfahrung der göttlichen Klarheit. In einem Gebet für die »leicht Verführbaren« (V. 12022) wendet sich dieser leidenschaftliche Geist an die Mater Gloriosa, der sich nun die drei großen »Büßerinnen« nähern, um, jede in einem unvollendeten Satz, der sich in einem gemeinsamen Chorvers schließt, für diese, die nur einmal gefehlt hat, für Gretchen, zu bitten. In Abwandlung ihrer verzweifelten

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Beschwörung in der Zwinger-Szene bittet diese jetzt die »Ohnegleiche, Strahlenrei¬ che«, den »früh Geliebten, nicht mehr Getrübten« (V. 12074f.) aufzunehmen. In einer für die letzte Szene charakteristischen Kreisbewegung nähern sich die seligen Knaben; Fausts Bewußtsein »überwächst« auch sie (V. 12076); noch einmal legt »Die eine Büßerin, sonst Gretchen genannt«, Zeugnis von diesem Bewußtsein ab, das noch »kaum das frische Leben« ahnt (V. 12086), das jetzt »jedem Erdenbande / Der alten Hülle sich entrafft« (V. 12088 f.), noch vom »neuen« Tag »geblendet« (V. 12093) von ihr »belehrt«, einem letzten reinen Dasein entgegengeführt werden kann. Hier nun kann die »Mater Gloriosa« den Weg Gretchens und, ihr »ahnend« folgend, denjenigen Fausts in immer »höhere Sphären« in Aussicht stellen. In einem geheimnisvoll ver¬ schlüsselten, kaum in Worten zu artikulierenden »Chorus mysticus«, der mehr gedacht und erfahren als figürlich vorgestellt werden kann, wird an den Sinn des Vorgestellten erinnert: Alles, was hier umfassend als Erfahrung der Zeitlichkeit dargestellt wurde, kann nur in symbolischen Äußerungsformen begriffen werden; was hier im dichteri¬ schen Werk als »Ereignis« vermittelt wird, ist die tiefsinnige Grunderfahrung der vielfältig aufgezeigten Unzulänglichkeit auch des reinsten Strebens; jenes Höchste jenseits alles zureichenden Beschreibens kann im Gedicht als letzter Akt der verstehen¬ den Gnade vollzogen werden, einer Gnade, zu deren Äußerung und Erfahrung allein die alles Zeitlich-Zufällige aufhebende Liebe befähigt, jene Kraft, die hier in der eigentümlich anspielungsreichen Formel des »Ewig Weiblichen« angedeutet werden soll: »Gerettet ist das edle Glied Der Geisterwelt vom Bösen, Wer immer strebend sich bemüht, Den können wir erlösen. Und hat an ihm die Liebe gar Von oben teilgenommen, Begegnet ihm die selige Schar Mit herzlichem Willkommen.« (V. 11934-41) »In diesen Versen«, sagte Goethe am 6. Juni 1831 zu Eckermann, »ist der Schlüssel zu Fausts Rettung enthalten: in Faust selber eine immer höhere und reinere Tätigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Hilfe kommende ewige Liebe. Es steht dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade.« Weder der Begriff der Gnade noch jener der Liebe darf freilich in einem spezifisch christlichen Sinn verstanden werden: »Übrigens werden Sie zugeben, daß der Schluß, wo es mit der geretteten Seele nach oben geht, sehr schwer zu machen war und daß ich bei so übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen, mich sehr leicht im Vagen hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Intentionen, durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen eine wohltätig beschrän¬ kende Form und Festigkeit gegeben hätte.«111 Der subtil entfaltete Kosmos christlicher Überlieferung ist, wie die Welt der griechischen Menschen, »die den Traum des Lebens am schönsten geträumt«,112 eine Summe der Einsicht und des Erlebens, die in einem zusammenhängenden System von über sich hinausweisenden Metaphern vermittelt

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wird, in denen »einer späteren Menschheit neuere Menschlichkeiten durchschaubar vorgetragen wurden«.113 Im Rückblick auf das bewundernswert dicht geformte, an Klang, Bild und Sinn unerschöpfliche Werk konnte Goethe in den Frühlingstagen seines vorletzten Lebens¬ jahres, an denen er die Arbeit am 5. Akt abschloß, mit Recht an das über ein Leben hin geleistete dichterische Bemühen erinnern: »Es ist keine Kleinigkeit, das, was man im zwanzigsten Jahre konzipiert hat, im 82. außer sich darzustellen und ein solches inneres lebendiges Knochengeripp mit Sehnen, Fleisch und Oberhaut zu bekleiden, auch wohl dem fertig Hingestellten noch einige Mantelfalten umzuschlagen, damit alles zusammen ein offenbares Rätsel bleibe, die Menschen fort und fort ergetze und ihnen zu schaffen mache.. .«.114

Anmerkungen Der Text wird zitiert nach: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg, von Erich Trunz. Bd. 3. Textkrit. durchges. und mit Anm. vers. von Erich Trunz. München 101976. Nachweise in Klammern unmittelbar hinter dem Text. 1 Begriffe wie »inkalkulabel« und »inkommensurabel« werden für Faust II von Goethe (oder Ecker¬ mann) häufig verwendet. Derlei summarische Äußerungen sollten für eine kritische Analyse des Werkes nur geringes Gewicht haben. Vgl. Herman Meyer: Diese sehr ernsten Scherze. Eine Studie zu Faust II. Heidelberg 1970. 2 Zusammengestellt bei Hans Gerhard Gräf (Hrsg.): Goethe über seine Dichtungen. T. 2. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1912. S. 1-608. 3 Im 19. Jh. seit Friedrich Theodor Vischers Göthe’s Faust (1875) wiederholt geäußert. Ähnlich auch Konrad Burdach: Faust und die Sorge. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 1 (1923) S. 1. 4 Siehe George Santayana: Goethe’s Faust. In: G. S.: Three Philosophical Poets: Lucretius, Dante, and Goethe. Cambridge, Mass., 1910. S. 137-199. 5 Vgl. Hans Schwerte: Faust und das Faustische. Ein Kapitel deutscher Ideologie. Stuttgart 1962. 6 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Bd. 2. München 1924. S. 622 f. 7 Wilhelm Böhm: Faust der Nichtfaustische. Halle a. d. S. 1933. 8 Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Bd. 2. Leipzig 1930. S. 391. 9 Wilhelm Böhm: Goethes Faust in neuer Deutung. Köln 1949. S. 312, 315. 10 An Goethe, 26. 6. 1797. 11 Schiller an J. F. Cotta, 24. 3. 1800. 12 Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hrsg, von Ernst Beutler. Zürich 1950/71. (Im folgenden zitiert als: GA.) Bd. 5: Die Faustdichtungen. S. 541. 13 An Goethe, 23. 9. 1800. 14 »Polygnots Gemälde in der Lesche zu Delphi« (GA 13,379-383). 15 Tagebücher, 24. 1. 1832 (GA 5,667). 16 An F. A. A. Stapfer, 4. 4. 1827. 17 Ebd. 18 An S. Boisseree, 24. 11. 1831. 19 An W. von Humboldt, 1. 12. 1831. 20 An C. F. Zelter, 4. 9. 1831. 21 Wenn Horst Hartmann (Faustgestalt, Faustsage, Faustdichtung. Berlin 1979. S. 100) von einer »Leerstellentechnik« spricht, so wird damit den leeren Stellen ein Funktionswert zugesprochen, der zweifellos nicht in Goethes Absicht lag. 22 An Wilhelm von Humboldt, 1. 12. 1831. 23 Kuno Fischer: Goethes Faust. Heidelberg 1913.

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24 Heinrich Rickert: Goethes Faust. Die dramatische Einheit der Dichtung. Tübingen 1922. Siehe auch Julius Petersen: Helena und der Teufelspakt. In: Hochstift 1936/40. S.199f. Zum »chaoti¬ schen« Stand der Faust-Forschung überhaupt vgl. Ada M. Klett: Der Streit um »Faust II« seit 1900. Chronologisch und nach Sachpunkten geordnet. Mit komment. Bibliogr. von 512 Titeln. Jena 1939; Wolfgang Schadewaldt: Goethestudien. Natur und Altertum. Zürich/Stuttgart 1963. S. 165. 25 An F. W. Riemer, 29. 12. 1827. 26 An J. H. Meyer, 20. 7. 1831. 27 An S. Boisseree, 24. 11. 1831. Zu dieser Formel s. die Studie von Herman Meyer (Anm. 1). 28 An W. von Humboldt, 17. 3. 1832. 29 Siehe Wilhelm Emrich: Das Rätsel der Faust-II-Dichtung. In: W. E.: Geist und Widergeist. Frankfurt a. M. 1965. S. 211-235. 30 An C. F. Zelter, 4. 9. 1831. 31 Siehe Paul Böckmann: Die zyklische Einheit der Faustdichtung. In: P. B.: Formensprache. Hamburg 1966; Werner Milch: Wandlungen der Faustdeutung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 71 (1951) S. 23-38; Wilfried Malsch: Die Einheit der Faust-Dichtung Goethes in der Spiegelung ihrer Teile. In: Festschrift für Klaus Ziegler. Tübingen 1968. S. 133-158. 32 Die wichtigsten neueren Deutungen sind Wilhelm Emrich: Die Symbolik von Faust II. Berlin 1943; Dorothea Lohmeyer: Faust und die Welt. Der zweite Teil der Dichtung. München 1975; Stuart Atkins: Goethe’s Faust. A Literary Analysis. Cambridge, Mass., 1958; Katharina Mommsen: Natur und Fabelreich in Faust II. Berlin 1968. 33 Zu Eckermann, 17. 2. 1831. 34 Max Kommerell: Geist und Buchstabe der Dichtung. Frankfurt a. M. 51962. S. 90. 35 Zu Eckermann, 17. 2. 1831. 36 Dagegen Walther Linden: Faust und Wilhelm Meister. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 20 (1932) S. 255-267. 36a Siehe Richard Harder: Goethe: Höchstes Glück der Erdenkinder. In: R. H.: Kleine Schriften. München 1960. S. 458. 37 Siehe Walter Benjamin: Goethe. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. 11,2. Frankfurt a. M. 1977. S. 730. 38 Siehe Hans Joachim Schrimpf: Über Goethes Altersweisheit. In: Festschrift zur Eröffnung der Universität Bochum. Bochum 1965. S. 172. 39 An K. J. L. Iken, 27. 9. 1827. 40 Ernst Bloch: Leitfiguren der Grenzüberschreitung. Faust und die Wette um den erfüllten Augen¬ blick. In: E. B.: Gesamtausgabe. Bd. 5. Frankfurt a. M. 1959. S. 1198f. 41 Zu Eckermann, 13. 2. 1831. 42 An W. von Humboldt, 1. 12. 1831; ebenso an C. F. Zelter, 26. 7. 1828. Zu »supplieren« s. Böckmann (Anm. 31) S. 199. 43 Abschied (GA 5,530). 44 Adorno spricht kategorisch von einer Dichtung, »die wie kaum eine andere deutsche dem Wort den Vorrang erteilt vorm Sinn« (Theodor W. Adorno: Zur Schlußszene des Faust. In: Th. W. A.: Gesammelte Schriften. Frankfurt a. M. 1974. Bd. 11. S. 136). 45 An C. F. Zelter, 4. 1. 1831. 46 An G. F. Benecke, 27. 7. 1826. 47 Zur Frage einer möglichen Aufführung von Teilen oder gar dem Ganzen des zweiten Teiles vgl. u. a.: Brief an F. Rochlitz, 29. 9. 1829, und zu Eckermann, 20. 12. 1829. Obwohl Goethe die Aufführung des ersten Teiles in Berlin und Weimar durch gewisse textliche Änderungen ausdrücklich förderte, scheint mir die Meinung Paul Stöckleins, Faust sei »ein Theaterstück, kein Lesedrama«, recht fragwürdig (P. St.: Wie beginnt und wie endet Goethes »Faust«? In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, N. F. 3 [1962] S. 30). 48 AnJ. F. Cotta, 25. 11. 1805. 49 Zu F. Förster, 25. 8. 1831. 50 Zu F. von Matthisson, April 1815. 51 Zu Eckermann, 25. 1. 1827. 52 Zu Eckermann, 12. 2. 1829. 53 Zu Eckermann, 17. 2. 1831. 54 AnJ. H. Meyer, 20. 7. 1831.

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An W. von Humboldt, 1. 12. 1831. An S. Boisseree, 8. 9. 1831. An J. H. Meyer, 20. 7. 1831. An C. F. Zelter, 26. 7. 1828. Siehe auch Anm. 42. Zu F. W. Riemer, 29. 12. 1827. Vgl. u.a. Hans Ost: Goethes Helena als plastische Gestalt. In: Arcadia 4 (1969) S. 16ff. In diesem Sinn schreibt er an K. L. von Knebel am 14. 11. 1827: »Die rechte Art [dem HelenaZwischenspiel] beizukommen, es zu beschauen und zu genießen, ist die, [...] es [...] in Gesellschaft mit einem Freunde zu betrachten.« Schiller an Goethe, 23. 9. 1800. Zu Eckermann, 24. 1. 1830. Zu Eckermann, 21. 2. 1831. Zu Eckermann, 6. 6. 1831. Ausdrücklich untersucht in Peter Salm: The Poem as Plant. A Biological View of Goethe’s »Faust«. Cleveland 1971. Vgl. Rupprecht Matthaei: Die Farbenlehre im Faust. In: Goethe 10 (1947) S. 59-148; als wichtiges Motiv in Lohmeyer (Anm. 32). Horst Rüdiger: Weltliteratur in Goethes Helena. In: Schillerjahrbuch 8 (1964) S. 172-198. Siehe Mommsen (Anm. 32); Stuart Atkins: Goethe, Calderon and Faust. In: Germania Review 28 (1953) S. 83-98; Swana L. Hardy: Goethe, Calderon und die romantische Theorie des Dramas. Heidelberg 1965. S. 182-189. Rameaus Neffe (GA 14,1035). Die Tochter der Luft (GA 14,845). Das Wort »Phantasmagorie«, das übrigens bei Grimm nicht aufgeführt wird, bezog sich im eigentlichen Sprachgebrauch auf Geister- und Gespenstererscheinungen, die seit der Erfindung des »Fantascope« durch den belgischen Physiker Etienne Gaspard Robertson (1798) mit mechanischen und optischen Illusionsmitteln auf die Bühne projiziert wurden. Die »Fantasmagorien« des Theätre des Soirees-Fantastiques gehörten um die Jahrhundertwende zu den beliebtesten Pariser Amüse¬ ments. Zu Eckermann, 11.4. und 5. 7. 1827. Dasselbe Prinzip gilt in der Klassischen Walpurgisnacht für die Kommentare der Sirenen (V. 8070 usw.). Emrich (Anm. 32). Gespräch mit Eckermann 1830 (GA 5,660). Zu Eckermann, 1. 10. 1827. Siehe auch Gottfried Wilhelm Hertz: Die Baccalaureus-Szene in Goethes »Faust«. In: Jahrbuch 9 (1922) S. 55-77. Vgl. auch V. 8245. Nachlaßnotiz Riemers, 30. 3. 1833. Erstmals veröffentlicht von Heinrich Düntzer: Goethes Faust. Leipzig 21857. S. 525. Vgl. auch Eckermanns Tagebuch vom 6. 1. 1830. In: Heinrich Hubert Houben: J. P. Eckermann. Sein Leben für Goethe. Bd. 1. Leipzig 1925. S. 448. Goethe selbst verfügte über ein auch für die damalige Zeit erstaunliches antiquarisches Wissen, das er mit bewundernswertem Blick für das Nützliche und Aussageträchtige durch zahlreiche Handbücher (wie etwa Benjamin Hederichs Gründliches Lexikon mythologicum, 1770, oder Edward Dodwells A Classical and Topographical Tour through Greece, 1819; dt. 1821), vor allem aber aus seiner Kenntnis der bildenden Kunst bereicherte und ergänzte. AnJ. F. Cotta, 30. 9. 1805. Zu Eckermann, 15. 1. 1827. Zu D. Falk, 24. 6. 1826 (?). Siehe Schadewaldt (Anm. 24) S.189f. Emrich (Anm. 32) S. 257. Die Interpretation der Homunculus-Sequenz gehört zu den großen Herausforderungen der Forschung: die Gestalt ist einmal das absolute Denken (Gundolf), sie ist zwar im Bereich der Ideen zu Hause, aber der stofflichen, wirklichen Welt hilflos ausgeliefert (von Wiese), sie ist bereit, die Mühseligkeiten eines langwierigen Entwicklungsprozesses auf sich zu nehmen, und ergießt sich aus dem geschlossenen Raum in die feuchte Weite (Hamm). Otto Höfler sieht in Homunculus nicht viel mehr als eine Goethesche Persiflage auf den ihm in späte¬ rer Zeit unsympathischen August Wilhelm Schlegel. Emrichs Deutung ist die reichste: »Daimon,

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Genius, Entelechie, stilles Reifen und Wachsen und Sternstunde, sämtlich Möglichkeiten, die zur lebendigen Kunst und zu Helena führen, sind prägnant in dieser Homunculus-Gestalt ver¬ eint.« 87 Zu Eckermann, 16. 12. 1829. 88 Emrich (Anm. 32) S. 284. 89 Erich Trunz in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 3. München 101976. S. 571. 90 Zu Eckermann, 15. 1. 1827. 91 Zu F. Mendelssohn, 21. 5.-3. 6. 1830. Heinz Hamm neigt dazu, die historische Tendenz zu verabsolutieren: »In der Klassischen Walpurgisnacht geht es in erster Linie um Leistung des sozialen Wesens Mensch, nicht um biologische Naturprozesse. Es widerspricht Goethes Intentionen, den wesentlichen Unterschied zwischen dem Menschen und der ihn umgebenden Natur in einem weiten Natur-Begriff untergehen zu lassen, obgleich er diesen selbst verwendet« (H. H.: Goethes »Faust«. Werkgeschichte und ideologisch-historische Textanalyse. Berlin 1978. S. 252). 92 Zu Eckermann, 16. 12. 1829. 93 Siehe Mommsen (Anm. 32) S. 154ff. 94 Die Geschichte der Entbindung Euphorions sollte nach einem früheren Entwurf Goethes als Traum erzählt, vom Chor mit Reminiszenzen an die Geburt Merkurs begleitet werden (Paralipomenon 98). Daß Goethe an Mozart gedacht haben könnte, vermutet Joseph Müller-Blattau: Der Zauberflöte zweiter Teil. Ein Beitrag zum Thema Goethe und Mozart. In: Goethe. Jahrbuch der GoetheGesellschaft. N. F. 18 (1956) S. 158-179. 95 Zu Eckermann, 5. 7. 1827. Siehe auch Rüdiger (Anm. 68) S. 196f. 96 Zu Eckermann, 20. 12. 1829. 97 Siehe Emrich (Anm. 32) S. 423; Schadewaldt (Anm. 24) S. 476. 98 An C. G. D. Nees von Esenbeck, 24. 5. 1827. 99 »Nun zieht mich [...] das Schöne in der Lage meiner Heldin so sehr an, daß es mich betrübt, wenn ich es zunächst in eine Fratze verwandeln soll« (an Schiller, 12. 9. 1800). 100 Siehe Benjamin (Anm. 37) S. 736. 101 Bruchstück eines Briefkonzepts, wahrscheinlich Juli 1826. 102 An K. J. L. Iken, 27. 9. 1827. Vgl. auch Karl-Heinz Hahn: Faust und Helena oder die Aufhebung des Zwiespaltes zwischen Klassikern und Romantikern. In: Goethe. Jahrbuch der Goethe-Gesell¬ schaft. N. F. 32 (1970) S. 115-141. 103 An K. J. L. Iken, 27. 9. 1827. 104 Als Zitat: »Unter allen Völkerschaften haben die Griechen den Traum des Lebens am schönsten geträumt« (in: Maximen und Reflexionen Nr. 209, GA 9,530). 105 Hamm (Anm. 91, S. 226 ff.) sieht in der letzten Szene die Bestätigung der vorher demonstrierten Würdelosigkeit des Kaisers und des moralischen Bankrotts dieser feudal-parasitären Herrschafts¬ form, von der sich Faust im letzten Akt getrennt hat. 106 Philemon und Baucis, betonte Goethe, haben »mit jenem berühmten Paare des Altertums und der sich daran knüpfenden Sage nichts zu tun. Ich gab meinem Paare bloß jene Namen, um die Charaktere dadurch zu heben« (zu Eckermann, 6. 6. 1831). 107 Mommsen (Anm. 32) S. 216 ff. 108 Siehe Manfred Beller: Philemon und Baucis in der europäischen Literatur. Heidelberg 1967. S. 137 bis 142. 109 Walter Dietze hat in einer einsichtigen Überprüfung der Handschrift die vier Fassungen von Vers 11 580 abgewogen, ausgehend von »Auf eignem Grund und Boden stehn« über »Auf wahrhaft eignem Grund und Boden stehn« und »Auf wahrhaft freiem Grund und Boden stehn« zur knappen und unmißverständlichen letzten Formulierung (W. D.: »Faust«, Vers 11 580. In: Jahresgabe der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar. Weimar 1975. o. S.). 110 In einem eigenwilligen Essay »Zur Schlußszene des >FaustAddenda< aus: Goethe Society N. S. 20 (1950) S. 168-175.

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5. Die Dramen Unterabschnitte, die mehrere Dramen betreffen, sind wie folgt gegliedert: Allgemeine Literatur, einschl. Arbeiten zu mehr als einem der Spiele - Literatur zu den einzelnen Dramen, in deren alphabetischer Folge geordnet.

»Die Laune des Verliebten«/»Die Mitschuldigen« Hammer, Carl, jr.: Intimations of Moliere in Goethe’s Leipzig comedies. In: Moliere and the Commonwealth of letters. Ed. by Roger Johnson jr. [u. a.]. Jackson: University of Mississippi Press, 1975. S. 276-286. Viehoff, Heinrich: Über Goethe’s kleinere dramatische Dichtungen. 1. Die Laune des Verliebten. 2. Die Mitschuldigen. In: Archiv Bd. 1 (1846) S. 5-27. Deutsch, Karl: Über das Verhältnis der Laune des Verliebten zu dem deutschen Schäferspiele des XVIII. Jahrhunderts. Progr. Sternberg 1902/03. Emmel, Hildegard: Goethes Laune des Verliebten und der Mythos von Arkadien. In: Gedenkschr. für Ferdinand Josef Schneider (1879-1954). Hrsg, von Karl Bischoff. Weimar: Böhlau, 1956. S. 173-200. Kehl, Hildegard: Stilarten des deutschen Lustspielalexandriners. Untersucht an: Gryphius Der Schwermende Schaffer, Geliert Das Band, Goethe Die Laune des Verliebten, Müllner Die Vertrauten. Halle a. d. S.: Niemeyer, 1931. - Reprogr. Walluf: Sändig, 1975. Döll, Alfred: Goethes Mitschuldigen. Mit Anhang: Abdruck der ältesten Handschrift. Halle a. d. S.: Niemeyer, 1909. - Reprogr. Walluf: Sändig, 1973. Fischer-Lamberg, Hanna: Die zweite Fassung der Mitschuldigen. In: Beiträge zur Goethefor¬ schung (s. Abschn. 3). S. 87-90. Henneberger, August: Ueber Göthe’s Lustspiele. 1. Die Mitschuldigen. In: Archiv Bd. 8 (1851) S. 117-124. Horner, Emil: Die Prosa-Bearbeitung der Mitschuldigen. In: Chronik des Wiener Goethe-Vereins 13 (1899) S. 25-29. Martini, Fritz: Goethes Die Mitschuldigen oder die Problematisierung des Lustspiels. In: Das deutsche Lustspiel. Hrsg, von Hans Steffen. Bd. 1. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1968. S. 68-93. - Goethes »verfehlte« Lustspiele: Die Mitschuldigen und Der Groß-Cophta. In: Natur und Idee. Bruno Wachsmuth zugeeignet. Weimar: Böhlau, 1966. S. 164-210. Auch in: F. M.: Lustspieleund das Lustspiel. Stuttgart: Klett, 1974. S. 105-149.

Farcen, Hanswurstiaden, Satiren Castle, Eduard: Pater Brey und Satyros. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 5 (1918) S. 56-98. Henkel, Hermann: Goethes satirisch-humoristische Dichtungen dramatischer Form. [I:] Prologe. Dialoge. Scenische Bilder. In: Archiv Bd. 92 (1894) S. 305-342. [II:] Fastnachtsspiele. Phanta¬ stische Komödien. Zeitgeschichtliche Lustspiele. Ebd. Bd. 93 (1894) S. 69-110. Scherer, Wilhelm: Satyros und Brey. In: Goethe-Jahrbuch 1 (1880) S. 81-118. Viehoff, Heinrich: Über Goethe’s kleinere dramatische Dichtungen. 3. Jahrmarktsfest zu Plun¬ dersweilern. 4.-5. Pater Brey. Satyros. In: Archiv Bd. 1 (1846) S. 349-358; Bd. 2 (1847) S. 63-72. Beutler, Ernst: Goethes Concerto dramatico. In: Etudes Germaniques 6 (1951) S. 192-199.

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Müller-Blattau, Joseph: Goethes Concerto dramatico. Eine Variation zum Thema »Goethe und die musikalische Form«. In: Goethe 16 (1954) S. 331-341. Scherer, Wilhelm: Concerto drammatico. In: W. Sch. [u. a.]: Aus Goethes Frühzeit. Bruchstücke eines Commentares zum jungen Goethe. Straßburg: Trübner, 1879. S. 15-24. Bollert, Martin: Beiträge zu einer Lebensbeschreibung von Franz Michael Leuchsenring. In: Jahrbuch für Geschichte, Sprache und Literatur Elsaß-Lothringens 17 (1901) S. 33-112. Feise, Ernst: Rosts Sendschreiben an Gottsched als Anstoß zu Goethes Pater Brey. In: Publications of the Modern Language Association 57 (1942) S. 169-174. Ayrault, Roger: Une »Farce« de Goethe dans ses annees de Sturm und Drang: Götter, Helden und Wieland. In: Etudes Germaniques 20 (1965) S. 161-171. Fischer-Lamberg, Hanna: Eine Quellenstudie zu Götter, Helden und Wieland. In: Beiträge zur Goetheforschung (s. Abschn. 3). S. 139-142. Gemeinhardt, Laurence E.: The dramatic structure of Goethe’s Götter, Helden und Wieland. In: Journal of English and Germanic Philology 41 (1942) S. 345-348. Seuffert, Bernhard: Der junge Goethe und Wieland. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 26 (1882) S. 252-287. Köhler, Reinhold: Harlekins Hochzeit und Goethes Hanswursts Hochzeit. In: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 20 (1876) S. 119-126. Minor, Jacob: Goethes Beziehungen zu den Steiermärkern. In: Chronik des Wiener GoetheVereins 13 (1899) S. 15 f. [Zu Kilian Brustfleck.] Morris, Max: Prometheus und Hanswurst. In: M.M.: Goethe-Studien. Bd. 1. Berlin: Skopnik, T902. S. 237-248. Posner, Max / Schmidt, Erich: Kilian Brustfleck. In: W. Sch.: Aus Goethes Frühzeit (s. zu »Concerto dramatico«). S. 122-125. Schmidt, Erich: Ursel Blandine. In: Goethe-Jahrbuch 1 (1880) S. 376f. Boetcher Joeres, Ruth E.: »Hereinspaziert! hereinspaziert!« Goethe and Hacks at the Jahrmarkts¬ fest zu Plundersweilern. In: The Germanic Review 51 (1976) S. 259-277. Düntzer, Heinrich: Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. In: H. D.: Abhandlungen zu Goethes Leben und Werken. Bd. 2. Leipzig: Wartig, 1885. S. 141-196. Fischer-Lamberg, Hanna: Die Datierung des Estherspiels in Alexandrinern. In: Goethe 29 (1967) S. 191-197. Herrmann, Max: Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. Entstehungs- und Bühnengeschichte. Nebst einer kritischen Ausgabe des Spiels und ungedruckten Versen Goethes sowie Bildern und Notenbeilagen. Berlin: Weidmann, 1900. - Hierzu ausführlich Franz Schultz in: Archiv Bd. 109 (1902) S. 391-401. Minor, Jacob: Zu Goethes Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. In: Studien zur vergleichenden Litteraturgeschichte 3 (1903) S. 314—331. Scherer, Wilhelm: Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. In: W. Sch.: Aus Goethes Frühzeit (s. zu »Concerto dramatico«). S. 25-42. Spieß, [Otto?]: Die beiden Estherdramen im Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. In: GermanischRomanische Monatsschrift 18 (1930) S. 354-363. Weinryb, Berek: Goethe und die jiddischen Estherspiele. In: Journal of English and Germanic Philology 33 (1934) S. 388-395. Werner, Richard Maria: Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. In: Goethe-Jahrbuch 1 (1880) S. 174-185. Wilmanns, Wilhelm: Goethe’s Jahrmarktsfest zu Plundersweilern. In: Preußische Jahrbücher Bd. 42 (1878) S. 42-74.

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Gräf, Hans Gerhard: Die Zeit der Entstehung von Künstlers Erdewallen und Künstlers Vergötte¬ rung. In: Goethe-Jahrbuch 27 (1906) S. 158-165. Minor, Jacob: Zu Goethes Kunstgedichten. In: Die Grenzboten 43, II (1884) S. 117-125. Bäumer, Gertrud: Goethes Satyros. Eine Studie zur Entstehungsgeschichte. Leipzig: Teubner, 1905. Düntzer, Heinrich: Satyros oder der vergötterte Waldteufel. In: H. D.: Abhandlungen zu Goethes Leben und Werken (s. zum »Jahrmarktsfest«). Bd. 2. S. 197-292. Friederici, Hans: Goethes Satyros und die Grenzen der Persönlichkeit. In: WZ Pädagogische Hochschule Potsdam 9 (1965) S. 41-44. Auch in: Goethe-Almanach 1967. S. 205-216. Matthias, Theodor: Herder - Satyros. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 16 (1902) S 110-128. Meyer von Waldeck, Friedrich: Faust und Satyros. In: Goethe-Jahrbuch 7 (1886) S. 283-286. Scherer, Wilhelm: Satyros. In: W. Sch.: Aus Goethes Frühzeit (s. zu »Concerto dramatico«). S. 43-68. Schneider, Ferdinand Josef: Goethes Satyros und der Urfaust. Halle a. d. S.: Niemeyer, 1949. Stern, Martin: Satyros oder der vergötterte Waldteufel. Ambivalenz und Dialektik im Kulturkon¬ zept des jungen Goethe. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 81/82/83 (1977/78/79) S. 89-102. Wilmanns, Wilhelm: Goethe’s Satyros oder der vergötterte Waldteufel gedeutet. In: Archiv für Litteratur-Geschichte Bd. 8 (1879) S. 227-299. Wolff, Hans M.: Satyros. In: The Germanic Review 24 (1949) S. 168-176. Singspiele Bötcher, Elmar: Goethes Singspiele Erwin und Elmire und Claudine von Villa Bella und die >opera buffa

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