Geschlecht und Gesellschaft - Warum wir lieben

Unsere Zeit scheint wenig geeignet, Grundlagen der Geschlechterbeziehung zu klären. Es ist unsicher, ob es diese Grundlagen überhaupt gibt. Über Liebe vollends scheint sich wissenschaftlich nahezu nichts sagen zu lassen. Es gibt jedoch einen Befund, der zu denken geben muss: Durch die Geschichte hin hat sich eine spezifisch humane Geschlechterbeziehung gebildet; in allen Gesellschaften haben Menschen gesucht, ihre Leben in der Körperzone eines anderen zu führen, zumeist eines anderen des anderen Geschlechts. Es gibt eindrückliche Berichte dieser Beziehung, von der schieren Existenz des anderen überwältigen worden zu sein, und keineswegs war dafür nur Sexualität der Grund. Warum gibt es diese Form der Verbindung zwischen den Geschlechtern? Dux zögert nicht, die vielfältigen Formen, in denen sie sich ausgebildet hat, Liebe zu nennen. Von der romantischen Form ihrer Ausprägung sagt er ohnehin, dass es sie nicht länger gebe, nachdem die Welt eine andere geworden sei. Es geht ihm nicht um das, was Liebe meint, so eindrückliche literarische Bestimmungen in den Text eingegangen sind, es geht ihm um das Warum. Warum gibt es das: Liebe? Das ist die Frage, die eine Antwort finden soll. Der Inhalt · Warum wir lieben. Intimität – Sexualität – Identität · Subjekt und Welt in der romantischen Liebe. Sie waren einer dem andern das Universum (Fr. Schlegel) Der Autor Dr. Günter Dux ist Prof. emeritus am Institut für Soziologie der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

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Gesammelte Schriften

Günter Dux

Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben Die romantische Liebe nach dem Verlust der Welt 2. Auflage

Gesammelte Schriften Band 9

Mit den Gesammelten Schriften von Günter Dux werden dessen grundlegende Arbeiten zur Kognition und Normativität wieder zugänglich gemacht. Die Arbeiten sind Bausteine einer sozialwissenschaftlichen Theorie, die den Bildungsprozess der humanen Lebensform und deren Entwicklung historisch-genetisch zu rekonstruieren sucht. Der Bogen der Rekonstruktion ist weit gefasst. Er reicht von den Anfängen der humanen Lebensform in der Evolution der Gattung bis zu den historisch späten Problemen der Gerechtigkeit, der Demokratie und deren Legitimation in unserer Zeit. Das entschieden kausativ-konstruktive Verständnis der humanen Lebensform hat in der historisch-genetischen Theorie der Kultur seinen Niederschlag gefunden. Dux sieht die Entwicklung der Kultur von einer Logik in der Geschichte des Geistes bestimmt. In ihr gewinnt die Ausbildung der Religion in der Frühzeit der Geschichte eine konstitutive Bedeutung. In der Moderne gerät die auf ein Absolutes am Grunde der Welt verpflichtete Logik der Religion in Konflikt mit der Logik einer säkular verstandenen Welt. In den Arbeiten zur historisch-genetischen Theorie der Gesellschaft liegt der Gesellschaft als bestimmende Organisationsform Macht zugrunde. Sie bestimmt deren Bildungsprozess und zieht sich als Spur durch das Verhältnis der Geschlechter. In der Geschichte hat Macht sich früh schon zur Herrschaft zu entwickeln vermocht. In der Demokratie der Gegenwart ändert Macht erneut ihre gesellschaftliche Verfasstheit dadurch, dass sie der systemischen Verfasstheit der Ökonomie des Kapitalismus integriert ist.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15567

Günter Dux

Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben Die romantische Liebe nach dem Verlust der Welt 2. Auflage

Günter Dux Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Freiburg, Deutschland

Gesammelte Schriften ISBN 978-3-658-17374-6 ISBN 978-3-658-17375-3  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS 1. Aufl.: © Suhrkamp Verlag 1994 2. Aufl.: © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhalt

Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 XIX

TEIL I WARUM WIR LIEBEN. INTIMITÄT – SEXUALITÄT – IDENTITÄT Zur Gattungsgeschichte der Geschlechter. Eine Einleitung  . . . . . . .



3

1

Der Anschluß an die Naturgeschichte  . . . . . . . . . . . . . . .



3

2

Inzest und Tausch der Frauen. Die Enkulturation in der Anthropologie Lévi-Strauss’ 

. . . . . . .



4

Die Aporie des Bildungsprozesses  . . . . . . . . . . . . . . . . .



5

3 4

Das Verfahren der Rekonstruktion in einer historisch-genetischen Theorie  4.1 Naturalismus und Prozessualismus  . . . 4.2 Rekonstruktion aus den Bedingungen  . . 4.2.1 Die naturgeschichtliche Vorgabe  . . . . 4.2.2 Enkulturation und Ontogenese  . . . . .

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 9  9  11  11  12

5 5.1 5.2

Zur Rekonstruktion des Geschlechterverhältnisses  . . . . . . . . Die These  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liebe im Verhältnis der Geschlechter  . . . . . . . . . . . . . . . .

 14  14  15

6

Nur Subjekte lieben 

 17

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V

VI Inhalt

Kapitel 1 Der Bildungsprozeß des Subjekts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 19

1

Das Prinzip der Äquilibration  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 19

2

Der Gewinn an Handlungskompetenz  . . . . . . . . . . . . . . .

 20

3

Die innere Natur des Subjekts: Natur und Kultur in einem  . . . . .

 22

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Handeln und Bewußtsein  . . . . . . . . Die Rückverwiesenheit des Subjekts an sich  Das Problem der Unmittelbarkeit  . . . . . Organisches Bewußtsein  . . . . . . . . . Das Bewußtsein der Handlung  . . . . . . Die reflexive Objektivation  . . . . . . . . Selbstbewußtsein als Moment der Identität 

5

Subjekt und anderer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 28

6

Das interpretierte Selbst  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 30

Kapitel 2 Theorie der Geschlechterbeziehung (I): Intimität und Sexualität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 33

1

Die Rekonstruktion aus der Ontogenese  . . . . . . . . . . . . . .

 33

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5

Die Entwicklung von Intimität  . . . Die symbiotische Beziehung  . . . . Von der Symbiose zur Intimität  . . . Intimität und Sozialität  . . . . . . . Intimität als dauerndes Bedürfnis  . . Der Entwicklungsprozeß der Intimität 

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34 34 37 39 40 41

3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2

Die Entwicklung der Sexualität  . . . . . . . . . . . . . . Die frühkindliche Entwicklung  . . . . . . . . . . . . . . Die Ausbildung der Geschlechtsidentität  . . . . . . . . . Die Ausbildung der Geschlechtsidentität des Knaben  . . . Die Ausbildung der Geschlechtsidentität des Mädchens  . .

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43 43 44 45 46

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. .  24 .  24 .  25 .  26 .  26 .  27 .  28

Inhalt VII

4 4.1 4.2 4.3 4.4

Das Junktim von Intimität und Sexualität  . Das Verlangen der Reorganisation  . . . . . . Die Verbindung von Intimität und Sexualität  Kritik der psychoanalytischen Theorie  . . . . Egoistisches versus selbstloses Lieben  . . . .

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49 49 50 52 54

Kapitel 3 Theorie der Geschlechterbeziehung (II): Liebe  . . . . . . . . . . . . .

 59

1

Intimität und Welt in der frühen Ontogenese 

. . . . . . . . . . .

 59

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

Der ungesicherte Status des Körpers  . . Die A-Kommunikativität  . . . . . . . . . Das Objekt der Sorge  . . . . . . . . . . Der Ort des Privaten  . . . . . . . . . . . Die Lebbarkeit von Sinn  . . . . . . . . . Über die Einsamkeit  . . . . . . . . . . . Ungesellige Geselligkeit  . . . . . . . . .

3 Identität und Liebe  . . . . . . . . . 3.1 Identität  . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Problem, ein Individuum zu sein  3.3 Vermittlung zur Welt  . . . . . . . . 3.4 Was Liebe meint  . . . . . . . . . . . 3.5 Verstehen . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Risiken und Grenzen  . . . . . . . .

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60 60 60 61 62 64 66

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67 67 69 70 72 73 78

Kapitel 4 Theorie der Geschlechterbeziehung (III): Körper und Geist in der Erotik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 79

1

Differentielle Bestimmung der Sexualität  . . . . . . . . . . . . .

 79

2 2.1 2.2

Der Tod in der Metaphysik der Erotik  . . . . . . . . . . . . . . . . Liebe und Tod im Mythos  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Batailles heiliger Eros  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 80  80  81

3

Körper und Geist in der Erotik  . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 85

VIII Inhalt

4 4.1 4.2 4.3

Macht – Aggressivität – Gewalt  . . Sorge und Macht  . . . . . . . . . Die Verletzbarkeit  . . . . . . . . . Das Erbe der Geschichte  . . . . . .

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89 90 92 93

Kapitel 5 Theorie der Geschlechterbeziehung (IV): Die Zeit in der Liebe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 95

1

Der Befund  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 95

2

Der Grund der Dauer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 97

3

Der Grund der Ausschließlichkeit 

. . . . . . . . . . . . . . . . .

 99

4 4.1

 101

4.2

Liebe in der Dauer der Geschlechtergemeinschaft  . . . . . . . . . Die Unvereinbarkeit von Liebe und ihrer institutionalisierten Dauer  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Instrumentalisierung der Geschlechtergemeinschaft  . . . . . .

5

Die Unruhe der Sexualität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 103

6

Das Altern der Liebe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 106

Kapitel 6 Die Universalität des Geschlechterverhältnisses. Seine Institutionalisierung als familiale Organisation  . . . . . . . . .

 109

1

2 2.1 2.2 2.3 2.4

 101  101

Das Theorem der Universalität: Zu allen Zeiten, in allen Gesellschaften  . . . . . . . . . . . . . . .

 109

Der Mythos der Promiskuität  . . Promiskuität und Subjektivität  . Der methodologische Trugschluß  Die Universalität des Subjekts  . . Die sexuellen Praktiken  . . . . .

    

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111 111 113 113 114

Inhalt IX

3 3.1 3.2 3.3

Die Institutionalisierung in der Familie  . . Der Prozeß der Institutionalisierung  . . . . Begriff und Universalität der Familie  . . . . Funktionale Äquivalente  . . . . . . . . .

4

Familie und Gesellschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 121

5

Beistand von der Paläoanthropologie  . . . . . . . . . . . . . . .

 122

Kapitel 7 Die Ausbildung der filiativen Dyaden  . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 131

1 1.1 1.2 1.3

Die Mutter-Kind-Dyade  . . . . . . . . . . . . . . . Die Mutter-Kind-Dyade als primäre Dyade  . . . . . . Die Übernahme der Mutterrolle  . . . . . . . . . . . Die phylogenetische und die historische Entwicklung 

. . . . . . . . . . . . . . . .

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131 131 132 136

2 2.1 2.2 2.3 2.4

Der soziologische Vater  . . . . . . . . . . . . Der kulturelle Ursprung der Vaterrolle  . . . . . Die Anbindung an die Frau  . . . . . . . . . . Die evolutive Verstärkung  . . . . . . . . . . . Auswirkungen auf das Verhältnis der Ehegatten 

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138 138 139 141 143

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115 115 116 120

Kapitel 8 Das Inzesttabu  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 145

1

Die Universalität des Inzesttabus  . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 145

2 2.1 2.2

Gattungsgeschichtliche Determinanten  . . . . . . . . . . . . . . Naturale Verfahren der Inzest-Vermeidung  . . . . . . . . . . . . . Metaphysik des Instinkts  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 147  147  149

3

Funktionale Erklärungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 150

4 4.1 4.2

Historisch-genetische Rekonstruktion  . . . . . . . . . . . . . . . Das Inzesttabu zwischen Mutter und Sohn  . . . . . . . . . . . . . Das Inzesttabu zwischen Vater und Tochter  . . . . . . . . . . . . .

 152  152  154

X Inhalt

4.3 4.3.1 4.3.2 4.4

Das Inzesttabu zwischen Geschwistern  . Die Motivationslage der Geschwister  . . Die interpretative Begründung  . . . . . Das Inzesttabu außerhalb der Kernfamilie 

5

Verletzungen des Inzesttabus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 160

Kapitel 9 Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie  . . . . . . . . . . . . . . .

 163

Der Widerspruch: Eine Vorbemerkung  . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 163

1

Die Anlage der psychoanalytischen Theorie  . . . . . . . . . . . .

 164

2

Der ödipale Konflikt. Die Enkulturation in der psychoanalytischen Theorie Freuds  . . . . . . . . . . . . .

 165

3 3.1 3.2

Entwicklung und Entwicklungsphasen des Ich  . . . . . . . . . . . Die triebtheoretische Anlage  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklungsphasen des Ich  . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 169  169  170

4 4.1 4.2

Der Ödipus-Komplex  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ödipale Konfliktlage des Knaben  . . . . . . . . . . . . . . . . Ödipus und der Geschlechtscharakter der Frau  . . . . . . . . . . .

 173  174  175

5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3

. . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

Strukturkritik der psychoanalytischen Theorie  . . Zur naturalistischen Ausgangslage  . . . . . . . . Der empirische Widerspruch  . . . . . . . . . . . Die Phasenbildung  . . . . . . . . . . . . . . . . Kastrationskomplex und Penisneid  . . . . . . . . Der Widerspruch gegen die Struktur der psychoanalytischen Theorie  . . . . . . . . . . 5.3.1 Zur Kritik der Substanzlogik  . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Das triebtheoretische Verständnis der Entwicklung  5.3.3 Das Verständnis der Sexualität  . . . . . . . . . . . 5.4 Der Mythos des Unbewußten  . . . . . . . . . . .

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156 156 159 160

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177 177 178 178 182

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184 184 185 187 188

Inhalt XI

6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6

Zur prozessualen Logik der Sexualität in einer historisch-genetischen Theorie  . Natur und Kultur  . . . . . . . . . . . . . Das Triebpotential der Sexualität  . . . . . Die Ausbildung der Geschlechtsidentität  . Absenz der ödipalen Konfliktsituation  . . . Liebe und das Verhältnis der Geschlechter  Zur Theorie des Unbewußten  . . . . . . .

Kapitel 10 Theorie der Geschlechterbeziehung (Resümee) 

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193 193 193 194 195 196 197

 199

TEIL II SUBJEKT UND WELT IN DER ROMANTISCHEN LIEBE. SIE WAREN EINER DEM ANDERN DAS UNIVERSUM. (FR. SCHLEGEL) Einleitung: Die Geschichtlichkeit des Liebens  . . . . . . . . . . . . . .

 211

1

Anthropologie und Geschichtlichkeit 

. . . . . . . . . . . . . . .

 211

2

Die Geschichtlichkeit des Liebens  . . . . . . . . . . . . . . . . .

 212

Kapitel 1 Entwicklungslogik der Geschichte und Entwicklungslogik der Subjektivität  . . . . . . . . . . . . . . . .

 215

1

Der Aufbauprozeß in der frühen Ontogenese  . . . . . . . . . . .

 215

2

Die Steigerung der Organisationskompetenz  . . . . . . . . . . .

 216

3

Die Geschichtlichkeit des Subjekts  . . . . . . . . . . . . . . . . .

 218

4

Der Bildungsprozeß des Subjekts in traditionalen Gesellschaften  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stabilität der Subjektstruktur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sinn in traditionalen Gesellschaften  . . . . . . . . . . . . . . . . .

 219  219  220

4.1 4.2

XII Inhalt

4.2.1 Was Sinn meint  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Die Rückkoppelung von Sinn  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Organismus und Welt in traditionalen Gesellschaften  . . . . . . . .

 220  221  222

5 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3

Der Bildungsprozeß des Subjekts in der Neuzeit  Bürgerliche Ontogenese  . . . . . . . . . . . . Weltoffenheit und Weltverlust  . . . . . . . . . . Absenz der Ich-Fixierung  . . . . . . . . . . . . Die De-Ontologisierung der Welt  . . . . . . . . Der Verlust der Welt als Sinnressource  . . . . . .

     

6

Sinn und Sinnverlust in der Neuzeit. Die Sinnressource Leben  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 231

Das Subjekt unter dem kategorischen Konjunktiv  . . . . . . . . .

 234

Kapitel 2 Das neuzeitliche Selbstbewußtsein  . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 239

1

Steigerung der Reflexivität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 239

2 2.1

Das Bewußtsein der Konvergenz  . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Absolutismus der Selbstwahrnehmung  . . . . . . . . . . . . .

 240  241

3 3.1 3.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4

Die Aporien des Transzendentalismus in der Philosophie Fichtes  . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vorgabe der Konvergenz in der absolutistischen Logik  Das absolute und das empirische Ich  . . . . . . . . . . . Subjekt und Welt  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Innen und Außen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bewußtsein der Konstruktivität  . . . . . . . . . . . . Die prästabilierte Sozialwelt  . . . . . . . . . . . . . . . . Freiheit und Gleichheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . .

       

4

Der Verlust der Welt in der kritischen Philosophie  . . . . . . . . .

7

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224 224 228 229 229 230

242 242 245 249 249 251 252 256

 259

Inhalt XIII

Kapitel 3 Logik und Welt im Widerstreit. Die Romantik in der Entwicklungslogik des Geistes 

. . . . . . . . . .

 263

1

Die Behauptung der absolutistischen Logik  . . . . . . . . . . . .

 263

2 2.1 2.2 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 2.4.1 2.5 2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.6

Das Absolute des Universums  . . . . Alles und Nichts  . . . . . . . . . . . . Das Absolute als Subjekt  . . . . . . . Das Subjekt als Geist  . . . . . . . . . Der Lichtpunkt des Schwebens  . . . . Kosmologie und Kosmogonie Schlegels  Subjekt und Substanz in einem  . . . . Das Absolute als Substanz  . . . . . . . Das Absolute als Relation  . . . . . . . Die Gegenlage von Subjekt und Objekt  Zustand und Gegenstand  . . . . . . . Wider ein Erstes  . . . . . . . . . . . . Deus absconditus  . . . . . . . . . . .

            

Kapitel 4 Das Subjekt in der Romantik 

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266 266 267 269 269 271 276 276 280 280 280 282 284

 287

1

Die erkenntniskritische Konstellation 

. . . . . . . . . . . . . . .

 287

2

Die schöpferische Magie des Subjekts  . . . . . . . . . . . . . . .

 288

3

Das Verständnis der Natur als Objektwelt  . . . . . . . . . . . . .

 290

4 Poesie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  292 5

Der Verlust der Welt in der Romantik  . . . . . . . . . . . . . . . .

Kapitel 5 Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt  1 1.1

 297

. . . . . . . . . . .

 301

Das empirische und das reflexive Subjekt  . . . . . . . . . . . . . Differenz und Identität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 301  301

XIV Inhalt

1.2 1.3

Das empirische und das ästhetische Subjekt  . . . . . . . . . . . . Erfahrung und Selbstverständnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 302  303

2

Der Absolutismus des Subjekts in der Perspektive der Lebenspraxis  . . . . . . . . Legibus absolutus  . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verabsolutierung der Sinnlichkeit  . . . . . . . . . . Destruktion der Geistigkeit und Verlust der Wahrheit 

2.1 2.2 2.3

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305 305 306 309

3 Welt ging verloren  . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Umbruch der Logik  . . . . . . . . . . . 3.2 Die Aufklärung und das Schisma der Logiken  3.2.1 Das Reentry des Geistes  . . . . . . . . . . . 3.2.2 Naturschwärmerei  . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Willkür und Zufall  . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Der Verlust der Sozialwelt  . . . . . . . . . . 3.3.1 Verlust der Kommunikabilität  . . . . . . . . 3.3.2 Verlust der Moralität  . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 Verlust der Sinnhaftigkeit  . . . . . . . . . . 3.3.4 Die Welt wird Traum  . . . . . . . . . . . . . 3.3.5 Traumverdacht  . . . . . . . . . . . . . . .

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311 311 312 312 314 316 316 317 319 321 322 325

4 4.1 4.2 4.3

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326 326 327 328

Die Krise des romantischen Subjekts  . . Selbsterfahrung im Handeln  . . . . . . Die Selbstbestimmung der Vernunft  . . . Verlust der Autonomie  . . . . . . . . .

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5 Nicht-Identität  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Ironie der Ironie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Wahnsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 330  331  332

Kapitel 6 Romantische Liebe  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 335

1

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 335

2 Liebe im Verständnis der Romantik  . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Kindheit  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Die Nähe zum Ursprung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 336  336  336

Ihre Genese in der Krise 

Inhalt XV

2.1.2 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7

Frühkindliche Entwicklungen  . Marmorbilder: Die toten Mütter  Liebe und Tod  . . . . . . . . . Liebe und Religion  . . . . . . Kritik ödipaler Interpretamente  Freie Liebe  . . . . . . . . . . Jungfrau und Dirne  . . . . . .

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3 3.1 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4

Bedeutsamkeit und Krise der romantischen Liebe  Identität und Welt  . . . . . . . . . . . . . . . . . Krise der romantischen Liebe  . . . . . . . . . . . Krise der Reorganisation der Intimität  . . . . . . . Die Sinnkrise  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Natur: Geist; Sexualität: Kommunikation  . . . . . Kritik der Traumwelt  . . . . . . . . . . . . . . . .

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337 338 341 344 345 346 350

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354 354 357 357 358 360 362

Zum Schluß  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 365

Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 373

Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 385

Sachregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 389

Dem Andenken meiner Mutter

Vorwort

Warum suchen Menschen ihr Leben an das eines anderen, zumeist an das eines anderen des anderen Geschlechts, zu binden ? Warum haben sie es durch die Geschichte hin getan ? Warum lieben sie ? Es sind diese Fragen, auf die ich im folgenden eine Antwort suche. Unsere Zeit scheint wenig geeignet, Grundlagen des Geschlechterverhältnisses zu klären. Es ist unsicher geworden, ob es überhaupt sichere Grundlagen gibt, denen sich das Geschlechterverhältnis verdankt. Der Feststellung, das Geschlechterverhältnis löse sich in seiner bisherigen institutionalisierten Form: der familialen, auf, folgt das normative Postulat nach, es müsse sich auflösen, wenn irgend menschlichere Verhältnisse geschaffen werden sollten. Die familiale Organisation des Geschlechterverhältnisses behauptet sich gleichwohl. Aber das ist kein Indiz, daß es sie geben muß. Es gibt viele Reste der alten Welt. Über Liebe vollends scheint sich mit Anspruch auf wissenschaftliche Verbindlichkeit fast nichts sagen zu lassen. Schon die Frage, ob es sie gibt, löst nicht endende Streitigkeiten aus. Und doch werden ungezählt viele darauf bestehen, daß sie jemanden lieben; auch werden die meisten von sich sagen, einmal geliebt zu haben, vielleicht nur einen Sommer, vielleicht nur einen Herbst lang. Überdies ist gar nicht zu übersehen, daß Liebe eines der Güter ist, die am meisten begehrt werden und um derentwillen am meisten gelitten wird. Das Problem, die Grundlage des Geschlechterverhältnisses zu klären, liegt nicht nur in den Unsicherheiten, die das Verhältnis selbst in der Gegenwart aufweist, es liegt ebensosehr in der Wissenschaft, die es zu klären sucht. Denn die sozialwissenschaftlichen Theorien sind samt und sonders in den Strudel der Unsicherheiten der Gegenwart geraten. Keine hat bislang ihr erkenntniskritisches Fundament mitzuliefern vermocht, so daß man berechtigt wäre, von ihr anzunehmen, sie habe ihren Gegenstand erfaßt. Eine sozialwissenschaftliche Theorie des Geschlechterverhältnisses, die ihm Liebe zu integrieren wüßte, scheint gegenwärXIX

XX Vorwort

tig ohnehin ausgeschlossen. Denn der sozialwissenschaftlichen Theorie geht ein Verständnis des Subjekts und der Subjektivität ab. Nicht wenige ihrer Vertreter folgen der postmodernen Philosophie und wollen Subjekt und Subjektivität überhaupt als nicht existent ansehen. Eine Liebe ohne Subjekte ist aber eine Absurdität. Man muß lernen, mit den Schwierigkeiten der Gegenwart umzugehen, um mit ihnen fertig zu werden. Wir setzen sie deshalb einstweilen in Klammern. Wir erheben einen Befund, den man nicht bestreiten kann, an den man sich mithin halten muß: Durch die Geschichte hin hat es das Verhältnis der Geschlechter in institutionalisierter Form gegeben. Die Ausgestaltung des Verhältnisses war unterschiedlich, aber in allen Gesellschaften, die wir kennen, gab es irgendeine Form, in der das Verhältnis der Geschlechter institutionalisiert war. Es gibt dieses Verhältnis in institutionalisierter Form auch heute. An diesen Befund schließen wir einen weiteren an: Auch das hat es durch die Geschichte hin gegeben, daß Menschen von der schieren Existenz des anderen überwältigt waren, so daß sie nichts sehnlicher wünschten, als ihr Leben in der Körperzone des anderen zu leben. Das wollen wir, ohne den Begriff weiter aufzuladen, Liebe nennen. Angesichts dieser Befunde wiederholen wir die Frage: Warum gibt es diese Form des Geschlechterverhältnisses ? Warum Liebe ? Ersichtlich hat eine Frage, die in dieser Allgemeinheit gestellt wird, eine gattungsgeschichtliche Dimension. Es geht, wenn wir das Geschlechterverhältnis zu verstehen suchen, um das Verständnis einer menschlichen Organisationsform des Daseins, die bis heute für die menschliche Art, das Leben zu führen, konstitutiv gewesen ist. Die Feststellung enthält zugleich den Hinweis auf die Strategie, um unsere insistente Warum-Frage zu beantworten. Sie beinhaltet eine historische und eine systematische Dimension: Wir werden zum einen fragen, welche naturgeschichtlich heraufgeführten Bedingungen es waren, die das Geschlechterverhältnis haben entstehen lassen; und wir werden zum anderen fragen, in welchem systematischen Konnex diese Organisationsform mit den anderen konstitutiven Bedingungen menschlichen Daseins steht, insbesondere mit Kommunikation und Macht. Gattungsgeschichtliche Argumentationen sind aufwendig; sie erfordern Vorklärungen und systematische Aufbereitungen und mit beiden die Bereitschaft, sich auf nichtalltägliche Methoden der Erkenntnis einzulassen. Sie sind deshalb nicht ganz einfach mit der Absicht zu vereinen, eine Untersuchung, die, wie die Untersuchung des Geschlechterverhältnisses, mit Problemen befaßt ist, die alle an- und vielen unter die Haut gehen, nicht nur für Soziologen zu schreiben. Allein, eine gattungsgeschichtliche Argumentation kommt dem Selbstverständnis unserer Zeit entgegen; denn unsere Zeit denkt gattungsgeschichtlich. Sie hat das Verständnis der menschlichen Daseinsformen als Anschlußorganisation an die Naturgeschichte längst in ihr Weltbild aufgenommen. Es bedarf lediglich der Reflexion, dieses Wissen systematisch zu nutzen.

Vorwort XXI

Die gattungsgeschichtliche Strategie enthält ein Versprechen: Wir erfahren in der Rekonstruktion der menschlichen Lebensformen aus den Bedingungen, unter denen sie sich gebildet haben, wirklich etwas darüber, warum sie sich gebildet haben und warum gerade in der Form, in der wir sie vorfinden. Wir erfahren des weiteren auch etwas darüber, warum sie sich ändern und in welcher Weise. Das gilt auch für das Verhältnis der Geschlechter und die zwischen ihnen mögliche Liebe. Es geht mir, das wird deutlich, im folgenden nicht um eine Sozialgeschichte des Geschlechterverhältnisses. Es geht mir insbesondere nicht darum, festzustellen, wie gut oder schlecht sich dieses Verhältnis in verschiedenen Gesellschaften zu verschiedenen Zeiten hat realisieren lassen. Eher hat das Erstaunen darüber die Untersuchung bestimmt, daß sich ein Verhältnis, das sich unter so subtilen Bedingungen bildet, überhaupt hat bilden und durch die Geschichte hin behaupten können. Warum ? Die historisch-genetische Strategie der Rekonstruktion der menschlichen Lebensformen aus den Bedingungen hat nicht zuletzt den Vorzug, daß sie auch ein Verständnis für die Schattenseiten des Geschlechterverhältnisses entwickelt. Paradiesische Verhältnisse, das wird die Analyse zeigen, sind nicht zu erwarten. Der Hinweis ist notwendig, um den Blick für ein Problem zu schärfen, das mehr als jedes andere das Verständnis des Geschlechterverhältnisses irritiert: für den Einschlag der Macht. Ich habe die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter durch die Geschichte hin in einer eigenen Untersuchung verfolgt. Dabei ging es mir selbstredend nicht darum, erst noch nachzuweisen, daß Macht das Verhältnis bestimmt hat und immer noch bestimmt. Es ging mir auch in dieser Untersuchung darum, zu klären, warum Macht das Verhältnis der Geschlechter bestimmt hat und warum in der Weise, daß sie die Ungleichheit der Frau im Verhältnis zum Mann hat bewirken können. In dieser Form: als Unterdrückung und Unterwerfung des anderen, läuft Macht, das sei kurz und bündig erklärt, allem, worauf das Verhältnis der Geschlechter seiner Genese nach aus ist, zuwider. Das heißt aber noch längst nicht, daß Macht dem Geschlechterverhältnis fremd ist. Macht, das habe ich schon in der erwähnten Untersuchung darzulegen gesucht, bestimmt jede soziale Beziehung, auch das Verhältnis der Geschlechter. Entscheidend ist jedoch, unter welchen Bedingungen Macht sich realisiert. Ich nehme das Thema deshalb in dieser Untersuchung noch einmal auf. Die gattungsgeschichtliche Rekonstruktion des Geschlechterverhältnisses läßt uns auf Bedingungen zurückgreifen, die sich in allen Gesellschaften wiederfinden: Überall bildet sich in der frühen Kindheit eine Intimität, die in der Adoleszenz mit der Sexualität ein Junktim eingeht. Überall muß die in sich sinnfreie Sphäre des Körpers der sinnhaft-kommunikativen Lebensführung verbunden werden, und überall muß die Individualität ihre soziale Anbindung an die Welt erfahren.

XXII Vorwort

Derart universale Bedingungen des Geschlechterverhältnisses treffen jedoch immer auf besondere der je konkreten historischen Epoche und Gesellschaft, in deren systematischen Verbund sie selbst erst ihre konkrete Wirkungsweise zu entfalten vermögen. Eine Rekonstruktion des Geschlechterverhältnisses, die in der Neuzeit ankommen will, muß es sich deshalb angelegen sein lassen, die universalen Bedingungen des Geschlechterverhältnisses mit der neuzeitlichen Entwicklung des Subjekts und seines Verhältnisses zur Welt zusammenzuführen. Auch das ist ein ungemein aufwendiges Unterfangen. Denn die Neuzeit hat nicht nur Ver­hältnisse heraufgeführt, die sich von allen Verhältnissen unterscheiden, die in der Geschichte hinter uns liegen, sie hat auch das Subjekt ein anderes werden lassen, als es in aller Vergangenheit war. Die Rekonstruktion der spezifisch neuzeitlichen Bedingungen, unter denen sich das Geschlechterverhältnis bildet, macht es deshalb notwendig, die Welt wie den Menschen mit allen seinen Lebensformen grundlegend neu zu verstehen. Was hinter uns liegt, ist nur noch Material auf dem Wege zum eigenen Selbstverständnis. Ohne den Bildungsprozeß von Subjekt und Welt in der Neuzeit zu verstehen, läßt sich auch das Geschlechterverhältnis, Liebe insbesondere, nicht verstehen. Seine Entwicklung erreicht einen Kulminationspunkt in der Romantik und in der romantischen Liebe. Die Rekonstruktion des Verhältnisses von Subjekt und Welt in der Neuzeit läßt die romantische Liebe als Ausdruck einer Entwicklung verstehen, in der dem Subjekt Welt als sinnbestimmende Determinante seines Daseins verlorengeht, die Liebenden sich eben deshalb einzig noch aneinander verwiesen sehen. Das ist der Grund, der die romantische Liebe zur Liebe katexochen hat werden lassen. Im zweiten Teil der hier vorliegenden Untersuchung habe ich deshalb die romantische Liebe in ihrer Genese verständlich zu machen gesucht. Mit ihr erreichen wir die Situation unserer eigenen Zeit, auch wenn die konkrete historische Konstellation der Romantik nicht länger die unsrige ist. Es bleibt mir noch eine angenehme Pflicht: Uwe Weisenbacher dafür zu danken, daß er die vorletzte Fassung dieser Untersuchung gelesen hat. Er hat viele Unebenheiten, inhaltliche wie stilistische, glätten geholfen. Klaus Holz danke ich für nützliche Hinweise, wie einige der Argumentationen stringenter gefaßt werden konnten. Bettina Bretzinger hat die Register angefertigt; auch ihr sei dafür gedankt.

Teil I Warum wir lieben. Intimität – Sexualität – Identität

Zur Gattungsgeschichte der Geschlechter. Eine Einleitung

1

Der Anschluß an die Naturgeschichte

Wir verstehen die Geschichte der Geschlechter ebenso wie die Geschichte überhaupt als Gattungsgeschichte. Gattungsgeschichte besagt, daß der Mensch erst durch die Ausbildung geistiger, und zwar sozio-kultureller Lebensformen im Anschluß an die Naturgeschichte zum Menschen geworden ist. Die für das Verständnis des Menschen in seiner sozio-kulturellen Daseinsform alles entscheidende Frage ist deshalb: Wie war das möglich ? Wodurch konnte sich ein Prozeß der Enkulturation, der Bildung des Menschen zum Menschen, in Gang setzen und zu jenen Lebensformen führen, in denen wir das Dasein des Menschen in der Geschichte vorfinden ? Zu ihnen gehört das Verhältnis der Geschlechter. Das gattungsgeschichtliche Bewußtsein, daß die menschlichen Le­bensformen nicht zu verstehen sind, wenn sie nicht als Anschlußorganisation aus der Natur­ geschichte herausgeführt werden, hat sich bereits im 19. Jahrhundert und in seinen Anfängen noch vor Darwin ausgebildet. Marx, Nietzsche, Freud, um drei der herausragenden Denker zu nennen, wurden gleichermaßen von ihm bestimmt.1 Systematisch in einer Weise umsetzen, daß verständlich würde, weshalb der Mensch die konkreten Formen seiner sozio-kulturellen Lebensführung hat ausbilden können, ließ sich das Wissen nicht. Es ist deshalb auch uneinsichtig geblieben, weshalb sich das Geschlechterverhältnis ausbilden konnte. Das zeigt ein Blick auf eine der bedeutendsten Theorien der gegenwärtigen Jahrhunderthälfte: Ich meine die Strukturale Anthropologie Lévi-Strauss’. Obgleich ihr spekulativer Einschlag sie 1 Vgl. K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW, Erg. Bd. 1, S. 456 ff.; K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, S. 9 ff.; zur Programmatik des Naturalismus Nietzsches vgl. Fr. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSTA 5, S. 9 ff.; S. Freud, Totem und Tabu, Ges. Werke, Bd. IX.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_1

3

4

Zur Gattungsgeschichte der Geschlechter

fast schon wieder der Vergessenheit hat anheimfallen lassen, ist sie für uns schon deshalb von Interesse, weil auch Lévi-Strauss die Enkulturation als Anschluß­ organisation der sozio-kulturellen Lebensformen an die Na­turgeschichte durch die Ausbildung des Geschlechterverhältnisses bestimmt sein läßt.

2

Inzest und Tausch der Frauen. Die Enkulturation in der Anthropologie Lévi-Strauss’2

Lévi-Strauss sucht für seine Theorie nach einem Verbindungsglied zwischen Natur und Kultur. Er findet es im Inzestverbot. Das Inzestverbot gründet, folgt man LéviStrauss, zum einen in der Natur, nämlich in der Regelungsmaterie der Sexualität, zum anderen aber in der Kultur, nämlich darin, daß die Ausübung der Sexualität an erst kulturell geschaffene Regeln gebunden werden muß. Das Inzestverbot wird für Lévi-Strauss zur Regel der Regel. Alle Regelhaftigkeit der kulturellen Lebensformen leitet er aus ihm ab. Die Frage drängt sich auf, wodurch diese Form der Regelbildung zustande kommt. Lévi-Strauss sieht sie aus der Notwendigkeit erwachsen, die Existenz der Gruppe als Gruppe dadurch zu sichern, daß der Zufall in der Verteilung der Frauen durch Organisation ersetzt wird. Da, wie Lévi-Strauss erklärt, ein Mann immer Appetit auf mehr als eine Frau hat, würden ohne das Inzestverbot viele Männer leer ausgehen, weil die Patriarchen die Hand auf ihre Töchter legten. Demgegenüber bewirkt das Inzestverbot die Gleichverteilung der Frauen. Lévi-Strauss argumentiert ersichtlich struktur-funktional. Er nimmt an, daß die Gleichverteilung der Frauen notwendig war, und läßt sie eben deshalb auch geschehen. Die Frage, wie sie möglich wurde, bleibt ungeklärt. Lévi-Strauss berührt sie nur einmal, wenn er fragt, wieviel Weitsicht den Männern zu eigen gewesen sein müsse, um zu dieser Organisation zu finden. Er meint, es genüge die spontane Auflösung psycho-sozialer Spannungen. Keineswegs ! Denn eine Spannungsabfuhr wäre allenfalls bei den jungen Männern entstanden, nicht aber bei den Patriarchen, die die Hand auf die Töchter gelegt hatten. Um zu einer Gleichverteilung der Frauen zu kommen, hätten die jungen Männer ihre Väter erschlagen müssen, um die Schwestern freizubekommen. So hat bekanntlich Freud argumentiert.3 Die Schaffung einer Regelungsmaterie auf diesem Wege ist aber auch aus anderen Gründen nicht denkbar. Wie eine Spannungsabfuhr in eine Organisationskompetenz überführt wird, und wie sich diese Organisationskompetenz in eine Organisation umsetzt, die schlechterdings grundlegend für die humane Gesellschaft sein soll, ist nicht ersichtlich. Gar nicht verständlich wird auch, wie 2 3

Vgl. zum folgenden C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, S. 45 ff. S. Freud, Totem und Tabu, Ges. Werke, Bd. IX; vgl. unten S. 165 f.

Die Aporie des Bildungsprozesses 5

aus dieser Regelung alle anderen sozialen Organisationsformen abgeleitet werden könnten. In Wahrheit muß für diese wie für alle anderen sozio-kulturellen Gestaltungen eine spezifisch humane Gestaltungskompetenz immer schon in Anspruch genommen werden. Und die muß Männern und Frauen gleicherweise eigen gewesen sein. Hätten wir uns den Vorgang vorzustellen, wie Lévi-Strauss ihn plausibel zu machen gesucht hat, wäre der eigentliche Schöpfungsakt der Menschheit von den Männern ausgegangen.4 Wie die Frauen jemals hätten kultiviert werden können, wäre nicht vorstellbar.

3

Die Aporie des Bildungsprozesses

Die Schwierigkeiten, in die Lévi-Strauss bei dem Versuch, den Übergang aus der Natur- in die Kulturgeschichte verständlich zu machen, geraten ist, gründen in einer Aporie, die sich auch sonst zeigt. Die wohl überwiegende Meinung sieht den Prozeß der gattungsgeschichtlichen Enkulturation aus den Anforderungen der Subsistenzsicherung hervorgehen. Programmatisch ist die Feststellung Marx’ und Engels’: » Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren … «5

Diese Vorstellung hat insbesondere, aber nicht nur, in den an die Marxsche Theorie anschließenden Lehren ihre evolutive Ausarbeitung gefunden. Demnach ist es die kooperativ betriebene Jagd gewesen, die die kulturellen Errungenschaften wie Denken und Sprechen und ebenso die elementaren Formen der Vergesellschaftung wie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und die daran gebundene Familie haben entstehen lassen.6 M. Hildebrand-Nilshon präzisiert den Verlauf wie folgt: » Im Laufe der Evolution haben sich demnach die Primatengruppen durchgesetzt, die in der Lage waren ■■

die Aktionen des Zusammenwirkens unter Ausschaltung der Konkurrenz ef­fektiv zu koordinieren,

4 Auf diese Konsequenz hat Gayle Rubin hingewiesen; G. Rubin, The Traffic in Women, S. 171 ff. 5 K. Marx/F. Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 21. 6 Zur sogenannten Hunting-Hypothese vgl. S. L. Washburn/C. S. Lancaster, The Evolution of Hunting, S. 293 ff.

6

Zur Gattungsgeschichte der Geschlechter

■■

die Versorgung aller Mitglieder der Gesellungseinheit, vor allem der Mütter und Kinder, durch Verteilung der Beute zu gewährleisten.

Die Entstehung kooperativer Jagdtechniken mit Verteilungspraktiken halten wir für die ersten und unerläßlichen Schritte der Evolution zum Menschen. «7

Hildebrand-Nilshon merkt vorsichtshalber an, daß die Argumentation auf psychologischer Ebene angesiedelt sei und nicht zur Rekonstruktion des realen sozialen Prozesses verwendet werden könne.8 In der Tat läßt sich die Vorstellung, die Jagd sei das entscheidende Moment im Prozeß der Enkulturation gewesen, nicht einlösen. Instinktiv nämlich können die kooperativen Errungenschaften nicht fixiert gewesen sein. Denn der evolutive Prozeß zeigt, wie auch Hildebrand-Nilshon annimmt, einen Abbau instinktiver Mechanismen. Wenn der Enkulturationsprozeß aber nicht instinktiv gesteuert ist, muß er kulturell gesteuert sein. Eine kulturelle Steuerung aber setzt immer mehr voraus als nur ein einziges Moment; sie verlangt insbesondere eine generalisierte kognitive Kompetenz. Die Frage ist deshalb, wodurch der Gesamtprozeß der Menschwerdung möglich wurde. Die Kritik ist insoweit auch von feministischer Seite untermauert worden. Sally Slocum hat darauf hingewiesen, daß die Zuschreibung der Enkulturation an die Errungenschaft kooperativer Jagd den Prozeß den Männern andiene und die Frauen außen vor lasse. » Eine Theorie «, so ihr Einwand, » die die Hälfte der menschlichen Spezies ausläßt, ist unausgeglichen «.9 Die Theorie ist nicht nur unausgeglichen, sie ist nicht nachvollziehbar. Wie in der Theorie Lévi-Strauss’ wüßte man nicht, wie die Frauen überhaupt kultiviert worden wären. Die Männer müßten es jedenfalls vor ihnen gewesen sein und die Kultur irgendwie auch den Frauen vermittelt haben. Es ist aber auch nicht einsichtig, wie die Männer selbst zu ihrem Erwerb gelangt sein sollten. Mit Recht weist S. Slocum darauf hin, daß die Fähigkeit zu jagen selbst schon auf Kompetenzen beruhe, die erst kulturell erworben werden mußten.10 Die » Jäger-Hypothese « ist durch weitere Kritik unter Druck geraten. Dabei ist insbesondere die Sammeltätigkeit der Frau in den Vordergrund gerückt worden. Der entscheidende Einwand ist jedoch nicht, daß dem Sammeln ein größerer Stellenwert zugeschrieben werden muß,11 oder daß Frauen ihrerseits in der Lage

7 M. Hildebrand-Nilshon, Die Entwicklung der Sprache, S. 137. 8 M. Hildebrand-Nilshon, ebd., S. 139. 9 S. Slocum, Woman the Gatherer, S. 39. 10 S. Slocum, ebd., S. 42 f. 11 So F. Dahlberg, Introduction, S. 1 ff.

Die Aporie des Bildungsprozesses 7

waren zu jagen, Kleinwild zumindest,12 der entscheidende Einwand ist, daß Sammeln und Jagen nicht wie auf subhumaner Ebene instinktiv gesteuert sind, vielmehr kulturelle Tätigkeitsformen darstellen. Das aber heißt, daß zuvor schon kulturelle Kompetenzen entwickelt worden sein müssen. Wir können den Grund der Schwierigkeit, den Übergang aus der Natur­ geschichte in die Kulturgeschichte verständlich zu machen, prinzipieller fassen: Die menschlichen Lebensformen sind als kulturelle Lebensformen vom Menschen selbst geschaffene Lebensformen. Niemand als der Mensch selbst kann im Übergang zur Kulturgeschichte ihr Autor gewesen sein. Mehr noch: Es macht die spezifische Autonomie des Menschen im Unterschied zu derjenigen der Tiere aus, unter selbstgeschaffenen, historisch entwicklungsfähigen Lebensformen zu leben. Notwendig muß deshalb eine Theorie, die den Enkulturationsprozeß einsichtig machen will, in dem Sinne eine Kompetenztheorie sein, daß sie erklärt, wodurch der Mensch die Kompetenz erworben hat, kulturelle Lebensformen zu entwickeln. Ersichtlich liegt darin, daß die menschlichen Lebensformen vom Menschen selbst geschaffene Lebensformen sind, der eigentliche Grund der Schwierigkeit, den Prozeß näher zu bestimmen. Denn immer scheinen die, die als Autoren dieses demiurgischen Prozesses in Frage kommen, bereits über jene Kompetenzen verfügen zu müssen, die es erst zu erklären gilt. Wie hätten sie, um ein Beispiel zu nennen, Sprache schaffen können, ohne bereits angefangen zu haben, zu denken, wie das Geschlechterverhältnis, ohne irgendeiner Form des Verstehens fähig zu sein, wie Familien, ohne Gefühle familialer Bindungen zu kennen ? Hinter den Menschen zurückzugehen, scheint unmöglich zu sein. Und doch wissen wir, daß er selbst sich erst in seinen Lebensformen gebildet hat. Die Reichweite dieser Aporie für das Verständnis des Menschen – oder sollen wir sagen: für die Unmöglichkeit dieses Verständnisses – läßt sich an einer Philosophie bemessen, die sich im Positiven halten will und sich eben wegen der Uneinholbarkeit des Menschen an eine nicht faßbare Ursprünglichkeit seiner selbst verliert. Foucault hat die Aporie mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht. Er schreibt: » Wenn er (der Mensch) versucht, sich als arbeitendes Wesen zu erfassen, bringt er die rudimentärsten Formen davon nur an den Tag innerhalb einer menschlichen Zeit und eines menschlichen Raumes, die bereits institutionalisiert, bereits von der Gesellschaft beherrscht sind. Wenn er seine Essenz als die eines sprechenden Subjekts zu definieren versucht, diesseits jeder effektiv konstituierten Sprache, findet er stets nur die Möglichkeit der bereits entfalteten Sprache und nicht das Gestammel, das erste Wort, von

12 A. Estioko-Griffin/P. Bion Griffin, Woman the Hunter, S. 121 ff.

8

Zur Gattungsgeschichte der Geschlechter

dem aus alle Sprachen und Sprache selbst möglich geworden sind. Stets auf dem Hintergrund eines bereits Begonnenen kann der Mensch das denken, was für ihn als Ursprung gilt. Dieser Ursprung ist also für ihn absolut nicht der Beginn, eine Art erster Morgen der Geschichte, seit dem sich alle späteren Errungenschaften gehäuft hätten. «13

Die Konsequenz ist unübersehbar: Die Geschichte ist in ihrem Anfang von einem sie bestimmenden Ursprung hintergangen. Da jedoch Geschichte immer die Geschichte der geistigen Lebensformen meint, muß auch der ihr vorwegliegende Ursprung ein geistiger sein. Das ist in der Tat die » Wiederkehr des Ursprungs «, als die Foucault sie auch deklariert hat. Gewiß, der Ursprung ist kein metaphysischer; Foucault rekurriert auf keine Geistigkeit im Absoluten. Wenn man jedoch überhaupt einen Ursprung denkt, muß man auch die Weiterungen akzeptieren, die mit ihm verbunden sind. Wo anders sollte denn eine Geistigkeit, die älter ist als der Mensch, ihren Grund haben, als in einem metaphysisch Absoluten des Universums ? Der Aporie läßt sich in unserer Zeit eine Faszination abgewinnen: Man erklärt, sich ans Positive binden zu wollen, und sieht den Menschen doch auf einen unfaßbaren, nicht denkbaren Ursprung verwiesen, der das andere seiner selbst ausmacht. Von diesem Ursprung her läßt sich Geschichte nicht verstehen, denn der Ursprung hat keinen Anfang. Geschichte hat aber einen, exakt den, den wir zu denken genötigt sind: den Übergang aus einer in sich jeder Geistigkeit entsetzten Naturgeschichte in die Kulturgeschichte, in der das Leben in geistigen Organisa­ tionsformen geführt wird. Die Aufgabe, die sich uns stellt, läßt sich nach allem prägnant bestimmen: Wir müssen systematischer, als das in irgendeiner der Theorien bisher geschehen ist, zu erklären suchen, wie sich überhaupt eine sozio-kulturelle Organisationsform des Lebens hat bilden können, die an die Stelle naturaler Fixierungen der Lebensformen getreten ist. Wir fragen m. a. W. nicht, weshalb sich diese oder jene Regel hat bilden können, die dann zur Regel der Regel hypostasiert wird. Wir fragen, wie der Gesamtprozeß beschaffen ist, in dem sich eine sozio-kulturelle Lebensform ausgebildet hat. Diesem Gesamtprozeß ordnen wir die einzelnen Lebensformen ein. Zu ihnen zählen auch das Verhältnis der Geschlechter und die aus ihm hervorgegangene Form der Familie.

13 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 398.

Das Verfahren der Rekonstruktion in einer historisch-genetischen Theorie 9

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Das Verfahren der Rekonstruktion in einer historisch-genetischen Theorie

4.1

Naturalismus und Prozessualismus

Das gattungsgeschichtliche Verständnis der Neuzeit, das Wissen darum, daß sich die menschliche Daseinsweise als Anschlußorganisation an eine naturgeschichtlich heraufgeführte anthropologische Verfassung gebildet hat, eröffnet eine Erkenntnismöglichkeit, die erkenntniskritisch tragfähig und historisch deshalb gehaltvoll ist, weil sie die Einsicht in die systemische Organisation der Welt mit ihrer je historischen Ausprägung verbindet: Eine historisch-genetische Theorie sucht das Verständnis der historisch vorfindlichen Gesellschaften und der ihnen eingebildeten Gliederungen aus der Rekonstruktion ihrer Bildungsprozesse zu gewinnen. Eine derart rekonstruktive Theorie ist ebenso eine naturalistische wie eine prozessualistische Theorie. Naturalistisch ist diese Theorie darin, daß sie die naturalen Bedingungen der Naturgeschichte in der anthropologischen Verfassung vorgibt; sie halten sich in aller Geschichte durch. Prozessualistisch ist sie darin, daß sie die sozialen Organisationsformen selbst erst aus kulturellen Bildungsprozessen entstehen läßt. Mit der Rekonstruktion dessen, was einstmals Konstruktion unter vorgegebenen Bedingungen war, setzen wir uns zunächst von jedem substanzlogischen Verständnis der sozio-kulturellen Daseinsformen ab. Substanzlogisch nenne ich nicht nur ein Denken, das in letzter Instanz die sozio-kulturellen, und das heißt geistigen Lebensformen auf ein Absolutes als Geist konvergieren läßt, vielmehr auch jenes, das im Menschen einen nicht weiter hintergehbaren Kern an Geistigkeit: gleich ob kognitiver, normativer oder ästhetischer Natur, vorgibt. Derartige Vorgaben sind, auch wenn sie nur transzendental gemeint sind, historische Transformationen eines einstmals metaphysischen Denkens vom Vorrang des Geistes. Wir denken vom Vorrang der Natur.14 Mit der prozeßlogischen Rekonstruktion aus den je gegebenen Bedingungen setzen wir uns aber ebenso gegen sozio-biologische Erklärungen der Sozialwelt ab. Sozio-biologische Erklärungen gehen vom Vorrang der Natur aus, sie schreiben jedoch die sozio-kulturellen Lebensformen dem Organismus in seiner naturalen Verfassung ein, um sie hernach als kulturelle aus ihm ableiten zu können.15 In der Struktur der Argumentation bleiben sie weiterhin der Substanzlogik als Ableitungslogik verhaftet. Eben deshalb sind wir auch weit davon entfernt, dem na14 Über den Umbruch im Weltbild als Denken vom Vorrang des Geistes zum Vorrang der Natur vgl. G. Dux, Denken vom Vorrang der Natur, S. 161 ff. 15 Vgl. für das Band der Liebe S. L. W. Mellen, The Evolution of Love, S. 136 ff.

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Zur Gattungsgeschichte der Geschlechter

turalistischen Strukturalismus Lévi-Strauss’ zu folgen, obgleich es auch in einer historisch-genetischen Theorie zuvörderst um die Strukturen und erst danach um die Semantik der Welt geht. Lévi-Strauss’ Vorstellung zufolge sind die Strukturen der sozialen Organisation, gleich, wo man sie antrifft: im Verwandtschaftssystem, in der Sprache oder im Denken, Transformationen naturaler Strukturen. Er bezeichnet es geradezu als das Ziel der ethnologischen Forschung, durch die Analyse von ethnographischen Invarianten hindurch » die Kultur in die Natur und schließlich das Leben in die Gesamtheit seiner physikochemischen Bedingungen zu reintegrieren. «16 Wenn er dabei gleichwohl einem Reduktionismus abschwört, so doch nur in dem Sinne, daß er meint, beim Rückgang auf die Natur bereits Eigenschaften zu entdecken, die erst in den geistigen Gebilden der Sozialwelt voll zum Tragen kommen.17 Für ihn kommen Natur und Geist zur Deckung, und das um so mehr, als auch der Geist ein Ding ist.18 Eine historisch-genetische Theorie verfährt grundlegend anders: Sie verlagert die sozialen Strukturen gerade nicht zurück in das biologische Stratum. Dort liegen nur die Ausgangsbedingungen für einen Prozeß, in dem sich die sozialen Strukturen allererst bilden. Soziale Strukturen sind darin originär, daß sie in einem anderen Stratum als dem der Natur gelegen sind. Das gilt insbesondere von den Strukturen im Verhältnis der Geschlechter. Eine naturalistische Theorie, die zugleich eine prozessualistische Theorie in dem zuvor bestimmten Sinn ist, entgeht dem Verdacht, die Natur aus den gesellschaftlichen Lebensformen eliminieren zu wollen. Das wäre nirgends absurder als im Verständnis des Verhältnisses der Geschlechter. Die Frage ist nur, welche Rolle sie in diesem Verhältnis spielt. Sie verlangt eine Antwort, die den ambivalenten Status der Natur zum Vorschein bringt: Im Konstruktivismus einer historisch-genetischen Theorie gewinnt die Natur ihre Bedeutung für den Enkulturations­prozeß der Gattung erst in den kulturellen, selbstgeschaffenen Lebensformen, ohne deshalb ihren Status als Natur zu verlieren. Die Sexualität hätte schlechterdings nicht die Bedeutung, die sie hat, ginge sie nicht in der Lebensform der Geschlechter mit der erst kulturell ausgeprägten Intimität zusammen. Vergleichbares gilt für die übrigen Determinanten der Geschlechterbeziehung. Wir werden sie erörtern.

16 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 284. 17 C. Lévi-Strauss, ebd., S. 285. 18 C. Lévi-Strauss, ebd., S. 285.

Das Verfahren der Rekonstruktion in einer historisch-genetischen Theorie 11

4.2

Rekonstruktion aus den Bedingungen

4.2.1 Die naturgeschichtliche Vorgabe Rekonstruktion ist ein Allerweltsbegriff; erst in einer historisch-genetischen Theorie gewinnt er einen prägnanten Gehalt. In ihr heißt Rekonstruktion, durch Rückgang auf die Bedingungen das Resultat aus dem Prozeß verständlich werden zu lassen, in dem es sich gebildet hat. Dabei wird die Ausgangslage der Rekonstruk­ tion von den naturalen Bedingungen bestimmt, die sich in der anthropologischen Verfassung in einer langen Kette der Evolution gebildet haben. Unser Wissen über die entscheidende Phase des Tier-Mensch-Übergangsfeldes ist allerdings fragmentarisch. Wir kennen jedoch das schließliche Resultat in der anthropologischen Verfassung des rezenten Menschen: Der Mensch ist von einem genetisch fixierten, also instinktiven Verhaltenssystem weitgehend freigesetzt.19 Da auf der subhumanen Ebene einer instinktiv bestimmten Verhaltensorganisation die Umwelt das Korrelat der genetischen Fixierung darstellt, ist für den Menschen mit der instinktiven Fixierung auch eine genetisch fixierte Umwelt entfallen. Beide, ein System des Verhaltens respektive Handelns sowie eine handlungsrelevant organisierte Welt, müssen vom Menschen erst als sozio-kulturelle Lebensformen selbst geschaffen werden. Die naturalen Bedingungen, von denen eine historisch-genetische Rekonstruktion auszugehen hat, liegen nach allem zum einen in dem Freiraum, der durch die evolutive Entwicklung entstanden ist; ohne ihn hätten sich sozio-kultu­relle Lebensformen nicht ausbilden können. Sie liegen zum anderen in den Voraussetzungen, die notwendig sind, um diesen Bildungsprozeß auch realisieren zu können. Zu den letzteren zählt neben der Motorik insbesondere die Sensorik, ohne deren Zuliefererfunktion der Mensch außerstande wäre, etwas von der Außenwelt zu wissen, ohne die er mithin weder ein Handlungssystem noch eine Welt in kulturellen Formen zu organisieren vermöchte.20 Dazu zählen weiter das leistungsstarke Zentralnervensystem und schließlich auch die menschlichen Sprachwerkzeuge. Wir wollen im gegenwärtigen Zusammenhang die naturalen Vorgaben als gegeben betrachten. Wir werden sie namhaft machen, wo wir sie benötigen. Für eine historisch-genetische Theorie entscheidend ist der Prozeß selbst, in dem die 19 Die Überlagerungsthese von Count und Hassenstein scheint mir schon deshalb nicht akzeptabel, weil dann unter der kulturellen Haut des Menschen ein perfekt organisiertes Tier schlummern müßte. E. W. Count, Das Biogramm, S. 134; B. Hassenstein, Das spezifisch Menschliche, S. 60 ff. 20 Die mit viel Aufwand verfochtene These des Radikalen Konstruktivismus, der menschliche Erkenntnisapparat kenne keinen sensorischen input, ist erkenntniskritisch nicht zu halten. Zur Kritik vgl. W. Meinefeld, Selbstreferentialität und Korrespondenz.

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Zur Gattungsgeschichte der Geschlechter

Ausbildung der sozio-kulturellen Lebensformen realiter erfolgt. Er trägt die Last der Erklärung der Menschwerdung des Menschen; er trägt auch die Last der Erklärung dafür, daß sich ein spezifisch humanes Verhältnis der Geschlechter hat ausbilden können. Im Hinblick auf diesen Prozeß gewinnt eine naturale Vorgabe eine überragende Bedeutung: die Notwendigkeit, den Aufbauprozeß sozio-kultureller Lebensformen in der frühen Ontogenese zu beginnen. 4.2.2 Enkulturation und Ontogenese Die Freisetzung von genetisch fixierten, also instinktiven Verhaltenssteuerungen und die Entwicklung sozio-kultureller Lebensformen ist ein Prozeß, der sich über Jahrmillionen hingezogen hat. Er kann aus Gründen der Viabilität nur derart erfolgt sein, daß innerhalb dieses Prozesses zwei Prozesse parallel verlaufen sind. Der Abbau instinktiver Lebensformen muß naturgeschichtlich über die ver­ änderte genetische Ausstattung des einzelnen Gattungsmitgliedes erfolgen. Faßt man den Gesamtprozeß ins Auge, müssen m. a. W. die jeweils späteren Generationen in zunehmend geringerem Maße in ihrem Verhalten durch Instinkte fixiert worden sein und eine jeweils zunehmend größere kulturelle Organisationskompetenz entwickelt haben. Tatsächlich läßt sich in der Entwicklung der Primaten eine Entwicklungslinie ausmachen, die mit der Zunahme der Dauer der Tragzeit einen zunehmend unfertigeren Organismus bei der Geburt erkennen läßt. Den Endzustand für den Menschen kennen wir: Der Mensch wird in einem extrem unfertigen Zustand geboren. Wenn wir davon ausgehen, daß sich dieser Zustand naturgeschichtlich erst in den Jahrmillionen des Tier-Mensch-Übergangsfeldes hergestellt hat, müssen wir auch davon ausgehen, daß sich in der gleichen naturgeschichtlichen Phase der Aufbau einer sozio-kulturellen Organisationsform des Daseins vollzogen hat. Das aber heißt: Aus sachlogischen Gründen ist bereits im Tier-Mensch-Übergangsfeld die frühe Ontogenese der Gattungsmitglieder diejenige Phase, in der sich sozio-kulturelle Lebensformen zu entwickeln beginnen, die hernach auf der Erwachsenenebene genutzt werden können.21 Wir sind in der vorliegenden Untersuchung des Geschlechterverhältnisses nicht mit der naturgeschichtlichen Übergangsphase befaßt. Wir halten uns an die anthropologische Verfassung des rezenten Menschen, also des homo sapiens sa­ piens, wie er sich vor ca. 40 000 Jahren ausgebildet hat. Für ihn aber gilt, was sich täglich vor aller Augen abspielt: Jeder beginnt, die kulturellen Kompetenzen in der frühen Phase der Ontogenese zu entwickeln. In der frühen Phase der Onto­genese erfolgt auch der Aufbau der grundlegenden Strukturen, über die sich später die 21 So mit Recht M. Kaiser, Individuelle Vergesellschaftung in naturhistorischer Sicht.

Das Verfahren der Rekonstruktion in einer historisch-genetischen Theorie 13

Fülle der sozio-kulturellen Lebensformen ausbildet. Die Pointe an dieser jedem zugänglichen Feststellung ist: Das war immer so. Zu allen Zeiten haben sich die sozio-kulturellen Lebensformen in ihren Grundstrukturen in der frühen Ontogenese ausgebildet. Es kann deshalb keine Frage sein, wo gattungsgeschichtlich der Ort der Enkulturation zu suchen ist: in der Sozialität der ersten Lebensjahre, vornehmlich in der Beziehung zur sorgenden Bezugsperson, in der Regel also zur Mutter. Was in ihr an Kompetenz über Lernprozesse erworben wird, setzt sich in der späteren Lebensphase auf dem Interaktionsniveau der Erwachsenen in praktikable Lebensformen um. Die Einsicht, daß alle Kultur sich aus der frühen Ontogenese heraus entwickelt haben muß, ist, wenn man sich den Vorgang einmal vor Augen geführt hat, derart zwingend, daß fast schon unverständlich ist, weshalb sie nicht längst aufgenommen und auf ihre Konsequenzen hin untersucht worden ist.22 Die Strukturale Anthropologie Lévi-Strauss’ ist eine der wenigen Theorien, in die mit dem Naturalismus auch diese Einsicht integriert ist, allerdings mit unzureichender systematischer Begründung.23 Die Einsicht hat weitreichende Konsequenzen für das Verständnis der Enkulturation. So werden vor allem die Strukturen der Kognition wie der Sprache durch den Umstand, daß sie unter den Bedingungen der frühen Ontogenese entwickelt werden, entscheidend bestimmt. Entsprechend stellt sich die Welt in diesen Strukturen dar. Das habe ich an anderer Stelle gezeigt.24 Es sind jedoch nicht nur die Strukturen der Kognition, der Sprache sowie der Moral, die dadurch bestimmt werden; so gut wie alle menschlichen Qualitäten, die wir der Person verhaftet sein lassen, nehmen hier ihren Ausgang. Wir können den Enkulturationsprozeß systematisch wie folgt zusammenfassen: Zugrunde liegt ihm der unfertige Zustand der Gattungsmitglieder. Er kann von jedem einzelnen Gattungsmitglied nur dadurch behoben werden, daß es Handlungskompetenz zu gewinnen sucht. Der Gewinn an Handlungskompetenz ist der eigentlich schöpferische Prozeß in der Enkulturation. Mit dem Erwerb der Handlungskompetenz ist auf seiten der Akteure die Ausbildung einer Subjektivität als innere Organisationsform des Organismus verbunden. Dem Aufbauprozeß auf der Subjektseite entspricht auf der Objektseite der Aufbauprozeß von Welt, der Natur wie der Sozialwelt. Auch er wird in seinen Anfängen von der Entwicklung der Handlungskompetenz bestimmt. Sie entfaltet sich in der Interaktion mit einem immer schon kompetenteren anderen, der sorgenden Bezugsperson. Da22 Vgl. jedoch St. Gould, der darauf hinweist, daß die lange Kindheitsphase evolutiv als Grund für die Ausbildung von Familie und Gesellschaft angesehen werden muß. St. Gould, Rela­ tionship of Individual and Group Change, S. 237. Zu erwähnen ist ebenfalls S. Slocum, Woman the Gatherer, S. 39 ff. 23 C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen, S. 153 ff. 24 G. Dux, Die Logik der Weltbilder, S. 96 ff., 256 ff.; ders., Die Zeit in der Geschichte, S. 121 ff.

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Zur Gattungsgeschichte der Geschlechter

bei liegt das eigentlich konstruktive Geschehen auf der Seite des nachwachsenden Gattungsmitgliedes. Jeder einzelne bildet in der Interaktion mit der sorgenden Bezugsperson und den sonst relevanten anderen die Grundstrukturen des Handelns und der Welt immer neu aus. Jeder legt damit zugleich Grund für die Ausbildung der Struktur seiner Subjektivität. Bereits phylogenetisch hat die Anbindung der Jungen an die Mutter es ersteren ermöglicht, den kulturellen Entwicklungsprozeß in Gang zu setzen. Diesseits der Schwelle zum rezenten Menschen werden die zwischen dem Kind und der sorgenden Bezugsperson entwickelten Interaktionsstrukturen zum Gegenstand dessen, was Piaget » reflexive Abstraktion « genannt hat und damit zur Bedingung des je nächsten Entwicklungsschrittes.25

5

Zur Rekonstruktion des Geschlechterverhältnisses

5.1

Die These

Wir sind in der nachfolgenden Untersuchung mit der Ausbildung und historischen Entwicklung des Geschlechterverhältnisses befaßt. Es gewinnt im Enkultura­ tionsprozeß der Gattung eine Schlüsselstellung. Wenn wir zuvor festgestellt haben, daß der Enkulturationsprozeß der Gattung naturnotwendig aus der Onto­genese herausgeführt werden muß, so gilt diese Feststellung auch für das Geschlechterverhältnis. Die Bedingungen für seine Ausbildung in der Adoleszenz und im Erwachsenenalter liegen in der Ontogenese. Sie lassen seine Ausbildung » kulturnotwendig « werden. Damit aber ist zugleich die Grundform der Vergesellschaftung geschaffen. Gattungsgeschichtlich ist das Geschlechterverhältnis m. a. W. das Zwischenglied zur Gesellschaft, das letztere überhaupt erst möglich macht. Das heißt nicht, daß das Geschlechterverhältnis die einzige De­terminante für die Entstehung der Gesellschaft ist und ihr vorhergeht.26 Die Kausalität zwischen der Ausbildung des Geschlechterverhältnisses und der Gesellschaft ist keine konseku­tive, 25 Vgl. J. Piaget, Recherches sur l’abstraction réfléchissante; ders., Die Äquilibration der kognitiven Strukturen, S. 41 ff. Zur reflektierenden Abstraktion vgl. R. L. Fetz, Struktur und Genese, S. 104 ff. Eine systematische Erörterung des Erwerbsprozesses sozio-kultureller Lebensformen findet sich bei B. Nicolaisen, Die Konstruktion der Welt in der sozialen Interaktion der ersten Lebensjahre. 26 Die grundlegende Bedeutung, die dem Verhältnis der Geschlechter für das Verständnis der kulturellen Daseinsform des Menschen zukommt, ist nicht verborgen geblieben. Kultur­ anthropologen hat die elementare familiale Lebensform allezeit deutlich vor Augen gestanden. Die Vermutung lag nicht allzu fern, daß die Enkulturation sich überhaupt dem Sozialisationsprozeß verdankt, wie er im Verhältnis zwischen Mutter und Kind innerhalb dieser Lebensform zu beobachten ist. Die systematischen Fragen, die damit verbunden sind, blieben jedoch liegen. Vgl. M. F. Ashley Montagu, Preface, S. 5.

Zur Rekonstruktion des Geschlechterverhältnisses 15

vielmehr eine systemische; ihre Ausbildung erfolgt gleichzeitig. Der Prozeß ist ein systemisches Ganzes. Es heißt aber, daß sich der Gesamtprozeß einzig über die Ausbildung des Geschlechterverhältnisses hat vollziehen können. Eine Soziologie, der es darum zu tun ist, den Bildungsprozeß der Gesellschaft einsichtig zu machen, hat deshalb allen Grund, sich mit dem Bildungsprozeß des Geschlechterverhältnisses zu befassen. Ohne es wird auch die Gesellschaft nicht verständlich. Präzisieren wir unsere These im Blick auf das Geschlechterverhältnis: Der Enkulturationsprozeß muß aus der Ontogenese der Gattungsmitglieder herausgeführt werden. Der ontogenetische Prozeß aber ist derart, daß sich mit der Subjektivität der Gattungsmitglieder auch das Bedürfnis entwickelt, ihr Leben in der Körperzone eines zumeist gegengeschlechtlichen anderen zu führen.27 Die mit diesem Bedürfnis verbundene Hinwendung zum anderen ist es, die wir als Liebe bezeichnen. Wir werden sie noch näher bestimmen. Mit der These soll deshalb auch gesagt sein, daß sich im Verhältnis der Geschlechter von allem Anfang an jene Bindungen entwickelt haben, die wir Liebe nennen. Wenn es deshalb für Soziologen notwendig ist, sich mit dem Geschlechterverhältnis zu befassen, dann ist es auch notwendig, Liebe zum Gegenstand der Untersuchung zu machen.

5.2

Liebe im Verhältnis der Geschlechter

Unsere Erkenntnisabsicht, das für das Verhältnis der Geschlechter bedeutsame Moment: Liebe, dem Enkulturationsprozeß zu verbinden und in der Geschichte wiederzufinden, macht es notwendig, den Begriff der Liebe normativ nicht aufzuladen, ihn vielmehr einstweilen überhaupt unbestimmt zu lassen. Liebe, wollen wir einstweilen sagen, sei jenes, ich weiß nicht was, das sich aufgrund einer dem Subjekt eigenen Bedürfnislage als Verlangen äußert, das eigene Leben in der Bindung an den anderen in dessen Körperzone zu führen. So allgemein sich dieser Begriff zunächst ausnimmt, vier Momente werden wir von allem Anfang an mit dem Geschlechterverhältnis, in dem Liebe sich bildet, verbunden sehen: das Junktim von Sexualität und Intimität, die Schaffung einer privaten, gegen die Gesellschaft abgesetzten Sphäre, in der die kommunikative Führung des Daseins mit der nichtkommunikativen Körperlichkeit verbunden gehalten wird, und eine spezifische Form der Sicherung von Identität, derzufolge der andere der Garant dafür 27 Ich habe bei der folgenden Untersuchung heterosexuelle Beziehungen im Blick. Das hat einen einfachen Grund: Historisch-genetisch sind sie es, die für den Enkulturationsprozeß konstitutiv geworden sind. Das würde mich nicht hindern, homosexuelle Beziehungen als eine in der Folge der Enkulturation entstandene Organisationsform einzubeziehen. Dazu jedoch fehlt es (mir) an dem notwendigen Wissen über das Binnenverhältnis dieser Bezie­ hungen.

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Zur Gattungsgeschichte der Geschlechter

wird, die Individualität als eine bedeutungsvolle Form des Daseins verstehen zu können. Wenn sonst nichts, ist es der andere, der ihr Bedeutung sichert. Das Interesse der Untersuchung konzentriert sich nach allem zum einen auf die Frage, warum sich überhaupt ein Geschlechterverhältnis gebildet hat und immer noch bildet, zum anderen, warum Liebe in ihm. Ich habe mich schon der Aufgabe entledigt, ohne Umschweife zu sagen, was Liebe sei. Eine derart substantiell angelegte Frage ließe entweder nur analytische Begriffsklärungen erwarten, oder sie drohte, in der Beschreibung einer Gefühlswelt zu versanden, aus deren Binnenlage auch die Soziologie wenig Erhellendes würde zutage fördern können. Denn die Binnenlage der Gefühlswelt ist schon der eigenen Zeit nur schwer zugänglich; für die Jahrtausende der Vergangenheit aber ist sie nahezu verschüttet. Mein Interesse ist ein anderes, und ich verfahre anders. Ich frage nicht nach dem, was Liebe substantiell ist; ich frage prozessual: nach den Bedingungen, die sie haben entstehen lassen. Für die Bedingungen dieser Beziehung aber gilt, was für die Bedingungen des Enkulturationsprozesses überhaupt gilt: Sie sind einsichtig. Ich werde diese Bedingungen zu bestimmen suchen. Intimität und Sexualität sind die beiden Determinanten, die zunächst im Vordergrund des Interesses stehen. Die Frage ist jedoch, woher die Intimität rührt und wie sie zu verstehen ist. Denn darüber sind seltsame Vorstellungen im Umlauf. Sie entstammen zumeist der psychoanalytischen Theorie. Nicht minder bedeutsam ist die Frage, wie die Intimität der Sexualität verbunden ist. Denn die Intimität kann keineswegs nur als Ableger der Sexualität verstanden werden, wie Freud meinte. Woher rührt dann aber die Intimität, und was bewirkt, daß sie mit der Sexualität verbunden wird ? Und weiter: Wodurch wird es möglich, die Leben derer, die das Verhältnis eingehen, aneinanderzubinden ? Welche Formen nimmt das Verhältnis an ? Weshalb führt es zu familialen Organisationen, denen zumindest einige Dauer eignet ? Mit der Einbindung der Liebe als Moment des Geschlechterverhältnisses in den Bildungsprozeß der Gattung setze ich mich deutlich von allen Bedeutungsgehalten ab, die vordem mit ihr verbunden wurden. In der Vergangenheit wurde Liebe als dem Kosmos innewohnend gedacht; sie galt als Ausdruck eines Absoluten, das sich in den Kosmos verströmte; die Schöpfung selbst schon ging aus ihr hervor; die Ursprungskraft des Kosmos, Leben aus sich herauszusetzen, es zu erhalten und zu erneuern, gehörte ihr zu. Menschliches Lieben wurde m. a. W. als Partizipation am Absoluten verstanden. Ohne diesen Bezug war es gar nicht zu begreifen.28 Ich nehme das Verständnis des Liebens und seine institutionellen Gestaltungen in den familialen Organisationsformen der Gesellschaft aus allen ontologischen Konnotationen heraus; ich verstehe das Geschlechterverhältnis wie 28 Eine späte grandiose Darstellung hat dieses metaphysische Verständnis in Paul Claudels » Der seidene Schuh « gefunden.

Nur Subjekte lieben 17

die mit ihm verbundene Liebe in jenem zuvor erörterten Sinn: als unter naturalen Bedingungen entwickelte kulturelle Lebensform, die selbst nicht schon natural fixiert ist. In dieser Weise suche ich der Geschlechterbeziehung auch die Sexualität zu integrieren. Auch sie gewinnt ihre Gestalt und ihre Bedeutung erst in einem kulturellen Prozeß. Kaum eine andere Lebensform, deren Vorgaben wir in gleicher Weise dicht an die Naturgeschichte anzuschließen vermögen wie die Sexualität, läßt gleichermaßen deutlich werden, daß sie, integriert in die kulturelle Organisation, zu etwas anderem wird, als sie vordem war. Die bisherige Soziologie hat die Liebe in den Beziehungen der Geschlechter ausgespart. Wenn überhaupt als Gegenstand der Wissenschaft, dann gilt Liebe als Gegenstand der Psychologie. Auch in der institutionalisierten Form des Geschlechterverhältnisses, der familialen, ist sie von Soziologen zumeist übergangen. Die familiale Organisation pflegt funktional erklärt zu werden, nicht genetisch vom Bedürfnis derer her, die sie begründen. Als Folge einer solchen Perspektive entfällt die Einsicht in die Bedeutung, die der Liebe für die Sozialität, und zwar ebenso für die engere: für das Verhältnis der Geschlechter, wie für die weitere: die Gesellschaft, zukommt. In einer historisch-genetischen Theorie ist diese Enthaltsamkeit nicht länger möglich, wenn anders der Prozeß der Enkulturation nicht unverständlich bleiben soll. Einzig durch die sozio-kulturelle Organisation dieses Verhältnisses ist der Weg für die Gattung eröffnet worden.

6

Nur Subjekte lieben

Der Bildungsprozeß der Gattung wird einzig verständlich, wenn man ihn mit dem Bildungsprozeß der Subjekte in eins gehen läßt und die Formbestimmung der Handlungen und Interaktionen, über die sich die gesellschaftlichen Strukturen bilden, dem Subjekt zurechnet. Auch das Geschlechterverhältnis läßt sich deshalb nur verstehen, wenn man es aus den Bedürfnissen derer entwickelt, die es eingehen. Es ist ganz einfach absurd zu meinen, es könne dem » System « zugerechnet werden. Alle sozialen Organisationsformen müssen von unten, durch die realen Akteure aufgebaut werden. Die allerdings sind immer schon einem sozia­ len Bedingungszusammenhang verhaftet. Was immer sie tun, kann insbeson­dere nur dadurch Gestalt gewinnen, daß es mit Hilfe eines kommunikativen Codes Ausdruck findet. Lieben selbst ist ein kommunikatives Geschehen, nur über eine Sprache gewinnt sie Realität;29 und die ist gesellschaftlich geformt. Das heißt jedoch längst nicht, daß das, was in der Liebe zu Wort kommt, nicht seinen Grund in den Subjekten hätte, die sich gleichfalls erst ausbilden und gleichfalls unter ge29 R. Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe.

18

Zur Gattungsgeschichte der Geschlechter

sellschaftlichen Bedingungen. Gattungsgeschichtlich gesehen haben sich die Subjektivität des Menschen und die spezifisch humane soziale Organisationsform nur gemeinsam ausbilden können. Der Prozeß ist jedoch einzig dadurch möglich geworden, daß die sozialen Organisationsformen durch die sich bildenden Subjekte geschaffen wurden. Er läßt sich deshalb auch nur durch deren eigene Organisa­ tion verständlich machen. Es soll uns nach allem nicht irritieren, daß wir mit einem Gegenstand befaßt sind, von dem die Verlautbarungen der Postmoderne sagen, daß es ihn gar nicht gebe. Auch von dem, was es nicht gibt, macht man sich eine Vorstellung. Und die mag durchaus zutreffend sein. Die Frage ist allerdings, ob nicht ein anderes Subjekt existiert, das von dem totgesagten ungefähr so verschieden ist wie das meta­ physische Weltbild von dem neuzeitlichen. Tatsächlich ist das Subjekt, das tot­ gesagt wird, das absolutistische Subjekt der Vergangenheit, jenes, das als absoluter Zurechnungspunkt seines Handelns verstanden wurde. Wir verstehen die Welt in einer anderen Logik, in einer prozessualen, die vom Vorrang der Natur ausgeht und alle kulturellen Organisationsformen sich erst als Anschlußorganisation an die Naturgeschichte entwickeln läßt. Darauf habe ich oben hingewiesen. In dieser Logik stellt sich auch das Subjekt als ein anderes dar als zuvor. In einer historisch-genetischen Theorie gilt nach allem auch für das Subjekt, daß es einem naturalen Bedingungszusammenhang eingeordnet ist und sich in seiner eigenen Organisation erst im Übergang von der Natur- in die Kultur­ geschichte gebildet hat. Diesem Bedingungszusammenhang bleibt es auch diesseits des Hiatus zwischen Natur- und Kulturgeschichte verhaftet. Der Enkultura­ tionsprozeß, in dem jedes nachwachsende Gattungsmitglied sich neu zum Subjekt bilden muß, wird darüber hinaus von den historisch bereits ausgebildeten Lebensformen bestimmt. Was sich als Subjekt bildet, läßt sich diesseits des definitiv gewordenen Enkulturationsprozesses der Gattung nur aus dem doppelten, überdies in sich vermittelten Bedingungszusammenhang von Natur und Kultur verstehen. Ich werde deshalb die Untersuchung mit einer knappen Erörterung des Bildungsprozesses des Subjekts in der Ontogenese beginnen. Ohne den Bildungsprozeß des Subjekts zu kennen, läßt sich auch die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses nicht verstehen. Bei der Erörterung der romantischen Liebe sehe ich mich ohnehin genötigt, darauf zurückzukommen. Denn die romantische Liebe folgt der Entwicklung des Subjekts in der Neuzeit, sie ist Ausdruck eines veränderten Verhältnisses von Subjekt und Welt.

Kapitel 1 Der Bildungsprozeß des Subjekts

1

Das Prinzip der Äquilibration

Als Subjekt und Subjektivität bezeichnen wir die Organisationsform des Organismus, die ihn in den Stand setzt, sein Leben zu führen. Da der Mensch diese Organisationsform nicht schon in genetisch fixierter Form mitbringt, muß sie kulturell entwickelt werden. Der Mensch wird nicht als Subjekt geboren. Notwendig geht die Entwicklung der Subjektivität vom Organismus aus. Wer oder was sonst könnte sie in Gang setzen ? Zwei systemisch miteinander verbundene Momente sind es, die den Entwicklungsprozeß bewirken: das nicht festgestellte Antriebspoten­tial und die dadurch bewirkte Disäquilibration im Verhältnis zur Außenwelt. Erörtern wir den Vorgang genauer. Jedes organische System befindet sich als funktionale Einheit in einem Zustand der Äquilibration. Das gilt auf der subhumanen Stufe auch für die Inter­ aktionen des Organismus mit der Umwelt über die Körpergrenze hinweg. Die instinktive Organisation ist eine Organisation, die den Organismus in die Umwelt einpaßt und deshalb zur Äquilibration des Systems innerhalb der Umwelt beiträgt. Anders der Organismus des neugeborenen Menschen. Er bringt ein unstrukturiertes Antriebspotential mit, das gerade nicht eingepaßt ist und deshalb im Zusammentreffen mit der Umwelt in einen Zustand der Disäquilibration gerät. H. Plessner hat die konstitutionelle Gleichgewichtslosigkeit der anthropologischen Verfassung als die entscheidende Determinante der Kultur verstanden.1 Ganz im gleichen Sinne hat J. Piaget in ihr den Motor der Entwicklung kognitiver Kompetenz gesehen und in dem Erwerbsprozeß des Wissens im Streben nach Äquilibration insoweit zu Recht eine Parallele zu den organischen Prozessen.2 Es ist 1 2

H. Plessner, Die Stufen des Organischen, Ges. Schriften Bd. IV, S. 385, 391. J. Piaget, Biologie und Erkenntnis; ders., Die Äquilibration, S. 11 ff.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_2

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Der Bildungsprozeß des Subjekts

diese konstitutionelle Disäquilibration zur Außenwelt, die den kulturellen Entwicklungsprozeß in Gang setzt und damit auch zur Ausbildung der Subjektivität führt. Wie geschieht das ?

2

Der Gewinn an Handlungskompetenz

Eine unstrukturierte Motorik wie die des menschlichen Organismus bei seiner Geburt kann kulturell nicht in der gleichen Weise organisiert werden, wie das Außenverhältnis auf der subhumanen Stufe der Evolution organisiert ist: durch Anbindung spezifischer Verhaltensformen an spezifische Umweltmerkmale. Es ist nicht ersichtlich, wie diese Koppelung zustande kommen könnte. Auf der Seite der Außenwelt läßt sich eine Merkmalswelt, an die das Handeln anknüpfen kann, nur durch immer weitere Ausdifferenzierungen von Gegenstands- und Merkmalsfeldern gewinnen – das hat schon Fichte gesehen.3 Identität wird über Differenz bestimmt. Der Aufbau einer Welt an Stelle einer Umwelt ist unabdingbar. Auf der Seite des Organismus läßt sich die Kompetenz zum Handeln nur dadurch gewinnen, daß sie als Kompetenz zu allen möglichen Handlungen ausgebildet wird. Kurz, möglich ist die Organisation im Verhältnis zwischen menschlichem Organismus und Außenwelt lediglich auf eine einzige Weise: indem der Organismus in ein reflexives Verhältnis zur eigenen Motorik gelangt und sie zu steuern lernt. Es ist dieser Prozeß, der mit dem Lernprozeß in der frühen Ontogenese beginnt. Handlungskompetenz wird dadurch gewonnen, daß im Umgang mit einer schon vorgefundenen Außenwelt deren Widerständigkeit Anlaß bietet, die eigene Motorik den erfahrenen Gegenständen in einer Weise zu akkommodieren, daß eine Äquilibration zwischen Organismus und Objekten erzielt wird. Dazu ist mehr als eine Voraussetzung nötig. Die erste Voraussetzung ist, daß der Organismus einen sensomotorischen Zugang zur Außenwelt hat, der ihm die für die Motorik relevanten Daten zuführt. Es ist genetisch gesehen völlig unvorstellbar, anzunehmen, der Erkenntnisprozeß sei ein Vorgang, der sich rein im Innern des Organismus abspiele, ohne irgendeinen Zugang zur Außenwelt zu haben und ohne irgendeine Information von ihr aufzunehmen und zu verarbeiten.4 Im Bildungsprozeß der sozio-kulturellen Daseinsweise werden Erfahrungen in Organisationsformen ebenso des Handelns wie der Welt umgesetzt. Die weitere Voraussetzung ist mithin, daß der Organismus die Widerständigkeit und Hemmung der Motorik in der Außenwelt » erfährt «. Sie 3 4

J. G. Fichte, Grundlagen der gesammten Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 322. So aber die äußerste Spitze einer Variante des radikalen Konstruktivismus bei N. Luhmann, Das Erkenntnisprogramm des Konstruktivismus, S. 31 ff.

Der Gewinn an Handlungskompetenz 21

muß ihm in seiner Körperlichkeit bewußt werden. Denn anders hätte er keinen Anlaß, seine Motorik zu akkommodieren. Der Organismus muß deshalb diese Form von Bewußtsein mitbringen. Das tut er auch, wie wir sehen werden; anders käme der Entwicklungsprozeß gar nicht in Gang. Schließlich aber müssen wir davon ausgehen, daß die mitgebrachten naturalen Schemata, in denen die Außenwelt wahrgenommen wird und von denen die einstweilen noch ungestalte Motorik bestimmt wird, soweit plastisch sind, daß sie eine Akkommodation gestatten. Die Notwendigkeit, die jeweils vorfindlichen Schemata über einen Akkommodationsprozeß schrittweise zu entwickeln, läßt eine weitere Bedingung des Entwicklungsprozesses sichtbar werden, die von überragender Bedeutung ist: Die dominanten Erfahrungen werden im Umgang mit einem sozialen anderen gemacht. Einzig dadurch, daß ein immer schon kompetenterer anderer sein Verhalten an die unstrukturierte Motorik ankoppelt, hat das nachwachsende Gattungsmitglied überhaupt die Chance, Erfahrungen so dosiert zu machen, daß eine Akkommodation der Schemata möglich wird. Träfe es in der frühen Phase der Ontogenese unvermittelt auf die naturalen Gegenstände und Ereignisse, hätte es kaum Chancen zu lernen. Halten wir demnach fest: Der Erwerbsprozeß der Handlungskompetenz und, verbunden damit, der Erwerbsprozeß kognitiver Kompetenz im Aufbau der Welt besteht darin, daß in der Interaktion mit einem immer schon kompetenteren anderen basale Interaktionsstrukturen ausgebildet werden, die dann als kognitive Strukturen weiter entwickelt werden können.5 Akkommodationen der Motorik bringen erneut das Bewußtsein ins Spiel. Gelingt eine akkommodatorische Anpassung, muß sie, um festgehalten zu werden, auch bewußt sein. Dabei braucht das Bewußtsein lediglich darin zu bestehen, den motorischen Bewegungsablauf zu erfassen und ihn als gelungene Akkommoda­ tion zu erfahren. Das nun ist an dem Erfolgserlebnis, das Akkommodationen auslösen, und an den anschließenden unablässigen Wiederholungen deutlich ablesbar. So wenig reflexiv das Bewußtsein anfänglich ist, der Lernprozeß bewirkt die Aufmerksamkeit auf die eigene Motorik; und die setzt einen Prozeß der Distanzierung des Organismus von sich selbst und mit ihm die beginnende Steuerbarkeit der Motorik in Gang. Der Prozeß erreicht mit der Entwicklung der Sprache und dem Eintritt in die Phase des symbolischen Aufbaus der Welt ein neues Organisationsniveau. Denn mit der Objektivation der Welt in symbolischen Konstrukten lassen sich auch die mit ihnen verbundenen Handlungen objektivieren. Mit der auf diese Weise forcierten Handlungskompetenz gerät das sich bildende Subjekt in eine immer entschiedenere Distanz ebenso zur äußeren Welt wie zu sich selbst. Wenn die 5 Vgl. B. Nicolaisen, Die Konstruktion der Welt in der sozialen Interaktion der ersten Lebensjahre.

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Der Bildungsprozeß des Subjekts

Handlungskompetenz voll entwikkelt ist, hat das Subjekt jene Form der Selbstreflexivität ausgebildet, die Plessner als exzentrische Positionalität bezeichnet hat: Das Subjekt nimmt sich inmitten der Welt als handlungsmächtig wahr; es ist sich in seiner Handlungsmächtigkeit selbst gegeben.6 Was also stellt das Subjekt dar ? Was dessen Subjektivität ? Eine im Erwerbsprozeß der Handlungskompetenz ausgebildete Organisationsform des Organismus, die sich dadurch auszeichnet, daß sie sich im Handeln selbst gewärtig ist. Das strukturell auszeichnende Moment ist die Selbstreflexivität. Bevor wir die Ausbildung der Selbstreflexivität näher erörtern, müssen wir die Natur der Subjektivität, wie sie im Erwerbsprozeß der Handlungskompetenz entstanden ist, schärfer ins Auge fassen. Sie stellt eine ebenso eigenartige wie bedeutsame Integration von Natur und Kultur dar.

3

Die innere Natur des Subjekts: Natur und Kultur in einem

Der Organismus bringt, wie wir gesehen haben, kein genetisch fixiertes Aktionensystem mit, aber er verfügt über eine Organisation, die auf ein Aktionen­system angewiesen ist. Ohne es auszubilden, vermöchte er nicht zu überleben. Was deshalb bei der Entwicklung der Subjektivität geschieht, ist dies: Einem naturalen Substrat wird ein kulturelles System buchstäblich eingebildet. Wenn der Vorgang beendet ist, stellt sich die Organisationsform des Subjekts als Verbindung von Natur und Kultur dar. Der naturale Unterbau hat die kulturellen Formen durchsetzt, umgekehrt haben die kulturellen Formen den Organismus allererst sowohl mit einer Struktur als schließlich auch mit den Inhalten eines Aktionensystems aus­ gestattet. Der kulturelle Formbildungsprozeß des naturalen Substrats wird augenfällig an der Motorik. Indem das werdende Subjekt die Kompetenz ausbildet, die Motorik zu steuern, wird letzterer ein kulturelles Konstrukt: die Teleologie des Handelns, eingebildet. Dieser Vorgang beschränkt sich jedoch nicht auf die formale Struktur des Handelns. Handlungskompetenz wird über Erfahrungen gewonnen, die zunächst sensomotorisch eingeholt werden. Sie lassen ihren Erwerb mit Befindlichkeiten des Organismus einhergehen, die sich dem organischen Substrat mitsamt der sich entwickelnden Kompetenz ebenfalls einbilden. Mit der Handlungskompetenz entwickelt sich deshalb eine Qualität der Befindlichkeit seiner selbst, die dem Subjekt fortan verhaftet bleibt und sich als Disposition zum Handeln durchhält. Auch die nachfolgenden Erfahrungen, die das Subjekt vermöge 6

H. Plessner, Die Stufen des Organischen, Ges. Schriften Bd. IV, S. 363 ff.

Die innere Natur des Subjekts: Natur und Kultur in einem 23

seiner Handlungskompetenz macht, prägen sich dem Organismus als Befindlichkeit ein. Sie treffen auf eine innere Organisation, die sich bis dahin schon gebildet hat, und verändern sie. Der Prozeß kompliziert sich dadurch, daß mit fortschreitender Kompetenz die Befindlichkeit des Organismus für das sich bildende Subjekt reflexiv wird. Die Befindlichkeit wird deshalb nicht nur erfahren, sondern aufgenommen, thematisch gemacht und interpretiert. Wir werden, das ist die Pointe unserer Analyse, im Prozeß unserer Biographie, wozu uns die Erfahrungen und unsere eigenen psychischen Verarbeitungen der Erfahrungen machen. Man muß den Vorgang prozeßlogisch lesen: Immer bringt sich in dem, was erfahren und verarbeitet wird, die zuvor schon gebildete Subjektivität zur Geltung. Über seine Subjektivität verfügt das Subjekt nicht; es ist sie; es ist seine eigene Geschichte. Was wir gemeinhin Identität nennen, ist nicht ein Gleiches, es ist das, was sich in der Biographie in der Organisationsform der Subjektivität als innere Natur gebildet hat, in die nächste Situation und Lebensphase mitgenommen und unter dem Eindruck neuer Erfahrungen auch verändert wird. Innere Natur nennen wir diese Strukturierung und inhaltliche Bestimmung deshalb, weil sie als kulturelles Produkt dem Organismus eingebildet wurde. Organismus und Kultur bilden eine Symbiose, die die gesamte Lebenslage des Subjekts bestimmt und für die Lebensführung überragende Bedeutung gewinnt. Inwiefern ? Der Erwerbsprozeß kultureller Lebensformen ist ein konstruktiver Prozeß, der vermöge von Denken und Sprache erfolgt. Die Konstrukte sind ideelle Konstrukte. Mit der Einbildung der kulturellen Organisationsformen des Daseins in den Organismus gewinnen sie ein naturales Stratum und damit zugleich ein Potential an Durchsetzungsvermögen, das ihnen selbst nicht eigen ist. Denn der Geist hat, wie Max Scheler sagt, keine Spur von Kraft oder Wirksamkeit, seine Inhalte auch ins Dasein zu setzen.7 Mit der Einbildung in die Natur wächst ihm ein Antriebspotential zu, in dem sich die ganze Lebenskraft des Organismus zum Ausdruck bringt. Damit sind zwei überaus bedeutsame Weiterungen verbunden: Die eine ist, daß das Denken auch nur soweit Macht hat, als es das Antriebspotential des naturalen Stratums für sich hat. Dort aber trifft es auf eine Vielzahl von Antrieben. Wir sind nicht Herr im Haus oder doch nur so weit, als es im Bildungsprozeß des Subjekts gelungen ist, das naturale Stratum unseren Vorstellungen entsprechend zu organisieren. Die andere Seite ist, daß Störungen in der ideellen Organisation, Störungen insbesondere, die aus deren kommunikativer Anlage hervorgehen, auf das naturale Substrat durchschlagen. Die Umsetzung in das Soma läßt aus psychischen Irritationen psychosomatische Krankheiten werden.

7

M. Scheler, Die Wissensformen und die Gesellschaft, S. 21.

24

Der Bildungsprozeß des Subjekts

4

Handeln und Bewußtsein

4.1

Die Rückverwiesenheit des Subjekts an sich

Menschen müssen ihr Leben führen; sie sind es, die bestimmen, was getan wird und was in der Summe und Abfolge ihres Tuns schließlich ihr Leben ausmacht. Mit dieser Feststellung schreiben wir die Bestimmung, was getan wird und wie es getan wird, nicht einem freien Willen zu, wie man unter der Ägide der absolutistischen Logik gemeint hat. Die Frage, was getan wird und wie es getan wird, ist auch nicht eine Frage der Entscheidung, wie eine in jüngerer Zeit gerne verwandte Formel, die immer noch der absolutistischen Logik verhaftet ist, suggeriert.8 Die Bestimmung des Handelns erfolgt unter Bedingungen einer gesellschaftlichen Organisation und in einer Situation, in der die Möglichkeiten dessen, was geschehen kann, abgesteckt sind. Man kann jedoch so viele Bedingungen häufen, wie man will, sie nehmen ihren Durchgang durch das Subjekt, das zu jeder Situation hinzugehört. Das Subjekt aber ist eine operative Organisation. Indem es sich im Handeln inmitten des Handlungsfeldes wahrnimmt, sieht es sich in der Bestimmung des Handelns immer auch an sich verwiesen. Es ist diese Grundbefindlichkeit inmitten der Welt, sich durch sich selbst bestimmen zu müssen, die Anlaß werden kann, auf sich zu reflektieren. Worauf richtet sich die Reflexion, wenn sie sich auf das Subjekt richtet ? Phänomenal hat jeder den Eindruck, was er sei, sei ein handfest Reales, das Innere seiner selbst. Aus dem Innern heraus auch erfährt er sein Handeln. Was aber macht » das Innere seiner selbst « aus ? Man tut gut, vom wahrnehmbaren Befund auszugehen. Das Innere ist die Organisation des Organismus. Der Mensch teilt die Befindlichkeit, ein Inneres zu haben, mit allen Organismen. Der Innenraum ist es, der ein System zum System werden läßt. Darauf hat Plessner die Phänomenologie des Organischen gegründet; durch das Verhältnis des Organismus zu seinen Grenzen hat er dessen Positionalität bestimmt gesehen.9 Zwei Momente zeichnen jedoch das Innere des menschlichen Organismus im Unterschied zu dem des Tieres aus: Zum einen, daß sich dieser Binnenraum als Organisation des Handelns erst bildet, und zum anderen, daß er sich selbstgegeben ist. Die Selbstgegebenheit ist für jedes Handeln konstitutiv; sie ist eine Form des Bewußtseins. Wie dieses Bewußtsein beschaffen ist und wie es sich bildet, ist jedoch ein Problem, das bisher nicht hat geklärt werden können. Wir haben seiner Lösung vorgearbeitet.

8 9

Zur Kritik der Kategorie der Entscheidung vgl. G. Dux, Das Problem der Logik im historischen Verstehen, S. 44 ff. H. Plessner, Die Stufen des Organischen, Ges. Schriften, Bd. IV, S. 149 ff., 177 ff., 181 ff.

Handeln und Bewußtsein 25

4.2

Das Problem der Unmittelbarkeit

Handeln erfolgt unter der unmittelbaren Leitung des Bewußtseins. Ohne die Unmittelbarkeit des Bewußtseins ließe sich die Handlung nicht steuern. Als Schreibender nehme ich mich während des Schreibens mit wahr, das Schreiben geschieht fortwährend in der Weise, daß ich mir als Schreibender gewärtig bin, auch ohne darauf eigens zu reflektieren. Die Unmittelbarkeit des Bewußtseins ist eine Erfahrung, von der man sich durch Aufmerksamkeit auf die Art des Handelns überzeugen kann: Ohne Bewußtsein wüßte ich nicht zu schreiben. Dabei stehe ich mir während des Schreibens nicht selbst in Lebensgröße vor Augen, am Schreibtisch sitzend, inmitten des Zimmers etc. Das alles ist lediglich im Schreiben mit präsent, bleibt aber abgeschattet. Die postulierte Unmittelbarkeit ist m. a. W. nicht objektivierend und identifikatorisch derart, daß ich mich selbst erst als der wahrnehmen und erkennen müßte, der etwas tut. Wie aber hat man sich dann das Bewußtsein vorzustellen ? In aller Vergangenheit wurde das Bewußtsein, gerade weil es der aktiven Lebensführung des Menschen verbunden war, in der Subjekt-Objekt-Relation der Handlung gedacht.10 Der, der sich seiner bewußt ist, findet sich, dieser Vorstellung zufolge, zugleich in der Position des Subjekts wie des Objekts. Würde diese Relation tatsächlich jede Form des Selbstbewußtseins bestimmen, hätten wir die Situation, daß der, der denkt und handelt, immer ein anderer ist als der, der sich im Denken und Handeln wahrnimmt. Zwischen beiden läge immer die Zeitstrecke des Geschehens, in der gedacht und gehandelt würde.11 Das aber würde bedeuten: Das Handeln verliefe mindestens für den Bruchteil einer logischen Sekunde bewußtlos, die Steuerung wäre nicht gegeben. Praktisch wäre damit auszukommen, eine logische Sekunde ist unendlich klein; theoretisch bleibt der Widerspruch, und zwar gerade wegen der Erfahrung der Unmittelbarkeit. Eine Lösung des Problems läßt sich nur finden, wenn man das Bewußtsein von seiner Genese her analysiert. Das aber heißt, daß wir vom Organismus auszugehen haben.

10 Das Problem des Bewußtseins hat eine lange Geschichte. Zur Problemlage in der Philosophie vgl. D. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht; ders., Selbstbewußtsein, S. 257 ff.; M. Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität, S. 26 ff. 11 So hat auch A. Schütz im Anschluß an E. Husserl das Handlungsbewußtsein verstanden. Vgl. A. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der Welt, S. 43 ff.

26

4.3

Der Bildungsprozeß des Subjekts

Organisches Bewußtsein

Wir haben oben bereits für die Anfänge des Enkulturationsprozesses ein Bewußtsein des Organismus in Anspruch genommen. Die Widerständigkeit der Objektwelt muß bewußt werden, ebenso die gelungene Akkommodation. Anders läßt sich der Entwicklungsprozeß nicht in Gang setzen und fortführen. Tatsächlich kennt der menschliche Organismus wie alle zentralnervlich organisierten Orga­ nismen ein unmittelbares Bewußtsein seiner selbst. Unmittelbares Bewußtsein will sagen: Der Organismus ist sich seiner Befindlichkeit gewärtig. Wachsein wird als Wachsein erlebt, ebenso sich anbahnende Müdigkeit als Müdigkeit. Man kann nicht müde sein, ohne es zu empfinden und in der Empfindung zu wissen, daß man müde ist. Die Unmittelbarkeit macht sich besonders bei Störungen und Spannungszuständen bemerkbar: Schmerz wird als Schmerz, Hunger als Hunger erfahren. Diese Form des Bewußtseins gehört zur Selbstreferentialität des organischen Systems. Sie ist selbst ein organischer Prozeß, der die Form eines für das Bewußtsein konstitutiven Ich nicht benötigt. Auch Tiere können Zahnschmerzen haben. Über diese Form des Bewußtseins und nur vermöge ihrer wird zusammen mit der Handlungskompetenz ein Handlungsbewußtsein und darüber hinaus eine anders strukturierte Form von Bewußtsein entwickelt: das reflexive.

4.4

Das Bewußtsein der Handlung

Die Mehrzahl der Handlungen verläuft derart, daß das Handeln durch ein konzeptuelles Handlungsziel zumindest für die nächstgelegene Handlungsphase gesteuert wird. Ich suche einen Nagel in die Wand zu schlagen. Dabei bin ich mir selbst, bewaffnet mit dem Hammer, bemüht, den Nagel zu treffen etc., gewärtig. Es ist unmöglich, für diese Form des Bewußtseins keine Unmittelbarkeit anzunehmen. Müßte ich mich selbst eigens erst zum Objekt machen, müßte ich die Handlung anhalten, mich selbst in ihr bestimmen, ohne irgendeine Chance, mich hernach reflexiv wieder in sie einzubringen. Sobald ich die Handlung fortzuführen gedächte, würde sich die anfängliche Situation wieder herstellen. Kurz, auch dieses konzeptuelle Handlungsziel muß, obgleich es ein ideelles Konstrukt darstellt, im Handeln unmittelbar gewärtig sein. Der Handelnde kann nicht erst im Handeln auf sich reflektieren müssen, denn dann setzt er ebenfalls einen Regreß in Gang, der ihn bis in alle Ewigkeit mit der Reflexion befaßt sein und nie zum Handeln kommen ließe. Die Lösung des Problems ergibt sich aus der zuvor erörterten Genese des Subjekts, daraus, daß das in der Ontogenese entwickelte Aktionensystem zwar kulturell, also ideell, über Sprache und Denken, geformt ist, aber dem Organismus als

Handeln und Bewußtsein 27

organischem Substrat eingebildet wurde. Da das naturale Antriebssystem unmittelbar bewußt ist, ergibt sich die Konsequenz, daß auch das kulturell geformte Tun im Moment des Tuns bewußt ist. Über das organische Bewußtsein werden auch die ideellen Handlungskonstrukte unmittelbar gewärtig; über das organische Bewußtsein bin ich mir selbst auch als Handelnder, eingebettet in ein konzeptuelles Gefüge, bewußt.

4.5

Die reflexive Objektivation

Die Selbstgegebenheit des Subjekts im Handeln läßt sich zur reflexiven Objektivation des Selbst steigern. In jeder planvoll entworfenen Handlung gerät der Handelnde sich selbst in den Blick. Ich denke daran, eine größere Reise zu tun, und nehme mich in der Vorstellung wahr, wie ich auf dem Bahnhof warte, schlafend im Flugzeug sitze, von Freunden begrüßt werde etc. Reflexiv wird das Bewußtsein des Handelns auch, wenn die Handlung stockt: Der Versuch, einen Nagel in die Wand zu schlagen, gelingt nicht. Der Handelnde vergegenwärtigt sich ebenso die Situation wie sich in seinem Handeln in ihr. In dieser Reflexion gerät das Subjekt tatsächlich in eine Gegenlage zu sich. Das derart reflexiv gewordene Handlungsbewußtsein weist jedoch seinerseits jene schon bekannte Doppellagigkeit auf: Reflexiv objektiviere ich die Situation und mich als Handelnden in der Situation. In der Reflexion sind der, der reflektiert, und der, der sich wahrnimmt, als Subjekt und Objekt, geschieden. Auch diese Differenz ist jedoch nur zu erfassen, indem ich mir als Reflektierender, also in der Subjektstellung der Reflexion, unmittelbar gewärtig bin. Das aber heißt, daß auch die reflexive Subjekt-Objekt-Lage ihrerseits unmittelbar gegeben ist. Müßte ich auf sie ihrerseits reflektieren, würde ich einen unendlichen Regreß auslösen und nie zum Bewußtsein der Situation kommen. Der Gewinn an der Objektivation meiner selbst in einer veritablen SubjektObjekt-Relation ist, daß ich das derart geklärte Wissen um mich und mein Tun deshalb in das Handeln überführen kann, weil mir im Handeln das zuvor gewonnene Wissen einmal mehr unmittelbar bewußt ist. Ersichtlich unterscheidet sich das Handlungsbewußtsein sowohl in seiner einfachen Form als unmittelbares Gewärtigsein während des Handelns wie in seiner Objektivation vom organischen Bewußtsein dadurch, daß es sich in ideellen Konstrukten vermittelt. Da sich für uns die Welt überhaupt nur in ideellen Konstrukten darstellt, und wir selbst ebenfalls in ihr, wird auch das organische Bewußtsein von ihnen affiziert. Die Feststellung ist geeignet, einen Rest der Bedenken aus­zuräumen, die man haben kann, wenn man erklärt, Zahnschmerzen seien unmittelbar bewußt, auch Tiere hätten Zahnschmerzen. Mit der Unmittelbarkeit des Schmerzes ist für den Menschen auch die Klassifikation als Zahnschmerz

28

Der Bildungsprozeß des Subjekts

ge­geben. Tiere haben Schmerzen, wenn der Zahn schmerzt, aber eben nicht als Zahnschmerz.

4.6

Selbstbewußtsein als Moment der Identität

Soziale Interaktionen verlangen unablässig, sich in eine Objektlage zu bringen und mit fremden Augen zu betrachten, mit Augen, die, auch wenn sie von der fremden Position aus sehen, dennoch die eigenen sind. Die berühmte Reziprozität der Perspektiven ist bei der einfachen räumlichen Plazierung, bei Ballspielen etwa, ebenso erforderlich wie bei hochkomplexen Überlegungen in sozialen Konfliktlagen. Auch außerhalb sozialer Interaktionen gibt es Anlaß für das Ich, sich selbst thematisch zu machen. Das gilt insbesondere für Lebenslagen, die problematisch werden und auf Veränderung drängen. Die Selbstreflexion wird damit zum Moment der Identität. Sie gewinnt im Verhältnis der Geschlechter eine überragende Bedeutung. Denn der, der liebt, entdeckt im anderen eine Antwort-Haltung auf das Dasein in der Welt, auf die er sich in seiner Ontogenese hat verpflichten lassen. Die Frage: wer bin ich, ist nicht in allen Epochen der Geschichte von gleicher Dringlichkeit und Bedeutsamkeit gewesen. Ihre Bedeutsamkeit für die Lebensführung ist abhängig davon, wie stabil das Subjekt in die akzeptierten Deutungsschemata von Welt eingefügt ist. In der einen oder anderen Form gestellt hat sie sich zu allen Zeiten.

5

Subjekt und anderer

Der Bildungsprozeß des Subjekts geht vom Organismus aus, niemand anders als das sich mitbildende Subjekt ist Konstrukteur seiner Lebensformen. Dieser Ansatz ist eine unumgängliche Konsequenz unseres Denkens vom Vorrang der Natur. Keine Frage: Der Organismus resp. das sich bildende Subjekt ist einem umfassenden Bedingungszusammenhang eingefügt. Jede einzelne dieser Bedingungen geht in den Konstruktionsprozeß des Organismus/Subjekts ein. Dabei kommt den relevanten anderen eine herausragende Bedeutung zu. Eine soziologische Theorie der Subjektivität ist darin soziologisch, daß sie die anderen als Bedingung der Möglichkeit des Bildungsprozesses der Subjektivität versteht und ihren Anteil an ihm offenlegt, nicht aber darin, daß sie die Gesellschaft zum Quasi-Subjekt des Geschehens werden läßt.12 12 Das ist die Konsequenz der Luhmannschen Systemtheorie. Da soziale Systeme gerade nicht von Natur aus sind, was sie sind, bedarf es irgendeiner Form von Subjektivität, um sie ent-

Subjekt und anderer 29

Der Aufbau der Welt ist ein kommunikativer Prozeß. Ich lasse hier unerörtert, weshalb formkritisch eine Welt im Medium des Begriffs und also der Sprache nur kommunikativ gebildet werden kann. Soviel ist offenkundig: Aus der Unstrukturiertheit und Unsicherheit der anthropologischen Verfassung führt nur eine Organisationsform heraus, die das nachwachsende Gattungsmitglied an Handlungsinhalten und Interpretamenten der Welt festhält und es auf sie verpflichtet. Wenn der Grund dafür bestimmt werden soll, daß Macht auch die kommunikativen Interpretamente durchsetzt,13 dann liegt er hier. Kommunikation läßt sich nur in der Weise realisieren, daß die Kommunikanten auf Kommunikationsmuster und Kommunikationsgehalte verpflichtet werden. Dabei ist eine Konstituente Macht. Sie ist unumgänglich in die Daseinsform des Subjekts integriert.14 Das Subjekt muß mit anderen zusammenleben; es kann das nur kommunikativ. Es muß deshalb versuchen, die anderen kommunikativ festzulegen. Wir stoßen damit auf eine Anforderung der anthropologischen Verfassung, die auch für die soziale Lebensform Grund legt: das Realitätsprinzip. Die Grundgegebenheit jedes organischen Systems besteht, wie wir eingangs erörtert haben, darin, der Außenwelt eingepaßt und ihr interaktiv verbunden zu sein. Die Einpassung ist subhuman in die innere Organisation eingeholt. Sie fehlt dem Menschen. Er muß sich deshalb Welt verschaffen und die Brücke zwischen Organismus und ihr erst selbst herstellen. Der Enkulturationsprozeß steht deshalb von Anfang an unter der Anforderung des Realitätsprinzips: Der Mensch muß Realität gewinnen, weil er ohne sie ganz einfach nicht leben könnte. Das aber kann einzig kommunikativ geschehen. Man kann sich der Realität nur in kommunikativ vermittelten Organisationsformen versichern, wenn sie unsicher wird, nur dadurch, daß man kommunikative Versicherungen sucht. Das gilt in besonderer Weise für die soziale Realität. Denn anders als die naturale wird die soziale Realität kommunikativ allererst geschaffen. Der andere wird damit zum Garanten, überhaupt der Realität teilhaftig zu sein. Unsere Überlegungen rühren an den Nerv des Geschlechterverhältnisses. Ich werde sie deshalb auch im Zusammenhang mit der Theorie des Geschlechterverhältnisses fortsetzen. Im gegenwärtigen Zusammenhang ist lediglich darauf zu verweisen, daß die Anforderung der anthropologischen Verfassung an das Subjekt, sich eine Welt in geistigen Organisationsformen zu schaffen, das Subjekt an den anderen gebunden hält. Nicht nur kann eine Welt nur kommunikativ entstehen zu lassen. Zur Natur des Systems als Quasi-Subjekt vgl. N. Luhmann, Soziale Systeme, S. 595. 13 Das ist bekanntlich Foucaults » Message «. Vgl. M. Foucault, Sexualität und Wahrheit; ders., Dispositive der Macht. 14 Vgl. G. Dux, Die Spur der Macht, S. 71 ff.

30

Der Bildungsprozeß des Subjekts

stehen, das, was an Welt entsteht, enthält in seiner Konstruktivität so viel an Unsicherheit, daß Gewißheit und Vergewisserung, sich mit dem eigenen Tun und Denken in dieser Welt zu bewegen, nur von den anderen kommen kann. Das aber heißt: Der Anschluß an die Welt ist nur durch andere zu finden. Dieser Anschluß war in aller Vergangenheit vergleichsweise einfach zu bewirken. Die vergangenen Welten waren stabil und kannten keine Alternativen. Überdies war die Kohärenz in der Ausformulierung dieser Welten wesentlich geringer. Sie erlaubte dem einzelnen, sich bei einem nicht konformen Verhalten immer noch in der Welt zu wissen. Gleichwohl gab es auch in diesen Welten die Bedürftigkeit des Subjekts, sich in seiner Individualität kommunikativ zu vermitteln. Und die verwies auch in vergangenen Gesellschaften an den anderen des anderen Geschlechts. Das Subjekt braucht im Moment seiner Einzigartigkeit die Anbindung an die Welt; das aber heißt, es braucht die Anbindung an den anderen. Ein unglückliches Dasein führt, wer dieses dem Organismus eingebildete Bedürfnis nach dem anderen nicht zu befriedigen vermag. Wir werden sehen, daß diese Lebenslage für die Ausbildung des Geschlechterverhältnissses mit bestimmend geworden ist. Die Sehnsucht der Liebenden nach dem anderen, die der Sprache der Liebe seit den frühesten Anfängen ihr untrügliches Mal aufgeprägt hat,15 ist ohne diese Bedürfnislage des Subjekts schlechterdings nicht verständlich. Dramatisch wird die Angewiesenheit auf den anderen, wenn die Welt wie in der Neuzeit verlorengeht. Diese Situation werden wir ausführlich erörtern.

6

Das interpretierte Selbst

Das Subjekt ist sich seiner Befindlichkeit und damit auch seiner Bedürftigkeit bewußt; es vermag sich, wenn es nottut, in seiner inneren Natur reflexiv thematisch zu machen. Eine derart reflexive Kompetenz ist ein Akt der Kognition. Das gilt schon für die Wahrnehmung des Handelnden im Handeln; und es gilt erst recht für die Wahrnehmung der inneren Natur, die in der Reflexion thematisch wird. Das läßt für die Selbsterfahrung eine eigenartig gebrochene Situation entstehen. Denn jedwede Form der Kognition wird durch Strukturen bestimmt, durch die festgelegt wird, in welcher Weise die Relationen des Wissens organisiert werden. Die Konsequenz der Bindung der Selbstwahrnehmung an die Kognition ist deshalb, daß sie von den ja ihrerseits erst kulturell gebildeten kognitiven Strukturen bestimmt wird. Wie wir uns verstehen, ist nie nur eine Frage purer Erfahrung 15 Ein eindrucksvolles Dokument der Frühzeit findet sich im Gesang des Kwalba Chief or Tera, in: T. G. H. Strehlow, Songs of Central Australia, S. 477 ff.; vgl. des weiteren S. Schott, Alt­ ägyptische Liebeslieder.

Das interpretierte Selbst 31

dessen, was wir sind, also nicht nur der Sedimentierung der vergangenen Erfahrungen in dem, was wir innere Natur genannt haben, vielmehr zugleich der kognitiven Strukturen, mit denen wir uns wahrnehmen. Eben deshalb verändern sich mit den kognitiven Strukturen auch die Selbstwahrnehmungen der Sub­jekte in der Geschichte.16 Sie werden andere und verstehen sich in anderen kognitiven Strukturen. Welcher Art sind diese Strukturen ? Die Frage führt uns auf eine eigentümliche Rückbezüglichkeit der Selbstwahrnehmung, die sich nur in der Rekonstruktion zeigt: Die Strukturen der Kognition werden nämlich im Prozeß des Erwerbs von Handlungskompetenz ausgebildet; sie sind deshalb ihrerseits operational wie kategorial in die Handlungsstruktur eingebunden. Das Subjekt, das sich selbst als Handelnder thematisch macht, wird sich mithin in der kognitiven Struktur der Handlung thematisch. Die Annahme liegt nahe, Objekt und Denken kämen so zur Deckung. Sie wäre kurzschlüssig. Denn die Frage ist, wie die Handlungsstruktur kognitiv umgesetzt wird. Im Verfolg dieser Frage zeigt sich, daß die pristine Handlungsstruktur zweistellig relational verstanden wird. Das ist nicht nur die einfachste der denkbaren relationalen Verknüpfungen, sachlich wird diese Struktur unterbaut durch die Erfahrung, daß der Handelnde etwas beginnt, Anfänge setzt. Wenn sich deshalb das Subjekt in der Selbstgegebenheit reflexiven Bewußtseins erfährt, erfährt es sich als Agens, in dem die Handlung ihren Anfang nimmt und von dem aus sie zum Ziel führt. In der derart verstandenen zweistellig relationalen Struktur entwickelt sich die frühe Handlungslogik als absolutistische Logik. Das Subjekt rückt strukturell in die Position des Absoluten ein. Der Grund liegt nicht in einer spekulativen Überhöhung. Dazu versteht sich das Subjekt erst in einer späteren philosophischen Reflexion. Der Grund für das pristine Selbstverständnis des Subjekts liegt in der zweistelligen Relationslogik, mit der es sich als Handelnder wahrnimmt. Das Subjekt vermag sich in dieser Logik nicht anders denn als absoluter Anfang wahrzunehmen und zu begreifen. Die pristine Subjektlogik ist deshalb als absolutistische Logik eine Ursprungslogik. – Unserer Analyse widerspricht nicht, daß sich das Subjekt zu allen Zeiten seinerseits als von anderen Kräften und Mächten bestimmt gesehen hat. Wir wissen, daß das Subjekt vermöge seiner Reflexivität in die Objektstellung einrücken kann. Als solches wird es seinerseits Ziel einer Handlung, die ihrerseits zweistellig relational verstanden wird. Die pristine Selbstwahrnehmung läßt verständlich werden, was nach einer langen Geschichte unter dem Banner der Postmoderne geschieht: Wir verstehen die Welt, die Natur wie die Sozialwelt, anders als in aller Vergangenheit, wir verstehen sie funktional-relational, und das heißt in systemischen Bezügen. In sie haben wir auch das Subjekt eingefügt. Damit ist die ursprüngliche Subjektlogik ob16 Vgl. G. Dux, Handlung, Handlungsstruktur und Gesellschaft in genetischer Perspektive.

32

Der Bildungsprozeß des Subjekts

solet geworden. Nietzsche hat deshalb ebenso das Subjekt wie Gott für tot erklärt. Beide waren derselben Logik verhaftet. Den Täter hinter dem Tun gibt es nicht. Gleicherweise äußert sich Foucault. Das » Ich denke «, erklärt Foucault, führt nicht mehr in die Evidenz des » Ich bin «. Und warum nicht ? » Es führt nicht alles Sein der Dinge auf das Denken zurück, ohne das Sein des Denkens bis in die untätigen Bahnen dessen zu verzweigen, was nicht denkt. «17 Diese Bewegung kennzeichnet das neuzeitliche Denken. Die Feststellung ist gleichwohl kurzschlüssig. Denn wenn das » Ich denke « zu einem Stratum führt, das im neuzeitlichen Naturverständnis gar nichts von Denken an sich hat,18 dann muß der nächste Schritt der Erkenntniskritik darin bestehen, von diesem Stratum des Seins wieder zum » Ich denke « zu kommen. Dabei gehen das Ich wie das Denken ihres Absolutheits­ anspruchs verlustig. Aber es bleibt ein Ich, nur eben ein anderes, eines, das funktional-relational verstanden wird. Tatsächlich haben die, die das Subjekt lauthals totsagen, immer nur das absolutistische Subjekt im Sinn. Das aber heißt: Sie stehen selbst noch mit dem Rücken zur Metaphysik. Wir werden den Prozeß, in dem das Subjekt in der Neuzeit selbst ein anderes wird und sich anders verstehen lernt, erörtern, wenn wir die Entstehung der romantischen Liebe zu rekonstruieren suchen.

17 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 391. 18 Vgl. G. Dux, Denken vom Vorrang der Natur – Die Naturalisierung des Geistes, S. 161 ff.

Kapitel 2 Theorie der Geschlechterbeziehung (I): Intimität und Sexualität

1

Die Rekonstruktion aus der Ontogenese

Warum hat sich in der menschlichen Geschichte überhaupt ein Verhältnis der Geschlechter gebildet ? Warum ist es zur Grundlage der Gesellschaft geworden ? Und warum hat es sich in aller Geschichte bis auf unsere Zeit durchgehalten ? Und weiter: Wenn sich unter den Bedingungen der anthropologischen Verfassung das Bedürfnis entwickelt, das Leben in der Körperzone eines anderen des anderen Geschlechts zu führen, was hat dann Liebe möglich gemacht und realiter entstehen lassen ? Es macht nach dem, was wir zuvor erörtert haben, keinen Sinn, nach einzelnen Determinanten zu suchen – Sexualität wird am häufigsten genannt. Entscheidend ist, das Geschlechterverhältnis in den kulturellen Bildungsprozeß der sozio-kulturellen Daseinsform des Menschen insgesamt einzubinden. Unsere entschieden gattungsgeschichtliche Argumentation hat dafür die Voraussetzungen aufgedeckt: Dieser Prozeß muß aus der Ontogenese herausgeführt werden. Diese Strategie verfolgen wir auch bei der Rekonstruktion des Geschlechterverhältnisses. Dabei kommt uns zu Hilfe, daß unsere gattungsgeschichtliche Argumentation zugleich eine prozeßlogische Argumentation darstellt. Wir gehen in der Rekonstruktion von naturalen Bedingungen aus; was an kulturellen Organisationsformen entsteht, zeigt erst der Prozeß. In der naturalistischen Grundlegung werden wir uns deshalb von biologischen Theorien nicht übertreffen lassen. Die naturalen Vorgaben werden wir mühelos integrieren – Sexualität vor allem. Nur lassen wir es bei den biologischen Vorgaben nicht bewenden, führen den Prozeß vielmehr aus den naturalen Vorgaben heraus und in die kulturelle Organisation der menschlichen Lebensformen hinein. Die Prozessualität, in der sich diese Lebensformen bilden, kennt ihre eigenen Bedingungen; und die lassen neue Bedürfnisse entstehen. Das Geschlechterverhältnis wird nur dann verständlich, wenn man das Zusammen© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_3

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Theorie der Geschlechterbeziehung (I): Intimität und Sexualität

spiel der naturalen mit den prozessualen Bedürfnissen in der Ontogenese rekonstruiert. Sexualität als naturales und Intimität als erst kulturell entstandenes Bedürfnis liegen an seinem Grunde.

2

Die Entwicklung von Intimität

2.1

Die symbiotische Beziehung

Das Kind lebt anfangs in einer symbiotischen Beziehung zur Mutter. Symbiotische Beziehung will sagen: Die Differenz zwischen dem Organismus und der Umwelt ist anfangs lediglich eine des biologischen Systems, nicht des Bewußtseins. Dem kindlichen Organismus steht für seine reale Geschiedenheit vom Organismus der Mutter noch keine kognitive Organisation zur Verfügung, vermöge derer diese Geschiedenheit wahrgenommen werden könnte. Die Unterschiedenheit zwischen ihm und der Mutter ist, wie überhaupt die Eigenständigkeit der Außenwelt, anfangs weder in die kognitive Organisation noch in die des Verhaltens eingelassen. Die symbiotische Beziehung ist nicht von Dauer. Sie wird durch den ontogenetischen Entwicklungsprozeß aufgelöst. Triebkraft dieser Entwicklung ist nicht, wie Freud meinte und wovon die psychoanalytische Theorie immer noch ausgeht, ein (sexuelles) Triebpotential.1 Keine Abzweigung dieser Energie vermag einsichtig zu machen, wie daraus die Organisationsformen des Subjekts und der Außenwelt entstehen. Triebkraft der ontogenetischen Entwicklung ist das Zusammentreffen von Organismus und Außenwelt. Dieses Zusammentreffen ist unvermeidlich, und es ist die Bedingung dafür, daß der Organismus diejenigen Kompetenzen entwickelt, die ihn in die Lage versetzen, sein Leben kompetent zu führen. Denn die Erfahrung, die er mit der Außenwelt macht, kann er unter der autopoietischen, d. h. auf Homöostase angelegten Organisation, nur in einer einzigen Weise verarbeiten: indem er sie in den Gewinn an Kompetenz umsetzt. Was an Erfahrungen gemacht werden kann, hängt von den verfügbaren Schemata ab, über die sie eingeholt werden. Der Organismus assimiliert, was sich assimilieren läßt. Nicht alles jedoch fügt sich den jeweils schon ausgebildeten Schemata. Was sich nicht fügt, wird als Widerständigkeit erfahren. Der Organismus sucht sie durch Akkommodation der Schemata zu überwinden.2 Die Reichweite der möglichen Akkommodation wird durch den Entwicklungsstand der Schemata bedingt. Da das schiere Zusammentreffen des Organismus mit der Außenwelt den Entwicklungsprozeß in Gang setzt

1 2

Zur Kritik vgl. auch I. D. Suttie, The Origins, S. 32 f. Auf die Bedeutung der Äquilibration habe ich oben hingewiesen, vgl. oben S. 19 f.

Die Entwicklung von Intimität 35

und vorantreibt, ist es weder notwendig noch sinnvoll, einen Lerntrieb anzunehmen, auch nicht einen » Drang nach Individuation «.3 Erfahrung als Motor der ontogenetischen Entwicklung, sowie Assimilation und Akkommodation als diejenigen Mechanismen, die es ermöglichen, Erfahrungen auf dem jeweiligen Stand der Entwicklung zu verarbeiten, zeitigen strukturnotwendig jenen Effekt, auf den es bei aller Entwicklung ankommt: Auf der Seite des Organismus bildet sich eine Handlungskompetenz aus, auf der Seite der Welt deren Organisation. Indem der Organismus Handlungskompetenz gewinnt, bringt er die Welt und sich in eine Gegenlage zu sich als Akteur. Jeder Kompetenzgewinn in der Steuerung der Motorik stellt m. a. W. für das Subjekt einen Gewinn an reflexiver Organisation dar; jeder Gewinn an Reflexivität setzt das Subjekt ab gegen die Welt, in die hinein es handelt. Mit dem Kompetenzgewinn bildet das Subjekt einen Hiatus zwischen sich und sie aus. Die Pointe an dieser Entwicklung ist, daß der Gewinn an Handlungskompetenz und der Aufbau der Welt die beiden Seiten des gleichen Prozesses darstellen. Mit beiden Entwicklungen gewinnt der Organismus die spezifisch humane Form der Autonomie: sein Leben unter selbstgeschaffenen Organisationsformen zu führen. Autonomiegewinn meint für den Menschen mithin dies: Lösung aus der symbiotischen Beziehung und Schaffung einer handlungsrelevant organisierten Welt in Gegenlage zu sich, Steuerbarkeit und Selbstbestimmung zum Handeln und, verbunden damit, reflexive Distanzierung von sich. In einer kompetenztheoretischen Theorie der ontogenetischen Entwicklung wird die überragende Bedeutung der sozialen Lage ersichtlich, aus der heraus sich der Entwicklungsprozeß vollzieht. Ein auf die Verarbeitung von Erfahrung gegründeter Entwicklungsprozeß ließe sich nicht bewältigen, wenn die Erfahrung im Umgang mit einer um das Kind unbekümmerten Außenwelt gemacht werden müßte. Nicht nur fehlte dem Kind die Kompetenz, um beliebige Erfahrungen zu verarbeiten, alle Erfahrungen würden es überdies in einem Maße frustrieren, daß es daran zugrunde ginge. Wenn der Prozeß gleichwohl möglich ist, dann unter zwei Bedingungen: 1. Die Mutter schirmt das Kind gegen die Außenwelt ab. 2. Sie dosiert die möglichen Erfahrungen, indem sie ihr Verhalten an das des Kindes ankoppelt, so daß das Kind überhaupt eine Chance erhält, mit den ihm verfügbaren Schemata in einen Interaktionsprozeß einzutreten und zu lernen. Die Erfahrungen, die das Kind mit der Welt macht, sind Erfahrungen, die es in aller­ erster Linie im Umgang mit ihr macht. Für das Kind ist die Mutter anfangs die Welt, die Sozial­welt wie die Natur.4 Die aus der Interaktion mit ihr entwickelten 3 So M. S. Mahler et al., Die psychische Geburt, S. 21, passim. 4 Ich habe schon, um Mißverständnisse zu vermeiden, darauf hingewiesen, daß ich nur deshalb auf die Mutter abstelle, weil sie es in aller Geschichte war, die sich als erste und vorzugs-

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Theorie der Geschlechterbeziehung (I): Intimität und Sexualität

Inter­aktionsformen können dann auch im Umgang mit der sachlichen Objektwelt eingesetzt und weiterentwickelt werden.5 Daß es wirklich die soziale Interaktion ist, die den Entwicklungsprozeß bestimmt, ist an den entwickelten Strukturen selbst abzulesen. Das ist evident für die Handlungs- und Interaktionsstruktur der Sozial­welt; es gilt aber gleichermaßen für die Strukturen der Außenwelt überhaupt.6 Deren kategoriale Formen sind samt und sonders handlungslogisch strukturiert.7 Der ontogenetische Entwicklungsprozeß beginnt früh, bereits mit den ersten Interaktionen. Strukturell hat er von allem Anfang an den Effekt, die Dezentrierung einzuleiten, die Organismus und Welt in eine Gegenlage zueinander bringt. Es besteht deshalb auch kein Anlaß, mit Freud in der frühen, von ihm autoerotisch genannten Phase einen primären Narzißmus angelegt zu sehen.8 Margaret Mahler, die mit ihren Mitarbeiterinnen den Loslösungsprozeß in der sensomotorischen Phase (bis zum Ende des zweiten Lebensjahres) untersucht hat, ist nicht konsequent, wenn sie gleichwohl am primären Narzißmus festhält.9 Denn in der symbiotischen Phase gibt es noch kein Ich, das besetzt werden könnte; wenn es sich aber bildet, bildet sich auf der Seite der Außenwelt auch das Objekt mit, an das die kindliche Emotionalität fixiert ist, eben die Mutter. Die Studien von Margaret Mahler und ihren Mitarbeiterinnen über den Entwicklungsprozeß der ersten beiden Jahre sind ein splendider Beleg für das zuvor erörterte kompetenztheoretische Verständnis der ontogenetischen Entwicklung – und das auch dann, wenn ihre Darstellung selbst dem psychoanalytischen Verständnis verhaftet bleibt.10 Mahler und ihre Mitarbeiterinnen machen deutlich, daß die Loslösungsphase mit ca. sechs Monaten beginnt und bis zum Ende des zweiten Lebensjahres eine dramatische Entwicklung erfährt; sie terminiert in der Ausbildung einer Objektpermanenz gegen Ende des zweiten und mit Beginn des

weise des Kindes angenommen hat. Es ist aber nicht zweifelhaft, daß die Mutter durch eine andere Bezugsperson ersetzt werden kann – wenn sie sich findet. 5 Die Ausweitung der Interaktion auf andere sowie die Einbeziehung der sachlichen Objektwelt mit fortschreitender Entwicklung beruht weder auf der Abzweigung sexueller Energie für die Erkenntnis der Realität noch auf der Substitution der frühen Mutter-Kind-Beziehung. – I. D. Suttie, The Origins, S. 16, ist insoweit selbst noch viel zu sehr der Freudschen Perspektive verhaftet. – Die Ausweitung der Interaktionskompetenz ist schlicht das Resultat des Versuchs, die Disäquilibration im Verhältnis der Außenwelt zu bewältigen. 6 Vgl. G. Dux, Die Logik der Weltbilder, S. 86 ff. 7 Exemplarisch dargelegt am Zeitverständnis bei G. Dux, Die Zeit in der Geschichte, S. 40 ff. 8 Gegen den Narzißmus als Entwicklungsphase schon I. D. Suttie, The Origins, S. 30 ff. (36 f.). 9 M. S. Mahler et al., ebd., S. 281. 10 Daß » kompetenztheoretisch « hier gerade im gegenteiligen Sinn gemeint ist als in Chomskys nativistischer Syntaxtheorie, ist, denke ich, evident.

Die Entwicklung von Intimität 37

dritten Lebensjahres.11 Es versteht sich: Der Prozeß endet hier nicht; er gewinnt mit dem Übergang in die Phase symbolischer Konstruktionen und dem Erwerb der Sprache ein neues Medium, in dem er sich in anderer, ungleich effizienterer Weise fortsetzen kann. Als im wesentlichen beendet kann er erst gelten, wenn das Kind das Organisationsniveau der Erwachsenen in seiner Gesellschaft erreicht hat und selbständig zu leben vermag.

2.2

Von der Symbiose zur Intimität

Der Ablösungsprozeß von der Mutter läßt aus der ursprünglichen symbiotischen Beziehung eine Beziehung der Intimität entstehen. Denn von Intimität sprechen wir, wenn jemand sein Leben in der Weise dem Leben eines anderen verbindet, daß er es in dessen unmittelbarer Körperzone zu führen sucht. Das aktive, gewollte Moment in der Intimität veranlaßt mich, ihre Entwicklung erst mit der Auflösung der symbiotischen Phase beginnen zu lassen. Die Intimität der frühkindlichen Entwicklung im Verhältnis zur Mutter weist spezifische Qualitäten auf. Verständlich werden sie nur, wenn man von der organischen Verfassung ausgeht und fragt, welche Entwicklung die Beziehung zur Mutter unter dem Eindruck der Ablösung und Individuation durchmacht. Wir müssen so gründlich wie irgend möglich vorgehen. Denn unsere weitere Argumentation baut ganz und gar darauf auf. Die selbstreferentielle Organisation eines jeden Organismus ist, wie wir erörtert haben, auf einen Zustand der Äquilibration hin angelegt. Die Prozesse im Innern sind aufeinander abgestimmt. Subhuman werden Bedürfnisse, die durch Interaktion mit der Außenwelt befriedigt werden müssen, durch genetisch fi­xierte und gegebenenfalls durch Lernen komplettierte Mechanismen reguliert. Mit den Bedürfnissen entstehende Spannungen werden m. a. W. regulatorisch bewältigt. Die Situation des menschlichen Organismus ist eine andere: Er ist in der frühen Ontogenese auf elementare Fürsorgeleistungen der sorgenden Bezugsperson angewiesen. Er ist ebenso darauf angewiesen, daß sie als ein immer schon kompetenterer anderer ihr Verhalten an das seine ankoppelt, damit er Kompetenz gewinnt. Denn die Motorik ist unstrukturiert; die Gesamtverfassung deshalb im Zustand einer Disäquilibration. Notwendig also wird der äquilibratorische Zustand durch jemand anderen, das » Außen-Ich «, hergestellt. Was in der symbiotischen Phase in einer Weise geschieht, als vollziehe sich die Regulation einzig im Regelkreis des Organismus, gewinnt mit der Loslösung eine andere Dimension. Fortan werden Erfahrungen im Umgang mit Objekten gemacht, die gerade nicht mehr zum Organismus, vielmehr zu einem von ihm 11 M. S. Mahler et al., ebd., S. 57 ff.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (I): Intimität und Sexualität

abgesetzten fremden Stratum gehören. So unumgänglich es ist, daß der Organismus mit diesem Stratum interagiert, so unumgänglich ist es, daß Spannungs­ zustände entstehen, die organisch nicht ohne weiteres ausgeglichen werden können. Wir haben bereits erörtert, daß der Organismus diesen Spannungszustand durch Kompetenzgewinn in einen Zustand der Äquilibration zu überführen sucht. Der Kompetenzgewinn allein reicht jedoch dazu nicht aus. Mehr noch: Er bewirkt gerade, die Welt als fremde entstehen zu lassen. Die Beobachtung der frühesten ontogenetischen Loslösungsphase zeigt, in welcher Weise der Organismus die Äquilibration wiederherstellt: durch Entwicklung der Intimität. Das Kind ist darauf angewiesen, den mit der Exploration der Außenwelt entstehenden Spannungszustand durch Versicherung der Anbindung an die Mutter auszugleichen. Ständig kehrt es in der frühen Loslösungsphase zur Mutter zurück oder versichert sich ihrer durch Augenkontakt. Je weiter das Kind in der Außenweltorientierung fortschreitet, desto aktiver sucht es in dieser Phase selbst, sich des Kontaktes zur Mutter zu vergewissern. Auf dem Höhepunkt des Entwicklungsprozesses der sensomotorischen Phase, in der sogenannten Wiederannäherungsphase, beschattet es die Mutter geradezu, um Sicherheit zu gewinnen. Die psychische Geburt des Menschen, das hat die Mahlersche Untersuchung gezeigt, ist eine über die Ausbildung der Intimität ermöglichte Geburt. Man könnte meinen, das Kind halte in der Anbindung an die Mutter ganz einfach an der symbiotischen Beziehung der ersten Monate fest. Es trete in den folgenden Monaten aus der schützenden Einheit nie ganz heraus oder kehre doch alsbald in sie zurück. So verstehen es psychoanalytische Theoretiker. Das jedoch wird der veränderten Situation, in der sich die Mutter-Kind-Beziehung befindet, nicht gerecht. Ohnehin ist ja nicht ersichtlich, wie das Kind es anstellen könnte, aus einer fortgeschrittenen Organisation der Dissoziierung auf eine frühere Stufe zurückzukehren. Der Organismus hat sich selbst in eine Gegenlage zur Außenwelt gebracht; er muß fortan über diese Gegenlage hinweg handeln und in ihr leben. In dieser Situation gewinnt die Anbindung an die Mutter überragende Bedeutung: Sie ist diejenige, mit der über den Hiatus hinweg angstfrei interagiert werden kann. Daß mit ihr angstfrei interagiert werden kann, ist allerdings mitbestimmt durch die frühe symbiotische Phase, aber keineswegs nur durch sie allein. Eben weil sie die ist, mit der die bisher möglichen Interaktionen aufgebaut werden konnten, ist sie auch diejenige, mit der die aufkommende Angst wieder abgebaut werden kann. Wir können nach allem genauer bestimmen, was Intimität meint und welche Bedeutung ihr zukommt. Die Intimität ist diejenige Beziehungsform, in der der Organismus sein Dasein durch Koppelung an einen anderen Organismus spannungsentlastet zu führen sucht. Was ich mit » Koppelung « im Bereich menschlicher Ontogenese meine, ist spezifischer als das, was in der Biologie damit gemeint

Die Entwicklung von Intimität 39

ist. Dort versteht man unter Koppelung die Anbindung der Zustandsänderungen einer autopoietischen Einheit an die Abfolge der Zustandsänderungen der Umwelt, die auf das System einwirken12; unter der sozialen Koppelung versteht man die Reziprozität des Verhaltens in sozialen Interaktionen.13 Die menschliche Koppelung im Bereich der Mutter-Kind-Dyade ist spezifischer: Sie ist eine äquilibrierte Zone im Verkehr mit der Außenwelt, die eigens dazu bestimmt ist, den unvermeidlichen Spannungszustand, der sonst im Verkehr mit ihr entsteht, abzubauen. In dieser Funktion ist sie Ausdruck einer Organisationsform, in der Handeln über die Körpergrenze hinweg in eine Außenwelt hinein deshalb Handeln unter Anspannung bleibt, weil die Organisationsform selbst, und zwar sowohl die des Handelns als auch die der Welt, eine erst künstlich geschaffene Organisationsform ist. Die Außenwelt behält die Momente der Fremdheit und Widerständigkeit, die bewältigt werden müssen. Mehr noch: Sie ist bedrohlich und kann verletzen, kurz, sie ist permanent auch frustrierend. Das nachwachsende Gattungsmitglied ist darauf angewiesen, diese Frustrationen in der psychosomatischen Organisation seiner sich erst entwickelnden inneren Natur auszugleichen. Aus der spannungsreichen Interaktion mit der Außenwelt kehrt es deshalb in eine Zone des Vertrauens zurück, in der die Spannung entfällt. Die Entlastung wäre durch den bloßen Rückzug aus der Außenwelt nicht möglich oder doch nur um den Preis einer dauerhaften Störung im Verhältnis von Subjekt und Welt. Das Kind ist darauf angewiesen, der Außenseite des Daseins angeschlossen zu sein; es muß gerade den sich unvermeidlich bildenden Hiatus zur Welt bewältigen. Es nutzt deshalb eine Sphäre der Koppelung an die Welt, die diesen Spannungsausgleich bereithält. Das meint Intimität; in ihr wird das Leben in der Totalität des leiblichen Daseins angebunden an das eines anderen. Während in der frühesten Phase der Ontogenese die Mutter die Welt ist, ist in der späteren Phase die Welt durch sie mediatisiert.

2.3

Intimität und Sozialität

Unsere Analyse gewinnt der Bedeutung der Sozialwelt eine neue Perspektive ab: Der Mensch ist bei seiner Geburt in einer organischen Verfassung, die es notwendig macht, interaktiv erst an die Außenwelt angeschlossen zu werden. Das gilt für die Natur wie für die Sozialwelt in gleicher Weise. Er ist, auch was die Sozialwelt angeht, nicht schon ein soziales Wesen von Natur. Er muß erst zu einem sozialen Wesen werden. Die Sozialität gehört mithin nicht selbst schon zum Organismus. Man kann Varelas Dictum: Es ist nichts im Organismus, was nicht zu seiner Orga12 H. R. Maturana/F. J. Varela, Autopoietische Systeme, S. 144; F. J. Varela, Principles, S. 32 f. 13 H. R. Maturana/F. J. Varela, Der Baum der Erkenntnis, S. 209 f.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (I): Intimität und Sexualität

nisation gehört14, auch umgekehrt lesen: Nichts, was nicht zu seiner Organisation gehört, gehört zu ihm – nota bene: als naturales System. Realisieren läßt sich der Anschluß an die Welt und die mit ihm verbundene Ausbildung der Sozialwelt einzig in der Interaktion mit einem immer schon kompetenteren anderen. Der Prozeß wäre wegen der unvermeidlichen Frustrationen unerträglich, wenn sich nicht inmitten der Welt eine soziale Enklave schaffen ließe, die, obwohl sie sich in der Interaktion ebenfalls erst kulturell mit entwickelt, den Spannungszustand zurückführt. Das geschieht in der Ausbildung einer Intimität zunächst im Verhältnis zur Mutter, dann auch zu den relevanten anderen der familialen Daseinsform, in der besonders auch der Vater von Bedeutung wird.15 Wenn man die Ausbildung der Intimität von der Bedarfslage des Organismus her zu begreifen sucht, von einer Bedarfslage also, die in ihrer organischen Verfassung auf eine Äquilibration hin angelegt ist, diese Äquilibration aber unter dem Imperativ des Handelns in einer organologisch nicht angekoppelten, erst künstlich in kulturellen Lebensformen geschaffenen und deshalb fremden Welt nicht erreichen kann, dann wird das höchst eigenartige Junktim verständlich, das in der Intimität zwischen der Körperlichkeit und der Sozialität besteht: Intimität umfaßt die Totalität der menschlichen Lebensform, die körperliche wie die soziokulturelle Verfassung. Gerade in der Integration der Körperlichkeit setzt sie sich gegen andere soziale Verhältnisse ab. Sie ist diejenige soziale Organisation, in der die Körperlichkeit ausgelebt wird. In ihr findet der Körper, wessen er bedarf; seine Bedürfnisse werden hier befriedigt; seine Gesundheit wird hier Gegenstand der Sorge, Krankheit wird hier zu bewältigen gesucht. In der frühen Phase einer jeden Biographie kann die Bewältigung dieser Daseinsform überhaupt nur in der Anbindung an den anderen gelingen. Der andere in der intimen Beziehung ist Mittler zwischen Natur und Kultur.

2.4

Intimität als dauerndes Bedürfnis

Intimität, das sollten die vorhergehenden Ausführungen deutlich machen, gehört dem Menschen nicht schon als naturale Ausstattung an; sie bildet sich vielmehr aufgrund der anthropologischen Notwendigkeit aus, den Anschluß an die Außenwelt in sozio-kulturellen Organisationsformen zu bewirken. Der naturale Unterbau ist nicht zu übersehen: Er liegt in einer spezifisch anthropologischen Bedarfslage. Die Form ihrer Befriedigung muß jedoch erst kulturell ausgebildet werden. Ein angeborenes Bedürfnis nach Vergesellschaftung – an innate need-for-compa14 F. J. Varela,Principles, S. 25. 15 S. M. Lewis, Beyond the Dyad; M. S. Svedja/J. J. Campers, Mother-Infant-» Bonding «, S.  775 ff.

Die Entwicklung von Intimität 41

nionship, wie I. Suttie sagt – gibt es auch als sozialen Instinkt nicht.16 Die anthropologische Verfassung bewirkt lediglich eine Angewiesenheit auf den anderen, aus ihr heraus entwickelt sich erst alle weitere Sozialität. Mehr als die erörterte Bedarfslage eines Anschlusses an die Außenwelt anzunehmen, die jeder Organismus kennt, ist nicht nötig. Nur kann dieser Anschluß gar nicht anders, als durch soziale andere erfolgen. Der Grund für die Ausbildung der Intimität liegt m. a. W. in der Verkettung von Organismus und kultureller Organisation. Intimität ist die Zone, in der die Anlage des Organismus auf einen spannungsfreien Zustand, das, was wir Äquilibration nennen, mit der kulturellen Organisation in Einklang gebracht wird. Die Ausbildung der Intimität ist mehr als nur ein Durchgangsstadium in der frühen Ontogenese. Das Verhältnis zur Außenwelt ändert sich, aber die Konstellation, ihr nie zur Gänze eingegliedert zu sein, hält sich durch. Über die Notwendigkeit, der Außenwelt gleichwohl angeschlossen zu bleiben, wird Intimität zu einem manifesten Bedürfnis des Organismus. Dieses Bedürfnis ist insofern elementar, als es nicht auf eine spezifische Leistung, sondern auf eine Lebenslage abzielt, in der das Leben unter qualifizierten Bedingungen im Verkehr mit anderen geführt werden kann. Wenn man Lévi-Strauss’ Frage nach einer Lebensform, die beiden Straten: Natur und Kultur, gleichermaßen angehört, aufnimmt, dann ist es zuallererst diese Form der Intimität, die zu nennen ist. Es ist verständlich, woher der Eindruck rührt, sie gehöre zur Natur. Nicht nur muß sie sich notwendig ausbilden – der Organismus kann sich nur in der Körperzone eines anderen entfalten –, Leben selbst wird in seinem einfachen Dasein, und das heißt in seiner Sinnfreiheit und Be­deutungslosigkeit, hier gelebt. Gleichwohl zeigt die Genese, daß die Intimität selbst erst ein kulturelles Produkt ist. Sie ist deshalb auch überaus anfällig für Störungen.

2.5

Der Entwicklungsprozeß der Intimität

Ich habe die Intimität aus der frühen Phase der ontogenetischen Entwicklung herausgeführt. Man kann, wenn man will, sie bereits mit der symbiotischen Phase beginnen lassen. Den Grund, sie erst mit der Ablösungsphase beginnen zu lassen, habe ich oben genannt: Ihre eigentlich kulturelle Formgebung beginnt erst mit der Ablösungsphase vom sechsten Monat an Gestalt zu gewinnen. Denn ihre Bedeutung in der frühkindlichen Phase gewinnt die Intimität gerade dadurch, daß sie den Ablösungsprozeß auffängt, indem sie eine Enklave in der Welt bildet, in 16 Treffend B. Malinowski, Geschlecht und Verdrängung, S. 180 ff.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (I): Intimität und Sexualität

der spannungsfrei zu leben vermocht wird. Der Grund dafür, daß sie sich in aller Entwicklung durchhält, liegt nach allem gerade nicht in einem immerwährenden Bedürfnis einer Rückkehr in das ozeanische Gefühl der symbiotischen Phase, vielmehr in der Ausbildung einer Zone des Vertrauens, in der der Organismus in zweifacher Weise in die Ruhelage der Äquilibration geführt werden kann: Er bleibt angebunden an Welt; er wird aber zugleich abgeschirmt durch den anderen gegen die Irritation und Frustration, die von dieser Welt als einer fremden ausgehen. Soweit jedoch die sorgende Bezugsperson selbst Quelle der Frustration wird, auch das ist unvermeidlich, hilft sie, sie auch wieder abzubauen. Es ist für das Verständnis des sich in der Adoleszenz entwickelnden Verhältnisses der Geschlechter wichtig, zu sehen, daß die frühkindliche Intimität nachhaltig bestimmt wird durch den hautnahen Kontakt zur Mutter, der in der Loslösungsphase und auch später noch erhalten bleibt.17 Ohne Zweifel wird das kontakt-perzeptuelle Erleben des ganzen Körpers, des eigenen wie des anderen, in die spätere Intimität überführt. Die frühkindliche Form der Intimität macht eine Entwicklung durch, die in ihrer Grundstruktur deshalb leicht einsichtig ist, weil sie der Grundstruktur der ontogenetischen Entwicklung überhaupt folgt: dem Gewinn an Autonomie. Je mehr die Handlungskompetenz fortschreitet, desto mehr löst sich das Kind von der unmittelbaren Abhängigkeit durch die sorgende Bezugsperson. Die Körperkontakte als Mittel und Ausdruck des Spannungsausgleichs gehen zurück, ohne jedoch verlorenzugehen. Die Intimität bleibt erhalten; sie ändert aber ihre Ausdrucksform und ihre Bedeutung. Das in ihr ausgebildete Vertrauen strukturiert die Form der Interaktion, die schließlich die Interaktion unter Gleichen ist – und es doch nicht werden kann. Den Interaktionen des Kindes mit den Bezugspersonen seiner frühen Kindheit haftet m. a. W. eine Prozessualität an, die sich augenfällig in der Distanzierung der Körperzone zum Ausdruck bringt. Was anfangs noch hautnaher Kontakt ist, entwickelt sich bis zur Entfaltung eigener territorialer Bereiche, die jedoch während der ganzen Kindheit von der familialen Umhegung umfaßt bleiben. Der Prozeß des Autonomiegewinns führt schließlich darüber hinaus. In der postpubertären Phase löst sich der Adoleszente aus dem Familienverband heraus, in dem er unter der Fürsorge und Botmäßigkeit der Eltern nie ganz selbständig werden würde. Wie weit sich diese Ablösung realisieren läßt, hängt von den gesellschaftlichen Bedingungen ab; in ihrer Entwicklungsrichtung ist sie allerwärts feststellbar. Was geschieht in der Ablösungsphase mit der Intimität ? Die Frage läßt sich erst beantworten, wenn wir nach der Entwicklung der Intimität auch die der Sexualität verfolgt haben. Denn dann zeigt sich, daß aus beider Entwicklungen eine 17 M. Mahler et al., ebd., S. 64.

Die Entwicklung der Sexualität 43

Problemlage entsteht, die durch Ausbildung des Geschlechterverhältnisses bewältigt wird.

3

Die Entwicklung der Sexualität

3.1

Die frühkindliche Entwicklung

Sexualität ist dem Organismus als Triebpotential von allem Anfang an eigen. Auch in der frühen Phase der Ontogenese ist es vorhanden. Das ist nicht erst seit den Erörterungen Freuds in den » Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie « bewußt.18 Was Freud zu Bewußtsein gebracht hat, ist die Normalität der Triebdynamik und ihre Bedeutung für die ontogenetische Entwicklung. Für die früheste Phase allerdings ist es nicht ganz leicht zu bestimmen, als was Sexualität zu verstehen ist. Denn anfangs ist die sexuelle Energie in das allgemeine Antriebspotential integriert, sie lehnt sich, wie Freud sagt, an die zur Lebenserhaltung dienenden Funktionen: an Nahrungsaufnahme und Ausscheidung, an und macht sich erst später selbständig. Gleichwohl will Freud sie nicht so verstanden wissen, als falle sie mit diesen Triebkräften überhaupt zusammen; er reklamiert also auch für die anfängliche Phase einen von den Ichtrieben unterschiedenen Sexualtrieb.19 Wie aber soll man die frühkindliche Sexualität als Sexualität verstehen, wenn man sie nicht in Bezug zur Genitalzone setzt ? Freud geht davon aus, daß es eine spezifische Form der Lust gibt, die in dieser Phase auch an anderen erogenen Zonen gewonnen werden kann. Lassen wir es dabei bewenden. Freud hat die Entwicklung der Sexualität an Phasen gebunden gesehen, wobei sich die Bestimmung der einzelnen Phasen mehrfach geändert hat; erst im Verlauf der Entwicklung der Freudschen Theorie hat sich die nachfolgende Phasenbildung ergeben. Den Beginn macht die autoerotische Phase. Ihr folgt eine primär narzißtische, der narzißtischen folgt die für die weitere Entwicklung entscheidende phallische Phase. In ihr bildet sich der Ödipus-Komplex aus und wird, beim Knaben jedenfalls, bei normalem Verlauf auch überwunden. Die längste Phase ist die Latenzphase zwischen dem Ende der phallischen Phase um das fünfte Lebensjahr und der Pubertät. Freud hat die ontogenetische Entwicklung der Sexualität triebtheoretisch bestimmt und hereditär angelegt gesehen. Umwelt und Erziehung ziehen das, was von Natur aus vorgezeichnet ist, nur nach, prägen es » sauberer und tiefer « aus.20 18 S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Ges. Werke, Bd. V, S. 27 ff. 19 S. Freud, ebd., S. 120. 20 S. Freud, ebd., S. 78.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (I): Intimität und Sexualität

Das ist für unser Verständnis der ontogenetischen Entwicklung völlig inakzeptabel. Die ontogenetische Entwicklung muß in dem Sinne kompetenztheoretisch verstanden werden, daß das Kind über einen kulturellen Erwerbsprozeß Fähigkeiten ausbildet, die zu kulturellen Lebensformen führen. In diesen kompetenztheoretisch verstandenen Erwerbsprozeß einer kulturellen Daseinsweise müssen auch naturale Entwicklungsprozesse integriert werden. Erst dadurch gewinnen sie ihre Funktion und Bedeutung. Wir werden deshalb der inhaltlichen Bestimmung der Phasen und Phasenfolge Freuds nicht folgen. Sie ist, wie wir später erörtern werden, nicht zuletzt durch die psychoanalytische Forschung selbst überholt. Uns genügt es, zunächst einmal festzuhalten: Es gibt ein sexuelles Triebpotential, das ontogenetisch eine Entwicklung durchmacht, in der es sich aus dem allgemeinen Triebpotential als genital zentrierte Sexualität ausdifferenziert und in der nach­ pubertären Phase auf eine (in der Regel) heterosexuelle Betätigung drängt. Was uns gegenwärtig interessiert, ist die Frage, in welcher Weise dieser Entwicklungsprozeß in den ontogenetischen Bildungsprozeß des Subjekts eingefügt ist. Diese Frage zielt auf die Ausbildung einer Geschlechtsidentität, die wir ebenfalls kompetenztheoretisch zu begreifen suchen.

3.2

Die Ausbildung der Geschlechtsidentität

Versteht man den ontogenetischen Entwicklungsprozeß in dem Sinne kompetenztheoretisch, daß, was immer auf das Kind eindringt, von ihm in einer Weise verarbeitet werden muß, die es in ein reflexives Verhältnis zu sich selbst und in ein dezentriertes Verhältnis zur Welt gelangen läßt, dann stellt sich auch der Erwerbs­ prozeß der Geschlechtsidentität als ein Prozeß dar, der über Erfahrungen mit einer real vorfindlichen Welt verläuft. Dabei sind die relevanten anderen die, die vorherrschend bestimmen, was die Welt ausmacht. Die relevanten anderen, das sind die sorgende Bezugsperson, in der Regel also die Mutter, dann aber auch die übrigen Familienmitglieder, insbesondere der Vater. Für den Bildungsprozeß der Geschlechtsidentität erreicht die frühkindliche Entwicklung eine erste Stabilisierung in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres, wenn mit der Ausbildung einer Objektpermanenz21 auch der eigene Körper in eine Gegenlage gebracht wird und sich zum permanenten Objekt ausformt. Wenn es deshalb richtig ist, was Roiphe und Galenson beobachtet haben wollen, daß die sexuelle Triebenergie bereits in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres einen schubartigen Zuwachs erfährt und sich in einer gesteigerten Lustempfin­dung 21 J. Piaget, Psychologie der Intelligenz, S. 121 ff. Die Ergebnisse werden im wesentlichen von M. Mahler et al., Die psychische Geburt des Menschen, S. 145 ff., bestätigt und ergänzt.

Die Entwicklung der Sexualität 45

in der genitalen Zone äußert22, dann ist durchaus glaubhaft, daß Kinder in dieser Phase bereits die Genitalien und die Unterschiede der Genitalien bei Jungen und Mädchen zu entdecken beginnen, früher jedenfalls als Freud vermeinte. Dabei mag der im Vergleich zu früheren Jahrhunderten freizügigere Umgang mit dem Körper in den Familien unserer Tage eine Rolle spielen. Mit Beginn der symbolischen Phase, also etwa mit Beginn des dritten Lebensjahres, gewinnt das Kind mit der Sprache ein Medium, durch das der Kompetenzerwerb bis dahin ungekannte Fortschritte macht. Für den Aufbau der Welt in einer distanzierten Gegenlage ist mit der Sprache ein Mittel gewonnen, mit dem er für die Praxis der Lebensführung überhaupt erst effizient werden kann. Das gleiche gilt für die Ausbildung eines Ich in der reflexiven Form des Selbst. In dieser Phase nun läßt sich der von den Kindern beobachtete Unterschied des Geschlechts zum sozialen Unterschied der Geschlechter weiterentwickeln. Wir stehen vor der Aufgabe, die kognitive Strategie, die dabei eingeschlagen wird, erst noch zu bestimmen. Schon die Wahrnehmung des Unterschieds der Genitalien als » Haben und Nicht-haben « bedarf der Erklärung. Sie dürfte aus der phänomenalen Art der Aufnahme von Wirklichkeit in dieser frühen Phase der Entwicklung verständlich sein. Einräumen wird man der psychoanalytischen Theorie, daß in der Folge der Entdeckung Irritationen der Selbstbestimmung auftreten, wenn es gilt, eine erste Geschlechtsidentität zu entwickeln – auch wenn man vieles, was die psychoanalytische Theorie in den Prozeß der Ausbildung der Geschlechtsidentität hineingelesen hat, für Phantasmen hält.23 Die Irritationen werden um so gravierender sein, als die Selbstbestimmung mit einer Identifikation mit dem einen oder anderen Elternteil einhergeht. Wir gehen deshalb davon aus, daß die Ausbildung der Geschlechtsidentität für Jungen und Mädchen unterschiedlich verläuft.24 3.2.1 Die Ausbildung der Geschlechtsidentität des Knaben Auch für die Bildung der Geschlechtsidentität gewinnt der Umstand, daß der ontogenetische Prozeß ein Prozeß ist, in dem das nachwachsende Gattungsmitglied Autonomie gewinnt und sich ganz unumgänglich von der primären Bezugsperson zu lösen beginnt, allergrößte Bedeutung. Da die primäre Bezugsperson während der ganzen frühen Ontogenese von überragender Bedeutung bleibt, kann der Ab22 H. Roiphe/E. Galenson, Infantile Origins of Sexual Identity, S. 35 ff. 23 Die Interpretationen von Roiphe und Galenson bieten dazu reiches Material; vgl. unten S.  182 ff. 24 Vgl. zum folgenden N. Chodorow, Das Erbe der Mütter, S. 122 ff., 146 ff. Empirisch sind die Ausführungen wenig gesichert; sie rechnen auf Plausibilität. Die aber geht ihnen gerade im Hinblick auf die Geschlechtsidentität der Frau ab.

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lösungsprozeß nur als Transformationsprozeß frühkindlicher Bindung verstanden werden. Gehen wir davon aus, daß die Mutter die primäre Bezugsperson ist, so wird für den Knaben der Prozeß des Autonomiegewinns und der Absetzung von der Mutter durch die Identifikation mit dem Vater wesentlich erleichtert. Dabei muß man in Rechnung stellen, daß die gesellschaftliche Positionszuweisung, die den Vater in allen bisherigen Gesellschaften als Vertreter der Außenwelt erscheinen läßt, diesen Prozeß nachhaltig unterstützt. Der Prozeß läßt eine trianguläre Situation entstehen. Das hindert den Knaben nicht, ein affektiv positives Verhältnis zur Mutter zu behalten; er wandelt es im Verlaufe der Entwicklung zu der besonderen Form der Mutter-Sohn-Beziehung um. Daß die positive Besetzung der Mutter den Vater zur Ablehnung des Sohnes führe25, und den Sohn veranlasse, Angst vor der Kastration durch den Vater zu haben mit der Folge, die positive Besetzung der Mutter zu verdrängen26, sind psychoanalytische Annahmen, deren blanke Generalisierung zum Normalfall der Entwicklung ich mir nicht zu eigen zu machen vermag. Sie sind zu sehr verstrickt in ein triebtheoretisches Entwicklungskonzept. Darüber später mehr. Mir genügt es, festzuhalten, daß a) tatsächlich ein Ablösungsprozeß erfolgt, der mit einem Umbau der frühen Intimität verbunden ist, und b) die Identifikation mit dem Vater diesen Prozeß emotional unterstützt und die Ausbildung einer Geschlechts­ identität fördert. Die Ambivalenz, die dadurch im Verhältnis zu den Eltern entsteht, ist nicht zu übersehen. 3.2.2 Die Ausbildung der Geschlechtsidentität des Mädchens Wenn man den ontogenetischen Entwicklungsprozeß nicht triebtheoretisch, vielmehr kompetenztheoretisch: als Erwerbsprozeß ebenso einer Welt wie eines Selbst versteht, stellt sich die Ausgangslage für das Mädchen prinzipiell gleich dar; sie läßt jedoch eine emotional unterschiedliche Konfliktsituation entstehen. Auch für das Mädchen setzen der ontogenetische Kompetenzerwerb und die mit ihm verbundene Verarbeitung der Außenwelterfahrung den Ablösungsprozeß von der Mutter und den Autonomiegewinn in Gang. Die Entdeckung des Geschlechtsunterschieds muß jedoch für das Mädchen eine eigentümliche Lage schaffen. Sie bindet es an die Mutter zurück. Das allein schon kann für den Ablösungsprozeß kontraproduktiv sein. Hilfreich wie für den Knaben ist die Entdeckung jedenfalls nicht. Um so bedeutsamer ist die Hinwendung zum Vater. Sie geschieht auch. Feministische Analytikerinnen haben, was die Hinwendung des Mädchens zum Va25 So N. Chodorow, ebd., S. 172. 26 N. Chodorow, ebd., S. 149, 166.

Die Entwicklung der Sexualität 47

ter angeht, eine bedenkenswerte Vermutung geäußert – und mehr als eine Vermutung kann es mangels empirischer Überprüfung nicht sein: » Wahrscheinlich «, so die Annahme von N. Chodorow, » wendet sich ein Mädchen dem Vater nicht wegen seines Geschlechtes oder seiner sexuellen Orientierung zu, sondern weil er eine Person ist, die ihr mit der größten Wahrscheinlichkeit hilft, von der Mutter loszukommen. «27

In ähnlicher Weise versteht J. Benjamin den ominösen Penisneid des Mädchens: als Ausdruck des Bemühens, sich durch den Vater von der Mutter zu lösen.28 Die Annahme hat Implikationen, die für das Verständnis der Entwicklung der Frau auf den ersten Blick nicht ohne weiteres ersichtlich sind. Wenn wir davon ausgehen müssen, daß das Mädchen in gleicher Weise wie der Knabe von der Stellung des Vaters als dem Repräsentanten der Außenwelt und den damit verbundenen Kompetenzen angezogen wird, dann müssen wir auch davon ausgehen, daß das Mädchen ebenso wie der Knabe versuchen wird, es dem Vater gleichzutun, sich also auf das Niveau seiner Kompetenzen heraufzuarbeiten. Sein Autonomiestreben wäre mithin kein anderes als das des Knaben. Das nun entspricht einer These, der ich in der Untersuchung über » Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter « nachgegangen bin und, wie ich hoffe, belegt habe. Sie läßt sich auf einfache Weise formulieren: Nachwachsende Gattungsmitglieder, so die These, suchen die größtmögliche Entfaltung ihrer Autonomie. Sie suchen ihre Fähigkeiten auch tatsächlich unter Ausnutzung der Möglichkeiten, die in einer Gesellschaft bereitliegen, zu entwickeln, wenn sie nicht durch gesellschaftliche Zwänge daran gehindert werden. Das schließt individuelle Unterschiede in der Veranlagung nicht aus. Mädchen würden deshalb, angezogen von der Autonomie des Vaters, ihre eigene Autonomie in gleicher Weise entwickeln wie Jungen, wenn ihnen nicht soziale Barrieren den Weg versperrten.29 Diese Barrieren gibt es. Die ontogenetische Entwicklung des Mädchens, die Entwicklung seiner Geschlechtsidentität vor allem, läßt sich nicht verstehen, ohne die historische Entwicklung der Geschlechterbeziehung einzubeziehen. Nicht ihr Geschlecht, die Geschichte ist ihr Schicksal. Inwiefern ? Durch die Geschichte hin ist das Verhältnis der Geschlechter durch unterschiedliche Machtpotentiale bestimmt worden. Das größere Machtpotential ist dem Mann aus dem auf Macht gegründeten Aufbau der Gesellschaft zugekommen. Der Effekt ist, daß Frauen in der Geschichte anfangs eine vielfach nur mode27 N. Chodorow, ebd., S. 159, 150. 28 J. Benjamin, Die Fesseln der Liebe, S. 99 ff., 107; vgl. auch I. D. Suttie, The Origins, S. 43. 29 G. Dux, Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter, S. 148 ff.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (I): Intimität und Sexualität

rate, im späteren Verlauf aber zunehmend gravierendere Zurücksetzung erfahren haben. Dieser Effekt wirkte auch auf den Sozialisationsprozeß zurück: In einer von Männern bestimmten Gesellschaft war die Zuwendung der Männer zu den Söhnen größer als zu den Töchtern, und das auch dann, wenn damit keine diskriminierenden Haltungen verbunden waren. Das aber heißt nach dem, was wir zuvor erörtert haben, daß die Mädchen an dem Vater gerade nicht fanden, was sie dringlicher noch als die Söhne benötigten: die Unterstützung im Ablöseprozeß von der Mutter und die Chance der Entwicklung von Kompetenzen, wie sie den Männern eigneten. Die Ungleichheit der gesellschaftlichen Organisation setzte sich mithin auf kürzestem Wege über den Sozialisationsprozeß in die Geschlechtsidentität um. Es ist in den frühen Gesellschaften für die Mädchen ein Vorteil, während der ontogenetischen Entwicklung und darüber hinaus eine intensive emotio­ nale Beziehung zur Mutter aufrechterhalten zu können, er ist jedoch belastet mit der nachrangigen gesellschaftlichen Positionszuweisung, die das Mädchen schon von der Mutter übernimmt. Es sind, dieser Lesart zufolge, nicht unvermeidbare Unterschiede der ontogenetischen Entwicklung, die ebenso unvermeidbar zu einer Konstellation führen, in der sich das Mädchen zurückgesetzt fühlen müßte;30 schon gar nicht ist es eine vermeintliche Kastration und der an sie gebundene Penisneid, vielmehr eine spezifisch gesellschaftliche Organisationsform, die be­ wirkte, daß Frauen in aller Vergangenheit tatsächlich zurückgesetzt waren. Unsere Betrachtung führt, was das Grundverhältnis der ontogenetischen Entwicklung angeht, zu einer Umkehrung der Freudschen Theorie. Freud hat, wie ich oben dargelegt habe, angenommen, daß die sozialen Einschläge der ontogenetischen Entwicklung den hereditär bestimmten Entwicklungsprozeß » sauberer und tiefer « ausprägen helfen.31 In Wirklichkeit aber bringt die soziale Konstellation, die das, was Freud als hereditär ansah, allererst hervor. Ersichtlich kommen wir in einer kompetenztheoretischen Entwicklungstheorie zwar nicht überhaupt ohne ontogenetische Konfliktsituation aus, jedoch ohne einen Konflikt mit spezifisch ödipalen Motivationslagen, also ohne den Wunsch, den Sohn zu töten oder den Vater zu töten. Auch den Wunsch, mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil verkehren zu wollen, finden wir nicht; wir benötigen ihn auch nicht, um den Ablösungsprozeß zu bewirken. Wir kennen deshalb auch nicht die Angst, kastriert zu werden. Eine kompetenztheoretische Entwicklungstheorie stellt darauf ab, daß

30 So S. Freud, Einige psychische Folgen, Ges. Werke, Bd. XIV, S. 25. Auch Chodorow und Benjamin übersehen, daß ihre Konstruktion des ontogenetischen Bildungsprozesses der Geschlechtsidentität für das emanzipatorische Interesse immer noch kontraproduktiv ist: Die Sozialisation des Mädchens enthält in ihrer Darstellung alle Strukturen, die eine Benachteiligung unvermeidbar werden lassen. 31 S. Freud, Drei Abhandlungen, Ges. Werke, Bd. V, S. 78.

Das Junktim von Intimität und Sexualität 49

reale Erfahrungen zu verarbeiten sind. Diese Erfahrungen sind konfliktträchtig genug, um die Krisen, die auftreten können, zu erklären. Die Entwicklung der Sexualität kennt eine Entfaltung der Triebdynamik, die nach der Latenzphase in der Pubertät zumeist auf eine heterosexuelle Betätigung drängt. Im Kontext unserer Erörterung: der Entwicklung einer spezifisch humanen Geschlechterbeziehung, ist dieses Crescendo der Sexualität während der ganzen ontogenetischen Entwicklung wichtig. Denn gerade weil es mit dem Ablösungsprozeß, also einem Decrescendo körpernaher Beziehungen zur Mutter zusammengeht, kommt es nach der Pubertät zur Reorganisation der Intimität im Verein mit der Sexualität in der Geschlechterbeziehung.

4

Das Junktim von Intimität und Sexualität

4.1

Das Verlangen der Reorganisation

Die frühkindliche Offenheit des Organismus für Erfahrungen im Umgang mit der Außenwelt bewirkt, wie wir gesehen haben, daß sich diese Erfahrungen im Aufbau der Handlungs- und Interaktionskompetenz in ihren Erlebnisqualitäten dem Organismus einbilden. Intimität als eine ubiquitäre Erlebnisdimension im Umgang mit den relevanten anderen bildet sich deshalb als Bedürfnis aus, das in die Grundstruktur des Subjekts eingelassen und Bestandteil seiner inneren Natur wird. Zeitlebens wird das Bedürfnis nach Intimität das Subjekt als Verlangen nach einer besonderen Verbundenheit mit einem alter ego bestimmen. Es ist so unabweisbar wie die Fremdheit der Welt in der Gegenlage zum Subjekt. Notwendig muß sich deshalb mit der Lösung aus der Herkunftsfamilie das Verlangen nach Re­organisation der Intimität einstellen. Das geschieht unter Bedingungen einer gesteigerten Form der Reflexivität, derzufolge die eigene Befindlichkeit thematisch gemacht und damit in ihrer Bedeutsamkeit bedacht wird. Wenn sich der Jugendliche oder Adoleszente schließlich aus der familialen Umhegung herauslöst, erfährt die Intimität eine andere Dimension und Bedeutung, als sie bis dahin hatte: Sie muß unter den Bedingungen einer Lebensführung realisiert werden, deren Autonomie fortan die eigenverantwortliche Gestaltung der Verhältnisse verlangt. An der Entwicklung des Subjekts und der daran gebundenen Entwicklung der Intimität wird deutlich, daß sich letztere nicht einfach zu wiederholen, sondern einzig zu reorganisieren vermag. Nicht der Zwang der Wiederholung, sondern der Reorganisation bestimmt den ontogenetischen Prozeß. Als Zwang der Wiederholung stellt er sich nur dar, solange er psychoanalytisch substanzlogisch als Ausdruck der immer gleichen Triebstruktur und des immer gleichen Triebpotentials

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Theorie der Geschlechterbeziehung (I): Intimität und Sexualität

verstanden wird. Die Nötigung einer Reorganisation der Intimität wird schließlich übermächtig, wenn die Triebstruktur der Sexualität, die ja ihrerseits auf körperliche Nähe aus ist, sich ihr verbindet. Im Junktim mit der Sexualität reorganisiert sich Intimität. Dieser Reorganisation im Verein mit der Sexualität kommt die Entwicklung der Sexualität ihrerseits entgegen.

4.2

Die Verbindung von Intimität und Sexualität

Die Sexualität tritt nach der Latenzphase in eine Entwicklungsphase ein, in der sie unter den Primat der Genitalzone gerät. Das geschieht just in der Zeit, in der sich der Prozeß der Autonomisierung des Subjekts steigert und auf eine Ablösung von der Herkunftsfamilie drängt. Wird die Sexualität auf diese Weise in den Entwicklungsprozeß der Intimität und damit in den dem Autonomiegewinn anhaftenden Prozeß der Ablösung von der Herkunftsfamilie hineingezogen, so umgekehrt die Intimität in den Prozeß der genitalen Zentrierung der Triebnatur. Durch die Einbindung der Sexualität wird der Ablösungsprozeß verstärkt und beschleunigt. Dabei ist nicht ausschlaggebend, daß die Geschlechtsrollen derer, an die die Intimität bisher gebunden war, familial schon einander zugeordnet sind, der gegengeschlechtliche Elternteil also der eigenen Triebverwirklichung keine Chance läßt. Die Position des gleichgeschlechtlichen Elternteils im Verhältnis zum gegengeschlechtlichen will der Adoleszente gar nicht einnehmen. Denn in ihr vermöchte er gar nicht als der, der er jetzt ist, zu leben. Die enge körperliche Beziehung zu den Eltern, vor allem zur Mutter, aber, weniger intensiv, auch zum Vater, ist untrennbar mit der frühkindlichen Unselbständigkeit verbunden und drängt entweder auf Überwindung oder ist schon überwunden. In ihr ließe sich die Sexualität nicht ausleben. Der Gewinn an Autonomie läßt den Jugendlichen mit der jetzt genital zentrierten Sexualität in der Entwicklungsphase der Pubertät den Weg nach außen suchen. Umgekehrt läßt die Unterstellung der Sexualität unter den Primat der Genitalzone inner-familial jene eigenartige emotionale Qualität des sexuellen Vermeidungsverhaltens entstehen. Es ist diese Trias von Autonomiegewinn, Bedürfnis nach Intimität und Sexualität, aufgrund derer das Inzesttabu sich zu entwickeln beginnt und die Außenwendung des nachwachsenden Gattungsmitgliedes bewirkt. LéviStrauss hatte ersichtlich ein Gespür dafür, daß das Inzesttabu in den Enkultura­ tionsprozeß integriert ist. Es gehört wirklich zur Menschwerdung hinzu. Die Ratio liegt jedoch nicht in dem Bedürfnis, die Frauen gleich zu verteilen. Darauf konnte in den frühen Gesellschaften niemand reflektieren. Die Ratio liegt in dem Gewinn an Autonomie, der eine Ablösung von der Herkunftsfamilie erzwingt, wenn es gilt, Intimität zu reorganisieren und Sexualität auszuleben.

Das Junktim von Intimität und Sexualität 51

Dem Prozeß unterliegt eine Dramatik: Die frühkindliche Sexualität ist, eben weil sie in die Intimität integriert ist, an die sorgende Bezugsperson gebunden. – Geschwisterliche Intimitäten sind so gut wie frei von ihr. – Mit der Ablösung beginnt deshalb die sich entwickelnde genital zentrierte Sexualität ihre Anbindung zu verlieren. Auf dem Höhepunkt dieser Entwicklung in der Pubertät fließt das ganze Triebpotential der nach außen gewandten Partnersuche zu, so daß man meinen könnte, es sei überhaupt die Sexualität, die die Wendung nach außen erzwinge. Dem ist nicht so. Die Sexualität ist der Entwicklung der Subjektivität verbunden. Deren Autonomiegewinn ist es, der zur Wendung nach außen führt. Es sind beide: Intimität wie Sexualität, die darauf drängen, auf dem veränderten Niveau der ontogenetischen Entwicklung reorganisiert zu werden. Tatsächlich re­ organisieren sich beide, indem sie eine Verbindung miteinander eingehen. Dieser Prozeß ist so universal, wie der Bildungsprozeß des Subjekts in seinen Strukturen universal ist. Wir werden deshalb durch die Geschichte hin in kaum einem anderen Bereich menschlicher Bedürfnisse größere Gemeinsamkeiten finden als im elementaren Bereich derjenigen Bedürfnisse, die die Geschlechter aneinanderbinden und die jeder durch den anderen zu befriedigen sucht. Es war durch die Geschichte hin nie nur Sex, den Menschen in der dauerhaften Verbindung der Geschlechter gesucht und gefunden haben und durch den sie aneinandergebunden waren.32 – Solange die Sexualität allein die Verbindung bestimmt, besteht letztere nur für den flüchtigen Augenblick. – Es war immer die Verbindung von Intimität und Sexualität, die sie suchten. Die Verbindung von Intimität und Sexualität hat, wie wir noch sehen werden, zu allen Zeiten die Chance mit sich geführt, Liebe zwischen den Geschlechtern entstehen zu lassen. Historisch war sie verschieden getönt und mit unterschiedlichen Problemen der Realisierbarkeit belastet. Da sie der Subjektivität verhaftet ist, war sie deren Gesamtentwicklung verbunden und hat in unterschiedlichen Ausdrucksformen ihre Umsetzung erfahren. Die ihr unterliegende Grundkonstella­ tion: die Verbindung von Intimität und Sexualität, hat sich jedoch zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften hergestellt. Es ist keine Frage: Die Triebnatur der Sexualität kann sich immer auch außerhalb der auf Intimität gründenden Beziehungen Befriedigung verschaffen. Das tut sie, wie man weiß, in reichem Maße. Das jedoch kann nicht darüber hinwegsehen lassen, daß es zu allen Zeiten den Wunsch nach Ausschließlichkeit einer Beziehung gegeben hat, in der Intimität und Sexualität verbunden waren. Das historische Material, das ich in der Untersuchung über » Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter « erörtert habe und hier noch erörtern werde, spricht eine deutliche Sprache. 32 R. Brown, Analysing Love, S. 51: » … unaccompanied sexual desire plays a relatively small role in human social life. « Ebenso A. H. Maslow, Love in Healthy People, S. 66 ff.

52

4.3

Theorie der Geschlechterbeziehung (I): Intimität und Sexualität

Kritik der psychoanalytischen Theorie

Die Einsicht, daß das Verhältnis der Geschlechter seinen Grund in der Kindheit hat, ist nicht neu. Freud hat sie mit aller nur wünschenswerten Deutlichkeit ausgesprochen;33 er hat für das, was die Geschlechter verbindet, gleichwohl wenig Verständnis gezeigt. Die Bedeutung der Mutter für die Entwicklung der Intimität mit allen Weiterungen, die mit der Beziehung zu ihr verbunden sind, hat er gründlich verkannt. Lediglich den Beitrag, den letztere zu einem kräftigen Sexualleben des Kindes in späteren Jahren leistet, hat er hervorgehoben.34 Insbesondere hat er gemeint, Liebe sei eine Beziehung zwischen Mann und Weib, die sich aufgrund ihrer genitalen Bedürfnisse bilde.35 Seit sich die psychoanalytische Aufmerksamkeit auf die präödipale Phase konzentriert hat, hat sich in der psychoanalytischen Theorie ziemlich allgemein eine andere Vorstellung durchgesetzt: Ihr zufolge sind die späteren Liebesbeziehungen der Erwachsenen Versuche, die primäre Verschmolzenheit der symbiotischen Phase wiederherzustellen.36 Liebe wird dabei als Wunsch nach » Eins-sein « verstanden.37 Die Annahme scheint zunächst den empirischen Befund für sich zu haben. Denn es ist keine Frage: Die Beziehung zum anderen wird durch die frühe emotionale Beziehung zur Mutter nachhaltig bestimmt. Den anderen an die Stelle der Mutter zu setzen, ist wegen der Geschlechtsidentität der Frau mit ihr am einfachsten für den Mann. So schreibt Antonin Artaud an Génica Athanasiou in einem Brief vom 31. Juli 1922: » Ich bin wieder ein kleines Kind geworden, als meine Mutter alles für mich war und ich mich nicht von ihr trennen konnte. Jetzt bist Du wie sie geworden, ebenso unentbehrlich, und vor Dir bin ich noch argloser als zu jener Zeit. «38 Ganz im gleichen Sinne schreibt Joyce in einem Brief vom Dezember 1909 an Nora Barnacle: » … rette mich und schirme mich. Ich bin Dein Kind, wie ich Dir sagte, und Du mußt streng mit mir sein, meine kleine Mutter. «39 Muß man nicht annehmen, daß es sich bei solchen Empfindungen um Regression handelt ? Keineswegs ! Daß frühkindliche Mutterbindungen in die Beziehung der Geschlechter eingehen, ist auch für eine prozeßlogische Rekonstruktion nicht fraglich; darauf habe ich schon hingewiesen. Fraglich ist lediglich, daß die Bindung an den anderen von der gleichen Art und Qualität ist wie die frühkind33 S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Ges. Werke, Bd. V, S. 124. 34 S. Freud, ebd., S. 124 f. 35 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Werke, Bd.  XIV, S. 462. Dagegen nachdrücklich A. H. Maslow, ebd., S. 72 f. 36 M. Balint, Die Urformen der Liebe, S. 67; N. Chodorow, Das Erbe der Mütter, S. 106 f. 37 J. Benjamin, Die Fesseln der Liebe, S. 31. 38 Antonin Artaud, Briefe an Génica Athanasiou, S. 23. 39 J. Joyce, Briefe an Nora, S. 104.

Das Junktim von Intimität und Sexualität 53

liche Bindung an die Mutter, real dieselbe. Diese Annahme ist eine Folge der substanzlogischen Anlage der psychoanalytischen Theorie. Ihr entspricht der Satz der Erhaltung: Was in der Frühzeit schon angelegt ist und sich hernach lediglich entfaltet, bleibt sich gleich. Notwendig stellt sich in der Substanzlogik jedwede Reorganisation als Rückkehr zu frühen Zuständen dar. Wie andere Regressionen, die als krankhafte Zustände gelten, sollte deshalb auch die Bindung im Verhältnis der Geschlechter konsequenterweise als Krankheit angesehen werden. Tatsächlich aber bleiben die frühkindlichen Erfahrungen nur in dem Sinne erhalten, daß sie in den Entwicklungsprozeß eingehen und dessen weitere Erfahrungen und Bedürfnisse bestimmen. Was von der frühkindlichen Erfahrung der Intimität in der Adoleszenz ankommt, sind nach allem spezifische Qualitäten von Bedürfnissen, die sich frühkindlich zu entwickeln begonnen, aber seither auch verändert haben. Welche Qualitäten es sein können, wird in den zuvor mitgeteilten Auszügen der Briefe eigens gesagt. Keiner der Briefschreiber wüßte es wohl wirklich zu ertragen, wäre das, was der andere für ihn darstellt, schlicht identisch mit dem, was vorzeiten die Mutter dargestellt hat. Man kann sich die Differenz an der Ambivalenz der Doppelstellung verdeutlichen, die jeder in dem Verhältnis einnimmt: Er steht für den anderen auch seinerseits an der Stelle der Mutter. Die Romantiker haben damit begonnen, die Bedeutung der Kindheit für das Geschlechterverhältnis reflexiv werden zu lassen und in die Sprache der Liebe zu überführen. Brentano läßt in seinen Briefen an Sophie Mereau letztere zum Kind werden; er erlebt seine Enttäuschung in der Ehe gerade am Widerspruch zu dieser Vorstellung.40 Die gleichen Vorstellungen sind auch zu anderer Zeit zu finden. So beschreibt Artaud, der sich eben noch als Kind Génicas gefühlt hat, an anderer Stelle das glückselige Gefühl, die gleiche Génica als kleines Mädchen in seinen Armen zu finden. Auch insoweit ist » kleines Mädchen « nicht der Ausdruck einer Regression, verbunden mit der entmündigenden Vorstellung der Umarmung eines Kindes in seinen frühesten Kinderjahren. Die ironisch-sarkastische Darstellung, die Hanna Höch diesem Verhältnis dadurch gegeben hat, daß sie einen bürgerlichen Bräutigam im Frack ein Mädchen mit Babygesicht und Brautkleid zur Hochzeit führen läßt, enthält neben den zeitkritischen Herrschaftsmomenten im Geschlechterverhältnis diese Verkehrung. Sie wird noch einmal gesteigert in dem Bild, in dem René Magritte einen Mann mit Babykopf eine Frau mit Babykörper, aber erwachsenem Frauenkopf auf dem Arm halten läßt. Keines dieser Bilder wäre denkbar, ohne daß tatsächlich in der Beziehung die frühe Kindheit mächtig wäre. Jedes enthält die Verkehrung, die die Psychoanalyse als Regression zum Normalfall stilisiert. 40 C. Brentano, Brief vom 10. Januar 1803 an Sophie Mereau sowie vom 3. Oktober 1804 an Arnim; C. Brentano/S. Mereau, Briefwechsel, Bd. 1, S. 39, xxiv.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (I): Intimität und Sexualität

Halten wir fest: Mit der Freudschen Vorstellung, Liebe sei Ausdruck genitaler Bedürfnisse, ist so wenig anzufangen wie mit der anderen, sie sei infantile Regression.41 In die Liebe zum anderen kann ein Sehnen nach der Kindheit eingebunden sein. Dabei bleibt jedoch lebendig, daß sie gerade nicht wiederholbar ist. Wenn die Sprache der Liebe Bilder planer Regression artikulieren läßt, wird sie unscharf und verkehrt die Verhältnisse. Ein prozeßlogisches Verständnis der ontogenetischen Entwicklung begreift die Grundlage des Geschlechterverhältnisses als etwas anderes: als Reorganisa­tion eines Bedürfnisses, das eine neue intime Organisationsform zum Ziel hat. Die rückwärts gelegenen Phasen haben dafür die Voraussetzung geschaffen, aber nicht schon die in der Adoleszenz anstehenden Formen und Inhalte. Die Reorganisa­ tion der Intimität steht unter Anforderungen einer autonomen Lebensführung in einer Lebensphase, die durch Regression auf eine frühkindliche Stufe nicht bewältigt werden könnte.

4.4

Egoistisches versus selbstloses Lieben

Eine Theorie der Geschlechterbeziehung, in der das Verhältnis aus der Bedürfnislage der Geschlechter herausgeführt wird, setzt sich dem Einwand aus, im Verweis auf die Bedürfnislage dieses Verhältnis gar nicht aus einem Überwältigtsein durch den anderen begründet zu haben, was doch einzig Liebe genannt zu werden verdiene, sondern aus einer egozentrischen Motivationslage. Der Einwand geht in seiner Entgegensetzung von Egoismus und Altruismus fehl; in dieser Form gibt er nur immer erneut Anlaß, jede Reklamation von Altruismus als verdeckten Egoismus zu entlarven.42 Das Problem bedarf der Klärung. Ein aufgeklärtes neuzeitliches Verständnis des Menschen ist, wie ich oben dargelegt habe, darin naturalistisch, daß es vom Organismus als einem naturalen System ausgeht und alle sinnhaft-kulturellen Daseinsformen erst als selbstgeschaffene Anschlußformen versteht. Das macht es unabdingbar, auch das Verständnis der Geschlechterbeziehung vom Organismus her zu gewinnen und den Organismus auch in den daran anschließenden sozio-kulturellen Lebensformen und Lebenslagen einbezogen sein zu lassen. Der Organismus aber ist ein selbstreferentielles System; er kennt nichts als die Bezogenheit auf sich selbst. Es gibt deshalb gar keine andere Möglichkeit, als vom Eigeninteresse jedes einzelnen auszugehen. Jedes 41 I. D. Suttie bleibt der psychoanalytischen Perspektive trotz seiner fundamentalen Kritik an Freud darin verhaftet, daß auch er Liebe lediglich als Restauration der ursprünglichen prä­ ödipalen Beziehung zur Mutter versteht. I. D. Suttie, The Origins, S. 72. 42 Vgl. Fr. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, Ziff. 33, 36.

Das Junktim von Intimität und Sexualität 55

Subjekt kann nur aus seiner Antriebslage heraus tätig werden. Und die ist immer natural unterlegt. Das gilt auch für die Antriebspotentiale kulturell formierter Tätigkeiten – alles Tun ist kulturell formiert. Wenn wir nach den Bedingungen fragen, die das Geschlechterverhältnis und damit die Chance zu lieben allererst entstehen lassen, dann nehmen wir auch in die kulturell entwickelten Formen das naturale Antriebspotential mit. Nota bene: Es steht nicht abgelöst hinter ihnen, es ist in die kulturellen Formen integriert, ohne daß es deshalb aufhörte, seiner selbstbezogenen Natur verhaftet zu sein. Freuds Beobachtung, daß der Mensch in allem Lieben sein Leben lang narzißtisch bleibe, hat seine Wahrheit in dieser Selbstreferentialität des Organismus.43 Nur macht die naturale Antriebsorganisation nicht schon selbst das aus, worin das Verhältnis der Geschlechter besteht, insbesondere nicht das, was wir Liebe nennen. Die bildet sich vielmehr erst infolge der kulturellen Organisation des Geschlechterverhältnisses aus. Gleichwohl bleibt ihr dieses in sich gekehrte Moment eigen. Die Passion ist immer eher monologisch als dialogisch gewesen, einseitig und selbstherrlich.44 Das zeigt sich am deutlichsten im unglücklichen Lieben, dann, wenn der Liebende, wie der Unglückliche in Prévosts » Manon Lescaut «, dem anderen verfällt, ohne auf Gegenliebe zu stoßen.45 Es kann gar nicht zweifelhaft sein, daß er selbst sich die Tragik seiner Liebe bereitet. Überdies aber will jeder, der geliebt wird, nichts sehnlicher, als daß der andere ihn ganz aus seinem Bedürfnis heraus liebt. Er soll ihn nötig haben, ihn brauchen. Wer liebt, ist überwältigt vom Dasein des anderen. Das ist buchstäblich zu nehmen: Die Überwältigung wird als Gewalt erfahren.46 Allein, wie sollte man überwältigt sein, wenn man nicht damit eine abgründige Bedürftigkeit des eigenen Daseins realisierte ? Die Einsicht, daß es, mit Hegel zu sprechen, absurd ist zu meinen, man könne etwas tun, ohne dabei sich befriedigen zu wollen47, ist gleichwohl nur die vordergründige Seite des Anteils des Ich an der Liebe; die hintergründige wird in einem Fragment Novalis’ sichtbar. Sie enthält eine Bedeutsamkeit, die, zugegeben, dem Lieben in dieser Form erst in der Neuzeit zugekommen ist: » Man muß sich «, erklärt Novalis, » nie gestehen, daß man sich selbst liebt – Das Geheimniß dieses Geständnisses ist das Lebensprincip der alleinwahren und ewigen Liebe. Der erste Kuß in diesem Verständnisse ist das Princip der Philosophie – der UrS. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Ges. Werke, Bd. V, S. 109. G. Mattenklott, Sexualität und Leidenschaft, S. 216 ff. A.-F. Prévost, Histoire de Chevalier des Grieux et de Manon Lescaut. Einen schönen Beleg liefert S. Mereau, die Brentano verständlich zu machen sucht, daß sie ihn nicht liebe; sie erklärt, er tue ihr nicht die rechte Gewalt an. C. Brentano, Brief vom 10. Januar 1803; C. Brentano/S. Mereau, Briefwechsel, Bd. 1, S. 41. 47 G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, S. 102. 43 44 45 46

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Theorie der Geschlechterbeziehung (I): Intimität und Sexualität

sprung einer neuen Welt – der Anfang der absoluten Zeitrechnung – die Vollendung eines unendlich wachsenden Selbstbundes. «

Woher rührt diese Form einer scheinbar entschiedenen Egozentrik ? Novalis hat den Grund in den vorhergehenden Zeilen des gleichen Fragmentes zum Ausdruck gebracht. Er schreibt: » Zur Welt suchen wir den Entwurf – dieser Entwurf sind wir selbst – Was sind wir ? personificirte allmächtige Puncte. Die Ausführung, als Bild des Entwurfs, muß ihm aber auch in der Freythätigkeit und Selbstbeziehung gleich seyn – und umgekehrt. Das Leben oder das Wesen des Geistes besteht also in Zeugung Gebährung und Erziehung seines Gleichen. Nur insofern der Mensch also mit sich selbst eine glückliche Ehe führt – und eine schöne Familie ausmacht, ist er überhaupt Ehe und Familienfähig. Act der Selbstumarmung. «48

Geistesgeschichtlich bringt sich in dieser Beobachtung die neuzeitliche Konvergenz der Welt auf das Subjekt zum Ausdruck. – Wir werden sie erörtern. – Das Subjekt begreift, daß die Welt sich darstellt, wie es sie entstehen läßt; es versteht sie als seinen Entwurf. Novalis hält darin die transzendentale Logik fest, er schreitet aber gleichwohl über sie hinaus, indem er die derart entstandene Welt wieder real setzt und in ihr das andere seiner selbst – das Du – findet. Dadurch entsteht jene Konstellation, die das Eigeninteresse zur Bedingung des Liebens werden läßt. Suchten wir uns im Entwurf der Welt nicht selbst, gäbe es dieses andere unserer selbst im Du nicht. Wir können die Einsicht herauslösen aus der Entwurfs­logik der Romantik: Es gibt keine an sich bedeutungsvolle Welt, wie es keine an sich verpflichtende Geistigkeit in der Welt gibt. Ohne den Eigenbezug gäbe es deshalb auch keinen bedeutungsvollen anderen. Ohne im anderen, wenn auch nicht gerade die Wahrheit meiner eigenen Figur, so doch die Möglichkeit meines Daseins zu entdecken,49 würde ich nicht von ihm überwältigt. Gestehen wir uns also nur, daß wir uns selbst lieben. Wir haben mit dem Junktim von Intimität und Sexualität Grund­bedürfnisse namhaft gemacht, die das Geschlechterverhältnis bestimmen. Sie sind eingebunden in die Entwicklung der inneren Natur und damit in die Gesamtheit einer Lebenspraxis, in der auf höchst eigenartige Weise Körper und Geist in den kulturellen Lebensformen verschränkt sind. Das Verhältnis der Geschlechter wird entscheidend von dieser nur schwer zu bewältigenden Lebenslage bestimmt. Erst

48 Novalis, Schriften, 2, S. 541 (74). 49 So R. Barthes, Die Sprache der Liebe, S. 44.

Das Junktim von Intimität und Sexualität 57

aus ihr ergibt sich, was Liebe will. Um ihr auf die Spur zu kommen, müssen wir einmal mehr von dem Verhältnis von Körper und Geist ausgehen, wie es sich in der frühen Ontogenese bildet.

Kapitel 3 Theorie der Geschlechterbeziehung (II): Liebe

1

Intimität und Welt in der frühen Ontogenese

Im Aufbauprozeß der Welt werden in der frühen Ontogenese die strukturbildenden Erfahrungen mit der Außenwelt durch den Umgang mit der primären Bezugsperson gewonnen. Je weiter der Aufbauprozeß fortschreitet, desto mehr verlagert sich die Interaktion weg von der primären Bezugsperson auf Dritte und auf den Umgang mit der Sachwelt. Gleichwohl ist während der ganzen Kindheit dies die vorherrschende Gewißheit, daß die relevanten anderen, obwohl sie zur Außenwelt gehören, Verständnis für die Bedürfnisse der eigenen Lebenslage zeigen – wenn sie es zeigen. Es macht die Grundbedingung einer glücklichen Kindheit aus. Aber natürlich – sie verläuft nicht für alle so. Diese Form der frühkindlichen Organisation des Umgangs mit der Welt schafft für die Problematik, die in der Einbindung des Organismus in die Welt liegt, eine Lösung, die, wie die Intimität selbst, paradigmatischen Wert bekommt: Der Organismus findet den Platz, um seine Körperlichkeit auszuleben, gleichzeitig findet das sich bildende Subjekt für die Grundverfassung des menschlichen Daseins, die Welt in geistigen Lebensformen kommunikativ entstehen zu lassen, Resonanz. Mit der Ablösung von der Familie in der Adoleszenz fallen die bisherigen Bedingungen für die doppelte Einbindung des Subjekts in der Welt: die Einbindung ebenso seiner körperlichen wie geistigen Bedürfnisse, weg. Die Frage ist deshalb, wie diese Einbindung wieder zu gewinnen ist.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_4

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60

Theorie der Geschlechterbeziehung (II): Liebe

2

Der ungesicherte Status des Körpers

2.1

Die A-Kommunikativität

Der Organismus ist, wie wir gesagt haben, ein biologisches System. Biologische Systeme sind in dem Sinn selbstreferentiell, daß ihre Prozesse davon bestimmt werden, die Lebensfähigkeit des Gesamtsystems zu erhalten. In diesem und nur in diesem Sinn sind sie geschlossene Systeme. Der Körper als solcher kommuniziert nicht und ist der Sinnhaftigkeit nicht zugänglich. Er lebt sich in der Abstinenz der Zeichen aus.1 Zwar sind die Körper immer dabei, sie gewinnen jedoch in der Kommunikation entweder keine Bedeutung oder aber sie werden, wenn sie Bedeutung gewinnen, wie beim Tanz, eigens kommunikativ hergerichtet, durch Bemalung zum Beispiel.2 Gewiß, Körper kennen eine Expressivität; sie sind Medium des Ausdrucks von Erlebnissen. Ihre Expressivität kann Anlaß zu Bedeutungs­ zuschreibungen geben. Aber auch dann kommuniziert nicht der Körper. Kommunikation und Sinnhaftigkeit sind kulturelle Organisationsformen, in denen das Leben prozessiert werden muß. Die A-Kommunikativität des Körpers wäre kein Problem, wenn nicht zur Körperlichkeit auch gehörte, sich handelnd nach außen zu setzen. Sein Handlungssystem aber ist, wie wir wissen, kommunikativ ausgebildet. Die Organisation des menschlichen Daseins weist mithin eine Widersprüchlichkeit auf oder – um das logische Moment zu eliminieren, das in der Widersprüchlichkeit steckt: eine in sich widersetzliche Natur. Dieses Dasein ist a-kommunikativ und kommunikativ in einem. Die Folge ist, daß der Körper einen Ort braucht, an dem er, eingebunden in eine kommunikative Lebensform, kommunikationslos leben kann. Er findet ihn in der Privatheit der Lebensgemeinschaft mit dem anderen.

2.2

Das Objekt der Sorge

Liebende suchen, wenn sie darauf aus sind, ihr Leben in der Körperzone des anderen zu führen, jene Konstellation herzustellen, die durch den eigentümlich doppelten Status des Körpers bestimmt wird: selbst a-kommunikativ zu sein, gleichwohl aber die Lebensführung auf ein kommunikatives Dasein festgelegt zu sehen. Das Verhältnis der Geschlechter ist der Ort, an dem jeder unter Menschen sein kann, ohne etwas zu tun und ohne etwas zu wollen. Die Selbstreferentialität, die in sich gekehrte Geschlossenheit des Körpers, erfährt hier ihre Anerkennung. Es 1 So K. Röttgers, Spuren der Macht, S. 619. 2 C. Lévi-Strauss, Traurige Tropen, S. 168 ff.

Der ungesicherte Status des Körpers 61

ist die Naturseite, die in der Geschlechtergemeinschaft ausgelebt wird, immer in der menschenmöglichen Weise der Selbstbezogenheit. In der Privatheit der Lebensgemeinschaft der Geschlechter wird m. a. W. die Einsamkeit des Menschen mit sich lebbar. Daß sie lebbar wird, ist die Bedingung für jede Gemeinsamkeit der Liebenden. Daß der Mensch wie jeder Organismus ungeachtet seiner selbstreferentiellen Geschlossenheit mit der Außenwelt interagiert, heißt für ihn, daß diese Interaktion zum Gegenstand der Sorge wird. Wenn das Leben erhalten werden soll, muß dessen Erhaltung eigens durch ein auf den Körper bezogenes Handeln sichergestellt werden. Die Koppelung der Leben läßt das Verhältnis der Geschlechter zu dem Ort werden, an dem der Körper nicht nur ist, sondern umsorgt und gepflegt wird. Hier wird gegessen, geschlafen, Toilette gemacht, der kranke Körper geheilt. Das gilt zunächst erneut in jenem elementaren Sinn, daß jeder keinen Anstand nimmt, für sich selbst zu sorgen. Sorge ist jedoch eine Form der Selbstbezüglichkeit, also etwas Geistiges, als solche ist sie kommunikativ bedürftig. Jeder braucht in der Sorge um sich den Beistand des anderen – ob er ihn findet, ist eine andere Frage. Liebesbriefe können bis zur Grenze des Pathologischen und darüber hinaus sich darin ergehen, dem anderen die eigenen Sorgen, Nöte, Verzweiflung mitzuteilen. Kurz: Während in einer öffentlichen Kommunikation der Körper außen vor bleibt, wird er im Verhältnis der Geschlechter zum Gegenstand gemeinsamer Sorge und des Beistandes des anderen.

2.3

Der Ort des Privaten

Leben in der intimen Lebensgemeinschaft mit dem anderen Geschlecht ist gebunden an eine Privatisierung des Daseins. Wir finden sie bereits in den einfachsten Gesellschaften, die wir kennen, etwa in denen der australischen Aborigines; zuweilen ist es nur ein Windschirm, der die Geschlechterbeziehung herausnimmt aus der Öffentlichkeit. Auch in unserer Gesellschaft sind es Haus, Wohnung, Zimmer, die das intime Verhältnis der Geschlechter für sich verlangt. Warum ist das so ? Warum wird gerade das Verhältnis der Geschlechter der Ort, an dem die Körperlichkeit ihre Anerkennung findet ? Es wäre wenig erhellend, wollte man schlicht die Liebe zwischen den Geschlechtern als Grund anführen. Man muß auf die spezifischen Bedingungen abstellen, unter denen sich das Geschlechterverhältnis bildet: die Reorganisation von Intimität und Sexualität. Die Intimität der frühen Jahre einer jeden Ontogenese hat die Kon­stellation entstehen lassen, in der die Verbindung zwischen Körper und Geist lebbar gemacht wurde. In ihr wurde die Geistigkeit allererst für den Organismus erworben. Das Bedürfnis, die Intimität zu reorganisieren, ist deshalb so mächtig, weil mit ihr

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Theorie der Geschlechterbeziehung (II): Liebe

die Grundverfassung menschlichen Daseins, eben die Verbindung zwischen Körper und Geist, eine Organisationsform findet. Sie wird durch das Junktim mit der Sexualität noch verstärkt. An der Bedeutsamkeit, die der Reorganisation der Intimität für die Lebensführung zuwächst, wird einmal mehr deutlich, wie unsinnig es ist, zu meinen, dieses Verhältnis bedeute eine Regression in frühkindliche Verhältnisse. Was hier re­organisiert wird, gerät unter die Anforderungen der conditio humana: Körper und Geist zusammenzuhalten. Sie erfährt ihren tagtäglichen Ausdruck in der Sinnhaftigkeit der Lebensführung.

2.4

Die Lebbarkeit von Sinn

Leben ist in sich sinnfrei; es wird aber sinnhaft geführt. Die griffige Formel ist leichthin geäußert, aber nur unter erheblicher Anstrengung in die Praxis umzusetzen. Die Konsequenz, die damit verbunden ist, ist unabweislich: Sinn macht solange Sinn, als er in die sinnfreie Sphäre des Daseins rückgeführt wird. Das Verhältnis der Geschlechter als Ort, an dem diese sinnfreie Sphäre des Daseins ausgelebt wird, wird damit zugleich der Ort, an dem diese eigenartige Form der Sinnhaftigkeit realisiert wird. Wir haben den Ort des Privaten dadurch ausgezeichnet gesehen, daß er die selbstreferentielle Sinnfreiheit des Körpers, die Naturseite des Daseins, mit der kommunikativen Praxis seiner Lebensführung, also der Geistseite des Daseins, zusammenführt. Das Private ist der Ort, an dem die Koppelung zwischen beiden auf die direkteste Art erfolgt. Daraus resultiert seine überragende Bedeutsamkeit. Umgekehrt bestätigt seine Bedeutsamkeit unsere Bestimmung der Sinnhaftigkeit des Daseins: Sinn in die sinnfreie Sphäre des Lebens zurückzuführen. Was hier geschieht, hat keinen anderen Sinn als das gute Leben. Die Sinnfreiheit des Lebens, genauer, die in die Sinnfreiheit zurückgeführte Sinnhaftigkeit des Tuns äußert sich auch im sozialen Umgang. Muße wird hier genossen; das Spiel ist hier zu Hause,3 Sexualität wird hier ausgelebt. Daß die Sphäre des Privaten die Sphäre der Vermittlung der sinnfreien Natur mit der Sinnhaftigkeit der Daseinsführung ist, muß Bataille bei der Bestimmung der Sexualität vor Augen gestanden haben, als er die Erotik als ein Verlangen bezeichnete, das einen Endzweck des Lebens darstelle, während alle zivilisatorischen Tätigkeiten bloße Mittel zu irgend etwas seien.4 Die Bestimmung trifft gleichwohl nicht den Punkt, auf den es ankommt. Denn wer will entscheiden, was vorläufi3 Vgl. C. A. Heimer/A. L. Stinchcombe, Love and Irrationality, S. 697 ff. 4 G. Bataille, Die Tränen des Eros, S. 21.

Der ungesicherte Status des Körpers 63

ger Zweck, was Endzweck ist. Worauf es ankommt, ist, daß die Erotik in ihrer Bindung an die Sexualität die Steigerung eines Daseins bezweckt, das selbst keinen Sinn kennt. Gerade weil die Sinnhaftigkeit des Daseins eine Sinnhaftigkeit ist, die angebunden bleibt an die eigentlich sinnfreie Sphäre des Lebens, ist der andere der intimen Lebensgemeinschaft derjenige, mit dem diese Lebensform realisiert werden kann. Jenseits ihrer beginnt eine Sozialität, in deren Kommunikation der Körper keinen Platz hat. Denn noch einmal: Körper kommunizieren nicht. Brentano hat die Verbindung zwischen der paradox scheinenden Sinnhaftigkeit der Lebensführung und der Bindung der Geschlechter in der Dichte eines einzigen Satzes zusammengefaßt: Liebe, so hat er gesagt, ist die schönste Sinnlosigkeit.5 Unsere Überlegungen zur Begründung des Geschlechterverhältnisses weisen eine Begründungsschleife auf, von der ich annehme, daß sie im Gange der Argumentation nicht verborgen geblieben ist: Das Geschlechterverhältnis hat seinen Grund in der Intimität der frühen Kindheit. Der Grund dafür, daß Intimität in der Adoleszenz im Verhältnis zum anderen Geschlecht reorganisiert wird, liegt darin, daß sich in der Frühzeit ein Bedürfnis nach Intimität entwickelt hat, das es zu befriedigen gilt. Die Befriedigung des Bedürfnisses wird jedoch ihrerseits zum mächtigen Operator, um eine über Sinn organisierte Lebenspraxis lebbar zu machen. Da Sinn nur kommunikativ geschaffen zu werden vermag, läßt sich der Körper selbst ihm nicht integrieren. Diese Feststellung gilt trotz der Einsicht, daß er es ist, der eine sinnhafte Lebensführung notwendig macht. Denn das ändert nichts daran, daß die Körperzone bleibt, was sie ist: Zone sinnfreien Daseins. Wenn beide demnach nicht integriert werden können, müssen sie gleichwohl verbunden werden. Eben diese Chance bietet das Geschlechterverhältnis. Es gibt keine ihm vergleichbare soziale Organisationsform, die in ähnlicher Weise diese Verbindung ermöglichte. Das ist der Grund, der dem Geschlechterverhältnis in aller Geschichte eine derart überragende Bedeutung gesichert hat und immer noch sichert. Es ist sowohl nach gesellschaftlichem Entwicklungsstand als auch nach der Lebenslage des einzelnen verschieden, wie weit jemand sein Leben in der Sphäre des Privaten führt und wie weit er sich darauf einläßt oder einlassen muß, es in der Sphäre der Gesellschaft zu fristen. Ganz kann niemand sein Leben der Gesellschaft überantworten. Das Bedürfnis nach Privatheit macht sich sowohl von der Körperseite als auch von der Sinnseite her geltend. Die Körperseite verlangt ihr Recht; der Körper muß versorgt werden und bedarf der Sorge. Das ist undramatisch, aber elementar. Dramatisch ist jedoch die andere Seite, die Sinnführung des Lebens. Die Ablösung einer sinnhaft organisierten Lebenspraxis von der Rückführung in die Sinnfreiheit des Daseins, wie wir sie in der Gegenwart finden, läßt an 5

C. Brentano, Brief vom 8. Oktober 1803, C. Brentano/S. Mereau, Briefwechsel, Bd. 2, S. 19.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (II): Liebe

seine Stelle etwas anderes treten: die Hypostasierung von Sinn, die unversehens in die Verzweiflung an der Sinnlosigkeit des Lebens umschlägt. Denn die Verzweiflung an der Sinnlosigkeit ist immer die Verzweiflung an einem sinnhaft geführten Leben. Man kann seinem Tun noch so viel Sinn zu sichern suchen, man kann sich täglich vergewissern, daß, was man tut, notwendig, nützlich und bedeutsam ist, man kann das Wohl der Menschheit, den Fortschritt der Wissenschaft oder sonst etwas zu realisieren suchen, Sinn ist Sinn und Zweck ist Zweck, keiner weist über sich hinaus, keiner trägt sich selbst. Abgelöst von dem einzigen, was trägt: dem sinnfreien Dasein des Lebens, lassen sie den, der ihn verfolgt, leer. Der Weg von der Sinnhaftigkeit des Handelns zurück in die Sinnfreiheit des Lebens ist der kurze Weg zum Glück. Diese Sinnfreiheit zu leben, in aller Sinnhaftigkeit der Lebensführung sich immer auf sie zurückgeworfen zu sehen, läßt den anderen in der Abstützung dieser Lebensform die Bedeutung gewinnen, die er im Verhältnis der Geschlechter zu allen Zeiten gehabt hat.

2.5

Über die Einsamkeit

Daß wir das Verhältnis der Geschlechter als Vermittlung zwischen der sinnfreien Sphäre des Daseins und der sinnhaften Praxis der Lebensführung verstehen, hilft ein Phänomen zu erklären, von dem früh schon bemerkt wurde, daß es dieses Verhältnis belastet:6 den Antagonismus zwischen Einsamkeit und Gemeinsamkeit. Wir haben den Grund dieses Antagonismus in den vorhergehenden Erörterungen bereits deutlich werden lassen; wenn wir gleichwohl ausführlicher auf ihn eingehen, so deshalb, weil an ihm einmal mehr deutlich wird, daß im Geschlechterverhältnis eine Grundverfassung des Daseins lebbar werden soll. Wir nehmen, wie bei allem Verständnis der Geschlechterbeziehung, den Ausgang von der anthropologischen Verfassung. Und die gründet in einem selbst­ referentiellen biologischen System. Sie enthält ein Moment der Geschlossenheit: Alles, was im Organismus geschieht, geschieht durch ihn in einer Weise, die seine Homöostase sicherstellt. In der Selbstreflexivität des Handelns wird dieses selbstreferentielle Moment in das der Sorge ums Dasein des Menschen überführt. Der Mensch ist konstitutionell in Sorge um sich; anders vermöchte er nicht zu leben; niemand nimmt sie ihm ab. In dieser selbstreflexiv gewordenen Selbstreferentialität liegt zugleich seine Einsamkeit; sie muß zunächst ohne jede Konnotation der Belastung gesehen werden, die sie doch hat. Einsamkeit ist ganz unabdingbar mit der reflexiv gewordenen Natur des Menschen verbunden. Vom Organismus her 6 Vgl. den bei E. Crawley wiedergegebenen Sanskrit-Mythos über die Begründung des Geschlechterverhältnisses. E. Crawley, The Mystic Rose, S. 33 f.

Der ungesicherte Status des Körpers 65

gedacht, kennt der Mensch keine andere Sorge als sich selbst. Da wir Handeln als eine Form der Prozessualität des Organismus verstehen, wenn auch als eine erst kulturell geschaffene, ist in allem Handeln dieses um sich besorgte und selbstgenügsame Moment virulent. Es läßt sich nicht eliminieren. Seine Eliminierung gleichwohl zu fordern, wäre illusorisch. Einsamkeit ist unabdingbar eine Seins­ lage des Organismus, und zwar eine spezifische des menschlichen. Denn erst in der Selbstreflexivität des Menschen wird sie erfahrbar.7 Die Einsamkeit haftet am Körper; sie läßt sich nicht aufheben. In die Selbstreferentialität des Organismus läßt sich der andere nicht integrieren. Wer es in der Gemeinschaft der Liebenden versuchte, um eins zu sein mit dem anderen, müßte sie in einer Weise vergeistigen, die jede Liebe augenblicks aus der Bedeutsamkeit des realen, körperlichen Daseins herausführte.8 Selbstreferentielle Geschlossenheit, Sorge, Einsamkeit sind jedoch nur die eine Seite der menschlichen Natur. Die andere ist ebenso real: Die kommunika­ tive Anbindung an die Welt wird durch den anderen lebbar. Damit aber zieht eine Ambivalenz ins Geschlechterverhältnis ein, die so unabdingbar ist, wie die beiden Sphären, die naturale und die kulturelle, unabdingbar sind, die in ihm verbunden sind. Die naturale Selbstreferentialität läßt den Menschen in sich eingeschlossen sein; die Sorge um sich holt diese Geschlossenheit auch noch reflexiv ein. Der gleichen Selbstreferentialität wurde jedoch das kulturell begründete Bedürfnis nach dem anderen eingebildet. Diesem Bedürfnis unterliegt mithin die Triebpotentialität des Organismus. Damit entsteht jene Widersetzlichkeit in der Lebensführung des Menschen, von der zuvor die Rede war. Die Einsamkeit will wirklich Einsamkeit; aber sobald sie sich realisiert, fehlt dem Menschen etwas. » Was ist zu tun ? «, sagt der Mann in dem angeführten Sanskrit-Mythos, » ich kann nicht mit der Frau, und ich kann nicht ohne sie leben. « Es gibt nur eine Lösung, und die nimmt sich wie die Quadratur des Kreises aus: der Einsamkeit in der kommunikativen Vermitteltheit zur Welt Geltung zu belassen. Die Mittlerrolle, die der andere im Verhältnis der Geschlechter zwischen Körper und Kommunikation, Subjekt und Welt übernimmt, bürdet ihm auch diese Vermittlung auf, in der kommunikativen Lebensform den anderen in seiner Einsamkeit zu belassen, darin neben ihm zu stehen. Dabei ist Vermittlung nicht dialektisch gemeint: Die Pole heben sich nicht auf; die Ambivalenz bleibt erhalten. Auf der Einsamkeit, heißt es bei Musil, fühlten sie das Geheimnis ihres Zuzweienseins ruhen.9 7

Die konstitutionelle Verwiesenheit des Menschen auf sich selbst hat dazu geführt, die Einsamkeit gerade im Verhältnis der Geschlechter zur wahren Natur des Menschen zu stilisieren; so bei D. Cooper, Der Tod der Familie, S. 14 f. passim. Macht man sich bewußt, wodurch die Einsamkeit bewirkt wird, besteht zu ihrer bedeutungsvollen Aufladung kein Grund. 8 Vgl. M. Mae, Motivation und Liebe, S. 243. 9 R. Musil, Die Vollendung der Liebe, Werke 6, S. 159.

66

Theorie der Geschlechterbeziehung (II): Liebe

Worauf es mir ankommt, ist, um es zu wiederholen, deutlich zu machen, daß im Geschlechterverhältnis die in sich widersetzliche Verfassung des Daseins, der Körperlichkeit und Geistigkeit gleichermaßen unterworfen zu sein, lebbar werden soll. Die Philosophie hat für diese Widersetzlichkeit die Figur der ungeselligen Geselligkeit gefunden.

2.6

Ungesellige Geselligkeit

In der Abhandlung über die » Idee zu einer allgemeinen Geschichte « schreibt Kant: » Ich verstehe hier unter dem Antagonismus die ungesellige Geselligkeit der Menschen, d. i. den Hang derselben in Gesellschaft zu treten, der doch mit einem durchgängigen Widerstande, welcher diese Gesellschaft ständig zu trennen droht, verbunden ist. Hierzu liegt die Anlage offenbar in der menschlichen Natur. «10

Kant war darin seiner Zeit verhaftet, daß er die in der Natur begründete Ungeselligkeit in der Konkurrenz unter den Menschen ihren Ausdruck finden ließ.11 Sie hatte das Gute, den Fortschritt der Menscheit zu bewirken. So nahm sie sich zu Kants Zeiten aus, jedenfalls aus der Perspektive eines gut situierten Gelehrten. Plessner hat die Kantsche Bestimmung der ungeselligen Geselligkeit rezipiert und das naturale Moment in der anthropologischen Verfassung zu verorten gesucht.12 Den Grund der ungeselligen Geselligkeit sieht er in dem Verhältnis des Menschen zu seinem eigenen Leibe, und das heißt in seiner Person-Qualität. Jeder ist, obwohl er strukturell in der Kommunikation mit anderen immer deren Ort einnehmen kann, sich selbst in einer Weise gegeben, die ihn für sich allein unendlich wichtig sein läßt. Daß der Mensch sich in seiner Zentrizität noch einmal selbst gegeben ist, läßt ihn, so Plessner, für andere undurchsichtig sein und jene Sucht entfalten, die Kant exemplarisch in der Trias von Ehrsucht, Habsucht und Herrschsucht sich auswirken sah. Plessners philosophische Anthropologie steht auch sonst in Gefahr, in den anthropologischen Organisationsplan zu überführen, was sich erst in der gesellschaftlichen Entwicklung von Subjekt und Welt formiert. Das gilt selbst für die Fundamentalfigur der Plessnerschen Anthropologie: die exzentrische Positionalität.13 Es gilt mit Sicherheit für die konkrete Form der von 10 I. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte, S. 9. 11 Zur Kritik der bürgerlichen Subjektivität vgl. R. zur Lippe, Bürgerliche Subjektivität, S. 9 ff., 70 ff. 12 H. Plessner, Ungesellige Geselligkeit, Ges. Schriften, Bd. VIII, S. 294 ff. 13 Vgl. G. Dux, Für eine Anthropologie in historisch-genetischer Absicht.

Identität und Liebe 67

Kant genannten Süchte. Sie bilden sich allererst unter spezifischen Bedingungen einer über Macht organisierten Welt. Darin allerdings werden wir Plessner folgen: Der Grundwiderspruch liegt in der anthropologischen Verfassung begründet. Die Selbstreferentialität des Organismus läßt ihn einsam, seine kommunikative Lebensform auf den anderen angewiesen sein. Der Antagonismus wird noch dadurch verstärkt, daß sich jeder in seiner Ontogenese als ein Individuum ausbildet, dessen innere Natur in keiner Gesellschaft mit deren Strukturen zur Deckung kommt. Die Schere zwischen beiden: der Struktur seiner inneren Natur und den Strukturen der Gesellschaft, läßt es ebenso an sich wie an der Gesellschaft leiden, nicht selten an beiden zugleich. Wir stoßen damit auf eine weitere Problemlage der menschlichen Verfassung, zu deren Bewältigung das Geschlechterverhältnis beiträgt. Sie bestimmt in einer vordem nicht gekannten Weise die Problemlage der Gegenwart: Ich meine die Schwierigkeit, eine Identität auszubilden.

3

Identität und Liebe

3.1

Identität

Seiner anthropologischen Verfassung nach ist, wie wir gesehen haben, der Mensch zwar kein soziales Wesen von Natur, aber von Natur aus auf den anderen angewiesen. Nicht nur befindet er sich von der Geburt an in einer Lage, die die Fürsorge anderer notwendig macht, die sinnhafte Organisationsform seiner Lebensführung ist nur kommunikativ zu gewinnen und zu bewältigen. Sprache ist vorzüglich das Mittel, um eine Welt in symbolischen Formen entstehen zu lassen. Ihr Aufbau erfolgt notwendig im Medium des Begriffs, also des abstrakt Allgemeinen. Es ist jedoch nicht erst die Sprache, derzufolge der Mensch sich in generalisierten Lebensformen wiederfindet. Der Körper legt ihn ebenso wie die physikalische Umwelt auf wiederkehrende Verhaltensweisen fest. Die kommunikative Lebensform überlagert mithin als allgemeine die nicht minder allgemeinen Bedürfnisse und Interessen, die sich in einer nach allgemeinen Gesetzen strukturierten physikalischen Welt Ausdruck verschaffen. Als soziale Ordnung setzt sich die über Bedürfnisse und Interessen geformte Regelhaftigkeit der Lebensführung in generalisierte Verhaltenserwartungen um, die jeder an die anderen adressiert, in Normen also. Inmitten dieser ganz und gar im Medium des Allgemeinen ausgebildeten Welt bildet der einzelne eine individuelle Subjektivität aus, die er als Identität kultiviert. Als Identität bezeichnen wir eine Struktur der inneren Natur, derzufolge jeder auf eine für ihn charakteristische Weise auf die Anforderungen der Außenwelt antwortet und sich ihr einzupassen weiß. Ihre Ausbildung wird von den Bedin-

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Theorie der Geschlechterbeziehung (II): Liebe

gungen bestimmt, unter denen der Bildungsprozeß des Subjekts erfolgt. Sie selbst ist deshalb das Resultat von Erfahrungen, die der Organismus/das Subjekt macht. Vergangene Erfahrungen werden in die Verarbeitung neuer Erfahrungen eingebracht und führen zu einer Kontinuität, die gleichwohl Veränderung in sich integriert. Identität, darauf habe ich schon hingewiesen, ist mithin nicht das, worin der Mensch sich gleichbleibt; Identität ist das, wozu der Mensch unter der unaufhebbaren Prozessualität seiner Daseinsform in der Geschichte seines Lebens wird. Selbst die Identität des Körpers muß prozeßlogisch gedacht werden, vollends aber die des Subjekts. In der Prozessualität des Bildungsprozesses liegt auch der Grund dafür, daß sich das Subjekt in seiner Identität als individuelles ausbildet und sich als solches auch reflexiv wird. Bereits die allerersten Erfahrungen der Kindheit werden wegen der Unterschiedlichkeit der biologischen Ausstattung unterschiedlich gemacht. Fortan aber gibt es nicht zwei Biographien, die über die gleichen Erfahrungen gebildet werden. Minimal erscheinende Differenzen der Frühzeit können sich zu weit auseinanderliegenden Identitäten entfalten. Damit entsteht jene Problemlage, mit der wir befaßt sind. Sie bestimmt nachhaltig das Verhältnis der Geschlechter: In ihm soll die Identität dem Allgemeinen vermittelt werden. Soziologen werden einwenden, die Problemlage sei weniger dramatisch, als sie sich ausnehme; das Subjekt sei immer schon sozialisiert; es werde zum Subjekt nur in der Interaktion mit anderen, füge sich mithin von allem Anfang an der Gesellschaft ein. Der Einwand verschlägt nicht. Das Subjekt ist im Normalfall so weit sozialisiert, daß es mit anderen effizient zu interagieren und sich in institutionelle Ordnungen einzufügen vermag. Das jedoch ist lediglich der verallgemeinerte andere in ihm.14 Durch diesen verallgemeinerten anderen hindurch hat sich jedoch eine Individualität gebildet, von der gerade nicht ausgemacht ist, daß sich in der Interaktion mit anderen eine Ausgeglichenheit zwischen ihr und der Welt herstellt, die für den Menschen ja immer auch eine Ausgeglichenheit seiner psychischen Verfassung ist. Die Zuversicht der Soziologen, das Subjekt werde sich schon ins Allgemeine der Gesellschaft schicken, orientiert sich an traditionalen Gesellschaften. In ihnen hatte das Subjekt die Organisationsform der Gesellschaft in seinem Bildungsprozeß verinnerlicht und in die eigene Natur überführt. Das Subjekt war in seiner Identität das, was man einen Charakter nennt. Charaktere durchsetzen die gesellschaftlich fixierten Daseinsformen mit ihrer Individualität. Sie finden in den gesellschaftlichen Fixierungen einen hinreichenden Spielraum, um ihrer Individualität Ausdruck zu verschaffen. Das Allgemeine wird zum Medium des Individuellen. Auf ging im Allgemeinen aber auch in traditionalen Gesellschaften das Subjekt nicht. Die Neuzeit hat, wie wir noch erörtern werden, eine grundlegend 14 Bekanntlich stammt der Ausdruck von G. H. Mead, Mind, Self and Society, S. 152 ff.

Identität und Liebe 69

andere Situation heraufgeführt: Keine der vorfindlichen Welten wird in die innere Natur des Subjekts überführt. Keiner kommt deshalb länger jene innere Verbindlichkeit zu, die ihr aus der Einbildung in die innere Natur einst zukam. Damit entsteht eine radikal andere Situation für das Subjekt. In traditionalen Gesellschaften war die Frage, wie das Subjekt seine Individualität in den gesellschaftlichen Lebensformen verorten konnte; in der gegenwärtigen Gesellschaft ist die Frage, wie es sich überhaupt eine Lebensform soll schaffen können, in der sein Ich Ausdruck findet. Dabei muß man der Schleife eingedenk sein, die zwischen Subjekt und Welt besteht: Das Subjekt bildet sich erst an einer Welt. Ein Subjekt, das keine Welt findet, in der es seiner inneren Natur Festigkeit verschafft, ist ein Subjekt, das seine innere Natur auch nicht in einer Identität stabilisieren kann, sie vielmehr in der Schwebe lassen muß.

3.2

Das Problem, ein Individuum zu sein

Wir müssen nach allem davon ausgehen, daß sich das Subjekt in einer Weise bildet, die es nicht einfach mit der Welt zur Deckung kommen läßt. In jeder Ontogenese bilden sich individuelle Dispositionen der Erlebnisfähigkeit und Praxisformen des Daseins. Da der Mensch sich konstitutionell in eine Gegenlage zur Welt bringt, wird auch seine Subjektivität strukturell gegen sie abgesetzt. Er selbst ist in der Organisation seiner inneren Natur nicht schon in den allgemeinen Organisationsformen der Gesellschaft enthalten. Daß er sich gleichwohl in der vorfindlichen Welt unterzubringen sucht, ist ein notwendiger Akt der Selbstbehauptung, aber einer, bei dem die Welt auch als fremde erfahren wird. Das Subjekt ist in seiner Möglichkeitsform plastisch genug, um sich den Standardformen der Gesellschaft anzupassen. Mehr noch: Der kategorische Konjunktiv, als den Plessner die Möglichkeitsform bestimmt hat,15 schafft auch die Möglichkeit, die Individualität zu verdecken. Anders ließe sich die beobachtbare Funktionalisierung der Menschen industrieller Gesellschaften gar nicht bewirken. Die Grundverfassung des Daseins wird davon nicht berührt: Daß das Subjekt nicht aufgeht in den gesellschaftlichen Lebensformen ist erfahrbar und wird erfahren. Es bedarf besonderer Strategien der Lebensführung, um mit der Differenz fertigzuwerden. Das Problem, ein Individuum zu sein, ist im kategorialen Zuschnitt von Allgemeinem und Besonderem allein nicht zu erfassen. Läßt man es bei ihm bewenden, haftet dem Verständnis von Subjekt und Welt ein Rest jenes Idealismus an, der beide einst im Begriff zur Deckung zu bringen suchte. Die Sozialwelt ist im Allgemeinen ihrer Ordnung über Macht bestimmt. Das Subjekt trifft in seiner Indivi15 H. Plessner, Der kategorische Konjunktiv, Ges. Schriften Bd. VIII, S. 338 ff.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (II): Liebe

dualität mithin nicht einfach auf ein Allgemeines, das dem Individuellen zu vermitteln wäre; es trifft auf Machtstrukturen, die seine Interessen inhibieren. Diese Strukturen sind normativ abgesichert und mit dem Imperativ des Sollens versehen. Macht stellt ein unabdingbares Medium im Aufbau der Gesellschaft dar.16 Diese Feststellung darf jedoch nicht darüber hinwegsehen lassen, daß sie es ist, an der die Subjekte leiden, scheitern, und die sie zu vernichten droht. Ungezählte Millionen sind in der Geschichte rein physisch vernichtet worden. Vollends, und um diesen Tatbestand ist es mir zu tun, stößt die Individualität auf die um sie unbekümmerten Machtstrukturen der Außenwelt und verletzt sich an ihnen. Wie weit und in welcher Form das geschieht, ist nicht nur von Epoche zu Epoche, von Gesellschaft zu Gesellschaft, sondern auch in jeder einzelnen Biographie verschieden. Der Tatbestand selbst ist generell: Subjekt und Gesellschaft leben konstitutionell gerade nicht in einer Weise, die beide Strukturen zur Deckung kommen ließe. Beide folgen in ihrem Bildungsprozeß zwar verbundenen, aber eigensinnigen Strukturen. Ohne sich diese Diskrepanz, die immer auch in einen Antagonismus umzuschlagen droht, vor Augen zu führen, läßt sich die Daseinsform des Menschen und seine Schwere nicht verstehen. Das Subjekt lebt nur im Ungefähren der Vermittlung von innerer Natur und Sozialwelt. Wenn das Leben schwer wird, so sind es nicht erst die naturalen Existentialien: Krankheit und Tod, sondern die sozialen, die daran hindern, diejenigen Außenbeziehungen zur Welt herzustellen, auf die das Subjekt seiner inneren Natur nach angewiesen ist. Dabei muß man erneut die Schleife zwischen innerer Natur und Erfahrung im Blick behalten: Die Erfahrung mit der Außenwelt wird in die innere Natur überführt. Die innere Natur kann sich unter den Zwängen der Gesellschaft bis zur Unlebbarkeit entwickeln.

3.3

Vermittlung zur Welt

Welche Strategie gibt es, um die Diskrepanz zwischen der Individualität des Subjekts und den verallgemeinerten Strukturen der Gesellschaft lebbar zu machen ? Die Frage verweist auf den Bildungsprozeß des Subjekts zurück, denn dessen Bildungsprinzip hält sich in aller ferneren Entwicklung durch: Einzig an der Welt vermag das Subjekt sein Handeln zu entwickeln und zu stabilisieren. Das gilt auch für das Moment des Individuellen in der Struktur seiner inneren Natur. Wenn immer wieder gesagt wird, jeder brauche für seine Identität die Bestätigung des anderen, so nicht wegen der Schwäche des Selbstbewußtseins, sondern wegen des Realitätsprinzips im Aufbau der Subjektivität. Realität wird im Sozialen durch die kommunikative Versicherung des oder der anderen erst geschaffen. – Die Frage 16 Vgl. dazu G. Dux, Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter, S. 71 ff., passim.

Identität und Liebe 71

drängt sich auf, wieviel Realität alter braucht, um dieser Bedürftigkeit egos gerecht werden zu können. Genügt ihm die reziproke Bestätigung durch ego, so daß einer dem anderen die Realität darstellt, wie die Romantiker postulierten ? Ich komme darauf zurück. Die Lebensgemeinschaft der Geschlechter ist schon durch die Reorganisation der Intimität und deren Verbindung mit der Sexualität darauf angelegt, das an sich nicht Vermittelbare: die selbstreferentielle Körperlichkeit, in die Vermitteltheit der Lebensführung einzuschließen. Vergleichbares gilt für die kommunikative Absicherung der Identität des Subjekts. In der intimen Lebensgemeinschaft sucht und findet der einzelne die Anerkennung des anderen, die er in dieser Form, und das heißt: in dieser seine Individualität einbeziehenden Totalität, von fremden anderen nicht bekommen könnte. Diese Anerkennung umfaßt mit der Körperlichkeit des Subjekts zugleich dessen Dasein in der Welt, also seine sinnhafte Lebenspraxis. Der andere ist für den Liebenden immer die bedeutendere Welt, die, die mehr zählt als jede andere sonst. In der Gegenwart, in der das Subjekt überhaupt freigesetzt ist von der inneren Verpflichtung auf irgendeine der existenten Welten, weil es ontogenetisch keine in seine innere Natur einbildet, findet alter sich in der Rolle, auf die ich schon hingewiesen habe: überhaupt für ego die Welt zu sein. Das ist der Grund, der Liebende in unserer Zeit von der Selbsterfahrung ihrer Liebe berichten läßt, der andere sei für sie » alles « oder auch schlicht » die Welt «.17 Was damit gesagt sein soll, kann nach allem nicht fraglich sein: Der Liebende findet im anderen die Gegenlage einer Welt, an der er sein Handeln orientieren und sich vergewissern kann, für sich selbst bedeutungsvoll zu leben. Die Bedingung dieser Möglichkeit ist, daß ego in der inneren Natur alters eine Entsprechung seiner eigenen entdeckt, die ihm den Möglichkeitshorizont seines Daseins eröffnet. Es ist nicht einfach die Gleichheit der Naturen, die die Liebe bewirkt, vielmehr diese Dimension: die eigene Natur im anderen bedeutsam werden zu lassen. Wenn ich meine Zurückhaltung aufgeben und sagen sollte, was Liebe ist, dann würde ich sie in diesem Geschehen sehen: sich von der inneren Natur des andern so sehr überwältigen zu lassen, daß das eigene Leben an ihm die Gegenlage des Daseins gewinnt. Weil Du so bist, kann ich so sein, will ich so sein – das ist das Realitätsprinzip der Liebe. Die Erfahrung, im anderen die bedeutsame Welt zu finden, setzt sich in die Befindlichkeit der psychischen Verfassung um. Das der Beziehung zwischen den Geschlechtern wohl am meisten zugeschriebene Merkmal ist, angstfrei, ohne gezwungene Selbstdarstellung in ihr leben zu können.18 Möglich wird diese Lebensform dadurch, daß der Liebende sich nicht einfach nur vor den anderen stellt, 17 A. Montagu, The Origin and Meaning of Love, S. 11. 18 Th. Reik, The Psychology of Sex Relations, S. 171; A. H. Maslow, Love in Healthy People, S. 62. Vgl. auch J. Katz, How Do You Love Me ?, S. 17 ff.

72

Theorie der Geschlechterbeziehung (II): Liebe

um Welt abzuschirmen; das gelingt nur in Maßen. Er vermittelt für ihn die Welt selbst, jene, die für ihn deshalb bedeutsam ist, weil sein eigenes Leben an ihr bedeutsam wird.

3.4

Was Liebe meint

Ich habe, was Liebe meint, ohne jede normative Vorgabe zu bestimmen gesucht: sich von der schieren Existenz des anderen überwältigen zu lassen. Voraussetzungsvoll bleibt sie gleichwohl. Denn überwältigen läßt sich jemand nur, wenn er im anderen eine Entsprechung seiner inneren Natur findet. In der Überwältigung äußert sich ein Moment der Macht; es geht von alter aus, nota bene, nicht von ego, der sich überwältigen läßt. Nur antwortet ego seinerseits mit einer Demonstration der Macht: Wer liebt, nutzt das ihm durch das Lieben zugekommene Zutrauen in die eigene Person, um den anderen an sich zu binden. Er koppelt das eigene Leben dem des anderen an und läßt es so zu dessen Schicksal werden. Die methodische Strategie, mit der wir uns das Verständnis des Geschlechterverhältnisses einerseits, der Liebe andererseits verschafft haben, läßt uns zwei soziologisch überaus bedeutsame Einsichten gewinnen. Sie erhellt zum einen das nur schwer durchsichtige Verhältnis, das zwischen der Beziehung des Geschlechterverhältnisses und der Liebe besteht: Das Verhältnis der Geschlechter gründet nicht in der Liebe, vielmehr gründet umgekehrt die Liebe im Verhältnis der Geschlechter. Diese Folge der Abhängigkeit hat sich aus den Bedingungen ergeben, unter denen das Geschlechterverhältnis sich bildet. Die aus der Ontogenese heraus entstandene Bedürfnislage ist der Grund dafür, daß die Geschlechter ihr Leben einander zu verbinden suchen und also auch der Grund dafür, daß sie durch die Geschichte hin tatsächlich dauerhafte Verbindungen eingegangen sind. Die zweite Einsicht ist nicht minder bedeutsam: Zu allen Zeiten wurde die Eingehung des Geschlechterverhältnisses auch mit dem Verlangen verbunden, im anderen den zu finden, der der eigenen inneren Natur eine Möglichkeitsdimension ihres Daseins eröffnet. Immer haben die Geschlechter versucht, ihrer beider inneren Naturen füreinander bedeutsam werden zu lassen. Das meine ich, wenn ich sage: Zu allen Zeiten haben die, die diese Verbindung eingegangen sind, auch einander zu lieben gesucht. Diese Feststellung gilt auch für gesellschaftliche Verhältnisse, in denen die Wahl der Lebenspartner nicht ihnen selbst überlassen war. Die Beschneidung ihrer Autonomie hat es nicht überhaupt unmöglich werden lassen zu lieben. Die Naturen lagen in diesen Gesellschaften einander näher, da sie sich in einer stabilen gemeinsamen Welt gebildet hatten; erhöht wurde die Chance zu lieben durch die Entmachtung allerdings auch nicht gerade.

Identität und Liebe 73

Wir haben bislang nur erörtert, was Grund legt für die Beziehung der Geschlechter: ihre Bedürfnisstruktur, die auf die Eingehung eines Geschlechterverhältnisses drängt. Aber wir haben nicht erörtert, was den einzelnen dazu führt, sich gerade diesem anderen zu verschreiben, an ihn sein Leben anzukoppeln. Es gehört jedoch zur Erfahrung des Liebens, im anderen den gefunden zu haben, der in einzigartiger Weise der eigenen Natur entspricht. Die Frage ist mithin nicht nur, warum die Bindung an jeweils einen bestimmten anderen erfolgt, sie ist auch, wodurch dieser andere bestimmt ist und wie er gefunden wird.

3.5

Verstehen

Um zu lieben, muß man den anderen erkennen. Das geschieht durchaus einseitig, auch wenn es dem anderen nicht anders geht, und, was häufig ist, erst die auf‌flammende Liebe egos alter dazu führt, sich auf ego einzulassen und ihn schließlich ebenfalls zu lieben. Vielfach geschieht die Entdeckung noch bevor der, der vorgibt zu lieben, den anderen wirklich kennt und kennen kann. Männer geben als Grund einer Faszination, die aller Erfahrung vorauseilt, häufig an, von der Schönheit der Frau gefesselt zu sein. So schreibt John Keats an Fanny Brawne: » Warum darf ich nicht von Deiner Schönheit sprechen, da ich ohne sie Dich niemals geliebt haben würde ? «19 Die ästhetische Bestimmung meint mehr, als sie sagt. Sie reklamiert, mit der Schönheit die Geliebte selbst entdeckt zu haben und dadurch überwältigt worden zu sein.20 Welcher Art ist die Entdeckung ? Und worin gründet sie ? Erinnern wir uns: Es geht nicht um die Beschreibung der Liebe als Gefühls­ lage der Liebenden, sondern um eine Erklärung, die die Bedingungen ihrer Möglichkeit beibringt. Eine dieser Bedingungen liegt, wie wir gesehen haben, darin, daß der Liebende die Intimität der Kindheit auf dem Niveau autonomer Lebensführung zu reorganisieren versucht. Was der Liebende im anderen entdeckt, ist ein Moment an dessen Dasein, in dem er seine Erfahrung der Kindheit wiederfindet. Sie rührt her aus der engen emotionalen Bindung an die relevanten anderen, insbesondere an die der primären Bezugsperson. Jeder erlebt die Kindheit nicht nur in der Befindlichkeit des eigenen Lebens, er erlebt in der Intimität der frühen Jahre auch die Befindlichkeiten der bedeutsamen anderen, ihre Art, das Leben zu führen, das, was ihre innere Natur ausmacht. Das kann in vorgerückter Kindheit bis an die Schwelle des Bewußtseins reichen. Ich erinnere mich an Augenblicke, in denen ich im Umgang mit meiner Mutter meinte, mir würde deren innerstes Wesen offenbar: ihre Art, die Situation zu verstehen, für mich zugänglich zu sein, 19 J. Keats, Brief vom 8. Juli 1819, Briefe an Fanny Brawne, S. 38. 20 Vgl. B. Sichtermann, Weiblichkeit, S. 44 ff.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (II): Liebe

zu tun, was zu tun war, und im übrigen zu ertragen, was ertragen werden mußte. Es war intuitiv verstehbar im Tonus ihrer Haut, der Motorik ihrer Bewegung, ihrer Gestik, überhaupt in ihrer Art, sich der Außenwelt zuzuwenden. Ich denke, jeder Mensch macht solche Erfahrungen – zum Guten oder Schlechten. Es gibt eine in die Haltungen der bedeutsamen anderen eingelassene Antwort auf das Dasein in der Welt, die als Idealitäten erfahren werden, auf die man sich in seinem Leben früh schon hat verpflichten lassen, weil sie bedeutsam waren in der Phase ihrer Erfahrung – auch sie sind unabhängig davon, ob die Verpflichtung zum Guten oder Schlechten erfolgt. Sie stehen noch vor jeder Verpflichtung auf eine Welt, die erst durch sie vermittelt wird. Wenn irgend etwas Richtiges daran ist, daß die frühen Erfahrungen der Kindheit für das Lieben bedeutsam werden, dann sind es solche Verpflichtungen, die gesucht und wiedergefunden werden – wenn sie wiedergefunden werden. Ich mache mir, um das Geschehen zu verdeutlichen, einen Begriff Stendhals zu eigen, jedoch so, daß ich die Konventionalitäten der Zeit im Verständnis der Geschlechter streiche und im Begriff das Moment der Entdeckung hervorkehre: Ich meine den Begriff der Kristallisation. Stendhal bezeichnet als Kristallisation das Verfahren des Geistes, in allem, was sich ihm am Geliebten darbietet, neue Vorzüge zu entdecken.21 Worum es mir geht, ist, deutlich zu machen, daß den Kristallisationen auf der Seite des Liebenden Kristallisationen der inneren Natur des Geliebten entsprechen. Kristallisationen sind, wenn ihnen irgend Bedeutung zukommt, keine Exaltationen des Liebenden, die er als Vorzüge des Geliebten ausgibt, sondern wirkliche Entdeckungen. Was der Liebende am anderen entdeckt, sind Haltungen inmitten der Welt, die sich als Antwort aus den Bedingungen, unter denen er mit ihr umzugehen gelernt hat, gebildet haben, ihm selbst am wenigsten zugänglich. Sie liegen als Ausdruck einer generellen Befindlichkeit in der Welt noch unterhalb dessen, was sich als Aktionensystem ausgebildet hat, bringen sich in letzteres ein, legen aber nicht schon fest, was jemand tut. Als eine durch­ gehende Mentalität im Dasein definieren sie den anderen auch nicht aus. Man kann sich immer noch wundern, an wen man geraten ist. Haltungen als gleichsam kristalline Verfestigungen im Dasein sind, darum ist es mir zu tun, beidseitig und aufeinander bezogen. Eben deshalb sind die Entdeckungen, die der Liebende macht, nur ihm zugänglich. Möglich und bedeutsam werden sie ihm, weil sich in seiner inneren Natur früh schon die Haltung, in der Welt zu sein, die er im Geliebten entdeckt, als eine offene Möglichkeit seines eigenen Daseins in der Welt abgezeichnet hat. Am eindrücklichsten bilden sich solche Möglichkeitshorizonte unter dem Eindruck der bedeutsamen anderen in der frühen Kindheit aus. Auch für den Liebenden gilt, daß er sich auf sie hat verpflichten 21 Stendhal, De l’amour, S. 9.

Identität und Liebe 75

lassen, ohne dieser Verpflichtung recht innegeworden zu sein. Überhaupt bleiben Möglichkeitshorizonte unbestimmt; das steigert die Bedeutung der Entdeckung des anderen. Der andere wird, mit Novalis zu sprechen, zum Kristall fürs eigene Gemüt.22 Die Kristallisationen, die der Geliebte in der inneren Natur des Liebenden auslöst, erklären die Passion der Liebe. Schicksalhaft scheint beider Leben bestimmt, einander verbunden zu werden. Wenn Liebe daran erkennbar ist, daß die Liebenden eine Geschichte miteinander haben,23 so liegt die Bedingung der Möglichkeit dieser Geschichte weit zurück; immer ist die Geschichte zweier Leben in sie verstrickt. Der intuitive Zugang zum anderen ist seiner Natur nach rekonstruktiv. Liebende können deshalb meinen, sie seien auf ein Blatt des Lebens geschrieben, hätten sich schon geliebt, bevor sie sich gekannt hätten.24 Auch das Gefühl, schon vor der gemeinsamen Zeit einander untreu gewesen zu sein, für manche nur schwer zu ertragen, ist so selten nicht. Beim Wiederfinden der verlorenen Zeit muß man eines eingedenk bleiben: Die Reorganisation ist eine Reorganisation auf verändertem biographischen Niveau. Was vergangen ist, angefangen wurde, ohne abgeschlossen zu sein, wird in eine neue Lebenslage überführt. Aus ihr entsteht anderes, als vorher war. Novalis hat den Befund in äußerster Knappheit in dem schon angeführten Fragment zusammengezogen: » Zur Welt suchen wir den Entwurf – dieser Entwurf sind wir selbst … «25 Nur brauchen wir für dieses Selbst eine Antwort im anderen; erst durch ihn wird der Entwurf real. Ohne seine eigene Kindheit und ohne sich selbst einzubringen, vermöchte niemand den anderen zu entdecken. Ohne sein eigenes Leben einzubringen, gewänne der andere auch nicht die Bedeutung, die er tatsächlich hat. Die eigene Identität im anderen zu suchen, gehört unabdingbar zur Liebe dazu. » Du bist «, schreibt Artaud am 8. Dezember 1923 an Génica Athanasiou, » der einzige Mensch, bei dem ich ich selbst sein kann. «26 Das ist der Grund dafür, daß Liebende sich nicht genug daran sein lassen, sich dem anderen in ihrem bisherigen Leben zu offenbaren. » Bist Du sicher «, fragt Joyce Nora Barnacle im Brief vom 16. September 1904, » daß Du Dir keinerlei falsche Vorstellungen von mir machst ? «27 Die Verbindung, die zwischen der eigenen inneren Natur und der des anderen hergestellt wird, erklärt die Besessenheit, mit der Liebende sich der oder dem 22 Novalis, Heinrich von Ofterdingen, Schriften, 1, S. 280. 23 So mit einer glücklichen Bestimmung B. Sichtermann, Weiblichkeit, S. 14 ff. 24 R. Musil, Die Vollendung der Liebe, Ges. Werke 6, S. 174; Novalis, Heinrich von Ofterdingen, Schriften, 1, S. 287. 25 Novalis, Schriften, 2, S. 541 (74), vgl. oben S. 56. 26 A. Artaud, Briefe an Génica Athanasiou, S. 79. 27 J. Joyce, Briefe an Nora, S. 52.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (II): Liebe

Geliebten verbinden, und das, noch bevor sie überhaupt eine Gelegenheit gehabt haben zu erfahren, wer der andere ist. Die Entdeckung des anderen beinhaltet zugleich die Entdeckung seiner Bedeutsamkeit für das eigene Dasein. Das bewirkt, wie schon gesagt, die Leidenschaft, mit der die Koppelung der Leben gesucht wird. Man kann sich dieser Feststellung in den Briefen vergewissern, in denen Clemens Brentano seine spätere Frau Sophie Mereau verfolgt und beschworen, angebetet und angefleht hat, in denen er sie begehrte, brünftig, seinen eigenen Worten zufolge, bis zur Zote, sie beschimpfte bis zur Gemeinheit, aus Reue zerknirscht war, um alsbald zum vormaligen Flehen zurückzukehren, überzeugt, einzig in ihrer beider Vereinigung noch leben zu können.28 Auch für weniger romantische Naturen gehört es zur Erfahrung ihrer Liebe, ohne den anderen sterben zu müssen und jederzeit für ihn sterben zu wollen. Es stirbt selten jemand wirklich. Wofür die Versicherung steht, ist die Überzeugung, im anderen den Entwurf zum eigenen Leben gefunden zu haben. Unsere Analyse erhellt, wie es möglich ist, etwas zu erkennen und über es zu kommunizieren, das wir doch als individuell bezeichnet haben, also als einmalig. Der Liebende findet etwas im anderen, das ihm selbst zugehört, ohne daß deshalb seine innere Natur mit der des anderen identisch wäre. Die Differenz ist wichtig: Was gefunden wird, ist lediglich der Zugang zur inneren Natur des anderen. » Liebe «, erklärt Novalis, » macht Individualitaeten mittheilbar und verständlich. «29 Daß der andere in seiner inneren Natur der eigenen gerade nicht gleich ist, ist die Bedingung dafür, in ihm das Realitätsprinzip des eigenen Daseins zu finden, an ihm Welt zu gewinnen. Diese Differenz fehlt Geschwisterlieben, in denen jeder sich im anderen noch einmal findet, gleichsam als siamesischer Zwilling.30 In der Unsicherheit des eigenen Daseins die Anerkennung des anderen zu suchen, macht nur Sinn, wenn der andere immer auch Fremder ist. Sich im anderen zu finden, ist eines, sich im anderen zu spiegeln, ein anderes. Wer die Möglichkeit des Verstehens in Anspruch nimmt, sieht sich einem erkenntniskritischen Einwand ausgesetzt: Wie kann man angesichts des Umstandes, daß jeder Zugang zum anderen unabdingbar vom eigenen Geschlecht bestimmt ist, gewiß sein, wirklich vom anderen etwas erfaßt zu haben ? Tatsächlich kann man in unseren Tagen in vielfältigen Umschreibungen die Versicherung finden, das eigene Geschlecht könne letzten Endes nur von sich selbst verstanden werden. In dieser Annahme liegt ein erkenntniskritischer Widerspruch. Wenn man postuliert, das eigene Geschlecht sei letzten Endes für das andere unzugänglich, woher 28 Vgl. Briefwechsel zwischen Clemens Brentano und Sophie Mereau, 2 Bde. 29 Novalis, Schriften, 2, S. 541 (74). 30 So explizit die Geschwisterliebe zwischen Ulrich und Agathe in R. Musils » Der Mann ohne Eigenschaften «, Ges. Werke, Bd. 3, S. 899 ff.

Identität und Liebe 77

will man wissen, was das andere vermag oder nicht ? Auch die Negation nimmt Kenntnis des anderen in Anspruch ! Wenn die Negation aber nur auf der Enttäuschung beruht, die man mit dem anderen Geschlecht gemacht hat, können es historische Gründe sein oder Gründe der eigenen Biographie oder beides, die diese Erfahrung begründet haben, jedenfalls keine, die der Differenz der Geschlechter als solcher angelastet werden müßten. Ohnehin lassen sich Differenzen im Geschlechterverhältnis nur sehr schwer noch den Geschlechtern » an sich « zuschreiben. Denn dieses » an sich « können wir nur natural bestimmen. Dem naturalen Unterbau aber können wir lediglich Tönungen in der Emotionalität beim Aufbau kommunikativer Welten zurechnen. Das ist bedeutsam, inhibiert aber nicht die Möglichkeit des Verstehens. Was immer sonst noch den Geschlechtern an Wesenszügen zugemutet wird, das Dämonische etwa, das der Frau nachgesagt wird, geht hinter die Aufklärung zurück. Die Natur kennt keine Dämonie ! Ich halte mich deshalb an eine Einsicht, die von einer soziologischen Erkenntnistheorie gut gedeckt wird: Weil und soweit sich die Subjektivität in einer gemeinsamen Welt über gemeinsame Erfahrungen ausbildet, ist auch ein Verstehen des anderen möglich. Es gibt zwischen den Geschlechtern immer auch differente Erfahrungen, auch sie sind jedoch nicht schlechterdings unzugänglich. Wie weit das Verstehen reicht, zeigt die Praxis gemeinsamen Lebens. Für sie gilt, daß jeder sich in sie einbringt. Jeder sieht sich deshalb in der Praxis ständig mit dem anderen konfrontiert. Er macht Erfahrungen mit ihm. Gewiß, wie diese Erfahrungen gemacht und wie sie verarbeitet werden, ist und bleibt seine Geschichte. Nur stoßen die Erfahrungen und ihre Verarbeitung auf die erneuten Erfahrungen und Antworten des anderen. Ohne Verstehen ist nicht zu erklären, daß sich beide Leben in dieser Weise verschränken. Es ist die Praxis gemeinsamen Lebens, die zeigt, daß Verstehen möglich ist. Einen Beleg für diese Annahme kann man jederzeit bei der Vielzahl derer abrufen, die sich in der Lebensgemeinschaft der Geschlechter vom anderen verstanden wissen. Jeder artikuliert das Gefühl, daß dort, wo der andere steht, stände er nicht da, eine Leere wäre, und wenn er geht, tatsächlich ist und immer sein wird.31 Unsere Untersuchung ist mit der Umsetzung des Verhältnisses der Geschlechter unter den jeweiligen Bedingungen, unter denen der einzelne sich vorfindet, im gegenwärtigen Zusammenhang nicht befaßt. Wir suchen lediglich die Bedingungen zu bestimmen, die das Verhältnis der Geschlechter begründen und Liebe suchen lassen. Darauf habe ich eingangs schon hingewiesen. Die Rekonstruktion von den Bedingungen her leistet darüber hinaus nur noch eines: Sie läßt deutlich werden, wie schwer dieses Verhältnis in dem, worauf es angelegt ist, zu verwirklichen ist. 31 Vgl. auch R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Werke Bd. 1, S. 184 f.

78

3.6

Theorie der Geschlechterbeziehung (II): Liebe

Risiken und Grenzen

Eine Entdeckung zu machen ist risikoreich: Man kann irren. Der Grund des Irrtums kann ebenso in einem mangelnden Verständnis dafür liegen, in welcher Lebensform ego Möglichkeiten seines Daseins findet, als auch darin, wer alter ist. Kristallisationen sind verführerisch; sie zeigen Haltungen, aber nicht, wie sich Haltungen in die Praxis von Lebenslagen umsetzen. Wer der andere ist, den man für sich entdeckt zu haben meint, stellt sich erst im Zusammenleben heraus. Es gibt keine andere Möglichkeit, als es gleichwohl zu versuchen, sich einzulassen auf das Problem, verstanden zu werden, auf die Grenze der Akzeptanz und darauf, daß der andere sich gleichfalls einzubringen sucht. Nicht minder bedeutsam ist, daß lieben voraussetzungsvoll ist. Nur soweit sich Haltungen in der eigenen inneren Natur verfestigt haben, die für Erfahrungs­ dimensionen des Daseins sensitiv sind, eröffnet der andere eine Möglichkeits­ dimension, die eine Steigerung des Selbst bewirkt. Ersichtlich gilt nicht nur für die Bedürfnislage, sondern auch für deren Realisierung: Alles hängt an der Ontogenese, genauer: an den Bedingungen, unter denen sich in ihr die innere Natur der Subjekte ausbildet. Die Bedingungen bestimmen über die Möglichkeitsdimensionen des Daseins, sie bestimmen insbesondere über die kommunikative Kompetenz, die für die Lebensgemeinschaft der Geschlechter notwendig und bedeutsam ist. Diese Bedingungen sind nicht für alle gleich günstig. Für viele bleibt die kommunikative Kompetenz an die Unbestimmtheit einer Gefühlslage gebunden, unfähig, sich Ausdruck zu verschaffen. Auf‌fi ndbar ist sowohl die Bedürfnislage als auch der Versuch, Liebe zu realisieren, auch im Leben eines Zampano. Es nimmt nach allem nicht wunder, in den tatsächlichen Verhältnissen der Geschlechter, wie wir sie in aller Geschichte vorfinden, Liebe immer nur unter restringierenden Bedingungen anzutreffen. Sie wird deshalb nicht zur Chi­märe.32 Sie geht als Verlangen eines jeden in das Geschlechterverhältnis ein und ist in jedem dieser Verhältnisse wiederzufinden. Soziologen haben allen Anlaß, die tatsächlichen Verhältnisse bedachtsam zu beurteilen. Nichts ist, was anders sein könnte. In diese Feststellung ist jedwede Form von Selbstbestimmung – es gibt sie – integriert. Auch letztere bildet sich unter Bedingungen und operiert unter Bedingungen.

32 Wie unsinnig solche Verdikte sind, betont Th. Reik, Psychology of Sex Relations, S. 104.

Kapitel 4 Theorie der Geschlechterbeziehung (III): Körper und Geist in der Erotik

1

Differentielle Bestimmung der Sexualität

Die Liebe der Geschlechter ist so sehr der Sexualität verbunden, daß man gemeint hat, sie sei überhaupt deren Ausdruck.1 Wir wissen, daß Liebe anders verstanden werden muß. Wir wissen jedoch auch, daß Sexualität in sie eingebunden ist. Die Frage ist deshalb zum einen, als was sich die Sexualität unter den Bedingungen, die Liebe bestimmen, in ihrer Bedeutung für die Liebenden entwickelt, was aus ihr anstelle bloßer Triebhaftigkeit wird. Und die Frage ist zum andern, in welcher Weise diese veränderte Bedeutung der Sexualität, die ja immer auch Triebhaftigkeit bleibt, die anderen auszeichnenden Momente des Liebens bestimmt. Kurz, es geht darum, die differentiellen Bestimmungen der Sexualität in der sozialen Beziehung der Geschlechter auszumachen. Diese differentiellen Bestimmungen der Sexualität für das Verhältnis der Geschlechter nenne ich Erotik. Ersichtlich folgt die Bestimmung der Erotik dem erkenntniskritischen Verständnis der Soziologie, die sozialen Phänomene systemisch einzubinden und aus dem Bildungszusammenhang des Ganzen zu verstehen. Was Sexualität im menschlichen Dasein bedeutet, zeigt sich allererst, wenn man sie kulturell durch die anderen sozialen Determinanten bestimmt sein läßt. In der Literatur wird sie anders verstanden; in ihr hat sie sich bislang aus den metaphysischen Verstrickungen nicht lösen können. Eine der auffälligsten Bestimmungen, mit der sie auf diese Weise versehen wurde, ist die ihr nachgesagte Verbindung mit dem Tode.

1

S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur. S. 462.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_5

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Theorie der Geschlechterbeziehung (III): Körper und Geist in der Erotik

2

Der Tod in der Metaphysik der Erotik

2.1

Liebe und Tod im Mythos

Die Erfahrung der Sexualität legt, wie die Berichte zeigen, für viele den Gedanken an den Tod nahe.2 Eigentlich, so einer dieser Gedanken, müßte diese Erfahrung den Tod bringen; mehr noch: liebte man nur richtig, würde man ihn suchen. Woher rührt die Verbindung ? Sie findet einen Anhalt an einem höchst realen Erlebnisgehalt des Liebesaktes: der Entgrenzung. Darüber alsbald mehr. Die Entgrenzung im Liebesakt ist nämlich auch nur der Anhalt, um die Verbindung zwischen Liebe und Tod herzustellen, nicht mehr. Für sich genommen vermöchte sie lediglich, eine allegorische Bestimmung durch den Tod zu finden. Die philosophische und literarische Verarbeitung der Sexualität schreibt ihr jedoch eine gleichsam seinsmäßige Verbindung zum Tode zu. Der Grund dafür liegt nicht in der Erfahrung, sondern in der Denkstruktur, mit der die Erfahrung verarbeitet wird. Diese Denkstruktur ist die der pristinen Logik, wie sie in der Frühzeit der Geschichte im mythischen Denken, in späterer Zeit in der Metaphysik ihren Ausdruck gefunden hat. Diese Denkstruktur stellt sich in jeder Ontogenese wieder her; sie bleibt deshalb virulent, auch wenn sie im Weltbild der Gegenwart weitgehend überwunden ist. Wodurch zeichnet sie sich aus ? Die pristine Denkstruktur ist, wie wir oben erörtert haben, über die Struktur der Handlung geformt. Ihre zweistellig relationale Logik sieht im Anfang enthalten, worauf hin sich das Geschehen als Ziel bewegt. Das Ende kehrt deshalb in den Anfang zurück. Diese Vorstellung läßt auch das Leben im Tode in den Ursprung zurückkehren.3 In dieser mythischen Logik ist die Verbindung zwischen Sexualität und Tod vorgezeichnet. Die Sexualität ist dem Akt der Schöpfung identifikatorisch verbunden; jede Form von Sexualität partizipiert an der Urschöpfung und damit an der Substantialität des Lebens. Das aber führt im Tode in den Ursprung zurück. Jeder Akt der Sexualität ist deshalb wie ein Vorlauf zum Tode, letzterer deren Erfüllung. Die Entgrenzung des Daseins im Akt der Umarmung ist ein hinreichender Anlaß, um sich der Spekulation zu überlassen. Sobald sich das Denken auf der Folie der mythischen Logik der Erfahrung bemächtigt, ist die Spur ausgezeichnet, die beide: Liebe und Tod, verbindet. Aus dem mythischen Denken gelangt die Verbindung in die Metaphysik. Schöpfung ist Liebe und Liebe deshalb Partizipation an der Schöpfung, sinnlich erfahrbar im Liebesakt. Wer liebt, hat teil an der schöpferischen Kraft des LeVgl. die Skripte, die Monica Tornow zum Begriff Liebe zusammengetragen hat. M. Tornow, Was fällt Dir bei dem Wort Liebe ein, S. 94, 97, 103. 3 Vgl. G. Dux, Die Zeit in der Geschichte, S. 223 ff. 2

Der Tod in der Metaphysik der Erotik 81

bens und umschließt den anderen mit ihr. Er kann dem anderen die Ewigkeit versprechen. Lieben heißt in diesem metaphysischen Verständnis sagen: Du wirst nicht sterben, denn ich bedarf deiner. Und mehr noch: Ich werde in meiner Liebe der Grund deiner Sehnsucht sein, und die wird dich der ewigen Liebe und dem ewigen Leben verbinden. Sei also versichert: Weil ich dich liebe, wirst du nicht sterben. So kann man es in Claudels » Der seidene Schuh « lesen,4 ein Stück, das die Tiefe der metaphysischen Verbindung zwischen Liebe und Tod ausschöpft. » Ich will «, erklärt Doña Pröeza bei ihrem letzten Auftritt Don Rodrigo, » mit dir im Ursprung sein ! Ich will mich deinem Grunde vermählen … Die Kraft, mit der ich dich liebe, ist nicht verschieden von der, durch welche du bist. Ich bin auf ewig in das Geheimnis eingegangen, das dir das ewige Leben spendet. «5

Unsere Zeit hat das Zutrauen zu derartigen Versicherungen verloren. Sie ist dabei, sich der Struktur der mythischen und metaphysischen Weltwahrnehmung zu entledigen. Das hat eigenartige Zwischengebilde entstehen lassen, metaphysische Konstruktionen in einer säkularen Welt, die nicht länger zugänglich für sie ist. Eine dieser Konstruktionen ist Batailles heiliger Eros.

2.2

Batailles heiliger Eros

Bataille sieht das Wesen der Erotik in der Gewaltsamkeit.6 Es ist eine Gewaltsamkeit, die dem Grundverbot des Lebens, gewaltsam gegen es zu sein, widerspricht. Für Bataille ist es die Überschreitung dieses Verbotes, die die Erotik dem Tode verbindet. Worin besteht das Verbot genauer ? Welcher Art ist die verbotene Gewaltsamkeit ? Und worin besteht die Paradoxie eines Verbotes, das, wie Bataille sagt, die Überschreitung verlangt, weil es sich in der Überschreitung bestätigt sehen will ? Bataille versteht das Verbot als Kehrseite eines Gebots; das Gebot liegt im Leben selbst begründet, nämlich sich zu erhalten. Der, der sich enthält, ist ein einzelner, also im Blick auf das Ganze des Seins ein diskontinuierliches Wesen. Alles, was in dieser Welt dem Leben in seiner singulären Organisation dient, die organisierte Welt der Arbeit insbesondere, ist Teil dieser Diskontinuität im Sein (152). Die Dis4 5 6

P. Claudel, Der seidene Schuh. Man kann nur auf das ganze Stück verweisen; einzelne der angeführten Versicherungen finden sich auf den Seiten 59, 61, 64, 125 f., 238, 241. P. Claudel, ebd., S. 294 f. Vgl. zum folgenden G. Bataille, Der heilige Eros. Die Ziffern im Text beziehen sich auf dieses Werk.

82

Theorie der Geschlechterbeziehung (III): Körper und Geist in der Erotik

kontinuität des Lebens im Individuum bedeutet innere Isolierung vom Sein. An ihr leidet der Mensch (214); über sie will er hinaus, um in die Kontinuität des Seins einzugehen. Die Kontinuität des Seins ist das Göttliche (150). Wie von allem Göttlichen ist auch von der Kontinuität des Seins nicht erkennbar, was sie darstellt und meint. Aber wir haben, sagt Bataille, eine innere Erfahrung von ihr (27); diese Erfahrung suchen wir zu erfassen – im Tod. Eben deshalb verlangt das Gebot, das Leben zu erhalten, seine Verletzung. Das Göttliche im Todessuchen ist allerdings ein ambivalentes Unterfangen: Noch im Tode will das Leben sich erhalten sehen. In Batailles ins Innerweltliche gekehrter Metaphysik nimmt sich dieses Streben wie folgt aus: » Wir wissen es, der Tod löscht nichts aus, er läßt die Ganzheit des Seins intakt, aber wir können die Kontinuität des Seins in seiner Gesamtheit nicht verstehen vom Augenblick unseres Todes an, vom Standpunkt dessen aus, was in uns stirbt. Wir akzeptieren nicht die Grenzen dieses Wesens, das in uns stirbt. Diese Grenzen wollen wir um jeden Preis durchbrechen; aber wir möchten sie zu gleicher Zeit, wenn wir über sie hinausgehen, aufrecht halten « (182).

Die Erotik ist für Bataille deshalb dem Tod verbunden, weil auch sie eine Gewaltsamkeit ist, die den Übergang aus der Diskontinuität in die Kontinuität des Seins will. » Was bedeutet die Erotik der Körper anders als eine Wesensverletzung der Partner, eine Verletzung, die an den Tod grenzt, die an den Mord grenzt « (19) ? Was, so Bataille, der Liebende im geliebten anderen sucht und findet, ist das volle, unbeschränkte Wesen, das durch nichts mehr begrenzt wird; er sucht in ihm die Kontinuität, die Wahrheit (!) des Seins (25). Bei einer derart metaphysischen Sinngebung des Sexualaktes sollte man meinen, gehe es darum, daß beide, der Mann ebenso wie die Frau, den » Grund des Seins « zu erfassen bekämen und so der Befreiung von der Diskontinuität teilhaftig würden. Allein, Bataille schreibt die Gewaltsamkeit lediglich dem Manne zu. Die Frau, sagt er, erleide sie nur passiv; sie verliere ihr Wesen für den Mann (20) ! » Die Frau ist in den Händen dessen, der sie überfällt, ihres Wesens beraubt « (114) Wenn diese Form der Gewaltsamkeit zur Essenz des Lebens gehört, müßte sie demnach den Frauen verschlossen sein. Wie auch immer, sicher ist, daß es Bataille in der Erotik gar nicht um die Bestimmung der Erotik in ihrer Bedeutung für die auszeichnenden Formen menschlichen Liebens, so wie sie auf Erden gelebt werden, geht. Es geht einzig um jene das Leben transzendierende Erfahrung der Auflösung in die Kontinuität des Seins. Die menschliche Liebe wird einmal mehr der Religion geopfert. Transzendenz hat als Kehrseite immer die Abwertung des Körpers und vor allem der Sexualität zur Folge. Das widerfährt ihr auch bei Bataille. Der Sexualakt selbst ist immer ein Verbrechen; bedeutsam wird er erst dadurch, daß er den Zu-

Der Tod in der Metaphysik der Erotik 83

gang zum Heiligen vermittelt, sonst ist er animalisch, » mit unserer fundamentalen Menschlichkeit unvereinbar « (134). Niemand zweifelt an seiner Häßlichkeit (187). Er ist ein Hohn auf unsere Würde (137). Wer als Unbeteiligter eine Frau, die er eben noch verehrte, unbemerkt beim Liebesakt beobachtete, würde, so sagt er, einer Hündin gewahr: » Die Hündin genießt und genießt schreiend dieses Schweigen und diese Abwesenheit (ihrer Menschlichkeit; G. D.) « (135). Woher nimmt Bataille dieses Wissen und Verständnis der Sexualität ? Er beruft sich, wie ich schon erwähnt habe, auf eine innere Erfahrung, die der Wissenschaft nicht zugänglich sei. Mit dieser Erfahrung hat es allerdings seine besondere Bewandtnis. Wie alle Erfahrung ist sie interpretativ eingeholt und deshalb an das Denken und dessen Struktur gebunden. Die Herkunft dieser Struktur ist bei Bataille unübersehbar: Sie ist jene, die einst die Geistigkeit im Absoluten ver­ortete. Allein schon der für sein Denken grundlegende Begriff eines Verbotes ist in der Weise, in der Bataille es versteht, ohne metaphysische Konnotation nicht denkbar. Denn Bataille denkt das Gebot des Lebens mit dem daran haftenden Verbot des Tötens nicht als etwas, das sich in der Sozialität bildet, weil jeder in ihr das Leben zu behaupten sucht. Damit gibt sich eine Seinsphilosophie nicht zufrieden; er denkt es so, wie er die Wahrheit denkt: als Ausdruck der Sakralität des Seins. Das Verhältnis zwischen der Sozialität und dem Heiligen sieht Bataille eher umgekehrt als Durkheim: Das Heilige läßt sich nicht durch die Gesellschaft dechiffrieren mit der Maßgabe, daß man zwischen Gott und Gesellschaft wählen müßte; der » noyau social « wird umgekehrt von der Sakralität des Seins bestimmt.7 Die Philosophie des Seins und die mit ihr verbundene essentialistische Deutung des Heiligen führt in der Ausdeutung der Erotik nicht nur zu den vielbemühten Paradoxien, mit denen Uneinsichtigkeiten verdeckt werden, sie führt zu Absurditäten. Halten wir uns an das Moment der Gewalt. Wir haben schon gesehen, daß Lieben eine Gewaltsamkeit gegen den anderen beinhaltet; allein, es ist schlechterdings nicht einsichtig, daß sie eine Gewalt gegen den anderen, genauer: gegen die Frau darstellt, mit der die Auflösung ihres Wesens erstrebt wird. Und es ist noch weniger einsichtig, daß diese an Mord grenzende Gewalt ihrer inneren Logik zufolge uns der Wahrheit des Seins näherbringen soll. Wenn diese Auflösung wirklich dem Tod vergleichbar wäre, erführe der Mensch mit der Auflösung die Leere des Universums; er erführe in der Umarmung, wie es ist, ohne den anderen dazustehen. Dieser Weg führte jedenfalls nicht weiter als jeder Versuch einer Versenkung ins Nichts. Das Glück der Liebenden in der Umarmung geht bei dieser Ausdeutung ohnehin verloren. Denn dieses Glück läßt sich in der Vereinigung der Körper von » den abscheulichen tierischen Organen « (187) nicht trennen.

7

So sehr zu Recht U. Matthiesen, Das Dickicht der Lebenswelt, S. 111 ff.

84

Theorie der Geschlechterbeziehung (III): Körper und Geist in der Erotik

Es gibt ungleich geradlinigere Wege, die Liebe dem Tod verbunden zu sehen, ihn ihr eigenes Telos sein zu lassen. Denis de Rougemont hat sich Freuds Lehre vom Todestrieb zu eigen gemacht und die Liebesphilosophien des Abendlandes ebenso wie Asiens konsequent als Ausdruck der Todessehnsucht umgedeutet.8 Die mythisch-metaphysische Struktur des Denkens, die das Leben im Tode in den Ursprung zurückführt, wird ihm zum Anlaß, dem ekstatischen Erleben in der Liebe den Todestrieb zugrunde zu legen: » Ohne es zu wissen haben die Liebenden wider Willen immer nur den Tod geliebt. «9

Weil Liebe den Tod will, wird sie dem Kriegsinstinkt im Menschen verbunden. Für ein strukturlogisches Verständnis ist offenkundig, wodurch die Verbindung zwischen der Liebe und dem Tod in der Erotik zustande kommt – ich habe den Grund der Verbindung schon aufgedeckt: In der mythisch-metaphysischen Logik ist das Leben im Ursprung wirklich dem Tode verbunden. Man muß es deshalb gerade in der Ekstase des Liebens dem Tode verbunden sehen. Bataille wie Rougemont verstehen diese Logik nicht als eine Struktur, die das Denken im Griff hat; unkritisch wird ihr eigenes Denken selbst noch von dieser Struktur bestimmt; nur hält sich die Transzendenz des Liebens im Diesseitigen. Die Verbindung zwischen Liebe und Tod wird dem Sein zugeschrieben, schließlich einem Todestrieb oder Todesinstinkt. Das spekulative Gebäude wird von nichts anderem als jener Wendung bestimmt, die wir allenthalben im 19. Jahrhundert und auch noch im 20. finden: Die metaphysische Struktur wird ins Diesseitige des Seins und des menschlichen Daseins gewendet und feiert dabei Urstände der Spekulation. Es wäre nicht nötig, sich mit dem Aufguß einer metaphysisch verstandenen Erotik eigens noch einmal zu befassen, so schal ist er inzwischen geworden, suchten Bataille und Rougemont nicht, die realen Erfahrungen des Liebens in ihnen unterzubringen und der spekulativen Unergründlichkeit zu verbinden. Es gibt, darauf habe ich schon hingewiesen, in der Umarmung die Erfahrung einer Entgrenzung – in Batailles Vorstellungswelt: der Aufhebung des Diskontinuierlichen. Bataille nimmt sie für die analoge Erfahrung des Todes. Der Tod aber ist Zeichen einer Sakralität, die sich absetzt gegen die Profanität dessen, was vordergründig in der Sexualität geschieht. So verfährt Bataille auch sonst. Unablässig versucht er, organische Vorgänge: Zellteilung und Zellvereinigung, mit metaphysischen Konnotationen zu durchsetzen. Und doch steht für solche Analogien nichts zur Verfügung als die Gemeinsamkeit einer unkritisch gebrauchten Begriff‌lichkeit. Wenn man der Welt und dem Dasein des Menschen in der Welt nicht unterlegt, daß or8 9

Denis de Rougemont, Die Liebe und das Abendland, S. 68. Denis de Rougemont, ebd., S. 55.

Körper und Geist in der Erotik 85

ganische Prozesse Ausdruck von Bedeutsamkeiten sind, die sich erst in der Geistigkeit des Menschen herstellen, löst sich das ganze Gebäude in einen Spuk der Spekulation auf. Die Erotik, das kann nicht einen Augenblick zweifelhaft sein, geht darin restlos unter. Denn die Erotik lebt in der Lust des Körpers. Bataille aber nimmt der Menschlichkeit des Menschen die Lust an der Körperlichkeit der Liebe; transzendiert bleibt sie als viehische zurück. Er nimmt der Erotik damit auch den Anteil, den sie in der Differenz als natürlicher Trieb an der Geistigkeit hat.

3

Körper und Geist in der Erotik

Wir bleiben mit der Bestimmung der Erotik in den Grenzen der anthropologischen Verfassung. Sie kennt in ihrer Grundstruktur eine Verbindung von Körper und Geist, die auch die Beziehung der Geschlechter bestimmt: Die an sich sinnfreie Sphäre des Körpers wird einer sinnhaften Lebensführung verbunden, die sich dem Organismus eingebildet hat. Die Bindung an den anderen nimmt diese Daseinslage auf und integriert sie sich: Leben in der Körperzone des anderen bedeutet die Verbindung zweier Körper. Und die kann ihrer eigenen Grundstruktur nach nur eine geistige sein; verbunden werden die Leben kommunikativ, über ein Einverständnis. Ich habe oben die Bedeutung der kommunikativen Einlassung dargelegt; ich wiederhole sie lediglich deshalb, weil sie zum Verständnis der Erotik unerläßlich ist: Der andere, haben wir gesagt, sichert in seiner Person die Anbindung an die Welt; und er versichert dem anderen, in dem, was er ist, den unerläßlichen Widerhall in der Welt zu finden. Du kannst so sein, weil ich dich liebe. Das ist die einfache Formel. Noch einmal also, was die Liebenden verbindet, ist ein Geistiges. Nur ist dieses Geistige von Anfang an der Körperzone verbunden. Deshalb gewinnt die Sexualität für das Verhältnis der Geschlechter eine durch nichts zu ersetzende Bedeutung. Die Erfahrung der Sexualität in der Umarmung ist als Erfahrung jenes unsagbaren Gefühls der Lust der elementaren Bewußtheit des Organismus zuzuschreiben. Lust wird als Dynamik des Körpers präsentisch erfahren. Die ekstatische Steigerung in der Umarmung bewirkt deshalb eine spezifische Qualität der Selbsterfahrung. Ekstatische Selbsterfahrung gibt es auch außerhalb jeder Liebesbeziehung. Nur nimmt die ekstatische Selbsterfahrung in dieser Beziehung den anderen, angebunden an das eigene Selbst, mit hinein. Die Ekstase des Körpers im sich anbahnenden Liebesrausch ist zugleich die Ekstase der Bindung an den anderen. Mit der gleichen Elementarität, mit der die Lust erfahren wird, wird auch das Glück erfahren, mit diesem äußerst gesteigerten Selbst angebunden zu sein an den anderen und durch ihn an die Welt. Das Selbst, das sich im Organismus nur für sich erfährt, ist ein verlorenes Selbst. Nur die äußerste Steigerung der Selbst­

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Theorie der Geschlechterbeziehung (III): Körper und Geist in der Erotik

erfahrung in der Anbindung an den anderen verschafft das gesuchte Glück. Deshalb ist der Ekstase der Lust der unwiderstehliche Wunsch eigen, der andere möge für den Liebenden der bleiben, der er jetzt ist.10 Die absolute Gegenwärtigkeit ist eine Form der Ewigkeit. So wird sie erlebt. Verständlich wird auch, weshalb Sexualität nicht für sich gesucht wird: Als bloße Sexualität fehlt ihr etwas.11 Mit ihr allein stürzt der Mensch ins Leere. Ich habe nicht ohne Grund derart entschieden hervorzuheben gesucht, daß die Bindung der Liebenden eine geistige ist. – Dabei muß man eingedenk sein, daß für ein gattungsgeschichtliches Verständnis des Menschen Geistigkeit überhaupt das Vermögen ist, sich der Welt zu verbinden. Sie ist emotional untermauert; das ist nicht fraglich. Nur, das Medium, über das die Verbindung erfolgt, ist eine in die Körperlichkeit eingelassene kommunikative Geistigkeit. – Die entschiedene Betonung der Geistigkeit hat den Sinn, die differentielle Zuordnung der Sexualität zu ihr um so deutlicher werden zu lassen. Die durch die ekstatische Erfahrung der Lust bewirkte ebenso ekstatische Erfahrung der Bindung kennt im Liebesakt eine äußerste Steigerung; sie nimmt die Form einer totalen Entgrenzung an: Alle Welt und alle Eigenschaften, die eigenen wie die des anderen, versinken. Es ist diese Entgrenzung, die Bataille den Liebesakt dem Tod verbinden läßt. In Wahrheit ist sie lediglich das Auslöschen einer kulturell geschaffenen Welt. Das Subjekt entzieht sich in der Umarmung der Künstlichkeit seiner Daseinsform, der unausweichlichen Anforderung an die Sinnhaftigkeit seines Lebens. Was geschieht mit dem anderen ? Was ist mit der Bindung an ihn ? Weil und soweit die Ekstase der Lust aus der ekstatischen Unmittelbarkeit des Bewußtseins der Bindung an den anderen erfolgt, wird diese Bindung hineingenommen in die Entgrenzung; sie selbst wird grenzenlos. Es gibt Menschen, die beim Wiedereintauchen in die Welt lachen, lauthals lachen. Es ist das Lachen, das zwanghaft über jemanden kommt, der feststellt, daß eine ganz unglaubliche Geschichte sich zu seinem Glück als wahr erweist. Lachen in dieser Weise ist Ausdruck einer Diskrepanz und eines Widerspruchs zu dem, was vom Subjekt als glücklicher Umstand erfahren wird und was es als Erfahrung verarbeiten kann. Die Entgrenzung des Daseins und das Wiedereintauchen in die kulturelle Daseinsform stellen die Erfahrung einer solchen Diskrepanz dar, die bewußtseinsmäßig gar nicht zu bewältigen ist und sich eben deshalb im Lachen entlädt. In der Sexualität der Umarmung erfährt das sinnhaft geführte Leben eine äußerste Steigerung. Sinn, haben wir gesagt, muß in die sinnfreie Sphäre des Körpers zurückgeführt werden; anders wird das sinnhaft geführte Leben seiner selbst entfremdet. Die Bedeutung der Sexualität, so könnte man zugespitzt sagen, liegt auch 10 Vgl. B. Malinowski, Das Geschlechtsleben der Wilden, S. 283. 11 I. Dilman, ebd., S. 80; A. H. Maslow, ebd., S. 67, R. Brown, Analyzing Love, S. 47 ff.

Körper und Geist in der Erotik 87

darin, sich von der Schwere dieser Daseinsform zu entlasten und sich aus dem Dickicht der Sinnhaftigkeit zu befreien, also in ihrer Sinnfreiheit. Daß nichts ist hinter aller Sinnhaftigkeit, ist das nicht eine Erfahrung, die unbedingt notwendig ist, um nicht verrückt zu werden unter den Anforderungen des Sinns ? In der Sexualität bleibt aller Sinn zurück. Liebe ist, ich habe Brentano mit diesem bon mot schon einmal zitiert, » die schönste Sinnlosigkeit «.12 Entschiedener, vorbehaltloser kann das Akzept auf das Leben des anderen ebenso wie auf das eigene nicht ausgestellt werden, als in der Ekstase der Umarmung.13 Verständlich wird demnach noch von anderer Seite, worauf wir schon gestoßen sind: daß Sexualität allein nichts auszurichten vermag. Geführt werden muß das Leben sinnhaft. Aus dem Nirwana der sinnfreien Körperlichkeit tauchen beide immer wieder auf, um wieder einzutauchen in die kommunikative Sinnhaftigkeit des Daseins. Entscheidend ist, daß dessen nur schwer zu bewältigende kommunikative Form gestützt wird von der Bedingungslosigkeit, mit der das eigene Leben dem des anderen verbunden wird. Eine Sexualität, die sich nicht umzusetzen vermag, nicht durchgreift in die Sinnzone, um sie rückzubinden an die Sinnfreiheit des Lebens, bleibt bedeutungslos. Musil läßt im » Mann ohne Eigenschaften « Ulrich auf das Geständnis Agathes, sie habe ihren Mann nie geliebt, antworten: » Ich weiß nicht. Es schien mir, daß es demütigend sei, mit einem Menschen zu leben, den man nicht liebt. «14 Für Agathe war es der äußerste Ausdruck eines Protestes, einer Welt verpflichtet zu werden, der sie sich nicht verpflichten konnte. Es war, wie sich herausstellt, gleichwohl verkehrt. Denn gerade die Umkehrung in der Liebe bietet die nirgends sonst auf‌fi ndbare Möglichkeit, sich dieser Verpflichtung zu entledigen. Sie verlangt allerdings das Akzept auf das Leben des anderen. Nur wenn sich die Sexualität umzusetzen vermag in die Zustimmung zum Leben des anderen, zu dessen gelebter Lebensform, gewinnt sie ihren Wert. Wenn das nicht der Fall ist, muß man sich scheiden. Die Erotik ist nicht nur eine ganz dem Diesseits verhaftete Lebensform, sie ist das Siegel auf die menschliche Lebensform überhaupt. Das, so scheint mir, ist der Grund dafür, weshalb sich monotheistische Religionen wie das Christentum der sexuellen Leidenschaft entgegenstellen, und zwar gerade in der Ehe. Flandrin und Aries zitieren Hieronymus, bei dem es in Übernahme einer Lehre der Stoa (Senecas) heißt:

12 C. Brentano/S. Mereau, Briefwechsel, Bd. 2, S. 19. 13 Daß es diese Akzeptanz ist, die in der Sexualität gesucht wird, von Männern selbst bei Prostituierten, ist vielfach dokumentiert. Vgl. L. Tov-Ruach, Jealousy, Attention and Loss, S. 465 ff. 14 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Ges. Werke, Bd. 3, S. 685.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (III): Körper und Geist in der Erotik

» Ehebrecherisch ist auch die allzu brennende Liebe für die eigene Frau. Die Liebe zur Frau eines anderen ist immer schändlich. Zur eigenen Frau ist es die übermäßige Liebe. Ein vernünftiger Mann soll seine Frau mit Besonnenheit lieben und nicht mit Leidenschaft; er soll seine Leidenschaft zügeln und sich nicht zum Beischlaf hinreißen lassen. Nichts ist schändlicher, als seine Frau wie eine Mätresse zu lieben. «15

Der Grund wird von der frommen Moral darin gesehen, daß die Liebe der Geschlechter der Hinwendung zu Gott abträglich sei. Wodurch ? Wirklich, weil die Eheleute die Zeit im Bett verbrächten, die sie hätten in der Kirche verbringen sollen ? Kaum ! Den Grund habe ich genannt: In der Sexualität wird die Sinnhaftigkeit des Daseins zurückgeführt in die sinnfreie Zone des Daseins. Das heißt, den Menschen an die Erde binden, statt ihn aufs Jenseits warten zu lassen. Polytheistische Religionen sind darin dem Menschen näher, daß sie die bedeutsamen Züge menschlichen Daseins selbst zu vergöttlichen vermögen. Sie überhöhen sie, statt sie zu erniedrigen. Nur in ihnen kann eine ars erotica entstehen. Auch die Erörterung der Erotik läßt deutlich werden, daß die Sexualität in der psychoanalytischen Theorie völlig verzeichnet wird. So wie Liebe für sie überhaupt Regression in eine infantile Phase bedeutet, so auch das, was man » genitale Liebe « nennt. Ihr zufolge ist und bleibt auch der reife Mensch an einen infantilen Zustand gebunden, in den er in der Ekstase der Sexualität immer wieder zurückzukehren sucht – mit Erfolg. Wir finden also, schreibt Balint, die genitale Funk­ tion mit infantilem Verhalten gekoppelt. Die Konsequenz, die daraus folgt, ist unausweichlich: Was die beiden treiben, ist, sich immer wieder in eine Illusion zu stürzen, die Illusion der Rückkehr in ein Stadium der Infantilität.16 In einem prozessualen Verständnis menschlichen Daseins macht das keinen Sinn. In diesem Verständnis ist Liebe auch nicht, wofür die psychoanalytische Theorie sie sonst noch ausgibt: Verschmelzung im und mit dem anderen, Aufhebung der Trennung. Es kommt alles darauf an, dem anderen als anderer zu begegnen, um die Anbindung an die Welt zu bewältigen. Selbst im Augenblick der Entgrenzung in der Lust ist der andere im unmittelbaren Körperbewußtsein als anderer präsent. Was Sexualität für den Menschen meint, läßt sich, wie ich bei der Bestimmung der Erotik hervorgehoben habe, nur verstehen, wenn man sie den für das menschliche Dasein konstitutiven Aufgabenstellungen, insbesondere der Bewältigung eines sinnhaft geführten Lebens verbindet. Diese Verbindung kommt bei einem substanzlogischen Verständnis der menschlichen Entwicklung, in dem sich das energetische Triebpotential der Frühzeit einfach erhält und zur Regression drängt, 15 J. L. Flandrin, Das Geschlechtsleben der Eheleute, S. 155; siehe auch Ph. Ariès, Liebe in der Ehe, S. 169. 16 M. Balint, On Genital Love, S. 34 ff. (37).

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erst gar nicht in den Blick. Liebe, das kann nicht nachdrücklich genug betont werden, zielt gerade nicht darauf ab, wiederherzustellen, was unwiederbringlich verloren ist; und wenn sie es tut, ist sie pathologisch. Worauf sie aus ist, ist gerade, die Bedürftigkeit eines Lebens zu bewältigen, dessen Anforderungen sich in dieser Form erst im Erwachsenendasein ausgebildet haben.

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Macht – Aggressivität – Gewalt

Ich habe mehrfach schon das Moment der Macht hervorgehoben, das im Geschlechterverhältnis enthalten ist. Liebe selbst haben wir über Macht und Gewaltsamkeit bestimmt gesehen. Die Form der Macht, um die es mir dabei zu tun ist, ist allerdings eine andere, als in der Literatur gemeint ist, wenn Liebe und Macht verbunden werden. Es ist eine Macht, die bindet und sich binden läßt, und die, soweit Liebe sie bestimmt, gerade nicht auf Unterwerfung aus ist. Ganz anders geartet ist die Macht, die Freud als Bodensatz des Geschlechterverhältnisses angesehen hat.17 Für Freud ist die mit der Liebe verbundene Macht Ausdruck einer dem Todes­ trieb verbundenen Aggressivität. Eros und Todestrieb ringen in der Kultur miteinander, mit der Folge, daß die erotischen Beziehungen durch und durch von Aggressivität durchsetzt sind. Bataille, der Freuds Lehre für seine Theorie der Erotik nutzbar gemacht hat, konnte, wie wir gesehen haben, geradezu von einer Gewalt gegen den anderen sprechen, die dessen Wesensverletzung, den Tod gar, wolle. Schon dabei ist uns aufgefallen, daß Gewalt explizit Gewalt gegen die Frau meint, der nachgesagt wird, selbst ohne Gewalt und passiv zu lieben. Freuds Theorie ist, wie wir noch erörtern werden, triebtheoretisch angelegt. Der Enkultura­ tionsprozeß und mit ihm das Verhältnis der Geschlechter kann aber gerade nicht triebtheoretisch erklärt werden. Freud kommt der Begründung des Geschlechterverhältnisses in der Untersuchung über » Das Unbehagen in der Kultur « ein einziges Mal in einer Bemerkung nahe, deren Konsequenz er allerdings übersehen hat. Im gleichen Atemzug, in dem er noch einmal nachdrücklich die Aggressivität als » Bodensatz aller zärtlichen und Liebesbeziehungen unter den Menschen « hervorhebt, fährt er fort: » Vielleicht mit alleiniger Ausnahme der einer Mutter zu ihrem männlichen Kind. «18 Wir wissen, daß aus eben dieser Beziehung der Mutter zu ihrem Kind, und nicht nur zu ihrem männlichen, sich das Bedürfnis und die Fähigkeit zu lieben entwickeln.

17 Vgl. zum folgenden S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Werke, Bd. XIV, S.  458 ff., 478 ff. 18 S. Freud, ebd., S. 473.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (III): Körper und Geist in der Erotik

Wenn wir der Freudschen triebtheoretischen Grundlegung der Aggression für das Geschlechterverhältnis nicht folgen, so auch nicht einer ihrer gegenwärtigen Versionen, derzufolge Aggressivität immer und überall das Geschlechterverhältnis bestimmt, weil die traumatischen Verletzungen, die jeder in der Kindheit erfahren hat, sich in einer Art Wiederholungszwang in den Wunsch umsetzen, die gleichen Verletzungen nun dem anderen zuzufügen. Dieser These zufolge ist Liebe so sehr von Aggressivität bestimmt, daß die Erwartungen von Partnerschaftlichkeit, Verständnisbereitschaft, Solidarität zu Ideologie und Betrug werden, Kunstprodukt der Abspaltung von der Aggressivität.19 Eigentlich, so sollte man demnach meinen, gäbe es das gar nicht, was wir Liebe nennen. Das scheint in der Tat die Quintessenz vieler Erfahrungen in der Gegenwart zu sein. Die Schwierigkeit, Liebe zu realisieren, wenn die Identitäten flottieren und die Kommunikation keine Gegenlage an einer verbindlichen Welt findet, läßt letztere scheitern. Wo aber Kommunikation scheitert, droht Macht in Unterwerfung und verletzende Gewalt überzugehen. Daß es im Verhältnis der Geschlechter Unterwerfung und Gewalt in reichem Maße gibt, ist keine Frage. Es ist aber sehr wohl die Frage, ob sie notwendig zur Liebe dazugehören. Macht ist in der Tat ein normaler Bestandteil des Geschlechterverhältnisses; sie ist für jede Form von Sozialität konstitutiv. Aggressivität, die auf Unterwerfung aus ist und in verletzende Gewalt übergeht, ist es nicht. Um zu verstehen, welche Rolle Macht und Gewalt im Verhältnis der Geschlechter spielen, muß man sie sorgsam auf ihre Quellen befragen. Andernfalls droht man der Gedankenlosigkeit zu verfallen, den schieren Umstand, daß sie sich tatsächlich im Geschlechterverhältnis vorfinden, für letzteres konstitutiv sein zu lassen und der Liebe selbst zuzuschreiben. Wir müssen zur Klärung der Verhältnisse etwas weiter ausholen. Dabei geht es nicht darum, einen idealen Begriff der Liebe zu finden, vielmehr zu klären, in welcher Weise Macht in sie eingelassen ist.

4.1

Sorge und Macht

Der Mensch sieht sich als Konsequenz seiner anthropologischen Verfassung genötigt, für sich selbst zu sorgen. Was immer er an Bedürfnissen entwickelt, er muß sie ins Handeln überführen und Sorge tragen, daß sie befriedigt werden.20 Immer muß deshalb der, der eine soziale Beziehung eingeht und in ihr zu leben sucht, sich einbringen in diese Beziehung, seine Bedürfnisse anmelden und als Interessen zu erkennen geben. Er muß sie auch durchzusetzen versuchen. Dazu bedarf es

19 E. Schorsch, Sexualität und Gewalt, S. 108. 20 Ausführlicher G. Dux, Die Spur der Macht, S. 71 ff.

Macht – Aggressivität – Gewalt 91

des Einsatzes der Macht. Das gilt auch für die intime Beziehung der Geschlechter. Wir haben oben das Moment der Eigenliebe in ihr hervorgekehrt. In intakten sozialen Beziehungen braucht diese Macht normalerweise nicht ausgereizt zu werden. Ego antizipiert die Lebenslage alters; er weiß um dessen Bedürfnisse und Interessen; er weiß auch, daß ihre Anerkennung die Bedingung der Kommunikation ist. Er kennt mithin auch das Machtpotential alters: die Verweigerung der Kommunikation. Überdies ist in intimen Beziehungen jeder auch moralisch gebunden. Prinzipiell jedoch gilt, daß jede soziale Beziehung auf Macht hin angelegt ist und über Machtpotentiale prozessiert wird. In jeder stößt die Macht des einen auf die Gegenmacht des anderen. Auch in der Beziehung der Geschlechter muß Macht balanciert werden. Auch in ihr ist es deshalb unabdingbar, Interessen anzumelden und auf ihre Befriedigung zu insistieren. Anders verkommt die Beziehung. In der Beziehung der Geschlechter geht es nicht um irgendein partiales Bedürfnis, das nur sozial zu befriedigen wäre, nicht einmal um ein so imperativisches wie das der Sexualität. Es geht um weit mehr: um das Lebbarmachen der eigenen Existenz in der Welt. Jeder bringt in einem buchstäblichen Sinn sich selbst ein. Das Leben ist vergleichsweise offen, bevor man den einen trifft. Wen man trifft, ist kontingent. Die Möglichkeitsform des Daseins setzt jeden instand, mehr Menschen als nur den einen zu lieben. Sobald man aber begonnen hat zu lieben, ist das eigene Dasein fixiert. Verständlich also, daß der Liebende den anderen für sich will. So jedenfalls ist es durch die Geschichte hin bekundet. Die gleiche selbsti­sche Leidenschaft wird auch in der Gegenwart wieder und wieder bekundet – von Frauen und Männern gleicherweise.21 Daran muß man sich halten. Das Verlangen, den anderen an sich zu binden, ist nicht preisgebbar, so­lange zur Liebe gehört, die eigene Identität erst im anderen Gestalt gewinnen zu lassen. Es ist, auch das bekundet einer der Informanten von Monica Tornow, ein Ausdruck der Selbstbehauptung. Sie wird schwierig, wenn Identität nicht mehr der feste Kern ist, der Charakter, der sich seiner sicher ist. Die Romantiker haben für die Verhältnisse, wie sie sich in der Neuzeit entwickeln, einen Begriff geprägt, der sich erhalten hat, weil er ungeachtet seiner metaphysischen Konnotationen die Lebenslage des neuzeitlichen Subjekts wiedergibt: den des Schwebens.22 Was und wer das Subjekt ist, bleibt in der Schwebe, und also bleibt es auch ein Lieben, das sich im anderen zu finden sucht. Die Macht, mit der jeder sich in das Verhältnis einzubringen sucht, wird dadurch nicht geringer; sie ist beidseitig. Nur muß auch

21 Vgl. M. Tornow, Was fällt Dir bei dem Begriff Liebe ein ?, S. 93. 22 Zur Bedeutung, die der Begriff seither gewonnen hat, vgl. W. Schulz, Metaphysik des Schwebens.

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die Bindung in der Schwebe gehalten werden. Überhaupt freigeben kann niemand den anderen, ohne sich selbst zu verabschieden.

4.2

Die Verletzbarkeit

Liebende, die ihr Leben aneinanderkoppeln, bringen in die Vereinigung das stärkste Machtpotential ein, über das sie verfügen: die Unentbehrlichkeit für den anderen. Macht setzt sich gegen Macht; umstandslos vermag sich keiner in seiner eigenen Identität dem anderen zu verbinden. Die Antizipation des Selbst im anderen bricht sich immer auch an dessen realer Identität. Das alles kann mehr oder weniger dramatisch verlaufen. Auf Unterwerfung zielt diese Auseinandersetzung nicht, schon gar nicht darauf zu verletzen oder zu töten, Konnotationen, die mit der Aggressivität ab origine verbunden sind. Aggressivität, die verletzt, ist im Lieben ein pathologisches Moment, allerdings eines, das nahezu zwangsläufig wieder und wieder entstehen muß. Dafür gibt es mehr als einen Grund. Es gibt frühkindliche Verletzungen, die es für den, der sie erlitten hat, schwer machen, anderen nicht aggressiv zu begegnen. Sie tragen auch in die Verbindung der Geschlechter ein Moment von Aggressivität und stehen dem entgegen, was eigentlich in dieser Verbindung gesucht wird; sie sind verquer, wie das frühkindliche Leiden verquer war zur Bindung an die, von denen es zugefügt wurde. Berechtigt das dazu, anzunehmen, frühkindliche Verletzungen ließen notwendig Wunden zurück, die in der Aggressivität gegen den anderen zu heilen gesucht würden, also die Pathologie zum Normalfall zu stilisieren und den Liebesakt als Revanche zu inszenieren ?23 Diese Annahme ist nur berechtigt, wenn man, wie die psychoanalytische Theorie, auch den Entwicklungsprozeß substanzlogisch versteht: In ihm hält sich das, was sich bildet, unverändert durch und bestimmt alle fernere Zukunft. Dann gibt es in der Tat nur die ewige Wiederkehr. Verletzungen erfährt jeder; sie wachsen sich auch nicht einfach aus; das organologische Muster wäre ganz verfehlt. Prozeßlogisch gesehen lassen sich jedoch Erfahrungen machen, die ihnen entgegenwirken. Damit jedoch ist der Sachverhalt, daß es diese Verletzungen gibt und daß sie die Fähigkeit zu lieben inhibieren können, nicht aus der Welt. Niemand vermag zu sagen, wie weit frühkindliche Verletzungen als Störfaktor in der Beziehung der Geschlechter wirksam sind. Idyllische Verhältnisse sind nicht zu erwarten. Kommunikation über Individuelles ist eine Ausnahmesituation. Sie tritt dadurch nicht kraß hervor, daß sich ego in der Hinwendung zu alter erst in seiner Möglichkeitsform realisiert. Es ist jedoch unvermeidlich, daß Menschen Bindun23 J. R. Stoller, Sexual Excitement, S. 899 ff.

Macht – Aggressivität – Gewalt 93

gen miteinander eingehen, in denen nur in engen Grenzen Verständnis des anderen möglich und Akzeptanz erreichbar ist. Grenzen des Verständnisses müssen sich äußern, Grenzen der Akzeptanz und Grenzen der Kommunikabilität der inneren Natur ebenfalls. Insofern aber, als sich jeder vorbehaltlos in seiner inneren Natur einbringt, gibt es nicht nur eine äußerste Sensibilität in den Beziehungen der Geschlechter für Abweisungen, sie radikalisieren sich auch in der Bedeutung, die jeder ihnen angesichts der Totalität, mit der er sich eingebracht hat, beilegt. » Wenn der Partner eine Nähe zu mir ablehnt «, erklärt eine Informantin von Monica Tornow, » hat das etwas Destruktives und auch etwas von töten. «24 Macht droht unter diesen Bedingungen in Aggressivität umzuschlagen und geht in Unterwerfung über. Wir werden deshalb erwarten, im realen Verhältnis der Geschlechter allerwärts mehr oder weniger gelungene Beziehungen vorzufinden. Was Liebe will, ist auch in ihnen deutlich auszumachen. Wer nicht mit der Meßlatte eines normativen Ideals an die Verhältnisse herantritt, hat keinen Grund, sie in ihnen zu übersehen.

4.3

Das Erbe der Geschichte

Über Macht und Aggressivität im Verhältnis der Geschlechter als Normaltatbestand läßt sich fast nichts sagen, ohne die Gemüter aufzubringen. In einer Hinsicht hoffe ich, die Verhältnisse geklärt zu haben. Nicht nur wird die Beziehung der Geschlechter wie alle sozialen Beziehungen von Macht bestimmt, sie integriert Macht in einer Weise, die sie zu ihrem Definiens werden läßt: Liebe heißt, so haben wir gesagt, sich von der schieren Existenz des anderen überwältigen zu lassen. Auch wenn das Überwältigtsein als Gewalt erfahren wird, wird man in ihm allein nicht die für das Geschlechterverhältnis bestimmende Form der Macht sehen wollen. Entscheidend ist, daß diese Form der Überwältigung dazu führt, das eigene Leben dem des anderen anzukoppeln und dadurch zu dessen Schicksal werden zu lassen. Das ist höchst real: Wo immer die Koppelung hergestellt ist, wird das Leben des einen in seiner ganzen Schwere und Widersetzlichkeit dem anderen aufgebürdet. Die Passion, die wir oben als Ausdruck einer Geschichte verstanden haben, die im anderen den Möglichkeitshorizont des eigenen Lebens findet, sucht eben deshalb den anderen auch an das eigene Leben zu binden. Gleichwohl ist diese Macht, so zupackend sie ist, eine andere als die, die verletzt, verletzen will und auf Unterwerfung aus ist. Diese Macht bindet und sucht zu binden, aber sie läßt sich auch binden.

24 M. Tornow, Was fällt Dir bei dem Wort Liebe ein, S. 98.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (III): Körper und Geist in der Erotik

Macht als Organisationsform sozialer Beziehungen ist dennoch ein risikoreiches Instrument. Ihre Selbstbindung reicht nicht hin, um sie zu zähmen; sie bedarf der Gegenmacht des anderen. Machtpotentiale sind aber selten so verteilt, daß sie sich völlig ausbalancieren. Wir werden deshalb gewärtig sein, allerwärts Ungleichgewichtigkeiten im Verhältnis der Geschlechter zu finden. Wenn Differenzen in den Machtpotentialen massiv werden, droht die Macht und mit ihr das Verhältnis der Geschlechter selbst zu entgleisen. Was mit der Liebe gesucht wird, ist eines, was aus ihr unter den anderen Bedingungen des Lebens wird, ein anderes. Am nachhaltigsten wird das Verständnis der Macht im Verhältnis der Geschlechter durch die hinter uns liegende Geschichte bestimmt. In ihr hat der Aufbau der Gesellschaft jenseits der familialen Bindungen der Geschlechter dem Mann ein größeres Machtpotential verschafft und ihn in Führung gehen lassen. Diese Machtposition ist auf das Verhältnis der Geschlechter zurückgeschlagen und hat in aller Regel zur Unterwerfung der Frau geführt. Da die Bewegung in der Geschichte durch einen Zuwachs an Organisationskompetenz herbeigeführt wurde, nahm die Unterwerfung der Frau in ihr zu. Wenn man nicht zu differenzieren versteht zwischen dem, was in jeder Biographie sich als Bedürfnis und als Poten­ tial zu lieben ausbildet, und dem, was eine Gesellschaft an Rea­lisierungschancen für Bedürfnisse bereithält, wenn man m. a. W. unbesehen die Zwänge der gesellschaftlichen Verhältnisse mit den Möglichkeiten und Qualitäten des Daseins gleichsetzt, die das Individuum entwickelt und zu realisieren sucht, stellt sich das Geschlechterverhältnis der Vergangenheit so sehr als von einer auf Unterwerfung angelegten Macht durchsetzt dar, daß man meinen könnte, Liebe habe es in aller Vergangenheit gar nicht gegeben. Mit den industriellen Gesellschaften haben sich Organisationsstrukturen der Gesellschaft entwickelt, die es nicht länger unabdingbar sein lassen, daß dem Manne ein Übergewicht im Machtpotential zuwächst. In ihnen haben sich grundlegend neue Verhältnisse ausgebildet. Die Traditionsbestände wirken nach, keine Frage; aber sie erodieren. Die Neugestaltung des Geschlechterverhältnisses geschieht unter einem grundlegend anderen Verhältnis von Subjekt und Welt. Macht wird dadurch nicht eliminiert, aber die Möglichkeiten, sie in Unterwerfung umzusetzen, sind institutionell begrenzter.

Kapitel 5 Theorie der Geschlechterbeziehung (IV): Die Zeit in der Liebe

1

Der Befund

Liebende sind darauf aus, sich zu binden – ein riskanter Satz, zugegeben. Aber ich lasse ihn einmal stehen in der Annahme, daß er sich mit einigen » Wenn und Aber « behaupten läßt.1 Es gibt gesellschaftliche und historische Faktoren, die einer Bindung im Verhältnis der Geschlechter entgegenwirken können. In der Vergangenheit gab es solche Verhältnisse zum Beispiel als Sklaverei2 oder als Heiratsverbote für untere Schichten. In der Gegenwart ist nur schwer auszumachen, wer sich wem verbindet; die Identität ist unsicher geworden. Das läßt die Bindung prekär werden. Das Bedürfnis bleibt jedoch erhalten: Liebende sind darauf aus, sich zu binden. Die erstrebte Dauer der Bindung geht mit dem Bedürfnis nach Ausschließlichkeit der Beziehung einher. So berichtet Malinowski von einem Gespräch Liebender bei den Trobriandern nach dem Akt der Umarmung, das ihm ein Gewährsmann anvertraut hat. Danach fragt sie: » Bin ich deine Liebste ? « und er antwortet: » Ja, du bist meine Liebste; ich liebe dich sehr; immer, immer werden wir uns vereinigen. Ich habe dein Gesicht sehr lieb; es ist das Gesicht einer Kreuz-Base « (der rechten Frau für ihn (B. M.)). » Ich will nicht, daß du eine andere Frau nimmst; nur du und ich. «3

1 2 3

Die Zähmung der Liebe in das traditionale Muster der Heirat ist eines ihrer Geheimnisse, sagt J. Sarsby, Romantic Love, S. 6. S. F. Hartley, Illegitimacy in Jamaica, S. 380 ff. B. Malinowski, Das Geschlechtsleben der Wilden, S. 283.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_6

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96

Theorie der Geschlechterbeziehung (IV): Die Zeit in der Liebe

Das Verlangen, sich in der Umarmung des anderen zu versichern, ist uns vertraut. Man trifft es in allen Gesellschaften, gleich auf welchem Entwicklungsniveau.4 Es nimmt deshalb nicht wunder, daß die Ausschließlichkeit nicht selten in eine definitorische Bestimmung, was Liebe ist, eingeht. So stellt I. Dilman fest: » Sexuelle Liebe ist exklusiv. Der Liebende sucht nicht nur Kontakt mit dem Geliebten, körperlichen Kontakt eingeschlossen; ihn verlangt nicht nur danach, wiedergeliebt zu werden, er wünscht dies als ausschließliches Privileg, als etwas, das ihm vom Geliebten bereitwillig zuerkannt wird … Das heißt, sexuelle Liebe will nicht, daß der Geliebte diese Beziehung mit irgend jemand sonst hat; sie ist gegenüber solcher Möglichkeit intolerant. «5

Auch für das Bedürfnis nach Ausschließlichkeit gilt, daß es sozial durchkreuzt werden kann. Die vielen Gesellschaften, in denen entweder polygyne Verbindungen in fester Form erlaubt sind oder in denen sich nur begrenzt feste Beziehungen zu einem Partner ausbilden können, wie bei den Nayar,6 stellen das Verlangen nach Ausschließlichkeit gleichwohl nicht in Frage. Wir verstehen es ja nicht als eine substantielle Anlage, die sich überall Geltung verschafft, sondern als ein Begehren, das sich im Verhältnis der Geschlechter wieder und wieder eingestellt hat, unabhängig davon, ob es sich auch hat gesellschaftlich institutionalisieren lassen. Das Begehren kann auch aus anderen Gründen überspielt werden. Das gilt für jene partnerschaftlichen Beziehungen der Gegenwart, in denen die Beteiligten meinen, auf sexuelle Ausschließlichkeit verzichten zu müssen.7 Sie sind weniger geworden als noch vor zwei Jahrzehnten und eher Ausdruck des Versuchs, die gegenwärtigen Hindernisse im Verhältnis der Geschlechter strategisch zu bewältigen, denn Ausdruck einer veränderten Bedürfnislage. Schließlich sei ausdrücklich eingeräumt, daß nicht jede Liebe in eine Dauer, schon gar nicht in eine institutionalisierte Form der Dauer überführt werden muß. Es gibt, vor allem in der Gegenwart, Gründe, die institutionalisierte Form nicht zu wollen. Nur dies also soll gesagt sein: Wieder und wieder hat sich für Liebende dieses Verlangen eingestellt. Was also, das ist die Frage, ist der Grund, der das Verhältnis der Geschlechter auf Dauer angelegt sein und für die Sexualität auf Ausschließlichkeit drängen läßt ?

4 Vgl. für die Achuara-Jivaro E. Mader/R. Gippelhauser, Deine Gedanken sind gefangen in meiner Liebe, S. 218; M. Tornow, Was fällt Dir bei dem Wort Liebe ein ?, S. 93. 5 I. Dilman, Love and Human Separateness, S. 84. 6 Vgl. zu den Nayar E. K. Gough, Female Initiation Rites, S. 45 ff. 7 Vgl. A. Leupold, Liebe und Partnerschaft, S. 300 f.

Der Grund der Dauer 97

2

Der Grund der Dauer

Es gibt eine überaus einfache Antwort auf unsere Frage: Die Bedürfnisse, die die Geschlechter überhaupt ein Verhältnis eingehen lassen, sind ihrerseits dauerhafte Bedürfnisse. Die Reorganisation der Intimität ist ein dauerhaftes Bedürfnis; Intimität ist in promisken Praxen so flüchtig wie die Praxis selbst. Vor allem aber ist die Anforderung, das Leben sinnhaft führen und sich dabei der Welt erst versichern und verbinden zu müssen, konstitutionell. Denn diese Anforderung resultiert, wie wir gesehen haben, aus einer Schwierigkeit, die ihrerseits konstitutionell begründet ist: die Sinnfreiheit des Lebens der Sinnhaftigkeit vermitteln zu müssen. Die Notwendigkeit der Vermittlung ist um so stärker für ein Subjekt, das sich als individuelles gebildet hat, als solches verstanden sein und der Welt angebunden werden will. Die Versicherung eines bedeutungsvollen Daseins verlangt die Kommunikation über Individuelles, und die ist an den anderen gebunden. Das Verlangen ist so dauerhaft wie das Subjekt selbst. Eben deshalb sucht sie im anderen auch die Dauer der Antwort. Die Koppelung der Leben enthält in der Dauer ein Akzept auf die Identität des anderen oder doch, wo die Identitäten flottieren, auf dessen Lebensführung. Das ist in promisken Praxen nicht zu haben. Liebe läßt sich nicht an den Augenblick, nicht einmal an den Vorbehalt der Zeit binden. Wer sagen wollte, ich liebe dich, aber nur jetzt, liebte nicht. Man kann wissen, daß jede dritte Ehe geschieden wird, man kann mit einiger Skepsis auf sich oder den anderen sehen, weil man die Schwierigkeiten kennt, die jeder mit dem Zusammenleben hat; man kann akzeptieren, daß es aller Voraussicht nach auf Zeit sein wird. Das ändert nichts daran, daß jetzt dies gemeint sein muß: auf unabsehbare Zeit. Andernfalls muß man es bleibenlassen. Wie sehr selbst in gewollt freischwebenden Beziehungen dieses Moment der Dauer und, verbunden mit ihr, die Häuslichkeit des Privaten involviert ist, läßt sich aus dem Bericht einer gestandenen Frau unserer Tage entnehmen. Eigentlich, so erklärt sie, hätten sie und ihre Freundin ein Verlangen nach Chaos und Unverantwortlichkeit. Deshalb, so ihre Einlassung, fühlten sie sich von schwarzen Männern angezogen, die ihnen als dämonische Naturen erschienen. Was sie suchten, sei » ein Leben auf des Messers Schneide «. Dabei allerdings spiele ihnen » ihre Natur « ständig einen Streich. Denn, so gesteht unsere Gewährsfrau, sobald sie sich mit solchen Männern einließen, versuchten sie, » mit ihnen in ein häusliches Verhältnis zu kommen. «8 Der Dauer der Intimität kommt das Moment der Lust in der Sexualität entgegen. Alle Lust will Ewigkeit, so hören wir von Nietzsche. Trivialisieren wir die Aussage nicht. Die Ewigkeit ist die Ewigkeit der Lust, nicht der Ehe. Sie ist die Zeit­ 8

U. West, If Love is the Answer, S. 20.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (IV): Die Zeit in der Liebe

losigkeit des Jetzt in der Umarmung, also an deren Ekstase gebunden und nicht an irgend etwas, was danach kommt. Nur, erinnern wir uns, wodurch dieser gesteigerten Unmittelbarkeit des Selbst im Jetzt der Umarmung Bedeutung zukommt: Gerade sie ist vermittelte Unmittelbarkeit, vermittelt durch den anderen. In der Unmittelbarkeit und Zeitlosigkeit der Umarmung erfährt jeder im andern eine Bestätigung. Sie ist nicht an diese oder jene Eigenschaft gebunden.9 Eigenschaften, Welt überhaupt, bleiben zurück. In der Rückkehr in Zeit und Welt ist die alte Welt neu, verändert durch die Erfahrung, die jeder mit dem anderen gemacht hat. Tatsächlich finden wir durch die Geschichte hin in allen Gesellschaften das Verhältnis der Geschlechter auf Dauer gestellt. Selbst in den Gesellschaften, in denen die Familienform aus Gründen, die wir nur vermuten, aber nicht rekonstruieren können, eine ungewöhnliche Entwicklung genommen hat, wie bei den Nayars, weisen die Beziehungen der Frau zu mehreren Männern ein Moment der Dauer auf. Die Beziehung zu ihrem rituellen Ehemann gilt für Lebzeiten, die zu den anderen auf Zeit, aber ohne schlechtweg promisk zu werden. Wir kennen in der Sozialwelt nur wenige universale Formen der Organisation. Die auf Dauer angelegte Lebensgemeinschaft der Geschlechter ist eine von ihnen; und was sonst noch an universalen Formen auf‌fi ndbar ist, ist überwiegend eng mit ihrer institutionellen Form, der familialen, verbunden. Auffällig ist, daß sie mit nur wenigen Ausnahmen überall für die Dauer des Lebens eingegangen wird. Die illustre Formel: » Bis daß der Tod euch scheidet «, findet sich schon in früher Zeit. Sie gilt nicht erst, wie man meinen könnte, seit in archaischen Hochkulturen die Bedeutung der Abstammungslinie und die mit ihr einhergehende mythische Vorstellung der Reinheit der Frau letztere unlösbar in die Ehe eingebunden hat. Wir wissen aus archaischen und feudalen Gesellschaften wenig über die Gefühle, die Eheleute einander verbinden. Männer reden schon deshalb wenig darüber, weil Bindungen auch Abhängigkeiten thematisieren; und die vertragen sich schlecht mit dem patriarchalischen Selbstbild. Überdies rückt in agrarischen Gesellschaften das Bewußtsein der Fortsetzung des Geschlechterverbandes in den Vordergrund des Interesses. Es gibt jedoch eindrucksvolle Zeugnisse der Vergangenheit, in denen die Bedeutsamkeit der Dauer ihren Ausdruck gefunden hat. Sie zeigen, daß die Dauer zur Aura des Sakralen gehört, die das Geschlechterverhältnis umgibt. Peter von Matt hat auf die etruskischen Sarkophage hingewiesen, auf deren Deckeln Frau und Mann nach einem gemeinsamen Menschenleben nebeneinanderliegen, den Kopf aufgestützt, entspannt, unverkennbar vergnügt und gemeinsam wartend – man weiß nicht worauf. Peter von Matt fügt hinzu: » Man 9

Selbstredend spielen Eigenschaften des anderen im Verhältnis der Geschlechter eine Rolle; nur – sie bleiben, solange Liebe das Verhältnis bestimmt, auch immer wieder zurück in ihrer Bedeutung. Vgl. R. Brown, Analyzing Love, S. 14 ff.

Der Grund der Ausschließlichkeit 99

braucht es auch nicht zu wissen. « Die sakrale Aura um das Liebespaar herum ist rührend in ihrer ruhigen Utopie, sie streift jeden und wird von allen begriffen.10 In manchen der Gräber sind die Skelette der Eheleute mit Ketten aneinander gefesselt, um auch im Jüngsten Gericht nicht getrennt zu werden.11 Wir haben den Einwand zu gewärtigen, daß nicht nur gesellschaftliche Bedingungen der Dauer einer Verbindung entgegenstehen können, daß vielmehr Liebe selbst nicht notwendig auf Dauer ziele. Gewiß, man liebt mehrmals, vor allem in der Hoch-Zeit des Liebens, wenn man jung ist; man kann es jedenfalls. Auch hat man mehrere Möglichkeiten, sein Leben zu führen. Es ist gar nicht sicher, welches man schließlich zu führen bereit ist. – Als Einwand gilt immer auch der Verweis auf die ritterliche Liebe. Sie zielte auf eine außereheliche Verbindung. Gleiches wird, allerdings mit sehr viel weniger Recht, von der romantischen Liebe gesagt. Zu fragen bleibt im Blick auf beide, wieviel Gebundenheit in den ungebundenen Formen erstrebt wird. Wie immer, ein Befund sollte zu denken geben: Dort, wo die unverheiratete Liebe das Ideal ausmacht, bleibt als Regel eine auf Dauer gestellte Verbindung der Geschlechter erhalten und institutionalisiert sich in familialer Form. Dort aber, wo sich, wie auf Jamaica, aus historisch und sozial einsichtigen Gründen ein hoher Grad kurzlebiger Beziehungen zwischen den Geschlechtern (mit einem hohen Prozentsatz illegitimer Kinder) eingestellt hat, ist die Grundanschauung: » Marriage is the best. «12 Die Verhältnisse in unserer eigenen Gesellschaft gestalten sich schwieriger; nur ist, wenn wir dem zuvor zitierten Bericht von U. West folgen, der Wunsch, die Beziehung der Geschlechter einzufangen in die Häuslichkeit, auch in ihr nicht fremd.13 Woran sonst litten die Beteiligten jener Geschlechtergemeinschaften, in denen die gewollte Dauer nicht erreicht wurde.14

3

Der Grund der Ausschließlichkeit

Was ist der Grund, der Liebende in aller Geschichte dazu geführt hat, die Sexualität des anderen ausschließlich für sich zu wollen ? Denkbar ist ja, ein Verstehen auf Dauer zu begründen und gleichwohl andere sexuelle Beziehungen ein­zugehen. Tatsächlich ist das weithin der Fall; durch die Geschichte hin ist mit der dauerhaften Form der Verbindung und dem Versprechen der Ausschließlichkeit die Pra10 P. v. Matt, Liebesverrat, S. 19. 11 Vgl. Ph. Ariès, Liebe oder Ehe, S. 171. 12 S. F. Hartley, Illegitimacy in Jamaica, S. 396. 13 Vgl. auch die Untersuchung von J. Sarsby, Romantic Love. 14 Vgl. J. Sarsby, ebd., S. 99 ff.; vgl. des weiteren H. Hage, Frauen nach der Scheidung.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (IV): Die Zeit in der Liebe

xis verbunden gewesen, das sexuelle Interesse gleichwohl auch mit anderen zu befriedigen – nur eben als illegitim. Weshalb also besteht das Bedürfnis nach Ausschließlichkeit ? Die Frage, weshalb es gleichwohl zu Abweichungen kommt, werden wir ebenfalls zu beantworten haben. Die psychoanalytische Theorie hätte mit der Antwort leichtes Spiel. Da sie davon ausgeht, daß das Liebesverhältnis in der sexuellen Vereinigung eine Regression auf die frühkindliche symbiotische Phase darstellt, mithin das ozeanische Gefühl des Einsseins wieder entstehen lassen wolle, liegt die Analogie zur Ausschließlichkeit der frühen Mutterbeziehung auf der Hand: So wie jeder in der symbiotischen Phase mit der Mutter eins ist, so will er die Einheit mit dem anderen wiederhergestellt sehen. Und ebensowenig wie die Mutter auswechselbar ist, ebensowenig der andere. Ich habe schon deutlich gemacht, daß die Figur der Regression den Verhältnissen nicht gerecht wird. Das gilt auch für die sexuelle Vereinigung der Liebenden. Sie ist keine infantile Regression. Wenn für sie immer wieder die Metaphorik des Einsseins benutzt wird,15 so ist das, abgesehen davon, daß sich die Freudsche Theorie als interpretativer Code der Liebe durchgesetzt hat, eine vordergründige Beschreibung. In den frühen Gesellschaften taucht sie kaum auf.16 Selbst in der Romantik, in der sie zum Topos wird,17 meint sie etwas anderes. Darauf komme ich zurück. Mit der Ungetrenntheit der symbiotischen Beziehung hat dieses Einssein nichts gemein. Warum also dann dieser Wunsch, den anderen für sich zu wollen ? Um den Grund gewahr zu werden, braucht man sich lediglich zu vergegenwärtigen, wie der Liebende dazu kommt, zu lieben: Er entdeckt im anderen denjenigen, der die Entsprechung seiner eigenen Natur darstellt; er findet sich erst in ihm. – Literarische Stilisierungen können so weit gehen, die Eigenliebe erst durch den anderen hervorgerufen zu sehen.18 – Man kann, um es zu wiederholen, mehr Menschen lieben, als man meint; wenn man sich jedoch festgelegt hat, ist der andere der, an den das eigene Leben gebunden ist.

15 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Werke, Bd. XIV, S. 467; A. H. Maslow, Love in Healthy People, S. 67: complete fusion; vgl. auch S. 76; J. Benjamin, Die Fesseln der Liebe, S. 31. 16 A. Hermann, Altägyptische Liebesdichtung, S. 33. 17 Vgl. Fr. Schlegel, Lucinde, KA V, S. 54, 71; C. Brentano/S. Mereau, Briefwechsel, Bd. 2, S. 102. 18 Vgl. R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Ges. Werke, Bd. 3, S. 899.

Liebe in der Dauer der Geschlechtergemeinschaft 101

4

Liebe in der Dauer der Geschlechtergemeinschaft

4.1

Die Unvereinbarkeit von Liebe und ihrer institutionalisierten Dauer

Wenn man dem Urteilsspruch der Gräfin von Champagne in einem auf den 1. Mai 1174 datierten Brief folgt, so steht fest, daß » die Liebe zwischen zwei Eheleuten ihre Macht nicht entfalten kann «.19 Es gibt hehre Bestätigungen für diesen Spruch. So berichtet Peter Abaelard, seine Geliebte Héloїse habe, nachdem sie ein Kind von ihm geboren habe, ihn deshalb nicht heiraten wollen, » damit ich allein durch Liebe ihr erhalten bleibe … «20 Für die europäische Literatur, stellt Peter von Matt fest, ist die Lehre von der Unvereinbarkeit von Liebe und Ehe eine Realität.21 Seien wir genauer: Eine Realität ist sie insofern, als immer wieder ein Konflikt zwischen Liebe und Ehe dargestellt wird, sei es, daß Liebende sich durch eine Ehe gehindert sehen, ihrer Liebe Beständigkeit zu verleihen, sei es, daß Ehen ohne Liebe geschlossen und geführt werden. Dagegen ist es nicht so, daß in der Literatur Liebe und die durch sie bewirkte Eintracht zwischen Eheleuten nicht vorkämen, jedenfalls nicht im Mittelalter. » Größer war die Zahl der höfischen Romane und Erzählungen, die einen Konflikt zwischen Liebe und Ehe überhaupt nicht oder nur in Neben- und Hintergrundhandlungen kannten. «22 Uns soll das Spektakuläre der Unvereinbarkeit in der literarischen Darstellung weniger interessieren als die Frage: woher sie stammt. Insofern ist die Literatur allerdings informativ: Verwiesen wird auf die Entfremdung der Ehe durch Zweckheiraten, die zumeist ökonomischen, in entsprechenden Höhenlagen auch politischen Interessen dienten. Sie waren eine Regel in agrarischen Gesellschaften; aber auch die bürgerliche Gesellschaft ist von ihnen nicht frei. In der Literatur gilt es als ausgemacht, daß es unter solchen Bedingungen Liebe erst gar nicht habe geben können. Die Frage ist jedoch ungleich komplexer.

4.2

Die Instrumentalisierung der Geschlechtergemeinschaft

Die institutionalisierte Form des Geschlechterverhältnisses ist überall unter den Einfluß der Macht in ihrer für die Gesamtgesellschaft konstitutionellen Form geraten. Dabei sind nicht nur die Männer von Anfang an in Führung gegangen – dar19 20 21 22

J. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 530. J. Bumke, ebd., S. 531. P. v. Matt, Liebesverrat, S. 67. J. Bumke, ebd., S. 549.

102

Theorie der Geschlechterbeziehung (IV): Die Zeit in der Liebe

auf habe ich schon hingewiesen –, die Geschlechtergemeinschaft ist auch unter die Botmäßigkeit der Machtprozesse der Gesellschaft geraten. Sie wurde für deren Organisation instrumentalisiert. Das geschah allerwärts auf dem gleichen Wege: durch die Verfügung der Männer über die Frauen, genauer: durch die Verfügung der Väter über die Töchter, mit der Folge, daß die Frauen schon als Unterworfene in die Hand ihrer Ehemänner kamen. Das Schicksal der Frau, hat man gesagt, ist es, Tochter gewesen zu sein.23 Mit der Instrumentalisierung der Geschlechtergemeinschaft durch Machtprozesse der Gesellschaft hat sich im Verhältnis der Geschlechter eine Konstellation ergeben, die für das sozialwissenschaftliche Denken immer noch schwer zu erfassen ist: der Widerspruch zwischen den Bedürfnissen des Subjekts und der Struktur der Gesellschaft. Da das Subjekt sich allererst unter der Bedingung der Gesellschaft bildet, nimmt man an, daß es sich in seinen Bedürfnissen auch derart bilde, daß es mit der Gesellschaft zur Deckung komme. Denkbar scheint allenfalls, daß dieses oder jenes Bedürfnis nicht hinreichend befriedigt wird – das Bedürfnis nach Nahrung oder Wohnung etwa –; daß jedoch das Subjekt seiner inneren Natur nach strukturell Bedürfnisse entwickelt, die von der Gesellschaft ebenso strukturell durchkreuzt werden könnten, steht der Begründungslogik dieses kausativen Folgeverhältnisses von Gesellschaft und Subjekt entgegen. Wir haben oben den Bildungsprozeß des Subjekts erörtert und dabei deutlich gemacht, daß sich jene Bedürfnisse, die das Verhältnis der Geschlechter begründen, aus elementaren Verhältnissen der frühen Kindheit in der Interaktion mit den relevanten anderen entwickeln. Sie bilden sich in der Gesellschaft, aber nicht durch die Gesellschaft. Die Entwicklung der Intimität und des Verlangens nach Reorganisation der Intimität in der Adoleszenz ist ein eigensinniger Prozeß. Ob und wie sich dieses Verlangen befriedigen läßt, ist eine Frage der Organisation der Gesellschaft; und die wird über Macht bestimmt. Wenn wir den Gedanken zu Ende denken, daß sich Bedürfnisse in der Gesellschaft eben nicht schon im substanzlogischen Sinn durch die Gesellschaft bilden, dann müssen wir den Mut zur geschichtstheoretischen Konsequenz aufbringen und einräumen, daß die Gesellschaft in der Geschichte sich wie ein Gewicht auf das Verhältnis der Geschlechter gelegt und wieder und wieder die Befriedigung der Bedürfnisse, die die Geschlechter in ihm suchen, verhindert hat. Diese Entwicklung hat man im Auge, wenn man die Instrumentalisierung der Geschlechtergemeinschaft in agrarischen Gesellschaften hervorkehrt. Nur – sie hat die Bedürfnislage, aus der heraus sich das Geschlechterverhältnis bildet, und das von ihm mitgeführte Verlangen, zu lieben, nicht zu zerstören vermocht. Der Grund ist einsichtig: Die Bedürfnislage selbst bildet sich aufgrund von Entwicklungen, die 23 K. Theweleit, Objektwahl, S. 125 f.

Die Unruhe der Sexualität 103

für die Daseinsweise des Menschen konstitutiv sind: Intimität drängt auf Reorganisierung, die Sinnhaftigkeit der Lebensführung verlangt den Anschluß an die Welt, die Identität braucht die Vergewisserung durch den anderen. Auch das Bedürfnis zu lieben ist stark und erweist sich gegenüber dem Einschlag der Macht als robust. Einmal abgesehen davon, daß sich die Unterwerfung des Geschlechterverhältnisses unter die Machtprozesse der Gesellschaft sowohl in den verschiedenen Gesellschaften als auch für deren Mitglieder in unterschiedlicher Weise vollzogen hat, unter der Decke der Machtprozesse ließen sich auch in traditionalen Gesellschaften menschliche Verhältnisse bilden, in denen Liebe einen zeitgemäßen Ausdruck fand. Das ist durch die Geschichte hin aus vielen Gesellschaften berichtet worden.24

5

Die Unruhe der Sexualität

Wir haben das Junktim von Intimität und Sexualität für die Begründung des Geschlechterverhältnisses konstitutiv sein lassen; wir haben auch die prekäre Vermittlung einer sinnfreien Körperlichkeit mit einem sinnhaft geführten Leben von der Sexualität zumindest begünstigt gesehen. Die überragende Bedeutung, die demnach der Sexualität zukommt, hindert gleichwohl nicht, daß gerade sie es ist, die sich nur schlecht oder gar nicht auf Dauer einbinden lassen will. Auch wenn das Geschlechterverhältnis in allen Gesellschaften dem normativen Code zufolge auf Dauer und Ausschließlichkeit gestellt ist, tatsächlich ist in allen Gesellschaften der Ausbruch aus der Lebensgemeinschaft der Geschlechter durch sexuelle Beziehungen außerhalb ihrer häufig. Es sind vorzugsweise die Männer, die ausbrechen. Frauen wurden von ihnen überall daran zu hindern gesucht. Unbekannt ist auch ihnen weder das Verlangen noch die Tat. Wir haben ethnologische Berichte über solche Ausbrüche in den pristinen Gesellschaften der Sammler und Jäger sowie in den hortikulturellen Gesellschaften; nicht anders lauten die historischen Be­richte aus archaischer Zeit; die Verhältnisse in unserer Zeit sind bekannt. In manchen Gesellschaften sind die außerehelichen Beziehungen allgemein und häufig, in anderen stellen sie nur gelegentliche Seitensprünge dar.25

24 Vgl. die Nachweise bei G. Dux, Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter, S. 224 ff., 306 ff., 410 ff. 25 Zu den ersteren zählen, um ein Beispiel zu nennen, die Arawakan sprechenden Mehinacu, die am Xingú Fluß in Brasilien leben. Von ihnen wird berichtet, daß der sexuelle Verkehr, den ein Mann mit seiner resp. seinen Geliebten hat, etwa vier- bis fünfmal häufiger ist als der mit seiner Ehefrau. Vgl. Th. Gregor, Privacy and Extra-Marital Affairs in a Tropical Forest, S. 242 ff.

104

Theorie der Geschlechterbeziehung (IV): Die Zeit in der Liebe

Geht man dem Grund der offensichtlichen Schwierigkeit nach, Sexualität auf Dauer in die Geschlechtergemeinschaft einzubinden, stößt man in der wissenschaftlichen Literatur als erstes auf deren Triebnatur. In der Vergangenheit hat Sexualität immer als etwas gegolten, das unter Kontrolle gebracht werden mußte, weil ihre Triebdynamik als für jede Sozialität bedrohlich erachtet wurde. Freud hat in dieser Kontrollfunktion eine der Hauptaufgaben der Kultur gesehen; auch die Einschränkungen des Sexuallebens dienen, folgt man Freud, dem Ziel, die Aggression unter Kontrolle zu halten.26 Dieser These zufolge müßten wir annehmen, daß sich in den Ausbrüchen die ursprüngliche Triebdynamik wieder herstellte. Die Erklärung läuft jedoch leer. Der bloße Trieb könnte ja gerade in der Ehe seine Abfuhr finden, bequemer und ohne Aufwand. Auch der Einwand, seine Verbindung mit dem Aggressionstrieb suche sich ein Außenobjekt, an dem letzterer leichter zu befriedigen sei, verschlägt nicht. Das Eigentümliche an der fremdgehenden Sexualität ist gerade, daß sie in den meisten Ausbruchsversuchen erneut Intimität für sich zu integrieren sucht. Auch für die Sexualität außerhalb der auf Dauer und Ausschließlichkeit angelegten Lebensgemeinschaft der Geschlechter gilt, daß sie für sich allein – ohne Intimität – selten angetroffen wird. Das ist es gerade, was Ausbrüche für den anderen bedrohlich erscheinen lassen und was für die bestehende Verbindung desintegrierend wirkt. Wenn man nach den Gründen sucht, die Sexualität nur schwer integrierbar sein lassen, muß man auch für die fremdgehende Sexualität deren Junktim mit der Intimität ins Auge fassen und ebenso das Bedürfnis, die sinnfreie Sphäre der Körperlichkeit mit der sinnhaften Weise, das Leben zu führen, zu vermitteln. Was also bewirkt die Unruhe der Sexualität ? Mit der Bindung an den anderen wird die innere Natur egos auf eine Lebensform festgelegt, auf die er sich verpflichten lassen will, mehr noch, die er gesucht hat, ohne daß er sie je ohne den anderen hätte finden können. In unserer Zeit, in der eine verpflichtende Welt fehlt, gewinnt die wechselseitige Bestimmung von Subjekt und Welt noch eine gesteigerte Bedeutung. Da das Subjekt nicht schon im vorhinein auf eine Welt intrinsisch verpflichtet ist, soll durch die Bindung an den anderen mit der Fixierung der eigenen Identität auch die Welt allererst fixiert werden. Als eine vom anderen bestätigte Welt vermittelt sie den Zugang zum Universum, sie ist, um noch einmal eine Informantin von Monica Tornow zu zitieren » so etwas wie eine Universumserfahrung. «27 Mit der Bindung an den anderen und der Erfahrung, durch ihn Zugang zum Universum gefunden zu haben, stellt sich ein widersprüchlicher Effekt ein: In jeder dauerhaften Lebensgemeinschaft realisieren die, die sie eingehen, eine bis dahin offene Möglichkeitsform ihres Daseins, die mit der Realisierung indikativisch 26 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Werke, Bd. XIV, S. 456 ff. (471). 27 M. Tornow, Was fällt Dir bei dem Wort Liebe ein ?, S. 102.

Die Unruhe der Sexualität 105

wird. Sie engt ein. Musil hat diesen Effekt in der schon zitierten Erzählung » Die Vollendung der Liebe « reflektiert: » Und mit einemmal fiel ihr ein, daß auch sie – genauso wie all dies – in sich gefangen und auf einen Platz gebunden dahinlebte, in einer bestimmten Stadt, in einem Hause darin, einer Wohnung und einem Gefühl von sich, durch Jahre auf diesem winzigen Platz, und da war ihr, als ob auch ihr Glück, wenn sie einen Augenblick stehenbliebe und wartete, wie solch ein Haufen grölender Dinge davonziehen könnte. «28

Jede Begegnung erinnert daran, daß die eigene indikativische Lebensführung eine ist, die sich vor dem Hintergrund einer offenen Möglichkeit ausgebildet hat. Auch wenn für jedes Subjekt gilt: So mußt du sein, – die Offenheit bleibt ihm erhalten. Die Begegnung mit einem Dritten läßt die Differenz zwischen der offenen Möglichkeit und der Wirklichkeit, zu der man sich bestimmt hat, erfahren und virulent werden. Das gilt gerade im Hinblick auf die Fixierung des Daseins, die man in der Verbindung mit dem anderen eingegangen ist. Der Dritte läßt gegenwärtig werden, daß man in einer anderen Geschlechterbeziehung auch ein anderer wäre. In industriellen Gesellschaften, in denen Identitäten in der Schwebe bleiben, bleiben auch die Bindungen in der Schwebe, die man eingegangen ist, ohne deshalb aufzuhören, Bindungen zu sein. Der fremde andere, der einem begegnet, verkörpert den Reiz der Unruhe; sie hat eine Affinität zur Geistigkeit des Daseins. Denn auch die sucht des Universums in seiner Vielfältigkeit teilhaftig zu werden. Es nimmt nicht wunder, daß sich die von der Möglichkeitsform des Daseins bestimmte Unruhe in besonderer Weise in der Begegnung der Geschlechter realisiert. Denn in ihr ist immer schon eine andere Dimension im Zugang zur Welt mit im Spiel, eben die, die am anderen Geschlecht haftet. Sollen wir sagen, daß das andere Geschlecht sich als eine zum eigenen Geschlecht komplementäre und insofern ihm zugehörige Möglichkeit darstellt, wobei die Möglichkeit gerade nicht die Möglichkeit der eigenen Wirklichkeit ist, eine Möglichkeit, die man erfahren, aber nicht selbst realisieren kann ? Diese Erfahrung könnte als neuzeitliche Übersetzung des von Aristophanes im » Symposion « erzählten Mythos gelten, wonach jedes Geschlecht nur die getrennte Seite des anderen darstellt.29 Auch die Romantik wollte in der Erfahrung oder gar Aneignung der besonderen Weise des anderen Geschlechts, zu lieben, die Vollendung der Menschheit sehen.30 Nur wäre es, da das eigene Geschlecht definitiv ist, eine Vollendung, die im Unendlichen liegt, also nicht zu erreichen ist. Im Leben jedes einzelnen stellt sie sich als die immer 28 R. Musil, Die Vollendung der Liebe, Ges. Werke 6, S. 166. 29 Platon, Symposion, S. 189 – ​193. 30 F. Schlegel, Lucinde, KA V, S. 13, 21 f.

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Theorie der Geschlechterbeziehung (IV): Die Zeit in der Liebe

unabgeschlossene Möglichkeit, ein anderer zu sein, dar. Es bedarf, darauf will ich hinaus, in der Begegnung mit einem Dritten des anderen Geschlechts nicht viel, um die Möglichkeitsdimension, auf die hin das eigene Dasein ausgelegt ist, virulent werden zu lassen. Jeder andere des anderen Geschlechts verkörpert eine Daseinsform, die schon durch die Gegengeschlechtlichkeit den Reiz des anderen hat. In der Vereinigung der Geschlechter besteht die Chance, diese stimulierende Dimension des anderen einzuholen in die Erlebnisdimension der Körperlichkeit. In den gegenwärtigen Diskussionen partnerschaftlicher Beziehungen bestimmt diese offene Erlebnisdimension die Wunschvorstellung der Beziehungsregulierung. Es scheint, daß die Sexualität jetzt vollends unter die Botmäßigkeit der Geistigkeit geraten ist.31 Unsere Überlegungen lassen auch die andere Seite der Möglichkeitsdimen­sion im Fremden sichtbar werden, jene, die sich im Handumdrehen trivialisiert und zu dem wird, was sie in aller Regel ist und war: eben fremdgehen. Da der Dritte den Reiz des anderen schon durch seine Gegengeschlechtlichkeit ausstrahlt, fehlt nicht viel, um sie auch ausreichen zu lassen. Soziologen mögen dann wie im Vorstehenden philosophieren, daß in aller Trivialität gleichwohl etwas von der Sehnsucht übrigbleibt, die entsteht, wenn eine Lebensform auf die Kategorie der Möglichkeit gespannt ist.

6

Das Altern der Liebe

Unsere Überlegungen zur Zeit in der Liebe und ihrer Überführung in die Dauer der Lebensgemeinschaft der Geschlechter lassen sich durch eine Betrachtung der Praxis solcher Lebensgemeinschaften bestätigen. Lieben altern in ihnen. Sie verlieren die Vitalität der frühen Jahre. Das ist schlicht eine Konsequenz, sich in der Bindung an den anderen festgelegt zu haben, denn damit ist immer auch eine Einrichtung in der Welt verbunden, man mag sie noch so offen halten. Hinzu kommt, daß die, die in dieser Gemeinschaft leben, wirklich altern. Irgendwann kennen Geschlechtergemeinschaften auch deshalb ein Decrescendo der Sexualität.32 Nach dem Hinweis auf die Instrumentalisierung der Ehe durch Macht dient sie insbesondere in unserer Zeit als Beleg dafür, daß die Liebe in dem Maße schwinde, wie die Lebensgemeinschaft an Dauer zunehme. Erinnern wir uns zunächst, daß Liebe in einer glücklichen Entdeckung gründet. In der Mehrzahl der Lebensgemeinschaften der Geschlechter wird sich lediglich eine mehr oder weniger große Schnittmenge an Verstehen einstellen; das 31 G. Mattenklott, Sexualität und Leidenschaft, S. 232. 32 W. H. James, Decline in Coital Rates, S. 83 ff.; G. Jasso, Marital Coital Frequency, S. 234.

Das Altern der Liebe 107

muß zu der großen Zahl jener trockenen Lebensgemeinschaften führen, die wir kennen. Es gibt gegenteilige Erfahrungen. Von jener glücklichen Entdeckung haben wir mehrfach schon gesagt, daß sie sich erst in der Dauer der Lebensgemeinschaft entfalte, und das trotz eines Decrescendos der Sexualität. Das Decrescendo ist nicht nur eine Folge davon, realiter alt zu werden, es liegt in der Natur der Erotik, die ja strukturell durchsetzt ist mit der bedeutungsschweren Vermittlung zwischen der Sinnfreiheit des Lebens und der Sinnhaftigkeit der Lebensführung. In der Vermittlung zwischen beiden liegt anfangs eine Spannung. Wenn der andere die Welt darstellt, die zählt, so gilt es nicht nur, diese Welt zu erfahren, sondern auch zu erproben, wie sich das Spannungsverhältnis zwischen ihr und der Welt » da draußen « gestaltet. Auch die Lust ist an diesen Spannungsbogen gebunden. Sie entgrenzt, indem sie alle Bestimmtheiten hinter sich läßt, und ermöglicht gerade deshalb, in die Möglichkeitsform zurückzukehren, dieses Dasein in der konkreten Gestaltung mit dem anderen zu leben. Ein derart geführtes Leben im Bannkreis des anderen ist ein Prozeß, der sich auflädt und gesättigt wird; das gleiche gilt für das Verstehen. Irgendwann muß man auch verstanden haben, wer der andere ist und in welcher Welt er lebt. Seine Welt wird nicht einfach zur eigenen, aber beide Welten werden aneinander gebunden; die andere wird vertraut, fast wie die eigene. Was Sexualität im Verein mit Intimität wollte, ist erreicht: Die Sphäre des Privaten ist eingerichtet; sie behält ihre Bedeutung; darüber ist zwischen den Partnern der Lebensgemeinschaft kein Wort mehr zu verlieren; es gibt ein Einverständnis, das die Worte scheut und schließlich auch die Ekstase. Wenn wir zuvor gesagt haben, Sexualität habe auch die Bedeutung, aus dem Drama der Sinnhaftigkeit herauszuführen in eine Zone, in der nichts mehr gilt als die Erfahrung des Pulsschlages, nun, diese Erfahrung kann in unterschiedlicher Weise ihren Ausdruck finden und in die Beziehung eingeholt werden. Sie ist in der Dauer der Einverständnisgemeinschaft nicht notwendig an Sexualität gebunden. Eine Lebensgemeinschaft führen heißt ja auch, gemeinsam dem Tode entgegengehen. Eine Geschlechtergemeinschaft, die auf Dauer angelegt ist, bildet sich notwendigerweise in institutionalisierter Form aus. Das ist schlicht eine Konsequenz des Umstandes, daß sie sich innerhalb einer Gesellschaft ausbildet, in der Interessenlagen von Macht bestimmt sind und normativ gesichert werden. Exakt das ist der Befund, den wir aus der Geschichte erheben: In allen uns bekannten Gesellschaften finden wir das Geschlechterverhältnis in familialen Formen verfestigt. Wir haben Grund, diesen Befund noch zu generalisieren: Auch für die Frühzeit der menschlichen Gesellschaft, von der wir nur spärliche Anhalte für soziale Organisationsformen haben, werden wir von familialen Organisationen ausgehen müssen. Wir müssen die Universalitätsthese ebenso wie den Prozeß der Institutionalisierung genauer erörtern.

Kapitel 6 Die Universalität des Geschlechterverhältnisses. Seine Institutionalisierung als familiale Organisation 1

Das Theorem der Universalität: Zu allen Zeiten, in allen Gesellschaften

Das Verhältnis der Geschlechter hat sich mit der Menschheit entwickelt; Liebe zwischen ihnen hat es zu allen Zeiten der Geschichte gegeben. Das ist das Ergebnis der Rekonstruktion der Enkulturation aus den Bedingungen, unter denen sie möglich wurde. Denn die Bedingungen, über die sich das Verhältnis der Geschlechter ausgebildet hat, sind dieselben, über die sich überhaupt der Prozeß der Enkulturation vollzogen hat. Sie liegen in der Ontogenese der Gattungsmitglieder. Notwendig mußte sich deshalb mit dem Enkulturationsprozeß, der Menschwerdung des Menschen, das Verhältnis der Geschlechter ausbilden. Vermutlich nimmt es sich befremdlich aus, wenn von einer historischen Entwicklung, noch dazu von einer, für die wir in ihren konkreten Formen keinen Beleg haben, gesagt wird: Sie mußte in dieser Weise verlaufen. Das Gravamen liegt auf der Hand und kehrt stereotyp wieder: Im nachhinein wird nur festgeschrieben, was im vorhinein noch offen war. Der Einwand träfe zu, wenn für die Geschichte gälte, was man lesen kann: Es hätte alles auch ganz anders sein können, nota bene: alles. Die Annahme jedoch verträgt sich nicht mit unserem gattungs­ geschichtlichen Wissen. Die naturgeschichtliche Ausbildung der Organisationsform des Menschen setzt der kulturellen Anschlußform, die erst ausgebildet werden muß, Bedingungen. Eine Organisation, von der gesagt werden könnte, sie lasse alles offen, wäre keine Organisation. Zwar legt die spezifisch anthropologische Organisation die Lebensformen nicht schon selbst fest, sie führt aber sehr wohl die Bedingungen für die Verfahren mit sich, in denen sie sich ausbilden können. Und die sind, um es zu wiederholen, derart, daß sie mit der Enkulturation auch das Geschlechterverhältnis begründeten. Rekapitulieren wir die den Prozeß bestimmenden Bedingungen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_7

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110

Die Universalität des Geschlechterverhältnisses

Alles hängt an der Ontogenese, die Enkulturation ebenso wie das Verhältnis der Geschlechter. Unsere Analyse hat gezeigt, daß der Prozeß der Enkulturation einzig aus der Ontogenese der Gattungsmitglieder heraus erfolgen konnte. Die anthropologische Verfassung erzwingt ihn. Notwendig hat sich im Prozeß der Enkulturation in der Ontogenese eine spezifisch humane Intimität gebildet. Sie verfestigt sich zur Bedürfnislage und wird zur Grundlage jeder späteren Form von Intimität zwischen den Geschlechtern. Die Entwicklung der frühkindlichen Intimität hat stammesgeschichtliche Vorläufer. Schon unter den subhumanen anthro­ poiden Primaten können wir die enge, privative Körperzone, in der Mutter und Junges leben, beobachten. Sie nimmt mit der Überschreitung der Schwelle zur humanen Lebensform die uns bekannte Gestalt der Mutter-Kind-Dyade an. Die frühkindliche Intimität aber ist der Grund für die spezifische Form, in der sie sich postpubertär im Verein mit der Sexualität zu reorganisieren sucht, und die Geschlechter ein Verhältnis eingehen läßt, wie wir es als familiale Organisationsform durch die Geschichte hin vorfinden. Bereits die Ausbildung der frühkindlichen Intimität läßt ein starkes Bedürfnis entstehen, das auf Befriedigung drängt. Gleichwohl ist denkbar, daß es unbefriedigt bleibt oder sich, wenn möglich, funktionale Äquivalente sucht. Zusammen mit dem imperativischen Bedürfnis nach Sexualität gewinnt es jedoch eine soziokulturelle Gestaltungskraft, von der wir annehmen müssen, daß sie notwendig zu einer Organisationsform des Geschlechterverhältnisses führt. Ersichtlich ist mit der Notwendigkeit, die wir der Ausbildung des Geschlechterverhältnisses zuschreiben, keine naturgesetzliche Notwendigkeit gemeint, vielmehr eine, die sich unter Bedingungen einer erst vom Menschen geschaffenen Organisationsform herstellt. Bedürfnislagen, so könnte man die Notwendigkeit präziser bestimmen, führen dazu, optimale Chancen ihrer Befriedigung auch zu nutzen. Es verschlägt deshalb nicht, daß der Prozeß sich über Millionen Jahre hingezogen hat und wir die konkreten Übergangsformen nicht kennen. Wir müssen annehmen, daß in eben dem Maße, in dem sich ontogenetisch der Enkulturationsprozeß vollzog, sich zwischen den Geschlechtern auch der Prozeß der Ausbildung vergleichsweise dauerhafter intimer Beziehungen vollzog und mit ihnen die Ausbildung einer privaten gegen eine umfassendere gesellschaftliche Sphäre. Dabei ist in Rechnung zu stellen, daß sich die Durchschlagskraft dieser Bedingungskonstellation durch die weiteren Bedingungen, denen sie systemisch verbunden sind, noch verstärkte. Das Junktim von Intimität und Sexualität ist nur die eine Säule des Geschlechterverhältnisses, die andere besteht in der Ausbildung eines über Sinn organisierten Lebens und dessen Rückkoppelung an die sinnfreie Körperzone. Von allem Anfang an besteht der Enkulturationsprozeß darin, eine Handlungskompetenz auszubilden; und die wird immer und überall über Sinn organisiert. Von allem Anfang an muß sich deshalb die Ambivalenz zwischen der sinnfreien Zone der

Der Mythos der Promiskuität 111

Körperlichkeit und der sinnhaften Lebenspraxis einstellen. Sie muß lebbar gemacht werden. Das geschieht vorzüglich im Verhältnis der Geschlechter. Das Geschlechterverhältnis ist diejenige Institution, in der, bedingt durch das Junktim von Intimität und Sexualität, eigens ein Ort geschaffen wird, der auf eine Verbindung dieser prekären Gegebenheit menschlichen Daseins zielt. Damit verbunden ist die Bewältigung jenes untergründigen Antagonismus, den wir in einem anderen Sinne als Kant als ungesellige Geselligkeit bezeichnet haben. Er gründet in der selbstreferentiellen Geschlossenheit des Körpers, der gleichwohl in seinem Aktionensystem der Außenwelt kommunikativ verbunden werden muß. Im Geschlechterverhältnis wird der Antagonismus dadurch lebbar, daß die konstitutionelle Einsamkeit kommunikativ umfaßt wird. Schließlich fängt das Geschlechterverhältnis die wohl subtilste Problematik der Lebensführung auf: Sie sichert der Identität Resonanz und kommunikative Bestätigung. Auch die Lebbarkeit von Identität inmitten einer Sozialwelt ist ein konstitutionelles Problem. Auch es hat sich von allem Anfang an gestellt. Identität und Individualität haben sich mit dem Menschen in der Geschichte verändert. Wir werden noch erörtern, daß die innere Natur des Menschen einen Entwicklungsprozeß kennt, der die Ausbildung der Identität in der Gegenwart deshalb zum Problem werden läßt, weil ihre kommunikative Absicherung kaum noch zu erreichen ist. Das ändert nichts daran, daß es auch das immer schon gegeben hat, daß der einzelne seine Identität kommunikativ eingebunden sehen mußte. Diese Aufgabe aber nimmt sich wie die Quadratur des Kreises aus. Möglich wird sie in einer Liebe, die es fertigbringt, über Individualitäten zu kommunizieren. Halten wir deshalb fest: Es war zu allen Zeiten in der Geschichte so. Immer haben die Geschlechter sich verbunden, immer hat es Liebe zwischen Mann und Frau gegeben.

2

Der Mythos der Promiskuität

2.1

Promiskuität und Subjektivität

Die Annahme, daß es Liebe zu allen Zeiten gegeben habe, ist nicht nur nicht unangefochten, sie wird nachdrücklich in Abrede gestellt. Es entspricht einer in der Literatur auch heute noch verbreiteten Vorstellung, die Menschen hätten in der Frühzeit der Geschichte, zum Teil aber auch noch in den näher gelegenen neolithischen Sammler- und Jägergesellschaften promisk gelebt. Man lebte in Gruppen, so die Vorstellung, und man paarte sich mit dem, den man gerade traf und nach dem einem der Sinn stand. In einer etwas anderen Ausschmückung dieser Vorstellung, in die sich schon familiale Anklänge mischen, lebte man in Gruppen als Brüder und Schwestern und teilte sich die Frauen, eine Vorstellung, die der Pro-

112

Die Universalität des Geschlechterverhältnisses

miskuität naheliegt.1 Einen Anhalt für diese Vorstellung hat man in den klassifikatorischen Bezeichnungen finden wollen, mit denen in einer Anzahl von Gesellschaften ganze Generationen oder bestimmte Gruppen von Männern und Frauen dieser Generationen mit dem gleichen Begriff belegt werden: als Vater, Mutter, Bruder, Schwester etc. Den Verwandtschaftsbezeichnungen werden mit anderen Worten die entsprechenden Verhaltensweisen zugeordnet.2 Unterstützung findet der Widerspruch gegen die These der Universalität von einer ganz anderen Seite: vom philosophischen und soziologischen Verständnis dessen, was Subjekt und Subjektivität meinen. Subjekt und Subjektivität gehören zum Lieben. Beides aber hat es, so die Vorstellung, zu Anfang der Geschichte nicht gegeben. Subjekt und Subjektivität werden als eine geistige Entität verstanden, die erst entdeckt werden mußte. Das aber blieb dem Abendland vorbehalten; wir danken sie den Griechen. Ihre Entdeckung fiel mit der Entstehung der Polis einerseits, der Philosophie andererseits in eins.3 Richtig entfalten konnten sich Subjekt und Subjektivität erst im deutschen Idealismus, unlösbar verstrickt in die Selbstbewegung des absoluten Geistes. Da Subjekt und Subjektivität an die Reflexivität des Geistes gebunden sind, vollenden sie sich erst im Denken ihrer selbst. Eigentlich, so müßte man meinen, sind Subjekt und Subjektivität zumindest in ihrer Voll­endung eine typisch deutsche, jedenfalls aber eine westeuropäische Errungenschaft. Heute sind sie unter Druck geraten. Wenn sie noch nicht untergegangen sind, so deshalb, weil wir die neue Form des Wissens, in der sie endgültig verschwinden könnten, noch nicht gefunden haben.4 Historisch ist diese Vorstellung von der Soziologie bestätigt worden. In Durkheims Lehre von der mechanischen Solidarität gibt es für die Frühzeit Subjekte lediglich als gleichgeformte Exemplare einer Gattung, also gerade nicht eigentlich als Subjekte.5 Die entstehen erst mit der organischen Solidarität, also wiederum in viel späterer Zeit und in vollem Glanze erst in der Neuzeit. Durkheims Lehre hat nachhaltige Wirkungen gezeigt. Auch Abercrombie geht umstandslos davon aus, daß es in vorneuzeitlichen Gesellschaften das Subjekt als Individuum nicht gegeben habe.6 In einer historisch-genetischen Theorie denken wir anders. Sehen wir uns die These von der Promiskuität der Menschen der Frühzeit genauer an.

Die Gruppenehe wurde von Morgan favorisiert; Thomson hält an ihr fest. Vgl. C. H. Morgan, Ancient Society, S. 149 f.; G. Thomson, Frühgeschichte, S. 43 f. 2 So explizit G. Thomson, ebd., S. 36. 3 B. Snell, Die Entdeckung des Geistes, S. 83 ff. 4 M. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 27. 5 E. Durkheim, Arbeitsteilung, S. 111 ff. 6 N. Abercrombie et al., Sovereign Individuals, S. 46.

1

Der Mythos der Promiskuität 113

2.2

Der methodologische Trugschluß

Die Annahme, die Frühzeit der menschlichen Gattung sei eine Zeit schweifender Promiskuität, ist ein Mythos im strikten Sinn: Wie alle Mythen beruht sie auf einer Extrapolation aus den historisch vorfindlichen Verhältnissen in eine Vergangenheit, von der wir keine Zeugnisse haben. Sie ist das » Noch-nicht « der Gegenwart. Nirgends sind denn auch empirische Belege für eine promiske Lebensform beigebracht worden.7 Auf die frühen Verhältnisse ist immer nur geschlossen worden. Die Art und Weise, in der es geschieht, ist methodologisch unhaltbar. Frühere Verhältnisse lassen sich nie in der Weise aus den späteren erschließen, daß man sich diese oder jene Ursprünge vorzustellen sucht, die noch nicht waren, was die Verhältnisse wurden – am einfachsten dadurch, daß man sie kontradiktorisch ausstattet. Eine Rekonstruktion, die Anspruch auf einige Verläßlichkeit erheben will, ist nur dadurch zu gewinnen, daß man die früheren Verhältnisse in einen Entwicklungsprozeß einzubinden vermag. Das verlangt, von Bedingungen auszugehen, die ihnen historisch vorwegliegen, um von ihnen aus den Weg nachzuzeichnen, welchen sie bis zu den späteren Verhältnissen genommen haben können oder genommen haben müssen. Rekonstruktion ist immer Rekonstruktion aus Bedingungen. Nur soweit die Bedingungen bestimmt werden können, ist in der Geschichte verläßliches Wissen zu gewinnen. Dagegen ist der Rückschluß von ir­gend­einer Praxis auf eine mögliche Vorform bloße Spekulation. An dem ebenso methodischen wie erkenntnistheoretischen Mangel, die Vorstellungen von der Frühzeit der Verhältnisse lediglich spekulativ gewonnen zu haben, leidet auch die These der Promiskuität, genauer: Sie wird einzig durch ihn möglich. Denn tatsächlich ist die These der frühen Promiskuität, wo immer man sie findet, nirgends in eine konstitutionelle Analyse der Gesellschaft eingebettet.8 Das nimmt nicht wunder. Denn eine systematische Rekonstruktion der gesellschaftlichen Verhältnisse der Frühzeit ist einzig durch eine historisch-genetische Theorie zu gewinnen, die sie an die Naturgeschichte anzuschließen weiß. Ohne diese Rekonstruktion bleibt die Vorgeschichte im Dunkeln.

2.3

Die Universalität des Subjekts

Die Vorstellung, die Menschen hätten vor der griechischen Klassik keine Subjektivität besessen, belegt einen doppelten Mangel: Zum einen fehlt ein Verständnis 7 8

So zu Recht M. Opler, Woman’s Social Status, S. 128. Das gilt auch für die neueren Wiederbelebungen. Vgl. S. Cucciari, The Gender Revolution, S.  31 ff.; H. Tyrell, Die Familie als » Urinstitution «, S. 611 ff.

114

Die Universalität des Geschlechterverhältnisses

dafür, wie Subjektivität in den Bildungsprozeß des Menschen eingefügt ist, das ist ein Mangel der genetischen Rekonstruktion, d. h. seines kulturellen Aufbauprozesses in der Ontogenese, zum anderen fehlt ein Verständnis dafür, wie sich diese Subjektivität in der Geschichte entwickelt. Das führt dazu, eine gesteigerte Form der Reflexivität, wie sie sich in der Antike und in der Neuzeit in der Tat gebildet hat, als Subjektivität schlechthin zu nehmen. Wir haben den Bildungsprozeß des Subjekts erörtert; er ist konstitutionell an die Entwicklung der Handlungskompetenz gebunden. Subjektivität, wie wir sie verstehen, ist eine Organisationsform menschlichen Daseins. Ihre Struktur kennt eine Reflexivität, durch deren Ausbildung das Subjekt allererst entsteht. Die Reflexivität ist konstitutiv ebenso für das Handeln wie für die Selbstwahrnehmung. Es kann deshalb gar nicht zweifelhaft sein, daß die Menschen der Frühzeit diese Subjektivität besaßen; ohne sie ist die menschliche Daseinsform nicht möglich. Die Subjektivität war auch zu allen Zeiten der Individualität eines jeden Gattungsmitgliedes verbunden. Zu allen Zeiten hat sich der Mensch jeweils als dieser eine von anderen unterschieden wahrgenommen; er war auch real vom anderen in seiner inneren Natur unterschieden. Zu allen Zeiten auch war jeder darauf verwiesen, sich in seiner Bedürftigkeit zum Gegenstand der Sorge zu machen. Auch deshalb haben wir der Sexualität in ihrem imperativischen Drang so große Bedeutung beigemessen: Sie weist den Menschen an sich zurück, um ihn erst auf diesem Wege an den anderen zu verweisen. Das gilt auch für die Frühzeit der Ge­schichte.9 – Es ist angesichts von Thesen wie der der mangelnden Subjektivität in der Ur- und Frühgeschichte nicht unbescheiden, darauf zu verweisen, daß Philosophie und Sozialwissenschaft, wenn sie nicht historisch-genetisch argumentieren, für das Verständnis des Menschen in der Geschichte nicht diskussionsfähig bleiben.

2.4

Die sexuellen Praktiken

Empirische Anhalte, die berechtigen, auf eine frühe Form von Promiskuität zu schließen, gibt es nicht. Darauf habe ich schon hingewiesen. Daß das Benennungssystem nicht für das Verhaltenssystem genommen werden darf, aus der gleichen Nomenklatur für Frauen nicht auf gleichen sexuellen Zugang zu ihnen geschlossen werden kann, gilt heute als ausgemacht.10 Auch hat Malinowski erhebliche Mühe darauf verwandt zu zeigen, daß der Anhalt, den andere Autoren für eine frühere Form der Gruppenehe an noch existenten Sexualpraktiken in Austra­lien Als Beleg darf einmal mehr der schon angeführte Gesang des Wallaby-Häuptlings Antjiroba dienen. Vgl. T. G. H. Strehlow, Songs of Central Australia, S. 477 ff. 10 C. Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie 1, S. 51. 9

Die Institutionalisierung in der Familie 115

zu finden meinten, nicht dafür in Anspruch genommen werden kann.11 Sexuelle Ausschweifungen, wie sie bei Festen vorkommen, haben zumeist rituelle Gründe. Sie stellen die individuelle Verbindung der Geschlechter nicht in Frage. So setzt das in Zentral-Australien bei Stämmen wie den Urabunna, Dieri, Yantruwunta und einigen anderen praktizierte Pirrauru, eine Art zeremonieller Kuppelei durch die Stammesältesten während eines Festes, die individuelle Heirat voraus und läßt von früheren Gruppenheiraten nichts erkennen. Daß sich die empirischen Anhalte für eine Promiskuität verflüchtigen, läßt unsere systematische Rekonstruktion um so stärker werden.

3

Die Institutionalisierung in der Familie

3.1

Der Prozeß der Institutionalisierung

Interaktionen zwischen Subjekten, in denen Bedürfnislagen auf Dauer eine Befriedigung finden, grenzen sich nach außen ab. Sie bilden eine korporative Einheit, die sich als Teilsystem der Gesellschaft konstituiert. Ihre Abgrenzung nach außen besteht nicht nur darin, daß die Subjekte der Interaktionen andere von ihnen ausschließen – ein signifikantes Merkmal für die privative Zone der Geschlechter­ gemeinschaft –, sie adressieren an die anderen die Erwartung, die Interaktions­ gemeinschaft auch zu respektieren. Die korporative Einheit der Geschlechtergemeinschaft kennt eine für sie spezifische Steigerung des Zusammenhalts nach innen und der Wendung nach außen. Der Umstand, daß im Innern die Interessen des einen zu den Interessen des anderen werden, bewirkt, daß auch nach außen die Interessen eines jeden als Interessen der Einheit selbst gelten. Die nach außen gerichtete Erwartung an die anderen, die Geschlechtergemeinschaft zu respektieren, umschließt deshalb sowohl die Einzelinteressen derer, die in ihr leben, als auch das Gesamtinteresse an der Gemeinschaft selbst. Interessen in Erwartungen sind machtbesetzt. Der, der sie hat, sucht sie auch durchzusetzen. Dafür stand bis zur Neuzeit als vielfach erstes, auf jeden Fall aber letztes Mittel lediglich die Brachialgewalt des Interessenten zur Verfügung. Sie einzusetzen, fiel in der korporativen Einheit der Geschlechtergemeinschaft notwendig dem Manne zu. Das galt insbesondere, aber nicht nur für das Interesse der Frau, vor den Begehrlichkeiten anderer Männer geschützt zu werden. Es galt darüber hinaus generell für den Schutz der Kinder. Wenn in einer Vielzahl soziologischer Darstellungen das Interesse der Kinder überhaupt als Grund für

11 Vgl. B. Malinowski, The Family among the Australian Aborigines, S. 89 ff.

116

Die Universalität des Geschlechterverhältnisses

das Entstehen der Familie angegeben wird, so liegt das Körnchen Wahrheit darin, daß sie ohne die familiale Einheit in der Tat schutzlos gewesen wären. Erwartungen, die Interessenlagen aller artikulieren, und für deren Durchsetzung jeder das ihm verfügbare Machtpotential einsetzt, finden generelle Anerkennung. Sie setzen sich damit in Normen um. Denn Normen sind nichts anderes als die an andere adressierten Erwartungen, Interessen Rechnung zu tragen, sofern sie die Anerkennung aller finden und sich als Verhaltensstandard durchzusetzen vermögen. Die normative Verfestigung auf Dauer gestellter Interaktionen läßt aus letzteren eine Institution werden. Es leuchtet nach allem ein, weshalb der Prozeß der Institutionalisierung des Geschlechterverhältnisses trotz immanenter widerstrebender Motivationen – wir haben sie erörtert – unvermeidlich war: Das Geschlechterverhältnis muß sich nach außen wenden, um nach innen möglich zu sein. Die damit notwendig werdende Institutionalisierung läßt Familien so allgemein werden, wie das Geschlechterverhältnis selbst allgemein ist.

3.2

Begriff und Universalität der Familie

Mehr und anderes als die Institutionalisierung des Geschlechterverhältnisses wollen wir unter der Familie nicht verstehen. Ich rechte deshalb mit niemandem, was im einzelnen eine Familie ausmacht; die Organisationsformen mögen so verschieden sein, wie sie wollen; auch mag es Familienformen geben, die Grenzfälle der Organisation darstellen. Grenzfälle sind Ausdruck einer sozio-kulturellen Konstruktivität der Lebensformen, die leicht von ungewöhnlichen Entwicklungsverläufen bestimmt werden kann. Sie entbinden uns nicht von der Notwendigkeit, die Normallage in einer soziologischen Theorie zu verstehen zu suchen. Die normale Verfassung der gesellschaftlichen Organisation kennt aber irgendeine Form relativ dauerhafter, relativ ausschließlicher Lebensgemeinschaften der Ge­schlechter. Für die rezenten Sammler-Jäger-Gesellschaften ist die Universalität der familialen Organisation erwiesen; für die historischen Gesellschaften des Paläolithikums sind wir darauf beschränkt, sie rekonstruktiv einsichtig zu machen: Die Bedingungen, unter denen sie sich gebildet haben, waren derart, daß sich gleiche soziale Organisationseinheiten ausbilden mußten. Die Gleichheit der Bedingungen berechtigt uns, auf ihre Strukturkonformität mit den uns bekannten SammlerJäger-Gesellschaften zu schließen.12 Ganz generell können wir deshalb feststellen: In allen Gesellschaften findet sich die Familie als Grundstock der gesellschaftli-

12 Davon wird in der Paläoanthropologie inzwischen mit Recht ausgegangen; vgl. M. D. Leakey, Olduvai Gorge, S. 259.

Die Institutionalisierung in der Familie 117

chen Organisation13, und zwar immer mit jenem Kern, den wir auch aus unserer Gesellschaft kennen, der filiativen Dyade von Mutter und Kind, der konjugalen der Heiratspartner und der Beziehung zwischen dem Mann und den Kindern der Frau. So stellen Harth und Pilling, um nur ein Beispiel zu nennen, für die Tiwi im Norden Australiens fest: » Wie der amerikanische Haushalt auch besteht der Tiwi-Haushalt gewöhnlich aus einem Mann, seiner Frau (oder Frauen) und deren Kindern. In manchen Haushalten sind allerdings einige eingeschlossen, die irgendwie übriggeblieben sind, Witwer etwa, darüber hinaus zweideutige Gestalten, die zum Essen kamen und immer noch da sind. «14

Murdock hat diesen Befund konsolidiert. Von den 250 Gesellschaften des ethno­ graphischen Atlasses (Ackerbauer eingeschlossen) wies jede einen familialen Grundstock auf.15 Die Frage kann demnach lediglich noch sein, was genauer als familiale Organisation anzusehen ist. Murdocks Bestimmung ist prägnant: » Die Familie ist eine soziale Gruppe, die durch gemeinsamen Wohnsitz, ökonomische Kooperation und die Reproduktion charakterisiert ist. Sie schließt Erwachsene beiderlei Geschlechts ein, von denen zumindest zwei eine sozial gebilligte sexuelle Beziehung aufrechterhalten; weiter schließt sie eines oder mehrere eigene oder adoptierte Kinder der Erwachsenen ein, die den sexuellen Verkehr miteinander ausüben. «16

Nicht minder prägnant als die Bestimmung der Familie selbst ist die Feststellung, daß es gerade diese Art der familialen Organisation ist, die in allen bisher bekannten Gesellschaften vorgefunden wird. Die Universalität wird m. a. W. gerade im Hinblick auf die sogenannte Nuklear- oder Kernfamilie reklamiert. Hören wir noch einmal Murdock: » Die Kern-Familie ist eine universale menschliche soziale Gruppierung. Sie existiert entweder als die allein vorherrschende Form der Familie oder als die Basiseinheit, von der aus komplexere familiale Formen zusammengesetzt sind, als eine besondere hochfunktionale Gruppe in jeder uns bekannten Gesellschaft. Jedenfalls ist keine Aus­nahme 13 So explizit E. Evans-Pritchard, The Position of Women, S. 46. 14 L. W. M. Harth/A. R. Pilling, The Tiwi, S. 13. Wenn C. Meillassoux ohne weitere Angabe erklärt, erst mit der Landwirtschaft hätten sich dauerhafte familiale Beziehungen gebildet, so zeigt das, was politische Vorurteilsstrukturen vermögen. C. Meillassoux, Die wilden Früchte der Frau, S. 35. 15 G. Murdock, Social Structure, S. 1 ff. 16 G. Murdock, ebd., S. 11.

118

Die Universalität des Geschlechterverhältnisses

in den 250 repräsentativen Gesellschaften, die für die vorliegende Studie untersucht wurden, ans Licht gekommen. Die Studie erhärtet deshalb den Schluß Lowies: › Es kommt nicht darauf an, ob die ehelichen Beziehungen dauernd oder vorübergehend sind, ob es polygyne oder polyandre oder sexuell freizügige Verbindungen sind; ob die Verhältnisse durch die Aufnahme von Mitgliedern, die unserem Familienkreis nicht angehören, kompliziert werden: ein Umstand ragt aus allen anderen heraus: überall bilden Ehemann, Ehefrau und unmündige Kinder eine von den übrigen ab­gesonderte Einheit … ‹ «

Murdocks Bestimmung der Universalität der Familie ist auf heftigen Widerstand gestoßen.17 Er formierte sich in zwei Stoßrichtungen: Zum einen wurde Murdock eine ethnozentrische Perspektive unterstellt, die die Kernfamilie unserer Tage zur Normalform stilisiere; zum anderen ging der Vorwurf dahin, daß die von Murdock genannten Merkmalsausprägungen familialer Beziehungen am ethnologischen Material nicht zu verifizieren seien. Liest man Murdocks definitorische Bestimmung der Kernfamilie, so kann sich kaum der Verdacht einschleichen, Murdock habe mit der Kernfamilie als universaler Organisation eine abgesonderte institutionelle Einheit nach Art der Kernfamilie unserer Tage gemeint. Wäre es so, ließe sich die Behauptung nicht halten. Denn in einer Vielzahl von Gesellschaften gehören zur Einheit der Familie noch andere Personen, die Eltern des Mannes oder der Frau etwa oder neben den Eltern noch die unverheirateten Geschwister der Eltern, also Onkel und Tanten in unserer Terminologie, verheiratete oder unverheiratete Geschwister, in agrarischen Gesellschaften fremde Arbeitskräfte und andere Personen mehr. Überdies leben in einer Anzahl von Gesellschaften Mann und Frau nicht unter einem Dach. Einige der matrilinearen Gesellschaften kennen jedenfalls in den ersten Ehejahren nur eine Besuchsehe. Allein, so richtig und zur Klärung der Verhältnisse nützlich es demnach ist, darauf hinzuweisen, daß die Kernfamilie unserer Tage nicht als familiale Regelform auch für frühere Epochen und andere Gesellschaften angesehen werden kann, Murdock hatte mit der Definition » nuclear family « etwas anderes im Sinn. Nur das ist gemeint: In allen Gesellschaften hat sich eine familiale Organisationsform entwickelt, die einen harten Kern kennt, um den herum sich die Gesamtorganisation formiert hat. In allen Gesellschaften kommt diesem Kern auch eine besondere Bedeutung zu. Dieser Kern wird aus den konjugalen und filiativen Beziehungen gebildet. Auch eine derart bereinigte Universalitätsthese kann kaum auf allgemeine Zustimmung rechnen. Es gibt noch einen weiteren Stein des Anstoßes: Die Merkmalsausprägung, die Murdock dem Kern zuschreibt, läßt sich mit der von ihm 17 Vgl. R. Fox, Kinship and Marriage, S. 39.

Die Institutionalisierung in der Familie 119

propagierten definitorischen Eindeutigkeit nicht in allen Gesellschaften finden. Soweit es die einzelnen von Murdock genannten Merkmale angeht, haben sich zu jedem einzelnen Merkmal Ausnahmen finden lassen. Literarisch berühmt geworden ist der Fall der Nayar. Die Nayar bilden einen Stamm in Kerala (Süd­indien). Bei ihnen werden die Frauen einem rituellen Manne verheiratet, der in früherer Zeit das » Recht der ersten drei Tage «, sonst aber keinen Anspruch an die Frau hatte. Die Frau mußte lediglich bei seinem Tode die Reinigungsriten beachten. Sie lebte weiter in ihrer Herkunftsfamilie mit sogenannten » visiting husbands «, Besuchsgatten. Wer zuerst kam, stellte die Waffen vor die Tür. Im Fall einer Schwangerschaft mußte einer der » visiting husbands « die Rolle des soziologischen Vaters übernehmen. Ersichtlich ist hier die matrilineare Familienstruktur in Schieflage geraten. Die Heirat ist keine Heirat im strikten Sinne; auch eine wirkliche Vaterrolle wird von dem » visiting husband « nicht übernommen.18 Abweichungen von dem, was gemeinhin an Familienorganisation ausgebildet wird, gibt es auch in vielen anderen Gesellschaften. Ich habe darauf hingewiesen, daß Mann und Frau in manchen matrilinearen Gesellschaften keinen gemeinsamen Wohnsitz haben, jedenfalls nicht in den ersten Jahren; die Frauen wohnen weiter in ihrer Herkunftsfamilie; die Männer besuchen sie nur nachts. Wieder andere Gesellschaften kennen keine Verpflichtung des Mannes zur ökonomischen Versorgung der Frau, andere nur eine auf Zeit. Kurz, wenn man darauf insistiert, soziale Ordnungen über eine Anzahl gemeinsamer Merkmale zu definieren, und sie nur dann wahrnimmt, wenn jedes der angeführten Merkmale vorliegt, dann läßt sich die These von der Universalität der Familie in der Tat nicht halten. Nur, muß man das ? Mehr noch: Ist es ein methodisch sinnvolles Vorgehen, Institutionen über eine Anzahl von Merkmalen zu bestimmen, die alle vorliegen müssen, um deren Existenz zu bejahen ?19 Ich habe oben die historisch-genetische Strategie dargelegt, soziale Formationen aus den Bedingungen zu erklären, unter denen sie entstanden sind. Das Moment der Universalität leitet sich demnach aus den universalen Bedingungen her, unter denen soziale Formationen sich bilden. Neben universalen Bedingungen gibt es immer auch besondere, die die Ausprägung mitbestimmen; sie zuweilen auch inhibieren. Die Antwort auf die Frage, ob eine Institution universal ist, bestimmt sich danach, ob universale Bedingungen dazu führen, sie in der einen oder anderen Form auszubilden. Die universalen Bedingungen bestimmen die Struktur 18 E. R. Leach, Polyandry, Inheritance and the Definition of Marriage, S. 182 ff. Daß es sich gleichwohl nicht um eine wirkliche Ausnahme, sondern um eine historisch einzigartige Entwicklung handelt, zeigt E. Gough, Is the Family Universal ? – The Nayar Case, S. 80 ff. 19 Ich erinnere an Wittgensteins Überlegungen zu den » Familienähnlichkeiten «. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 48 ff.

120

Die Universalität des Geschlechterverhältnisses

der Institution. Sie ist es, die über ihre Existenz entscheidet, und nicht die Summe der Merkmalsausprägungen, letztere sind Oberflächenphänomene. Wir haben die Bedingungen erörtert und können mit Genugtuung feststellen, daß bislang keine Gesellschaft bekanntgeworden ist, die nicht die Struktur familialer Organisation ausgebildet hätte, deren Kern die konjugale Beziehung darstellt.

3.3

Funktionale Äquivalente

Man muß nicht lieben, und man braucht nicht zu heiraten. Auch wenn wir annehmen, daß die Gründe für die Ausbildung des Geschlechterverhältnisses der anthropologischen Verfassung eng verbunden sind, ist damit nicht gesagt, daß jeder eine derartige Verbindung auch tatsächlich eingeht. Die anthropologische Verfassung ist plastisch genug, um auch anders leben zu können. Daß sich in allen Gesellschaften dauerhafte Beziehungen der Geschlechter ausgebildet haben und institutionalisiert worden sind, zeigt jedoch, daß funktionale Äquivalente kaum zu finden sind. In den frühen Gesellschaften waren Ausnahmen davon, in einer Beziehung zum anderen Geschlecht zu leben, selten. Gravierender als die individuellen Abweichungen fallen die Grenzen der Institutionalisierung ins Gewicht; sie erwachsen zum Teil schon aus der Ambivalenz der Bedürfnisse selbst. Die Schwierigkeit, die Sexualität auf Dauer in die institutionalisierte Beziehung der Geschlechter einzubinden, haben wir schon erörtert. Auch für die Intimität gibt es außereheliche Möglichkeiten, die sich in einigen Gesellschaften ihrerseits institutionell verfestigt haben. So entwickelt sich in einer Anzahl von Gesellschaften die Intimität zwischen gegengeschlechtlichen Geschwistern zu einer lebenslangen Bindung; sie ist libidofrei und kann gerade deshalb in Konkurrenz zur Intimität des Geschlechterverhältnisses treten. In einer Anzahl früher Gesellschaften haben sich Männer-Gemeinschaften gebildet. Sie gründen überwiegend in gemeinsamen geschlechtsspezifischen Aktivitäten. Ein eindrucksvolles, weil besonders extremes Beispiel finden wir bei den Mundurucú in Brasilien.20 Die Männer bearbeiten den Boden gemeinsam; auch bauen sie alle zehn Jahre gemeinsam eines jeden Haus; und vor allem: Sie führen gemeinsam Krieg. Diese über die Geschlechtsrolle begründete Solidargemeinschaft hat dazu geführt, daß die Männer auch gemeinsam in einem Männerhaus wohnen. Das zieht aus der familialen Organisation Energien ab. Die Männer essen nicht mit ihren Frauen, verbringen nicht die Nächte mit ihnen, sie arbeiten auch nicht mit ihnen und erholen sich nicht mit ihnen. Sie besuchen sie, wenn ihnen der Sinn danach steht. 20 R. F. Murphy, Matrilocality and Patrilineality in Mundurucu Society, S. 414 ff. (423).

Familie und Gesellschaft 121

Partiell sind demnach für Bedürfnisse, die gemeinhin in Familien befriedigt werden, durchaus funktionale Äquivalente zu finden; sie haben jedoch die Bildung von Familien nicht hinfällig werden lassen, vielmehr nur ihre Ausgestaltung, verglichen mit dem, was sonst zu beobachten ist, unter restringierte Bedingungen gesetzt. Nichts garantiert, daß die verschiedenen Determinanten, unter denen sich die menschlichen Lebensformen bilden und in der Geschichte realisieren, einträchtig zusammenwirken. Es ist nicht zuletzt Aufgabe einer rekonstruktiven Soziologie, die Gründe zu eruieren, die die Realisierung von Bedürfnissen eingeengt oder überhaupt durchkreuzt haben. Das gilt auch für die Schwierigkeiten und Grenzen, die der Institutionalisierung der Familie durch die neuzeitliche Entwicklung der Subjektivität gesetzt sind. Darauf werde ich noch ausführlich eingehen.

4

Familie und Gesellschaft

Ich habe gleich eingangs dargelegt, daß die Bedingungen der Enkulturation und die Bedingungen für die Ausbildung des spezifisch humanen Geschlechterverhältnisses in der frühen Ontogenese gelegen sind, beide, Enkulturation und Geschlechterverhältnis, sich gemeinsam ausgebildet haben müssen und mit beiden gemeinsam auch die Gesellschaft. Die These läßt sich nunmehr für das Verhältnis von Gesellschaft und Geschlechtergemeinschaft präzisieren: Einzig weil sich mit dem Enkulturationsprozeß in der frühen Ontogenese die Bedingungen für die Ausbildung des Geschlechterverhältnisses entwickeln, und einzig weil sich diese Bedingungen in die institutionalisierte Form familialer Organisation umsetzen, hat sich die Menschheit in ihren gesellschaftlichen Organisationsformen bilden können. Der eigentliche formgebende Prozeß erfolgt über die Ausbildung der familialen Organisation. Über sie hat sich die Menschheit ihre sozio-kulturelle Lebensform geschaffen. Ihre Ausbildung war die Bedingung der Möglichkeit dafür, daß sich die Menschheit überhaupt hat entwickeln können. Tatsächlich stellen sich alle frühen Gesellschaften als Familienverbände dar. Auch bei einer derartigen Akzentsetzung bleibt es unabdingbar, auf die systemische Einheit hinzuweisen, die den Enkulturationsprozeß auszeichnet. Ich meine nicht, daß sich die Gesellschaft durch einen Zusammenschluß von Familien gebildet hätte, die Familien also vor der Gesellschaft entstanden wären. Familiale Beziehungen haben sich immer in einer umfassenden Sozietät gebildet. Die Vorstellung, Familien hätten sich vor der Gesellschaft gebildet, ist so wenig sinnvoll, wie die andere, die Gesellschaft habe sich vor den Familien gebildet.21 Die einzig 21 Die wenig sinnvolle Alternative scheint sich wieder und wieder zu reproduzieren. Vgl. M. Godelier, Modes of Production, S. 3.

122

Die Universalität des Geschlechterverhältnisses

mögliche Annahme ist, daß sich aus subhumanen Sozietäten heraus ein Enkulturationsprozeß vollzogen hat, demzufolge sich mit der Enkulturation ein spezifisch humanes Geschlechterverhältnis und mit letzterem Familien ausgebildet haben.22 Familien waren immer eingebettet in den Verbund einer mit ihnen entstehenden Gesellschaft. Der Nachweis, daß sich die menschliche Gesellschaft über eine familiale Organisationsform ausgebildet hat, erfährt in jüngerer Zeit Beistand von der Paläo­ anthropologie; der Beistand ist allerdings nicht unproblematisch.

5

Beistand von der Paläoanthropologie

Die historisch-genetische Rekonstruktion des Bildungsprozesses der Gesellschaft hat ein klares Bild ergeben: Die menschliche Gesellschaft hat sich in kulturellen Lebensformen ausgebildet, die von allem Anfang an intime Geschlechterverhältnisse kannten. Wir werden sie alsbald in ihrer institutionellen, nämlich familialen Form erörtern. Das aber erlaubt uns, lapidar festzustellen: Die Menschheit hat sich über Familien gebildet. Die Theorie ist so klar wie vorbehaltlos. So und nicht anders ist der historische Prozeß vorstellbar. So und nicht anders findet das Wissen, das wir von der Frühzeit haben, seine Erklärung. Unsere Theorie beschränkt sich auf diejenige Phase der Geschichte, in der der rezente homo sapiens seine biologische Verfassung gewonnen hat. Denn an die Kapazität dieser Verfassung schließen wir die Ausbildung derjenigen sozio-kulturellen Lebensformen an, um die es uns zu tun ist. Diese Geschichte weist ein Alter von ca. 40 000 Jahren auf. Für diese Zeit haben wir unsere Annahme nicht aus der Rückverlagerung derjenigen Lebensformen gewonnen, die wir aus den rezenten Gesellschaften der Sammler und Jäger kennen – so wichtig letztere für unsere Argumentation sind. Zu familialen Lebensformen gelangen wir aus der Rekonstruktion der anthropologischen Bedingungen, unter denen sich die Menschheit in sozio-kulturellen Lebensformen überhaupt hat bilden können. Die Geschichte des Menschen ist älter; sie läßt sich zurückverfolgen bis zur Radiation der Hominiden von den Anthropoiden, den Menschenaffen, irgendwann vor zwölf oder vielleicht auch nur vier Millionen Jahren.23 Seither verfolgen wir die Entwicklung über den Australopithecus afarensis, deren ältestes uns bekanntes Exemplar 3,8 Millionen Jahre alt ist, über die Australopithecinen africa22 Die menschliche Familie als Fortsetzung tierischer » Familien « anzusehen – so R. König, Soziologie der Familie, S. 121 – ist völlig abwegig. 23 V. Sarich/A. Wilson, Immunological Time Scale, S. 1200. V. Sarich, A Molecular Approach, S.  60 ff.

Beistand von der Paläoanthropologie 123

nus und boisei, von denen aber umstritten ist, ob sie zur Linie der Hominiden gehören24 oder Seitenlinien zuzurechnen sind.25 Unstreitig in der Hominiden­linie liegt der homo habilis, von Leakey auf eine Zeit vor ca. drei Millionen Jahren datiert26, sowie der homo erectus vor 1,5 Millionen Jahren. Mit ihm muß ein Entwicklungsschub eingetreten sein; von ihm nehmen wir an, daß er Sprache zu entwickeln begann. Deren wichtigste Funktion ist der Aufbau eines differenzierten Aktionensystems und, verbunden damit, einer handlungsrelevant organisierten Welt. Seither hat die Entwicklung zum homo sapiens und über ihn hinaus zum homo sapiens sapiens Tritt gefaßt. Mit dieser langen Epoche sind wir hier nicht befaßt. Wir beschränken uns auf die Phase, die dem definitiven Übergang in die soziokulturelle Daseinsweise folgt, also auf die Lebensformen des homo sapiens sapiens. Es versteht sich jedoch: auch wenn eine rekonstruktive Theorie sich diese Beschränkung auferlegt, um rekonstruktiv gesicherten Boden unter den Füßen zu behalten, die Rekonstruktion muß so erfolgen, daß der Anschluß an die vorhergehende Phase als möglich erscheint. Insofern nun haben die beiden letzten Dezennien eine Wendung in der paläoanthropologischen Forschung gebracht, die uns in hervorragender Weise zuarbeitet. Für das gesamte Tier-Mensch-Übergangsfeld ist nämlich eine entscheidende Determinante der Evolution in der Entwicklung familienähnlicher Zusammenschlüsse gesehen worden. Das familiale Szenario der Evolution ist unterschiedlich entfaltet und an unterschiedlichen Zeitstellen in Gang gesetzt worden. Die Diskussion ausgelöst hat Lovejoy mit einer Modellüberlegung zur Entwicklung der Hominiden.27 Lovejoy stellt zunächst fest, daß in der scala naturae der Primaten die Populationen mit jedem Schritt ein größeres Maß ihrer reproduktiven Energie für die Jungen aufwenden, wobei die Anzahl der Jungen stetig abnimmt. Starke soziale Bande, ein hoher Intelligenzgrad, intensive elterliche Fürsorge und lange Zeiten des Lernens sind unter anderem Faktoren, die höhere Primaten benutzen, um die Mortalitätsrate zu senken. Diese Entwicklung setzt sich, so Lovejoy, in der Linie der Hominiden, also der Entwicklung zum Menschen, fort. Um zu einer Erklärung für diese Entwicklung zu gelangen, läßt Lovejoy sich von der Frage leiten, wodurch die Aufzucht einer größeren Anzahl von Jungen trotz der hohen parentalen Investi­tion hat erreicht werden können. Möglich wurde sie, so Lovejoy, durch eine qua­litative Veränderung der elterlichen Fürsorge infolge einer monogamen Paarbildung, die er bis weit vor das Pleistozän, dessen Beginn man vor zweieinhalb Millionen Jah24 So F. T. Adams, Der Weg zum homo sapiens, S. 302. 25 So R. E. Leakey, Wie der Mensch zum Menschen wurde, S. 84 ff. 26 R. E. Leakey, ebd., S. 84 f. 27 Vgl. C. O. Lovejoy, The Origin of Man, S. 341 ff.; eine popularisierte Form findet sich in D. Johanson/M. Edey, Lucy, S. 383 ff.

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Die Universalität des Geschlechterverhältnisses

ren datiert – die Angaben schwanken beträchtlich – zurückreichen läßt. Der Vorteil, der dadurch für den hominiden genetischen Pool entsteht, besteht darin, daß die separat von den Weibchen der Nahrungssuche nachgehenden Männchen beginnen, den Weibchen Futter zuzutragen. Was sich zunächst altruistisch ausnimmt, ist vom Genpool her gesehen höchst egoistisch: Es verändert die Chancen der Reproduktion vorteilhaft. Soweit Lovejoy. Johanson und Edey sind bereit, Lovejoy zu folgen; sie bezweifeln allerdings die Versorgung der Weibchen durch die Männchen.28 Dieser Punkt ist jedoch in der Argumentationsfolge Lovejoys für die Bildung der Nuklearfamilie zu diesem frühen Zeitpunkt zentral. Lovejoys Modell der hominiden Evolution hat sich in der Literatur herbe Kritik gefallen lassen müssen. Trotzdem ist die Theorie in der Folgezeit weiter ausgebaut worden. Isaac insbesondere hat den entscheidenden evolutiven Faktor im Tier-Mensch-Übergangsfeld in einer an eine territoriale Basis gebundenen sozietären Lebensform gesehen, die ein auf Reziprozität gegründetes » food sharing « zwischen den Gruppenmitgliedern kannte.29 Kim Hill hat diese These aufgenommen und sie einem evolutiven Modell integriert, in dem der Übergang zum Jagen erneut eine Schlüsselposition einnimmt.30 Zwei Beobachtungen im subhumanen Bereich werden für die Theorie bedeutsam: Erstens hat sich gezeigt, daß Jagen bei Schimpansen wie bei Pavianen eine Tätigkeit ist, die ausnahmslos von männlichen Tieren betrieben wird. Zweitens wurde festgestellt, daß bei beiden Arten Weibchen im Östrus signifikant öfter Teile der Jagdbeute erhielten als andere Weibchen.31 Das, sollte man meinen, nimmt nicht wunder; denn Männchen werden ganz einfach Weibchen im Östrus häufiger aufsuchen. Hill sieht darin jedoch wie andere Autoren auch den Beginn einer Tauschaktion: Fleisch gegen Sex, wie wir sie aus einer Vielzahl ethnologischer Berichte kennen.32 Die Weibchen, so Hill, revanchieren sich im Verlauf der Evolution, indem sie immer häufiger die Phase des Östrus nachahmen, um sie schließlich ganz aufzugeben und sexuell dauer­ haft zugänglich zu werden – eine phantastische Fähigkeit, wie mir scheint. Ich übergehe hier die einzelnen Etappen, in denen Hill den Entwicklungsprozeß sich entfalten sieht. Entscheidend für die Anlage der Argumentation ist, daß er umstandslos aus der Konstruktion evolutiver Vorteile menschliche Organisations­ 28 Vgl. D. C. Johanson/M. Edey, ebd., S. 424 f.; vgl. auch D. C. Johanson, Ethiopia Yields First » Family of Early Man «, S. 791 ff. 29 G. L. Isaac, Food Sharing and Human Evolution, S. 311 ff. Ähnliche Überlegungen finden sich bei den Autoren, die die Bedeutung des Sammelns – im Gegensatz zum Jagen – betonen. Vgl. A. Zihlman, Women and Evolution, S. 4 ff.; dies., Women as Shapers of Human Adaptation, S. 75 ff.; F. Dahlberg, Introduction, S. 1 ff. 30 K. Hill, Hunting and Human Evolution, S. 521 ff. 31 K. Hill, ebd., S. 533. 32 Vgl. G. Dux, Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter, S. 208 f.

Beistand von der Paläoanthropologie 125

formen entstehen läßt. Hill betont zwar, daß wir mit diesem für die Zeit der Radiation entworfenen Szenario von menschlichen Lebewesen noch weit entfernt sind, nichtsdestotrotz sind wir bereits bei Familien mit Großmüttern angelangt ! Weiter ausgebaut haben das evolutive Szenario in dieser Richtung Quiatt und Kelso.33 Im Anschluß an Isaac entwickelten sie dessen » territoriale Basis-Theorie « zu einer » dualen reziproken Subsistenztheorie « weiter. Sie gehen von einer auf der Basis des Geschlechts gegründeten Arbeitsteilung aus. » Zentral für die evolutive Veränderung ist, « so schreiben sie, » in unserer Sicht die Zwei-Eltern-Familie und der (dazugehörige) Haushalt; das ist eine nach innen gerichtete Strategie, die den produktiven, distributiven und reproduktiven Bedürfnissen der entstehenden dualen Ökonomie Rechnung trägt. «34

Ohne in irgendeiner Weise für die eine oder andere Theorie Partei ergreifen zu wollen, liegen die methodologischen Bedenken auf der Hand: Zu diesem evolutiven Szenario gelangt man einzig, indem man die kulturellen Lebensformen rückwärts in die Naturgeschichte verlagert. Wie nicht anders zu erwarten, dreht sich deshalb das Verständnis dieser Lebensformen unter der Hand um: Liebe entwickelt sich in naturgeschichtlicher Zeit als Selektion jenes Gen-Pools, der eine emotionale Paarbindung kennt. Den Schlußstein dieser Entwicklung setzt Sydney Mellen, wenn er feststellt: » Der Hauptgrund, warum Männer und Frauen heute dazu neigen, einander zu lieben, besteht darin, daß unter ihren frühen Vorfahren die Rudimente solcher Neigungen einen wesentlichen Beitrag zum Überleben der Kinder leisteten. «35

So einfach also läßt sich die Liebe begründen, wenn man sie der Natur zuschreibt. Die massive Kritik, auf die die paläoanthropologischen Theorien gestoßen sind,36 bestätigt unseren methodologischen Verdacht, daß es sich lediglich um eine Rückprojektion kultureller Organisationsformen in das genetische Geschehen der Naturgeschichte handelt. Sicherlich kann man fragen, ob nicht auch schon die frühesten Vorfahren in familienähnlichen Zusammenschlüssen lebten. Auch Johanson hat so gefragt.37 Anhaltspunkte allerdings haben wir nur dafür, daß sie in kleineren Gruppen lebten, ohne daß wir irgendeinen Anhalt für die Zahl der D. Quiatt/J. Kelso, Household Economics, S. 207 ff. D. Quiatt/J. Kelso, ebd., S. 209. S. L. W. Mellen, The Evolution of Love, S. 111. Vgl. die Kommentare im Anschluß an den Artikel von D. Quiatt/J. Kelso in: Current Anthropology, S. 211 ff. 37 Vgl. D. C. Johanson, Ethopia Yields First Family, S. 791 ff.

33 34 35 36

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Die Universalität des Geschlechterverhältnisses

Gruppenmitglieder hätten.38 Daß sich bereits in dieser Zeit ein intimes Verhältnis der Geschlechter gebildet hätte, dafür fehlt jeder Beleg. Allein, auch wenn es sich gebildet hätte, müßte es ganz anders ausgesehen haben. Genetische Steuerungsmechanismen, wie sie für diese Zeit angenommen werden, haben eine andere Mechanik als kulturelle. Ungleich plausibler erscheint es deshalb, wenn man den Bildungsprozeß eines spezifisch humanen Verhältnisses zwischen den Geschlechtern mit dem Auftreten des homo erectus vor ca. 1,5 Millionen Jahren beginnen läßt.39 Denn das ist die Phase der Evolution, für die man, wie schon erwähnt, auch die Ausbildung der Sprache annimmt, mit der der eigentliche Prozeß der Enkulturation allererst in Gang gesetzt werden konnte.40 Seit dieser Phase müssen wir das Zusammentreffen von naturgeschichtlicher Evolution und kultureller Entwicklung annehmen. Es scheint durchaus berechtigt, mit Bezug auf diese Entwicklung zu fragen, was evolutiv der sich bildenden Gattung einen Vorteil verschafft hat. Die Antworten in der Literatur liegen nahe beisammen: sicher das Jagen, sicher das Sammeln, sicher beide zusammen – Thesen, die jede für sich die Forschung eine Zeitlang geleitet haben.41 Entscheidend jedoch ist der Enkulturationsprozeß in seiner Gesamtheit, also derjenige Prozeß, in dem die Organisationsform von einer dominant instinktiven auf eine dominant kulturelle Organisation umgestellt wurde. Da der Erwerbsprozeß kultureller Lebensformen unabdingbar in der frühen Phase einer jeden Ontogenese beginnt, haben mit ihm auch diejenigen ontogenetischen Prozesse Gestalt gewonnen, die, wie wir oben gezeigt haben, zur Ausbildung des spezifisch humanen Geschlechterverhältnisses führen. Notwendig müssen sich deshalb mit dem Beginn der Enkulturation auch Anfänge familialer Organisa­ tion gebildet haben. Deutlicher werden die Spuren familienähnlicher Zusammenschlüsse mit dem Auftreten des homo sapiens, das man gewöhnlich vor 500 000 Jahren ansetzt.42 Das Alter der Siedlung von Terra Amata (bei Nizza) beträgt etwa 380 000 Jahre. Im Innern der von Sammlern und Jägern nur saisonal benutzten Hütten befanden sich mehrere Herdstellen. Wenn man will, kann man darin Anzeichen einer internen sozialen Organisation sehen; zumindest muß die kognitive Kompetenz fortgeschritten gewesen sein; anders hätten Hütten dieser Bauart nicht errichtet werden können. Man wird deshalb auch auf eine fortgeschrittene Kooperation 38 D. C. Johanson, ebd., S. 791 f.; M. D. Leakey, Olduvai Gorge, S. 259. 39 So A. Kortlandt, Comment, S. 213. 40 Vgl. dazu M. Hildebrand-Nilshon, Die Entwicklung der Sprache, S. 93 ff. 41 R. Ardrey, The Hunting Hypothesis. S. L. Washburn/V. Avis, The Evolution of Human Behavior, S. 421 ff. 42 Vgl. zum folgenden V. R. Kabo, Die Urgemeinschaft, S. 6 ff. Ich führe die weiteren Verweisungen bei Kabo hier nicht auf. Sie beziehen sich überwiegend auf sowjetische Forschungen.

Beistand von der Paläoanthropologie 127

zwischen den Bewohnern schließen dürfen. Die Überlegungen werden gestützt durch den ältesten Fund in der Höhle Azychskaja in Aserbeidschan. Sie ist 250 000 Jahre alt. Die Reste einer künstlichen Behausung lassen fünf Herdstellen erkennen. Tierknochen von 35 Tierarten lassen auf eine kooperative Jagd und ela­borierte Jagdtechnik schließen. Eine andere ebenfalls bei Nizza gelegene Fundstelle, die Grotte von Lazaret, wird in das Acheuléen datiert. Ihr Alter wird mit 200 000 Jahren angegeben. Sie zeigt eine mit der Rückwand an die Grotte angelehnte Hütte, die im Innern durch zwei Feuerstellen gegliedert ist. G. Isaac schätzt die Größe der Gruppe der Acheuléenjäger auf vier bis dreißig Erwachsene.43 Die Behausungen haben unterschiedlichen Zwecken gedient. Man hat daraus bereits für das frühe und mittlere Acheuléen auf eine Differenzierung der Männer- und Frauenarbeit und eine Spezialisierung der Männer auf die Jagd geschlossen.44 In den Feuerstellen hat man Hinweise auf Protofamilien gesehen. Die Annahme würde sich mit unserem rekonstruktiven Nachweis, daß der Enkulturationsprozeß über die Paarbildung der Geschlechter verläuft, decken. Im Moustérien, das man vor ca. 100 000 Jahren beginnen läßt, werden die Funde reicher. Hunderte von einstmals bewohnten Stätten sind allein in Westeuropa entdeckt worden. Sie bestätigen die Vermutung, daß die Hütten von Proto­ familien bewohnt gewesen sein könnten. So beträgt der Durchmesser der fünf Hütten der Siedlung Suchaga Mečetka bei Volgograd sieben Meter. In der Moustérien-Siedlung Ketrosy am Dnestr wurde ein ganzer Wirtschaftskomplex ausgegraben; die Hütte betrug zwölf Quadratmeter mit einem Herd in der Mitte; in ihr können kaum mehr als sechs bis acht Menschen gelebt haben. – Je näher wir dem Jungpaläolithikum kommen und damit der Ausbildung des rezenten homo sapiens, desto sicherer wird der Befund, daß sich die lokalen Gruppen jeweils aus kleineren Gruppen von der Größe von Familien zusammengesetzt haben. So finden wir in der Siedlung Trécassats, einer Siedlung aus der Würm I-Zeit, in der die Menschen vorzugsweise unter freiem Himmel siedelten, kleine Hütten, die nicht mehr Platz boten als für eine Familie mit Kindern, – wenn denn in ihnen Familien lebten. Die jungpaläolithischen Sammler und Jäger gehören gattungsgeschichtlich dem Typ des homo sapiens sapiens an. Eine Vielzahl von Siedlungen zeigt die schon bekannten runden oder ovalen Hütten mit einem Durchmesser von vier bis sechs Metern und einem Herd. Daneben kommen auch rechteckige Hütten mit Maßen bis zu sieben mal sechs Metern vor. In Mal’ta bei Irkutsk wurde eine derartige Siedlung auf einer Fläche von 11 000 Quadratmetern ausgegraben, die größte uns bisher bekannte paläolithische Siedlung. In dieser Siedlung befindet sich auch 43 G. Isaac, Traces of Pleistocene Hunters, S. 253 ff. 44 So V. R. Kabo, Die Urgemeinschaft, S. 72.

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Die Universalität des Geschlechterverhältnisses

ein Langhaus von vierzehn mal sechs Metern, das entweder als Gemeinschaftszentrum oder als Siedlungshaus im Winter gedient haben mag. Häuser dieses Typs findet man auch an anderen Orten. So sind in Kostenki IV zwei Wohnstätten ausgegraben worden, von denen die eine zehn oder mehr Herdstätten aufwies, die andere neun. In Kostenki I sind neun Feuerstätten entlang der Längsachse des Hauses im Abstand von zwei Metern gelegen. Auch die Anlage dieser Feuerstätten gibt Anlaß zu der Vermutung, die Bewohner hätten in Familien gelebt. Besondere Aufmerksamkeit verdienen Siedlungen, die allem Anschein nach aus einer einzigen Behausung bestanden. Es liegt nahe zu vermuten, daß sie im Jungpaläolithikum aus ähnlichen Gründen entstanden wie bei rezenten Sammlern und Jägern: In der ökologisch schwierigen Jahreszeit zerstreuen sich die größeren Siedlungseinheiten und schaffen so eine bessere Voraussetzung zum Überleben. Auch für diese Einzelsiedlungen hat man in der Wirtschaftseinheit eine familiale Einheit gesehen. Faßt man die Annahmen in der Literatur zusammen, so läßt sich mit G. P. Gri­ gor’ev feststellen, » daß die ursprüngliche soziale Zelle dieser Zeit die Paarungsfamilie war, und daß die Lokalgruppen aus fünf bis zehn, seltener aus fünfzehn bis zwanzig Paarungsfamilien bestanden. «45 Fügen wir hinzu, daß dieser Befund aus dem archäologischen Material allein nicht gewonnen werden kann. Für diese Zeit können wir jedoch neben unserer rekonstruktiven Systematik unser Wissen über die soziale Organisation der rezenten Sammler-Jäger-Gesellschaften beiziehen. Denn die für die Struktur der Gesellschaft maßgebenden Bedingungen, unter denen sie lebten, waren in der Frühzeit des homo sapiens sapiens keine anderen.46 Wenn demnach auch die paläoanthropologischen Rekonstruktionsversuche, die bis vor das Pleistozän zurückgehen, wegen der methodischen Bedenken wenig hilfreich sind, das Material, das aus dem Altpaläolithikum auf uns überkommen ist, unterstützt unsere systematische Rekonstruktion. Vom homo erectus an beginnt der Enkulturationsprozeß Fortschritte zu machen, mit ihm beginnen diejenigen Bedingungen sich auszubilden, die das Verhältnis der Geschlechter begründet haben. Wann sie zu definitiven Familienformen geführt haben, ist für uns nicht besonders wichtig. Wichtig ist lediglich, zu sehen, daß sie in Voraussetzungen gründen, die sie einem kulturellen Erwerbsprozeß zuschreiben lassen. Bekräftigen wir deshalb unsere These: Das Verhältnis der Geschlechter hat es zu allen Zeiten der Geschichte gegeben, es hat sich mit der Enkulturation entwickelt. Ihre institutionelle Form waren Familien. Sie waren der Grundstock, um den herum sich die weitere Gesellschaft ausgebildet hat. Wo immer aber sich ein spezi-

45 Zitiert bei V. R. Kabo, Die Urgemeinschaft, S. 87. 46 M. D. Leakey, Olduvai Gorge, S. 259.

Beistand von der Paläoanthropologie 129

fisch humanes Verhältnis der Geschlechter gebildet hat, hat die Kommunikation der individuellen Naturen auch das entstehen lassen, was wir Liebe nennen. Auch die Institutionalisierung des Geschlechterverhältnisses will historischgenetisch verstanden sein. Wir haben eine der Bedingungen für seine Ausbildung: die Intimität, sich in der frühen Ontogenese entwickeln sehen. Historisch muß mithin die Mutter-Kind-Dyade der Ausbildung des Geschlechterverhältnisses und seiner familialen Institutionalisierung vorausgegangen sein. Diese Annahme bereitet insofern keine Schwierigkeiten, als die Mutter-Kind-Dyade stammesgeschichtlich aus der engen Beziehung zwischen der Mutter und dem Jungen bei den subhumanen Primaten hervorgegangen ist. Die Frage ist jedoch, wodurch die Mutter-Kind-Dyade in ihrer spezifisch humanen Form begründet wurde. Wir müssen deshalb unsere Erörterung der Ausbildung der familialen Organisation durch die Ausbildung der bisher nicht erörterten filiativen Dyaden zwischen Mutter und Kind und zwischen dem Vater und den Kindern der Frau fortsetzen.

Kapitel 7 Die Ausbildung der filiativen Dyaden

1

Die Mutter-Kind-Dyade

1.1

Die Mutter-Kind-Dyade als primäre Dyade

Es wird allgemein angenommen, daß die primäre familiale Dyade die MutterKind-Dyade ist.1 So richtig die Annahme ist, in sie hat sich ein Mißverständnis eingeschlichen: Als primäre Dyade wird die Mutter-Kind-Beziehung deshalb angesehen, weil sie als die » natürliche « gilt, während alle anderen erst sozio-kulturell konstituiert und an sie angeschlossen werden müssen. In der Anthropologie besteht ohnehin die Tendenz, alles, was irgend mit der Fruchtbarkeit der Frau und ihrer Reproduktionsfähigkeit zu tun hat, der Natur zuzuschreiben: » Everything to do with female reproductivity … is visibly grounded in nature «2. Das freilich ist ein Truismus. Denn daß Kinder von Müttern geboren werden, sagt noch nichts darüber, in welcher Weise sie von ihnen auch bemuttert werden. Unser Interesse richtet sich aber gerade auf die qualitativen Beziehungen zwischen Mutter und Kind, wie wir sie in der familialen Dyade im Normalfall ausgebildet finden. Im Blick auf diese Beziehungen ist aber gerade zweifelhaft, ob der schiere Umstand, daß Kinder von Müttern geboren werden, das schafft, was die familiale Beziehung zwischen beiden auszeichnet: Annahme, Fürsorge, Zärtlichkeit, le­benslange Bindung. Wenn diese Beziehungen aber erst sozial konstituierte Beziehungen sind, fragt sich, mit welchem Recht sie als die primären verstanden werden. Die Frage hat einen phylogenetischen und einen historischen Aspekt. Phylogenetisch fragt sich, wie sich die mütterlichen Fähigkeiten im Tier-Mensch-Übergangsfeld entwickeln konnten. Historisch fragt sich, wodurch sie sich diesseits der definitiven 1 2

R. Fox, Kinship and Marriage, S. 37. M. Allen, Rethinking Old Problems, S. 27.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_8

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Die Ausbildung der filiativen Dyaden

Schwelle zur humanen Organisation auszeichnen. Erörtern wir zunächst die letzte Frage.

1.2

Die Übernahme der Mutterrolle

In einer historisch-genetischen Theorie stellt sich unabweislich die Frage, was Mütter veranlaßt, sich der Kinder, die sie zur Welt bringen, anzunehmen und sie aufzuziehen. Denn wenn man Wert darauf legt, die Mutter-Kind-Dyade als kulturelle Dyade anzusehen, ist damit bereits zum Ausdruck gebracht, daß die subhumanen Determinanten des Brutpflegeverhaltens nicht ohne weiteres in Anspruch genommen werden können. Die Kultur, das gilt es auch hier zu bedenken, ist das andere der Natur. In der Literatur wird vielfach angenommen, daß auch beim Menschen das mütterliche Verhalten natural abgestützt sei. Dafür wird neben anderen Gründen eine instinktive Anlage in Anspruch genommen, die als Instinktrumpf, also unter Verlust rigider Verhaltensdeterminanten, wirksam sein soll.3 Eine im strikten Sinn instinktive, also genetisch fixierte Determinante der Mütterlichkeit anzunehmen, scheint schon aus biologischen Gründen wenig einleuchtend. Denn wenn es sich um genetische Anlagen handelte, würden sie auch an die männlichen Nachkommen weitergereicht, könnten also nicht spezifisch weiblich sein.4 Am ehesten noch lassen sich hormonale Einflüsse vermuten.5 Eine solche Wirkung schreibt Roger Larsen dem Prolaktin zu. Er selbst faßt die Ergebnisse seiner Argumenta­tion wie folgt zusammen: » Im Verlauf einer Schwangerschaft kommt es zu einer konstanten Erhöhung des Prolaktinspiegels, der bei Frauen, die nicht stillen, rapide absinkt … Das Prolaktin hat ein sehr breites Wirkungsfeld: eine mammotrope, eine laktogene, eine lutotrope Wirkung, eine Stimulation zu elterlichem Verhalten und zum Wachstum. Verbunden mit einer fortlaufenden Anpassung an die Nahrungsforderungen des Säuglings, die einen beinahe ständigen Kontakt zwischen Mutter und Kind zur Folge haben, läßt dies beim Menschen geschlechtsspezifische Unterschiede im Nährverhalten vermuten. «6

3 R. Bilz, Die unbewältigte Vergangenheit, S. 43 f.; J. A. Barnes, Genetrix, S. 73. 4 Vgl. S. Ohno, Die biologische Grundlage, S. 69. 5 Eine Darstellung des weiblichen Lebenszyklus ganz unter der Perspektive hormonaler Steuerungen der Befindlichkeit und des Verhaltens findet sich bei Th. Benedek, Psychobiological Aspects of Mothering, S. 272 ff. 6 R. Larsen, Die evolutionären Grundlagen, S. 425.

Die Mutter-Kind-Dyade 133

Die Einflüsse sind aber nur zu vermuten; im strengen Sinne nachgewiesen sind sie nicht.7 Man wird sich in der Ablehnung bereits stammesgeschichtlich entwickelter Einflüsse allerdings nicht zu stark machen.8 Denn ein entschieden mütterliches Verhalten, das phänotypisch in mancher Hinsicht dem menschlichen ähnlich ist, beobachten wir auch bei unseren nächsten Verwandten: den Schimpansen. Bereits gattungsgeschichtlich ausgebildete Determinanten lassen sich deshalb zumindest für die frühe Phase des Mutterns nicht ausschließen. Die Frage, ob und wie weit das mütterliche Verhalten natural gestützt ist, ist für unser gegenwärtiges Problem: der Begründung mütterlichen Verhaltens diesseits der Schwelle der definitiv gewordenen Enkulturation, nur von begrenzter Bedeutung. Denn auch wenn man eine naturale Stützung des mütterlichen Verhaltens für möglich hält, bleibt die Frage, wie weit sie reicht. Sicher ist, daß sie nicht ausreicht, um die Mutter-Kind-Dyade zu gestalten. Das zeigt sich zum einen an den Organisationsformen, in denen sich dieses Verhältnis entwickelt: Keine der naturalen Determinanten vermag die konkreten Formen zu erklären, in denen die Zuwendung erfolgt; sie sind durch und durch kultureller Natur. Mehr als eine affektive Bindung würde deshalb die Annahme einer naturalen Determinante ohnehin nicht erklären. Insbesondere die lebenslange Bindung, die sich zwischen Mutter und Kind entwickelt, läßt sich auf eine naturale Determinante nicht zurückführen. Die kulturelle Organisation zeigt sich zum anderen an der Schattenseite der Mutter-Kind-Beziehung: Sie ist in hohem Maße Defizienzen zugänglich, die kultureller Herkunft sind. Was also sind die kulturellen Determinanten ? Wann immer man nach universalen kulturellen Determinanten sucht, die das Handeln bestimmen, liegt, nach allem, was wir bisher erörtert haben, die Antwort nahe, ihre Anfänge seien in der frühen Kindheit ausgebildet, zumindest sei in ihr der Grund für sie gelegt. Das müsse auch für das mütterliche Verhalten, das Muttern, gelten. In der Tat, da alle elementaren Kompetenzen hier ihren Anfang nehmen, ist es angezeigt, auch die Rekonstruktion des Mutterns hier zu beginnen: Die Mutter war auch einmal Kind. In ihrer Kindheit haben sich af­fektive Bindungen zu ihrer Mutter gebildet, die sich lebenslang durchhalten. Affektive Bindungen sind besonders in der frühen Kindheit prägend. Noch ist die Binnenlage unorganisiert; noch wird jede eingehende Erfahrung nicht durch unzählige an­ dere, die bereits ihren Niederschlag in Befindlichkeiten und Verhaltensdispositionen gefunden haben, irritiert. Was jetzt geschieht, schreibt sich dem Organismus ein. Der Bedarf an Fürsorge und Zärtlichkeit formiert sich deshalb in der frühen Kindheit zusammen mit den Antworten, die er findet, zu einem mächtigen Syndrom der Bindung an den anderen. Es wird künftig allen Situationen, die eine 7 Vgl. E. Maccoby/C. Jacklin, The Psychology of Sex Differences, S. 220. 8 Anders die Tendenz von N. Chodorow, Das Erbe der Mütter, S. 36 ff., aber undifferenziert.

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Die Ausbildung der filiativen Dyaden

gesteigerte Form von Affektivität im Umgang mit anderen mit sich bringen, zugrunde liegen. Es ist diese frühkindliche Prägung der Mutter, die ihr Verhalten gegenüber dem Kind und den Umgang mit ihm bestimmt. Ich habe den Begriff der Prägung nicht ohne Grund gebraucht. Er entstammt der Ethologie, kann also lediglich im übertragenen Sinn gemeint sein. Wenn wir jedoch davon ausgehen müssen, daß sich frühkindliche Erfahrungen mitsamt ihren Erlebniswerten dem Organismus buchstäblich einbilden, wie wir das bei der Erörterung des Bildungsprozesses des Subjekts dargelegt haben, dann dürfen wir auch davon ausgehen, daß die durch sie bewirkten Prägungen in Situationen, die den frühkindlichen gleichen, wie ein Auslöser wirken. Tatsächlich sind Re­aktions­weisen, die von Auslösern abgerufen werden, häufig beschrieben worden.9 Sie brauchen keineswegs instinktiv fixiert zu sein.10 Kulturelle Auslöser lassen sich ebenfalls abrufen. Die Situation zwischen Mutter und Kind, aufgrund deren sie wirksam werden, ist jedoch grundverschieden von der subhumanen zwischen Mutter und Jungem. Im Verhältnis der Mutter zu ihrem Kind bringt sich ein erst kulturell erworbener Mechanismus ins Spiel, der für das mütterliche Verhalten von allergrößter Bedeutung ist. Mütter verfügen über die Kompetenz sozialer Interaktion, und das heißt, sie verfügen über die Kompetenz, vom Standpunkt des anderen aus denken und agieren zu können. Wenn diese Kompetenz im allgemeinen nur begrenzt effizient wird, weil jedem, der vom Standpunkt des anderen aus die Welt sieht und mit eigenen Gedanken denkt, das Innere des anderen fremd bleibt, so führt diese Begrenzung im Umgang der Mutter mit den Kind gerade zu jenem Effekt, um den es hier zu tun ist: Die Mutter identifiziert sich mit dem Kind und ruft damit ihre eigene Kindheitserfahrung wach. Die Identifikation wird zum einen dadurch bewirkt, daß die Mutter das Kind substanzhaft als Teil ihrer selbst versteht. Durch die Geschichte hin ist diese identifikatorische Einheit zwischen Mutter und Kind hervorgekehrt worden. Die Identifikation infolge der Abstammung bewirkt allerdings noch nicht das Muttern. Dazu ist es notwendig, daß sich die Mutter in die Lage des Kindes versetzt und stärker noch: sich infolge der Identifikation mit dem Kind in ihr befindet. Diese Form der Identifikation wird durch den interaktiven Mechanismus, sich an die Stelle des anderen zu versetzen, bewirkt. Beide Identifikationen verschmelzen und verstärken sich. Der interaktive Prozeß zwischen Mutter und Kind führt infolge der Identifikation dazu, daß die Mutter sich selbst realiter in die Lage des Kindes versetzt sieht und dabei ihre eigene frühkindliche Prägung lebendig werden läßt. Das aber heißt: Die Mutter prozessualisiert sich selbst. Der eigenproduzierte Antrieb gibt mütterlichem Verhalten jenen natura9 Vgl. R. Bilz, Die unbewältigte Vergangenheit, S. 42 f. 10 Zu angeborenen Auslösern vgl. K. Lorenz, Die angeborenen Formen, S. 235 ff.

Die Mutter-Kind-Dyade 135

len Anstrich, der vielfach mit ihm verbunden wird. Er ist ab origine kulturell determiniert. Der Mechanismus ist eigenartig doppelpolig: An sich könnte man meinen, durch Identifikation und Perspektivenwechsel komme es lediglich dazu, die Situation der frühen Kindheit und die mit ihr verbundene emotionale Bindung lebendig werden zu lassen. Dann bliebe immer noch zu fragen, wodurch das Muttern, um das es uns eigentlich zu tun ist, bewirkt wird. Allein, für die Bedeutung der frühkindlichen Erfahrung im Hinblick auf die Ausbildung des Mutterns gilt, was wir für die Intimität der frühen Jahre und ihre Reorganisation in späterer Zeit nachdrücklich hervorgehoben haben: Sie ist prozeßlogisch zu verstehen. Das heißt, sie wird in eine andere Lebenslage überführt und verändert sich dabei. Die eigene frühkindliche Erfahrung aktiviert sich nicht in der ganz unbestimmten Weise frühkindlicher Emotionalität, sondern in einer Situation, in der die jetzige Mutter die Stelle ihrer eigenen Mutter einnimmt. Deren Muttern hat sie als Kind lediglich im Gefühlssyndrom der affektiven Bindung wahrgenommen. Gegenwärtig läßt sich dieses Syndrom beleben, zugleich aber differenzieren. Ihre Identifikation mit dem Kind bewirkt, daß sie sich die Rolle als Mutter zuschreibt und damit unter Rollenzwang setzt. Es macht die Pointe der mütterlichen Identifikation mit dem Kind aus, daß mit ihrer Kindeserfahrung die Mutterrolle mit aktiviert wird. Der Umstand, daß sie in der Identifikation mit dem Kind sowohl ihre eigene kindliche Erfahrung als auch die Fürsorgerolle ihrer Mutter aktiviert, läßt sie die Mutterrolle dann auch wirklich übernehmen. Wenn man nach allem fragt, was Mütter veranlaßt, Kinder aufzuziehen, so kann die Antwort schlicht sein: ihre eigene innere Natur. Mütter ziehen ihre Kinder auf, weil sie selbst von Müttern aufgezogen wurden. Kommen wir noch einmal auf die Frage nach der naturalen Abstützung dieser Rolle zurück. Zunächst zeigt sich, daß der Verweis an die » innere Natur « ein reales Moment enthält: Die frühkindliche Erfahrung ist eine dem Organismus als innere Natur eingebildete Erfahrung. Sie hat durch die Einbildung in den Organismus eine wirkliche Naturalisierung erfahren. Es kann jedoch nicht nachdrücklich genug betont werden, daß das, was sich hernach als » innere Natur « darstellt, eine erst kulturell erworbene Natur ist. Nahezu jedwede Form mütterlichen Verhaltens: die Fürsorge, die Zärtlichkeit, die Verteidigungsbereitschaft oder was sonst man nennen mag, für die andere einen naturalen Unterbau in Anspruch nehmen, lassen sich mit größerem Recht aus der frühkindlichen Prägung herleiten. Weshalb soll, um ein von Bilz angeführtes Beispiel zu nennen, der Grund dafür, daß eine Mutter, die auf dem Wege nach Hause ein fremdes Kind weinen hört und ihren Schritt beschleunigt, um schneller zu ihrem eigenen Kind zu kommen, nur in einem stammesgeschichtlich noch wirksamen Fürsorgeverhalten liegen ?11 11 R. Bilz, Die unbewältigte Vergangenheit, S. 43.

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Die Ausbildung der filiativen Dyaden

Der gleiche Vorgang läßt sich eher als kulturelle Prägung erklären. Gesetzt aber, es gäbe einen derart naturalen Unterbau, dann ginge er einträchtig mit dem zusammen, was sich als kulturelle Form ebenfalls entwickelt. Der kulturelle Prozeß würde den naturalen verstärken. – Unsere Erörterungen sind ein klärendes Beispiel für die Rolle der Natur in einer historisch-genetischen Theorie. Wir brauchen sie; wir lassen frühkindliche kulturelle Prägungen sich dem Organismus einbilden. Aber wir brauchen sie in einer Weise, die ihr einen anderen Stellenwert als in einer biologischen Theorie zukommen läßt: Sie liefert den naturalen Antrieb für eine kulturell ausgebildete Daseinsweise. In aller Geschichte waren es Mütter, die die Kinder aufgezogen haben. Es wäre in den frühen Gesellschaften keiner Frau eingefallen, diese Rolle von sich zu weisen, und keinem Mann, sie der Frau streitig zu machen.12 Dazu fehlte zum einen die Organisationskompetenz, um das, was sich naturwüchsig entwickelt, zum Gegenstand einer kulturellen Umgestaltung werden zu lassen; zum anderen aber gewann die Frau vornehmlich durch ihre Mutterrolle ihren gesellschaftlichen Status. Gegenwärtig nehmen sich die Verhältnisse anders aus. Wenn unsere Erwägungen zum kulturellen Erwerbsprozeß der Mutterrolle richtig sind, das Muttern mithin in der eigenen Erfahrung der frühen Kindheit seinen Grund hat, dann zeigt sich, daß diese Bestimmungsgründe gleicherweise für die Männer gelten. Es kann deshalb keine Frage sein, daß die Mutterrolle auch vom Mann übernommen werden kann. Eine andere Frage ist, ob Männer die gleiche Bereitschaft mitbringen, Kinder in dieser frühen Phase ihres Lebens aufzuziehen. Sollte sich als richtig erweisen, was die überwiegende Lehre annimmt, daß die Mutterrolle zumindest anfänglich natural gestützt wird, dann müßten Väter, die diese Rolle übernehmen, ein kulturelles Plus an Motivation aufbringen – möglich ist es.

1.3

Die phylogenetische und die historische Entwicklung

Die Mutter-Kind-Dyade ist noch in einem ganz anderen Sinne primär: Über sie ist auch phylogenetisch der Enkulturationsprozeß gelaufen. Wenn, wie unsere eingangs dargelegten Überlegungen zeigen, der Enkulturationsprozeß einzig aus der Ontogenese herausgeführt werden kann, dann heißt das unumgänglich, daß in dieser stammesgeschichtlich schon vorstrukturierten Dyade der Gattungsprozeß in Gang gesetzt worden sein muß. Zu dem gleichen Ergebnis kommt man im Anschluß an die Bedeutung, die wir den Geschlechtern im Bildungsprozeß der

12 E. Evans-Pritchard, The Position of Women, S. 50. Vgl. auch D. H. Dwyer, Ideologies of Sexual Inequality, S. 232; J. K. Brown, A Note on the Division of Labor by Sex, S. 1073 ff.

Die Mutter-Kind-Dyade 137

Menschheit zugeschrieben haben. Denn das Geschlechterverhältnis konnte sich ebenfalls nur bilden, weil in der Ontogenese die Enkulturation eingeleitet wurde. Der Vorgang stimmt mit allem überein, was wir aus der Paläoanthropologie wissen. Alle paläoanthropologischen Funde zeigen uns, daß die Entwicklung zum homo sapiens mit einer verlängerten Tragzeit und einer gesteigerten Unfertig­ keit des Menschen bei der Geburt sowie einer langen Kindheitsphase einherging. In ihr wurde die Chance, die instinktiven Fixierungen durch sozio-kulturelle Lebensformen zu ersetzen, eingeleitet und genutzt. Einzig in dieser Phase ließ sich der kulturelle Erwerbsprozeß in Gang setzen; seine Errungenschaften wurden hernach auf der Erwachsenenebene der Lebenspraxis zugeführt. Rekonstruktiv läßt sich der Entwicklungsprozeß der primären Dyade und mit ihm der des Mutterns schematisch wie folgt darstellen: Von der engen Bindung, die wir bereits bei unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, in der Mutter-Kind-Dyade finden, können wir auch für unsere Vorfahren ausgehen. In der modellhaft angenommenen kulturellen Nullage der Phylogenese hätten wir dann ein natural gesteuertes Fürsorgeverhalten der Mutter anzunehmen, während das Junge in seiner Interaktion mit ihr sozio-kulturelle Kompetenzen und Verhaltensformen zu entwickeln beginnt. Das ist deshalb denkbar, weil das eigentlich konstruktive Moment des kulturellen Erwerbsprozesses beim nachwachsenden Gattungsmitglied liegt. Das noch natural gebundene interaktive Fürsorgeverhalten der Mutter reicht aus, um allereinfachste kulturelle Kompetenzen auf seiten des Jungen zu entwickeln. Das kann vorsprachlich geschehen, wie auch in späterer Zeit kognitive Kompetenzen in den beiden ersten Lebensjahren noch vorsprachlich entwickelt werden. In der nachfolgenden Mutter-Kind-Dyade verfügt die Mutter bereits über einige sozio-kulturelle Kompetenzen, die sie veranlassen, sich in eben der Weise zu prozessualisieren, wie wir das zuvor geschildert haben: In der Zuwendung zum Kind löst sie vermöge ihrer Interaktionskompetenz ihre eigene frühkindliche Prägung aus. Das progressive Moment läuft mithin über die jeweils nachwachsende Generation; aber es kehrt in dem mütterlichen Verhalten dieser Generation in die Ontogenese zurück. Der Prozeß schaukelt sich in den folgenden Generationen hoch. Je weiter die nachwachsenden Gattungsmitglieder in der Entwicklung kultureller Lebenskompetenzen fortschreiten, desto entschiedener entwickeln sich die kulturell begründeten Formen mütterlichen Verhaltens. Diesseits einer virtuellen Schnittlinie, also unter der anthropologischen Verfassung des homo sapiens sapiens, mag es noch naturale Abstützungen geben, der Prozeß selbst wird von der kulturellen Organisationsform des Daseins bestimmt. Umgekehrt also als in den Enkulturationstheorien Freuds und Lévi-Strauss’ angenommen wird, hat die Hauptlast in der Enkulturation die Frau getragen. Die Grundstrukturen der Interaktion müssen sich in der Interaktion mit dem weiblichen Geschlecht ausgebildet haben. Die Nutzung der in der frühen Onto­genese

138

Die Ausbildung der filiativen Dyaden

geschaffenen Möglichkeiten freilich erfolgte durch beide Geschlechter in gleicher Weise. Ich habe in früherem Zusammenhang schon darauf hingewiesen, daß sich unsere Untersuchung auf die Verhältnisse beschränkt, wie wir sie aufgrund der anthropologischen Verfassung des homo sapiens sapiens zu rekonstruieren vermögen. Das setzt allerdings voraus, daß wir uns des Einwandes erwehren, einem infiniten Regreß aufzusitzen. Wie immer wir deshalb die Entwicklung kultureller Kompetenzen und kultureller Lebensform im Nebeneinander von naturalen (instinktiven) und kulturellen Mechanismen im Tier-Mensch-Übergangsfeld uns verständlich zu machen suchen, wir müssen annehmen, daß sie möglich war, wenn wir nicht die Evolution überhaupt in Frage stellen wollen.

2

Der soziologische Vater

2.1

Der kulturelle Ursprung der Vaterrolle

Eine soziologische Theorie ist genauso stark wie das Netz der systemischen Beziehungen, das sie zwischen den sozialen Phänomenen ihres Gegenstandsbereichs zu knüpfen weiß. Die historisch-genetische Theorie der Geschlechterbeziehung muß daher eine Figur einbeziehen, die in diesem Prozeß einzigartig ist: die Rolle des soziologischen Vaters. Einzigartig ist sie deshalb, weil sie ohne stammesgeschichtliche Vorläufer ist. Gewiß, auch die Rolle der Mutter ist eine kulturell ausgebil­ dete Rolle. Stammesgeschichtlich schließt sie jedoch an die naturgeschichtlich begründete Beziehung zwischen Mutter und Jungem an. Zwar sind auch Väter an der Zeugung beteiligt, wenn sie es sind. Das jedoch schafft nicht per se die Grundlage für die Beziehung zu den Kindern, die daraus hervorgeht. Männliche Tiere übernehmen in einigen Sozietäten Schutzfunktionen gegenüber den Jungen; aber das ist etwas anderes als die Rolle, die Väter in familialen Beziehungen gegenüber den Kindern übernehmen. Und, um das Faszinosum zu komplettieren: Die Vaterrolle ist universal. Selbst unter den ungewöhnlichen Familienverhältnissen der Nayar gilt der Mann, dem die Mutter rituell verbunden wird, als der Vater der Kinder.13 Woher rührt diese Entwicklung ?

13 E. K. Gough, Female Initiation Rites, S. 45 ff. (50 f.).

Der soziologische Vater 139

2.2

Die Anbindung an die Frau

Vater der Kinder der Frau ist der Mann, der mit ihr in einer relativ dauerhaften Intimitätsbeziehung lebt, wie wir sie zuvor erörtert haben, also mit einer relativ ausschließlichen Sexualität. So jedenfalls läßt sich der Vater für die Normallage der Gesellschaften bestimmen. Abweichende Regelungen wie die zuvor er­wähnte bei den Nayar lehnen sich daran an. Die Vaterrolle wird mithin nicht über die blutsmäßige Beziehung zu den Kindern begründet; mit ihr fällt sie lediglich zumeist zusammen. Sie selbst ist im strikten Sinne eine soziale Bestimmung; der Vater ist ein soziologischer Vater. Wir erhalten dadurch einen Hinweis auf ihre Genese: Als sozio-kulturelle Rolle, die von Anfang an dem Geschlechterverhältnis verbunden ist, muß sie, wie das Geschlechterverhältnis selbst, aufs engste auch der Enkulturation verbunden sein. Wir werden deshalb vermuten, daß sie sich aus der Grundkonstellation heraus entwickelt hat, aus der die Enkulturation ihrerseits hervorgegangen ist, und die wird, wie wir wissen, durch die Mutter-Kind-Dyade gebildet. Verfolgt man diese Spur, wird die Entwicklung der Vaterrolle in der Tat ver­ständlich. Die Rolle des Vaters ist an die konjugale Beziehung zur Frau gebunden. Im Verhältnis zur Frau sucht der Mann, wie wir ebenfalls wissen, die frühkindliche Intimität auf verändertem psycho-sexuellem Niveau seiner Entwicklung zu re­ organisieren. Dabei tritt an die Stelle seiner Mutter seine Frau. Das aber läßt ihn in den Kindern der Frau die Erfahrung seiner eigenen Kindheit aktivieren. Auch insofern nehme ich nicht an, daß es sich um eine Regression in den frühkindlichen Zustand handelt. Es genügt anzunehmen, daß sich die frühkindliche Konstellation und deren positive emotionale Besetzung dem Organismus eingeprägt hat und die Emotionalität des Mannes zu bestimmen vermag. Von dieser Annahme aber können wir ebenso ausgehen, wie wir bei der Frau von ihr ausgegangen sind. Die Emotionalität der frühkindlichen Erfahrung ist ein Syndrom, in dem die eigene Bedürftigkeit und das Behütetsein kaum differenziert sind. Das gilt nicht nur im Blick auf die frühe symbiotische Phase, sondern auch für die sich anschließend ausbildende Intimität. Die Emotionalität wird von der Subjekt-Objekt-Differenzierung ungleich weniger bestimmt als die Kognition. Dadurch, daß die eigene Kindesrolle in der Identifikation mit den Kindern der Frau wieder lebendig wird, wird deshalb auch für den Mann unter den Bedingungen seiner derzeitigen Lebenslage die Rolle des Hüters geweckt. Der Effekt der Identifikation mit dem Kind ist mithin der gleiche wie bei der Frau auch: Er erfährt nicht nur die Bedürftigkeit des Kindes in gleicher Weise wie die Frau, er bezieht diese Bedürftigkeit auch auf sich als Hüter des Kindes. Die kulturelle Konstellation, aus der heraus es zur Übernahme der Vaterrolle kommt, ist deshalb nicht anders als die der Mutter. Das ist der Grund, daß beide als kulturelle Rollen gleichzeitig entstanden sind.

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Die Ausbildung der filiativen Dyaden

Die Umsetzung der Fürsorgerolle der Mutter in die Hüterrolle des Vaters wird dadurch unterstützt, daß der Mann auch im Verhältnis zur Frau die Mutterrolle in eine Mannesrolle überführt. Die Grundkonstellation in der Ausbildung der Vaterrolle ist triadisch und muß auch als solche verstanden werden. Das aber heißt, daß für die Übernahme der Vaterrolle das konjugale Verhältnis zwischen ihm und der Frau nicht unberücksichtigt bleiben darf. Deren Bindung an den Mann erfolgt ebenfalls über die Rekonstruktion ihrer frühkindlichen Intimität. Ihr gegenüber übernimmt der Mann die Mutterrolle, die Schutz und Geborgenheit bietet. Ich habe das – wechselseitige – Hineinschlüpfen in die Kindesrolle oben schon erklärt und dokumentiert; es läßt sich in der Expressivität Liebender nicht übersehen. Die Kindesrolle der Frau und die daran gebundene Beschützerrolle des Mannes begründen für letzteren eine höchst bedeutsame familiale Position: Die Beschützerrolle als Liebhaber gegenüber der Frau und die Hüterrolle als Vater gegenüber dem Kind verschmelzen. Die dadurch entstehende Position des Mannes ist für das Geschlechterverhältnis nicht unproblematisch, und das um so weniger, als sie durch die gesellschaftlichen Verhältnisse verstärkt wird. In aller Vergangenheit hat der Mann im Kräftespiel gesellschaftlicher Macht die Interessen der Frau wie des Kindes nach außen vertreten müssen. Psychische Dispositionen und gesellschaftliche Rollenzwänge wirkten somit zusammen und verstärkten sich gegenseitig. Führt man sich die Gründe vor Augen, auf denen die Rolle des soziologischen Vaters beruht, könnte man meinen, die Bindung des Mannes an die Kinder der Frau sei gleich intensiv wie die der Frau. Sie war es in aller Geschichte nicht. Wie stark die Bindung war, ist von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich; generell läßt sich feststellen, daß die Vaterrolle hinter der der Mutter an Intensität der Bindung zurückstand. Das hat einen einsichtigen Grund: Der Mann reorganisiert im Verhältnis zum Kind der Frau zuvörderst seine Kindheit im Verhältnis zu seiner Mutter. Dabei nimmt die Frau die Stelle seiner Mutter ein. Das ist die Grundlage seiner Liebe zu ihr. Diese Konstellation hat Vorrang vor der sie überlagernden Reorganisation des frühen Verhältnisses, derzufolge er sich selbst in der Hüterrolle der Mutter wahrnimmt und als Vater verpflichtet. Die erstere Konstellation ist die ungleich vitalere. Die Sorge für die elementare Bedürftigkeit des Kindes wird er deshalb der Frau überlassen wollen, solange sie die Mutterrolle auch tatsächlich übernimmt. Der Umstand, daß die Vaterrolle über die Aktivierung der eigenen Kindheit ausgebildet wird, bewirkt, daß sie gegenüber Knaben wie Mädchen übernommen wird. Die Geschlechtsidentität von Vater und Sohn verstärkt jedoch die Identifikation mit letzterem. Das jedoch ist nicht der einzige und wohl auch nicht der wichtigste Grund dafür, daß sich Väter in aller Geschichte den Söhnen intensiver verbunden gefühlt haben. Männer bestimmen in vorindustriellen Gesellschaften die

Der soziologische Vater 141

familialen Außenbeziehungen. Schon in den einfachen agrarischen Gesellschaften läßt sich deshalb feststellen, daß sie die von ihnen errungenen statusmäßigen Positionen an die Söhne weiterzugeben suchen14 und sich ihnen von Anfang an mehr zuwenden. Soziologen haben mit einigem Recht die Funktion der Vaterrolle darin gesehen, den Kindern ihren Platz in der Gesellschaft zu vermitteln. Das ist nicht die Ratio ihrer Ausbildung, jedoch ein Effekt, der mit ihr verbunden ist. Er mutet bürgerlich an; die Gründe liegen jedoch in der identifikatorischen Bestimmung, aufgrund deren die Männer überhaupt die Vaterrolle übernehmen. Auch insofern wirken psychische und gesellschaftliche Mechanismen zusammen und verstärken die gesellschaftliche Stellung des Mannes: Seine Bevorzugung ist sozialisatorisch abgesichert. Erst in der industriellen Gesellschaft der Neuzeit, in der der Status nicht wie eine Erbfolge vermittelt werden kann, können Mädchen die gleiche Aufmerksamkeit durch Väter erwarten wie die Söhne. Wir können nach allem feststellen, daß in eben dem Maße, in dem sich zwischen den Geschlechtern eine Beziehung ausbildet, die auf Intimität gegründet ist, sich strukturnotwendig auch die Vaterrolle ausbildet. Exakt das ist der Befund, wie wir ihn aus allen Gesellschaften kennen. Dabei ist eines nicht zu übersehen und in einer historisch-genetischen, also entwicklungslogisch argumentierenden Theorie von überragender Bedeutung: Die Ausbildung der Vaterrolle ist an die Beziehung zur Frau gebunden. In der Beziehung zu ihr wird wie in der Beziehung zum Kinde die eigene Kindheit aktiviert.

2.3

Die evolutive Verstärkung

Die Anbindung der Vaterrolle an die Beziehung zur Frau muß evolutiv verstanden werden. Die zuvor erörterten Momente, die sie entstehen lassen, bilden den » take off « der kulturellen Entwicklung, dessen Bedingungen sich allerdings durchhalten. In eben dem Maße, in dem die Vaterrolle sich ausbildet, läßt sie neue Bedingungen für die familiale Organisation entstehen. Sie gewinnt eine eigene Funk­tion im Sozialisationsprozeß. Es darf heute als gesichert gelten, daß das Kind früh schon Beziehungen zu mehreren Personen, die sich seiner annehmen, aufzunehmen versteht.15 Aus Untersuchungen in unserer eigenen Gesellschaft wissen wir, daß das Kind insbesondere zum Vater intensive Beziehungen entwickelt.16 Auch wenn sich ge­genwärtige Verhältnisse nicht ohne weiteres auf die der Frühzeit übertragen lassen, dürfen wir 14 Vgl. B. Malinowski, Das Geschlechtsleben der Wilden, S. 26 ff. 15 Vgl. F. A. Pedersen, Research Issues Related to Fathers and Infants, S. 1 ff. 16 Vgl. M. E. Lamb, The Development of Parent-Infant Attachments, S. 21 ff.

142

Die Ausbildung der filiativen Dyaden

angesichts der Intimität zwischen Frau und Mann und der Dichte der sozialen Interaktion auch in den vorindustriellen Gesellschaften von einer besonderen Beziehung zum Vater ausgehen. Das ist vielfach bestätigt.17 Die Beziehung zum Vater gewinnt im Prozeß der Ich-Entwicklung eine besondere Bedeutung. Sie erleichtert den Kindern beiderlei Geschlechts die Ablösung aus der Mutterbeziehung, unterstützt also den Prozeß des Autonomiegewinns; und sie hat entscheidenden Anteil an der Ausbildung der Geschlechtsidentität, die aller neueren Forschung zufolge schon früh beginnt.18 Auch an der Ausbildung der Vaterrolle ist die Pointe, daß sie sich, einmal entstanden, über die Erfahrung des Sohnes in dessen Vaterrolle wieder einbringt. Der Mann hat seine Kindheit eben nicht nur in seiner Beziehung zur Mutter erlebt, sondern auch zum Vater. Diese Erfahrung läßt sich ebenfalls aktivieren. Evolutiv gesehen kennt der Prozeß mithin die gleiche Schleife, die wir auch bei der Übernahme der Mutterrolle kennengelernt haben: Väter übernehmen die Hüterrolle gegenüber den Kindern der Frau auch deshalb, weil sie selbst von Vätern aufgezogen worden sind. Dabei kommt es im gegenwärtigen Zusammenhang nicht darauf an, wie gut oder schlecht Väter ihre Rolle gespielt haben. – Die Institutionalisierung und fa­miliale Organisation unter der Prärogative der Vormacht des Mannes hat die Va­terrolle in gleicher Weise in Mitleidenschaft gezogen wie die konjugale Beziehung zur Frau. – Aus der Erfahrungsperspektive des Kindes unterliegt der Beziehung zum Vater eine Bedürftigkeit, die sich auch noch an schlechten Vätern anzubinden versucht. Das gibt auch dieser Rolle ein gewisses Maß an Robustheit; anders hätte die Menschheit wohl kaum überlebt. Die evolutive Betrachtung läßt auch die Unterschiede, die in der Ausbildung der Vaterrolle in der Geschichte festzustellen sind, verständlich werden. Zunächst wird deutlich, daß die Übernahme der Vaterrolle tatsächlich nicht davon abhängt, ob der Anteil des Mannes an der Zeugung bekannt ist. Damit ist auch gesagt, daß die heute vorherrschende Begründung, die auf diesen Anteil abstellt, schwach ist. Das Wissen darum, an der Zeugung beteiligt zu sein, unterstützt die Identifika­tion mit dem Kind. Wirksam für die Vaterrolle wird sie aber nur in der Interaktion. Die Effizienz der Übernahme der Vaterrolle hängt mithin daran, daß der Mann auch tatsächlich familial mit den Kindern verbunden ist. Denn die Belebung der eigenen Kindheit hat zur Voraussetzung, daß er die Kinder ebenso in der Anbindung an die Frau wie an sich realiter erlebt. Die Bedingungen für die Übernahme 17 Vgl. B. Malinowski, Das Geschlechtsleben der Wilden, S. 22, passim; ders., der Vater in der Psychologie der Primitiven, S. 33. 18 Vgl. M. E. Lamb, ebd., S. 31 ff.; M. Mahler et al., Die psychische Geburt des Menschen, S.  190 ff., 210 ff.; N. Chodorow, Das Erbe der Mütter, S. 107 ff., 159; J. Benjamin, Die Fesseln der Liebe, S. 106 ff.

Der soziologische Vater 143

der Vaterrolle liegen m. a. W. in der Erlebnissphäre des Körpers. Sie waren in traditionalen Gesellschaften gegeben. Werden diese Bedingungen aufgelöst, wie in der Hochphase industrieller Gesellschaften, werden die Gesellschaften vaterlos.19

2.4

Auswirkungen auf das Verhältnis der Ehegatten

Keine der familialen Beziehungen darf für sich betrachtet werden; jede bestimmt die andere mit. Die Ausbildung der Mutterrolle ist für den Mann deshalb von Bedeutung, weil sie geeignet ist, sein eigenes Verhältnis zur Frau zu verstärken. Denn dieses Verhältnis beruht ja darauf, daß in ihr seine eigene Kindheit lebendig und bedeutsam wird. Was könnte dem günstiger sein als die Mutterschaft der Frau ? Ganz ebenso aber ist die Übernahme der Vaterrolle für die Frau bedeutsam. Denn in ihrer eigenen Kindheit ist die Beziehung zu ihrem Vater für sie ebenfalls von Bedeutung gewesen. Auch sie reorganisiert in ihrem Verhältnis zu ihrem Mann diese Kindheit. Die geläufige Vorstellung, daß Kinder die Geschlechtergemeinschaft vervollständigen und verstärken, ist deshalb durchaus begründet. Sie verstärken die genuinen Beziehungen zwischen Mann und Frau allerdings nur so lange, als diese Beziehungen ihr eigenes Fundament in der Liebe haben.

19 A. Mitscherlich, Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft. 196

Kapitel 8 Das Inzesttabu

1

Die Universalität des Inzesttabus

Wo immer sich Familien gebildet haben, hat sich auch eine spezifische Tabuisierung anderweitiger Sexualbeziehungen in der Familie als der zwischen Frau und Mann mit ausgebildet. Sexuelle Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und zwischen gegengeschlechtlichen Kindern unterliegen dem Inzesttabu. So universal der Kern der Familie in den zuvor erörterten Beziehungen ist, so universal ist der Kern dieses Inzesttabus.1 Wie nicht anders zu erwarten, ist auch diese Feststellung bestritten worden. Es haben sich Ausnahmen finden lassen. Nachgewiesen sind sie bei den Ägyptern,2 im alten Iran und in Burma;3 weitere Ausnahmen sind zu nennen für Peru,4 für Madagaskar,5 Hawaii6 und Rarotonga,7 ebenso für die Azande.8 Sicher würden sich noch weitere Ausnahmen finden lassen. Sie waren zumeist das Vorrecht der Herrscher, nicht selten waren sie religiös bedingt. Unter besonderen Umständen konnten sie in einigen Gesellschaften auch im Volk Fuß fassen. 1 G. Murdock, Social Organization, S. 285. 2 Für Ägypten vgl. R. Middleton, Brother-Sister and Father-Daughter Marriage, S. 603 ff. Wie allerwärts, so waren auch in Ägypten konsanguine Ehen vorzugsweise in der königlichen Familie und in der Familie der Noblen verbreitet. Es gab sie jedoch auch im Volk; vgl. R. Middleton, ebd., S. 603. Vgl. des weiteren H. F. Friederichs/S. Rösch, Die Inzest-Ehen in der 18. ägyptischen Dynastie. 3 C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, S. 53. 4 G. Murdock, ebd., S. 266. 5 C. Lévi-Strauss, ebd., S. 53. 6 Vgl. für Polynesien S. Ortner, Gender and Sexuality, S. 368; speziell für Hawai Malo, Hawaian Antiquities, S. 80. 7 R. Suggs, Marquesan Sexual Behavior, S. 177. 8 G. Murdock, ebd., S. 266.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_9

145

146

Das Inzesttabu

Ausnahmen sind Ausnahmen von der Regel. Historisch-genetisch ist auch für die genannten Gesellschaften festzustellen, daß ursprünglich auch in ihnen das Inzesttabu galt.9 Es wurde nur durch besondere historische Entwicklungen zeitweilig außer Kraft gesetzt. Uns sollen die Ausnahmen nicht weiter irritieren. Wir verstehen Strukturen sozialer Organisation als Resultat von Prozessen, in denen die historischen Akteure Bedürfnisse und Interessen unter gegebenen und für sie nicht verfügbaren Bedingungen zu realisieren suchen. Es gibt ebenso allgemeine Bedürfnisse und Interessen, wie es allgemeine Bedingungen gibt, unter denen sie sich realisieren lassen. Das führt zu allgemeinen Strukturen. Das Inzesttabu ist eine dieser Strukturen. Es gibt aber auch besondere Bedingungen, die sich Geltung verschaffen. Sie lassen Ausnahmen entstehen. Es macht keinen Sinn, wegen dieser Ausnahmen die allgemeinen Strukturen in Abrede zu stellen oder auch nur trivialisieren zu wollen.10 Das Inzesttabu ist aufs engste in die Bedingungen verstrickt, unter denen sich überhaupt Familien gebildet haben. Uns ist es einzig um die Einsicht in diesen Zusammenhang zu tun. Die Frage ist mit anderen Worten, weshalb sich mit den Familien allerwärts ein Inzesttabu ausgebildet hat. Wenn sich im Laufe der Geschichte Einbrüche in das Tabu ergeben, so zeigt sich daran, daß sich die einmal ausgebildete Organisationsform der Familie gleichwohl zu behaupten weiß. Das ist nicht ohne Interesse für deren Verständnis. Auch ist es von Interesse zu wissen, weshalb solche Einbrüche erfolgten. Unser Interesse gilt jedoch der Ausbildung des Inzest-Verbots in seiner generalisierten Form. In vielen Gesellschaften reicht das Tabu über das Verbot im Kernbereich der Familie hinaus. Die Ausweitungen orientieren sich jedoch an ihm. Sie finden ihre Erklärung, wenn man der Frage nachgeht, über welche Vorstellungsgehalte identifikatorische Bezüge zu Personen des Kernbereichs des Inzesttabus hergestellt werden. Das zeigt sich am deutlichsten dort, wo eine gleiche Nomenklatur für die tabuisierten Personen in und außerhalb des Kernbereichs verwandt wird, ist aber nicht auf diese Fälle beschränkt. Die Vorstellungsgehalte selbst lassen sich nur unter Rekurs auf die Denkstrukturen in diesen frühen Gesellschaften bestimmen. Sie für jede einzelne der Ausweitungen aufzudecken, ist aufwendiger, als gemein9 Vgl. Sidler, Zur Universalität des Inzesttabus, S. 150 f. 10 C. Meillassoux, Die wilden Früchte der Frau, S. 21 ff. Meillassoux erklärt: » Daß der Inzest in der Praxis selten vorkommt, liegt an der Tatsache, daß die Altersunterschiede zwischen den möglichen Sexualpartnern innerhalb einer Gruppe im allgemeinen größer sind als zwischen Partnern verschiedener Gruppen. Insbesondere besteht eine größere Wahrscheinlichkeit, daß die Mitglieder der kleinen Gruppe im allgemeinen einen Partner außerhalb derselben finden, noch bevor sich eine Gelegenheit zu sexuellen Beziehungen unter ihnen ergibt. « Meillassoux, ebd., S. 23. Das erstere wird den realen Verhältnissen nicht gerecht, das letztere verkehrt sie.

Gattungsgeschichtliche Determinanten 147

hin angenommen wird. Damit sind wir hier nicht befaßt. Denn auch soweit wir das Inzesttabu zu klären suchen, geht es uns letztlich um eines: um das Verständnis der Familie.

2

Gattungsgeschichtliche Determinanten

Wie immer stellt sich als erstes die Frage, ob gattungsgeschichtliche Vorläufer feststellbar und als stammesgeschichtlich wirksame Determinanten im Humanbereich nachzuweisen sind. Tatsächlich wird, wen wollte es wundern, auch von der Inzestbarriere behauptet, sie habe stammesgeschichtliche Ursprünge, von denen zumindest noch Reste im emotionalen » make up « des Menschen anzutreffen seien.11 Sozio-Biologen lieben es, Gemeinsamkeit zu dekretieren, wo andere bestenfalls noch phänomenale Ähnlichkeiten wahrnehmen. Unter einer abstrakten Begriff‌lichkeit ebnen sich die Unterschiede ein. So erklärt Fox: » Die Menschen vermeiden – wie die meisten Arten mit geschlechtlicher Fortpflanzung – auch ohne Tabu eine allzu enge Inzucht. Das Tabu bestätigt und verstärkt diesen Sachverhalt lediglich und fügt ihm ein paar menschliche Besonderheiten hinzu. «12

So einfach ist das. In einer historisch-genetischen Theorie müssen wir die naturalen Grundlagen klären. Denn auch wenn kaum zu erwarten ist, daß wir zu dem Schluß kommen, das Inzesttabu verdanke sich einem Instinkt-Rest, der kulturell überformt sei, sind wir darauf angewiesen, den naturalen Befund zu kennen, an den die kulturelle Entwicklung angeschlossen wurde. Sehen wir uns deshalb die Verfahren genauer an, die im subhumanen Bereich dazu führen, den Inzest zu vermeiden.

2.1

Naturale Verfahren der Inzest-Vermeidung13

Bischof führt als erstes einen Mechanismus an, der subhuman überaus wirksam ist, um einen Inzest zu vermeiden: die Auflösung der » familialen « Bande zu den Jungen, noch bevor sie geschlechtsreif werden. Die Jungen, die bis dahin mit den El-

11 N. Bischof, The Biological Foundation of the Incest Taboo, S. 24. 12 R. Fox, Bedingungen der sexuellen Evolution, S. 22 f. Keine Erklärung findet sich auch bei Fox, Kinship and Marriage, S. 69 ff. 13 Vgl. zum folgenden N. Bischof, ebd., S. 17 ff.

148

Das Inzesttabu

terntieren zusammengelebt haben, verlieren bei vielen Arten ganz einfach das Bedürfnis nach sozialer Bindung. Eine Ablösung aus eigenem Antrieb findet auch in den Fällen statt, die in Anlehnung an die psychoanalytische Begriffsbildung als Objektwechsel beschrieben werden. In den einfachsten Fällen dieser Art verlassen die männlichen Jungtiere die Herkunftsgruppe noch vor der Geschlechtsreife. Bei einigen bewirkt das fortbestehende Bedürfnis nach sozialer Bindung, daß sie sich zu Junggesellen-Kohorten zusammenschließen. Während der Paarungszeit gehen sie eine Verbindung mit einem Weibchen ein. Eine Variante dieses Vorgangs ist es, wenn die Verbindung des Männchens mit dem ersten Weibchen dauerhaft wird, die Bindung also über die Paarungszeit hinausreicht. Jede dieser ontogenetischen Verlaufsformen sichert mit hinreichender Wahrscheinlichkeit, daß ein » inbreeding « vermieden wird. Der gleiche Effekt wird in anderen Spezies dadurch erreicht, daß die Herauslösung aus der Herkunftsgruppe unter Mithilfe anderer Gruppenmitglieder und zum Teil gewaltsam erfolgt. So werden bei manchen Arten die Weibchen noch vor der Geschlechtsreife von fremden Männchen entführt und so der Einverleibung in den Harem des Erzeugers entzogen. Bei anderen kommt es innerhalb der Herkunftsgruppe zu Konflikten: Die Jungen widersetzen sich mit zunehmender Reife der hierarchischen Ordnung der Herkunftsgruppe. Sie lösen damit ein Aggres­ sionsverhalten der Älteren aus, das dazu führt, daß sie aus der Gruppe vertrieben werden. Die Geltendmachung eines Autonomie-Anspruchs läßt auch hier die Gefahr eines Inzests erst gar nicht aufkommen. Die Zoologie kennt Vermeidungsstrategien auch dann, wenn die Bande zur Herkunftsgruppe nicht gekappt werden. Das einfachste ist die aggressive Bedrohung der jüngeren durch das ranghöchste Männchen. Das verhindert jedenfalls den Geschwister-Inzest. Inhibierende intrapsychische Mechanismen unterstützen den Effekt. Der Streß, dem rangniedere Tiere unterliegen, unterdrückt entweder schon die Motivation zur Paarung oder führt zum Verlust der Zygote oder des Embryos. Von besonderem Interesse ist, daß bei Arten, die, wie die Rhesus-Affen, eine enge Mutterbindung der heranwachsenden Männchen kennen, deren Unterwürfigkeit gegenüber der Mutter dem Inzest im Wege steht. Schließlich ist von J. von Lawick-Goodall berichtet worden, daß ein an sich promiskes Schimpansenweibchen sich ihren Brüdern entzogen hat. Was folgt aus dem, was subhuman als Vermeidungsverhalten festgestellt werden kann, für das Verständnis des Inzesttabus, das wir auf humaner Stufe finden ?

Gattungsgeschichtliche Determinanten 149

2.2

Metaphysik des Instinkts

Wer auf die zuvor geschilderten Verfahren in ethologischen Darstellungen der betreffenden Spezies gestoßen wäre, hätte darin angesichts der kausalen Mechanismen kaum ein Vermeidungsverhalten der Inzestbarriere gesehen. Denn die Auslöser für das Verhalten liegen jeweils woanders: im Fehlen von Gruppenbindungen, die die Inzest-Situation erst gar nicht entstehen lassen, oder in der Hierarchie der Rangordnung, die durch Drohung verhindert, daß Geschwister sexuelle Beziehungen aufnehmen können. Nirgends läßt sich als Determinante des Verhaltens feststellen, den Inzest zu vermeiden. Bischof kommt über diesen Einwand dadurch hinweg, daß er der causa finalis, die ja ursprünglich der teleologischen Struktur des Denkens entstammt, die Nützlichkeit der Inzestbarriere unterlegt und sie so teleonomisch umformt.14 Im Einklang damit schiebt er einen Grund nach, den Sozio-Biologen immer nachschieben, wenn eine Erklärung her muß, aber sonst nicht zu finden ist: einen auf die Vermeidung abzielenden Instinkt.15 Nun bezeichnen wir als Instinkt ein im genetischen Code angelegtes Verhalten, das durch ein spezifisches Außenweltmerkmal ausgelöst wird. Dieses Merkmal müßte bei einem auf die Vermeidung des Inzestes zielenden Verhalten die Nähe der Abstammung sein. Die jedoch ist nicht sichtbar. Bischof substituiert für die Abstammung das Merkmal der gemeinsamen Aufzucht, das den Gruppenmitgliedern präsent sei. Darauf werden wir später in der einen oder anderen Form tatsächlich abstellen. Bischof unterfüttert den Instinkt mit anderen Worten durch ein motivational bestimmtes Verhalten des Humanbereichs. Dafür jedoch besteht kein Anhalt. Denn die mitgeteilten Verhaltensweisen, die im Effekt (!) den Inzest verhindern, sind ja gerade nicht durch dieses Merkmal ausgelöst worden, sondern durch eine Vielzahl ganz anderer. Nichts, aber auch gar nichts spricht deshalb dafür, das beobachtbare und kausal ohne Not ganz anders erklärbare Verhalten als durch einen Vermeidungsinstinkt bewirkt zu sehen. Der Instinkt ist hier wie anderwärts nur eine Requisite, um ein phänotypisch gleiches Verhalten oder weniger noch als das, einen gleichen Effekt als biologische Grundlage einer kulturellen Organisationsform zu drapieren. Wenn wir die Annahme eines Instinkts oder Instinktrestes als Grund für das Vermeidungsverhalten als nicht mehr diskutabel ablehnen, so heißt das nicht, daß wir uns nicht die naturalen Determinanten, die dabei zutage getreten sind, zu eigen machten. Dazu gehört sicher die oben erörterte Herauslösung aus der Her14 Bischof kann sich dabei in Einklang wissen mit einer neueren Lehrmeinung, die Aristoteles statt eines teleologischen ein mechanisches Naturverständnis andient. Vgl. W. Kullmann, Zum Gedanken der Teleologie, S. 150. Das ist ein Anachronismus. 15 N. Bischof, ebd., S. 24.

150

Das Inzesttabu

kunftsfamilie, die durch den Anspruch auf eine autonome Lebensführung notwendig wird. Daß diese Gemeinsamkeit zwischen höher entwickelten Tieren und Menschen bestehen kann, nehmen wir zur Kenntnis. Nur macht sie für sich noch nicht das Vermeidungsverhalten dessen aus, was wir unter Menschen als Inzest­ tabu bezeichnen. Auf keinen Fall aber läßt sich der Ablösungsprozeß der nachwachsenden Generation unter Menschen in einen subhumanen Kontext übertragen. Ob unsere nächsten Anverwandten, die Schimpansen, Anklänge daran erkennen lassen, wäre interessant zu wissen. – Wenn wir nach allem das Inzest­ tabu nicht stammesgeschichtlich begründen können, müssen wir nach sozio-kulturellen Erklärungen suchen.

3

Funktionale Erklärungen

Unter den soziologischen Erklärungen überwiegen die funktionalistischen, Erklärungen also, die nachzuweisen suchen, daß das Inzesttabu einen wichtigen oder gar entscheidenden Beitrag für die Organisation der Gesellschaft leistet.16 Unter diesen Beiträgen können wir einen von vornherein ausschalten: biologische Einsichten über mögliche schädliche Folgen des Inzests, die sich in ein motivationales Paarungsverhalten umgesetzt hätten. Sie können nicht den Grund abgeben. Selbst wenn wir annehmen, daß in den frühesten Gesellschaften irgendeine Beteiligung des Vaters an der Zeugung bekannt war, war es den Menschen in diesen Gesellschaften unmöglich, das Ausmaß eines möglichen schädlichen Effektes zu erkennen. Die häufigste der funktionalen Deutungen hält sich an das familiale Rollenspiel. Ein Inzest würde, meint man, das wohldefinierte Beziehungsgefüge der Familie durcheinander bringen. Verkehrt der Vater mit der Tochter und geht aus der Mesalliance ein Kind hervor, so brächte das die Familienverhältnisse durcheinander. Denn dann wäre der Vater der Mutter zugleich der Vater des Kindes, Vaterund Großvaterrolle fielen in eins. Im Verhältnis zum Vater ständen Mutter und Kind wie Geschwister zueinander. – Mir will scheinen, daß das Puzzle mehr aus der Einübung existenter Familienvorstellungen hervorgeht und hier auch mehr aus dem Schatz ideeller Wertbesetzungen als aus der Unmöglichkeit familialer Praxis. Was im Ernst spricht dagegen, daß derartige Beziehungen nicht sein könnten ? Warum soll die Autorität des Vaters gegenüber der Tochter sich nicht auch auf sie als Geliebte oder Nebenfrau erstrecken ? Hat die Menschheit nicht einige tausend Jahre ein Autoritätsgefälle zwischen Mann und Frau praktiziert ? Und war­um soll nicht die Autorität zwischen Mutter und Kind unter dem Vorbehalt einer höheren 16 T. Parsons, Das Inzesttabu, S. 109 ff.

Funktionale Erklärungen 151

Autorität des Vaters/Großvaters stehen ? Vollends läßt sich nicht einsehen, weshalb es nicht neben der ersten Frau eine zweite Frau geben sollte, eben die Tochter. Mir will scheinen, wenn es nur darum ginge, die Familienbezie­hungen nicht zu komplizieren, wäre der Inzest sicher entschieden verbreiteter, als er ist. Ähnliches läßt sich von der Bedeutung des Inzests für den Aufbau der Verwandtschaft sagen. P. J. Wilson meint, bei einem Inzest werde das Verwandtschafts­system, auf dem die Organisation der frühen Gesellschaft aufbaue, unmöglich.17 Für Wilson stellt sich die primäre und sekundäre Dyade als » natürlich « dar. Die erste eigentlich kulturelle Dyade ist die zwischen dem Vater und den Abkömmlingen der Frau. Aber, so sein Problem, wie kann man Vater werden, wenn man es gegenüber der Frau deshalb schon ist, weil sie die eigene Tochter ist.18 Am Ende freilich muß auch Wilson einräumen, daß dieses Problem wohl nur sein Problem ist, genauer: einer schon vorgefaßten Vorstellung darüber, wie ein Verwandtschaftssystem auszusehen hat, nämlich unter Achtung des Inzesttabus. » Ich meine nicht «, so räumt er ein, » daß andere Art und Weisen der sozialen Organisation nicht entstehen könnten; aber wenn es historisch eine Möglichkeit gegeben hätte, hätten wir sicher einen Anhalt dafür. «19

Wir wollen jedoch gerade wissen, warum diese eine Organisationsform sich ausgebildet hat und andere denkbare Systeme sich nicht ausgebildet haben. Die funktionalen Erklärungsangebote sind so zahlreich, daß es müßig wäre, sie hier weiter zu verfolgen. Funktionale Erklärungen des Inzesttabus weisen ein offenkundiges Defizit auf. Sie sind geeignet, die Augen dafür zu öffnen, welche Leistungen das organisatorische Teilstück der Gesellschaft, nach dem geforscht wird, für das Gesamtsystem erbringt. Aber sie sagen uns nicht, warum dieses Teilstück ausgebildet wurde und das Gesamtsystem damit gerade jene Fassung erhalten hat, derzufolge der funktionale Beitrag bedeutsam ist. Und sie sagen auch nicht, welche der zumeist mannigfachen Funktionen für seine Ausbildung entscheidend war.20 Mehr noch: Wir können nicht einmal sicher sein, das Inzesttabu in seinem Bedeutungsgehalt für die Beteiligten überhaupt erfaßt zu haben. Einzig eine historisch-genetische Theorie kann weiterhelfen. Tatsächlich fügt sich das Inzesttabu der familialen Genese und der mit ihr verbundenen Genese der Gesellschaft ein. Es entsteht so notwendig mit ihnen, wie die übrigen Be­ziehungen notwendig entstehen. Allerdings zeigt sich auch bei dieser Institution, daß der Schlüssel zu ihr 17 18 19 20

P. J. Wilson, Man, the Promising Primate, S. 69 ff. P. J. Wilson, ebd., S. 74. P. J. Wilson, ebd., S. 78. K. Messelken, Inzesttabu, S. 27.

152

Das Inzesttabu

nur zu finden ist, wenn man den Enkulturationsprozeß aus der Ontogenese herausführt. Kein Wunder also, daß er bislang unaufgedeckt geblieben ist.

4

Historisch-genetische Rekonstruktion

4.1

Das Inzesttabu zwischen Mutter und Sohn

Alle Kultur beginnt in der primären Dyade, der Mutter-Kind-Dyade. Wir werden deshalb auch als erstes das Inzesttabu dieser Dyade zu begründen suchen. Tatsächlich beruht es in der exogamen Wendung des Sohnes nach außen auf denselben Gründen, die ihn veranlassen, sich von der Mutter abzusetzen und eine Liebesbeziehung zu einer Frau aus einer anderen Familie einzugehen. Der Absetzbewegung nach innen entspricht die Wendung nach außen. Sehen wir sie uns in aller Kürze noch einmal an. Die frühkindliche Symbiose zwischen Mutter und Kind entwickelt sich mit dem Kompetenzgewinn des Kindes und der daran gebundenen Reflexivität zu einer affektiv bestimmten Intimität zwischen beiden. Je weiter der Gewinn an reflexiver Kompetenz und der daran gebundene Entwicklungsprozeß des Selbst fortschreitet, desto mehr gerät die Intimität des Sohnes unter die Kontrolle eines autonomer werdenden Ichs. Der Sohn sucht sich aus der Botmäßigkeit der Mutter herauszuwinden, auch wenn er ihr emotional verbunden bleibt. Der Ablösungsprozeß ist quasi naturnotwendig, gleichwohl ist er kein naturaler, sondern einer, der an die sozio-kulturelle Personwerdung gebunden ist. Er geht einher mit einem physiologisch bedingten Reifeprozeß der Sexualität. Beide Entwicklungen schaffen Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen. Die Ablösung läßt das Verlangen entstehen, die Intimität anderweitig zu befriedigen, die Sexualität muß ebenfalls befriedigt werden, das könnte, soweit es um den naturalen Trieb geht, irgendwo erfolgen, unter den sozio-kulturellen Bedingungen der Ontogenese kann sie jedoch an einer Stelle nicht befriedigt werden: in der Familie und hier besonders nicht mit der Mutter. Denn das läuft dem Autonomiegewinn des Ablösungsprozesses zuwider. Auch die Sexualität hat ihren Anteil an der Inzest-Barriere. Sexualität ist ein Grenzphänomen; sie gehört beiden Bereichen: der Natur wie der Kultur, an. Die Barriere gegen den Inzest wird auch auf beiden Seiten sichtbar. Wir haben von der Liebe gesagt, sie beinhalte, von der schieren Existenz des anderen überwältigt zu werden, das sei der Grund, sein Leben an das des anderen zu koppeln. Darin liegt ein Zugriff auf den anderen und in dem Zugriff ein Gewaltmoment. Es findet sinnfällig Ausdruck in der Sexualität, vor allem in der Sexualität des Mannes. Das männliche Sexualhormon ist eines, das die Aktivität steuert und auf die Bewältigung eines Außen drängt. Die Mutter aber läßt sich

Historisch-genetische Rekonstruktion 153

nicht überwältigen. Sie ist und bleibt diejenige, von der man immer schon überwältigt ist. Ein Ausgleich zwischen überwältigen und überwältigt werden wie in der Liebe zum Partner ist nicht möglich. Ersichtlich ist die Barriere selbst kulturell; nur wirkt sie bereits gegen die naturale Triebkomponente. Erst recht wirkt sie auf der mit der Sexualität verbundenen kulturellen Seite, in dem Junktim mit der Intimität. Die Autonomie des Subjekts hat sich von der frühkindlichen Form der Intimität zur Mutter getrennt. Die Mutter kann leiblich nicht wieder vereinnahmt werden. Jede Rückkehr in die körperliche Intimität wäre wirkliche Regression und also Preisgabe der Autonomie. Unter Bedingungen eines normal entwickelten Selbst kommt deshalb erst gar nicht der Wunsch auf. Der Sohn muß sich nach außen wenden; er muß die Reorganisation seiner Intimität in Verbindung mit der Sexualität mit einer Frau außerhalb der Familie suchen. Das Inzesttabu gilt auch für die Mutter und muß deshalb auch aus ihrer Situation verständlich werden. Für sie besteht nicht die gleiche Notwendigkeit, die Intimität preiszugeben. Gleichwohl ist das Tabu auch für sie aus eigenem Antrieb wirksam. Mütter ziehen Kinder auf mit der Absicht, sie autonom werden zu lassen. Das jedenfalls ist der Prozeß einer normalen, gelungenen Mutter-Kind-Beziehung. Es würde wahrscheinlich schwerfallen, müßte dieses Ziel allein auf intellektuellem Wege angesteuert werden und die Mutter sich ständig sagen, es entspreche dem Interesse des Kindes, es aus der Fürsorge zu entlassen, soweit seine Autonomie es irgend erlaube. Die Mutter erfährt jedoch im Kinde ihre eigene Kindheit und damit den Gewinn ihrer eigenen Autonomie. Der Bedeutungsgehalt, den sie diesem Prozeß für das Kind zuschreibt, hat sich in ihrer eigenen Kindheit und Adoleszenz im Erwachsenwerden gebildet. Deshalb sucht sie ihn unter einigermaßen günstigen Bedingungen der Sozialisation auch für das Kind zu realisieren. Es gibt weniger günstige Bedingungen. Ich habe in dieser wie in der vorhergehenden Untersuchung über die Macht im Geschlechterverhältnis deutlich zu machen gesucht, daß Bedürfnisse der ontogenetischen Entwicklung mit der gesellschaftlichen Organisation nicht zur Deckung zu kommen brauchen. Gesellschaftliche Strukturen können der Entwicklung hinderlich sein oder sie inhibieren. In unserer Zeit wird die Ablösung des Kindes vielfach durch die Mutter erschwert. Das kann ebenso eine Folge der nachwirkenden restringierten Stellung der Frau in der Familie wie der Schwierigkeit der Kommunikation in konjugalen Beziehungen sein. Dann entstehen konfliktuelle Spannungen, die ödipalen Charakter annehmen können. Damit sind wir hier nicht befaßt. Konfliktuöse Spannungen sind ihrerseits ein Ausdruck dafür, daß die Entwicklung Bedürfnislagen kennt, die nicht ohne Not negiert werden können. Generell können wir feststellen, daß auch die Mutter den Prozeß des Autonomiegewinns ihres Kindes als notwendigen Ablösungsprozeß verbunden mit der Wahrnehmung der ebenso notwendigen Wendung des Sohnes nach außen erlebt. Sie realisiert dessen zunehmende

154

Das Inzesttabu

Autonomie um so leichter, als sie selbst über diese Autonomie verfügt. Auch für sie wäre deshalb die Wiederherstellung der körperlichen Einheit Regression auf eine Stufe, die nicht mehr existiert. Überdies: Auch sie kann sich nicht von dem Sohn überwältigen lassen. Dazu ist sie ihm zu sehr in ihrer Geschichte als Mutter verbunden. Der Ausschluß der Mutter als Sexualpartnerin für den Sohn folgt nach allem einer quasi-natürlichen Entwicklung. Und als eben das ist er allerwärts auch verstanden worden: als ein natürlicher Vorgang. Nicht erst das Tabu schafft die Vermeidung, sie liegt in der Entwicklung der Ontogenese begründet. Das Tabu sanktioniert sie bloß.21 Eben deshalb ist der Inzest zwischen Mutter und Sohn allerwärts als widernatürlich stigmatisiert.22 Gegenüber einer Begründung des Inzestverbotes als einer sich quasi-natürlich einstellenden Abwendung von den inkriminierten Beziehungen ist oft eingewandt, daß es nicht eigens eines Verbotes bedürfte, wenn die Abwendung ohnehin erfolge. Der Einwand stellt zwei Eigenheiten sozio-kultureller Daseinsweise nicht in Rechnung: Die eine ist allgemeiner, die andere spezifischer Natur. Menschen können immer auch anders; es kann auch Verletzungen einer Regel geben, die normalerweise von selbst befolgt wird. Die Verletzung ist um so gravierender, je fundamentaler die Regel erscheint. Gerade weil die Verletzung der Regel gemessen an ihrer Respektierung selten ist, gilt sie als Bruch eines Tabus. Das ist das eine. Das andere ist, daß ontogenetische Entwicklungen erratisch verlaufen können. In einer Anzahl von Mythen ist die Weigerung des Knaben festgehalten, sich von der Mutter zu trennen. Man wird sie als Ausdruck der frühen und gewaltsamen Trennung der Söhne von der Mutter verstehen, die wir aus vielen Gesellschaften kennen. Es kann aber auch individuelle Entwicklungsverläufe geben, die die Trennung erschweren. Im Extremfall führen sie die Gefahr der Verletzung des Tabus herauf.

4.2

Das Inzesttabu zwischen Vater und Tochter

Die Beziehung zwischen Vater und Tochter ist vergleichbar, aber nicht identisch mit der zwischen Mutter und Sohn. Sie ist für das Verständnis des Inzesttabus von besonderem Interesse in den Gesellschaften, in denen die Teilhabe des Vaters an der Zeugung des Kindes nicht bekannt ist. Denn auch in diesen Gesellschaften gilt das Inzesttabu zwischen Vater und Tochter. Seine Erklärung kann deshalb in mancher Hinsicht wie eine Probe auf unser Verständnis genommen werden. 21 So zutreffend R. Fox, Bedingungen der sexuellen Evolution, S. 22 f. 22 Vgl. für viele M. Fortes, The Web of Kinship, S. 111.

Historisch-genetische Rekonstruktion 155

Die Beziehung des Vaters zur Tochter unterscheidet sich darin von der Beziehung zur Mutter, daß er in aller Regel nicht den gleichen engen und leibhaft vermittelten Kontakt zum Kind hat wie die Mutter. Eine anfängliche symbiotische Beziehung besteht nicht; und daß die Beziehung des Vaters zum Kind an Stelle der Beziehung zur Mutter hergestellt wird, ist zumindest in frühen und traditionalen Gesellschaften die Ausnahme. Familial bleibt der Vater Zuerwerb zur elementaren Mutter-Kind-Dyade. Dennoch gilt auch für Väter, daß sie eine spezifische Empfindsamkeit und Zärtlichkeit für Kinder entwickeln. So gut wie allerwärts übernehmen sie Erziehungsfunktionen und Autoritätsrollen. Wenn unsere Vermutung stimmt, so werden dabei die eigenen Bedürfnisse und Erfahrungen der frühesten Kindheit reaktiviert. Die Konsequenz ist, daß die mit dem Prozeß der Autonomisierung verbundene Abkoppelung des Kindes auch gegenüber dem Vater geschieht. Auch für die Tochter gilt deshalb, daß sie weder ihr Bedürfnis nach Intimität noch nach Sexualität mit dem Vater befriedigen könnte, ohne diesem quasi-natürlichen Prozeß des Autonomiegewinns zuwider zu handeln. Der eigentliche Grund der Tabuisierung des Inzests greift mithin auch für die Beziehung zwischen Vater und Tochter. Eine Probe auf unsere Erklärung stellen, wie gesagt, diejenigen Gesellschaften dar, die, wie die Trobriander, den Anteil des Vaters an der Zeugung nicht kennen. Die Trobriander sind matrilinear und patrilokal. Das heißt, die Verwandtschaft wird durch die Linie der Mutter begründet; bei der Heirat zieht die Frau in die Familie des Mannes. Der Vater sorgt in liebevoller Weise für seine Kinder.23 Damit entsteht für den Sozialisationsprozeß und für die Ausbildung eines autonomen Selbst dieselbe Konstellation, wie sie auch im Verhältnis zwischen Mutter und Sohn entsteht. Tatsächlich entwickelt sich deshalb das Inzesttabu zwischen Vater und Tochter in strukturell gleicher Weise wie zwischen Mutter und Sohn. Die Trobriander bestätigen denn auch auf die schönste Weise unsere Analyse, daß es der Prozeß des Autonomiegewinns ist, der die Tochter wie den Sohn veranlaßt, sich nach außen zu wenden. Sie begründen nämlich das Tabu zwischen Tochter und Vater damit, daß der Vater die Tochter als Kind liebkost habe. Das läßt sich nach dem Autonomiegewinn nicht wieder herstellen. Wir schlafen nicht, sagen sie, mit denen, die wir als Kinder in die Arme nehmen. Als weitere Begründung kann man finden, daß der Vater mit der Mutter verheiratet sei. Auch diese Begründung verweist, wie Malinowski bemerkt, auf die Stellung des Vaters im Haushalt der Mutter gegenüber den Kindern.24 23 Vgl. B. Malinowski, Das Geschlechtsleben der Wilden, S. 22, passim. 24 B. Malinowski, ebd., S. 406. 25 Vgl. die Zusammenstellung der Verkehrsformen unter den Geschwistern für die einzelnen polynesischen Gesellschaften bei I. Goldman, Ancient Polynesian Society, S. 579; vgl. weiter S. Ortner, Gender and Sexuality, S. 369.

156

Das Inzesttabu

In das Inzesttabu zwischen Mutter und Sohn haben sich in aller Vergangenheit immer auch Vorstellungen einer Identität zwischen beiden gemischt. Sie fehlen im Inzesttabu zwischen Vater und Tochter, wenn die Beteiligung des Vaters an der Zeugung nicht bekannt ist. Tatsächlich bringen die Trobriander die unterschiedliche Stellung der Mutter und des Vaters im Verhältnis zu den Kindern auch in der Unterscheidung der Inzesttabus zum Ausdruck. Sie bezeichnen nämlich das Inzesttabu zwischen Vater und Tochter nicht mit dem gleichen Ausdruck, den sie sonst bei verwandtschaftlich begründetem Inzesttabu verwenden: suvasova. Um so deutlicher wird, daß das Inzesttabu selbst sich anderen Gründen verdankt als denen der Abstammung, jenen, die wir zuvor analysiert haben.

4.3

Das Inzesttabu zwischen Geschwistern

Wenn man unserer Begründung des Inzesttabus zwischen Eltern und ihren gegengeschlechtlichen Abkömmlingen folgt, ist das Inzesttabu zwischen Bruder und Schwester nicht gleichermaßen selbstverständlich. Es ist aber nicht weniger universal als die zuvor erörterten Tabus, – auf die Ausnahmen habe ich oben schon hingewiesen. Es gibt mehr als einen Grund für die Ausbildung des Inzesttabus unter Geschwistern; die Verschiedenheit verdankt sich der Perspektive, aus der sie wahrgenommen wird: aus der der unmittelbar Betroffenen, der Geschwister, und aus der der anderen, die das Tabu interpretativ begründen und in der Begründung dann allerdings auch für die Geschwister verbindlich werden lassen. Im einen wie im andern Fall jedoch wird es wie die anderen Inzesttabus auch von der ontogenetischen Entwicklungslogik bestimmt. 4.3.1 Die Motivationslage der Geschwister Für die Betroffenen selbst, die Geschwister, ist die gemeinsam verbrachte Kindheit für die Ausbildung des Tabus entscheidend. In ihr entwickelt sich eine geschwisterliche Beziehung, der die Sexualität zwar nicht überhaupt fremd, die aber nicht libidinös besetzt ist. Das hat einen einfachen Grund: Die frühkindliche Intimität zur Mutter, aber nicht nur zu ihr, sondern ebenso zu den anderen relevanten Bezugspersonen ihrer frühkindlichen familialen Umgebung ist, wie wir wissen, nicht frei von Sexualität; nur ist die letztere eingebunden in die affektiven Energien, die in der körperlichen Beziehung zu den sorgenden Bezugspersonen ihre Befriedigung erfahren. Geschwister wachsen mithin in einer Beziehung zueinander auf, die dadurch geprägt ist, daß die sexuell getönten Gefühle an die sorgenden Bezugspersonen, insbesondere an die Mutter, gebunden sind. Die Beziehung zwi-

Historisch-genetische Rekonstruktion 157

schen den Geschwistern selbst ist mithin so gut wie asexuell. Dabei muß man sich klarmachen, daß das, was mit dem nur negativen Etikett des Asexuellen versehen ist, in Wirklichkeit eigene Qualitäten der Nähe, Vertrautheit und des geschwisterlichen Verstehens aufweist. Es wäre deshalb besser mit einem positiven Begriff bezeichnet, etwa dem einer » geschwisterlichen Intimität «. Und die ist so, daß der andere nicht zum Objekt der Libido wird. Die libidofreie Sphäre der geschwisterlichen Beziehung hat in vielen frühen Gesellschaften zu Regelungen geführt, die sich widersprüchlich ausnehmen. Praktisch werden solche Regelungen vor allem in der nachpubertären Phase, wenn die Sexualität eine wirkliche Bedeutung gewonnen hat. In ihr nun kann die Regelung der geschwisterlichen Beziehungen im Blick auf die Sexualität in den unterschiedlichen Gesellschaften genau entgegengesetzt sein: Entweder können zwischen gegengeschlechtlichen Geschwistern strenge Vermeidungsrituale gelten, in denen auch nur die Anspielung auf geschlechtliche Vorgänge tabuisiert ist, oder gegengeschlechtliche Geschwister verbinden sich gerade, um ihre sexuellen Interessen gegenüber anderen (!) zu erörtern und Strategien ihres erotischen Managements auszuhecken. In dieser schroff entgegengesetzten Weise finden wir die Geschwisterbeziehung in Polynesien geregelt. In West-Polynesien begegnen sich gegengeschlechtliche Geschwister mit großer Formalität. Sie sprechen und essen nicht miteinander, sie schlafen nicht unter einem Dach, jeder verläßt den Raum, wenn der andere eintritt. In beider Gegenwart dürfen geschlechtliche Dinge gar nicht erwähnt werden. Es wäre vollständig verfehlt, darin eine Vorkehrung gegen eine » Versuchung « zu sehen. Die gibt es sowenig wie im östlichen Teil, in dem sich die geschwisterlichen Beziehungen der größten Nähe und Vertrautheit erfreuen.25 Entscheidend ist, daß das Geschlechtliche in dieser Beziehung keinen Platz hat. Dieser gemeinsame Befund ist kulturell in entgegengesetzter Richtung ausgestaltet worden. Die libidofreie Sphäre geschwisterlicher Beziehung führt zu entsprechenden Strategien in der Wahl der Heiratspartner. Der Ablösungsprozeß von der Herkunftsfamilie schließt auch die Geschwister ein, so innig die Beziehung zwischen ihnen verbleiben mag. Notwendig wendet sich das Interesse in der Phase der genitalen Zentrierung der Sexualität bei dem Bemühen um Reorganisation der Intimität nicht zur Seite, den Geschwistern zu, denn diese Beziehung ist positiv anders besetzt, vielmehr nach außen. Sexuelle Beziehungen unter Geschwistern gelten deshalb in ähnlicher Weise als unnatürlich wie die zu Eltern. Sie sind deshalb auch in gleicher Weise tabuisiert. Dabei unterliegt dem Tabu die gleiche Logik: Was unnatürlich ist, kann gleichwohl sein, aber es soll nicht sein.

25 A. P. Wolf, Childhood Association, Sexual Attraction, and the Incest Taboo, S. 883 ff.

158

Das Inzesttabu

Wenn man sich nach einem Beleg für unsere Begründung umsieht, so ist es ratsam, Verhältnisse zu suchen, in denen das Tabu nicht greift, aber die gleichen Mechanismen, die die Geschwisterbeziehung libidofrei hält, wirksam sein müssen. Denn dann muß sich zeigen, ob sie wirklich Sexualität inhibieren oder nicht. Solche Verhältnisse gibt es; sie liegen dann vor, wenn Jungen und Mädchen, die keine Geschwister sind, wie Geschwister aufwachsen, wobei man noch differenzieren kann, ob sie es wissen oder nicht. Eine Studie dieser Art hat A. P.  Wolf über die Heiratspraxis der Dorfgemeinschaft von Hsiachichou auf Taiwan vorgelegt.26 Wie in zahlreichen anderen Regionen Chinas kennen die Eingeborenen von Hsiachichou zwei (patrilokale) Heiratsformen. Die große patrilokale Heirats­ form vollzieht die nach chinesischen Vorstellungen notwendigen drei Schritte einer Heiratszeremonie in einem einzigen Zeremoniell: Die erwachsene Braut verläßt ihr Haus und verliert damit die Mitgliedschaft in ihrer Herkunftsfamilie; sie tritt über die Schwelle des Hauses ihres Mannes und wird ein Mitglied seines Haushalts; dann wird sie den Ahnen vorgestellt, wodurch sie den Status der Ehefrau erwirbt. Der Wechsel des Hauses und der Erwerb des Status einer Ehefrau vollziehen sich mithin gleichzeitig. Anders bei der sogenannten alternativen Heirat. Hier betritt die Frau als Kind das Haus ihres zukünftigen Mannes. Sie wird mit ihm wie eine Schwester aufgezogen, teilt die Kindheit mit ihm, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Bis zum 7. oder 8. Lebensjahr schlafen die zukünftigen Ehegatten zusammen mit den Eltern. Sie essen zusammen, sie spielen zusammen, und sie baden zusammen. Mit zehn oder elf Jahren meiden sie einander, aber nicht, weil sie es sollen, sondern, wie die Gefragten sagen: weil es verlegen macht. Die Heirat selbst gilt erst dann als vollzogen, wenn die Versprochenen alt genug sind, um die sexuellen Beziehungen aufzunehmen. Wir wüßten wenig über die Gefühle der Beteiligten dieser alternativen Heirat, wäre ihre Praxis nicht durch die Industrialisierung unter Druck geraten. Von 19 Paaren dieser alternativen Heiratsform, die zwischen 1910 und 1930 arrangiert wurden, führten nur zwei zur wirklichen Heirat. In zwei Fällen starb einer der Partner, in den übrigen fünfzehn Fällen weigerten sich die künftigen Partner, die Heirat einzugehen; sie trennten sich. Seither wurde die Zuführung einer kindli­ chen Braut – sim-pua – zum Symbol elterlicher Unterdrückung. Dabei richtete sich der Widerspruch keineswegs dagegen, daß die Partner von den Eltern bestimmt wurden. Die meisten Beteiligten waren mit der » großen patrilokalen Heiratsform « durchaus einverstanden, obwohl auch in ihr die Partner von den Eltern bestimmt werden. Nur zwei heirateten einen Partner gegen den Willen der Eltern. Der Einwand richtete sich vielmehr gegen das » pushing together « der alternativen Form. 26 M. E. Spiro, Children of the Kibbutz.

Historisch-genetische Rekonstruktion 159

Die Entwicklung konnte nicht überraschen. Es gab bei den Dörflern von Hsiachichou immer schon Anzeichen dafür, daß sich die konjugalen Beziehungen in der alternativen Heirat einer geringen Beliebtheit erfreuten und sich weniger erfreulich entwickelten. Männer aus diesen Verbindungen besuchten signifikant häufiger Prostituierte, und von den fünf bekannt gewordenen und an sich seltenen Fällen, in denen eine verheiratete Frau sich mit einem anderen Mann eingelassen hatte, waren vier Frauen als eine simpua verheiratet worden, die fünfte war eine Prostituierte. Die ablehnende Haltung gegen diese Form der Heirat führt auch Wolf darauf zurück, daß das intime geschwisterliche Verhältnis zwischen den Heiratspartnern während der Kindheit einen starken emotionalen Widerstand gegen die Aufnahme sexueller Beziehungen begründet habe. Befragt nach solchen Gründen, antworteten die Dörfler selbst, eine solche Beziehung verletze die Scham und bereite Unbehagen. Es gibt eine weitere Bestätigung für unsere These, daß die geschwisterliche Beziehung positiv asexuell besetzt wird, durch die Untersuchung von Spiro im israelischen Kibbuz von Kiryat Yedidim.27 Von denen, die als Kinder wie Geschwister in derselben peer-group aufwuchsen, haben keine einen sexuellen Verkehr miteinander aufgenommen. Diese Feststellung wird durch die Untersuchung von Yonina Talmon bestätigt.28 Nur ein Paar der insgesamt 125 untersuchten Paare der drei Kibbuzim war in der gleichen peer-group aufgewachsen. Schließlich ist auch noch die Untersuchung von S. Kirson Weinberg über den Geschwister-Inzest in Chicago zu nennen. 37 Paare, die den Inzest praktiziert hatten, lebten keineswegs wie verheiratet; der Inzest schaff‌te nur vorübergehende Beziehungen. Charakteristisch ist die Ausnahme von sechs Paaren, die an eine Heirat dachten: Sie waren nicht zusammen aufgewachsen, zeigten deshalb auch keine Schuldgefühle.29 4.3.2 Die interpretative Begründung Soziale Lebensformen entstehen unter vorgegebenen Bedingungen, ohne daß die Beteiligten auf sie reflektierten. Aber sie werden interpretativ umgesetzt. Damit hat es bei dem geschwisterlichen Inzest keine Not. Das geschwisterliche Inzesttabu kann nämlich als eine Verlängerung des Inzesttabus zwischen Mutter und Sohn aufgefaßt werden. Denn Abstammungsbeziehungen werden im pristinen Denken identifikatorisch verstanden, die Tochter wird der Mutter identifikatorisch zugerechnet. Ein Inzest mit der Schwester wäre deshalb gleich einem Inzest 27 M. E. Spiro, Children of the Kibbutz. 28 Y. Talmon, Mate Selection, S. 491 ff. 29 K. Weinberg, Incest Behavior.

160

Das Inzesttabu

mit der Mutter, dem am meisten verabscheuten Inzest überhaupt.30 Die familialen Inzesttabus sind ersichtlich aus einem Guß.

4.4

Das Inzesttabu außerhalb der Kernfamilie

Das Inzesttabu außerhalb der Kernfamilie ist eine Ausweitung des familialen Tabus. Wir haben deshalb Grund zu der Annahme, daß es entlang der Linien verläuft, die die Vorstellungen der Eingeborenen über das Tabu bestimmen. Das Grund­tabu ist der Inzest zwischen Eltern und Kindern. Alle anderen sind ihm analogisch nachgebildet. Wann immer deshalb identifikatorische Beziehungen zu den derart Tabuisierten konstruiert werden, läßt sich das Tabu auch aus­weiten, zur Mutter-Schwester etwa. Ausführlich erklären die !Kung Bushmen, daß ein Mann diese oder jene Frau nicht heiraten darf, weil es genauso wäre, als hei­rate er seine Mutter, Tochter oder Schwester.31 Diese Vorstellung nun läßt eine Anzahl von Ausweitungen verständlich werden, wobei man eingedenk sein muß, daß mit identifikatorischen Bestimmungen der Interpretation ein breiter Raum geöffnet wird. Es genügen, wie immer im frühen Denken, begriff‌liche Gleichsetzungen, um Identitäten zu begründen; nicht selten ist es nicht mehr als eine Laune der Nomenklatur, wodurch diese Tabus begründet werden.32 Wir wollen sie hier nicht weiter erörtern, weil ihre Beziehung im einzelnen für die Konstitution der Familie ohne Bedeutung ist.

5

Verletzungen des Inzesttabus

Wir haben das Inzesttabu nicht als moralische Vorschrift im Interesse der Gesellschaft eingeführt,33 auch nicht als eine Regel, an der die Gesellschaft ihre Regelungskompetenz allererst statuiert,34 vielmehr aus einer Motivationslage der Beteiligten, die sich in eine normative Organisationsform umsetzt. Das macht es verständlich, daß der Inzest in den verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich stark tabuisiert ist, Verletzungen unterschiedlich häufig sind und in unterschiedlicher Weise darauf reagiert wird. Die Motivationslage selbst ist einer starken kulturellen Einflußnahme zugänglich. In welcher Weise die Tabuisierung der Ge30 So sagen explizit die Tallensi; vgl. M. Fortes, The Web of Kinship, S. 112. 31 L. Marshall, Marriage among the !Kung Bushmen, S. 339. 32 C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen, S. 66. 33 So S. Freud, Totem und Tabu, Ges. Werke, Bd. IX, S. 126 f. 34 C. Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen, S. 80 f.

Verletzungen des Inzesttabus 161

schlechtsbeziehungen in der Familie tatsächlich erfolgt, ist deshalb nur aus den konkreten Bedingungen zu entnehmen, unter denen sie in einer Gesellschaft ausgebildet wird. Diese Feststellung gilt insbesondere im Blick auf die industriellen Gesellschaften der Gegenwart. Wenn sich die Organisationsformen des Zusammenlebens ändern, wenn sich verbindliche Welten nicht länger begründen lassen, drohen motivationale Bestimmungen unsicher zu werden und ihre Abstützung an sozialen Institutionen zu verlieren.

Kapitel 9 Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

Der Widerspruch: Eine Vorbemerkung Das zuvor gewonnene Verständnis des Geschlechterverhältnisses und das der ihm integrierten Liebe ist Teil einer historisch-genetischen Theorie, derzufolge der gattungsgeschichtliche Bildungsprozeß sozio-kultureller Lebensformen über seine Bedingungen rekonstruiert wird. Die Theorie ist naturalistisch und prozeßlogisch in einem. Naturalistisch ist sie darin, daß sie von den naturgeschichtlich heraufgeführten Bedingungen ausgeht, unter denen die sozio-kulturelle Anschlußorganisation entwickelt werden konnte; prozeßlogisch ist sie darin, daß sie die sozio-kulturellen Lebensformen nicht schon im naturalen Stratum angelegt sieht, sie sich vielmehr in einem anderen Stratum: dem einer kommunikativen Geistigkeit, entwickeln läßt. In dieser prozeßlogischen Anlage widerspricht sie jener Theorie, die das Denken unserer Zeit, gerade soweit es das Verständnis des Geschlechterverhältnisses angeht, beherrscht: der psychoanalytischen Theorie. Der Widerspruch wiegt um so schwerer, als die Ausbildung des Verhältnisses der Geschlechter, Liebe insbesondere, mit den Konstituentien menschlichen Daseins, der sinnfreien Körperlichkeit und der sinnhaft-kommunikativen Lebensführung insbesondere, verschränkt ist. Es geht deshalb immer auch um mehr als nur um das Verständnis der Geschlechterbeziehung. Auch wenn ich deshalb bereits im Vorhergehenden der psychoanalytischen Theorie vehement widersprochen habe, scheint es mir nicht zuletzt zur Behauptung der hier entwickelten Theorie notwendig, die Kritik an der psychoanalytischen Theorie systematischer zu entwickeln, als es bisher möglich war. Ich konzentriere die Kritik auf den Ödipus-Komplex, der sich in jeder Biographie wiederholen soll. Gewiß, der Ödipus-Komplex hat sich in seiner Bedeutung für die Ontogenese in der psychoanalytischen Theorie eine Vielzahl von Umdeutungen gefallen lassen müssen. Das jedoch hindert nicht, daß das ganze Arsenal seiner Versatzstücke: Tötungswunsch, Kastrationskomplex, Penis© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_10

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164

Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

neid etc. weiter gehandelt wird. Die literarische Erörterung des Geschlechterverhältnisses wird beherrscht von ihnen. Vor allem aber sehe ich nicht, daß die Anlage der Theorie: die Struktur, mit der Freud die Ontogenese wie die historische Entwicklung zu begreifen sucht, mit der notwendigen Entschiedenheit der Kritik verfallen wäre. Eben darum ist es mir zum Abschluß dieses Teils der Untersuchung zu tun.

1

Die Anlage der psychoanalytischen Theorie

Das Freudsche Denken ist ein vom Naturalismus der Neuzeit bestimmtes Denken. Auch die von ihm entwickelte Theorie ist eine naturalistische Theorie. Sie ist es so sehr, daß Freud meinte, die psychologischen Konstrukte, mit denen die psychoanalytische Theorie arbeite, seien nur ein vorläufiger Behelf, bis sich einmal das ganze Geschehen in naturalen Prozessen und chemischen Verbindungen darstellen lasse.1 Jede naturalistische Theorie steht vor einer doppelten Aufgabe: Sie muß zum einen die naturgeschichtliche Ausgangslage systematisch rekonstruieren, aus der heraus der Enkulturationsprozeß erfolgt, also die anthropologische Verfassung. Sie muß zum anderen die Rekonstruktion der sozio-kulturellen Lebensformen daran anschließen und einsichtig machen, wie sich ontogenetisch die Ausbildung der Lebensformen gestaltet. Denn die naturalistische Ausgangslage findet sich in jeder Biographie wieder. Eine naturalistische Theorie wird deshalb auf die Verzahnung der phylogenetischen und historischen Enkulturation mit der ontogenetischen geradezu gestoßen. Auch Freud hat beide Prozesse zusammengeführt, und das über das Herzstück der Theorie: den Ödipus-Komplex. So wie sich die Enkulturation phylogenetisch und historisch über den Ödipus-Komplex erklärt, so ontogenetisch letzten Endes über den phylogenetischen Ursprung. Wir sehen uns deshalb die phylogenetische und historische Darstellung genauer an.

1

S. Freud, Zur Einführung des Narzißmus, Ges. Werke, Bd. X, S. 144. Vgl. auch die ganz ähnlichen Vorstellungen bei Lévi-Strauss, oben S. 10.

Der ödipale Konflikt 165

2

Der ödipale Konflikt. Die Enkulturation in der psychoanalytischen Theorie Freuds

Das phylogenetisch-historische Verständnis der Enkulturation schließt Freud explizit an die Darwinsche Entdeckung der Arten an.2 Er gibt einen Naturzustand vor, der sich evolutiv entwickelt hat, und läßt Kultur als Anschlußform an die naturgeschichtlich heraufgeführte Organisation entstehen. Das zumindest sichert der Freudschen Theorie ihre Bedeutsamkeit; wäre es anders, brauchten wir uns mit ihr erst gar nicht zu befassen. Kultur ist denn auch für Freud, was von Menschen selbst als Lebensform geschaffen ist.3 Die Frage ist auch für ihn, wodurch sie geschaffen werden konnte.4 Freud nimmt an, daß sich bereits in der noch » affenähnlichen Vorzeit « des Menschen durch einen permanent gewordenen Sexualtrieb Familien gebildet hätten.5 Damit, so Freud, wurde das Männchen motiviert, die Weibchen bei sich zu behalten. Letztere mußten sich fügen, da sie sich von ihren hilflosen Jungen nicht trennen wollten und auf den Schutz des stärkeren Männchens angewiesen waren.6 In dieser noch a-kulturellen Form der familialen Organisation war die Willkür des Männchens und Vaters unbegrenzt. Seine sexuellen Ausschließlichkeitsrechte richteten sich ebenso auf das Weibchen wie auf dessen weibliche Abkömmlinge. Es ist diese familiale Konstellation, die den evolutiven Schub aus sich heraussetzte. Denn die Geschichte setzt sich wie folgt fort: » Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Brüder zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater und machten so der Vaterhorde ein Ende. Vereint wagten sie und brachten zustande, was dem einzelnen unmöglich geblieben wäre. (Vielleicht hatte im Kulturfortschritt die Handhabung einer neuen Waffe ihnen das Gefühl der Überlegenheit gegeben.) Daß sie den Getöteten auch verzehrten, ist für den kannibalen Wilden selbstverständlich. Der gewalttätige Urvater war gewiß das beneidete und gefürchtete Vorbild eines jeden aus der Brüderschar gewesen. Nun setzten sie im Akte des Verzehrens die Identifizierung mit ihm durch, eigneten sich ein jeder ein Stück seiner Stärke an. «7

Die Brüder freilich hatten die Rechnung ohne ihre Psyche gemacht. Denn in der war das Vaterbild durchaus ambivalent: Der Vater wurde ebenso gehaßt wie be2 3 4 5 6 7

S. Freud, Totem und Tabu, Ges. Werke, Bd. IX, S. 152; ders., Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Werke, Bd. XIV, S. 458. S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Werke, Bd. XIV, S. 445. S. Freud, ebd., S. 458. S. Freud, ebd., S. 458. S. Freud, ebd., S. 458 f. S. Freud, Totem und Tabu, Ges. Werke, Bd. IX, S. 171 f.

166

Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

wundert. Nachdem sie ihren Haß befriedigt hatten, wurden sie daher von ihren zärtlichen Gefühlen überwältigt; es überfiel sie Reue, die sich zu Schuldbewußtsein auswuchs. » Der Tote wurde nun stärker als der Lebende gewesen war. «8 So kam es, daß sie ihm nachträglich den Gehorsam zollten, den sie ihm in ihrer Tat aufgekündigt hatten. Sie verzichteten auf deren Früchte, indem sie beschlossen, sich der Frauen der Herkunftsfamilie zu enthalten. Was sich als Psychodrama im Seelenleben jedes einzelnen abspielt, wird im Akt seiner Bewältigung zur Grundlage der Kultur. Mit der Vereinbarung des Inzestverbotes nämlich ist eine Regelung getroffen, die für die menschliche Gesellschaft grundlegend ist: Die Macht des einzelnen, die ohne soziale Regelung zur Willkür des Starken führt, ist durch eine Organisation überwunden, die stärker ist als jeder einzelne und die gegen jeden einzelnen zusammenhält.9 Mit dieser Regelung hatte die Enkulturation Fuß gefaßt. Denn damit war etwas geschaffen, was man das Verbot der Verbote nennen könnte. Dieses Verbot ist kulturbegründend. Kultur, so könnte man die Freudsche Kulturtheorie zusammenfassen, ist die Verbotsmaterie der Natur. Dabei schließen alle Verbote an das eine Verbot an, das kulturstiftend wird. Für Freud ist es, wie später für Lévi-Strauss, das Inzestverbot.10 Die Vereinbarung des Inzestverbotes erlegt jedem einzelnen zugunsten aller einen Triebverzicht auf, durch den Gesellschaft allererst möglich wird. Das schafft Unbehagen, ist aber unvermeidlich. Alle weitere Entwicklung der Kultur gründet in diesem Triebverzicht. Das gilt insbesondere für die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses. Wir werden das psychoanalytische Verständnis des Geschlechter­verhältnisses noch ausführlich erörtern. Hier interessiert zunächst seine kulturbegründende Bedeutung. Freud hat auch die neue, nun kulturell geformte Familie voll und ganz auf das sexuelle Bedürfnis gegründet: » Liebe nennt man die Beziehung zwischen Mann und Frau, die aufgrund ihrer genitalen Bedürfnisse eine Familie gegründet haben … «11 Dabei hält Freud auch für die menschliche Familie daran fest, was er für die familiale Organisation der affenähnlichen Vorfahren als grundlegend angesehen hatte: daß nämlich für den Mann das Interesse an der Frau als Sexual­ objekt im Vordergrund stehe, für die Frau aber das Interesse bestimmend sei, die Bindung zum Kind aufrechtzuerhalten.12 Das entspricht seiner an anderer Stelle 8 S. Freud, ebd., S. 173. 9 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Werke, Bd. XIV, S. 454 f. 10 Die Suche nach dem archimedischen Punkt der Regelungsmaterie bei Lévi-Strauss, die auffällige Vorstellung, man müsse die Regel der Regel finden, um alle Regeln zu erklären, habe ich oben dargestellt. Ganz so verfährt übrigens G. Bataille, der sich darin mit Lévi-Strauss einig weiß. G. Bataille, Der heilige Eros. 11 S. Freud, ebd., S. 462. 12 S. Freud, ebd., S. 460.

Der ödipale Konflikt 167

geäußerten Annahme, daß die Frau nicht eigentlich den Mann, sondern nur sich selbst liebe.13 Die sexuelle Liebe erscheint in ihrer Bindung an ein einziges Objekt: die eine Frau, außerordentlich riskant. Sie wird deshalb zur zielgehemmten Liebe weiterentwickelt, durch die der kulturbegründende Prozeß insofern fortgesetzt wird, als sie über den Rahmen der Familie hinaus gemeinschaftsfördernd wirkt. Im Laufe der Kulturentwicklung entkoppeln sich beide, Familie und übergreifende Gemeinschaft, mehr und mehr. Dabei kommt es auch zu einer Weiterentwicklung des Geschlechterverhältnisses: Die Frauen vertreten die Interessen der Familie und – eigenartigerweise – auch die Interessen des Sexuallebens, das zuvor bei den Männern aufgehoben war. Den Männern fällt die Kulturarbeit zu. » … die Kulturarbeit ist immer mehr Sache der Männer geworden, stellt ihnen immer schwierigere Aufgaben, nötigt sie zu Triebsublimierungen, denen die Frauen wenig gewachsen sind. Da der Mensch nicht über unbegrenzte Quantitäten psychischer Energie verfügt, muß er seine Aufgaben durch zweckmäßige Verteilung der Libido erledigen. Was er für kulturelle Zwecke verbraucht, entzieht er großenteils den Frauen und dem Sexualleben … «14

Wir brauchen die Freudsche Kulturtheorie hier nicht weiter zu verfolgen; uns ist es lediglich um das Verständnis ihrer Begründung zu tun. Die ist unzweideutig: Freud kennt einen realen Anfang als Akt der Kulturbegründung; er läßt schließlich und endlich jedwede Form der Kultur aus der ödipalen Konfliktsituation und deren Lösung in der Beseitigung des Urvaters durch die Brüderschar hervorgehen.15 Die Frage liegt nahe, ob Freud das Szenario wirklich als » historisch « verstanden hat. Die Antwort kann, wenn man sich an die Freudsche Darstellung selbst hält, nicht einen Augenblick zweifelhaft sein: Nicht nur der Anschluß an die Naturgeschichte, auch die explizite Stufenfolge in der Begründung der Geschichte dokumentiert, daß sie zwar als Konstrukt gemeint war, aber doch als eines, mit dem der reale historische Prozeß verständlich werden sollte. Gerade der Vorbehalt, den Freud selbst anbringt, daß nämlich » die zeitliche Verkürzung und inhaltliche Zusammenziehung des Prozesses unvermeidlich sei «, bestätigt es. Einen weiteren Beleg dafür, daß Freud den Mythos um den Mord des Urvaters historisch gemeint hat, finden wir auch in der Begründung, die Freud dafür gegeben hat, daß der Ödipus-Komplex als bewegende Kraft der Ontogenese bis in unsere Zeit wirkt. Freud hat nämlich die Spuren dieses urzeitlichen Geschehens 13 S. Freud, Zur Einführung des Narzißmus, Ges. Werke, Bd. X, S. 141. 14 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Werke, Bd. XIV, S. 463. 15 S. Freud, Totem und Tabu, Ges. Werke, Bd. IX, S. 186.

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Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

» über viele Jahrtausende fortleben und in Generationen wirksam bleiben lassen, welche von dieser Tat nichts wissen konnten. «16 Die Begründung ist für den später zu erörternden Ödipus-Komplex, wie er sich in jeder Ontogenese zeigen soll, von außerordentlichem Interesse. Freud nimmt an, » daß jeder Mensch in seiner unbewußten Geistestätigkeit einen Apparat besitzt, der ihm gestattet, die Reaktionen anderer Menschen zu deuten, das heißt die Entstellung wieder rückgängig zu machen, welche der andere an dem Ausdruck seiner Gefühlsregungen vorgenommen hat. «17 Auf diese Weise läßt Freud eine Massenpsyche entstehen, in der sich der Mythos über Zigtausende von Jahren in reiner Form hat übertragen und bis in unsere Zeit hat wirksam bleiben können. In ihr vollziehen sich die gleichen Vorgänge wie im Seelenleben eines einzelnen; und sie wirken durch das Seelenleben jedes einzelnen.18 Ich komme alsbald darauf zurück. In der Kritik am Ödipus-Mythos interessiert uns im gegenwärtigen Zusammenhang einzig eines: die Annahme, daß » im Ödipus-Komplex die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft, Kunst « gelegen sein sollen, die Ödipus-Tat der eigentliche Schöpfungsakt der Menschheit sei. Wir lassen hier dahingestellt, ob die subhumanen Vorfahren, jene sagenhaften Ramapithecinen oder Australopithe­ cinen, wirklich nach der Art der Freudschen Lehre lebten. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, daß, wie Malinowski feststellt, diese Urhorde mit sämtlichen Vorurteilen, Fehlanpassungen und Mißlaunen der europäischen Bürgers­ familie ausgestattet wurde.19 Der entscheidende Einwand ist ein anderer. Er ist ganz der gleiche, den wir zuvor gegen die spekulative Anthropologie Lévi-Strauss’ geltend gemacht haben. Malinowski schon hat ihn auf den Punkt gebracht, wenn er feststellt, daß es unmöglich ist, als Ursprung der Kultur einen einzigen schöpferischen Akt anzunehmen. Es ist nicht einzusehen, wie aus einem Verbrechen, einem Umsturz oder einer Rebellion plötzlich eine komplett ausgestattete Kultur soll entstehen können.20 In der Tat, so kann es nicht gewesen sein. Die Kultur muß sich anders entwickelt haben, und wir wissen wie: aus dem Aufbau selbstgeschaffener Lebensformen und einer eigens konstituierten Welt durch die Entwicklung des Denkens und der Sprache. Dieser Prozeß muß, wie wir gesehen haben, in der frühesten Phase der Ontogenese der sich bildenden Gattung seinen Grund haben. Tatsächlich verstrickt sich Freud in denselben Widerspruch, in den auch LéviStrauss sich verstrickt hat: Er muß bei dem Urakt der Kulturentstehung bereits alle kulturellen Errungenschaften für die Bruderhorde in Anspruch nehmen: Sie 16 17 18 19 20

S. Freud, ebd., S. 189. S. Freud, ebd., S. 191. S. Freud, ebd., S. 189 f. B. Malinowski, Geschlecht und Verdrängung, S. 158. B. Malinowski, ebd., S. 159.

Entwicklung und Entwicklungsphasen des Ich 169

müssen sich verabreden und nach der Tat ein Gewissen zeigen; sie müssen ein Bedürfnis nach Ordnung entfalten, die vorher offensichtlich fehlt, und sie müssen Gesetze erlassen. Wenn es also diesen Akt je gegeben hätte, müßte die Kultur zuvor schon entstanden sein, und das auf anderem Wege. Wenn die Kultur aber auf anderem Wege entstanden ist, dann kann es umgekehrt den Ödipus-Komplex als kulturstiftenden Akt nicht gegeben haben.

3

Entwicklung und Entwicklungsphasen des Ich

3.1

Die triebtheoretische Anlage

Freuds Entwicklungstheorie ist triebtheoretisch angelegt. Er ging zunächst von einer dualen Trieborganisation: den Ich- und Sexualtrieben aus; die duale Trieb­ organisation erweiterte sich später zu einer Trias von Trieben. In dieser Trias streiten Ich-Triebe, Objekt-Triebe und die Destruktions-Triebe, und zwar jede Gruppe mit jeder, um Anteil und Einfluß.21 Ich-Triebe sind die, die auf Selbsterhaltung zielen; Objekt-Triebe sind die, die in ihrer Grundform an den Eros gebunden sind; die aggressiven Destruktions-Triebe machen den Todestrieb aus. Kultur als Ganzes steht im Dienste des die Menschen verbindenden Eros mit der Funktion, die aggressiven Destruktions-Triebe niederzuhalten. Auch das Verhältnis der Geschlechter ist in dieses Triebschema integriert. Es ist an den Sexualtrieb gebunden, wobei sich ein Teil des Triebpotentials zielgehemmt zur Zärtlichkeit transformiert. Man kann gegenüber der Freudschen Trieblehre Bedenken schon im Hinblick auf die Konzeptualisierung der Triebe anmelden. Sie ist, soweit es den Todestrieb und die mit ihm verbundene Aggressivität angeht, auch in der psychoanalytischen Theorie umstritten. Das ist im gegenwärtigen Zusammenhang nicht das, was uns interessiert. Es geht um Grundlegenderes: Die Frage ist, ob eine Theorie der kulturellen Daseinsform des Menschen, gleich welchen kulturellen Teilbereich man zu erklären sucht, überhaupt als Triebtheorie angelegt sein kann. Freud hat sie so konzipiert, und zwar auf die denkbar einfachste Weise: Er hat das ursprüngliche Triebpotential sich differenzieren und in die späteren Lebensformen umsetzen lassen. Die Theorie, die daraus entsteht, ist als Kulturtheorie völlig defizitär. Nirgends findet sich, auch bei der phylogenetischen Erörterung nicht, eine Überlegung, inwiefern sich aus einer anthropologischen Verfassung die Chance ergibt, vermöge der zerebralen Kapazität eine Geistigkeit auszubilden, die zu ganz anderen als nur triebmäßig bestimmten Daseinsformen in der Lage sein könnte. Schon gar nicht findet sich die veränderte Trieborganisation mit der geistigen Kapazität 21 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Werke, Bd. XIV, S. 476 ff.

170

Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

und der sozialen Lage in einen Bezug gesetzt, der den Bildungsprozeß spezifisch humaner Lebensformen allererst verständlich machte.22 Ohne die geistige Kapazität und ihre Nutzung zur Ausbildung einer konstruktiven Kompetenz wird aber, auch wenn man der Freudschen Theorie in jedem ihrer Schritte folgte, nicht einsichtig, wie sich die kulturelle Welt, die Innenwelt des Subjekts eingeschlossen, entwickeln konnte und ontogenetisch fortan entwickelt. Allenfalls die psychosexuelle Entwicklung wird ein Stück weit erhellt. Verstehen läßt jedoch auch sie sich erst, wenn man sie in die Totalität der Entwicklung kultureller Lebensformen integriert hat. Anders entgeht einem ihre eigentlich kulturelle Ausformung. Sehen wir uns die Theorie genauer an, bevor wir sie einer Kritik unterziehen.

3.2

Die Entwicklungsphasen des Ich

Freud läßt die ontogenetische Entwicklung mit einer autoerotischen Entwicklungsphase beginnen. In ihr sind die Ich-Triebe von den Sexualtrieben noch nicht unterschieden; die letzteren lehnen sich an die ersteren an.23 Die autoerotische Entwicklungsphase ist eine Phase, in der für die sexuelle Lust noch kein Objekt zur Verfügung steht. In ihr tritt an die Stelle des Objekts das Organ, das Quelle der Lust ist. Beide, Objekt und Organ, fallen zusammen.24 Auffällig an dieser frühen Phase ist, daß sie, obgleich doch von den Ich-Trieben beherrscht, also von den auf Selbsterhaltung zielenden Trieben der Nahrungsaufnahme und Ausscheidung, als autoerotische Phase bestimmt wird. Das Interesse Freuds an ihr gilt bereits der Libido. Freud hatte zunächst für die frühe Kindheit ein Zwei-Phasen-Modell generiert: Der frühen auto-erotischen Phase folgte die Phase der libidinösen Objektwahl. In den » Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie « von 1905 wird dann jedoch eine Zwischenphase eingefügt, die des primären Narzißmus. Freud schreibt: » Es hat sich bei weiterem Studium als zweckmäßig, ja als unabweisbar gezeigt, zwischen diesen beiden Stadien ein drittes einzuschieben, oder, wenn man so will, das erste Stadium des Autoerotismus in zwei zu zerlegen. In diesem Zwischenstadium, dessen Bedeutsamkeit sich der Forschung immer mehr aufdrängt, haben die vorher vereinzelten Sexualtriebe sich bereits zu einer Einheit zusammengesetzt und auch ein Objekt gefunden; dieses Objekt ist aber kein äußeres, dem Individuum fremdes, son22 I. D. Suttie, Origins, S. 19 ff., hat auf diesen Mangel bereits hingewiesen und ihn zu korrigieren gesucht. 23 S. Freud, Zur Einführung des Narzißmus, Ges. Werke, Bd. X, S. 153. 24 S. Freud, Triebe und Triebschicksale, Ges. Werke, Bd. X, S. 225.

Entwicklung und Entwicklungsphasen des Ich 171

dern es ist das eigene, um diese Zeit konstituierte Ich. Mit Rücksicht auf später zu beobachtende pathologische Fixierung dieses Zustandes heißen wir das neue Stadium das des Narzißmus. Die Person verhält sich so, als wäre sie in sich selbst verliebt; die Ichtriebe und die libidinösen Wünsche sind für unsere Analyse noch nicht voneinander zu sondern. «25

Die narzißtische Phase ist darin noch autoerotisch, daß die sexuelle Energie weiterhin den Ich-Trieben verhaftet bleibt. Sie richtet sich jedoch nicht mehr auf die Organe der Lust; vielmehr wird das Ich, das sich, wie Freud konstatiert, um eben diese Zeit bildet, zum Objekt der jetzt versammelten Sexualtriebe. Umgekehrt hat die narzißtische Hinwendung zum Ich Anteil an dessen Ausbildung. Die narzißtische Phase ist deshalb von überragender Bedeutung, weil sie sich in ihrem Triebpotential in aller ferneren Entwicklung durchhält, mehr noch: Die darauf folgende Phase der Objektliebe entsteht dadurch, daß Teile des Trieb­ potentials, die zuvor von der Ich-Liebe gebunden waren, von ihr abgezogen werden. Sie können deshalb auch wieder in sie zurückkehren. Hören wir auch dazu Freud selbst: » Wenngleich uns eine genügend scharfe Charakteristik dieses narzißtischen Stadiums, in welchem die bisher dissoziierten Sexualtriebe zu einer Einheit zusammentreten und das Ich als Objekt besetzen, noch nicht möglich ist, so ahnen wir doch bereits, daß die narzißtische Organisation nie mehr völlig aufgegeben wird. Der Mensch bleibt in gewissem Maße narzißtisch, auch nachdem er äußere Objekte für seine Libido gefunden hat; die Objektbesetzungen, die er vornimmt, sind gleichsam immer Rationen der beim Ich verbleibenden Libido und können wieder in dieselbe zurückgezogen werden. Die psychologisch so merkwürdigen Zustände von Verliebtheit, die Normalvorbilder von Psychosen, entsprechen dem höchsten Stande dieser Emanationen im Vergleich zum Niveau der Ich-Liebe. «26

Ersichtlich stellt sich Freud die einmal geschaffene Formation substanzhaft vor, und das so sehr, daß er gleichsam von einer Konstanz der verfügbaren Energie ausgeht. Was der Ich-Liebe entzogen wird, setzt sich als Objekt-Liebe in die Liebe alters um, und umgekehrt: Was von alter abgezogen wird, kehrt zur Ich-Liebe zurück. » Je mehr die eine verbraucht, desto mehr verarmt die andere «.27 Freud hat später (1923) den Narzißmusbegriff umorganisiert. Darauf komme ich noch zurück. Das Verständnis der Unterschiede in der Entwicklung der Geschlechts­ 25 S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Ges. Werke, Bd. V, S. 109. 26 S. Freud, ebd., S. 109 f. Die Hervorhebungen sind von mir. 27 S. Freud, Zur Einführung des Narzißmus, Werke, Bd. X, S. 141.

172

Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

identität wird jedoch von dem anfänglichen Verständnis des Narzißmus nachhaltig bestimmt. Das narzißtische Stadium spielt für die Entwicklung der Geschlechter eine unterschiedliche Rolle. Der Mann wird einen wesentlichen Teil der Ich-Libido zur Objektlibido umwandeln und damit in der ödipalen Phase eine dramatische Entwicklung seiner Subjektivität einleiten und auch abschließen. Anders, folgt man Freud, die Frau. Frauen sind in der Entwicklung eigentümlich gehemmt. Bei ihnen » scheint mit der Pubertätsentwicklung durch die Ausbildung der bis dahin latenten weiblichen Sexualorgane eine Steigerung des ursprünglichen Narzißmus aufzutreten, welche der Gestaltung einer ordentlichen, mit Sexualüberschätzung ausgestatteten Objektliebe ungünstig ist. Es stellt sich besonders in Folge der Entwicklung zur Schönheit eine Selbstgenügsamkeit des Weibes her, welche das Weib für die ihm sozial verkümmerte Freiheit der Objektwahl entschädigt. Solche Frauen lieben, streng genommen, nur sich selbst mit ähnlicher Intensität, wie der Mann sie liebt. Ihr Bedürfnis geht auch nicht dahin zu lieben, sondern geliebt zu werden, und sie lassen sich den Mann gefallen, welcher diese Bedingung erfüllt. «28

Wie kommt Freud zu solchen Einsichten ? Die Annahme einer infantilen Libidoorganisation der Frau entstammt keineswegs nur der Beobachtung. Sie folgt vielmehr zwangsläufig aus der Konzeptualisierung der Entwicklung der Phase, die dem primären Narzißmus folgt. Die nämlich läßt für Knaben und Mädchen eine vollständig andere Situation entstehen. Freud hat diese Phase erst spät (1923) als » phallische Phase « bezeichnet. Die Grundannahmen reichen aber bis in die Zeit der » Drei Abhandlungen « (1905) zurück. Auch die Konfliktlage dieser Phase war lange schon konzipiert. Die phallische Phase ist die Phase, in der sich die prägenitale kindliche Sexualität in einer Weise organisiert, die der der Erwachsenen nahekommt.29 Das Kind hat für seine libidinöse Energie bereits eine Objektwahl vollzogen. Sämtliche Sexualstrebungen richten sich auf eine Person, an der sie ihre Ziele erreichen wollen. Überdies gewinnen die Genitalien für die Bestimmung der sexuellen Ziele einen Primat, der diese Phase als abschließende infantile Sexualorganisation nur wenig hinter der zurückstehen läßt, die sich schließlich in der Pubertät ausbilden wird. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied: Das Kind – und zwar der Knabe ebenso wie das Mädchen – kennt nur ein Genitale: das männliche. Freud hat die Vorstellungen des Kindes in dieser Phase eingehender nur insoweit mitgeteilt, 28 S. Freud, ebd., S. 155. 29 Vgl. zum folgenden S. Freud, Die infantile Genitalorganisation, Ges. Werke, Bd. XIII, S.  293 ff.

Der Ödipus-Komplex 173

als er sie dem Knaben unterstellt. Seiner Annahme zufolge wird die Entdeckung, daß dem Mädchen der Penis fehlte, als Ergebnis einer Kastration aufgefaßt, eine Annahme, die erhebliche Folgen auch für das Verständnis der Sexualentwicklung des Knaben hat. Für das Mädchen hat Freud zunächst lediglich festgestellt, daß ihr Interesse am Penis des Knaben von Neid kommandiert sei.30 Das genügt ihm jedoch, um auch beim Mädchen schon in der Abhandlung » Zur Einführung des Narzißmus « vom » Kastrationskomplex « zu sprechen.31 In der Abhandlung über » Die infantile Genitalorganisation « hat Freud die Vorstellung des Mädchens dann dahingehend präzisiert, daß auch es von nur einem Genitale ausgehe, eben dem männlichen. » Der Gegensatz lautet hier: männliches Genitale oder kastriert. «32 Freud gibt auch an, wieso er zu dem kühnen Schluß gekommen ist, das Mädchen nehme nicht nur an, ihm fehle etwas, was es dem Knaben neide, es fühle sich vielmehr kastriert. Er berichtet: » Aus der Analyse einer jungen Frau erfuhr ich, daß sie, die keinen Vater und mehrere Tanten hatte, bis weit in die Latenzzeit an dem Penis der Mutter und einiger Tanten festhielt. Eine schwachsinnige Tante aber hielt sie für kastriert, wie sie sich selbst empfand. «33

Der Kastrationskomplex muß gleichwohl bei Knaben und Mädchen unterschiedlich aussehen. Wodurch der Knabe sich infolge des Ödipus-Komplexes bedroht fühlt, nämlich den Penis zu verlieren, findet sich beim Mädchen als unwiderruflicher Befund schon vor. Der Unterschied läßt deshalb eine weithin veränderte Konfliktlage in der ödipalen Konstellation zu beiden Eltern entstehen. Sie wird für die weitere Entwicklung, insbesondere für die Entwicklung der Geschlechtsidentität bestimmend.

4

Der Ödipus-Komplex

Freud hat nirgendwo eine zusammenhängende und endgültige Darstellung des Ödipus-Komplexes gegeben. Es gibt mehrere Versionen, in denen der Komplex dargestellt wird. Psychoanalytiker sind nicht kleinlich, wenn es gilt, die genaue innere Verfassung dessen zu beschreiben, der sich in der ödipalen Konfliktsituation

30 31 32 33

S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Ges. Werke, Bd. V, S. 180. S. Freud, Zur Einführung des Narzißmus, Ges. Werke, Bd. XIV, S. 159. S. Freud, Die infantile Genitalorganisation, Ges. Werke, Bd. XIII, S. 297. S. Freud, ebd., S. 197, Fn. 1.

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Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

befindet. Ich wähle die einfachste, eine, die sich, wie bei Freud, zunächst am Knaben orientiert.34

4.1

Die ödipale Konfliktlage des Knaben

In der Phase der Objektwahl konzentriert sich das Interesse des Knaben völlig auf die Mutter, und zwar so sehr, daß er die Befriedigung aller sexuellen Wünsche von ihr erwartet. In dieser Phase findet jedoch zugleich auch eine weitere Zusammenfassung der sexuellen Triebenergien unter den Primat der genitalen Zone statt. Der Knabe hat den Wunsch, mit der Mutter geschlechtlich zu verkehren. Dabei stößt er auf den Vater als Rivalen. Das läßt den Wunsch entstehen, den Vater zu töten. Der eine wie der andere Wunsch löst die Angst aus, vom Vater kastriert zu werden. Der Knabe gibt deshalb die sexuelle Zuneigung zur Mutter auf, behält jedoch die heterosexuelle Orientierung bei. Die Identifikation mit dem Vater erweitert sich durch Interiorisierung der väterlichen Verbote zur Entwicklung des Über-Ich. Eine bereits in der phallischen Phase ausgebildete Konfliktsituation, die mit dem Wunsch verbunden ist, mit der Mutter geschlechtlich zu verkehren, ist allerdings eine erst spätere Annahme, die mit der Konzeptualisierung der phallischen Phase selbst verbunden ist. Anfangs hatte Freud gemeint, die ödipale Konfliktsituation in der Pubertät ausmachen zu können. Das war insofern plausibel, als in ihr immerhin denkbar ist, daß koitale Wünsche die Phantasie zu beschäftigen beginnen. In den » Drei Abhandlungen « führt Freud den Ödipus-Komplex noch überaus behutsam ein, konjunktivisch: » Gewiß läge es dem Kinde am nächsten, diejenigen Personen selbst zu Sexualobjekten zu wählen, die es mit einer sozusagen abgedämpften Libido seit seiner Kindheit liebt. Aber … «35 Aber, so möchte man fortfahren, dazu kommt es erst gar nicht. Denn bis dahin hat sich längst ein Entwicklungsprozeß in Gang gesetzt, wie wir ihn oben geschildert haben. In ihm hat das Kind seine eigene Autonomie weit entwickelt und sich von den Eltern zu lösen begonnen; es wendet sich daher von selbst nach außen. Darauf rekurriert Freud allerdings nicht, sondern darauf, daß neben anderen Sexualhemmnissen die Inzestschranke als moralische Schranke aufgerichtet worden sei. Freud arbeitet also der Vorstellung von Lévi-Strauss vor. Er erklärt:

34 Vgl. zum folgenden S. Freud, Der Untergang des Ödipus-Komplexes, Ges. Werke, Bd. XIII, S.  397 ff. 35 S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Ges. Werke, Bd. V, S. 126.

Der Ödipus-Komplex 175

» Die Beachtung dieser Schranke ist vor allem eine Kulturforderung der Gesellschaft, welche sich gegen die Aufzehrung von Interessen durch die Familie wehren muß, die sie für die Herstellung höherer sozialer Einheiten braucht, und darum mit allen Mitteln dahin wirkt, bei jedem einzelnen, speziell beim Jüngling, den in der Kindheit allein maßgebenden Zusammenhang mit seiner Familie zu lockern. «36

Freud läßt mithin hier die Konfliktsituation aus einem gesellschaftlichen Imperativ entstehen. Wenige Jahre später läßt er jedoch die Gesellschaft sich selbst erst als Ergebnis dieser Konfliktlage ausbilden. Wie immer, mit der Entdeckung, daß eine genitale Zentrierung viel früher stattfindet, und mit der daran gebundenen Einführung der phallischen Phase verschiebt sich auch die ödipale Konfliktsituation. Sie liegt jetzt zwischen drei und fünf Jahren. Der Höhepunkt der Konfliktsituation bringt für den Knaben auch das Ende der phallischen Phase.

4.2

Ödipus und der Geschlechtscharakter der Frau

Auch für das Mädchen entwickelt sich eine trianguläre Konfliktlage. Sie hat den ödipalen Wunsch, mit dem Vater zu verkehren.37 Es versteht sich: Das Mädchen hat sowenig wie der Knabe eine bewußte Vorstellung vom Geschlechtsakt, auch sind ihm Funktion und Bedeutung solchen Verkehrs in diesem Alter nicht bekannt. Freud läßt den Wunsch, mit dem Vater zu verkehren, auch nicht daran scheitern, daß sie sich gleichgeschlechtlich versteht, nur eben kastriert. Sie will, was der Knabe auch will: mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil verkehren. Einmal vorhanden, ist die ödipale Konfliktsituation für das Mädchen kaum überwindbar. Denn was den Knaben bewegt, von der Mutter zu lassen: die Angst vor der Kastration, ist für das Mädchen von allem Anfang an ihr Schicksal. » Während der Ödipus-Komplex des Knaben am Kastrationskomplex zugrunde geht, wird der des Mädchens durch den Kastrationskomplex ermöglicht und eingeleitet. «38 Das Mädchen empfindet die Klitoris als schäbigen Überrest einer einst besseren Ausstattung und reagiert darauf mit dem Neid auf den Penis des Knaben und mit dem bleibenden Gefühl der Minderwertigkeit in bezug auf sich selbst. Was jedoch bleibt ihm schließlich anderes übrig, als sich in sein Schicksal zu ergeben ? Es sucht sich mit zwei Phantasien zu entschädigen: mit der, den Penis des 36 S. Freud, ebd., S. 127. 37 » Auch das weibliche Geschlecht entwickelt einen Ödipus-Komplex … «, heißt es explizit in: Der Untergang des Ödipus-Komplexes, Ges. Werke, Bd.  XIII, S. 400. Später relativiert Freud diese Annahme; die Aussagen über die ödipale Konfliktsituation gelten für das Mädchen » nicht in voller Strenge «. S. Freud, Über die weibliche Sexualität, Ges. Werke, Bd.  XIV, S. 521. 38 S. Freud, Einige psychische Folgen, Ges. Werke, Bd. XIV, S. 28.

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Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

Knaben für sich zu bekommen, also zu koitieren, und mit der anderen, ein Kind vom Vater haben zu wollen. Mit dieser Konstellation ist der Geschlechtscharakter der Frau auch für spä­ tere Zeiten festgelegt. Unter dem Eindruck des Kastrationsbewußtseins kommt sie auch später nicht dazu, ein aktives Sexualbegehren auszubilden. Sie bleibt einem frühkindlichen Narzißmus verhaftet. Eben deshalb habe ich oben darauf hingewiesen, daß für Freud die Annahme eines andauernden Narzißmus der Frau nahe­zu zwangsläufig ist: Es ist einfach kein psychischer Mechanismus sichtbar, der eine Konfliktzuspitzung bewirkte, die einerseits die Energien auf den Mann konzentrierte, die andererseits aber auch die Konfliktlage überwinden hülfe. Aus diesem Grund verwandeln Frauen die sexuelle Triebenergie der Kindheit in eine zielgehemmte Zärtlichkeit. Sie entwickeln, meint Freud, gerade dadurch ihren Reiz für den Mann. Dieser Reiz ist dem ähnlich, den das Kind ausübt; er beruht auf der Selbstgenügsamkeit, die der Narzißmus bewirkt. Die Selbstgenügsamkeit bietet Freud Anlaß, ihn noch einem anderen Reiz zu vergleichen: dem der Katzen und großen Raubtiere, die sich ebenfalls um uns nicht zu kümmern scheinen.39 Auch die Vorstellung der Selbstgenügsamkeit ist, darauf sei nachdrücklich hingewiesen, eine Konsequenz der Annahme des ödipalen Komplexes, wie er sich in verkümmerter Form für die Frau ausbildet. Sie kann nicht mit ihm leben oder doch nur schlecht, und sie kann nicht ohne ihn leben oder doch nur noch viel schlechter. Eben das aber ist ihr Schicksal. Freuds Lehre von der Sexualität der Frau, insbesondere dem alles bestimmenden Penisneid und Kastrationskomplex, ist es inzwischen in den Faktionen der psychoanalytischen Theorie seltsam ergangen. Für die eine gilt der Penisneid mit allen damit verbundenen Vorstellungen nach wie vor als erwiesen.40 In einer anderen wird ihm eine radikal andere Deutung gegeben. So sieht Janine Chasseguet-Smirgel in ihm das Bemühen, die Macht der Mutter durch Idealisierung und Überhöhung des väterlichen Organs zurückzudrängen.41 In wieder einer anderen Faktion wird der Penisneid als Ideologie genommen; es wird mit ihm verfahren, wie man mit Ideologien zu verfahren pflegt: Sie werden nicht widerlegt, sie werden der Lächerlichkeit preisgegeben.42 So gewichtig die Ideologiekritik ist, das Verfahren hat den Nachteil, erkenntniskritisch defizient zu sein; es bricht ein Stück aus der Theorie heraus, nämlich die ödipale Konfliktlage der Frau, läßt die 39 S. Freud, Zur Einführung des Narzißmus, Ges. Werke, Bd. X, S. 155. 40 Das gilt insbesondere für H. Roiphe und E. Galenson, Infantile Origins of Sexual Identity; darüber alsbald mehr. Es gilt aber auch für M. Mahler und ihre Mitarbeiterinnen; vgl. M. Mahler et al., Die psychische Geburt, S. 109 passim. 41 Vgl. J. Chasseguet-Smirgel, Freud and Female Sexuality, S. 275 ff. (285); dies., Beitrag zur Untersuchung des Narzißmus, S. 97 ff. Vgl. auch J. Benjamin, Die Fesseln der Liebe, S. 99, 107. 42 Vgl. für viele andere Christiane Olivier, Jokastes Kinder, S. 30 ff.

Strukturkritik der psychoanalytischen Theorie 177

Theorie aber sonst unversehrt: » Alles, was den Mann betrifft «, sagt Christiane Olivier, » erscheint richtig und über jeden Zweifel erhaben. «43 Das nun ist ebenfalls eine Ideologie.

5

Strukturkritik der psychoanalytischen Theorie

5.1

Zur naturalistischen Ausgangslage

Es gehört zur evolutiven Logik, daß jede Entwicklung aus der Konstellation der Ausgangslage herausgeführt werden muß. In einer naturalistischen Theorie ist, darauf habe ich eingangs hingewiesen, deshalb nichts wichtiger, als die anthropologische Ausgangslage zu bestimmen, aus der heraus der Entwicklungsprozeß des Subjekts in Gang gesetzt wird. Dabei gilt es, gerade jenen Momenten Aufmerksamkeit zu schenken, die sich neu gebildet haben und Träger der Entwicklung werden. Das sind beim Menschen a) eine radikal veränderte Triebstruktur, nämlich ein weitgehender Abbau der genetisch programmierten, also instinktiven Lebensformen und b) die Potenz, kulturelle Lebensformen entstehen zu lassen, die sich aus der Umsetzung einer geistigen Kapazität in eine konstruktive Kompetenz erst bilden. Ich habe oben ebenfalls schon darauf hingewiesen, daß Freud es an einer systematischen Rekonstruktion derjenigen naturalen Ausgangslage, aus der heraus sich der Entwicklungsprozeß des Subjekts in Gang setzt, hat fehlen lassen. Das muß die naturalistisch gemeinte Rekonstruktion defizitär werden lassen. Ich weise auf die unzureichende Rekonstruktion der Ausgangslage nicht hin, um bei Freud einzuklagen, was erst in der Gegenwart einsichtig wird. Die Absicht ist vielmehr, zu verdeutlichen, daß diese Theorieanlage nicht fortgeführt werden kann. Die Unmöglichkeit zeigt sich nirgends deutlicher als in den Arbeiten derjenigen psychoanalytischen Forscher, die das Wissen um die ontogenetische Entwicklung des Kindes auf empirisch gesicherten Boden gestellt haben. Sie machen deutlich, daß es keine der von Freud angenommenen Phasen verdient, eigens als Phase ausgegeben zu werden, wie immer die Bedeutung der von ihm beobachteten Prozesse einzuschätzen sein mag. Sehen wir uns die Ergebnisse der frühkindlichen Entwicklung, wie sie von Margaret Mahler und ihren Mitarbeiterinnen erarbeitet worden sind, näher an und befragen sie auf ihre theoretische Bedeutung hin.44

43 Chr. Olivier, ebd., S. 23. 44 Vgl. zum folgenden M. Mahler et al., Die psychische Geburt des Menschen.

178

5.2

Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

Der empirische Widerspruch

5.2.1 Die Phasenbildung M. Mahler und Mitarbeiterinnen haben für die ersten zweieinhalb Jahre das bis dahin verfügbare Wissen über die Entwicklung des Kindes45 durch genaue Beobachtung und Phasenbildung weiter ausgebaut. Danach lebt das Kind nach einer Aufwachphase von etwa einem Monat in einer symbiotischen Phase, die bis zum sechsten Monat andauert. Symbiotische Phase will sagen: Zwar reagiert das Kind bereits in ungleich stärkerem Maße als während des ersten Monats auf Reize und Impulse, die von außen, insbesondere von der sorgenden Bezugsperson, kommen; aber es weiß zwischen innen und außen noch nicht zu unterscheiden. Symbiose, sagen Mahler und Mitarbeiterinnen, » beschreibt jenen Zustand der Undifferenziertheit, der Fusion mit der Mutter, in denen das › Ich ‹ noch nicht vom › Nicht-Ich ‹ unterschieden ist, und innen und außen erst allmählich als verschieden empfunden werden. «46

Auf diese Phase zielt auch Freud ab, wenn er feststellt: » Ursprünglich enthält das Ich alles, später scheidet es eine Außenwelt von sich ab. «47 Die Konzeptualisierung durch Freud bleibt gleichwohl mißlich. Denn ein » Ich « gibt es noch nicht – das weiß Freud; und abgeschieden wird die Außenwelt später auch nicht, vielmehr bilden sich Ich und Außenwelt gemeinsam über eine Distanz zueinander aus. Lassen wir dahingestellt, ob diese Phase autoerotisch genannt zu werden verdient, wenn doch von allem Anfang an Reize und Impulse von außen aufgenommen werden. Ein Außenweltobjekt ist jedenfalls noch nicht ausgebildet. Und lassen wir auch die Frage dahingestellt, warum bereits in dieser Phase dem Eros der Primat zuerkannt wird. Entscheidend für die weitere Entwicklung wird die der symbiotischen Phase folgende Phase. Mahler und ihre Mitarbeiterinnen nennen sie die Loslösungsund Individuationsphase. Sie liegt zwischen dem Beginn der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres und dem Ende des zweiten oder dem Ende der ersten Hälfte des dritten Lebensjahres (in Jahr und Monaten: 0.6 – ​2.0/2.6). Wenn man von den einzelnen Subphasen absieht, die Mahler und ihre Mitarbeiterinnen ausgemacht haben, dann zeigt sich in der systematischen Rekonstruktion dieser Loslösungsphase ein höchst bedeutsamer Vorgang: In der durch die biologische Reifung ermöglichten Intensivierung der interaktiven Beziehung sieht 45 Vgl. von psychoanalytischer Seite R. Spitz, Vom Säugling zum Kleinkind. 46 M. Mahler et al., ebd., S. 63. 47 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Werke, Bd. XIV, S. 425.

Strukturkritik der psychoanalytischen Theorie 179

sich der Organismus genötigt, mit den von außen auf ihn eindrängenden Einflüssen und Impulsen dadurch fertigzuwerden, daß er seine eigene Motorik auf Bewältigungsschemata hin entwickelt. Ein Beispiel: Eine Hand muß je nach Größe des beweglichen Objekts unterschiedlich weit geöffnet werden; zum Greifen eines anderen Objekts müssen die Bewegungen beider Hände koordiniert werden etc.48 Das ist nur möglich, indem zwei Leistungen gleichzeitig entwickelt werden: Die Ausbildung einer Bewegungskoordination ist nur über die Ausbildung einer Steuerungskompetenz der Motorik zu gewinnen, also über die Entwicklung einer Selbstreflexivität, die den Entwicklungsprozeß des Selbst einleitet. Gleichzeitig aber muß dazu das Objekt als Objekt, also als etwas, das vom Organismus getrennt ist, in eine Gegenlage zu letzterem gebracht werden. Das schlechthin dominante Objekt der Interaktion ist während der frühen Ontogenese die sorgende Bezugsperson, in der Regel also die Mutter. Die ganz unumgängliche Konsequenz dieses Prozesses ist, daß sich das Kind aus der symbiotischen Beziehung zur Mutter zu lösen beginnt. Mahler und ihre Mitarbeiterinnen sehen deshalb den Entwicklungsprozeß über zwei Schienen verlaufen: Die eine Schiene ist die der Loslösung, die andere die der Individuation. Sie stellen beide Seiten eines einzigen Prozesses und des von ihm bestimmten Entwicklungsmechanismus dar. Die Loslösungs- und Individuationsphase schließt mit der Entwicklung der Objektpermanenz ab. Mahler und ihre Mitarbeiterinnen bestätigen insoweit die Untersuchungen von Piaget.49 Was uns daran interessiert, ist ihre Relevanz für die psychoanalytische Theorie. Welche der Freudschen Phasen soll man der Loslösungs- und Individuationsphase zurechnen ? Da letztere bereits mit sechs Monaten beginnt und mit zwei bzw. zweieinhalb Jahren endet, müßte die narzißtische Phase, wie Freud sie in der Abhandlung » Zur Einführung des Narzißmus « bestimmt hat, in deren Anfang fallen oder mit ihr identisch sein. Das anzunehmen wäre auch deshalb notwendig, weil Freud davon ausgeht, daß in der narzißtischen Phase ein Ich schon insoweit gebildet ist, daß es der Libido als Objekt dienen kann. Allerdings sind mit zwei Jahren auch definitive Außenobjekte vorhanden. Das läßt die Ausbildung eines Narzißmus im zuvor erwähnten Sinne überhaupt als zweifelhaft erscheinen. Denn von allem Anfang an bilden sich, dem einzigen Mechanismus folgend, der zur Ausbildung eines Ich führen kann, Ich und Objekt gemeinsam aus. Irgendeine Ichbildung vor der Objektbildung gibt es nicht. Die Untersuchung Margaret Mahlers und ihrer Mitarbeiterinnen zeigen darüber hinaus, daß mit der kognitiven Bildung des schlechterdings dominanten Au48 Diese Prozesse sind am genauesten von Piaget untersucht worden. Vgl. J. Piaget, Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde. 49 J. Piaget, Psychologie der Intelligenz, S. 121 ff.

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Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

ßenobjekts: der primären Bezugsperson deren emotionale Besetzung einhergeht. Man kann deshalb erst gar nicht auf den Gedanken kommen, daß die Bildung des einen, des kognitiven Objekts, nicht mit der Bildung des anderen, des emotional besetzten, zusammenginge. Überdies aber lassen die Untersuchungen erkennen, daß die Besetzung der primären Bezugsperson nicht weniger bedeutsam zu sein scheint als die Besetzung des eigenen Ich. Eigentlich, so sollte man deshalb meinen, sei damit die psychoanalytische Stufe des Narzißmus schlicht widerlegt. Zu einer derart rigorosen Revision der Freudschen Entwicklungstheorie besteht für deren Protagonisten allerdings kein Anlaß. Freud hat nämlich die Konzeptualisierung des Narzißmus selbst einer Revision unterzogen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der zweiten Theorie des psychischen Apparates hat er einen primären Narzißmus von einem sekundären unterschieden. Der primäre Narzißmus ist jetzt durch einen Zustand charakterisiert, der noch vor der Ausbildung eines Ich gelegen ist;50 als sekundären Narzißmus bezeichnet Freud eine Libidobesetzung des Ich, die letzterem dadurch zufließt, daß sie vom Es abgezogen wird. » Zu Uranfang «, erklärt Freud, » ist alle Libido im Es angehäuft, während das Ich noch in der Bildung und schwach ist. Das Es sendet einen Teil dieser Libido auf erotische Objektbesetzungen aus, worauf das erstarkte Ich sich dieser Objektlibido zu bemächtigen und sich dem Es als Liebesobjekt aufzudrängen sucht. Der Narzißmus des Ichs ist so ein sekundärer, den Objekten entzogener. «51

Margaret Mahler und ihre Mitarbeiterinnen passen ihre Forschungen dieser neuen Begriffsbestimmung an. Sie beziehen den primären Narzißmus Freuds auf die symbiotische Phase zwischen dem zweiten und dem sechsten Lebensmonat, lassen ihn mit dieser Phase aber auch enden und dem sekundären Narzißmus Platz machen.52 Dieser Wechsel ist jedoch mit dem Befund der ontogenetischen Entwicklung, wie ihn Mahler und ihre Mitarbeiterinnen erhoben haben, in keiner Weise vereinbar. Für die symbiotische Phase ist nicht ersichtlich, daß sich im Sinne der anfänglichen Bestimmung Freuds ein Ich gebildet hätte, das deshalb Objekt der Libido sein könnte, weil sich ein anderes Objekt noch nicht gebildet hat; ganz im Gegenteil betonen Mahler und ihre Mitarbeiterinnen, die symbiotische Phase sei als eine » vage Zweieinheit « durch die libidinöse Besetzung der Mutter gekenn-

50 Vgl. S. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Werke, Bd. XI, S.  431 f. 51 S. Freud, Das Ich und das Es, Ges. Werke, Bd. XIII, S. 275. 52 M. Mahler et al., ebd., S. 67.

Strukturkritik der psychoanalytischen Theorie 181

zeichnet.53 Demnach läge überhaupt kein Narzißmus vor. Es möchte angehen, von dieser Phase zu sagen, ihr Urbild sei das intrauterine Leben. Damit allein läßt sich jedoch kein primärer Narzißmus begründen. Wenn überdies gesagt wird, die Zweieinheit werde von der libidinösen Besetzung der Mutter bestimmt, macht es auch keinen Sinn, von einem » primären Narzißmus « zu sprechen, der dann gegen einen sekundären abgesetzt werden könnte. Ohnehin steht die Annahme eines sekundären Narzißmus quer zu dem Verlauf, den die frühkindliche Entwicklung tatsächlich nimmt. Weder in der symbiotischen Phase noch in der nachfolgenden Loslösungs- und Individuationsphase ist irgendein Anhalt dafür zu finden, daß eine Verschiebung der libidinösen Energie vom Es auf die primäre Bezugsperson und von ihr auf sich selbst erfolge. Freud kannte ganz einfach den Mechanismus nicht, durch den die Ichbildung ebenso wie die Objektbildung erfolgt; wir kennen ihn: Beide bilden sich durch einander. Weil die Ausbildung eines selbständigen Objekts mit der Bildung einer Steuerungsinstanz der Motorik einhergeht, bildet sich ein Ich; und nur weil sich eine Steuerungsinstanz der Motorik entwickelt, bildet sich ein Objekt. Ein Verschiebebahnhof libidinöser Energie vom Es auf das Ich ist dieser Prozeß nicht. Tatsächlich ist in psychoanalytischen Abhandlungen inzwischen auch der Rest einer systematisch begründeten Begriff‌lichkeit dessen, was der Narzißmus darstellen soll, verlorengegangen.54 Mir will nach allem scheinen, daß aus der unabweisbaren Einsicht in den Mechanismus, demzufolge sich Ich und Objekt gleichzeitig und eines durch das andere bilden, ein ebenso unabweisbarer Schluß gezogen werden muß: Weder ist das Ich zu irgendeiner Zeit in einem Zustand seiner Bildung begriffen, in der es ausschließliches Objekt seiner Libido wäre (anfänglicher Narzißmus), noch befindet es sich zu irgendeiner Zeit in einem Verhältnis zur Außenwelt, in dem es deren libidinöse Besetzung erst auf sich überführen müßte (späterer Narzißmus). Wie sehr die psychoanalytische Entwicklungstheorie Freuds mit ihrer Stufenlehre schon wegen der neueren empirischen Befunde einer Überprüfung bedarf, läßt sich auch an der Entwicklung der Geschlechtsidentität zeigen. Dabei ist es insbesondere die Freudsche Vorstellung von der Geschlechtsidentität des Mädchens, die einer Überprüfung nicht standhält. Das zeigt sich in einer Untersuchung, die Roiphe und Galenson angestellt haben. Beide sind nachhaltige Verfechter der Freudschen Theorie.55

53 M. Mahler et al., ebd., S. 67. 54 So bei N. Chodorow, Das Erbe der Mütter, S. 84 ff. 55 Vgl. zum folgenden H. Roiphe/E. Galenson, Infantile Origins, S. 1 ff., 21 ff., 69 ff.

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Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

5.2.2 Kastrationskomplex und Penisneid Roiphe und Galenson bestätigen, was sich in anderen Studien ebenfalls angedeutet hat: Die Geschlechtsidentität, also das Selbstverständnis, ein Junge oder Mädchen zu sein, entwickelt sich früher, als Freud angenommen hatte. Roiphe und Galenson haben ihre Entwicklung in eine präödipale Phase, die zwischen dem 15. und 24. Monat beginnt und bis zur phallischen Phase andauert, eingeordnet. Kinder lernen in dieser Zeit den Unterschied der Geschlechtsmerkmale kennen und erleben eine erste genitale Zentrierung mit einer spezifischen Form von Lust in der Genitalzone. Eben deshalb nennen Roiphe und Galenson diese Phase » die frühe Genitalphase «. Was uns an ihr interessiert, ist, daß beide Autoren für diese Frühphase alle Charakteristika ausmachen zu können meinen, die Freud der ödipalen Phase zugeschrieben hatte, also vor allem den Kastrationskomplex des Jungen wie des Mädchens sowie den Penisneid des Mädchens. Beide Autoren belassen, das sei nachdrücklich betont, die ödipale Konstellation in der phallischen Phase, also zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr. Sie sehen aber deren kennzeichnende Merkmale schon früher verwirklicht. Diese Annahme bereitet zunächst theoretisch nicht unbeträchtliche Schwierigkeiten. Denn die Entdeckung des Geschlechtsunterschieds besteht jedenfalls zunächst nur in der Feststellung von » haben oder nicht haben «. » Haben oder nicht haben « heißt aber noch nicht: normal oder kastriert sein. Zwar ist der Kastrationskomplex in der Freudschen Theorie an die Entdeckung des Geschlechtsunterschieds gebunden, zustande kommt er jedoch erst, wenn der Wunsch besteht, mit dem anderen Elternteil verkehren zu wollen, und wenn dadurch Perturbationen in der familialen Konstellation ausgelöst werden. Davon aber ist in der aufwendigen Untersuchung der beiden Autoren nirgendwo die Rede. Möglich, daß sich die Autoren darüber deshalb keine Gedanken gemacht haben, weil sie diesen Wunsch als transzendentales Apriori oder biologisches Erbgut einfach unterstellen. Wahrscheinlich ist, daß sie sich die Theoriestücke unbefragt vorgeben ließen, ohne um deren Systematik weiter bekümmert zu sein. Roiphe und Galenson erklären, der Kastrationskomplex dokumentiere sich beim Knaben darin, daß er den von ihm beobachteten Geschlechtsunterschied zu verleugnen suche, beim Mädchen darin, daß es bedrückt und ärgerlich reagiere.56 Soll das wirklich alles sein ? Wie zumeist bei psychoanalytischen Studien sind die Annahmen durch Beobachtungen unterlegt. Es versteht sich: An den Beobachtungen zweifle ich nicht. Liest man sie jedoch aus der kritischen Distanz dessen, der nach Belegen für die Grundannahmen einer Theorie sucht, so kann die Suche geradezu in Verzweiflung führen angesichts der Leichtigkeit, mit der einfache Be56 H. Roiphe/E. Galenson, ebd., S. 2.

Strukturkritik der psychoanalytischen Theorie 183

obachtungen mit Interpretamenten aus einer Theorievorgabe ummantelt werden. Zwei Beispiele: Kate ist ein Mädchen, das um das zweite Lebensjahr in eine Krise geraten ist, die dadurch ausgelöst wurde, daß der Vater die Familie für längere Zeit verlassen mußte. Das Verlusterlebnis führen die Autoren mit dem Kastrationskomplex, der um diese Zeit sich bilden soll, zusammen. Sie berichten: » Eines Tages spielte Kate zu Hause mit einigen Bleistiften und zerbrach einen langen braunen Bleistift absichtlich in zwei Teile, ein Verhalten, das für sie eher ungewöhnlich war … Nachdem sie ihn zerbrochen hatte, versuchte sie, ihn wieder zusammenzubringen. Als sie fand, daß das unmöglich war, brach sie in ein unkontrolliertes Schluchzen aus, das 45 Minuten dauerte … Es scheint sicher, aus diesem Phantasiespiel mit dem Bleistift den Schluß zu ziehen, daß Kate eine Anstrengung machte, um die narzißtische Verletzung aktiv zu beheben, die ihrer passiven Konfrontation mit ihrer Kastrierung gefolgt war. «57

Ich will nicht unerwähnt lassen, daß dieser Vorfall der einzige ausführlicher geschilderte Beleg dafür ist, daß sich überhaupt ein Kastrationskomplex gebildet hat. Die anderen Hinweise sind eher noch vager. Die völlige Unbedenklichkeit, zu Interpretationsschablonen zu greifen, zeigt sich nicht nur in der Beobachtung und therapeutischen Behandlung (!) des zuvor erwähnten Mädchens; nicht anders legen sich die beiden Autoren die Probleme eines zwanzig Monate alten Knaben, Jeffs, zurecht. Dessen Kastrationsangst finden sie in der Vorliebe ausgedrückt, die er für Schlüssel, Federhalter und große Bäume (!) hegt. Denn, so versichern die Autoren, alle diese Gegenstände haben das Merkmal, wie ein Phallus geformt zu sein.58 Auch das Versteckspiel Jeffs wird als Ausdruck der Kastrationsangst gedeutet. Da die Autoren entschlossen sind, in allem die Kastrationsangst wiederzufinden, wird schließlich Jeff selbst zur Inkarnation von Phallus und Kastration: » Auf der einen Seite schien Jeffs ganzer Körper eine phallische Bedeutung für ihn zu bekommen. Er spielte mit seinem Vater ein › Fliege-Spiel ‹, indem er durch den Raum rannte, geduckt, den Kopf nach vorn und die Arme zurück. Währenddessen ahmte er das Geräusch eines Flugzeuges nach: brmm. Wenn er in seines Vaters geöffneten Armen landete, wollte er hoch in die Luft geworfen werden, zu beider, des Vaters wie des Sohnes, großer Freude. «59 57 H. Roiphe/E. Galenson, ebd., S. 12. 58 H. Roiphe/E. Galenson, ebd., S. 278. 59 H. Roiphe/E. Galenson, ebd., S. 281.

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Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

Ersichtlich ist einer solchen Intransigenz der Interpretation in keiner Weise beizukommen. Diese Theorie läßt sich nicht versuchen; man möchte, mit dem Urbild aller Versuchung zu sprechen, rasend werden. Wenden wir uns deshalb nach der Empirie der Theoriekritik zu.

5.3

Der Widerspruch gegen die Struktur der psychoanalytischen Theorie

5.3.1 Zur Kritik der Substanzlogik Die empirischen Widersprüche, die sich für den zeigen, der der Freudschen Theorie kritisch gegenübertritt, sind mehr als nur der Ausdruck einzelner Annahmen, die revidiert werden könnten, ohne die Theorie in Frage zu stellen. Sie sind Ausdruck einer erkenntniskritisch überholten Struktur, in der die Theorie angelegt ist. Notwendig ist deshalb, die Theorie frontal anzugehen und sie in ihrer Struktur einer Kritik zu unterziehen. Das könnte an jedem Teilstück der Theorie geschehen. Mir kommt es jedoch zuvörderst auf die ontogenetische Entwicklung und in ihr auf die Ausbildung der Geschlechtsidentität an. Die ontogenetische Entwicklung, so meine These, kann nicht als eine Entwicklung der Sexualität begriffen werden, die im Ödipus-Komplex ihren Wendepunkt erfährt. Die Entwicklung, wie Freud sie lehrt, verstellt den Zugang zum Verständnis der Geschlechtsidentität und damit auch zum Verständnis der Beziehungen und Bindungen, die sich dermaleinst zwischen den Geschlechtern ausbilden werden. Ich konzentriere meine Kritik deshalb auf das Verständnis des Anteils der Sexualität an der Entwicklung und ihrer Kulmination im Ödipus-Komplex. Das scheint mir der psychoanalytischen Theorie keine Gewalt anzutun. Denn für Freud selbst galt die Anerkennung des Ödipus-Komplexes als unvermeidliches und also normales Durchgangsstadium der ontogenetischen Entwicklung. Er war das Schibboleth, das Anhänger und Gegner der Theorie schied.60 Inzwischen ist die Bedeutung des Ödipus-Komplexes auch in der psychoanalytischen Theorie heruntergespielt worden. Ganz allgemein wird aber die ödipale Konfliktkonstellation weiterhin als gültig angesehen. Die meisten psychoanalytisch motivierten Theoretiker hantieren mit ihr, als sei sie das sicherste Wissen, das wir von dieser Phase der ontogenetischen Entwicklung haben. Der Widerspruch richtet sich gegen die Anlage der Freudschen Theorie; es ist ein Widerspruch gegen ihre Argumentationsstruktur. Ich habe oben die Diffe60 S. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Ges. Werke, Bd. V, S. 127 f., Fn. 7. Freud selbst hat die Bedeutung später geringer eingeschätzt; vgl. I. D. Suttie, Origins, S. 11.

Strukturkritik der psychoanalytischen Theorie 185

renz zwischen der substanzlogischen und der prozeßlogischen Argumentation als eine Differenz der Denkstruktur dargestellt, die sich erst mit der Neuzeit ausgebildet hat und erst im 20. Jahrhundert voll reflektiert wird.61 Meine These ist, daß die ontogenetische Entwicklungstheorie im ganzen, insbesondere aber der für sie zentrale Ödipus-Komplex, in der psychoanalytischen Theorie durch ein immer noch substanzlogisches Verständnis des ontogenetischen und historischen Entwicklungsprozesses bestimmt wird. Nur wird die Substanz der Natur eingelagert. Freud selbst hat das in einer Klarheit gesehen, die nicht zu überbieten ist. Er erklärt: » Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. «62 Mythen aber zeichnen sich durch ihre substanzlogische Erklärungsstruktur aus. In der Tat läßt Freud die Entwicklung sich entfalten, wie sich in der mythischen Logik alle Dinge entfalten: aus einer uranfänglichen Substanz heraus.63 Der Struktur dieser Logik zufolge erhält sich in der Entwicklung, was von allem Anfang an in ihr angelegt war. Der Satz der Erhaltung ist denn auch von Freud ausdrücklich für die psychoanalytische Theorie in Anspruch genommen worden.64 Die Substanzlogik ist eine Ursprungslogik. In der einen oder anderen Artikulation erweisen sich beide als Umsetzungen der pristinen Logik, die sich aus der Handlungslogik entwickelt hat. Als solche entfaltet sie eine für jeden einsichtige Plausibilität. Sie wird jedoch weder dem gattungsgeschichtlichen Verständnis unserer Zeit noch dem Verständnis des prozessualen Geschehens in der ontogenetischen Entwicklung gerecht. Mehr noch: Sie führt, wie die ödipale Konstruktion zeigt, zu mythischen Phantasmen. Wir mögen Freuds Lehre wichtige Einsichten entnehmen, die Theorie selbst ist überholt. Das erweist sich, wenn wir uns ihre Durchführung näher ansehen. 5.3.2 Das triebtheoretische Verständnis der Entwicklung Der Naturalismus der Freudschen Theorie hat diese Theorie zu einer Triebtheorie werden lassen. Darin steckt eine wichtige Einsicht; ich habe sie oben schon erwähnt: Jegliche Entwicklung wird von einem naturalen Stratum in Gang gesetzt 61 Vgl. oben S. 9 ff.; eine Kritik der Substanzlogik findet sich bereits bei J. Anderson, Freudianism and Society, S. 70 f. Sie ist jedoch nicht als Konsequenz einer Entwicklungstheorie des Geistes gemeint. 62 S. Freud, Neue Folge der Vorlesungen, Ges. Werke, Bd.  XV, S. 101. Den Hinweis verdanke ich U. Weisenbacher. 63 Feinsinnig vergleichen Deleuze und Guattari den » ödipalen Apparat « mit Blick auf die Argumentationsstruktur dem » unbewegten Beweger «. So G. Deleuze/F. Guattari, Tausend Plateaus, S. 56. 64 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Ges. Werke, Bd. XIV, S. 428.

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Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

und von ihm getragen. Ihr energetisches Moment liegt in der naturalen Konstitution des Organismus. Allein, es liegt im Organismus als solchem – wir sagen: im biologischen System und nicht in diesem oder jenem Trieb. Eine Theorie der Enkulturation muß deshalb phylogenetisch wie ontogenetisch von der anthropologischen Verfassung als einer biologischen Organisation ausgehen und aus ihr heraus die geistigen, sozio-kulturellen Lebensformen als Anschlußorganisation entwickeln. Die Entwicklung, das ist die Pointe aller Anthropologie, führt von der Natur zur Kultur. Auch Freud geht diesen Weg; nur wird dabei nicht deutlich, daß er in ein anderes Stratum führt. Statt den Transformationsprozeß zu bestimmen, in dem die naturale Ausgangslage sich in das andere Stratum der kulturellen Lebensformen umsetzt, hat er es bei der naturalen Triebgestaltung bewenden lassen und versucht, mit ihr im Verständnis der sich entwickelnden Lebensformen auszukommen. Die Trieblehre, zunächst dualistisch, später triadisch konzipiert, trägt die ganze Last der Erklärung, und das auch, soweit es um die Ausbildung eines Aktionensystems und der mit ihr verbundenen Realität geht.65 Woher rührt die überragende Bedeutung, die, folgt man Freud, den Sexualtrieben während des ganzen Lebens zukommt ? Keineswegs aus der Bedeutung, die die Sexualität im Verhältnis der Geschlechter und damit zugleich für die Vermittlung zwischen der sinnfreien Körperlichkeit des Daseins und der sinnhaften Lebensführung gewinnt. Es gehört zu den Kuriosa der psychoanalytischen Theorie, daß sie über die Einbindung der Sexualität in ein Dasein, das sinnhaft geführt werden muß, nichts zu sagen weiß. Sie ist in dem triebtheoretischen Konzept nicht vorgesehen. Triebtheoretisch gewinnt die Sexualität deshalb überragende Bedeutung, weil sie einem Lustprinzip verbunden ist, von dem Freud annimmt, daß es ursprünglich das gesamte Seelenleben beherrscht habe.66 Ursprungslogisch, wie Freud nun einmal denkt, gründet der (anfängliche) Triebdualismus letzten Endes in einem Triebmonismus. Während sich das Realitätsprinzip von dem ursprünglichen Lustprinzip ablöst – und noch dafür verlangt das letztere einen Ersatz –, behalten die Sexualtriebe die Verbindung zum ursprünglichen Lustprinzip bei. Sie sind deshalb immer gut für Halluzinationen, Phantasien, Tagträume und Verdrängungen; daneben bleiben sie, was sie sind: bloßes Triebpotential. Auch das Verständnis dessen, was das Triebhafte des Sexualtriebes ausmacht, ist substanzlogisch bestimmt und äußerst restringiert – gänzlich unerotisch in dem zuvor erörterten Sinne.

65 S. Freud, Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, Ges. Werke, Bd. VIII, S. 230 ff. 66 S. Freud, ebd., S. 231.

Strukturkritik der psychoanalytischen Theorie 187

5.3.3 Das Verständnis der Sexualität Die Frage, als was Sexualität zu verstehen ist, stellt sich für Freud bei der Bestimmung ihrer frühkindlichen autoerotischen Form. Die nämlich ermangelt jener Merkmale, die wir sonst damit verbinden: der Bindung an die Genitalzone und der Gerichtetheit auf ein zumeist gegengeschlechtliches Objekt. Gleichsam rhetorisch fragt Freud: » Warum steifen Sie sich darauf, die nach Ihrem eigenen Zeugnis unbestimmbaren Äußerungen der Kindheit, aus denen später Sexuelles wird, auch schon Sexualität zu nennen ? Warum wollen Sie sich nicht lieber mit der physiologischen Beschreibung begnügen und einfach sagen, beim Säugling beobachte man bereits Tätigkeiten, wie das Lutschen oder das Zurückhalten der Exkremente, die uns zeigen, daß er nach Organlust strebt ? «67

Freud hat es selbst an einer direkten Antwort fehlen lassen; die indirekte aber ist deutlich genug: Man müsse, erklärt Freud am Vergleich des Keimlings mit dem Baum, den Weg von der später ausgeprägten, also genital zentrierten Sexualität zurückgehen und sie schon im Keimling, also in der frühkindlichen Sexualität wiederfinden.68 Das Triebpotential der Sexualität ist mithin nicht nur von allem Anfang an im Menschen angelegt, es ist vielmehr seiner Natur nach von allem Anfang an auf jene Eigenschaften fixiert, die sich erst in späterer Zeit zeigen werden: die genitale Zentrierung und die Ausrichtung auf ein gegengeschlechtliches Objekt, Merkmale, die beide zusammen schlicht auf die koitale Vereinigung zielen.69 Die ontogenetische Entwicklung, die die Sexualität durchläuft, ist die Entwicklung eines Potentials, das über Verlagerungen, über Vereinigungen, über den Wechsel des Objekts – vom Ich zum anderen, später auch vom Es zum Ich – schließlich seine Form findet. Was da nach Form strebt und sie schließlich findet, ist immer das gleiche Triebpotential, immer die gleiche Sexualität. Ich denke, es ist nicht schwer, in dieser Form der Wahrnehmung strukturlogisch ein substanzlogisches Verständnis zu entdecken, das in sich teleologisch angelegt ist. Das substanzlogische Verständnis der Sexualität ist folgenreich für das Verständnis der ontogenetischen Entwicklung insgesamt, vor allem aber für die Annahmen, die Freud dazu geführt haben, den Ödipus-Komplex in der Frühphase

67 S. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Werke, Bd. XI, S. 335. 68 S. Freud, ebd., S. 336. 69 Das ist sehr klar zum Ausdruck gebracht von J. Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse: Sexualität, Bd. 2. S. 468.

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Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

der genitalen Sexualität entstehen zu lassen, etwa um das vierte Lebensjahr. Wie kommt er, Freud zufolge, zustande ?

5.4

Der Mythos des Unbewußten

Solange der ödipale Konflikt in der pubertären Phase der Entwicklung angesiedelt war, konnte man meinen, der Wunsch, mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil zu verkehren, sei dem Kind dunkel bewußt. In der phallischen Phase kann dergleichen nicht gemeint sein. Denn zum einen gibt es in ihr, wie Freud annimmt, nur ein Genitale, das männliche, zum anderen hat das drei- bis fünfjährige Kind von der conjunctio membrorum, von der Lust, die sie bereitet, und von der Funktion, die sie einmal erfüllen wird, schlechterdings keine Vorstellung. Wenn Freud den sexuellen Regungen diesen Wunsch trotzdem ohne Vorbehalt unterlegt, dann kann er nur im Unbewußten gelegen sein. Die Frage ist: Wie kommt er dahin ? Es liegt nahe, den Wunsch im Lustprinzip der Sexualität selbst begründet zu sehen. Da Freud die frühkindliche Sexualität substanzlogisch versteht, sie mithin in ihren Anfängen sein läßt, was sie später einmal sein wird, beinhaltet sie bereits in der phallischen Phase den Wunsch nach der geschlechtlichen Vereinigung. An dem Sexualobjekt aber kann in dieser frühen Phase kein Zweifel sein. Es ist die Mutter – für den Knaben. Und für das Mädchen ? Die Frage bereitet Verlegenheit. Denn die Annahme, es sei der Vater, hängt völlig in der Luft. Gewiß, in dieser Phase der Entwicklung erfolgt eine erste Ausbildung der Geschlechtsidentität, auch wird der Vater zunehmend bedeutsamer, das jedoch heißt nicht, daß damit ipso facto das Triebpotential umgepolt wird und ein Wechsel des Bezugsobjekts stattfindet. Freud hat diese Umpolung allerdings angenommen und auf den Penisneid des Mädchens zurückgeführt: » Mit der Entdeckung, daß die Mutter kastriert ist, wird es möglich, sie als Liebesobjekt fallenzulassen. «70 Auch wenn wir die Erklärung gelten lassen, wird nicht einsichtig, woher der Wunsch kommt, mit dem Vater verkehren zu wollen, obwohl das Mädchen so wenig wie der Knabe eine Vorstellung davon hat, was der Wunsch beinhaltet. Die Antwort liegt einmal mehr in der Denkstruktur, mit der Freud operierte: Dermaleinst wird ihre Sexualität auf einen anderen des anderen Geschlechts gerichtet und vom Koitus-Begehren bestimmt sein. Wenn sich Sexualität früh schon in der Genitalzone bemerkbar macht und in der phallischen Phase auf sie zentriert, dann ist sie schon jetzt, was sie später sein wird. Ohne der Sexualität selbst den koitalen Bedeutungsgehalt zu unterlegen, laufen alle weiteren Vorstellungsgehalte, die mit dem Ödipus-Komplex sonst noch verbunden sind, ins Leere. 70 S. Freud, Neue Folge der Vorlesungen, Ges. Werke, Bd. XV, S. 135 f.

Strukturkritik der psychoanalytischen Theorie 189

Das substanzlogische Verständnis der Sexualität vermag allerdings auch nur die Annahme des Verlangens, mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil verkehren zu wollen, zu begründen, nicht mehr. Alle anderen Vorstellungsgehalte, die mit ihm verbunden sind: die Wahrnehmung des Verbots, das schlechte Gewissen, die Kastrationsangst etc., lassen sich nicht aus ihm ableiten. Woher stammen sie ? Laplanche und Pontalis haben den Ödipus-Komplex in Verbindung mit der von Freud in anderem Zusammenhang benutzten Vorstellung der Urphantasie gebracht.71 Zu dieser Urphantasie zählt die Vorstellung des elterlichen Geschlechtsverkehrs. Es ist schwer zu sagen, wie weit Freud dabei reale Anregungen infolge einer Beobachtung des Geschlechtsverkehrs der Eltern beteiligt gesehen hat. Entscheidend ist, daß Freud solche Phantasien als dem individuellen Erlebnis vorgegeben verstand. Psychoanalytikerinnen wie Melanie Klein sind denn auch bereit, dem frühesten extrauterinen Seelenleben ein quasi phylogenetisches Gedächtnis zuzuschreiben. Für sie ist der Ödipus-Komplex schon in den frühesten Monaten präsent.72 In der Tat: Das » Ur « der Urphantasie bei Freud weist auf Bildungsprozesse hin, die phylogenetisch der Ontogenese eines jeden Gattungsmitgliedes vorweg liegen. Dafür, daß sich diese Urszenen der Urgeschichte in der Ontogenese eines jeden fortsetzen, ist » Totem und Tabu « die eindrucksvollste Dokumentation.73 Freuds Rekurs auf die Massenpsyche erklärt nicht wirklich, wie solche » prähistorischen Wahrheiten « noch vor aller eigenen Erfahrung in die Phantasie des Kindes gelangen konnten. Das braucht nicht zu verwundern. Für eine mythische, das heißt substanzlogische Denkweise ist das Problem einfach nicht virulent. Die Substanz besitzt immer auch die Potenz, das Spätere zu bewirken. Freud greift denn auch auf die Urphantasie zurück, als wäre sie der selbstverständlichste Besitz, über den Kinder verfügen. Hören wir ihn selbst: » Ich meine, diese Urphantasien – so möchte ich sie und gewiß noch einige andere nennen – sind phylogenetischer Besitz. Das Individuum greift in ihnen über sein eigenes Erleben hinaus in das Vorleben der Vorzeit, wo sein eigenes Erleben allzu rudimentär geworden ist. Es scheint mir sehr wohl möglich, daß alles, was uns heute in der Analyse als Phantasie erzählt wird, die Kinderverführung, die Entzündung der Sexualerregung an der Beobachtung des elterlichen Verkehrs, die Kastrationsdrohung – oder vielmehr die Kastration, – in den Urzeiten der menschlichen Familie einmal Realität war,

71 J. Laplanche/J.-B. Pontalis, Fantasme originaire, S. 1833 ff. Zur Einführung des Begriffs der Urphantasie bei Freud vgl. S. Freud, Mitteilung eines Falles von Paranoia, Ges. Werke, Bd. X, S. 242, ders., Das Unbewußte, Ges. Werke, Bd. X, S. 294; ders., Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Ges. Werke, Bd. XI, S. 386. 72 J. Glenn, Panel on Melanie Klein, S. 321 ff. 73 S. Freud, Totem und Tabu, Ges. Werke, Bd. IX.

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und daß das phantasierende Kind einfach die Lücken der individuellen Wahrheit mit prähistorischer Wahrheit ausgefüllt hat. «74

Was uns an dieser – mich phantastisch anmutenden Annahme – interessiert, ist dies: Freud sitzt mit dieser Argumentationsstruktur erneut der Substanzlogik auf. Ich habe schon angemerkt, daß die Substanzlogik bei Freud eine in die Natur überführte Ursprungslogik ist. Die Ursprungslogik aber kennt ein überaus einfaches Verfahren der Argumentation: Sie geht vom Vorfindlichen aus, führt es in den Ursprung zurück, um es von ihm aus allererst entstehen zu lassen. Entwicklungslogisch kann deshalb jede spätere Konstellation unbesehen einem Ursprung zugeschrieben werden mit der Folge, sie in ihm selbst schon angelegt zu sehen. Die mythische Entwicklungslogik kennt eine immer präsente Vergangenheit.75 Es bereitet deshalb auch keine Schwierigkeiten, nicht nur das Verlangen der Kohabitation der ontogenetischen Entwicklung zu einer Zeit zu unterlegen, in der es den nachwachsenden Gattungsmitgliedern nicht bekannt sein kann, vielmehr das ganze Szenario der ödipalen Konfliktlage, und zwar gleicherweise für Knaben wie für Mädchen, dieser primordialen Frühzeit zuzuschreiben. Die Urszene selbst ist als solche keiner weiteren Begründung bedürftig und fähig. Wir könnten uns mit der Kritik der logischen Struktur der psychoanalytischen Theorie begnügen. Diese Struktur ist überholt; und damit fällt das Gebäude zusammen. Man mag hernach sehen, was man an bedeutsamen Einsichten, die noch jeder ihr zugestanden hat, der sich an ihre Kritik gewagt hat, in einer prozessualen Theorie unterbringen kann. Es scheint mir jedoch ratsam, auch die innere Ungereimtheit dieses Konzeptes aufzudecken. Dabei wollen wir uns auf eine Argumentation gar nicht erst einlassen: auf die Annahme, die Urszenarien seien transzendental zu begründen.76 Denn der Transzendentalismus jedweder Provenienz ist seinerseits auf jene Logik gegründet, um deren Kritik es mir zu tun ist. Er führt einen realen Befund auf den Ursprung in einer transzendentalen Geistigkeit zurück, ohne sich weiter darum zu kümmern, wo diese Geistigkeit zu verankern ist. Mit diesem Verfahren bleibt er auf halbem Wege zwischen dem metaphysischen Weltbild der Vergangenheit mit seiner Konvergenz auf einen absoluten Geist und dem neuzeitlichen mit seiner Konvergenz auf eine von einer immanenten Geistigkeit befreite Natur stehen. Mit einer naturalistischen Theorie ist er nicht zu vereinen. Nehmen wir mithin an, die Annahme einer Urphantasie der geschlechtlichen Vereinigung wäre nicht nur ein transzendentales Verfahren, verdanke sich also nicht nur der Argumentation, daß das, was man vorfindet, in seinen Bedingungen 74 So S. Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, S. 386. 75 Zur Zeitstruktur im Mythos, vgl. G. Dux, Die Zeit in der Geschichte, S. 168 ff., 185 ff. 76 So explizit E. Neumann, Ursprungsgeschichte des Bewußtseins, S. 7 ff.

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auch im Geist des Menschen schon enthalten sein müßte. Dann ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder wir verstehen die phylogenetische Herleitung wirklich als prä-kulturell und bringen die Urphantasie in der genetisch verankerten Triebstruktur unter, oder wir verstehen unter den von Freud genannten Urzeiten der menschlichen Familie und den mit ihnen verbundenen Urphantasien bereits kulturelle Verhältnisse, die sich dann auch kulturell tradieren. Freud selbst hat das Unbewußte zwischen diesen beiden Organisationsformen ansiedeln wollen: » Den Inhalt des Ubw kann man einer psychischen Urbevölkerung vergleichen. Wenn es beim Menschen ererbte psychische Bildungen, etwas dem Instinkt Analoges gibt, so macht dies den Kern des Ubw aus. «77

Worauf zielten die Urphantasien bei einer genetischen Ableitung ? Wir müßten für die Vergangenheit annehmen, was wir oben für die Gegenwart erörtert haben, daß die ontogenetisch erstmalige genitale Zentrierung der Sexualität auch den unbewußten Wunsch nach der Kopulation beinhalte. Da dieser Wunsch seiner Natur nach auf einen gegengeschlechtlichen Partner gerichtet wäre, müßte er sich auf das nächstbeste gegengeschlechtliche Objekt richten: auf die Mutter für den Knaben, auf den Vater für das Mädchen. Mehr können wir der Genetik nicht zumuten. Das aber schafft als naturale Anlage keine ödipale Konfliktsituation; daraus entstünde insbesondere keine Kastrationsangst für den Knaben. Kastrationsangst, Penisneid, Verzichtleistungen sind hochkomplexe sinnhafte Konstrukte; sie sind in genetischen Vorgaben nicht unterzubringen. Wenn man es gleichwohl tut, desavou­iert man die naturale Ausgangslage der Theorie.78 Es bleibt nach allem nur die Möglichkeit, die Urphantasien historisch zu verstehen, so wie Freud in » Totem und Tabu « den Ödipus-Komplex als Urszene der Menschheit hat entstehen lassen. Damit jedoch laufen wir gleich zweimal auf. Denn entweder nehmen wir an, das ödipale Szenario habe sich in der Urzeit wie bei uns in der frühen Ontogenese ausgebildet, dann bleibt es so unverständlich, wie es sich für uns darstellt; oder wir nehmen an, es habe sich als Konfliktsitua­ tion unter Erwachsenen ausgebildet, dann müßte für diese Erwachsenen eine an­ dere Ontogenese bestimmend gewesen sein. Es handelte sich mithin nicht um eine Urszene. Überdies wäre nicht einsichtig, wie die Konfliktlage unter Erwachsenen in die frühkindliche Psyche gelangt wäre. Man müßte wiederum auf Ver77 S. Freud, Das Unbewußte, Ges. Werke, Bd. X, S. 294. 78 Darüber, was im naturalen Stratum der biologischen Verfassung des Menschen unterzubringen ist, herrschen in der psychoanalytischen Theorie auch sonst abstruse Vorstellungen. So läßt J. Chasseguet-Smirgel ein voll ausgebildetes Teilsystem unserer begriff‌lich organisierten Welt bei der Geburt bereits vorhanden sein. Vgl. J. Chasseguet-Smirgel, Freud and Female Sexuality, S. 275 ff.

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Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

erbung zurückgreifen, und zwar auf eine Vererbung des Unbewußten. Auch die historische Fortgeltung bis in unsere Zeit ließe sich nur über eine Vererbung erklären. Die eine wie die andere Annahme ist ganz unvereinbar mit unserem Wissen über das Verhältnis von Natur und Kultur. In Wahrheit liegt der Grund, der Freud diese Vorstellung hegen ließ, schlicht in der ihn beherrschenden unreflektierten Substanzlogik; wer ihrer Argumentationsstruktur verpflichtet ist, hat keine Not, auf einen Ursprung zu verweisen, der selbst jeder einsichtigen Erklärung entzogen ist. Die Kritik des Undenkbaren hat für die psychoanalytische Theorie ernstere Konsequenzen, als ihre Apologeten wahrhaben wollen. Das gilt zum einen für die Annahme des Ödipus-Komplexes. Wie selbstverständlich wird allgemein angenommen, er lasse sich im Unbewußten ansiedeln. Es gibt aber, wie wir gesehen haben, keine irgend einsichtige Erklärung dafür, wie diese Konstellation sich im Unbewußten gebildet haben könnte. Der Ödipus-Komplex hat weder im Bewußten noch im Unbewußten seinen Ort. Die Kritik gilt aber zum anderen für das Verständnis des Unbewußten selbst. Wenn das große Verdienst Freuds, das Unbewußte der menschlichen Psyche systematisch zugeordnet zu haben, gesichert werden soll, dann muß es von phylogenetischen oder urgeschichtlichen Szenarien freigehalten werden. Sie sind mit einer naturalistischen Theorie, die sich die Kultur prozeßlogisch verständlich zu machen weiß, nicht zu vereinbaren. Mir will es nach allem als unumgänglich erscheinen, für das Verständnis der ontogenetischen Entwicklung auf eine Theorie zu verzichten, die über eine Logik geformt ist, die, wie die Substanzlogik, den Bildungsprozeß des Menschen mitsamt seinen kulturellen Daseinsformen der Einsicht entzieht.79 Der Ödipus-Komplex ist seiner Anlage nach, als was Freud ihn verstanden hat: ein Mythos. Seine einzige Berechtigung liegt darin, daß sich in einem späteren, vor allem im nachpubertären Stadium, wenn koitales Begehren real wird, in der Tat ödipale Konfliktkonstellationen ergeben können, dann nämlich, wenn der familiale Ablösungs­prozeß nicht gelungen ist. Nur darf diese Konstellation nicht rückverlagert werden. Die entscheidende Frage ist deshalb, wie der Entwicklungsprozeß, soweit er die Entwicklung der Geschlechtsidentität und das Verhältnis der Geschlechter betrifft, prozeßlogisch anders zu verstehen ist. Ich habe die Antwort oben gegeben. Fassen wir sie hier noch einmal in der Gegenüberstellung zur psychoanalytischen Theorie zusammen. 79 Wenn N. Chodorow erklärt, die psychoanalytische Theorie sei als Theorie der phylogenetischen Entwicklung nicht akzeptabel, wohl aber als Theorie der ontogenetischen Entwicklung, so sollte sie bedenken, daß auch letztere einen Enkulturationsprozeß darstellt, der mittlerweile seine Erklärung von ganz anderen Voraussetzungen aus gefunden hat. Vgl. N. Chodorow, Das Erbe der Mütter, S. 73.

Zur prozessualen Logik der Sexualität in einer historisch-genetischen Theorie 193

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Zur prozessualen Logik der Sexualität in einer historisch-genetischen Theorie

6.1

Natur und Kultur

Ein prozeßlogisches Verständnis der ontogenetischen Enkulturation ist wie die psychoanalytische Theorie darin naturalistisch, daß sie von der Vorgabe der biologischen Verfassung des Menschen ausgeht. Für das prozeßlogische Verständnis gilt jedoch, daß in den biologischen Vorgaben nicht schon angelegt ist, was sich hernach aus ihnen an realen Lebensformen entwickelt. Eine genetisch rekonstruktive Theorie versteht die naturalen Vorgaben vielmehr derart, daß sie das nachwachsende Gattungsmitglied in den Stand setzen, eine konstruktive Kompetenz zu entwickeln, vermöge derer es Lebensformen ausbildet, die als solche im naturalen Stratum nicht vorgebildet sind, vielmehr einem anderen Stratum, eben dem kulturellen, angehören. Kultur entsteht mithin nicht wie bei Freud und nach ihm Lévi-Strauss aufgrund dieses oder jenes Triebpotentials, Kultur entsteht, weil über konstruktive Kompetenzen qualitativ neue Lebensformen geschaffen werden.

6.2

Das Triebpotential der Sexualität

Auch in einer prozeßlogischen Argumentation bleibt das naturale Triebpoten­tial für den Bildungsprozeß bedeutsam. Es geht als Bedürfnis in die Lebensformen ein, enthält sie aber nicht schon selbst. Das gilt auch für die Sexualität. Das sexuelle Triebpotential enthält in keiner Weise schon in sich, in welchen kulturellen Lebensformen Sexualität ausgelebt wird. Nicht einmal die näheren Umstände des Geschlechtsaktes sind durch das Triebpotential schon fixiert. Wenn in der psychoanalytischen Theorie im Streit um den Monismus der phallischen Phase die Vorstellung vertreten wird, das Kind bringe bei seiner Geburt die Kenntnis der Genitalien und damit zugleich alle notwendigen Details der Kohabitation mit,80 so beruht das auf einer mittlerweile erstaunlichen Ignoranz des kulturellen Erwerbsprozesses von Welt. Auch eine einzige begriff‌liche Bestimmung wie die im Streit befindliche Kenntnis der Vagina setzt die hochkomplexe Ausbildung ganzer Begriffsfelder über Bestimmungen der Differenz voraus. Für die frühkindliche Sexualität müssen wir deshalb annehmen, daß sie weder bewußt noch unbewußt den Vorstellungsgehalt enthält, die Vereinigung mit dem anderen Geschlecht zu wollen. Noch weniger können wir ihr das ganze ödipale Begleitarsenal von Begehrungen, Ängsten, Verdrängungen unterlegen. Es be­ 80 Vgl. J. Chasseguet-Smirgel, Freud and Female Sexuality, S. 275 ff.

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Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

stehen keine Bedenken, davon auszugehen, daß sich die frühkindliche Sexualität in ihrer Tönung von anderen Antrieben unterscheidet; es besteht auch kein Hindernis, die sexuelle Triebkomponente in die Objektbeziehung eingehen zu lassen. Die Bildung eines Außenobjekts und die Objektbeziehung setzen allerdings schon früher ein, als Freud meinte. Das sollte Anlaß sein, nicht nur die narzißtische Phase preiszugeben, sondern sich überhaupt zu fragen, ob die Freudschen Entwicklungsphasen als solche gelten können oder nicht vielmehr lediglich einzelne Inhalte innerhalb der Entwicklung zum Gegenstand haben.81

6.3

Die Ausbildung der Geschlechtsidentität

Bei einem prozeßlogischen Verständnis der ontogenetischen Entwicklung wird das empirische Material, das Freud und die Heerscharen von psychoanalytischen Forschern nach ihm beigebracht haben, nicht einfach ungültig; es wird aber aus der substanzlogischen Verstrickung herausgelöst. Das gilt insbesondere für die psychosexuelle Entwicklung in der sogenannten phallischen Phase und die in ihr erfolgende Ausbildung der Geschlechtsidentität. Mit dem dritten Lebensjahr ist, wie wir gesehen haben, Kindern im allgemeinen der Geschlechtsunterschied bekannt. Das führt zu identifikatorischen Prozessen, die den Ablösungsprozeß verstärken helfen. Nur wissen wir, daß dadurch die emotionale Bindung zur Mutter nicht überhaupt gelöst, sondern in den Bildungsprozeß der Intimität überführt wird, der seinerseits an den Autonomiegewinn gebunden ist. Für beide, für den Jungen wie für das Mädchen, gewinnt der Vater eine wichtige Funktion. Auch das Mädchen kann sich an ihn halten, wenn es gilt, sich von der Mutter zu lösen. In der jüngeren Literatur ist ein Gedanke geäußert, den ich oben bereits aufgegriffen habe und der, wenn er zuträfe, für das Verständnis der Entwicklung der Frau von erheblicher Bedeutung wäre: Der Penisneid mit der daran gebundenen Hinwendung des Mädchens zum Vater beruht, so die Annahme, auf dessen attraktiver Außenstellung. Der Mann erscheint in aller Vergangenheit als Vertreter der Außenwelt und damit als Repräsentant einer größeren Autonomie, als die Mutter sie für sich in Anspruch nehmen kann.82 Das verstärkt das Bemühen des Mädchens, sich an ihn zu halten, um den Ablösungsprozeß von der Mutter zu bewäl-

81 So schon I. D. Suttie, The Origins, S. 30 f. 82 So J. Benjamin, Die Fesseln der Liebe, S. 99 ff. Benjamin will diese Bedeutung allerdings nur für die prä-ödipale Phase gelten lassen. Für die ödipale ist sie dogmatisch genug, um an der alten Rolle des Penis, nämlich ihn haben zu wollen, um die Mutter umwerben zu können, festzuhalten. J. Benjamin, ebd., S. 241, Fn. 50.

Zur prozessualen Logik der Sexualität in einer historisch-genetischen Theorie 195

tigen. Wenn dieser Gedanke richtig ist, dokumentiert er nachdrücklich, daß das Mädchen an sich nach der gleichen Autonomie strebt wie der Knabe.83 Die Umdeutung des Penisneides ist mehr als nur eine Korrektur der psychoanalytischen Theorie. Sie reißt das Gebäude der Theorie insgesamt mit sich. Denn mit seiner Preisgabe wird nahezu alles, was Freud als Bedingung der Ausbildung der weiblichen Geschlechtsidentität angesehen hat, ins Reich des Mythos verwiesen. Das gilt für die unsinnige Annahme, das Mädchen habe den Wunsch, mit dem Vater verkehren zu wollen, und das, obgleich das eigene Geschlecht gar nicht als eigenes, sondern als phallisches wahrgenommen werden soll; es gilt vor allem aber für die Akzeptanz des eigenen Geschlechts als Schicksal, mit dem lebenslangen Gefühl, nicht normal und minderwertig zu sein. Daß vor allem Frauen selbst sich dieser unsinnigen Annahme entledigen, wird niemand verwundern. Man muß sich jedoch darüber im klaren sein, was diese absonderlichen Konstrukte hat entstehen lassen: das Kernstück der psychoanalytischen Theorie, der Ödipus-Komplex.

6.4

Absenz der ödipalen Konfliktsituation

Die prozessuale Logik hat den Vorzug, in der weiteren Entwicklung des Kindes eng mit der Erfahrung, wie sie in jeder Ontogenese gemacht wird, zusammenzugehen. Sie versteht den ontogenetischen Entwicklungsprozeß insgesamt als einen Prozeß, in dem mit dem Gewinn der Handlungskompetenz die Welt in eine Gegenlage zum Subjekt gebracht wird. Es ist dieser Prozeß, den Mahler und ihre Mitarbeiterinnen als Ablösungs- und Individuationsprozeß der beiden ersten Lebensjahre beobachtet haben. Er setzt sich in der ganzen Kindheit fort. Wenn die sogenannte Latenzzeit eine Zeit der sexuellen Entwicklung ist, in der die ge­nitale Zentrierung nur wenig Anlaß zu spektakulären Bewältigungsprozessen bietet, so ist das just die Zeit, in der die Autonomie des nachwachsenden Gattungsmitgliedes rasante Fortschritte macht. Bis zur Pubertät ist dieser Prozeß des Autonomiegewinns so weit gediehen, daß eine Ablösung von den Bezugspersonen der Herkunftsfamilie möglich ist und auch tatsächlich erfolgt. Wenn wir den Vorgang zeitlich idealisieren, dann erfolgt just in dem Moment, in dem der Ödipus-Komplex sich realiter bilden könnte, nämlich in der Pubertät, das, was ihn verhindert: die Ablösung von den Bezugspersonen der Kindheit, insbesondere der Mutter. Die Ablösung hat eine jahrelange Geschichte hinter sich. In dem quasi natürlichen, weil strukturell unabdingbaren Ablösungsprozeß von den Eltern während der ganzen Kindheit hat auch das Inzestverbot seinen Grund. Es wird eben des83 Vgl. G. Dux, Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter, S. 148 ff.

196

Abschied von Ödipus. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie

halb als quasi natürlich angesehen. Da es gleichwohl verletzt werden kann, ist es normativ ausgestattet. Wenn wir den ontogenetischen Entwicklungsprozeß als Ablösungsprozeß verstehen, wird auch verständlich, unter welchen Bedingungen sich eine ödipale Konstellation tatsächlich ausbildet: wenn die Ablösung von den Bezugspersonen in der sogenannten Latenzphase nicht gelingt. Das mag zu Freuds Zeiten in großem Maße der Fall gewesen sein und unter den Bedingungen der ontogenetischen Entwicklung in der Gegenwart weiterhin geschehen, sicherlich in abgeschwächter Form. Nur, universal ist der Ödipus-Komplex nicht.84 Ersichtlich ist eine historisch-genetische Theorie in der Lage, in der Konzeptualisierung der ontogenetischen Entwicklung alle möglichen Errungenschaften der psychoanalytischen Theorie unterzubringen. Eines nur bringt sie nicht unter, daß nämlich das Kind, Junge wie Mädchen, notwendig den Wunsch entwickelt, mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil verkehren zu wollen, und daß sich daraus eine Konstellation ergibt, wie Freud sie im Ödipus-Komplex beschrieben hat. In dieser Frage steht Mythos gegen Wissenschaft.

6.5

Liebe und das Verhältnis der Geschlechter

Die für unser Interesse wichtigste Korrektur der psychoanalytischen Theorie ist das grundlegend geänderte Verständnis der Geschlechterbeziehung und die mit ihr verbundene Liebe zwischen den Geschlechtern. Freud hat Liebe als Ausdruck sexueller Triebhaftigkeit angesehen. Das ist eine Konsequenz der oben erörterten substanzlogischen Totalisierung der Sexualität. Nur behält ein Teil der Triebhaftigkeit die ursprüngliche Gehemmtheit der Zielorientierung bei und bewirkt jene Zärtlichkeit, die wir gemeinhin mit der Liebe verbunden sehen. Gegen diese These ist nachhaltig Widerspruch angemeldet worden.85 Zu Recht ! Die Sexualität bewirkt als naturales Triebpotential noch nicht die kulturelle Form, in der sie befriedigt wird. Die kulturellen Lebensformen aber bilden sich unter systemischen Bedingungen der Gesamtorganisation des menschlichen Daseins aus. Auch Sexualität ist ihr eingefügt. Sie wird für die Geschlechterbeziehung überaus bedeutsam. Nur läßt letztere sich nicht auf sie zurückführen. Die Bedeutung der Sexualität wird dadurch nicht gemindert. Ganz im Gegenteil ! Erst wenn man die Sexualität mit der Intimität in deren Reorganisation in der postpubertären Phase resp. Adoleszenz zusammenführt, und erst wenn man den Anteil hervorhebt, den 84 Dagegen nachdrücklich B. Malinowski, Geschlecht und Verdrängung in primitiven Gesellschaften, S. 165. 85 I. D. Suttie, Origins, S. 30 ff.; I. Dilman, Freud and Human Nature, S. 65 ff.

Zur prozessualen Logik der Sexualität in einer historisch-genetischen Theorie 197

sie an der Vermittlung einer an sich sinnfreien Körperlichkeit mit einem sinnhaft geführten Dasein hat, wird ihr Bedeutungsgehalt für das Geschlechterverhältnis sichtbar.

6.6

Zur Theorie des Unbewußten

Schließlich aber gewinnen wir mit der Überwindung der substanzlogischen Figur des Ödipus-Komplexes und der prozessualen Rekonstruktion der Sexualität aus der Ontogenese einen Zugang auch zu jenem Stratum, dessen systematischen Einbezug in das Verständnis menschlicher Lebensführung als das große Verdienst Freuds angesehen wird: dem des Unbewußten. Freud hat das Unbewußte neben den Erlebnisgehalten, die der Verdrängung unterworfen wurden, mit phylogenetischen Inhalten, Urszenen insbesondere, versehen; sie sollen seinen Kern ausmachen. Das ist nicht denkbar, vielmehr einmal mehr die Konsequenz einer in die naturalistische Theorie überführten Substanzlogik. Gattungsgeschichtlich sind szenarische Vorstellungsgehalte, die – und das ist entscheidend – den Akteur einschließen, also eine reflexive Geistigkeit genetisch verankern, als Verhaltens­ determinanten nicht bekannt. Es ist auch nicht ersichtlich, wie sie dem Unbewußten vererbt sein könnten. Eine historisch-genetische Theorie hält das Stratum des Unbewußten strikt in den Grenzen einer kulturell gewonnenen Welt. Die Dramen, die sich im Unbewußten abspielen, lassen sich in ihren Strukturen aus den Bedingungen erklären, unter denen Erfahrungen in der Ontogenese in je spezifischen Kulturen gemacht und verarbeitet werden. Was darüber hinausgeht, ist den Resten mythischer Weltvorstellungen zuzuschreiben und öffnet der Spekulation Tür und Tor.

Kapitel 10 Theorie der Geschlechterbeziehung (Resümee)

1  Ein gattungsgeschichtliches Verständnis des Geschlechterverhältnisses sucht

dessen Ausbildung aus der Bedürfnislage derer, die es eingehen, zu rekonstruieren. Es weiß um die systemischen Bedingungen, unter denen es sich bildet. Die Bedingungen sind derart, daß sie aus dem Bildungsprozeß der Subjekte hervorgehen und in die Ausbildung der sozio-kulturellen Lebensformen durch die Subjekte eingehen. Eine Soziologie des Geschlechterverhältnisses ohne Subjekte wäre absurd. Ich habe deshalb dem Entwicklungsprozeß des Subjektes größte Aufmerksamkeit geschenkt. Als Subjekt resp. Subjektivität bezeichnen wir eine dem naturalen Stratum des Organismus kulturell eingebildete Organisationsform. Ihr auszeichnendes Merkmal ist die Reflexivität.

2  Die Ausbildung des Geschlechterverhältnisses ist mit dem Enkulturations-

prozeß der Gattung aufs engste verbunden. Der Enkulturationsprozeß der Gattungsmitglieder muß aus Gründen der anthropologischen Verfassung aus ihrer frühen Ontogenese herausgeführt werden. Das ist für die historischen Verhältnisse evident; es gilt jedoch auch für die phylogenetische Entwicklung im TierMensch-Übergangsfeld. Einzig weil sich in der frühen Ontogenese konstruktive Kompetenzen haben ausbilden lassen, war es möglich, sie zu den Lebensformen der Erwachsenenwelt weiterzuentwickeln, die wir von den frühen Gesellschaften kennen oder annehmen müssen. In der frühen Ontogenese bildet sich auch die Bedürfnislage aus, aufgrund derer sich das Geschlechterverhältnis entwickelt. Historisch haben sich deshalb Geschlechterverhältnis und Gesellschaft im systemischen Verbund gebildet, das Geschlechterverhältnis unter der Bedingung der Ausbildung der Gesellschaft und umgekehrt. Dabei fällt der Ausbildung des Geschlechterverhältnisses insofern eine Führungsrolle zu, als der primäre Prozeß der Soziabilisierung in der MutterKind-Dyade erfolgte, der von allem Anfang an die konjugale Dyade angeschlossen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_11

199

200

Theorie der Geschlechterbeziehung (Resümee)

wurde. Der Enkulturationsprozeß ist mithin familial erfolgt. Die Feststellung ist ganz unausweichlich: Die Menschheit hat sich über die Ausbildung des Geschlechterverhältnisses und seine Institutionalisierung in familialen Organisa­tionsformen gebildet. Die Rekonstruktion des Geschlechterverhältnisses ist deshalb der einzige Weg, um zu verstehen, wodurch die Ausbildung spezifisch humaner Gesellschaften als Anschlußorganisation an die naturgeschichtlichen Organisationsformen möglich wurde. 3  Die anthropologische Verfassung läßt in jeder frühen Ontogenese das Bedürf-

nis nach Intimität entstehen; es bildet sich als dauerhafte Bedürfnislage der inneren Natur des Subjekts ein. Intimität meint, das Leben angstfrei und voller Vertrauen in die Fürsorge des anderen in dessen Körperzone zu führen. So notwendig sich diese Bedürfnislage ausbildet, so notwendig geht sie mit dem Erwerb der Autonomie eigener Lebensführung des Ortes verlustig, an dem sie anfänglich befriedigt wird: der Herkunftsfamilie. In der Adoleszenz wird deshalb das Bedürfnis nach Intimität mit der nunmehr erstarkten und in der Genitalzone zentrierten Sexualität zusammengeführt. Die Reorganisation der Intimität im Verein mit der Sexualität bildet die Grundlage jedes Geschlechterverhältnisses.

4  Die Reorganisation der Intimität ist Reorganisation auf einem veränderten Entwicklungsniveau des Subjekts, das unter veränderten Anforderungen der Lebensführung steht. Schon deshalb ist sie keine Regression. Ihre Zusammenführung mit der Sexualität soll nicht nur beide, Intimität und Sexualität, jeweils durch einander eine optimale Befriedigung finden lassen, sie dient auch dazu, eine prekäre Struktur menschlichen Daseins lebbar zu machen: Sie vermittelt die Sinnfreiheit und A-Kommunikabilität des Körpers mit der Sinnhaftigkeit und Kommunikabilität der Lebensführung. Das geschieht dadurch, daß im Geschlechterverhältnis eine Zone des Privaten geschaffen wird, in der die an den Körper gebundene konstitutionelle Einsamkeit des Subjekts von der kommunikativen Zweisamkeit des Geschlechterverhältnisses umschlossen wird. In ihr darf jeder der selbstreferen­ tiellen Genügsamkeit des Körpers Raum geben. Umschlossen von der kommunikativen Zweisamkeit wird der Körper in seiner elementaren Bedürftigkeit zum Gegenstand gemeinsamer Sorge. In der Vermittlung des an sich nicht Vermittelbaren gewinnt das Private jene Wertigkeit, die es zu allen Zeiten, wenn auch in unterschiedlicher Weise, gehabt hat. 5  Man wird zögern, die aus der zuvor dargelegten Bedürfnislage hervorgehende Verbindung der Geschlechter, auch wenn sie sich noch so sehr aufeinander verwiesen sehen, bereits als Liebe zu bezeichnen. Die Bedürfnislage und die in ihr gründende Verwiesenheit der Geschlechter aneinander bewirkt jedoch das Ver-

Theorie der Geschlechterbeziehung (Resümee) 201

langen, zu lieben und geliebt zu werden. Liebe ist m. a. W. nicht der Grund des Geschlechterverhältnisses, das Umgekehrte ist der Fall: Das Geschlechterverhältnis ist der Grund der Liebe. Das wird deutlich, wenn man die Anforderungen, unter denen die Kommunikation der Geschlechter steht, genauer bestimmt. Das Grundbedürfnis des Subjekts ist, der Welt angebunden zu werden. Dieses Bedürfnis umschließt auch die Individualität, die jedem Subjekt eignet. Die Individualität kommunikativ anzubinden und zu bestätigen, ist in der gemeinen Kommunikation nicht möglich. Denn die ist eine Kommunikation über allgemeine Regeln. Die Kommunikation über Individuelles, ein Verlangen, der Quadratur des Kreises ähnlich, ist das, was in der Liebe der Geschlechter geschieht. Möglich wird die Kommunikation dadurch, daß jeder im anderen Antwort-Haltungen im Dasein als dessen innere Natur entdeckt, auf die er sich selbst früh schon in seiner eigenen Ontogenese hat verpflichten lassen, jedoch ohne sie in gleicher Weise wie der andere zu realisieren. Beider Naturen sind nicht gleich; auch die Entspre­ chungen, die der Liebende im anderen, Kristallisationen gleich, findet, begründen keine Identität. Sie stellen einen Fund dar, nach dem er gesucht hat, ohne ihn recht zu kennen. Liebende entdecken einander und jeder sich selbst im anderen gleichfalls. Wenn die überragende Bedeutung des Geschlechterverhältnisses darin besteht, ein Leben lebbar zu machen, dessen selbstreferentielle Geschlossenheit seiner kommunikativen Bedürftigkeit vermittelt werden muß, dann stellt die Liebe insofern die Spitze dieser Lebensform dar, als jeder durch den anderen in seiner Individualität die Anbindung an die Welt findet. Im anderen erfährt er, daß sein Dasein bedeutungsvoll ist. Liebende pflegen das in der einfachen Versicherung zum Ausdruck zu bringen: » Ich brauche Dich. « In der Versicherung bedeutungsvollen Daseins vollendet sich die Identität. Wo, wie in unserer Zeit, Identitäten sich auflösen, bleibt die Garantenrolle des anderen für ein bedeutungsvolles Dasein insofern erhalten, als sich nur in der Kommunikation mit ihm bestimmen läßt, was sinnvolles Dasein meinen kann. 6  Wir haben Liebe durch Bedingungen zu verstehen gesucht, unter denen sie

sich bildet. In dieser entschieden gattungsgeschichtlichen Bestimmung lösen wir sie aus allen metaphysischen Verbindungen aus. Das gilt insbesondere für die in aller Metaphysik hergestellte Verbindung zum Tode. Wir binden Liebe systemisch in die konstitutionellen Bedingungen des Daseins ein, lassen sie von letzteren bestimmt sein, wie sie umgekehrt letztere bestimmt. Das gilt ebenso für die Bedingung, Leben in einer Zone der Vertrautheit zu führen, also der Intimität als Bedürfnislage Rechnung zu tragen, als auch für die Vermittlung zwischen der konstitutionellen Einsamkeit und der kommunikativen Bedürftigkeit, Anschluß an die Welt zu finden. In beiden Bezügen gewinnt die Sexualität eine hervorra-

202

Theorie der Geschlechterbeziehung (Resümee)

gende Bedeutung. Eben das meint Erotik: Die Verwandlung der Qualitäten des Daseins, sofern sie in ihren differentiellen Bezügen von der Macht des Lebens und mit ihr von der Macht der Sexualität bestimmt werden. Die umgekehrte Perspektive ist gleichermaßen gemeint: Was Sexualität in der Liebe bedeutet, zeigt sich erst in deren differentiellen Bezügen zu den Konstituentien des Daseins. Ich sehe den Kern der Erotik in der Entgrenzung. In ihr wird der Bedeutungsgehalt der sinnhaften Bestimmungen des Daseins durch eine Erlebnisdimension aufgefangen, die dessen Spiel lustvoll sein läßt und dessen Schwere verhält; in der Ekstase der Umarmung bleibt der Bedeutungsgehalt überhaupt zurück. Wie keine andere vermag sie es, die Sinnhaftigkeit der Lebensführung in die Sinnfreiheit des Lebens zurückzuführen. Von ihr gilt Brentanos Wort, Liebe sei die schönste Sinnlosigkeit. 7  Das Geschlechterverhältnis ist der Macht verbunden. Ihr Anteil an ihm ist das

wohl am wenigsten verstandene Kapitel der Liebe. Macht eignet der Liebe konstitutionell darin, daß der, der liebt, überwältigt vom Dasein des anderen, sein Leben an das des anderen anzukoppeln sucht. Er greift auf es zu und läßt sein eigenes Leben zum Schicksal des anderen werden. Man kann einen sinnfälligen Ausdruck dieser Macht im Zugriff der Sexualität sehen. Sie wird vorzüglich der Sexualität des Mannes zugeschrieben. Allein wenn, dann ist dessen Sexualität nur in der Ausdrucksform gewalttätiger, nicht aber in dem, worauf die Macht, eingebunden in die Liebe, aus ist. Liebe will etwas vom anderen und will, daß der andere etwas vom Liebenden will; das geschieht beidseitig. Macht ist auch im Verhältnis der Geschlechter ein prekäres Instrument so­ zialer Organisation. Sie läßt sich nur unvollkommen durch intrinsische Motivationen begrenzen, ihre effizienteste Begrenzung ist die Gegenmacht des anderen. Ein gewisses Maß an Ungleichgewichtigkeiten wird sich deshalb in den meisten Geschlechterbeziehungen einstellen. Das mag man als Erdenrest ansehen. Wo sich jedoch nachhaltige Ungleichgewichtigkeiten in den Machtpotentialen ausbilden, machen sie es unmöglich, zu erreichen, was in der Beziehung der Geschlechter der beiderseitigen Bedürfnislagen zufolge erreicht werden soll. Ersichtlich machte es keinen Sinn, wollte man aus dem Umstand, daß Macht dem Geschlechterverhältnis innewohnt, schließen, daß jede Form von Macht, die sich in ihr findet, dem Verhältnis als solchem auch notwendig eigen ist. Ein historisch-genetisches Verständnis dieses Verhältnisses erlaubt eine analytisch schärfere Unterscheidung zwischen jener Macht, die dem Geschlechterverhältnis konstitutionell zugehört, und jener, die das Verhältnis entgleisen läßt. Eine analytische Trennschärfe zwischen der einen und anderen Form der Macht ist insbesondere im Hinblick auf jene Macht geboten, die in der Vergangenheit aus der Organisa­ tion der Gesellschaft in das Geschlechterverhältnis eingedrungen ist.

Theorie der Geschlechterbeziehung (Resümee) 203

In aller Geschichte ist der Aufbau der Gesellschaft über Macht von Männern bestimmt worden. Die der Gesellschaft immanenten Machtpotentiale wurden von Männern geschaffen und in die Organisationsformen der Gesellschaft umgesetzt. Diese Macht ist auch in das Geschlechterverhältnis eingedrungen. Sie hat die dem Geschlechterverhältnis innewohnende, auf Steigerung des eigenen Daseins zielende Macht deformiert. Die dem Verhältnis konstitutionell eigene Macht ist eine moralisch verpflichtete Macht. Sie läßt sich durch die Macht des anderen binden; sie überwältigt und läßt sich überwältigen. Die andere, jene, die aus der institutionalisierten Übermacht in der Gesellschaft auf das Geschlechterverhältnis zurückschlägt, unterwirft. Faktisch geht die dem Geschlechterverhältnis innewohnende Macht mit der, die aus der Übermacht in der Gesellschaft auf es zurückschlägt, ununterscheidbar zusammen. Analytisch müssen beide gleichwohl unterschieden werden. Macht und Gegenmacht will man, wenn man liebt; man feiert sie. Der Unterwerfung ist man ausgeliefert, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse kein Entkommen zulassen. 8  Das spezifisch humane Verhältnis der Geschlechter hat es zu allen Zeiten ge-

geben. Die Bedingungen, die es entstehen lassen, liegen im Bildungsprozeß des Subjekts. Das gleiche müssen wir dann allerdings auch von der Liebe sagen: Das Geschlechterverhältnis hat immer auch nach der Kommunikation der Individualitäten suchen lassen. Gemeinhin wird die Universalität der Liebe in Abrede gestellt; Liebe wird vielmehr für jene Form der Beziehung reserviert, die sich mit der romantischen Liebe gebildet hat. Was für die Vergangenheit im Verhältnis zwischen Frau und Mann übrigbleibt, wird kaum noch unter diesem Titel verhandelt. Das ist nicht richtig, weist jedoch darauf hin, daß die Subjektivität in der Geschichte, insbesondere in der Neuzeit, eine Steigerung erfahren hat, die dem Verhältnis der Geschlechter eine bis dahin nicht gekannte Bedeutsamkeit hat zukommen lassen. 9  Das Verhältnis der Geschlechter ist auf Dauer angelegt, Liebe auch will Bin-

dung und Dauer. Der Grund liegt ebenso in der Dauer der Bedürfnisse, auf denen das Verhältnis der Geschlechter beruht, als auch in den Bedingungen, unter denen sich das Verhältnis der Geschlechter realisiert: Die Kommunikation über Individuelles beruht darauf, daß im anderen derjenige gefunden ist, auf dessen Antwort-Haltung im Dasein der Liebende verpflichtet ist, der für ihn deshalb einen Möglichkeitshorizont des eigenen Lebens eröffnet. Die Bedeutsamkeit des anderen für das eigene Leben läßt Liebende wieder und wieder artikulieren, sterben zu müssen, wenn der andere ihnen verlorengehe.

204

Theorie der Geschlechterbeziehung (Resümee)

10  Die Dauer des Geschlechterverhältnisses ist in allen Gesellschaften in eine in-

stitutionalisierte Form überführt worden. Diese Feststellung läßt sich noch für die freiesten Formen der Liebe in der Geschichte treffen. Die Universalität der institutionalisierten Form des Geschlechterverhältnisses ist gleichbedeutend mit der Universalität ihrer familialen Organisation. Alle Gesellschaften kennen sie. Allen gemeinsam ist ein institutionalisierter Kern, der aus der filiativen Dyade zwischen Mutter und Kind, der konjugalen Dyade zwischen den Geschlechtern und der Beziehung zwischen dem Manne als dem Vater und den Kindern der Frau besteht. Die Verfestigung des Geschlechterverhältnisses in der institutionalisierten Form der Familie weist eine gewisse Spannung zu jenem Moment des Liebens auf, das die Beziehung der Geschlechter auf nichts als die Kommunikation der inneren Naturen gegründet sehen will. Es nimmt deshalb nicht wunder, daß sich Liebende immer auch von ihr freizuhalten gesucht haben. Verhindert hat das die Institutionalisierung nicht.

11  Wir haben für das Verhältnis der Geschlechter das Bedürfnis nach Intimität,

das sich in der frühen Ontogenese ausbildet, grundlegend sein lassen. Damit ist in einer historisch-genetischen Perspektive schon gesagt, daß die Mutter-KindDyade als die primäre Dyade der familialen Organisation angesehen werden muß. Aus ihr heraus hat sich der Prozeß der Enkulturation vollzogen. Sie selbst hat sich in diesem Prozeß erst als diejenige Beziehung zwischen Mutter und Kind entwickelt, die wir diesseits der Schwelle der definitiv gewordenen kulturellen Daseinsform kennen. Historisch-genetisch liegt in der Annahme, daß eine naturgeschichtliche Vorgabe die Ausgangslage einer späteren Organisationsform sei, nicht der mindeste Widerspruch, ist vielmehr die unabweisbare Vorstellung, die wir mit der Entwicklung auch über den Hiatus zwischen der Naturgeschichte und Kulturgeschichte hinweg verbinden. Für einen langen Zeitraum wird man annehmen müssen, daß naturale Determinanten des Fürsorgeverhaltens mit den sich entwickelnden kulturellen Determinanten des Mutterns zusammengegangen sind. Diesseits der Schwelle zur definitiv gewordenen kulturellen Daseinsform gibt es einen durchsichtigen prozessualen Mechanismus, der Mütter veranlaßt, ihre Kinder zu bemuttern und aufzuziehen. Mütter lassen in der Identifikation mit dem Kind die Bedürfnis- und Gefühlslage ihrer eigenen Kindheit wieder lebendig werden; sie prozessualisieren sich dabei selbst. Sie ziehen Kinder auf, weil sie selbst von Müttern aufgezogen wurden.

12  Mit den familialen Organisationsformen, die wir in allen uns bekannten Ge-

sellschaften vorfinden, finden wir allerwärts auch die Rolle des soziologischen Vaters ausgebildet. Der Grund ist bei einer genetischen Rekonstruktion einsichtig: Der Mann reaktiviert im Verhältnis zu den Kindern der Frau ebenfalls seine ei-

Theorie der Geschlechterbeziehung (Resümee) 205

gene Kindheit. Aus der Fürsorgerolle der Mutter, die er damit aktiviert, erwächst unter den veränderten Bedingungen der konjugalen Lebenslage die Hüterrolle des Vaters. Die Transformation der Fürsorgerolle der Mutter in die Hüterrolle des Vaters wird dadurch unterstützt, daß der Mann auch im Verhältnis zur Frau die Mutterrolle in die Mannesrolle transformiert. Der Transformationsprozeß der Mutterrolle in die Vaterrolle ist ein schönes Beispiel dafür, daß es sich gerade nicht um eine Regression handelt, wenn die eigene Kindheit wieder lebendig wird. Diesseits der definitiv gewordenen Schwelle des kulturellen Daseins reaktiviert der Mann zugleich die Rolle, die sein Vater bereits ihm gegenüber übernommen hat. Auch die Rolle des Vaters kehrt mithin über die Ontogenese in sich zurück. Wir haben mithin allen Grund anzunehmen, daß sich die Rolle des soziologischen Vaters mit den beiden anderen Dyaden: der von Mutter und Kind und der konjugalen Dyade gemeinsam ausgebildet hat. 13  Eine soziologische Theorie ist um so stärker, je systemischer ihre Teil­stücke

miteinander verbunden sind. Die familiale Organisation weist diesen systemischen Verbund auf: Die Entwicklung der Mutter-Kind-Dyade in ihrer spezifisch humanen Form läßt die konjugale Dyade entstehen, mit beiden entsteht die Rolle des soziologischen Vaters. In diese systemische Organisation fügt sich eine wei­ tere Struktur ein, die zur familialen Organisation zählt und so universal ist wie sie selbst: das Inzesttabu. Das Inzesttabu entsteht im Kernbereich der Familie als eine Folge des Autonomiegewinns des Kindes. Das Kind muß sich aus der Intimität mit der primären Bezugsperson und den relevanten anderen in der Familie lösen, wenn es seine zunehmend autonomer werdende Lebensform realisieren will. Es sucht deshalb wie von selbst die Wendung nach außen und verbindet sich einem außerfamilialen Geschlechtspartner. Diese Entwicklung wird normativ festgeschrieben. Das Inzesttabu zwischen Eltern und Kindern kann deshalb als Konfirmation der Freiheit verstanden werden. Das ist der Grund, der seine Verletzung so perhorresziert sein läßt. Auch das Inzesttabu zwischen Geschwistern findet aus der ontogenetischen Entwicklung seine Erklärung. Die geschwisterliche Intimität ist so gut wie libidofrei. Daraus geht als Regelfall ein Vermeidungsverhalten der Geschwister in der Pubertät und Adoleszenz hervor. Das schließt vorübergehend sexuelle Kon­takte nicht aus, führt jedoch in aller Regel nicht zu dauerhaften Liebesbeziehungen.

14  Wenn im wissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart Erklärungen für das Verhältnis der Geschlechter und die ihm verbundene Liebe angeboten werden, entstammen sie zumeist der psychoanalytischen Theorie. Letztere bestimmt bis in das gemeine Bewußtsein hinein den kommunikativen Code der Liebe in unse-

206

Theorie der Geschlechterbeziehung (Resümee)

rer Zeit. Die hier entwickelte historisch-genetische Theorie des Geschlechterverhältnisses ist mit der psychoanalytischen Theorie unvereinbar. Beide sind in ihrer Grundstruktur so unvereinbar, wie eine substanz- und prozeßlogische Theorie miteinander unvereinbar sind. Substanzlogische Theorien zeichnen sich, soweit sie naturalistisch angelegt sind, dadurch aus, daß sie die kulturellen Lebensformen dem biologischen Substrat zurechnen, also in ihm bereits in nuce angelegt sein lassen. Das gilt auch, soweit der Entwicklungsgedanke in den Vordergrund rückt. Für das substanzlogische Verständnis der Entwicklung gilt der Satz der Erhaltung. Was sich entwickelt, sind lediglich Umorganisationen naturaler Potentialitäten. Freud hat es an der expliziten Affirmation des Satzes der Erhaltung nicht fehlen lassen. Die prozeß­ logische Argumentation zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, daß sie ontogenetisch sowohl als auch historisch im Bildungsprozeß des Subjekts konstruktive Kompetenzen entstehen läßt, denen zufolge die kulturellen Lebensformen in einem anderen Stratum ausgebildet werden als dem der Natur, von dem sie ausgegangen sind. Für sie ist die Geistigkeit sozio-kultureller Lebensformen das andere der Natur. Die substanzlogische Struktur der psychoanalytischen Theorie stellt die Transformation der traditionalen Denkstruktur in eine naturalistische Theorie dar. Das muß zu Unvereinbarkeiten und damit zu Widersprüchen führen. Die sozio-kulturellen Lebensformen lassen sich dem naturalen Substrat substanzlogisch nicht einverleiben. Der Mangel, sie einer prozeßlogischen Erklärung zuzuführen, in der ihre Ausbildung allererst einsichtig wird, gibt das Terrain frei für spe­kulative Bildungen, die durch keine Empirie mehr einzuholen sind. Das gilt in besonderer Weise für das Verständnis des Geschlechterverhältnisses in der psychoanalytischen Theorie Freuds. Die Ausbildung des Geschlechterverhältnisses wird in der Theorie Freuds dem Sexualtrieb zugeschrieben. Dabei gewinnt der Ödipus-Komplex, wie er sich zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr ausbilden soll, insbesondere für die Ausbildung der Geschlechtsidentität, eine zentrale Bedeutung. Der Ödipus-Komplex hat sich inzwischen eine Vielzahl von Deutungen gefallen lassen müssen. Er ist jedoch in allen psychoanalytischen Theorien virulent geblieben, mit ihm ist es das ganze Arsenal der Deutungsmuster dieser Entwicklungsphase: Tötungswunsch, Kastrationskomplex, Penisneid etc. Eine strukturlogische Analyse zeigt: Er ist ein Mythos. Im Bewußtsein können sich die ödipalen Vor­stellungsgehalte nicht finden. Das Kind hat in dieser Lebensphase keine Vorstellung vom Geschlechtsakt. Im Bewußtsein findet sich lediglich eine mehr oder weniger spannungsreiche trianguläre Situation des Kindes zwischen den Eltern, die bewältigt werden muß, nicht aber der Wunsch, mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil zu verkehren, ihn töten zu wollen, Angst vor der Kastration zu haben, bereits

Theorie der Geschlechterbeziehung (Resümee) 207

kastriert zu sein etc. Unbewußt können diese Vorstellungsgehalte aber ebenfalls nicht sein. Die Freudsche Vorstellung, sie seien seit Urzeiten in der Psyche des Menschen enthalten, ist durch kein irgend plausibles Szenario der Frühzeit verständlich zu machen. Weder ist ersichtlich, wie es entstanden sein könnte, noch, wie es hätte tradiert werden können. Eine genetische Transformation im Sinne der biologischen Vererbung scheidet aus. Denn mit ihr würden differenzierte Begriffsfelder mit hochabstrakten kulturellen Deutungsmustern dem naturalen Substrat einverleibt; dafür ist in einer biologischen Theorie kein Platz. Wir wüßten überdies nicht, wie diese Bedeutungsgehalte jemals entstanden und in die Genetik eingelagert worden sein könnten. Für eine kulturelle Weitergabe des Unbewußten fehlt aber ebenfalls jede Plausibilität. In Wahrheit dokumentiert die psychoanalytische Theorie einen Transformationsprozeß der Logik des Denkens in der Neuzeit, in dem der entscheidende Schritt zu einem prozeßlogischen Verständnis der sozio-kulturellen Lebensformen nicht vollzogen wurde. Heute ist diese Theorie ein Anachronismus. Bedeutsame psychoanalytische Forschungen werden deshalb nicht obsolet. Sie müssen kompetenztheoretisch, also unter Preisgabe des ganzen psychoanalytischen Arsenals der Deutungsmuster, verstanden werden. Ein Verständnis des Geschlechterverhältnisses, daran jedenfalls kann kein Zweifel sein, ist in einer psychoanalytischen Theorie nicht zu gewinnen. Das gilt insbesondere für die Sexualität, die gemeinhin als Domäne dieser Theorie angesehen wird. Ihre erotische Bedeutung für die kulturelle Daseinsform des Menschen kommt auch nicht von ferne in den Blick. Erst recht wird nicht verständlich, was Liebe meint. Wenn man Wißbares wißbar sein lassen will, muß man sich den psychoanalytischen Deutungen des Geschlechterverhältnisses entschlagen.

Teil II Subjekt und Welt in der romantischen Liebe. Sie waren einer dem andern das Universum. (Fr. Schlegel)

Einleitung: Die Geschichtlichkeit des Liebens

1

Anthropologie und Geschichtlichkeit

Der Grund für die Ausbildung des Geschlechterverhältnisses liegt, wie wir gesehen haben, in der anthropologischen Verfassung. Der Bildungsprozeß des Menschen steht unter Bedingungen, die die Bindung an einen anderen zumeist des andern Geschlechts zum Bedürfnis werden lassen. Das gilt auch für die Entstehung der Liebe. Eben weil Liebe sich einer Genese verdankt, die schlechterdings für jeden Menschen bestimmend ist, läßt sich das über Liebe bestimmte Verhältnis der Geschlechter in allen Gesellschaften wiederfinden. Wenn das Verhältnis der Geschlechter universal ist, wenn Liebe sie zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften verbunden hat, so doch in je historischen Formen und Erlebnisweisen. Und die sind dem Lieben nicht äußerlich. Lieben ist, wie wir gesehen haben, an die Ausbildung der Subjektivität gebunden, deren Universalität aber folgt einer Entwicklungslogik, an die auch die Art zu lieben gebunden ist. Unser Interesse, die Universalität des Liebens dadurch zu erweisen, daß wir sie von einer Bedürftigkeit bestimmt sehen, die sich in jeder Ontogenese ausbildet und in der anthropologischen Verfassung, das Leben sinnhaft zu führen und darin der Welt zu verhaften, eine Verankerung findet, darf deshalb nicht so verstanden werden, als wollten wir der Verbindung der Geschlechter entgegen allen Versicherungen eine anthropologische Konstanz sichern, die sie jeder Geschichtlichkeit entzöge. Nichts entspräche weniger unserer Absicht, und nichts könnte einer historisch-genetischen Theorie weniger angemessen sein. Denn wenn wir die kulturellen Lebensformen aus den Bedingungen verständlich zu machen suchen, unter denen sie sich gebildet haben, so zielt diese Absicht gerade darauf ab, diese Bedingungen selbst historisch zu verstehen. Nochmals also: Die anthropologische Verfassung kennt Entwicklungsbedingungen der Subjektivität, an die Geschlechterverhältnis und Liebe gebunden sind und die sich in allen Forma© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_12

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Einleitung: Die Geschichtlichkeit des Liebens

tionen der Geschichte durchhalten. Allein, die anthropologischen Bedingungen sind derart, daß sie mit je historischen Bedingungen zusammengehen; erst beide gemeinsam, die anthropologischen und die je historischen Bedingungen bestimmen den Bildungsprozeß des Subjekts und sein Vermögen sowie seine Art zu lieben. Was Liebe meint, ändert sich deshalb von Epoche zu Epoche. Denn mit jeder Epoche entstehen Chancen der Entwicklung und in jeder werden Potentiale ihrer Entwicklung freigesetzt, die, wenn sie genutzt werden, neue Formationen und neue Daseinsformen des Lebens entstehen lassen. Diese Entwicklungsfähigkeit gilt auch für das Subjekt. Es folgt in seiner inneren Organisation den Lebensformen, die durch es entstanden sind, nach und findet sich in einer Epoche, die über die vergangene hinausgegangen ist, als ein anderes wieder. Das meint, wenn man jene vielzitierte Zeile aus den Seher-Briefen Rimbauds historisch wendet: Denn Ich ist ein anderes.1 Als anderes liebt es anders. Es ist deshalb gerade die Historizität des Daseins, die uns erlaubt, der Liebe Universalität zuzuschreiben. Universalität läßt sich überhaupt einzig im Historischen erweisen. Auch wenn sich mithin vergleichsweise konstante Bedingungen für sie finden lassen, wozu Geschlechterverhältnis und Liebe werden, was sie sind, stellt sich immer erst dar, wenn wir ihrer Ausbildung unter den historischen Bedingungen einer Epoche und ihrer Gesellschaften folgen.

2

Die Geschichtlichkeit des Liebens

Wie sehr Liebe ihrer innersten Anlage nach historisch bestimmt ist, läßt sich an ihrer Anbindung an die Welt erweisen. Wir haben sie oben dazu bestimmt gesehen, eine Lebenssphäre bilden zu helfen, in der die Integration des Körpers und des über Sinn prozessierten Daseins des Menschen miteinander vermittelt werden; der andere ist der, in dessen Körperzone das Leben geführt wird; er ist zugleich der, der kommunikativ zu einer Welt Zugang finden hilft, die nicht aufgeht im Identischen ausdifferenzierter Konstrukte von ihr. So sehr diese zwischen den Liebenden hergestellte Welt ihre eigene Welt ist – beabsichtigt ist, die Anbindung an die Welt als fremde lebbar zu machen. Die Eigenwelt der Liebenden ist deshalb immer das Korrelat zu der anderen: der sie übergreifenden Welt. Wie sich diese einverständliche Sphäre gestaltet und vor allem, welche Bedeutung sie für das Leben gewinnt, hängt davon ab, unter welchen Bedingungen der äußeren Welt sie sich bildet, welche Chancen, Belastungen und Zwänge von letzterer ausgehen. Auch wenn sich daher das Subjekt unter vergleichsweise konstanten Vorgaben bildet, in welcher Weise es sich bildet, ist eine Frage der Welt, in der es lebt. 1

A. Rimbaud, Briefe und Dokumente, S. 21, 23.

Die Geschichtlichkeit des Liebens 213

Und beide, Subjekt wie Welt, bestimmen die Art des Liebens. Liebe ist daher historisch an das Verhältnis gebunden, in dem sich die Stellung des Subjekts zur Welt bestimmt und historisch verändert. Die Geschichtlichkeit des Liebens bestimmen zu wollen, macht deshalb zuvörderst erforderlich, die Geschichtlichkeit des Verhältnisses von Subjekt und Welt zu bestimmen. Die Aufgabe, das Verhältnis von Subjekt und Welt historisch zu bestimmen, läßt sich im gegenwärtigen Zusammenhang nur bei äußerster Restriktion der Aufgabenstellung bewältigen. Abweisen läßt sie sich nicht. Der in unserer Zeit vorherrschende Agnostizismus der Geschichte stellt überhaupt in Abrede, daß sich dieses Verhältnis bestimmen lasse. Er versteht Geschichte als etwas, das sich ereignishaft von Epoche zu Epoche, von Gesellschaft zu Gesellschaft bildet und eben deshalb nur punktuell beschrieben werden kann. So ist es nicht. Struktural weist die Geschichte eine Entwicklungslogik auf. Ich beschränke mich darauf, sie darzulegen, ohne sie am historischen Material zu erhärten. Worum es mir geht, ist, die Neuzeit in diese Entwicklungslogik einzustellen. Denn nur dadurch wird verständlich, weshalb sich in ihr die spezifische Form der romantischen Liebe gebildet hat. Die romantische Liebe aber gilt gemeinhin als Liebe katexochen. Gerade für sie ist deshalb ihre Historizität zu erweisen. Das aber heißt, daß sie in die Entwicklungslogik des Verhältnisses von Subjekt und Welt einzubinden ist. Das ist der eine Grund, weshalb ich sie hier erörtere. Der andere weist über die Untersuchung hinaus: Unsere eigene Zeit läßt die romantische Liebe hinter sich. Zwar hat sich die historische Konstellation erhalten, mehr noch, sie ist allgemein geworden, die Antwort, die die Romantik in der romantischen Liebe suchte und fand, ist jedoch für uns nicht länger möglich. Die derzeitige Situation des Geschlechterverhältnisses läßt sich deshalb nur verständlich machen, wenn man die historische Konstellation zu rekonstruieren weiß, die sich in der Romantik hergestellt und in der romantischen Liebe ihren Ausdruck gefunden hat.

Kapitel 1 Entwicklungslogik der Geschichte und Entwicklungslogik der Subjektivität

1

Der Aufbauprozeß in der frühen Ontogenese

Was wir Subjekt und Subjektivität nennen, ist eine Organisationsform des Organismus, die sich in jeder Ontogenese bildet, mithin in einem kulturellen Prozeß erst erworben wird. Konstitutiv für diesen Bildungsprozeß ist, wie wir eingangs erörtert haben, der Erwerb einer Handlungskompetenz, der mit einem Aufbauprozeß von Welt verbunden ist. In diesem Prozeß gerät der Organismus in eine Gegenlage und Distanz sowohl zur Welt als auch zu sich selbst. Diese Form der doppelten Distanzierung ist für die Organisationsform des Subjekts konstitutiv. Der Mensch ist sich selbst inmitten der Welt gegeben; exakt das ermöglicht ihm, unter gegebenen Bedingungen sein Leben zu führen. Die Organisationsform der Subjektivität bildet sich in jeder Lebensgeschichte in der frühen Ontogenese aus. Die Bedingungen, unter denen das nachwachsende Gattungsmitglied in dieser frühen Phase seiner Biographie Handlungskompetenz gewinnt und damit jene Reflexivität ausbildet, die die Welt in eine Gegenlage und es selbst in ein dezentriertes Verhältnis zu sich bringt, sind derart elementar, daß der Prozeß in der kulturellen Nullage eines jeden Gattungsmitgliedes verläßlich in Gang gesetzt und bis zu einer bestimmten, aber historisch verschiedenen Höhenmarke vorangetrieben wird. Es genügt, sich in einer widerständigen Natur vorzufinden und in einer sozialen Lage aufzuwachsen, in der die eigenen Handlungsweisen auf die der anderen stoßen und durch sie begrenzt werden, um den Prozeß in Gang zu setzen und so weit zu treiben, daß eine kompetente Interak­tion möglich wird. Die Unfertigkeit des Organismus einerseits, die soziale Lage andererseits stellen den treibenden Mechanismus der Subjektentwicklung dar. Gäbe es ihn nicht, hätte sich der Prozeß der Enkulturation schwerlich jemals zu entwickeln vermocht. Tatsächlich ist dieser Prozeß zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften so weit fortgeschritten, daß der Aufbauprozeß von Welt und die mit © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_13

215

216

Entwicklungslogik der Geschichte und Entwicklungslogik der Subjektivität

ihm einhergehende Organisation des Subjekts das Überleben ermöglichen. Historisch war diese Kompetenz in der Frühphase der Gattung mit dem Organisationsniveau und den Lebensformen der pristinen Gesellschaften der Sammler und Jäger erreicht.

2

Die Steigerung der Organisationskompetenz

Die Geschichte ist nicht auf dem Organisationsniveau der Sammler- und Jägergesellschaften stehengeblieben. Mit der neolithischen Revolution ist sie in Bewegung gekommen. Um zu verstehen, worin diese Bewegung – strukturell gesehen – besteht, ist es notwendig, sich nicht aus dem systemischen Organisationsprozeß, aus dem heraus der Mensch sich überhaupt hat bilden können, herauszukatapultieren, man muß vielmehr daran festhalten, daß der Mensch in seiner eigenen Organisation durch das Verhältnis bestimmt wird, das er zur Außenwelt zu gewinnen vermag; dann allerdings kann nicht zweifelhaft sein, worin dieser Prozeß besteht und mehr noch: worin er nur bestehen konnte. Möglich war einzig eines: den Entwicklungsprozeß fortzusetzen, nach dem der Mensch angetreten ist. Eben das ist geschehen. Die Entwicklung in der Geschichte wird durch die Steigerung der Handlungskompetenz über die Außenwelt bestimmt. Eben das macht auch die immanente Entwicklungslogik im Verhältnis von Subjekt und Welt aus. In ihr liegt auch nicht die Spur einer teleologischen Bestimmung. Der Mensch hätte auf jedem Entwicklungsniveau verharren können, unabsehbare Variationen der Ausgestaltung seiner gesellschaftlichen Lebensformen waren auf jedem Entwicklungsniveau möglich. Derart differente Entwicklungen bestimmen das bunte Bild der Geschichte. Die historische Entwicklung wurde dadurch bestimmt, daß der Mensch die Organisationsmacht über die Außenwelt steigerte. Wenn man deshalb fragt, warum der Mensch überhaupt eine Geschichte hat, so kann die Antwort nur sein: weil er ebenso im Bildungsprozeß der Welt wie in seinem eigenen, im Bildungsprozeß der Subjektivität also, von allem Anfang an auf den Gewinn an Organisationsmacht über die Außenwelt festgelegt ist. Bevor wir fragen, welche Konsequenzen sich daraus für die Geschichtlichkeit des Liebens ergeben, verfolgen wir den Bildungsprozeß der Geschichte noch ein Stück weiter. Die Geschehnisse, mit der die Geschichte in Bewegung kommt, werden, ich erwähnte es schon, unter dem Begriff der neolithischen Revolution zusammengefaßt. Was macht unter der zuvor erörterten Perspektive ihre Bedeutsamkeit aus ? – Bereits der Übergang zu agrarischer Produktion verlangt eine andere Art der Selbstorganisation des Daseins, eine gesteigerte Disziplinierung der Lebensführung insbesondere. Entscheidend aber wird, daß mit dem Übergang zu agrarischer Produktion eine Entwicklungsdynamik in der Sozialwelt ausgelöst wird.

Die Steigerung der Organisationskompetenz 217

Gesellschaften sind über Macht organisiert. Macht aber läßt sich in agrarischen Gesellschaften in veränderter Weise prozessieren als vorher.1 Anders als in den vorhergehenden Gesellschaften der Sammler und Jäger ist es unter agrarischen Produktionsbedingungen möglich, mehr als notwendig an Gütern zu erwirtschaften und dadurch mehr Macht als andere zu gewinnen. Auf diese Weise verändert sich die Struktur der Gesellschaft. Denn ungleiche Machtpotentiale führen zu ihrer hierarchischen Organisation. Mit ihr eröffnet sich eine weitere Chance des Zugriffs auf die Sozialwelt: Macht läßt sich eigens als Macht organisieren und über die Organisation der Organisation zur Herrschaft entwickeln. Herrschaft vollends setzt den Zugriff auf die Sozialwelt frei. Sie führt zur Ausbildung der staatlichen Organisation der frühen Hochkulturen, in denen der Mensch eine bis dahin nicht gekannte Organisationskompetenz seines Daseins entfaltet. Geschichte, darum ist es mir zu tun, ist ein Prozeß, der über die Ausweitung der Handlungs- und Organisationskompetenz über die Welt, über die Natur wie über die Sozialwelt, verlaufen ist. Wenn die Anfänge dieses Prozesses in der frühen Ontogenese eines jeden Gattungsmitgliedes liegen, Geschichte deshalb mit der Enkulturation aus der Ontogenese herausgeführt werden muß, dann wird seit der neolithischen Revolution die Dynamik in der Entwicklung der Geschichte von der gesellschaftlichen Organisation bestimmt. Die Entwicklung der Handlungsund Organisationskompetenz aber ist, wie wir wissen, zugleich der Prozeß, in dem das Subjekt seine Subjektivität ausbildet. Die Fortsetzung dieses Prozesses in der Geschichte läßt deshalb auch das Subjekt den ontogenetisch begonnenen Prozeß der Distanzierung zur Welt und der Steigerung seiner Reflexivität fortsetzen. Der Prozeß tritt mit der Neuzeit in ein neues Stadium ein. In ihr wird die Organisationskompetenz nicht nur gesteigert; die Welt wird geradezu erobert und der Gestaltungsmacht des Menschen unterworfen. Der Eroberungszug wird eingeleitet von den drei Revolutionen, die die ersten Jahrhunderte bestimmen: der naturwissenschaftlichen, der industriellen und der politischen Revolution. Ihnen ist eines gemeinsam: Sie bauen die Organisationsmacht dadurch systematisch aus, daß sie den Unterwerfungsprozeß der Außenwelt institutionalisieren. Institutionalisiert wird, um deutlich zu sein, nicht wie in aller Vergangenheit das einmal erreichte Machtpotential, auf dem dann eine stabile Ordnung aufgebaut wird, institutionalisiert wird der Prozeß der Steigerung der Organisationsmacht. Das verändert auf der Objektseite die Welt. Sie verliert ihre Statik, bleibt fortan in dauernder Veränderung. Wenn im früheren Epochenwandel Veränderungen über Jahrtausende geschahen, so daß sie in der Generationenfolge kaum wahrnehmbar waren, so werden jetzt Veränderungen zu einem Moment der je gegenwärtigen Welt selbst: Die Welt ist jeweils das, wozu sie gerade wird. Unter diesen Um1 Vgl. G. Dux, Die Spur der Macht im Verhältnis der Geschlechter, S. 314 ff.

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Entwicklungslogik der Geschichte und Entwicklungslogik der Subjektivität

ständen geht für das Subjekt eine Welt, die es seiner inneren Natur zu integrieren vermöchte, überhaupt verloren. Was Weltverlust heißt, werden wir alsbald erörtern; es wird uns fortan beschäftigen.

3

Die Geschichtlichkeit des Subjekts

Das historisch-genetische Verständnis von Subjekt und Subjektivität hat einen Vorzug, der in der gegenwärtigen Diskussion um das Subjekt nicht hoch genug einzuschätzen ist. Der genetische Zugang macht einmal mehr deutlich: Es gibt das Subjekt zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften. Die Frage kann nur sein, als was es sich bildet und als was es sich versteht. Als was es sich bildet, läßt sich durch die Rekonstruktion seines historischen Bildungsprozesses aus dessen Bedingungen bestimmen. Mit zwei Gruppen von Bedingungen sind wir befaßt: Die eine Gruppe von Bedingungen ergibt sich daraus, daß sich das Subjekt immer und überall unter den familialen Verhältnissen der frühen Ontogenese ausbildet. Welche konkreten familialen Verhältnisse bestimmend sind, hängt von dem Entwicklungsstand der Welt ab, der in der Geschichte heraufgeführt wurde. Die Bedingungen sind in traditionalen Gesellschaften andere als in industriellen Gesellschaften. Die andere Gruppe der Bedingungen wird von dem Umstand bestimmt, daß sich das Subjekt reflexiv thematisch macht. Was das Subjekt ist, wird deshalb von dem bestimmt, wie es sich versteht. Das Selbstverständnis des Subjekts ist aber seinerseits historisch und hängt von dem Entwicklungsstand der Kognition resp. der kognitiven Strukturen ab. Deren Entwicklungsstand folgt dem Entwicklungsstand der Welt, also dem bis dahin heraufgeführten Organisationsniveau der Gesellschaft, nach. Er ist aber nicht mit ihm identisch. Verstehen läßt sich das Subjekt deshalb nur, wenn man den Entwicklungsstand der kognitiven Strukturen in ihrem historischen Transformationsprozeß zu rekonstruieren weiß. Wir werden sehen, daß uns diese Aufgabe für das Subjekt der Romantik erhebliche interpretative Anstrengungen abverlangt. Im folgenden sind wir zunächst mit der ersten Gruppe der Bedingungen befaßt, mit jenen also, die sich aus den familialen Verhältnissen der Sozialisation ergeben. Insofern nun haben sich die neuzeitlichen Verhältnisse gegenüber traditionalen Gesellschaften grundlegend geändert.

Der Bildungsprozeß des Subjekts in traditionalen Gesellschaften 219

4

Der Bildungsprozeß des Subjekts in traditionalen Gesellschaften

4.1

Die Stabilität der Subjektstruktur

Als spezifisch humane Organisationsform des Organismus bildet sich das Subjekt in allen Gesellschaften dadurch aus, daß die kulturelle Organisationsform dem naturalen Substrat förmlich einverleibt wird. Die vielberufene Einheit von Körper und Geist ist das Resultat dieses Bildungsprozesses. In allen Gesellschaften verläuft dieser Prozeß in der frühen Phase der Ontogenese unter der Dominanz der relevanten sozialen anderen. In traditionalen Gesellschaften wird dieser Prozeß früh schon von dem Erwerb derjenigen Organisationsformen des Handelns durchsetzt, die dermaleinst die Praxis der Lebensführung ausmachen werden. Das gilt in erster Linie für die Form der späteren Subsistenzgewinnung; es gilt jedoch auch für alle übrigen Daseinsformen im familialen und gesellschaftlichen Bereich. Auf diese Weise werden die Strukturen im Umgang mit der Natur wie der Sozialwelt der inneren Natur des Subjekts eingebildet. Das hat eine ungemein stabile Subjektstruktur zur Folge. Denn wenn die Entwicklung der Handlungskompetenz und der mit ihr verbundenen Subjektivität just in den Organisationsformen geschieht, in denen in späteren Jahren das Leben geführt wird, wenn m. a. W. das Subjekt von allem Anfang an für sich diejenigen Handlungen ausbildet, die später das gesellschaftliche Leben ausmachen, dann kommen Subjekt und gesellschaftliche Lebensführung weitgehend zur Deckung. Gewiß, das Subjekt spielt auch in diesen Gesellschaften seine Rolle mit einer Rollendistanz, die seiner Individualität Raum verschafft. Allein, es spielt die Rollen, die für es die Welt ausmachen. Mead hatte diesen Prozeß der Integration des Subjekts in die Gesellschaft im Auge, als er den Vorgang am Beispiel des Spiels beschrieb.2 Das Subjekt bestimmt sich selbst in der Weise, daß es genau den Part für sich übernimmt, der mit allen anderen das Ganze des Spiels gewährleistet. Eben dieses Verhältnis von Subjekt und Welt hatte auch Fichte im Auge, wenn er die innere wie äußere Welt auf alle Ewigkeit hinaus für den Menschen als » prästabiliert « verstand.3 In der Tat: In traditionalen Gesellschaften stabilisieren sich innere und äußere Welt gegenseitig. Die eine ist das Korrelat der anderen. Die derart entwickelte Praxis der Lebensführung ist ebenso wie die mit ihr entstehende Welt fraglos bedeutsam, weil das eigene Leben in der ganzen Elementarität seiner Körperlichkeit in sie integriert ist und sich durch sie erhält. Das Subjekt ist in diese Welt fest eingefügt; es paßt 2 3

G. H. Mead, Mind, Self and Society, S. 151 ff. J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre, Werke IV, S. 101.

220

Entwicklungslogik der Geschichte und Entwicklungslogik der Subjektivität

sich in die Grenzen des Bestehenden ein. Seine innere Welt ist wie die äußere borniert, aber sicher. Die Sicherheit, mit der sich das Subjekt in die Welt integriert und seiner Lebensführung Bedeutsamkeit verleiht, kommt in der Weise zum Ausdruck, in der es sowohl die Sinnhaftigkeit seines Handelns im einzelnen wie seines Daseins im ganzen bestimmt. Am Sinnmoment der Lebensführung läßt sich deshalb auch die Differenz der traditionalen zur gegenwärtigen Subjektivität am deutlichsten fassen.

4.2

Sinn in traditionalen Gesellschaften

4.2.1 Was Sinn meint Daß menschliches Leben handelnd geführt werden muß, bedeutet, daß es über Sinn geführt werden muß. Denn Sinn nennen wir, worauf ein Handeln gerichtet ist. Aller Sinn ist seiner pristinen Genese nach Handlungssinn. Dabei bestimmt sich, was als Sinn anzusehen ist, durch das Subjekt des Handelns. Nur wenn wir die Sinnbestimmung von den Subjekten ausgehen lassen, wird die Struktur der Handlung verständlich. Denn die Sinnbestimmung ist das Pendant dazu, das Leben führen zu müssen. Wie geschieht das ? Die Frage rührt an Abgründe von historisch gewordenen Verständnisvorgaben von Welt und Mensch. Ich werde sie hier in enger Anlehnung an die Handlungssituation zu beantworten suchen. Handeln ist Handeln in einer gegebenen Situation unter gegebenen Bedingungen. Die Sinnbestimmung erfolgt deshalb immer in bezug auf gegebene Umstände. Niemand wird auf dem Trockenen fischen wollen. Allein, nicht die Umstände machen den Sinn, sondern die Handlung in bezug auf die Umstände. Es ist deshalb unmöglich, zu einer Sinnbestimmung des Handelns zu kommen, ohne das Subjekt des Handelns, das diese Situation zu bewältigen sucht, mit in Rechnung zu stellen. Die Frage ist, wie das Subjekt unter den gegebenen Umständen die Sinnbestimmung findet, also die konkrete Handlung formiert. Generell läßt sich feststellen, daß das Subjekt durch die Bestimmung von Sinn das unter den gegebenen Umständen Mögliche auf das für es Bedeutsame einengt und konkretisiert. Was aber für es bedeutsam ist, das, so hätte die klassische Soziologie von Weber bis Parsons geantwortet, bestimmt sich für das Subjekt durch Interessen. Sie sind, folgt man Weber, vorherrschend.4 Allerdings decken diesem Verständnis zufolge Interessen die Bestimmung nicht ab. Die ideelle Durchformung menschlichen Daseins läßt hinter allen Interessen Werte aufscheinen. Das können engbegrenzte Hand4

M. Weber, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, S. 252.

Der Bildungsprozeß des Subjekts in traditionalen Gesellschaften 221

lungswerte der konkreten Situation sein, es können letzte Werte des Lebens sein. Im einen wie im anderen Falle gilt, daß sie keiner weiteren Bestimmung fähig sind. Werte sind dieser Theorie zufolge letzte Bezüge des Handelns; sie schließen die Sinnbestimmung ab. Eben so ist es nicht.5 Sinn bestimmt sich als Handlungssinn zum einen aus den Möglichkeiten, die die gesellschaftliche Situation enthält, zum anderen aus der inneren Organisa­tion des Subjekts. In beiden Bedingungen sind ideelle Determinanten enthalten – die Welt des Menschen ist eine über Gedanken gebildete Welt. Insbesondere ist, was sich als innere Natur gebildet hat und ins Handeln umsetzt, die sedimentierte Form von Erfahrungen, deren immanente Deutungen an den Entwicklungsstand der Welt gebunden sind. Und die folgen ihrer eigenen Entwicklungslogik. Sinnbestimmungen, so können wir deshalb hier, ohne den Bildungsprozeß im einzelnen weiter zu verfolgen, verkürzt zusammenfassen, bilden sich unter dem Einfluß von Handlungsinteressen und Deutungsmustern, mit denen schon die ersteren durchsetzt sind und die sich auf das Ganze der Welt hin ausweiten. Ein Wert läßt sich dafür nur namhaft machen, wenn man die Gemengelage von Interessen, Deutungsmustern und innerer Natur auf Handlungsmaximen hin abstrahiert. Ersichtlich wird der Sinn des Handelns durch das Verhältnis von Subjekt und Welt bestimmt. Das ist der Grund, der unter dem veränderten Verhältnis von Subjekt und Welt in der Neuzeit Sinn zum Problem werden läßt. 4.2.2 Die Rückkoppelung von Sinn Sinn hat wie Handeln einen eigentümlich doppelbödigen Status. Als bloße Organisationsform des Handelns ist er dem Leben in seiner biophysischen Organisation verbunden. Die aber gehört einer Natur an, die jeder Sinnhaftigkeit entsetzt und deshalb selbst sinnfrei ist. Das sinnhafte Handeln ist an dieses sinnfreie Dasein der biophysischen Organisation als deren Aktionsform gebunden. Alle Sinnhaftigkeit führt in diese Sinnfreiheit des Daseins zurück, solange es überhaupt mit der Bestimmung versehen ist, dem Leben zu nutzen. Auch wenn wir in Rechnung stellen, daß Leben nie nur die Sicherung des Organischen meint, sondern immer ein Leben in kulturellen Formen ist, bleibt diese Schleife bedeutsam. Spiel und Kunst, um die bedeutsamsten Tätigkeiten zu nennen, die die Sicherstellung des Lebens transzendieren, ist es eigen, daß sie ihrerseits an die Bedeutungslosigkeit angebunden bleiben:

5

Zur Kritik der Werte vgl. G. Dux, Das Ende der Werte, S. 139 ff.

222

Entwicklungslogik der Geschichte und Entwicklungslogik der Subjektivität

Leben/sinnfrei

Handeln/sinnhaft

Die Schleife verläuft immer in dieser Richtung, nie in der umgekehrten. Dem Leben selbst im Handeln Sinn geben zu wollen, ist Un-Sinn. Aller Sinn kommt nur als Ausdruck einer Lebensform in die Welt, die an sich sinnfrei ist. Die Rückkoppelungsschleife in der sinnhaften Praxis des Daseins hat eine bedeutsame Weiterung für das, was als sinnvoll gelten kann: Sinnvoll ist, was an das sinnfreie körperliche Dasein angebunden bleibt. Da die menschliche Lebensform eine kulturelle Lebensform ist, sind kulturelle Tätigkeiten deren Ausdruck und können als solche, soweit sie ihr dienlich sind, auch sinnvoll sein. Spiel und Kunst sind schon genannt. Gesagt sein soll deshalb nicht, daß sinnvoll nur ist, was in naturalen Kategorien beschrieben werden kann. Gesagt sein soll nur dies, daß auch das Tun in der Geistigkeit seiner Organisation angebunden bleiben muß an die sinnfreie Dimension des Lebens, wenn es als sinnvoll gelten soll. Es muß m. a. W. dessen Selbsterhaltung oder Selbsterweiterung dienen. Für die Rückbindung der sinnhaften Lebensführung an die Sinnfreiheit des Lebens gibt es einen überaus einfachen Grund: Mit ihr rekurrieren wir auf die einzige Begründung, die keiner weiteren Begründung bedarf. Denn das Leben gründet in sich; Leben muß man nicht einmal wollen; es kann lediglich dazu kommen, nicht leben zu wollen. Als Strukturform der Lebensführung ist Sinn keiner Begründung bedürftig, solange er in die sinnfreie Dimension des Lebens rückgeführt wird. Eben das war in traditionalen Gesellschaften der Fall. 4.2.3 Organismus und Welt in traditionalen Gesellschaften In traditionalen Gesellschaften wird das tägliche Leben vorherrschend bestimmt von der Subsistenzsicherung. Auch wenn wir annehmen, daß in den frühen Wildbeutergesellschaften zumindest in ökologisch günstigen Regionen viel freie Zeit geblieben ist, wird sie nicht zum Aufbau anderweitiger Aktivitätspotentiale neben Tanz und Spiel benutzt. Wildbeutergesellschaften kennen nicht die Wut der Arbeit; sie hinterlassen kaum Spuren in der Welt. Die Subsistenzsicherung aber schöpft Sinn aus der Ressource sinnfreien Lebens; sie ist als Ausdruck der Selbsterhaltung einer weiteren Begründung nicht bedürftig. Niemand kommt auf den Gedanken, Tätigkeiten noch eigens begründen und als sinnvoll ausweisen zu wollen, die der Selbsterhaltung dienen. Die Sinnfreiheit des Lebens ist die schier unerschöpfliche Ressource für Sinn. Exakt diese Dimension soll die Rückführungsschleife veranschaulichen:

Der Bildungsprozeß des Subjekts in traditionalen Gesellschaften 223

Leben/sinnfrei

Handeln/sinnhaft

Die fraglose Sinnhaftigkeit der Lebenspraxis in traditionalen Gesellschaften wird durch die Produktionsform abgestützt. Wildbeutergesellschaften wie agrarische Gesellschaften haben als Referenten Natur. Sie realisieren ein Organisationsprinzip, das jeder Organisationsform des Lebens eignet: ihren Bestand durch eine Interaktion mit der Außenwelt zu sichern. Die kulturelle Organisationsform der Ökonomie substituiert, was auf subhumaner Stufe genetisch fixiert ist. Sie füllt den Freiraum, den die Natur gelassen hat, durch kulturelle Organisationsformen aus. Dabei hält sie sich an die strukturelle Vorgabe des Lebens: Dessen Grundstruktur, in der Interaktion des Organismus mit der Außenwelt die Natur zum Referenten zu haben, bleibt erhalten. Das Selbstverständnis des Menschen, Teil einer naturalen Ordnung zu sein, findet an dieser Organisationsform seinen Anhalt. Daß jemals die Sozialwelt naturrechtlich verstanden werden konnte, gleich in welcher Form, findet in der Einbindung des Menschen in die Natur in der Produk­ tionsform traditionaler Gesellschaften einen Anhalt. Ihre fraglose Gültigkeit wurde dadurch verstärkt. Denn Natur ist zu allen Zeiten das fraglos Vorgegebene. Zwar wurde ihre Prozessualität in der Vergangenheit selbst in der Strukturform sinnhaften Tuns verstanden; das ließ fragen, wodurch sie wurde, was sie war, für die Lebenspraxis selbst stellte sie jedoch die unbefragte Vorgabe dar. Irgend alternative Lebensführungen waren in traditionalen Gesellschaften nicht in Sicht. Tatsächlich war Sinn in der Geschichte der Menschheit genau so lange kein Problem, als die Lebenspraxis bestimmt wurde von der Subsistenzsicherung im organischen Kreislauf des Lebens. Das gilt für die pristinen Gesellschaften der Sammler und Jäger; und es gilt auch für Ackerbaugesellschaften. Auch die Fron der Arbeit, die mit dem Ackerbau das Dasein zu bestimmen begann, wurde nicht zum Sinnproblem. Die Sinnhaftigkeit des Daseins ist, das sollten die vorhergehenden Überlegungen deutlich machen, zunächst einmal eine Frage der praktischen Dimension der Lebensführung. Sinn speist sich aus der Bedeutsamkeit, die das Tun für das Leben hat. Das Subjekt lebt in traditionalen Gesellschaften in tätigen Bezügen zu einer Welt, die fraglos Sinn machten. Mehr noch: es hatte diese Bezüge seiner inneren Natur bereits in der frühen Ontogenese eingebildet. Mit der Sinnhaftigkeit seiner tätigen Bezüge zur Welt wird sein Dasein so sinnvoll wie die Welt, in der es sich vollzieht. Erst danach kommt jene metaphyische Sinnbestimmung ins Spiel, die sich des Sinns des täglichen Geschehens dadurch vergewissert, daß sie den IstBestand der Welt einem Absoluten zuschreibt. Bekanntlich galt unter der Ägide einer absolutistischen Logik, derzufolge die Welt in ihrer inneren Organisation als auf die Spitze eines Absoluten gestellt verstanden wurde, die vorfindliche Ordnung als die von einem Absoluten freigesetzte, von ihm bestimmte und ihm ge-

224

Entwicklungslogik der Geschichte und Entwicklungslogik der Subjektivität

schuldete Ordnung. Diese Vorstellung überhöhte die Handlungsformen mitsamt der daran gebundenen Sinnhaftigkeit und ließ, was ohnehin Sinn machte, in einem absoluten Sinn terminieren. Mit der knappen Erörterung des Bildungsprozesses des Subjekts in traditionalen Gesellschaften verfolge ich, das wird nicht in Vergessenheit geraten sein, lediglich die Absicht, ihn als Kontrastfolie für die Erörterung der neuzeitlichen Subjektivität und ihres Bildungsprozesses zu nutzen. Denn die Neuzeit läßt für die Entwicklung der Subjektivität grundlegend andere Bedingungen entstehen, als sie in aller Geschichte vor ihr bestanden haben. Sie führen zu einer Krise im Verhältnis von Subjekt und Welt; das Subjekt geht, wie wir schon festgestellt haben, der Welt verlustig; und sie führen folgeweise zu einer Krise in der Sinn­bestimmung des täglichen Daseins. Unter der entfesselten Produktivität geht dessen Sinn­ bestimmung verloren. Es ist dieser Prozeß, in den die romantische Liebe verwickelt ist, aus dem sie allererst hervorgeht. Was romantische Liebe meint und will und soll, läßt sich deshalb nur verstehen, wenn wir dem Prozeß, in dem sich in der Neuzeit das Subjekt bildet, weiter nachgehen.

5

Der Bildungsprozeß des Subjekts in der Neuzeit

5.1

Bürgerliche Ontogenese

Auch für die Neuzeit gilt, daß die Grundstruktur des Subjekts sich in der frühen Ontogenese der Gattungsmitglieder bildet. Die grundlegend veränderten Bedingungen, unter die dieser Bildungsprozeß geraten ist, machen sich seit dem 17. und verstärkt im 18. und 19. Jahrhundert in den bürgerlichen Familien geltend. Wir brauchen im gegenwärtigen Zusammenhang nicht zu entscheiden, welche Fami­ lien als bürgerlich zu gelten haben. Denn zum einen ist das Bürgertum keine homogene Gruppe, die umstandslos über ihre Interessenlage als Klasse oder Stand zu bestimmen wäre.6 Zum anderen sind die neuzeitlichen Entwicklungsbedingungen des Subjekts keineswegs nur einer rein ökonomisch bestimmten Klassenoder Schichtzugehörigkeit zu entnehmen. Die Grenzen derjenigen Familien, in denen sich der Strukturwandel vollzieht, sind nach oben wie unten: zum niederen Adel wie zum gemeinen Volk hin fließend. Entscheidend für das, was wir » bürgerliche Sozialisation « nennen, ist, daß die Ausbildung der Subjektivität in der frühen Ontogenese unter Bedingungen erfolgt, die nicht schon die späteren Berufs- und Gesellschaftsrollen in die Handlungsorganisation des Subjekts einbilden. Diese Feststellung gilt unbeschadet des Umstandes, daß im 18. Jahrhundert 6 Vgl. G. v. Graevenitz, Innerlichkeit und Öffentlichkeit, S. 52 ff.

Der Bildungsprozeß des Subjekts in der Neuzeit 225

zwar Kindheit als eine Bildungsphase des Menschen entdeckt wird, die Erziehung aber nicht deshalb schon zu einer kindgerechten Ausgestaltung dieser Phase führt, vielmehr von der Vorstellung bestimmt wird, alles zu tun, um das Kind zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft zu machen.7 Denn wie immer die Ziele aussehen, für die Kinder abgerichtet werden sollen, der Weg dahin führt in der bürgerlichen Sozialisation über die Bildung, die zu Hause und in der Schule erworben wird. Bildung, mindestens in der Form von Grundkenntnissen im Rechnen und Schreiben, wird zum Desiderat, das auch noch das untere Bürgertum beherrscht.8 Die damit verbundene Literarisierung läßt eine extensive Literatur und ein extensives Lesepublikum entstehen. Sie führt vorzüglich auf dem Umweg über die Mutter in die Sozialisation zurück.9 Hinkünftig wird die Vorstellungswelt der Kinder, die eine bürgerliche Sozialisation erfahren, von frühester Kindheit an von den literarischen Produkten beherrscht sein. Bildung ist eine Form des Zugangs zur Welt, die das Gegenstück zur Lebens­ praxis ist, über die in den traditionalen Gesellschaften eine Identität ausgebildet wird. Sie steigert zum einen die Operationalität des Denkens und ermöglicht so in ungleich stärkerem Maße als in einem Denken, das in die Grenzen der eigenen Erfahrung eingebunden ist, sich die Welt im Reich des Gedankens zugänglich zu machen. Damit verbunden ist die Aneignung von Wissen, das über alle Praxis hinausreicht. Die Einführung des Prinzips Bildung in die Sozialisation baut deshalb aus, was durch die Herauslösung aus der Praxis ohnehin schon geschieht: Sie läßt das sich bildende Subjekt Welt als ideelles Konstrukt gewinnen, ohne in irgendeiner Weise an diese gebunden zu sein. Wie weit dieser Effekt eintritt, ist schichtspezifisch bestimmt. Im unteren Bürgertum ist der Schulbesuch nur gering und reicht über die allereinfachsten Rechen- und Lesekünste nicht hinaus. Der Eintritt in eine Berufswelt zwischen dem 12. und 15. Lebensjahr kupiert ihn überdies. In den mittleren und oberen Schichten schlägt er jedoch voll durch. Hier bewirkt die extensive Leseflut10 die Fähigkeit, sich in Welten zu versetzen, die abgehoben sind von allem, was die Praxis bürgerlichen Lebens bestimmt. Die Konsequenz aus der in der bürgerlichen Familie durch die Ghettobildung der Kindheit und der mit ihr verbundenen Verschulung und Literarisierung gründlich veränderten Situation für die Entwicklung einer Subjektivität läßt sich ermessen, wenn man sich der anthropologischen Ausgangslage und des Unterschieds zur Entwicklung der Subjektivität in traditionalen Gesellschaften erinnert. Der Organismus muß Handlungskompetenz gewinnen, um leben zu können. Das 7 Vgl. W. Promies, Kinderliteratur im späten 18. Jahrhundert, S. 765 ff. 8 H. Möller, Die kleinbürgerliche Familie, S. 48 ff. 9 Dazu F. A. Kittler, Aufschreibesysteme, S. 31 ff. 10 G. Sauder, Empfindsamkeit und Frühromantik, S. 86 f.

226

Entwicklungslogik der Geschichte und Entwicklungslogik der Subjektivität

geschieht in traditionalen Gesellschaften bei Ausbildung einer konventionellen Identität dadurch, daß bereits in der Kindheit diejenigen Handlungsformen erworben und dem Organismus eingebildet werden, in denen das sich bildende Subjekt als Erwachsener sein Leben führen wird. Ihnen entspricht in der Gegenlage eine Welt, deren Interpretationsmuster festliegen und in die die Handlungsformen fest integriert sind. Das sich bildende Subjekt wird deshalb mit den Handlungsformen zugleich auf eine Welt fixiert und intrinsisch verpflichtet. Unter den veränderten Bedingungen, unter denen das bürgerliche Subjekt sich bildet, wird eine Handlungskompetenz erworben, die genau so weit reicht, wie die kleinen Verrichtungen des Alltags es erfordern. Dagegen werden in der entscheidenden Phase des sich bildenden Subjekts: in der frühen Ontogenese gerade diejenigen Lebensformen nicht ausgebildet, in denen es hernach sein Leben führen wird. Es lernt sie kennen – bestenfalls –, aber nur als etwas, das es gibt, das man tun oder auch nicht tun kann. Keine dieser Lebensformen wird als eigene Lebensform ausgebildet, d. h. keine dem Subjekt in der Weise eingebildet, daß man sagen könnte, sie sei Teil des Organismus geworden. Musil, der diese Lebensform wie kein anderer reflektiert hat, hat die Bedeutungslosigkeit, die das schulisch erworbene Wissen für das gewinnt, was wir Welt nennen, an der Biographie Agathes dargestellt. Sie lernte, heißt es von ihr, ohne daß ihr je der Zweck dieser Lernfragen deutlich geworden wäre, und fühlte sich gegen alles Erlernte durch eine tiefe innere Gleichgültigkeit geschützt. » Wenn man ihr sagte, etwas sei nötig oder wahr, so richtete sie sich danach und nahm alles, was man von ihr forderte, willig hin, weil es ihr so am mindesten anstrengend vorkam, und es wäre ihr unsinnig erschienen, etwas gegen feste Einrichtungen zu unternehmen, die mit ihr keinen Zusammenhang hatten und offenbar zu einer Welt gehörten, die nach dem Willen von Vätern und Lehrpersonen aufgebaut war. Sie glaubte aber kein Wort von dem, was sie lernte … «11

Biographien, die sich derart bilden, müssen auf eine Lebensform zusteuern, derzufolge der Mensch sowenig einen Charakter wie eine Welt hat. Die Romantiker waren die ersten, die diesen Prozeß am eigenen Leibe erfuhren und ihn reflektierten. Was Novalis sich als persönlichen Mangel zuschreibt, ist in Wahrheit Ausdruck einer Zeit, in der das Subjekt auf andere Entwicklungsbedingungen trifft, als sie in aller Geschichte vor ihm gegolten haben. Novalis notiert:

11 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Ges. Werke 3, S. 727; eine nähere Erörterung findet sich bei M. Mae, Motivation und Liebe, S. 258 ff.

Der Bildungsprozeß des Subjekts in der Neuzeit 227

» Ich bin zu sehr an der Oberfläche – nicht stilles, innres Leben – Kern – von innen aus einem Mittelpunct herauswirken – sondern an der Oberfläche – im Zickzack – horizontal – unstät und ohne Karacter –. «12

Frauen sind besonders prädestiniert, sich in dieser Grundbefindlichkeit der Romantik vorzufinden. Sie haben in der bürgerlichen Welt kaum je eine Chance gehabt, sich in der Weise wie Männer zu bilden, wurden vielmehr lediglich von sozialen Ordnungen und Normen auf ihre familiale Rolle eingeengt. Wessen Biographie nicht in diese Geleise einrückte, blieb ohne irgendeine Bindung an irgendeine Welt. Eine Anschauung davon vermag man sich an einer Biographie zu verschaffen, die, obgleich blutvolles Leben, wegen ihrer absoluten Bindungslosigkeit an eine Welt geradezu selbst literarisch genannt werden könnte: Ich meine die Biographie der Karoline von Günderode.13 Sozialgeschichtlich sei, so könnte man meinen, diese Entwicklung zu früh datiert. Denn im 18. Jahrhundert ist auf dem Kontinent die industrielle Revolution kaum in Gang gekommen. Die Sozialwelt umgestaltet hat sie noch längst nicht. Der Prozeß läuft im 17. Jahrhundert an, aber noch am Ausgang des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zu jener Zeit also, die uns hier als Romantik vordringlich interessiert, ist es lediglich eine kleine Gruppe von Intellektuellen, die eine strukturell moderne Subjektivität ausgebildet haben. Es wäre jedoch ein unverständiger Soziologismus zu meinen, die Veränderungen des Subjekts direkt den Produktionsformen zurechnen zu müssen. Denn Subjekte bilden sich in der frühen Ontogenese; man muß deshalb auf die Ontogenese und die in ihr liegenden Bedingungen des Bildungsprozesses sehen, um zu verstehen, wodurch letzterer sich zu ändern beginnt. Wenn die industrielle Revolution Tritt gefaßt hat, der Kapitalismus etabliert ist, ist das Subjekt schon ein anderes geworden. Jedenfalls beginnt es viel früher, sich zu ändern. Es ist deshalb für diese Entwicklung auch ohne Belang, ob die ökonomischen Revenuen jener Familien, in denen Kindheit sich in der zuvor erörterten Weise entwickelt, in Grundbesitz, Handelskapital oder Einkünften des Staates bestehen. Das läßt sich an den Biographien der Romantiker ablesen. Novalis entstammt dem alten adligen Gutsherrengeschlecht der Hardenbergs, Wackenroder großbürgerlichen Verhältnissen, die Brüder Schlegel sind protestantisch-bildungsbürgerlicher Herkunft, Tieck stammt aus kleinbürgerlichen Handwerkskreisen. Soziologisch stellt sich die Frage, wodurch jener Effekt der Abkoppelung von der Lebenspraxis, der sich prinzipiell in allen Biographien, die unter den veränderten Bedingungen der Ontogenese begannen, eingestellt haben muß, aufgefan12 Novalis, Schriften, 2, S. 257 (484). 13 Vgl. die Briefe der Karoline von Günderode: Ich schicke Dir ein zärtliches Pfand.

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Entwicklungslogik der Geschichte und Entwicklungslogik der Subjektivität

gen werden konnte. Denn auch wenn man Aufklärung und Romantik eine Breitenwirkung nicht abspricht, jene exaltierten Konsequenzen, wie wir sie bei den Romantikern finden, die das literarische Bild bestimmen, sind, wie gesagt, auf eine Minderheit begrenzt. Der Grund liegt nicht nur darin, daß die Zahl der bürgerlichen Familien im Vergleich zur Gesamtbevölkerung noch begrenzt war; es reicht auch nicht, darauf zu verweisen, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse noch in einer Weise stabil waren, daß die Erwartungen an die nachwachsende Generation, sich in bestimmte bürgerliche Positionen einzufügen, weitgehend erfüllt wurden. Denn die Frage ist ja gerade, warum sie erfüllt wurden und erfüllt werden konnten. Vielmehr ist auf eine Konsequenz hinzuweisen, die sich aus der veränderten Sozialisation selbst ergibt: Die Freisetzung von internalisierten Handlungszwängen läßt eine andere Form von Konventionalität entstehen, als sie je zuvor bestanden hat. Gerade weil das Subjekt ontogenetisch auf kein der Lebenspraxis verbundenes Verhaltenssystem fixiert wird, kann es sich die bürgerlichen Erwerbsformen zu eigen machen und in eine stabilisierte Lebensform überführen. Mit dem Abbau einer verbindlichen Welt, der De-Ontologisierung der Sozialwelt insbesondere, entsteht die Möglichkeit der Ideologie: Jeder denkbaren Welt kann zugesprochen werden, verbindlich zu sein. Konventionalisierungen dieser Provenienz stellen deshalb den Umbruch in der Ausbildung der Subjektivität nicht nur nicht in Frage, sie bestätigen ihn vielmehr. Prinzipiell ist die innere Natur des bürgerlichen Subjekts auf nichts festgelegt und auf nichts verpflichtet. Praktisch läßt sie sich konventionalisieren. Das gelingt in weitem Maße, aber es gelingt nicht allen.

5.2

Weltoffenheit und Weltverlust

Da das neuzeitliche Subjekt Handlungskompetenz erwirbt, ohne irgendeine der Handlungsformen so in sich zu integrieren, daß sie zum Definiens seiner selbst werden, kann es beim Eintritt in die Erwachsenenwelt sich jede der überhaupt möglichen zu eigen machen. Es kann prinzipiell unter jeder Form leben; unter welcher es tatsächlich lebt, hängt von den Bedingungen ab, die es vorfindet und die es dahin oder dorthin führen. Die Ich-Entgrenzung, durch die man das Subjekt des 19. Jahrhunderts bestimmt gesehen hat,14 ist historisch-genetisch gesehen die Absenz einer Ich-Fixierung.

14 K. H. Bohrer, Der romantische Brief, S. 133 ff. 298

Der Bildungsprozeß des Subjekts in der Neuzeit 229

5.2.1 Absenz der Ich-Fixierung Der neuzeitliche Bildungsprozeß des Subjekts führt uns auf die profundeste Bedeutung, die mit dem in der Postmoderne zum Topos gewordenen Begriff des Weltverlustes verbunden ist: Das Subjekt eignet sich die Welt, in der es lebt, gleich wie es sie versteht, nicht wirklich an; es bildet sie seiner inneren Natur nicht ein. Die Welt mag sein, welche sie will, keine wird in der Weise in die eigene Organisation des Subjekts überführt, daß dessen Aktionensystem mit ihr zur Deckung käme. Dazu ist die Welt in der Komplexität und Pluralität möglicher Tätigkeitsformen auch nicht geeignet. Doch das ist nicht das entscheidende Moment für den Weltverlust. Entscheidend ist, daß der Bildungsprozeß des Subjekts selbst gar keine Chance bietet, irgendeine der möglichen Teilwelten in dessen innere Natur einzubilden. Die Welt bindet nicht, das Subjekt ist ihr lediglich unterworfen. Der Absenz der Ich-Fixierung schließt sich die kognitive Bedeutung des Weltverlustes an. Die Irritation, die mit der kognitiven Dimension des Weltverlustes verbunden ist, verstärkt die Durchschlagskraft der Absenz der Ich-Fixierung. Wir können die kognitive Dimension des Weltverlustes, mit der wir im folgenden fortlaufend befaßt sein werden, in zwei Bedeutungssyndromen zusammenfassen: einem Verlust an Materialität und einem Verlust an Sinn. 5.2.2 Die De-Ontologisierung der Welt Bereits der Bildungsprozeß des Subjekts ist ein Prozeß, in dem sich das Subjekt in eine Gegenlage zur Welt bringt. Nur in der Distanz zur Welt läßt sich eine Handlungskompetenz gewinnen. Dabei darf der zur Distanzierung gegenläufige Prozeß nicht übersehen werden: Indem das Subjekt sich eine Welt schafft und sich in ihr einrichtet, bindet es sich auch in sie ein. Das kommt in der Erkenntnislage deutlich zum Ausdruck: Das Subjekt nimmt sich in Distanz zu sich, aber inmitten der von ihm geschaffenen Welt wahr. Historisch ist der Prozeß der Distanzierung an die Steigerung der Organisa­ tionskompetenz gebunden. An der zuvor erörterten Schwelle der neolithischen Revolution dreht sich das Subjekt aus der naturalen Wirklichkeit heraus; es beginnt, auf seinen besonderen Status in der Natur als eines Kulturwesens zu reflektieren. Dieser Prozeß erreicht mit der Neuzeit seine nicht mehr überbietbare Höhenlage. Das Subjekt versteht sich zwar als eingebunden in die Natur, aber so, daß es sich in ihr in eine entschiedene Gegenlage zu ihr gebracht hat. Die Natur wird zu einem Stratum, das es erst in einem konstruktiven Vermögen seines Denkens entstehen läßt. Unter der Vorgabe einer absolutistischen Denkstruktur wird damit das Universum einer Entwurfslogik überantwortet, die es nur noch sein läßt,

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Entwicklungslogik der Geschichte und Entwicklungslogik der Subjektivität

wozu der Mensch es macht. Das ist die eine Bedeutung, die wir mit dem Topos des Weltverlustes verbinden: Das Subjekt kann sich der Wahrheit seiner Konstrukte nicht länger vergewissern. Es tut schließlich darauf Verzicht.15 Die De-Ontologisierung der Welt ist ein erkenntnistheoretisches Theorem, das kaum nachhaltige Bedeutung gewänne, unterläge ihm nicht die zuvor erörterte Absenz der Ich-Fixierung. In der täglichen Lebenspraxis nämlich geht Welt keineswegs verloren. Im Gegenteil ! Die naturwissenschaftliche Revolution hat die Natur in einem bis dahin ungekannten Maße verfügbar werden lassen. Die Umsetzung dieser Verfügbarkeit in die technischen Einrichtungen bestimmt das tägliche Leben in einer Weise, der sich niemand entziehen kann. Man kann noch so sehr betonen, daß es sich in aller naturwissenschaftlichen Erkenntnis um Konstrukte des Menschen handelt, die technische Umsetzung läßt die Annahme, nicht mit der naturalen Wirklichkeit selbst befaßt zu sein, spekulativ werden. Vergleichbares gilt von der Sozialwelt. Auch sie hat sich unter der industriellen Revolu­tion als ein Netzwerk von Abhängigkeiten entwickelt, aus dem sich niemand befreien kann. Die Welt, darum ist es mir zu tun, ist auch in der Gegenwart eine harte Realität, so hart, daß sie uns umzubringen droht. Was also ist wirklich verlorengegangen ? 5.2.3 Der Verlust der Welt als Sinnressource In aller Vergangenheit hat das Subjekt sein Handeln an der vorfindlichen Welt zu bestimmen gewußt. Eben weil es die Welt ontogenetisch in seine innere Natur eingebildet hatte, konnte es sich die Prinzipien seiner Lebensführung von ihr vorgeben lassen. Die Entpflichtung von der vorfindlichen Welt läßt die Sinnbestimmung der Lebensführung ins Leere laufen. Das Subjekt wird mit jedem Versuch auf sich zurückgeworfen, ohne daß irgend ersichtlich wäre, wie es von sich aus zu einer Sinnbestimmung und durch sie zu einer Fixierung der Lebensführung kommen könnte. Eben deshalb entbrennt die Diskussion um eine Begründung der Ethik. Ethiken sind immer an einer akzeptierten Welt gebildet und auf Prinzipien abgezogen worden. Wenn die vorfindliche Welt ihre verpflichtende Kraft verliert, verliert sie auch die Ethik. Daß jemand Prinzipien haben könne, scheint der Günderode ganz unglaublich.16 Für das romantische Subjekt gilt, was wir zuvor festgestellt haben: Es weiß sich der vorfindlichen Welt nicht verpflichtet, sich ihr vielmehr lediglich unterworfen. Das hat im Gegenzug dazu geführt, oberhalb der existierenden Realität Phantasiewelten zu bilden, in denen ein von der existie15 R. Rorty, The World Well Lost, S. 649 ff. 16 Brief vom 1. August 1803 an C. F. v. Savigny; Briefe, S. 104.

Sinn und Sinnverlust in der Neuzeit. Die Sinnressource Leben 231

renden Welt entpflichtetes Subjekt sich ergehen kann. Auch die medialen Welten, denen sich die Postmoderne verschreibt,17 sind Überbauten, die ebensowenig zu verpflichten vermögen wie die planen vorfindlichen Welten, die sie vergessen machen sollen. Der Verlust der Welt als eines vorgegebenen Stratums, das der Lebensführung Maßstäbe setzte und in das sich einzuordnen sittliche Pflicht wäre, ist die an­ dere Bedeutung, die mit dem Topos des Weltverlustes verbunden ist. Sie wiegt ungleich schwerer als die zuvor erörterte erkenntnistheoretische Bedeutung. Denn sie schlägt auf die Lebenspraxis des Subjekts zurück. Mit dem Verlust der Welt ist nämlich nicht nur die Welt selbst als Sinnressource verlorengegangen, das Subjekt ist vielmehr von der einzigen Sinnressource abgekoppelt worden, die ihm überhaupt zur Verfügung steht: der Sinnressource Leben. Darin liegt eine äußerste Bedrohung seines Daseins. Wenn Leben im ausgehenden 18. und beginnenden 19.  Jahrhundert zur Fundamentalkategorie des Daseins wird, so zum einen deshalb, weil jeder Anhalt für dessen Begründung an der Welt verlorengeht. Das Subjekt wird auf seine letzte Bastion zurückgedrängt. Zum andern aber auch deshalb, weil Leben selbst als Sinnressource bedroht ist. Seine Entdeckung als Funda­ mentalkategorie ist zugleich seine Beschwörung. Wir müssen den Prozeß ge­nauer erörtern.

6

Sinn und Sinnverlust in der Neuzeit. Die Sinnressource Leben

In der an die naturwissenschaftliche Revolution anschließenden industriellen und politischen Revolution wird die gesellschaftliche Organisation ihrer Struktur nach verändert. Der Vorgang, durch den der Umbruch geschieht, hat eine historische Dimension, die in den klassenmäßigen Umschichtungen der Bevölkerung nicht hinreichend zum Ausdruck kommt, eher schon in dem treibenden Mechanismus der neuen sozialen Organisation: der Kapitalakkumulation. Denn die Kapitalakkumulation als Treibsatz der industriellen Revolution revolutioniert mit der Ökonomie das Verhältnis von Subjekt und Welt. Sie löst die Produktion aus den makroorganischen Prozessen der Natur heraus und läßt Sozialwelten entstehen, deren innere Organisation von den Rhythmen naturaler Prozesse abgekoppelt ist. Natur wird als Referent der Gesellschaft eliminiert, die Gesellschaft totalisiert. So einfach und durchsichtig sich der Vorgang ausnimmt, seine Dimension rührt an die Grundstruktur der anthropologischen Verfassung. Das kommt am deutlichsten darin zum Ausdruck, daß Sinn zu flottieren beginnt. Inwiefern ? 17 Vgl. N. Bolz, Eine kurze Geschichte des Scheins, S. 95 ff.

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Entwicklungslogik der Geschichte und Entwicklungslogik der Subjektivität

Anthropologisch, darauf habe ich oben schon hingewiesen, ist der Mensch eine Organisationsform des Lebens, die wie jede andere in die Natur eingeordnet ist. Eine Geschichte lang hat der Mensch seine Daseinsform in der Weise bestimmt, daß er sie zwar kulturell gestaltete, aber derart, daß die Natur in ihren makroorga­ nischen Prozessen Referent blieb. Die kulturelle Organisationsform substituierte die fehlende naturale. Exakt diese, ihrer Struktur nach natur­geschichtlich vorgegebene Organisationsform wird mit der industriellen Revolution preisgegeben. Mit der industriellen Revolution überschreitet der Mensch den Rubikon; er läßt seine naturale Einbettung als Lebensform in der gesellschaftlichen Organisation definitiv zurück. Das hat für das Sinnverständnis eine ebenso einfache wie weitreichende Veränderung zur Folge. In aller Vergangenheit wurde die Sinnhaftigkeit der menschlichen Lebensführung aus der Ressource Leben gespeist. Die tätigen Daseinsformen konnten, auch wenn sie erst kulturell geschaffen waren, als die dem Menschen zugehörigen Daseinsformen verstanden werden, mit denen er sich der Natur einordnete und eben dadurch sein Leben gestaltete. Daß es daneben zweckfreie, von der Daseinsvorsorge entlastete Tätigkeitsformen gab: Spiel, Kunst, ließ sich problemlos der kulturellen Daseinsform des Menschen zuschreiben. Mit der industriellen Revolution lösen sich die produktiven und für die Lebensführung dominanten Tätigkeiten von der unmittelbaren Bindung an die organische Form des Lebens ab. Die Warenproduktion mag noch so nützlich und in einer sich entwickelnden Gesellschaft noch so notwendig sein, die unmittelbare Anbindung an den organischen Tatbestand Leben ist verlorengegangen. Was gebraucht wird, was nötig ist, bestimmt sich aus der Organisationseinheit Gesellschaft. Das aber heißt, daß der Sinnbestimmung der Tätigkeitsformen die in sich sinnfreie Ressource Leben abhanden gekommen ist. Das Handeln, die Produktion vor allem, bestimmt sich fortan an der erst selbst über sinnhaftes Handeln geschaffenen Organisation der Gesellschaft. Der Prozeß der Sinnbestimmung wird zirkulär: Was zu tun ist, bestimmt sich an der Organisationsform der Gesellschaft; das Resultat stellt neue Anforderungen; und so fort. Das meint: Die Gesellschaft wird total. Der Körper wird damit als Posten aus der Sinnhaftigkeit des Daseins überhaupt ausgeschieden. Das Paradoxon, daß sich aus der sinnfreien Zone des Lebens bestimmt, was sinnvoll ist, wird aufgelöst. Und wonach bestimmt sich jetzt, was Sinn und sinnvoll heißt ? Sinn, so wird die formelhafte Bestimmung des 19. Jahrhunderts lauten, gilt um seiner selbst willen; Sinn wird m. a. W. autonomisiert. Die Weiterung ist offensichtlich: Alles Handeln ist sinnhaft; jede Zielsetzung läßt sich deshalb als Sinn fixieren. Das muß ganz unumgänglich zu einer Hypertrophie von Sinn führen, in der » Sinn « jede qualitative Rückbindung an das Leben verliert.18 Es gibt unter der Geltung dieser 18 Vgl. W. van Reijen, Das unrettbare Ich, S. 380.

Sinn und Sinnverlust in der Neuzeit. Die Sinnressource Leben 233

Formel keine Möglichkeit, Sinn von Sinn zu unterscheiden. Die Formel hat ihren prägnanten Ausdruck im Wertbegriff gefunden. Wert ist, was um seiner selbst willen als sinnvoll gilt. Mit dieser Bestimmung bricht das Sinnproblem in seiner ganzen Schärfe auf. Ersichtlich leidet unsere Zeit nicht am Sinnverlust, sondern an der Autonomisierung von Sinn. Die Feststellung ist geeignet, eine geschichtsphilosophische Vorstellung zu erodieren, die sich an den Verlust der Metaphysik heftet. Gemeinhin herrscht die Vorstellung, das Subjekt unserer Zeit leide unter dem Sinnverlust, weil der » Weltsinn « abhanden gekommen sei. Diese Vorstellung bedarf der Korrektur. In aller Vergangenheit wurde die elementare Sinnbestimmung des Daseins durch die Rückkoppelung der Lebensführung an die (für uns) sinnfreie Körperlichkeit des Menschen sichergestellt. Die Sinnressource war Leben. Das habe ich oben dargetan. Was Sinnverlust meint, wird zuvörderst dadurch bestimmt, daß die tägliche Lebensführung von dieser Sinnressource abgekoppelt ist. Die Sinnhaftigkeit des Lebens war allerdings interpretativ durchsetzt von einem Weltverständnis, demzufolge die Welt in sich sinnhaft organisiert, weil von sinnhaft handelnden Mächten bestimmt war. Ihren Abschluß fand eine derart in sich sinnhaft organisierte Welt in einem Absoluten, das als Ursprung resp. Schöpfer alle Sinnhaftigkeit auf sich zog. Religion und Metaphysik segneten den Ist-Bestand der Welt ab. Diese Möglichkeit, die Welt in ihrer inneren Organisation einer über Sinn vermittelten Prozessualität zuzuschreiben, ist in der Neuzeit entfallen. Mit der naturwissenschaftlichen Revolution ist die Natur jeder Geistigkeit und damit jeder Sinnhaftigkeit nach Art menschlichen Handelns entsetzt. In einem Weltbild, in dem die kulturelle Organisationsform des Daseins als Anschlußorganisation an eine Naturgeschichte verstanden wird, ist damit auch die Möglichkeit entfallen, die vorfindliche Welt absolutistisch einzuholen. Dazu eignen sich deren gegenwärtige Organisationsformen ohnehin nicht. Es ist offenkundig, daß sie keine wesens­ mäßigen Bezüge zum Menschen haben. Sie lassen sich ihm deshalb auch nicht länger als Schöpfungsordnung andienen. In einem Weltbild, demzufolge das Universum jeder Sinnhaftigkeit nach Art menschlichen Handelns entsetzt ist, in dem sich Sinn vielmehr lediglich noch als eine Organisationsform des Handelns darstellt, wird die Formel von dem Sinn um seiner selbst willen zur Camouflage; sie erweckt den Anschein, soll ihn bei Kulturkritikern auch erwecken, als lebe der Mensch in autonomen Sinnwelten, deren jede Geltung für sich verlange. In Wahrheit ist Sinn immer nur, wozu sich der Mensch in seinem Handeln bestimmt.

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7

Entwicklungslogik der Geschichte und Entwicklungslogik der Subjektivität

Das Subjekt unter dem kategorischen Konjunktiv

Dem neuzeitlichen Prozeß, in dem der Mensch sich von der naturgeschichtlichen Vorgabe, die Natur als Referenten seiner Daseinsform anzusehen, abkoppelt, läßt sich eine anthropologische Dimension abgewinnen. Selten, so kann man meinen, ist das Subjekt seiner anthropologischen Verfassung in der soziologischen Dimension seines Daseins so nahegekommen. Eine Geschichte lang hat es seine unter den Lebewesen einzigartige Autonomie dazu benutzt, um sich in den sozialen Daseinsformen inmitten der Natur wieder festzustellen. Den Freiraum, den die Natur seiner Daseinsform gelassen hat, hat es ausgefüllt, um alsbald von sich aus die Brücke zwischen der Natur seines Organismus und der Außenwelt, also zwischen Natur und Natur, zu schlagen. Die Neuzeit, so die Apotheose der Autonomie des Menschen, läßt eine Organisationsform entstehen, in der der offene Horizont des Möglichen erhalten bleibt und genutzt wird. Hinkünftig läßt sich jedes überhaupt denkbare Ziel als Sinn des Handelns ausgeben und zur Maxime aufwerten. Die Formel vom Sinn um seiner selbst willen erweist sich demnach als der Gewinn einer grenzenlosen Autonomie. Tatsächlich ist der Befund einer derart aufs Bodenlose gestellten Autonomie des Menschen in eben dieser Weise verstanden worden. Plessner hat die anthropologische Verfassung dahin ausgelegt, daß der Mensch konstitutionell auf den kategorischen Konjunktiv festgelegt sei.19 Vor ihm hat Musil den gleichen Befund als die Verfassung zumindest des neuzeitlichen Subjekts reflektiert. Musil bestimmt sie als Möglichkeitsform resp. Möglichkeitssinn. Wenn, so die Überlegung des Mannes ohne Eigenschaften, wenn es einen Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, was man den Möglichkeitssinn nennen kann. Dieser Möglichkeitssinn hat etwas Göttliches, so sehr, daß, wie Musil fortfährt, » wahrscheinlich auch Gott von seiner Welt am liebsten im Conjunctivus potentialis spreche (hic dixerit quispiam = hier könnte einer einwenden …), denn Gott macht die Welt und denkt dabei, es könnte ebensogut anders sein. «20 Ersichtlich stellt sich der Conjunctivus potentialis als eine grandiose Option auf eine Lebensform dar, die dem Menschen unbegrenzte Möglichkeiten offeriert, die einzige, von der man meinen kann, sie sei seiner anthropologischen Verfassung gemäß, sich immer erst zu dem zu machen, der er sein wolle. Bei näherem Zusehen allerdings stellen sich Schwierigkeiten ein. Denn wenn der kategorische Konjunktiv, nicht anders als zuvor der imperiale Indikativ, absolut gesetzt wird, gibt es keinen Weg, um aus dem Conjunctivus potentialis herauszukommen und eine praktische Lebensform zu bestimmen. Das zeigt sich ein erstes Mal in der Romantik, in der 19 H. Plessner, Der kategorische Konjunktiv, Gesammelte Schriften, Bd. VIII, S. 338 ff. 20 R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Ges. Werke, Bd. 1, S. 19.

Das Subjekt unter dem kategorischen Konjunktiv 235

das Subjekt, aus dem empirischen Dasein herausgerissen und in seinem Selbstverständnis an die Absolutheit Gottes verwiesen, ganz und gar hypothetisch-konjunktivisch zu leben sucht; es sieht sich gezwungen, in der absoluten Negativität der Ironie zu verharren.21 Mit der Unentschiedenheit der Möglichkeitsform und der Unmöglichkeit, anzugeben, wie aus ihr heraus eine Wirklichkeit gefunden werden kann, könnte man gleichwohl leben. Man könnte sich irgendwann für irgendeine entscheiden, auch wenn es keine rationalen Gründe gäbe, gerade diese und keine andere zu wählen. Tatsächlich stellt sich jedoch die Möglichkeitsform lediglich als eine Refle­ xionsform des Daseins dar, über dessen reale Verfassung längst entschieden ist. Das mit der industriellen Gesellschaft installierte Organisationsnetz kennt zwar Spielräume des Verhaltens, das ist der Grund, der Soziologen meinen läßt, das Subjekt sei immer freier, sein Dasein zunehmend gestaltbarer geworden,22 was jedoch an Möglichkeiten auf‌fi ndbar ist, sind lediglich systemische Varianten von Kaufentscheidungen. Und die sind von der Bedeutungsebene der Subjektivität abgekoppelt. Die Sozialwelt ist derart organisiert, daß sie ohne Bedeutung ist; sie ist ein selbstreferentielles System, dessen einzige Zielvorgabe ihr eigener Funktionswert darstellt. Selbst als Simulacrum läßt sie sich nur verstehen, wenn man die Möglichkeit einer authentischen Lebensform für den Menschen offenhält.23 Die Auswege, von denen man gemeint hat, sie dem Menschen eröffnen zu können, bestätigen nur die Ausweglosigkeit. So hat A. Gehlen postuliert, es gehöre zum menschlichen Dasein, sich von den Institutionen konsumieren zu lassen.24 Das Postulat ist aberwitzig. Denn es macht ja gerade die Lebenslage des Menschen der Gegenwart aus, daß diese Möglichkeit entfallen ist. Der Organismus verleibt sich die bestehenden Organisationsformen gerade nicht ein, um sie als seine Subjektivität auszubilden. Dazu besteht gar keine Chance. Nicht besser steht es mit der Vorstellung einer postmodernen Philosophie, die meint, das Verlangen nach einer sinnhaften Zielvorgabe der Lebensführung werde durch die medialen Welten aufgefangen. Dabei werden zwei verschiedene Vorstellungen mitgeführt. Die eine hat einen realen Kern: Die Bezugseinheit für Sinn ist der Körper. Dessen Erlebnisfähigkeit soll gesteigert werden. In einer Welt, deren Aktivitätspotential systemisch über Kaufentscheidungen reduziert ist, wird jedoch Sinn im Erlebnis eliminiert. Eben deshalb wird der Körper in seiner Erlebnisfähigkeit auf die Stimulation der Nerven reduziert; sie werden bloßgelegt – the inside is out.25 Die an21 Vgl. S. Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, Werke, 31. Abt., S. 290. 22 G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft, S. 54 ff., passim. 23 J. Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod. 24 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur, S. 8, 89, passim. 25 N. Bolz, Theorie der neuen Medien, S. 37 ff.

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Entwicklungslogik der Geschichte und Entwicklungslogik der Subjektivität

dere Vorstellung sucht das Sinnverlangen in illusionären medialen Welten aufzufangen.26 Die jedoch sind so bedeutungslos wie die realen Organisationsformen des Daseins, die Fabriken, Kaufhäuser, Verkehrslinien. Eben deshalb postuliert die postmoderne Philosophie, das Subjekt sei untergegangen. Wäre es so, wären wir das Problem los. Wir sind unserer Untersuchung vorausgeeilt; denn die reicht lediglich bis zur Romantik. Der perspektivische Vorgriff war gleichwohl notwendig, um zu erfassen, in welcher Weise sich das Subjekt in der Neuzeit mit der sich ändernden Welt selber verändert. Dabei gilt es sich der oben erörterten systematischen Strategie der historisch-genetischen Rekonstruktion zu erinnern: Das neuzeitliche Subjekt wird zum einen durch die veränderte gesellschaftliche Organisation bestimmt. Unter den veränderten Bedingungen seines Sozialisationsprozesses wird es realiter ein anderes. Es wird zum andern durch die Selbstreflexion bestimmt, vermöge derer es sich in einer veränderten Welt als ein anderes zu begreifen sucht. In der Reflexion des Subjekts auf sich bringt sich jene andere Bedingung zur Geltung, die für dessen Verständnis Bedeutung gewinnt: Jede Reflexion ist an die Logik und durch sie an die kognitiven Strukturen der Zeit gebunden, in der sie erfolgt. Die Logik ist aber selbst einem Prozeß historischen Wandels unterworfen. Die Reflexion des Subjekts auf sich selbst findet sich deshalb mit einem Selbst befaßt, das sich erst in den Denkvorgaben der Logik als das herstellt, als was es sich zeigt. In ihnen findet sie ihr wirkliches a priori. Es liegt auf der Hand, daß die Vorgabe einer Logik, die sich selbst in einem historischen Prozeß des Wandels befindet, das Verständnis des Entwicklungsprozesses des Subjekts in der Neuzeit ungemein erschwert. Denn die Konsequenz ist, daß wir nicht nur mit dem sich ändernden Subjekt selbst befaßt sind, sondern ebensosehr mit einer sich ihrerseits ändernden Logik, in der es sich darstellt. Es ist diese Doppellagigkeit des Problems, die wir am Ausgang des 18. und Beginn des 19. Jahrhunderts vorfinden. Die Romantik insbesondere ist zuinnerst verstrickt in den neuzeitlichen Transformationsprozeß der Logik und ihrer argumentativen Struktur. Die Struktur, in der die romantische Philosophie Welt und Subjekt zu denken sucht, ist ihr mit der philosophischen Reflexion überkommen und unschwer zu identifizieren: Sie ist die aus der frühen Handlungslogik herausgeführte absolutistische Logik. Unter dem neuzeitlichen Bewußtsein der Konvergenz der Welt auf das erkennende Subjekt läßt sie die Welt als Entwurf des Subjekts begreifen. Darauf habe ich schon hingewiesen. In grandioser Konsequenz hat dieser an die absolutistische Logik gebundene Weltentwurf in der kritischen Philosophie Fichtes Gestalt gewonnen. Die Romantik hält daran fest, läßt es aber dabei nicht bewenden. Das Bewußtsein, der ontologischen Dimension der Welt verlustig zu 26 N. Bolz, Eine kurze Geschichte des Scheins, S. 95 ff.

Das Subjekt unter dem kategorischen Konjunktiv 237

gehen, ist ihr unerträglich. Eben deshalb sucht sie erneut von einem absolut Absoluten des Universums her zu denken. Wir, die wir über das Denken von einem Absoluten her hinaus sind, sind nach allem bei der Erörterung der Romantik mit einem Gegenstand befaßt, der sich für uns in zwei Perspektiven darstellt: Zum einen sind wir mit dem Verständnis von Subjekt und Welt befaßt, wie es sich unserem eigenen Verständnis nach in der Neuzeit entwickelt hat – eine etische Perspektive; zum anderen mit der kognitiven Struktur, in der sich für die Romantik dieses Verhältnis darstellt – eine emische Perspektive. Erst nach dieser Erörterung können wir daran denken zu bestimmen, was romantische Liebe heißt. Denn es versteht sich: Auch die romantische Liebe wird von dieser Doppellage bestimmt.

Kapitel 2 Das neuzeitliche Selbstbewußtsein

1

Steigerung der Reflexivität

Bereits die ontogenetische Entwicklung der Subjektivität geht mit einer Ausbildung der Reflexivität einher. Die Reflexivität macht das bestimmende Strukturmoment der Subjektivität aus. Der Organismus gerät dadurch, daß er Erfahrungen verarbeiten lernt, in eine doppelte Distanz: zur Welt und zu sich. Mit der Welt und dem Handlungsfeld nimmt er sich in seinen Lebensbezügen und seinem Handeln in ihr wahr. Inmitten der Welt ist es ihm möglich, über die Reflexivität seiner Motorik hinaus sich selbst thematisch zu machen. Der ontogenetische Bildungsprozeß der Reflexivität des Bewußtseins in der Entfaltung zum Selbstbewußtsein bestimmt zugleich das Verfahren, über das sich dieses Bewußtsein in der Geschichte fortsetzt. Denn die Geschichte ist, wie wir gesehen haben, darin Gattungsgeschichte, daß der Mensch die Entwicklung der Handlungskompetenz und, daran gebunden, den Organisationsprozeß von Welt fortsetzt. Er baut die Handlungskompetenz dadurch weiter aus, daß er sich eine zunehmend größere Verfügungsmacht über die Natur und über die Sozialwelt zu verschaffen weiß. Da der Gewinn an Organisationskompetenz zugleich der Bildungsprozeß des Selbstbewußtseins ist, steigert der Mensch mit der Organisa­ tionskompetenz zugleich auch das Bewußtsein seiner selbst. Was Steigerung des Selbstbewußtseins meint, ergibt sich aus dem Prozeß, aus dem sie hervorgeht: Der Mensch wird seiner Organisationsmacht inne. Das aber heißt zunächst: Er wird seiner kulturellen Lebensform inne. Er erfährt sich als jemand, der in seinen Lebensformen aus der Natur herausgesetzt ist. Dieses Bewußtsein tritt zum ersten Mal in den frühen Hochkulturen auf.1 Als Bewußtsein der Autonomie steht es in einem höchst bedeutsamen Gegensatz zu der noch 1 Vgl. G. Dux, Liebe und Tod im Gilgamesch-Epos.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_14

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Das neuzeitliche Selbstbewußtsein

mächtigen mythischen Vereinnahmung des Menschen. Die Steigerung des Selbstbewußtseins ist mithin die Konsequenz der Steigerung der Organisationsmacht über die Welt. Es ist dieser doppelte Prozeß, der seither nie mehr zum Stillstand gekommen ist. In der Neuzeit erwirbt der Mensch ein Wissen von sich selbst, das keine Zeit vor ihm besessen hat, es macht das eigentlich Revolutionäre des mit ihr entstehenden Weltbildes aus: Der Mensch wird seiner Geschichte als Gattungsgeschichte inne. In ihrer Rekonstruktion holt er sich selbst ein. Hegel hatte recht, wenn er die Entwicklung des Selbstbewußtseins in der Reflexivität des Geistes in der Neuzeit zu Ende kommen ließ. Ein » Mehr « an Selbsterkenntnis ist nicht denkbar, seit der Mensch seinem eigenen Bildungsprozeß in der Geschichte auf die Spur gekommen ist.2 Nur schrieb Hegel diesen geistesgeschichtlichen Prozeß dem Weltgeist zu, der als Substanz und Subjekt in einem gedacht werden sollte. Die Subjektivität des Absoluten ließ die Geschichte zu einem teleologischen Prozeß werden. Wir verfahren anders. Wir halten den Prozeß an eine empirische Geistigkeit des Menschen gebunden, die kein hintergründiges Absolutes kennt. Was sich an Geistigkeit des Menschen bildet, bildet sich im Prozeß des Gewinns an Handlungs- und Organisationskompetenz aus. Dieser Prozeß bestimmt dadurch die Bewegung in der Geschichte, daß jede einmal geschaffene Formation die Bedingung darstellt, die es dem Menschen ermöglicht, über sie hinauszugehen. Die Geschichte bewegt sich nicht teleologisch, auf ein Ziel hin, sondern prozeßlogisch über Strukturen.3

2

Das Bewußtsein der Konvergenz

Die Steigerung der Selbstreflexivität begründet infolge der Organisationsmacht, die der Mensch am Beginn der Neuzeit durch die drei Revolutionen gewinnt, ein grundlegend verändertes Verständnis von Subjekt und Welt. Jede der drei Revolutionen, die naturwissenschaftliche, die industrielle und die politische, muß dem Menschen das Bewußtsein aufzwingen, daß Welt immer nur das ist, was er für sich als Welt entstehen läßt. Das gilt für das Verständnis der Natur, über die er sich in den für ihn spezifischen Formen der Erkenntnis Gesetzeswissen verschafft; es gilt ebenfalls für die Sozialwelt, die allererst als Gebilde seiner Schöpfungsmacht entsteht und ohne substantielles naturales Substrat ist. Die Welt des Men2 Vgl. G. W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, sowie R. K. Maurer, Das Ende der Geschichte in der Philosophie Hegels. 3 In eben dieser Weise ist die Geschichtstheorie Marx’ zu lesen. Das verkennt K. Löwith, Weltgeschichte als Heilsgeschehen.

Das Bewußtsein der Konvergenz 241

schen konvergiert auf den Menschen; das ist der überragende Befund, von dem das Selbstbewußtsein des neuzeitlichen Menschen bestimmt wird. Er bringt sich in der Erkenntnistheorie ebenso zum Ausdruck wie in der Ökonomie und in der Politik. Die Freisetzung der Interessen, mit der in der Französischen Revolution die Maxime kapitalistischen Wirtschaftens in die Programmatik bürgerlicher Politik umgesetzt wird, läßt nicht nur den kapitalistischen Interessen freien Lauf, sie schreibt das Bewußtsein der Konvergenz der Mehrheit der Bevölkerung auf den Leib. Menschen machen die Verhältnisse, aber sie machen sie nicht frei, sondern unter gegebenen Bedingungen;4 und auf die kommt es an.

2.1

Der Absolutismus der Selbstwahrnehmung

Das Bewußtsein, mit dem die Lebenslage des neuzeitlichen Menschen thematisch wird, folgt den Verhältnissen nach. Die letzteren ändern sich schneller als die Strukturen der Kognition, in denen sie sich reflexiv darstellen. Eine Ge­schichte lang wurde die Grundstruktur der Kognition von der pristinen Handlungslogik bestimmt. Sie setzte sich in der Ebene der Reflexion, in der eine schon organisierte Welt thematisch wird, in der Philosophie also, in die absolutistische Ursprungslogik um. Was ist, ist letzten Endes Emanation eines Absoluten, von dem es herkommt, aus dem es deshalb auch abgeleitet werden muß. Diese Logik hält sich in der frühen Neuzeit durch und bestimmt das reflexive Bewußtsein der Zeit. Auch das Bewußtsein der Konvergenz wird deshalb in dem Sinn verstanden, daß fortan die Welt in einem Absoluten menschlicher Geistigkeit ihren Ursprung findet. Wenn mit der Aufklärung immer wieder die Vorstellung verbunden wird, der Mensch setze sich an die Stelle Gottes, so liegt der Grund für diesen Eindruck in der Dauer der absolutistischen Logik als Ursprungslogik. Dieser Situation: einem über die absolutistische Ursprungslogik ein­geholten Bewußtsein der Konvergenz, verdankt sich die transzendentale Erkenntnistheorie. Kant bindet die Erkenntnisformen an eine apriorische Subjektivität, die auf den endlichen empirischen Menschen konvergiert und doch in einer Geistigkeit gründet, die jeder Geistigkeit des empirischen Subjekts vorwegliegt. Ri­goros durch­geführt ist, darauf habe ich schon hingewiesen, der Transzendentalismus des Weltverständnisses bei Fichte. Wir müssen schon deshalb näher auf ihn eingehen, weil die Romantik an ihn anschließt. Wichtiger noch ist, daß sich in der philosophischen Reflexion Fichtes die Aporien im Weltverständnis zeigen, die sich durch den Umbruch der Logik von einer absolutistischen Logik zu einer relatio-

4

K. Marx, Der achtzehnte Brumaire, MEW 8, 115.

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Das neuzeitliche Selbstbewußtsein

nalen Prozeßlogik ergeben haben. Mit diesen Aporien ist die Romantik befaßt. Sie ist nicht einfach eine geistesgeschichtliche Epoche, die aus unerklärlichen Gründen sich ebenso gegen die Aufklärung wendet, wie sie die Aufklärung fortsetzt. Die Romantik artikuliert die Umbruchsituation des neuzeitlichen Subjekts. Eben deshalb kann der Eindruck entstehen, sie nehme in vielfacher Hinsicht die Gegenwart vorweg. Es ist unmöglich, Fichte im gegenwärtigen Zusammenhang so darzustellen, daß der Subtilität seiner Gedanken und ihrer Entwicklung während seines Lebens auch nur annähernd Rechnung getragen werden könnte. Darum ist es mir auch nicht zu tun. Worum es mir geht, ist einzig dies: die Aporien aufzuzeigen, die sich auftun, wenn die Welt in der Neuzeit weiter über eine absolutistische Logik verstanden wird.

3

Die Aporien des Transzendentalismus in der Philosophie Fichtes

3.1

Die Vorgabe der Konvergenz in der absolutistischen Logik

Wie für jedwede Transzendentalphilosophie ist auch für Fichte die Konvergenz der Welt resp. des Wissens auf das Subjekt eine Vorgabe, auf die als solche nicht mehr reflektiert wird. Sie wird als evident vorausgesetzt und bestätigt sich dann in einer Argumentation, die ihre eigenen Prämissen zu Bewußtsein bringt. Gewiß, man kann fragen, wer und was das Subjekt ist, auf das die Welt konvergiert. Philosophisch wird diese Antwort einige Schwierigkeiten bereiten. Für uns, die wir die Geistesgeschichte strukturlogisch betrachten, kann die Antwort nicht zweifelhaft sein: Es ist das empirische Ich. Und wenn Fichte die Wissenschaftslehre mit der Aufforderung an das Subjekt beginnt, dieses oder jenes zu denken: A = A oder eine Grenzlinie, die einen Winkel einschließt, so ist unmittelbarer Adressat der Aufforderung, seiner selbst in seinem Tun inne zu werden, auch für Fichte das empirische Ich des Philosophen. Dabei verbleibt es allerdings nicht. Das Subjekt, das sich schließlich als der schlechthinnige Grund des Wissens erweist, ist das absolute Subjekt, gleichwohl ist dieses Subjekt eines, das sich einzig durch das Empirische Ausdruck verschafft. Auszugehen ist deshalb im Verständnis des Bewußtseins der Konvergenz der Welt auf das Subjekt allemal vom empirischen Subjekt. Unter dem Bewußtsein dieser Konvergenz stellt sich alles Wissen von der Welt als ein durch das Ich hervorgebrachtes Wissen dar. Und das Subjekt selbst ? Für es gilt, was in aller Vergangenheit für das Absolute als Subjekt gegolten hat: Es ist das, das sich durch sich selbst schafft, oder, wie Fichte sagt: sich selber setzt. Genauer: Das Subjekt ist das, das sich als setzend setzt und in allem Denken mitsetzt. Ohne

Die Aporien des Transzendentalismus in der Philosophie Fichtes 243

dieses sich mitsetzende Subjekt wäre gar kein Denken möglich.5 Was in der Wissenschaftslehre als Theorie des Wissens entwickelt werden soll, ist so sehr an das Subjekt gebunden, daß es von dieser Theorie heißt: » Der Strenge nach hat man sie nicht, sondern man ist sie und keiner hat sie eher, bis er selbst zu ihr geworden ist. «6 Halten wir einen Augenblick inne, um das Selbstverständliche so selbstverständlich nicht sein zu lassen, wie es sich darstellt. Denn zum einen muß man ein Bewußtsein dafür behalten, wie revolutionär dieses neuzeitlich gewonnene Denken war. Um das wahrzunehmen, braucht man lediglich die Vorstellung einer Vergangenheit zu berufen, derzufolge Wissen vom Gegenstand herrührte, gleichsam dessen Tätigkeit darstellte und leidend vom Subjekt erfahren wurde.7 Nach der kopernikanischen Wende gilt dagegen, daß die Frage, wie ein Gegenstand des Wissens, ein Objektives, zu einem Subjektiven komme, sich, mit Fichte zu reden, nur noch aus dem Punkt der Ichheit erklären läßt.8 Zum anderen verschafft uns die Feststellung, daß die philosophische Reflexion wie selbstverständlich vom Bewußtsein der Konvergenz der Welt auf das Subjekt ausgeht, eine Einsicht in den Gang der Geistesgeschichte und des Subjekts in ihr. Denn mit ihr bestätigt sich, was wir oben als das bestimmende Geschehen in ihr bezeichnet haben: Der Mensch setzt den Erwerbsprozeß des Wissens von der Welt fort. Er gewinnt dabei weiteres Wissen und verändert zugleich seine Positionalität in der Welt. Er gewinnt ein Bewußtsein seiner selbst, das ihn als Konstrukteur eben dieser Welt ausweist. Die Philosophie hat in diesem Prozeß in einem buchstäblichen Sinn das Nachsehen: Als Reflexion der Welt und des Subjekts in ihr erscheint sie erst, wenn deren Bildungsprozeß sich schon vollendet hat. Sie bringt zu Bewußtsein, wie Welt und Subjekt auf dem Grunde des neuerworbenen Wissens im Gesamt der Welt zu verstehen sind. Dabei allerdings läßt sie sich von einer Vorgabe bestimmen, die sie nicht erst dem Wissen der Zeit entnimmt, vielmehr schon mitbringt: von der Vorgabe der Logik. Woher die Logik stammt, mit der die Philosophie der frühen Neuzeit die mit letzterer heraufgeführte Welt zu begreifen sucht, habe ich schon gezeigt: Sie ist die pristine Logik, die in jeder Ontogenese neu ausgebildet wird und sich durch die Geschichte hin strukturell erhalten hat, wenn sie auch in ihrem Verlauf im Wege einer zunehmend auf sie reflektierenden Abstraktion formalisiert worden ist. Ihrer Genese nach entstammt sie der Handlungslogik. Und so wie in der Handlung 5 6 7 8

J. G. Fichte, Versuch einer neueren Darstellung der Wissenschaftslehre (1797), Werke 1, S. 520 ff. (528). J. G. Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre (1801), Werke 11, S. 10. In klassischer Reinheit findet sich diese Anschauung bei den Vorsokratikern; vgl. meine Studie zu Parmenides, in: G. Dux, Die Zeit in der Geschichte, S. 286 ff. J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre, Werke IV, S. 1.

244

Das neuzeitliche Selbstbewußtsein

das Geschehen vom Anfang zum Ziel hin fortschreitet, und umgekehrt das Ziel in dem Handlungsentwurf seinen Grund und Anfang hat, so wird jedwedes Denken auf dem Grunde dieser Logik von der Vorstellung bestimmt, was geschehe, geschehe in der Weise, daß es von einem Grund zur Folge fortschreite. Etwas begründen heißt ihr deshalb, von dem, was es zu begründen gilt, dem Bewirkten, zum Grunde zurückzugehen, um es von ihm aus als Bewirktes entstehen zu lassen.9 Der Grund aber ist, wenn auf ihn in der Linearität der Logik nur entschieden genug reflektiert wird, immer » letzter Grund «. Und der letzte Grund ? Ich habe die Antwort bei der Bestimmung des Absoluten schon genannt. Worauf es im gegenwärtigen Zusammenhang ankommt, ist, gewahr zu werden, daß sich darin erneut die Logik in ihrer Genese als Handlungslogik zur Geltung bringt: Der letzte Grund ist seinerseits auf die Spitze einer Handlung gestellt. Er ist der, der sich durch sich selbst bewirkt. Grund ist letzten Endes sich aus sich selbst bestimmende Tätigkeit. In dieser Weise hat die Logik in aller hinter uns liegenden Geschichte ihre Selbstexplikation erfahren. Und in eben dieser Weise wird sie auf dem Niveau einer weit fortgeschrittenen auf sie reflektierenden Abstraktion auch bei Fichte gefaßt. Das Ich als der Ursprung allen Wissens ist in der transzendentalen Philosophie so absolut, wie je ein Ursprung absolut war. Auch ist seine Genese aus der Handlungslogik offenkundig. Am Grunde seiner selbst liegt die sich zu sich selbst bestimmende Handlung. Fichte schreibt in der » Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre «: » Also das Setzen des Ich durch sich selbst ist die reine Thätigkeit desselben. – Das Ich setzt sich selbst, und es ist, vermöge dieses blossen Setzens durch sich selbst; und umgekehrt: Das Ich ist und es setzt sein Seyn, vermöge seines blossen Seyns. – Es ist zugleich das Handelnde, und das Product der Handlung; das Thätige, und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird … «10

Wie sehr diese Bestimmung Ausdruck einer Logik ist, die vorgegeben wird, zeigt sich daran, daß Fichte bei Gelegenheit ausdrücklich darauf verweist, daß der zuvor entwickelte Satz zwar entwickelt, aber nicht erwiesen werden könne. » Es wird jedem vernünftigen Wesen angemuthet, sich selbst so zu finden und an­ zunehmen. «11

9 Präzise: J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre, Werke IV, S. 64. 10 J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 96. Zum Absoluten als Tathandlung bei Fichte vgl. W. Janke, Fichte, S. 69 ff. 11 J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre, Werke IV, S. 50.

Die Aporien des Transzendentalismus in der Philosophie Fichtes 245

Merken wir an dieser Stelle an, daß die Struktur der Logik, i. e. von einem Absoluten her zu denken und alles übrige aus ihm ableiten zu wollen, noch ganz unangefochten ist. Nicht länger unangefochten ist aber, womit der Anfang im Absoluten zu machen sei, mit dem Geist oder der Materie. Fichte hält zwar das Denken vom Vorrang der Natur für ewig unausführbar, weil sich aus ihr das Ich nicht ableiten lasse,12 eine Begründung dafür, daß man mit dem Ich anfangen müsse, läßt sich jedoch nicht geben. Insofern tritt an die Stelle dessen, was eine Geschichte lang selbstverständlich war, daß nämlich der Geist am Anfang stehe, der Glaube an ihn.13

3.2

Das absolute und das empirische Ich

Wie verhält sich das als absolut verstandene Ich zu dem empirischen, das auch für Fichte an den Körper und die Individualität jedes einzelnen gebunden ist ? Eines läßt sich mit Sicherheit feststellen: Es ist bestimmt kein anderes, nicht eines, das von ihm losgelöst eine separate Existenz hätte. Wie sehr Fichte nach der Seite des Empirischen das Ich daran gebunden hält, mag man daran ersehen, daß er ausdrücklich erklärt, daß ein anderes Ich als das, das wir als Naturwesen kennen, für ihn nicht existiere.14 Wie das absolute dem empirischen Ich verbunden ist, läßt sich letztlich nur aus der Logik verstehen, mit der das Absolute gedacht wird. Das absolute Ich ist das, das durch das empirische und besondere jedes einzelnen hindurch gedacht werden muß. Es ist das ursprüngliche in ihm, das sich in die Besonderheit der einzelnen Ich geteilt hat und von dem sich das empirische Ich in seinem Handeln bestimmen läßt – oder auch nicht. Es kann als absolutes nur als allgemeines gedacht werden, als allgemeine Vernunft. Denkt man es mit dem einzelnen Ich zusammen, erscheint es für das letztere deshalb als Repräsentant der absoluten Vernunft. Entscheidend für das Verständnis des Verhältnisses zwischen dem absoluten und dem empirischen Ich ist mithin, das empirische Ich an das absolute Ich resp. die absolute Vernunft gebunden zu sehen. Was überhaupt zu einem Vernunftwesen gehört, erklärt Fichte, » ist notwendig ganz und ohne Mangel in jedem vernünftigen Individuum, ausserdem wäre dasselbe nicht vernünftig «.15 Gleichwohl sind beide nicht ohne weiteres identisch. Das absolute Subjekt muß sich erst im empirischen in der Zeit realisieren; darauf beruhen alle Anforderungen des Sittengesetzes. Das Ich soll, wie Fichte sagt, » als empirisches Zeitwesen 12 13 14 15

J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 26. J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre, Werke IV, S. 26. J. G. Fichte, ebd., S. 132. J. G. Fichte, ebd., S. 177 f.

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Das neuzeitliche Selbstbewußtsein

ein genauer Abdruck des ursprünglichen Ich werden «.16 Fichte hält beide, das absolute und das empirische Ich, derart in Engführung, daß er sie im Grund- resp. Urtriebe vereinigt sieht, von dem er sagt, daß er das Wesen des Subjekts konstituiere.17 Die Vereinigung ist so problemlos nicht, wie Fichte sie darstellt und darzustellen genötigt ist. Sie enthält eine Aporie, die sich schließlich als Grund­ aporie des Transzendentalismus erweist. Wir sehen uns deshalb das Verhältnis ge­ nauer an. Was als Natur des Subjekts zu verstehen ist, bestimmt Fichte zunächst vom Standpunkt des gemeinen Bewußtseins.18 – Das ist ohnehin das Verfahren der Wahl. Das transzendentale Prinzip ist gleichsam vor die Klammer gesetzt. Man muß allemal hinzudenken: So stellt es sich für uns in der philosophischen Reflexion dar. – So betrachtet erweist sich die Natur des Subjekts als geschlossenes organisches System. Fichte beschreibt es in einer Weise, die auch heute noch Gültigkeit beanspruchen kann: » Ich finde mich selbst als organisirtes Naturproduct. Aber in einem solchen besteht das Wesen der Theile in einem Triebe, bestimmte andere Theile in der Vereinigung mit sich zu erhalten; welcher Trieb, dem Ganzen beigemessen, der Trieb der Selbsterhaltung heisst. Denn da das Wesen des Ganzen nichts anderes ist, als ein Vereinigen gewisser Theile mit sich selbst, so ist die Selbsterhaltung nichts anderes, als die Erhaltung dieses Vereinigens. «19

Diesem organischen Substrat der Natur schreibt Fichte » absolutes Seyn « zu.20 Er versieht es ausdrücklich mit der Auszeichnung des Absoluten, nämlich: sich selbst bestimmend zu sein.21 In der Tat ! Abgeleitet werden kann es von dem anderen Absoluten: dem Subjekt in seiner Geistigkeit nicht. Von dem Absoluten des Universums konnte man sagen, es sei Subjekt und Substanz in einem; alle Materialität konnte man von ihm herkommend denken. Das Absolute in der an das mensch­ liche Subjekt gebundenen Geistigkeit hat gerade nicht den ontologischen Status einer allumfassenden materialen Wirklichkeit. Wir haben also den Gegensatz zweier Absoluta:

16 17 18 19 20 21

J. G. Fichte, ebd., S. 178. J. G. Fichte, ebd., S. 130. J. G. Fichte, ebd., S. 110. J. G. Fichte, ebd., S. 122. J. G. Fichte, ebd., S. 112. J. G. Fichte, ebd., S. 112, 113.

Die Aporien des Transzendentalismus in der Philosophie Fichtes 247

» Aber die Natur, als solche, ist durch Gegensatz mit der Freiheit charakterisiert: dadurch, dass alles Seyn der letzteren aus einem Denken, alles Seyn der ersteren aber selbst aus einem absoluten Seyn hervorgegangen sein soll. «22

Aus dem Wesen der Freiheit nun folgt, daß zwischen beiden ein Verhältnis der Über- und Unterordnung besteht. Die Freiheit des Ich wäre nicht denkbar, wenn sie nicht der Natur, deren Triebhaftigkeit auf Genuß geht, übergeordnet wäre. » Diesem Triebe nach blossem Genusse überhaupt nachzugeben, oder nicht, steht in der Gewalt der Freiheit. Jede Befriedigung des Triebes, inwiefern sie mit Bewusstseyn geschieht, geschieht nothwendig mit Freiheit; und der Leib ist so eingerichtet, daß durch ihn mit Freiheit gewirkt werden könne. «23

Mit der Überordnung der Freiheit über die Natur – » Ein Entschluss, und ich bin über sie erhaben. «24 – scheint das Verhältnis zwischen dem absoluten und dem empirischen Ich geklärt. Nicht ganz ! Denn die Frage ist, wie sich dieses Verhältnis vom Standpunkt des transzendentalen Bewußtseins aus ausnimmt. Die Frage scheint nicht schwierig zu beantworten; transzendental wird die ganze Natur aus dem Ich abgeleitet.25 Fichte wirft die Frage denn auch nur auf, um sie umgehend identitätslogisch zu beantworten: » Mein Trieb als Naturwesen, meine Tendenz als reiner Geist, sind es zwei verschiedene Triebe ? Nein, beides ist vom transcendentalen Gesichtspuncte aus ein und eben derselbe Urtrieb, der mein Wesen constituirt: nur wird er angesehen von zwei verschiedenen Seiten. Nemlich: Ich bin Subject-Object, und in der Identität und Unzertrennlichkeit beider besteht mein wahres Seyn. «26

So verständlich sich der Satz ausnimmt, er enthält eine abgründige Problematik. Die allerdings erschließt sich nur strukturlogisch in der genetischen Rekonstruktion. Den Transzendentalismus hindert nicht, die Welt zu denken, wie sie sich auf dem fortgeschrittensten Stande des Bewußtseins der Zeit darstellt. Wir haben oben gesehen, daß Fichte die systemische Geschlossenheit des Organismus und das darin implizierte Moment der Selbsterhaltung aufnimmt, die Materie in ih22 23 24 25 26

J. G. Fichte, ebd., S. 112. J. G. Fichte, ebd., S. 130. J. G. Fichte, ebd., S. 142. J. G. Fichte, ebd., S. 120. J. G. Fichte, ebd., S. 130.

248

Das neuzeitliche Selbstbewußtsein

rer Eigenständigkeit gegen das Denken gar » aus einem absoluten Seyn hervorgehen « läßt.27 Transzendental muß lediglich hinzugedacht werden: So eben stellt es sich in der Bestimmung des Ich dar. Sobald aber diese Gegensätzlichkeit gedacht ist, stellt sich der transzendentalen Reflexion ein Problem: Wenn Natur sich als nichts denn als Entwurf des Ich darstellt, das selbst Denken ist, über die Qualität der Außenwelt also nichts gesagt werden kann und gesagt wird, was nicht aus dem Ich kommt und also doch bloßes Denken des Ich verbleibt, kann dann das, was als Natur resp. Naturtrieb erscheint, etwas anderes sein als Denken ? Prinzipiell nicht ! Denn das Gedachte ist identitätslogisch mit dem Denken, aus dem es hervorgeht, verbunden, eben deshalb notwendig Stoff von seinem Stoff. Die Identitätslogik ist immer auch eine Substanzlogik. Zwei wirklich unterschiedene Triebe kann es deshalb nicht geben. Das ist der Grund, der Fichte in der transzendentallogischen Reflexion die Unterscheidung zurücknehmen läßt. Sie ist nur eine der Perspektive, die Grenzscheidung zwischen beiden die Reflexion. Fichte fährt deshalb fort: » Lediglich auf der Wechselwirkung dieser beiden Triebe, welche eigentlich nur die Wechselwirkung eines und desselben Triebes mit sich selbst ist, beruhen alle Phänomene des Ich. «28

Wir können uns der Unmöglichkeit, die Natur als ein Anderes im Vergleich zum Denken zu begreifen, noch auf eine einfachere Weise vergewissern. Wäre Natur, als was sie Fichte selbst dargestellt hat: ein Absolutes, so müßte sich ein Absolutes einem anderen Absoluten einverleiben lassen. Das ist undenkbar. Der Cartesische Dualismus, gleich zwei absolute Substanzen denken zu müssen, läßt sich nur in Gott aufheben, nicht aber im Ich des » Ich denke «. Die transzendentale Rückführung des Dualismus von Natur und Geist in die Einheit des Ich ist aber gleich dilemmatisch. Denn wenn man die Natur in der ihr eigenen Triebhaftigkeit transzendentallogisch deshalb in das Ich zurückführt, weil sie ja als eine vom Ich selbst hervorgebrachte Natur nicht wirklich anders sein kann, dann nimmt man der Natur gerade jene auszeichnenden Momente, die sich gegen das Denken abheben und sie auch in einer idealistischen Philosophie als dessen Widersacher erscheinen lassen: Daß Natur auf Genuß geht, vollends, daß der Trieb etwas zum Gegenstand haben kann, was gegen die Pflicht geht,29 läßt sich in einer Theorie, die in dem Sinn eine genetische Theorie sein will, daß sie, was immer sich in der Anschauung als Wirklichkeit zeigt, aus der transzendentalen Vorgabe des Absoluten ableitet, nicht unterbringen. Nun hat Fichte in der Wis27 J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre, Werke IV, S. 112. 28 J. G. Fichte, ebd., S. 130. 29 So explizit J. G. Fichte, ebd., S. 207.

Die Aporien des Transzendentalismus in der Philosophie Fichtes 249

senschaftslehre erklärt, man müsse das Setzen des Nicht-Ich rein als Faktum im Bewußtsein nehmen, ohne es a priori erklären zu können.30 Das gilt jedoch lediglich für das Faktum, daß überhaupt ein Nicht-Ich sich im Bewußtsein findet, nicht aber für die Bestimmung, als was es sich findet. Identitätslogisch muß gelten, daß das Ich nicht denken kann, was es selbst nicht ist. Es ist m. a. W. unmöglich, aus dem Ich des » Ich denke « anderes mit anderen Qualitäten abzuleiten, als sie dem Denken selbst eigen sind. Der Grund, weshalb ich das Verhältnis des absoluten und des empirischen Ich in dieser Ausführlichkeit erörtert habe, ist unschwer zu erkennen: Fichtes Philosophie ist darin Realismus zu attestieren, daß er die Außenwelt real setzt. Wir werden alsbald erörtern, daß er das Ich in seiner Tätigkeit von einem Anstoß durch die Außenwelt abhängig sein läßt. Nur sucht er deren Bestimmung ganz in das Ich zu überführen. Es zeigt sich jedoch, daß auch dieses Quantum Realismus in einem absolut gesetzten Ich nicht unterzubringen ist. Denn noch einmal: Identitätslogisch muß gelten, daß das Ich nicht denken kann, was es nicht selber ist. Das aber heißt – für uns, auf dem Stand der Erkenntnis unserer Tage –, daß sich der Transzendentalismus Fichtes gegen dessen Logik kehrt. Wir werden sehen, welche Konsequenzen der Widerspruch für die Romantik zeitigt. Zunächst verfolgen wir die Problematik weiter, indem wir das Verhältnis von Subjekt und Welt näher zu bestimmen suchen.

3.3

Subjekt und Welt

3.3.1 Innen und Außen Das Denken von einem absoluten Ich her läßt die Welt sich nicht nur im Bewußtsein des Menschen darstellen, das ist ganz unabdingbar, sie läßt sie vielmehr auch einzig durch das Bewußtsein bestimmt sein. » Das Ich setzt sich als bestimmend das Nicht-Ich «, das ist der Hauptsatz aller praktischen Wis­senschaftslehre.31 Die Wissenschaftslehre besteht in der Anstrengung, das Wie und das Was zu bestimmen, denen zufolge das Ich es fertigbringt, das Nicht-Ich zu installieren. In der theoretischen Wissenschaftslehre gelingt es jedoch nicht, das Nicht-Ich als bloße Setzung des Ich zu erweisen und ihm damit seine Selbständigkeit zu nehmen. In der praktischen Wissenschaftslehre durchschlägt Fichte den Knoten und macht eine nach all den anstrengenden Mühen, die Absolutheit des Ich zu erwei-

30 J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 252. 31 J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 248.

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Das neuzeitliche Selbstbewußtsein

sen, atemberaubende Konzession an den Realismus, indem er umgekehrt das Ich von einer äußeren Realität abhängig sein läßt. Er erklärt: » … ohne ein solches erstes bewegendes (!) ausser ihm würde es nie gehandelt, und, da seine Existenz bloss im Handeln besteht, auch nicht existirt haben. «32

Halten wir inne, um zu bedenken, wie außerordentlich die Konzession ist, die Fichte hier an den Realismus macht. Denn wenn zuvor nachdrücklich vom Ich als Absolutem gesagt wurde, daß es Tätigkeit sei, so wird damit jene Vorstellung des Absoluten verbunden, die das Denken immer damit verbunden hatte: Es bestimmt sich aus sich selbst zu sich selbst. Daß Fichte zuvor auf das Ich jene Formel angewandt hat, die man durch alle Geschichte für Gott als das Absolute finden kann, habe ich schon erwähnt: Es ist » das Thätige und das, was durch die Thätigkeit hervorgebracht wird. «33 In der Akzeptanz einer Realität außer dem Ich, die notwendig ist, um das Ich in Bewegung zu setzen und zum Handeln zu bestimmen, wird, streng genommen, das Absolute des Ich, gerade soweit es selbstschöpferische Tätigkeit ist, vernichtet. Die Aporie ist wie die vorige für unser gegenwärtiges Erkenntnisinteresse deshalb von überragender Bedeutung, weil sich in ihr zeigt, daß das Bewußtsein der Konvergenz, so unabdingbar es auch ist, das Ich nicht absolut setzen darf, wenn es nicht der Welt verlustig gehen will. Aus einem absolut gesetzten Ich läßt sich die Welt als das andere des Geistes weder ableiten, noch läßt sie sich sonst in ihm unterbringen. Mehr noch: Der Gang der Wissenschaftslehre macht deutlich, daß Fichte zu dieser Fassung des Realismus geradezu genötigt wurde. Bei Lichte besehen besteht die abgenötigte Einsicht darin, von jenem » Etwas ausser dem Ich « auszugehen und daran die konstruktive Tätigkeit des Ich erst anzuschließen. Mit Fichte selbst zu reden: » Das Ich ist danach abhängig, seinem Daseyn nach … «34 Wie mundan sich dieses Ich erweist, ergibt sich daraus, daß ein Ich, das von außen zu seiner Tätigkeit, also zu seiner Existenz erst bestimmt wird, von dieser Außenwelt umfaßt sein muß. Nur in der Welt vermag es seinem demiurgischen Vermögen nachzukommen, diese Welt erst konstruktiv entstehen zu lassen. Diese Konsequenz lag für Fichte nicht im Horizont dessen, was für ihn zu denken möglich war. Denn damit wäre die Logik eines Denkens vom Vorrang des absoluten Geistes auf die Logik eines Denkens vom Vorrang der Natur umgestellt worden.

32 J. G. Fichte, ebd., S. 279. 33 J. G. Fichte, ebd., S. 96. 34 J. G. Fichte, ebd., S. 279.

Die Aporien des Transzendentalismus in der Philosophie Fichtes 251

3.3.2 Das Bewußtsein der Konstruktivität Das Bewußtsein der Konvergenz geht mit dem Bewußtsein der Konstruktivität zusammen. Der transzendentale Idealismus Fichtes ist die erste konstruktive Erkenntnistheorie. Es ist ein Konstruktivismus, der unter der Vorgabe der absolutistischen Logik selbst absolutistisch wird. Genaugenommen liegt das Absolute im Konstruktiven des Ich. Für jeden Konstruktivismus stellt sich die Frage, nach welchen Maximen sich die Konstruktivität bestimmt. Fichte erklärt mit Blick auf den von außen kommenden Anstoß, durch ihn werde in das Ich » nichts fremdartiges hineingetragen; alles was je bis in die Unendlichkeit hinaus in ihm sich entwickelt, entwickelt sich lediglich aus ihm selbst nach seinen eigenen Gesetzen. «35

Der Grund dafür, daß die Welt für uns ist, was sie ist, liegt deshalb ausschließlich in dem Vermögen des Ich, sie nach den in ihm selbst liegenden Gesetzen zu bestimmen. Wenn man dem Ich zuschreibt, die Welt in ihrem Sosein nach inneren Gesetzen zu bestimmen – nota bene: ohne in dieser Bestimmung durch die Außenwelt selbst in irgendeiner Weise mitbestimmt zu werden, stellt sich eine Frage, deren Beantwortung durch Fichte sich bereits auf dem Stand der historischen Entwicklung seiner Zeit in Widerspruch zur unabweisbaren Erfahrung setzen mußte. Woher rührt denn, daß wir die Dinge gerade so auffassen, wie wir sie auffassen ? Die Frage verschärft sich mit Rücksicht auf die praktische Tätigkeit: Warum müssen wir gerade jene Mittel wählen, um zum Ziele des Handelns zu kommen, die wir kennen ? Denn es versteht sich: Wenn wir auf dem Standpunkt des gemeinen Bewußtseins auf die Natur der Objekte und die Gesetze der Natur verweisen, so ist diese Verweisung vom transzendentalen Standpunkt nicht möglich. Fichte führt die schon angeführten inneren Gesetze des Ich ins Feld und erklärt, die ob­jektive Welt und alles Handeln in eine objektive Welt hinein stelle sich zufolge dieser immanenten Gesetze des eigenen Wesens des Ich als » auf alle Ewigkeit hinaus für uns prästabilirt dar «. » Dieses bestimmte Vernunftwesen ist nun einmal so eingerichtet, dass es sich ge­ rade so beschränken muss; und diese Einrichtung lässt sich darum, weil sie unsere ur-

35 J. G. Fichte, ebd., S. 279.

252

Das neuzeitliche Selbstbewußtsein

sprüngliche Begrenzung ausmachen soll, über die wir durch unser Handeln nicht, mithin auch durch unser Erkennen nicht hinausgehen können, nicht weiter erklären. «36

Das darüber hinausgehende Problem, wie man sich diese Art Handeln in einer Welt, die nicht nur im Bewußtsein, sondern real außer uns besteht, vorstellen könne, hat er keiner weiteren Erwähnung für wert gehalten. Denn darüber wäre ja unter der Ägide dieser Logik in der Tat nur etwas auszusagen, wenn man über die Dinge, die sich in ihr als » Dinge an sich « darstellen, etwas auszusagen wüßte. Der schon angemerkte Widerspruch auf dem Stande des Bewußtseins der Zeit ist aus dem, was wir über die historische Entwicklung und den Bildungsprozeß des Subjekts dargelegt haben, unschwer zu bestimmen: Die Annahme eines prästabilierten Ich ist einzig unter der Bedingung einer Welt möglich, in der die Organisationsformen des Handelns gleichermaßen stabil sind wie die Organisationsformen der Welt, in die hineingehandelt wird. Das aber ist nicht länger der Fall. Auch wenn die industrielle Revolution noch nicht zum Durchbruch gekommen ist, die naturwissenschaftliche Revolution hat deutlich gemacht, daß sich die kategorialen Formen des Weltverstehens grundlegend geändert haben. Es bedurfte nicht mehr als einer Verlängerung der Blickrichtung: nämlich vom Subjekt hin auf dessen Welt, um gewahr zu werden, daß es diese eine Wirklichkeit für die Sub­jekte, die dem Bildungsprozeß der Neuzeit ausgesetzt sind, nicht mehr gibt. Die Romantiker haben denn auch mit der einen, ein für allemal bestimmten Welt nichts anzufangen gewußt. Mehr noch: Sie haben, wie wir sehen werden, eigens eine Methode entwickelt, um den sich bildenden Anschein einer definitiven Welt in der Ironie zu zerstören. Der gleiche Widerspruch bildet sich in Hinsicht der Sozialwelt aus. 3.3.3 Die prästabilierte Sozialwelt Das Bewußtsein der Konvergenz, von dem die Philosophie Fichtes bestimmt wird, konnte sich deshalb so unbedenklich der absolutistischen Logik verschreiben, weil diese Logik ihrer Genese nach eine Handlungslogik ist. Das Denken der Neuzeit, das die Handlungsmächtigkeit des Subjekts auf den Schild hob, vermochte deshalb letztere ohne Schwierigkeit der Logik zu integrieren. Das gilt insbesondere von dem Bewußtsein der Konvergenz der Welt auf das Subjekt. Es gehört zur Totalität dieser Logik, daß sie auch das Subjekt selbst erfaßt. Auch es wird deshalb jenem höchst signifikanten Modus der Erklärung in dieser Logik unterworfen, den wir oben schon kennengelernt haben: Das Denken geht vom Vorfindli36 J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre, Werke IV, S. 101.

Die Aporien des Transzendentalismus in der Philosophie Fichtes 253

chen aus, legt es im Ursprung nieder, um es hernach aus ihm herausgeführt zu sehen. Was immer sich deshalb in der Realität zeigt, und das heißt für das Subjekt, was immer es als Realität entstehen läßt, ist in seiner Substanz festgelegt. Eben deshalb stellt Fichte fest: » In alle Ewigkeit ist alle meine Existenz und alle meine Erfahrung nichts weiter als eine Analyse derselben. «37

Da alles, was überhaupt im Handeln möglich ist, im Urtrieb angelegt ist, kann Fichte auch umstandslos konstatieren, kein Mensch in der Welt könne anders handeln, als er handele, ob er gleich vielleicht schlecht handele, da er nun einmal dieser Mensch sei.38 Daß Fichte diese Prädestination gleichwohl mit der Freiheit zusammen zu denken vermag, liegt daran, daß er das Handeln zwar der Möglichkeit nach festgelegt sein läßt – nichts, was nicht zu ihm gehört, ist möglich –, welche Handlung das Subjekt wählt, ist damit jedoch noch nicht bestimmt, insbesondere ist damit nicht bestimmt, ob es unter den ihm möglichen Entscheidungen in der Situation die richtige, das heißt dem Sittengesetz entsprechende trifft. Trifft es sie nicht, läßt sich wiederum sagen, es habe gar nicht anders handeln können, als es tat. Denn wer nicht unter der Bestimmung der absoluten Freiheit handelt, folgt dem Naturtriebe; er handelt, soweit es mit Bewußtsein geschieht, wie ein verständiges Tier.39 » Es ist sonach ganz richtig, wenn man urtheilt: in dieser Lage, d. h. bei dieser Denkart und Charakter, konnte der Mensch schlechthin nicht anders handeln, als er gehandelt hat. Es würde aber unrichtig seyn, wenn man hierbei mit seinem Urtheile stehen bleiben und behaupten wollte, er könne auch keinen anderen Charakter haben, als er habe. Er soll schlechthin sich einen anderen bilden, wenn sein gegenwärtiger nichts taugt, und er kann es; denn dies hängt schlechthin ab von seiner Freiheit. «40

Handelt er unter der Bedingung der Freiheit, kann er wiederum nicht anders handeln, als er handelt. Die einzige Frage ist deshalb, wann Handeln für ihn ein Akt der Freiheit ist; und darauf läßt sich keine Antwort finden. Denn einen Akt der Freiheit begreifen wollen, ist ein Widerspruch in sich. Wenn er sich begreifen ließe, wäre er nicht frei.41 37 38 39 40 41

J. G. Fichte, ebd., S. 207. J. G. Fichte, ebd., S. 228. J. G. Fichte, ebd., S. 180. J. G. Fichte, ebd., S. 181. J. G. Fichte, ebd., S. 182.

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Das neuzeitliche Selbstbewußtsein

Für das, was sittlich geboten ist, glaubt Fichte dem Subjekt einen ab­soluten Maßstab zur Verfügung stellen zu können. Er bindet das absolute Gebot der Selbsttätigkeit an die theoretische Vernunft zurück. Daraus entsteht ein faszinierender Rigorismus: Jeder wird darauf verpflichtet, sein Handeln nach selbstgesetz­ten Maximen der Lebensführung zu bestimmen. Richter über Gut und Böse, Recht und Unrecht ist allein das durch die Erkenntnis geläuterte Gewissen des Ich. Das Gewissen ist dessen Apotheose; es kann durch kein anderes Bewußtsein geprüft und berichtigt werden, auch durch kein göttliches; es ist selbst Richter aller Überzeugung, ohne irgendeinen Richter über sich anzuerkennen: » Es entscheidet in der letzten Instanz und ist inappellabel. Ueber dasselbe hinausgehen wollen, heisst aus sich selbst herausgehen, sich von sich selbst trennen wollen. Alle materialen Moralsysteme, d. h. die noch einen Zweck der Pflicht ausser der Pflicht selbst suchen, gehen darüber hinaus und sind in dem Grundirrthum alles Dogmatismus verstrickt, welcher den letzten Grund alles dessen, was im Ich und für das Ich ist, ausser dem Ich aufsucht. «42

Die rigoroseste Formulierung findet Fichte, wenn er erklärt, » dass das Sittengesetz gar nicht so etwas ist, welches ohne alles Zuthun in uns sey, sondern dass es erst durch uns selbst gemacht wird. «43

Angesichts eines derartigen Rigorismus kommt alles darauf an, in welcher Weise sich das Gewissen das Urteil aus der theoretischen Einsicht verschafft. Insoweit nun entwickelt Fichte Vorstellungen, mit denen er neuzeitliche Erfahrungen auf dem Boden traditionaler Weltgegebenheit zu bewältigen sucht. Was jeweils geschuldet ist, soll aus der Einsicht in die Welt gewonnen werden. Dort, wo das praktische Dasein des Menschen mit der Welt in Einklang gebracht wird, ist das Gewissen zu fixieren. Und das geschieht, wenn jedes Ding nach seinem Endzweck behandelt wird. Fichtes Philosophie bindet die Welt an das praktische Handeln des Menschen. Was die Objektwelt ist, bestimmt sich danach, was sie für unser praktisches Handeln sein kann. Ihre Zwecke sind unsere Zwecke. Sich in Einklang mit der Welt setzen, heißt deshalb nichts anderes, als die Welt nach ihrem Zwecke für uns zu bestimmen. Auf diese Weise wird der Endzweck der Welt der Endzweck unseres Seins.44 Wir folgen deshalb dem Endzweck unseres Seins, wenn wir so handeln, wie es den Zwecken der Objektwelt entspricht. So sollen wir handeln. 42 J. G. Fichte, ebd., S. 174. 43 J. G. Fichte, ebd., S. 192. 44 J. G. Fichte, ebd., S. 171 ff.

Die Aporien des Transzendentalismus in der Philosophie Fichtes 255

Der Widerspruch in dieser Bestimmung der neuzeitlichen Welt ist nicht zu übersehen. Das gilt zum einen für das Verständnis der Natur. Sie ist in der Neuzeit aller Geistigkeit und aller Moralität entsetzt. So hat auch Fichte sie in ihrer systemischen Selbstgenügsamkeit verstanden.45 In der transzendentalen Wahrnehmung, der Unterwerfung unter das konstruktive Vermögen des Ich nach Zwecken, wird die Natur jedoch erneut der Organisation nach Zwecken unterworfen. Wir erhalten schon hier, erklärt Fichte: » die Idee von einer Herrschaft des Sittengesetzes in der von uns unabhängigen Natur und eine Zweckmäßigkeit der letzteren für das erstere. «46

Als Natur und Ordnung der Natur wird man nicht nur die Natur im physikalischen Sinne, sondern zuvörderst auch die Sozialwelt verstehen. In der Philosophie ist in aller Vergangenheit zwischen der physikalischen Natur und der Sozialwelt nicht unterschieden worden, jedenfalls nicht systematisch. Dazu besteht unter einer absolutistischen Logik beim Denken vom Vorrang des Geistes auch kein Anlaß. Zur Natur zählt auch die Sozialwelt. Die Bindung des moralischen Urteils an die Zweckbestimmung der Welt gilt deshalb auch für die Institutionen der Sozialwelt, für sie in erster Linie. Das aber setzt voraus, daß sich unser Handeln mit jenen Institutionen in einem prästabilierten Verhältnis befindet, das es erlaubt, letztere zum Maßstab unseres Sollens zu nehmen. Davon ist Fichte ausgegangen. » Das Sittengesetz, auf den empirischen Menschen bezogen, hat einen bestimmten Anfangspunct eines Gebiets: die bestimmte Beschränkung, in welcher das Individuum sich findet, indem es zuerst sich selbst findet; es hat ein bestimmtes, wie wohl nie zu erreichendes Ziel: absolute Befreiung von aller Beschränkung; und einen völlig bestimmten Weg, durch den es uns führt: die Ordnung der Natur. «47

Wie sehr Fichte von einer prästabilierten Harmonie zwischen der Stellung des Subjekts und der Natur, die Sozialwelt eingeschlossen, ausgegangen ist, zeigt sich bei der Überlegung, wie jeder einzelne sich des Sittengesetzes mit absoluter Sicherheit vergewissern könne, obwohl jeder sich in besonderen Verhältnissen befinde. Fichte erklärt: durch das unmittelbare Gefühl der Harmonie zwischen dem empirischen und dem ursprünglichen Ich. Das ursprüngliche Ich aber ist über alle Zeit und Veränderung in der Zeit erhaben.48 45 46 47 48

J. G. Fichte, ebd., S. 122. J. G. Fichte, ebd., S. 277. J. G. Fichte, ebd., S. 166. J. G. Fichte, ebd., S. 169.

256

Das neuzeitliche Selbstbewußtsein

Räumen wir ein, daß die Welt am Ausgang des 18. Jahrhunderts diese Vorstellung noch nähren konnte. Begonnen hatte der Prozeß ihrer umstürzenden Änderung allemal, und den romantischen Subjekten war die Einlösung der Annahme einer prästabilierten Harmonie bereits unmöglich geworden. Fichte wird von der Vorstellung einer in alle Ewigkeit durch das Sittengesetz austarierten Sozialwelt auch bei der Konzeptualisierung von Freiheit und Gleichheit bestimmt. 3.3.4 Freiheit und Gleichheit Das absolute Gebot der Selbsttätigkeit verlangt mit der gleichen Absolutheit den Respekt vor der Selbsttätigkeit des anderen. Denn ohne mindestens einen anderen anzunehmen, der als gleich verstanden wird, läßt sich das Sollen gar nicht denken.49 Das daraus entstehende Problem, wie die Freiheit des einen mit der des anderen zu vereinen sei, löst Fichte wiederum auf die nun schon bekannte Art: Es sind alle freien Handlungen von Ewigkeit her durch die Vernunft prädestiniert. In die unendliche Mannigfaltigkeit der Vernunft teilen sich die Individuen. Die Ordnung der Sozialwelt ist in Harmonie ebenso mit der Vernunft wie mit den einzelnen.50 Um trotz der in alle Ewigkeit prästabilierten Ordnung die absolute Freiheit der Entscheidung des einzelnen nicht aufgehoben zu sehen, entwickelt Fichte eine rabulistische Argumentation: Zwar, so seine Überlegung, ist jeder einzelne durch die freien Handlungen der anderen begrenzt; und diese Begrenzung liegt a priori fest, allein, von wem diese begrenzenden Einflüsse ausgehen, wer sie realisiert, ist nicht schon festgelegt. Auf diese Weise sucht Fichte jedem einzelnen die Freiheit der Wahl zu sichern und damit auch das Postulat aufrechtzuerhalten, gemäß dieser Freiheit handeln zu können.51 Ich erspare mir, die Argumentation auf ihre innere Schlüssigkeit zu untersuchen. Denn worum es mir zu tun ist, ist etwas anderes: um den Widerspruch zwischen Logik und Welt. Die absolutistische Logik gibt Vernunft vor, ohne sie weiter begründen zu können und weiter begründen zu wollen. Da diese Vernunft a) eine allgemeine und b) an das Subjekt gebunden ist, kann man daraus dadurch eine ideale Ordnung entstehen lassen, daß sich die einzelnen in diese Vernunft teilen. Für diese ideale Ordnung gilt, was Fichte den freien Handlungen der einzelnen zuschreibt: 49 Ich lasse das Problem der Herleitung der Intersubjektivität bei Fichte völlig außer Betracht. Im System der Sittenlehre ist das Kuriosum, daß die Begründung der Intersubjektivität in Wahrheit das gegenteilige Prinzip: den Solipsismus zur Grundlage hat. Vgl. J. G. Fichte, ebd., S. 221. 50 J. G. Fichte, ebd., S. 228. 51 J. G. Fichte, ebd., S. 226 f.

Die Aporien des Transzendentalismus in der Philosophie Fichtes 257

» … es sind alle freien Handlungen von Ewigkeit her, d. i. ausser aller Zeit durch die Vernunft prädestinirt, und jedes freie Individuum ist in Rücksicht der Wahrnehmung mit diesen Handlungen in Harmonie gesetzt. «52

In aller Vergangenheit ließ sich diese ideale Ordnung als die Grundstruktur der tatsächlichen Ordnung ausgeben. Der logische Absolutismus geht, ich habe darauf hingewiesen, vom Vorfindlichen der Welt aus und nimmt es in den absoluten Ursprung zurück. Auch für Fichte ist die Sicherheit des moralischen Urteils nur dadurch zu gewinnen, daß es sich an der Welt bildet. Erinnern wir uns: » Das Sittengesetz … hat … einen völlig bestimmten Weg, durch den es uns führt: die Ordnung der Natur. «53

Als Exempel der Bindung an die vorfindliche Ordnung kann uns dienen, daß Fichte in der eigentlichen Pflichtenlehre54 es als moralische Pflicht darstellt, die Gesellschaft in Stände zu gliedern und sich ihnen einzuordnen.55 Gewiß, Fichtes Sittenlehre ist nicht einem planen Ist-Bestand der Gesellschaft verhaftet. Fichte ist als Bewunderer der Französischen Revolution nicht nur der Denker der Freiheit, sondern auch der Gleichheit. Das Bewußtsein der Notwendigkeit einer Veränderung der bestehenden politischen Zustände steht Fichte mithin lebhaft vor Augen.56 Das jedoch hindert ihn nicht, die vorfindliche Welt, bereinigt von den Anachro­ nismen der Zeit, in ihren Grundstrukturen für stabil und für alle Ewigkeit feststehend zu erachten. Nur so vermeidet er, das Subjekt in zwei Welten anzusiedeln: in einer ideellen und einer realen. Nur deshalb lassen sich die idealen Postulate zugleich als praktische erweisen. Diese ebenso den Verhältnissen wie der absolutistischen Logik entsprechende Annahme ist aber mit dem Umbruch der Sozialwelt im 18. und vollends im 19. Jahrhundert hinfällig geworden. In der neu entstehenden Ordnung der Gesellschaft ist die Annahme einer prästabilierten Harmonie zwischen den Positionen der einzelnen nicht zu begründen, auch läßt sich Freiheit als moralisches Postulat nicht verwirklichen. Diese Ordnung ist auf das ökonomische Prinzip der Konkurrenz gestellt; und dieses Prinzip ist ein Prinzip der Verdrängung und Vernichtung. Sie hat schon deshalb keine Spur von Moralität an sich, weil sie gar nicht aus der Motivation des einzelnen herrührt – die unterwirft sie sich –, sich vielmehr einem ökonomischen Mechanismus verdankt. Der 52 53 54 55 56

J. G. Fichte, ebd., S. 228. J. G. Fichte, ebd., S. 166. J. G. Fichte, ebd., S. 254 ff. J. G. Fichte, ebd., S. 258. J. G. Fichte, ebd., S. 241.

258

Das neuzeitliche Selbstbewußtsein

Widerspruch dieser Gesellschaft gegen das absolutistische Subjekt der aufklärerischen Philosophie ist radikal. Denn die über die Medien Macht und Geld organisierten Teilbereiche der Gesellschaft, die von Ökonomie und Politik insbesondere, entwickeln eine Autonomie, die die Selbsttätigkeit des Subjekts zur Chimäre werden lassen. Für das dieser Ordnung einverleibte Subjekt, für das proletarische insbesondere, muß das Postulat: Jeder soll Gott sein,57 wie Hohn in den Ohren klingen. Die Aporie, die Moral mit der Welt nicht in Einklang bringen zu können, erweist sich auch, wenn man das Postulat der Gleichheit ins Auge faßt. Das Sittengesetz hat keinen anderen Adressaten als den einzelnen. Auch das Postulat der Gleichheit ist eines, das sich an den einzelnen richtet. Was über die Reichweite der Handlungen des einzelnen hinausreicht, läßt sich von ihm nicht mehr erfassen. Es muß der höchsten Weisheit und Güte im Weltenregimente überlassen bleiben. Nun zeigt aber das im Entstehen befindliche ökonomische System des Kapitalismus, daß sich die Position des einzelnen in der Gesellschaft gerade nicht als Konsequenz einer Moralität des Handelns der unter das System befaßten Subjekte herstellt, sondern als Ausdruck eines ökonomischen Systems verstanden werden will, das sich zwar über das Handeln einzelner bildet, aber blind. Da der einzelne nicht außerhalb aller existenten Strukturen handeln kann, ist das Postulat der Gleichheit als moralisches Postulat in den Sand geschrieben. Der Philosophie widerfährt hier, wovon sie sich bis heute nicht hat freimachen können: Sie bleibt an Fragestellungen einer vergangenen Welt gebunden. Sie fragt nach einer Vernunft, die sie moralisch ins Handeln umzusetzen sucht. Die realen Prozesse der Wirklichkeitskonstitution gehen indes an ihr vorbei. Wenn aber eine philosophisch begründete Welt mit der vorfindlichen in einer Weise in Widerspruch gerät, daß die vorfindliche in der philosophischen gar nicht unterzubringen ist, dann geht das nicht zu Lasten der Welt, sondern der Philosophie. Denn dieser Widerspruch ist nicht länger in die Differenz von Sein und Sollen einzuholen. Jedwede Form von transzendentalem Absolutismus ereilt dieses Schicksal. Jede nämlich verortet die Welt, wo sie nicht zu verorten ist: in einem absolut gesetzten Subjekt. Wir sind nach den vorhergehenden Erörterungen in der Lage, den Grundwiderspruch zu bestimmen, der sich in der Philosophie Fichtes zum Ausdruck bringt. Er ist kein idiosynkratisches Problem Fichteschen Denkens, hat vielmehr seinen Grund im Strukturwandel der Logik, wie er sich in der Neuzeit ausgebildet hat. Im Absolutismus der kritischen Philosophie läßt sich nicht länger einsichtig machen, wodurch dem Menschen eine vorfindliche Wirklichkeit zugänglich wird und weshalb er mit ihr in einer Weise umgehen kann, die ihm in ihr zu leben erlaubt. Der Widerspruch ist eklatant: Just in dem Augenblick, in dem der Mensch 57 J. G. Fichte, ebd., S. 256.

Der Verlust der Welt in der kritischen Philosophie 259

in einem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß Herrschaft über die Natur gewinnt, geht ihm Welt verloren. Die Romantik hat auf diesen Verlust zu antworten gesucht. Wir müssen ihn deshalb zunächst deutlicher werden lassen.

4

Der Verlust der Welt in der kritischen Philosophie

Der Mensch erfährt sich in der Neuzeit in einer Weise, die es ihm erlaubt, seine Weltbezüge bewußt aufzunehmen. Eine Geschichte lang wurden Welt und Weltbezug auf die Spitze eines Absoluten gestellt, von dem alle Ordnung und alles Geschehen in der Welt sich herleitete. Das Absolute war nicht nur der Integra­ tionsstein des Universums, es war zugleich Garant für die Sonderstellung, die der Mensch im Universum einnimmt: Er partizipierte an der Geistigkeit des Absoluten. In der Partizipation an der Geistigkeit des Absoluten fand er die Garantie dafür, sich seiner Bezüge in der Welt zu vergewissern. Die Neuzeit kennt im Umbruch des Weltbildes, wie er mit der naturwissenschaftlichen Revolution eingeleitet wurde, eine Doppelbewegung: In ihr gerät das Subjekt in seiner Position als erkennendes Subjekt in eine bis dahin nicht gekannte Gegenlage zur Welt; in eins damit wird jedoch das Subjekt entschiedener als je zuvor in die Organisation des Universums als dessen integraler Teil eingebunden. Die unabweisliche, bis heute im gemeinen Denken wie im Bewußtsein der Philosophie nicht geklärte Frage ist, wie es möglich ist, daß ein derart der Welt verhaftetes Subjekt sich in dieser Doppelstellung: als Konvergenzpunkt der Welt und eingebettet in sie und bestimmt durch sie, verstehen kann. Die Verarbeitung der durch den historischen Prozeß bewirkten Änderung im Verhältnis von Subjekt und Welt fällt der Philosophie zu. Deren Denken aber bleibt an die absolutistische Logik gebunden. Die Konvergenz der Welt auf das menschliche Subjekt zwingt dazu, die Welt in letzter Instanz aus dem konstruktiven Vermögen des Subjekts hervorgehen zu lassen. Die Welt wird zu einem Konstrukt des Menschen. Da hinter das Absolute nicht zurückgefragt werden kann, läßt sich die Frage, warum die Welt sich so darstellt und nicht anders, sinnvoll nicht stellen. Ebensowenig läßt sich fragen, ob mit den subjektiven Konstrukten etwas von der eigenständigen Welt jenseits dieser Konstrukte gewußt wird. Auch nicht, weshalb mit diesen Konstrukten etwas auszurichten ist in einer eigenständigen Welt. Die Annahme einer prädestinierten Einheit ist lediglich die Umsetzung des Befundes, daß die Konstrukte tatsächlich zu passen scheinen. Das Fazit ist unabweislich: Unter der absolutistischen Logik geht Welt in der materialen Inhaltsschwere des Seienden verloren. Das zeigt sich deutlich an der Philosophie Fichtes. Kierkegaard hat von ihr gesagt, sie kenne eine Unendlichkeit des Denkens, in der keine Endlichkeit sei, eine Unendlichkeit ohne allen Inhalt.

260

Das neuzeitliche Selbstbewußtsein

» Indem Fichte dergestalt das Ich verunendlichte, machte er einen Idealismus geltend, in Beziehung auf den alle Wirklichkeit verblich, einen Akosmismus, in Beziehung auf den sein Idealismus Wirklichkeit wurde, obgleich er Doketismus war. «58

In der Tat ! Fichte lagert dem Ich in der Begriff‌lichkeit des Seins alles ein, was wir als Welt kennen. Aber diese Begriff‌lichkeit läßt sich in keiner Weise aus dem Absoluten des sich setzenden Ich ableiten. Es ist deshalb auch nicht ersichtlich, warum sie in dieser Weise im Ich enthalten sein soll. Der unabweisbare Konstruktcharakter der Welt wird nicht als die spezifisch menschliche Verarbeitung einer dem Menschen in der Natur immer schon vorgegebenen Realität verstanden, wobei sich in der Konstruktivität von Natur und Sozialwelt ganz unterschiedliche Freiräume ergeben, die Konstruktivität wird m. a. W. nicht prozessual bestimmt, wobei Subjekt und Welt in einen relationalen Bezug gesetzt werden; die Welt wird dem Subjekt als dessen Entwurf zugerechnet. Die Erkenntniskritik der kritischen Philosophie ist Kritik der Naturerkenntnis. Der Zugang zur Sozialwelt stellt kein Problem dar. Man lebt in den Konstrukten, um deren Erkenntnis es geht. Das Verständnis der Sozialwelt wird jedoch auf einem anderen Wege zum Problem: über die Begründungsproblematik von Ethik und Moral. Eine Geschichte lang hatten die normativen Verpflichtungen der Subjekte ihren Anhalt an der normativen Organisation der Gesellschaft gefunden. Deren abstraktive Verselbständigung setzte allerdings voraus, daß die Verhältnisse in ihren Strukturen stabil waren. Unter dieser Bedingung wurde, wie wir eingangs erörtert haben, die gesellschaftliche Ordnung in die innere Natur der nachwachsenden Gattungsmitglieder eingebildet. Diese Bedingung wurde jedoch mit der industriellen Revolution hinfällig. Wenn die Sittenlehre gleichwohl weiterhin die normative Organisation der Gesellschaft als Maßstab der normativen Verpflichtungen der Subjekte ausgibt, dann nur um den Preis ihrer Irrealisierung: Die normativen Verpflichtungen erreichen die vorfindliche Realität nicht, umgekehrt lassen sich auf die vorfindliche Realität normative Postulate nicht länger gründen. Mit dieser Entwicklung rückt die andere Bedeutung in den Blick, die mit dem Weltverlust der Neuzeit verbunden ist: Das Subjekt findet für seine Lebens­ praxis an der vorfindlichen Welt nichts, auf das es sich verpflichten lassen könnte. Die Romantik ist die Reaktion auf den Weltverlust des Idealismus. Sie sucht festzuhalten, was festgehalten werden muß: daß der Mensch eingebettet ist in eine Welt und sich aus den Weltbezügen verstehen muß. Nicht anders als der philosophische Idealismus wird jedoch auch ihr Denken von der absolutistischen Logik bestimmt. Nur artikuliert sie diese Logik anders: Ohne auf die Konvergenz der Welt auf das Subjekt Verzicht zu tun, verleiht sie dieser Logik erneut einen onto58 S. Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, Werke, 31. Abt., S. 278.

Der Verlust der Welt in der kritischen Philosophie 261

logischen Status. Das Absolute ist ihr, was es seit je war: das Absolute des Universums, Gott. Wenn das Universum auf das Subjekt konvergiert, so auf das menschliche und göttliche in einem. Die exaltierende Welterfahrung läßt das Absolute zugleich im Konvergenzpunkt des Subjekts wie des Universums liegen. Die Integration dieser beiden scheinbar widersprüchlichen Postulate bedeutete eine Entfesselung der Subjektivität. Sie wurde durch die von ihr selbst geschaffenen Weltbezüge hindurch des göttlichen Absoluten teilhaftig. Das Denken des Ich ist für die Romantik Partizipation am Absoluten des Universums oder, wie Novalis sagt, » eine Berührung des irdischen Geistes durch einen himmlischen «.59 Es ist diese Konstellation einer doppelten Konvergenz der Welt: auf das Absolute des Subjekts wie des Universums, die die Romantik auszeichnet. Offensichtlich kommt sie darin der Hegelschen Philosophie nahe.60 Denn auch für Hegel bedeutete Geist die Einheit des absoluten (göttlichen) und menschlichen Geistes.61 Das Absolute der Romantik ist gleichwohl nicht das Absolute der alten Metaphysik, auch nicht das der neuen, wie sie Hegel konzipierte. Die Romantik, die Frühromantik jedenfalls, sucht das Subjekt in seiner Absolutheit einzuholen in die Relationalität des Universums. Die Durchführung, die Konsequenzen und die Aporien des Bemühens, die Erfahrung der neuzeitlichen Welt mit dem Absolutismus der Logik zu ver­einen, werden wir im folgenden erörtern.

59 Novalis, Schriften, 3, S. 263 (124). 60 Th. Haering hat Novalis’ Denken geradezu systematisch auf die Folie der Hegelschen Philosophie interpretiert, Th. Haering, Novalis als Philosoph, passim. 61 Vgl. G. F. W. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte, S. 60: » Der Weltgeist ist der Geist, wie er sich im menschlichen Bewußtsein expliziert. «

Kapitel 3 Logik und Welt im Widerstreit. Die Romantik in der Entwicklungslogik des Geistes

1

Die Behauptung der absolutistischen Logik

Aus der Sicht der Gegenwart, in der sich der Verlaufsprozeß der Neuzeit in seiner inneren Notwendigkeit und Logik darstellt, ist die Romantik ein dramatischer Prozeß. Wenn die Geistesgeschichte der Neuzeit insgesamt bestimmt wird von einer Entwicklung, in der sich das Denken seiner traditionalen, nämlich absolutistischen Logik zu entledigen sucht, so ist die Romantik diejenige Phase in dieser Geschichte des Geistes, in der der Widerstreit zwischen der absolutistischen Logik und den Vorgaben des neuzeitlichen Weltverständnisses offen aufbricht. In diesem Streit behauptet sich die absolutistische Logik. Eine Logik des Weltverstehens läßt sich nicht auf die Seite setzen wie irgendein materiales Wissen, das zwischenzeitlich überholt wurde. Mit der absolutistischen Logik unabweisbar verbunden war jedoch angesichts einer sich ändernden Welt die Absolutsetzung des Subjekts. Ihr ließ sich unter dem Eindruck der Erfahrung, daß die Änderungen der Welt vom Menschen selbst herbeigeführt werden, die Welt des Menschen auf den Menschen konvergiert, nicht widersprechen. Anders als die kritische Philosophie ließ es die Romantik jedoch bei dieser Feststellung nicht bewenden. Gegen den Absolutismus des Subjekts brachte sie ein Wissen zur Geltung, dem selbst der ri­gorose Transzendentalismus Fichtes im konstruktiven Weltenbau noch eine Stelle hatte einräumen müssen: Das Subjekt ist eingebunden in eine Welt; es ist Teil dieser Welt. Auch wenn die Welt sich als Produkt seiner schöpferischen Konstruktivität darstellt, bleibt es abhängig und bestimmt von ihr. Wie läßt sich dieses Wissen gegen den Absolutismus des Subjekts überhaupt denken ? Auf die Seite setzen, das sei noch einmal betont, läßt sich der Absolutismus des Subjekts nicht. Auch die Romantiker müssen denken, was die transzendentale Philosophie zu denken gezwungen war: daß alles Denken erst ein vom Subjekt geschaffenes Konstrukt ist, alles, was sich als Welt zeigt, sich im Sub© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_15

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Logik und Welt im Widerstreit

jekt erst herstellt. Die Logizität, die wir der Fichteschen Philosophie insoweit zuerkannt haben, läßt sich nicht widerrufen. Man muß sich dieser Konstellation der Geistesgeschichte bewußt sein, um die Romantik zu verstehen. Novalis insbesondere denkt immer vom Ich des » Ich denke « her. Es ist deshalb vollauf verständlich, wenn in der Literatur der Eindruck entstanden ist, er habe die Basis der Fichteschen Wissenschaftslehre nie verlassen.1 Die einzig mögliche Lösung ist von der absolutistischen Logik vorgezeichnet. Novalis hat sie gleich am Anfang seines philosophischen Denkens erkannt. In einer der frühesten Bemerkungen zur Fichteschen Philosophie konstatiert er: » Die Handlung, daß Ich sich als Ich setzt, muß mit der Antithese eines unabhängigen Nichtich und der Beziehung auf eine sie umschließende Sfäre verknüpft seyn – diese Sfäre kann man Gott und Ich nennen. «2

Also, das Ich, das sich als Ich setzt und darin absolut ist, soll sich als von einer Sphäre umfaßt verstehen, die ebenfalls als Ich gedacht wird. Es versteht sich: Diese umfassende Sphäre ist so absolut wie das Ich, das ihr angehört. Novalis nennt dieses Ich auch » das Große Ich – das Eins und Alles zugleich ist «.3 Vordergründig zumindest ist damit nichts gedacht, was der transzendentalen Philosophie widerspricht. Denn wenn Novalis konstatiert, daß ein unabhängiges Nichtich mit dem Ich verknüpft werden müsse, so stellt sich auch ihm das Nichtich im Denken des Ich her. Auch die umfassende Sphäre Gottes ist eine im Ich, das sie denkt. Gleichwohl hat sich die Konstellation grundlegend verändert. Wenn Ich und Nichtich als These und Antithese mit einer beide umfassenden Sphäre » Gott und Ich « verknüpft werden, dann läßt sich diese Sphäre nicht bloß als eine des Ich im » Ich denke « bestimmen. Denn dann verlöre sie alle Bedeutung. Vielmehr verweist » das Große Ich « im » Ich denke das Große Ich « auf ein Ich, das zwar von dem Ich des » Ich denke « nicht zu trennen ist, seine Empirizität aber übersteigt. Die Absicht, » das Große Ich « einzuführen, besteht ja gerade darin, das Ich in seiner Empirizität mitsamt der Welt zu umfassen. Unter dieser Konstellation muß sich deshalb alle Erkenntnis auf die Bestimmung des Verhältnisses des endlichen absoluten Ich zu jener umfassenden Sphäre des Ich verlagern, die wir mit Schlegel auch das » absolut Absolute « nennen können.4 Es ist eine Bestimmung des Ich im Ich, bei der schließlich alles auf die Bestimmung der umfassenden Sphäre, des » Großen Ich « ankommt. Denn das Teil läßt sich im Identischen nur vom Ganzen her 1 2 3 4

H. Kuhn, Poetische Synthesis, S. 163. Novalis, Schriften, 2, S. 108 (8). Novalis, Schriften, 3, S. 314 (398). Fr. Schlegel, Transzendentalphilosophie, KA XII, S. 4.

Die Behauptung der absolutistischen Logik 265

bestimmen. Für das » Große Ich « sagt Novalis, ist das » gewöhnliche Ich « nur ein Supplement.5 Was ist die umfassende Sphäre ? Gott, gewiß; aber das ist nur ein Zeichen für ein Bezeichnetes, mit dem dessen Absolutheit indiziert wird. Die Antwort kann, wenn man sich die Konstellation der Neuzeit vor Augen führt, aus der heraus der Widerspruch gegen die Fichtesche Form der transzendentalen Philosophie erfolgt, nicht zweifelhaft sein. Wir brauchen uns lediglich jener Doppelbewegung zu erinnern, die ich oben erwähnt habe: Epistemologisch konvergiert die Welt auf das Subjekt, letzteres dreht sich aus der Welt heraus und bringt sich in eine radikale Gegenlage zu ihr. In der Totalität seiner Verfassung als empirisches Subjekt aber wird es fester als je zuvor eingezurrt in eine autonom werdende Welt. Die umfassende Sphäre, die Novalis im Auge hat, ist die der Natur resp. des Universums. Gott ist die Chiffre für das Universum, genauer: für das Absolute des Universums, Grund und Welt zusammen, wie Novalis sagt.6 Auch für Schlegel ist das Universum die wirklich gewordene werdende Gottheit.7 Strukturlogisch gesehen deckt die Romantik in dieser Wendung vom absoluten Ich, das durch das endliche Subjekt hindurch gedacht wird, zum absoluten Ich des Universums den Entwicklungsprozeß auf, in dem versucht wird, die absolutistische Logik mit einem in seiner immanenten Dynamik autonom gewordenen Universum in Einklang zu bringen. Das Absolute wird in die Immanenz der Welt und seiner Dynamik eingeholt und damit zugleich das Universum selbst absolut gesetzt. Der Widerspruch, der darin liegt, das Universum in der relationalen Dynamik seines Innern der absolutistischen Logik zu unterwerfen, ist (für uns) gar nicht zu übersehen: Die absolutistische Logik ist ihrer Genese nach eine Subjektlogik. Als solche hat sie auch die Romantik verstanden. Eben deshalb sagt Novalis von dieser Sphäre, man könne sie Gott und Ich nennen. Diese Logik aber hatte die naturwissenschaftliche Revolution eliminiert. Seither war die Natur ein energetisches System in zuständlicher Dynamik, das eines bestimmenden subjektivischen Agens entbehrte. Indem die Romantik das Universum in seiner durchgehenden Relationalität der absolutistischen Logik unterwirft, vivifiziert sie es nicht nur, sie vergeistigt es neu, macht es in einem buchstäblichen Sinn zum Geisterreich. » Ener­gie «, läßt Schlegel sich hinreißen festzustellen, » ist Verstand « – philosophisch gesehen, versteht sich.8 Wir müssen das romantische Verständnis von Subjekt und Welt genauer erörtern. Denn nur so läßt sich der intrikate Zusammenhang zwischen dem romanti5 6 7 8

Novalis, Schriften, 3, S. 314 (398). Novalis, Schriften, 2, S. 236 (425). Fr. Schlegel, Transzendentalphilosophie, KA XII, S. 25, 54. Fr. Schlegel, ebd., S. 36, 39.

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Logik und Welt im Widerstreit

schen Weltverständnis und der romantischen Liebe aufdecken. Der nämlich wird beherrscht von einer paradox scheinenden Verwicklung in die Sinnproblematik des Daseins. Wenn ich oben ausgeführt habe, daß das neuzeitliche Weltverständnis zu einem Verlust von Welt führt, so auch, daß dieser Verlust im Grunde den Verlust ihrer Sinnhaftigkeit und Bedeutsamkeit für die Lebenspraxis des Menschen meint. Das nun ist dem romantischen Weltverständnis prima facie nicht zu entnehmen. Im Gegenteil ! Die Romantik will, wie wir sehen werden, in der Welt die höheren Welten aufdecken. Die höheren Welten aber sind bedeutungsvolle, sinnstiftende Welten. Deren Sinn, den » ursprünglichen Sinn « der Welt, will die Romantik wiederfinden. Die Operation dazu wurde von ihr eigens erfunden: die niedere Welt und das niedere Selbst potenzieren, also übersteigen oder, wie Novalis sagt, » logarythmisiren «. » Romantisieren «, heißt es bei Novalis, » ist nichts als eine Potenzierung «.9 Umgekehrt wird die höhere Welt und das höhere Selbst dadurch veralltäglicht. Unsere These eines Weltverlusts in der Neuzeit nimmt deshalb eine zugespitzte Form an: Im Romantisieren als Überstieg in eine höhere Sinnwelt geht die Welt endgültig verloren. Der Überstieg ist nicht der Grund für den Verlust der Welt, aber er bestätigt ihn. In die Bresche des Verlusts soll die Liebe treten. Was die romantische Liebe meint und will, läßt sich deshalb nur verstehen, wenn man den Grund für den Weltverlust versteht. Der aber ist verstrickt in den Widerstreit zwischen der absolutistischen Logik und den neuzeitlichen Vorgaben, die mit dem Weltverständnis verbunden sind. Es ist notwendig, die Erörterung mit dem Absoluten zu beginnen. Denn tatsächlich denken die Romantiker, wie sich zeigen wird, in allem, womit sie befaßt sind, vom Absoluten des Universums her, dem absolut Absoluten. Es ist das Gegebene, alles andere ist erst durch es bestimmt. » Für den Philosophen «, sagt Schlegel, » ist das Unendliche das leichteste; und das Endliche ist das große Räthsel. «10

2

Das Absolute des Universums

2.1

Alles und Nichts

Das Universum als das Absolute verstehen heißt, die Einheit des Endlichen und Unendlichen denken. Das ist es, was die Philosophie Novalis’ wie Schlegels unablässig repetiert: Man muß das Unendliche im Endlichen denken.11 Wie ? Als alles und nichts ! Alles ist es, weil es, was überhaupt ist, in sich schließt; nichts ist es, 9 Novalis, Schriften, 2, S. 545 (105). 10 Fr. Schlegel, Transzendentalphilosophie, KA XII, S. 39. 11 Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 413.

Das Absolute des Universums 267

weil es nur das Ganze und nichts Besonderes außerhalb des Ganzen ist. » Alles ist von Nichts bloß dadurch unterschieden, daß es voll ist. «12 Novalis hat dieses Verständnis in seiner algebraischen Zeichensprache dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er notiert: » Gott ist bald 1 • ∞ – bald 1/∞ – bald 0 «.13

Es mag zunächst irritieren, Gott als 0 ausgezeichnet zu finden. Damit soll jedoch jene Wendung im Denken von einem Absoluten her zum Ausdruck gebracht werden, die ich oben deutlich zu machen gesucht habe: Das Absolute wird in das Universum eingeholt. Es ist das Ganze, Allgemeine in der unendlichen Fülle und eben deshalb kein Besonderes, das sich bestimmen und benennen ließe. Das meint o: » 0 ist die positive Nichtbestimmung. «14

Für sie können wir deshalb auch » Nichts « setzen.15 Novalis hat deshalb auch von dem heiligen Nichts gesprochen.16 Strukturlogisch, das ist nicht zu übersehen, wird mit diesem Verständnis versucht, das neuzeitliche Verständnis der Welt in ihrer Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von einem energetischen Beweger mit der hergebrachten Logik zu vereinen: Das Absolute wird in das Universum eingeholt, damit zugleich das Universum auf die Spitze eines Absoluten gestellt, nur daß sich dieses Absolute nicht mehr der Welt, wie der Gedanke der Tat, vorordnet, sondern sich einzig in ihr selbst zur Geltung bringt. Die Logik ist m. a. W. widerständig gegen den Versuch, das Universum in seiner Relationalität autonom zu setzen. Wie sehr sie sich als widerständig erweist, zeigt sich, wenn wir den interpretativen Ausdeutungen dieses Weltverständnisses folgen.

2.2

Das Absolute als Subjekt

Im Denken vom Absoluten geht es immer darum, in ihm den Grund zu finden, der tätig das Endliche in seiner Ordnung bewirkt. Dieser Grund wurde in der absolutistischen Logik als Subjekt gedacht. Das ist schlicht eine Konsequenz der priFr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA XVIII, S. 271 (911). Novalis, Schriften, 3, S. 448 (933). Novalis, Schriften, 2, S. 257 (487). Novalis, Schriften, 3, S. 383. Eine ausführliche Erörterung des Allgemeinen als Nichts findet sich bei M. Dick, Die Entwicklung des Gedankens der Poesie, S. 333 ff. 16 Novalis, Schriften, 2, S. 144 (78).

12 13 14 15

268

Logik und Welt im Widerstreit

stinen Logik, die sich in der Interaktion der frühen Ontogenese gebildet hat. Auch die Romantik hat das Absolute als Subjekt gedacht – das ihr das Absolute des Universums war. Das läßt sich ebenso für Novalis wie für Schlegel nachweisen. Es liegt in der Struktur ihres Denkens, wird jedoch dem Stand der Reflexion der Zeit gemäß auch explizit zum Ausdruck gebracht. So erklärt Novalis: » Das Universum ist das Absolute Subject oder der Inbegriff aller Prädicate. Hierinn liegt schon seine unermeßliche und zugleich meßliche Gliedrung, weil nur dadurch der Inbegriff aller Praedicate möglich wird. «17

Es sollte nicht irritieren, daß die Ontologie hier in der Begriff‌lichkeit der Grammatik ihren Ausdruck findet. Denn welche andere Form als die des Denkens und der Sprache könnte das Absolute als subjektiver Geist wählen, soweit es in konkreten Bestimmungen fixiert ist. » Die Sprachlehre «, erklärt Novalis, » ist die Dynamik des Geisterreichs. «18 – Ihrer Genese nach entstammt die Subjektstruktur der Grammatik ohnehin der pristinen Logik des Denkens und nicht, wie allgemein angenommen wird, umgekehrt. – Schlegel vollends denkt das Absolute als Subjekt. Bereits in den Philosophischen Lehrjahren heißt es: » Alles Unendliche ist ein Ich und jedes Ich ist unendlich. «19

Schlegels philosophische Arbeiten der Jahrhundertwende, die Transzendentalphilosophie (1800 – ​1801) und die Kölner Vorlesungen (1804 – ​1806), bringen die Strukturen des Denkens systematischer noch zum Ausdruck. In beiden geht die Bestimmung explizit von einer Gottheit aus, die sich selbst ins Werden schickt. Gott bringt die Welt hervor, um sich selbst darzustellen, heißt es in der Transzendentalphilosophie.20 Die Kosmogonie der Vorlesungen, in denen dieser Prozeß genetisch dargestellt ist, liest sich wie eine einzige Selbstentfaltung des Absoluten als Ich.21

17 18 19 20 21

Novalis, Schriften, 3, S. 381 (633). Novalis, Schriften, 2, S. 413. Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA XVIII, S. 409 (1069). Fr. Schlegel, Transzendentalphilosophie, KA XII, S. 39. Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 429 ff.

Das Absolute des Universums 269

2.3

Das Subjekt als Geist

2.3.1 Der Lichtpunkt des Schwebens In der absolutistischen Logik ist das Subjekt als der absolute Anfang stets als Geist gedacht worden. Auch das ist eine Konsequenz ihrer Genese aus der Handlungslogik. Wenn Novalis die umfassende Sphäre, also das Universum, als Ich und Gott bezeichnet, so kann gar kein Zweifel sein, daß das Ich auch als Geist gedacht wird. Wie Gott als Geist zu denken ist, das ist wegen der Identität mit dem Universum und dessen Materialität allerdings nur schwer zu bestimmen. Novalis hat ihn als die unendliche Tätigkeit zwischen Gegenstand (Natur) und Zustand (Ich) bestimmt.22 Er ist in der Tätigkeit die Kraft der Sphäre, die Subjekt und Objekt wechselseitig aneinander bindet. Das Tätige in dieser Synthese aber ist Geist, » das transzendent producirende. «23 Eben deshalb kann Novalis an anderer Stelle sagen: » Natur und Geist = Gott. «24 Novalis ist allerdings unschlüssig, wie Gott zu denken sei. Mit der wiederholten Bestimmung Gottes als Synthese von Natur und Geist25 sucht Novalis sich der Vorstellung zu widersetzen, Gott könne in der Natur aufgehen. Das anzunehmen liegt deshalb nahe, weil sich seine Tätigkeit nur in Verbindung von Zustand und Gegenstand (Subjekt und Objekt) denken läßt.26 Gott würde demnach die Relationalität des Ganzen sein. Das aber widerspricht der Subjektivität, die ohne die Vorstellung des Einen nicht zu denken ist. Es finden sich deshalb so schroffe Formulierungen wie: » Gott hat gar nichts mit der Natur zu schaffen – Er ist das Ziel der Natur. «27 Am nächsten kommt der Vorstellung wohl, wenn man annimmt, er sei der Indifferenzpunkt von Natur und Geist, der in der Welt als Vereinigung von Natur und Geist seinen nur unvollkommenen Ausdruck erfahre.28 Die Schwierigkeit, das Absolute als Geist zu bestimmen, liegt nach allem darin, es in das Universum einzuholen. Denn dann droht es im Systemischen des Ganzen aufzugehen und zu verschwinden. Es muß aber doch, auch das gehört zur unabdingbaren Bestimmung der absolutistischen Logik, immer auch als Eines gedacht werden, also im absoluten Singular. Das Absolute als das eine läßt sich jedoch nicht finden.29 Gleichwohl denkt Novalis unter dem Zwang der absolutisti22 23 24 25 26 27 28 29

Novalis, Schriften, 2, 214 (303). Novalis, Schriften, 3, S. 61. Novalis, Schriften, 2, S. 548 (112). Novalis, Schriften, 2, S. 156 (145), S. 157 (150). Novalis, Schriften, 2, S. 215 (303). Novalis, Schriften, 3, S. 250 (60). Novalis, Schriften, 3, S. 61. Novalis, Schriften, 2, S. 271 (566).

270

Logik und Welt im Widerstreit

schen Logik das Absolute auch als Ganzes in der Struktur eines Subjekts, das alles bestimmt. Das Absolute ist der bewegende Lichtpunkt des Ganzen im Ganzen, es ist, wie Novalis sagt, » der Quell, die Mater aller Realität «, und er fährt fort: » in ihm ist alles enthalten – Object und Subject sind durch ihn, nicht er durch sie. «30 Das Ganze als das Absolute in seiner bewegenden Kraft, das Absolute als die Mater aller Realität läßt sich in der Kraft der Gestaltung nur als Geist denken. Bei der Bestimmung des Geistes muß dann allerdings mit Umsicht zu Werke gegangen werden. Denn wenn Novalis feststellt: » Natur und Geist = Gott «31, so liegt das Göttliche auf beiden Seiten, so wie jede Seite jeweils die andere in sich enthält.32 Novalis denkt die Geistigkeit mithin nicht dualistisch, als Gegensatz zur Materie. Das ändert jedoch nichts daran, daß die subjektivische Fassung des Ganzen dessen gestaltende Potenz als geistige Potenz versteht. Ohne Not vermag Novalis sich diese Geistigkeit denn auch in einem höheren Wesen subjektiviert vorzustellen – so in einer Notiz, in der die poetische Grunderfahrung festgehalten wird. Es heißt dort: » Es giebt gewisse Dichtungen in uns, die einen ganz anderen Karacter als die Übrigen zu haben scheinen, denn sie sind vom Gefühle der Nothwendigkeit begleitet, und doch ist schlechterdings kein äußrer Grund zu ihnen vorhanden. Es dünckt dem Menschen, als sey er in einem Gespräch begriffen, und irgendein unbekanntes, geistiges Wesen veranlasse ihn auf eine wunderbare Weise zur Entwickelung der evidentesten Gedancken. Dieses Wesen muß ein Höheres Wesen seyn, weil es sich mit ihm auf eine Weise in Beziehung setzt, die keinem an Erscheinungen gebundenen Wesen möglich ist. – Es muß ein homogenes Wesen seyn, weil es ihn, wie ein geistiges Wesen behandelt und ihn nur zur seltensten Selbstthätigkeit auffordert. «33

Der Übergang vom Konjunktiv zum Indikativ läßt keinen Zweifel, daß Novalis auch wirklich ein höheres Wesen meint, dessen Geistigkeit es zu einem » Ich höherer Art « bestimmt, mit dem sich im Gespräch kommunizieren läßt. Das hindert nicht, daß Novalis immer wieder auf das Ganze in der Vielheit der Gestaltungen zurückkommt und das Absolute in dieser Form zu denken, seiner Absicht entspricht. Novalis hat die Schwierigkeit, das Absolute in seiner tätigen Geistigkeit in das Universum und damit zugleich in dessen Materialität einzuholen, in einem Begriff zusammengefaßt, der wohl der subtilste seiner Philosophie ist: im Begriff des Schwebens. Wenn man ihn strukturlogisch versteht, bringt er das transitorische 30 31 32 33

Novalis, Schriften, 2, S. 266 (555). Novalis, Schriften, 2, S. 548 (112). Novalis, Schriften, 2, S. 175 (232). Novalis, Schriften, 2, S. 528 (21).

Das Absolute des Universums 271

Moment im Umbruch des Weltverstehens in der Neuzeit zum Ausdruck. Im Begriff des Schwebens ist festgehalten, was in aller absolutistischen Logik als Denken vom Vorrang des Geistes festgehalten werden muß: daß nämlich alles Sein, alle Realität auf diese Geistigkeit als ihre Quelle konvergiert. Nur – diese Quelle ist in der Romantik eingeholt in die Immanenz der unendlichen Relationalität des Universums, das sich in seinen Gestaltungen als dessen Manifestation darstellt. Was also ist das Schweben ? Jene unbestimmbare Kraft, die das Universum in seiner unendlichen Relationalität bestimmt. Schweben ist die Ichheit des Absoluten, dessen Imaginationskraft die Extreme produziert; sie ist die Kraft, die zwischen den Manifestationen des Universums hin und her geht und es darin überhaupt als Einheit begründet. Novalis bezeichnet es als den zuvor schon genannten ewigen, zeitlosen, augenblicklichen Lichtpunkt, in dem sich alle Realität herstellt. Er sagt von ihm. » Aus diesem Lichtpunkt des Schwebens strömt alle Realität aus. «34

Schweben und Sein sind Synonyme, es ist, erklärt Novalis, » nur von Einer Thatsache die Rede. « Und er fährt später fort: » Man denkt sich unter Thatsache, Handlung, hier gewöhnlich, etwas in der Zeit Vorgehendes oder Vorgegangenes. Die Thatsache, von der hier aber die Rede ist, muß schlechterdings rein geistig gedacht werden – nicht einzeln – nicht zeitmäßig – quasi als Augenblick, der das ewige Universum umfaßt, in sich begreift – worinn wir leben, weben und sind – … «35

Schweben ist, um es zu wiederholen, Ausdruck der Notwendigkeit, das eine Absolute im Singular zu denken und es gleichwohl der unendlichen Relationalität des Universums zu verbinden. 2.3.2 Kosmologie und Kosmogonie Schlegels Ungleich direkter denkt Schlegel das Absolute als Geist im Singular. Schon in der kleinen Schrift » Über die Philosophie « ist ihm die Substanz des Universums Geist; ohne Mühe begreift er ihn auch in der singularen Form eines Weltgeistes,

34 Novalis, Schriften, 2, S. 266 (555). 35 Novalis, Schriften, 2, S. 267 (556).

272

Logik und Welt im Widerstreit

der in allem Erhabenen tätig ist.36 Nicht minder entschieden heißt es in der Transzendentalphilosophie: » Die unendliche Substanz ist zu denken … als Bewußtsein, als ein Geist. «37

Um die Kosmogonie Schlegels, die daran anschließt, zu verstehen, ist es notwendig, sich die strukturlogische Vorgabe vor Augen zu führen, die Schlegel veranlaßt, diese Substanz in dieser Form an die Spitze seines Systems zu stellen. Daß die Welt von einem Absoluten als Geist her gedacht wird, findet sich in der Geschichte der Metaphysik seit ihren Anfängen. Der Grund liegt darin, daß die Welt als Ganzes über dieselbe Logik gedacht wird, wie das einzelne in ihr. Diese Logik ist die pristine Logik katexochen: die Handlungslogik. Wenn deshalb auch insofern für die neuzeitliche idealistische Philosophie der Satz gilt: Nichts Neues unter der Sonne, so hat sich doch die Konstellation der Welt, die unter der Geltung dieser Struktur gedacht werden muß, grundlegend geändert. Die Welt des Menschen konvergiert auf das menschliche Subjekt. Dieser Befund muß in aller Kosmologie und Kosmogonie festgehalten werden. Die absolutistische Logik hatte damit keine Not. Fichte hat das Procedere dieser Logik prägnant beschrieben, wenn er feststellt, sie schließe vom Bewirkten auf die Ursache und von der derart bekannten Ursache auf das Bewirkte zurück.38 Es ist dieses Verfahren, in dem in der Romantik das (endliche) Ich hinausgerissen wird auf den Konvergenzpunkt des Absoluten im Universum. Denn wenn dieser Logik zufolge die Welt als durch das Absolute im Universum bestimmt verstanden werden muß, so nimmt das Ich insofern einen Sonderstatus in ihr ein, als es sich selbst schon als absolut erwiesen hat. In der Rückführung in das Absolute des Universums erweist sich deshalb seine (Teil-)Identität mit ihm. Mit der Identität zwischen dem empirisch-absoluten Ich und dem Ich des Universums ist strukturell die Konstellation bestimmt, von der aus die Romantiker Subjekt und Welt denken: Das empirische, endliche Ich rückt in die Position des unendlichen Ich, des absolut Absoluten ein. Denken, sagt Novalis, ist eine Sympraxis des irdischen und himmlischen Geistes.39 Es ist nach allem grundverkehrt, wenn Kierkegaard meint, die Romantik habe das zeitliche Ich mit dem unendlichen verwechselt.40 Sie hat es, strukturlogisch stringent, identisch gesetzt. Der Effekt ist ein doppelter: Das Absolute des Universums wird mit jener mittlerweile 36 37 38 39 40

Fr. Schlegel, Über die Philosophie (1799), Kr. Schr. StA 2, S. 177 ff. Fr. Schlegel, Transzendentalphilosophie, KA XII, S. 39. J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre, Werke IV, S. 64. Novalis, Schriften, 3, S. 263 (124). S. Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, Werke, 31. Abt., S. 282.

Das Absolute des Universums 273

schärfer ausgeprägten Strukturgesetzlichkeit des empirischen Ich ausgestattet: seiner Reflexivität. In umgekehrter Richtung kehrt diese Strukturgesetzlichkeit des Ich des Universums in die Welt zurück, bestimmt dessen Wesen und läßt nun das empirische Ich in seiner Strukturgesetzlichkeit als Analogie zum Absoluten des Universums sich darstellen.41 Die Romantik gewinnt mit einem derart bestimmten Ich als Absolutem des Universums den Ausgangspunkt für eine Kosmogonie, die Schlegel in eine phantastische Schöpfungsgeschichte umzusetzen weiß.42 Am Anfang war das Sehnen, und das Sehnen war beim Welt-Ich, und das Welt-Ich war das Sehnen. Wie jeder Anfang im Schöpfer-Gott hat auch das Sehnen sich durch sich selbst erzeugt. Dieses Sehnen ist Liebe, die darauf aus ist, sich in der unendlichen Fülle der Welt zu verwirklichen. Da das Welt-Ich eins und alles ist, ist der anfängliche Zustand ein Zustand der unbestimmten Einheit. Dieser Zustand macht sich als Gefühl der inneren Einfachheit und Leere bewußt. Das Sehnen in seiner Leere schafft sich einen unendlichen Raum, der so leer ist wie der Anfang selbst. Es macht deshalb einen zweiten Anfang; in ihm verwandelt sich die Sehnsucht nach Fülle in Begierde. Sie muß sich wie die anfängliche Sehnsucht verwandeln und räumlich und körperlich werden, nur nicht in einer schon irdischen Körperlichkeit, sondern als Kraft. Als Kraft wirkt die Begierde zerstörerisch für die vorhergehende Ruhe und Einfachheit. Schlegel bezeichnet sie als Feuer. Der entstandene Zwiespalt zwischen Ruhe und Begierde im Welt-Ich ist bedrückend und läßt nach Befreiung suchen. Während die Leere des Anfangs als bloßes Gefühl bewußt war, ist dies die erste Reflexion des Welt-Ich. Das WeltIch erinnert sich seines ruhigen Ursprungs. Mit der Erinnerung entsteht die Zeit; denn Zeit, sagt Schlegel, hat Vergangenheit nötig. Durch die Erinnerung sucht das Welt-Ich den vom Feuer entfachten Streit in Harmonie aufzulösen. Das so entstehende Element ist Wasser, dem Feuer entgegengesetzt. Aus diesen einander entgegengesetzten Kräften der Elemente entsteht als vierte Stufe des Welt-Ich ein ständiges Ringen, ein ständiges Auf und Ab im Raum. Dabei hätte es ewig sein Bewenden gehabt, wäre dem Anfang nicht die teleologische Kraft eigen, sich nach unendlicher Fülle zu sehnen. Sie realisiert sich dadurch, daß, nachdem das himmlische Licht als Prinzip der unendlichen Fülle entstanden ist, die durch den Streit der Elemente drohende Vernichtung einen Schrecken bewirkt, der den Geist erstarren und in die Beharrlichkeit und Starrheit des irdischen Elements übergehen läßt. Das ist eine Unvollkommenheit, ein Niedersinken des Geistes; aber es ist eine notwendige Unvollkommenheit, weil ohne sie das höchste Ziel des Welt-Ich: die unendliche Mannigfaltigkeit des Geistes, nicht erreicht werden könnte. Diese Mannigfaltigkeit nun beginnt sich in den siderischen Körpern zu entwickeln, ihr 41 Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XIII, S. 3. 42 Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 429 ff.

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Logik und Welt im Widerstreit

innerer Trieb zur Gestaltung wirkt mit dem himmlischen Licht zusammen. Dadurch, daß das höhere himmlische Licht an die Erdseele anschließt, fängt die unendliche Organisation des irdischen Elements an. Bis hierhin, sagt Schlegel, läßt sich alles a priori aus dem Absoluten entwickeln. – Schlegel läßt keinen Zweifel daran, daß er in dieser Schöpfungsgeschichte Naturgeschichte zu schreiben gedenkt. – Was folgt, läßt sich nur a posteriori bestimmen und fällt deshalb nicht mehr in die Zuständigkeit der Philosophie. Erst beim Menschen greift die Philosophie den Faden wieder auf. Der Mensch ist der Gipfel der gestalterischen Produktionen der Erde, weil erst mit ihm ein geistiges Bewußtsein in vollendeter Form auftritt. Ich will die Geschichte nicht weiter verfolgen. Sie ist ebenso einfältig wie spekulativ; für das Verständnis von Subjekt und Welt der Frühromantiker ist sie gleichwohl erhellend. Faßt man sie zusammen, so stellt sich die Welt als ein unendliches Ich im Werden dar.43 Das Universum ist die werdende Gottheit. Die Geistigkeit des Menschen ist deshalb die höchste Stufe, das Ziel wie die Erfüllung, weil in ihr die absolute Freiheit des uranfänglichen Ich sich verwirklicht, nun endlich in der Form, die das Welt-Ich vor der Zeit ersehnte: in der unendlichen Vielfalt. Vielfalt im Reich der Freiheit zielt auf die unendliche Mannigfaltigkeit des Idealen. Sie ist an die Vielzahl der Menschen gebunden. Eben weil der Mensch die Rückkehr des Geistes in den Uranfang seines Sehnens verwirklicht, läßt sich seine Daseinsform erst verstehen, nachdem man den Bildungsprozeß des Welt-Ich von seinem Anfang bis zu ihm durchschritten hat. Als Teil des absoluten Ich hat jedes endliche Ich diesen Bezug zum Ur-Ich, als dem unendlichen Ich in sich.44 Wenn es sich als endlich und beschränkt erfährt, so weil es dem Entwicklungsprozeß des Welt-Ich angehört, also dem irdischen Element verhaftet ist. Als identisch mit dem Ur-Ich erfährt es sich in der Reflexion in der Fülle dieses Ur-Ich, und d. h. als das Ganze der Welt in sich. Das ist der Grund, der Schlegel keinen Anstoß hat daran nehmen lassen, daß das Ich in der Reflexion auf sich einem unendlichen Regreß verfällt, wenn man die Reflexion als Subjekt-Objekt-Relation versteht.45 Und das tut Schlegel. Im Gegensatz zu Fichte, der den Regreß gegen unendlich durch die Unmittelbarkeit der Anschauung zu vermeiden suchte,46 hat Schlegel den Verweis an das Unendliche deshalb für unschädlich gehalten, weil er das Subjekt in sich als unendlich versteht. Gegen Unendlich heißt für ihn: in sich. Das Subjekt ver-

43 Vgl. zum Menschen im Anschluß an den Werdensprozeß des Welt-Ich Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XIII, S. 3 ff. 44 Vgl. zum Folgenden Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 337 ff. 45 Vgl. Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 325 ff. 46 Vgl. J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 451 ff.; ders., Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 528.

Das Absolute des Universums 275

liert sich nicht, wie bei Fichte, wird vielmehr gerade an sich verwiesen. Durch das Ur-Ich ist die Reflexion des Ich immer eine erfüllte.47 Das Bewußtsein, einer Welt anzugehören, die sich als werdendes Welt-Ich erweist, bestimmt auch das Verständnis der Außenwelt. Für Fichte ist sie das NichtIch, für Schlegel gibt es kein Nicht-Ich: » Das Ur-Ich, das alles Umfassende im Ur-Ich ist alles; außer ihm ist nichts; wir können nichts annehmen als Ichheit. … Alles was wir außer uns wahrnehmen, ist ein lebendiges Gegen-Ich – ein Du. «48

Und weiter: » Gibt es gar kein Ich neben dem Ich, und ist alles Werden nur ein werdendes Ich, so ist ja dieses Ich, als der Inbegriff von allem, gerade das, was wir sonst Welt nennen. «49

In dieser Bestimmung wird das menschliche Ich nicht über die Positionalisierung im Konvergenzpunkt der Welt mit dem alles umfassenden Ich identisch, vielmehr über die Subjektivität der Objekte des Universums. Da alles in der Welt Teil des absoluten Ich ist, ist es auch das menschliche Ich. Schlegel kann deshalb auch vom empirischen Ich sagen, daß es nur ein Stück von sich selber sei. Die Bestimmung alles dessen, was in der Welt ist, als Gegen-Ich und Du behält gleichwohl einen Rest Metaphorik. Denn weder Schlegel noch Novalis meinen, dieses Du sei dem geistigen Ich des Menschen gleich. Darauf weist Schlegel eigens hin. Lediglich seiner Substanz nach ist es ein Ich. Deshalb haben wir es als ein Du zu verstehen und zu nehmen. Jede Kraft, erklärt Schlegel, wird ein Du, sobald wir sie zu denken, und d. h. in ihrem Wesen zu begreifen suchen. Das Denken eines anderen, eines » Objektes «, ist eine Steigerungsform des Denkens im Subjekt, das dadurch seine Selbsterkenntnis erweitert.50 Die Sentenz stellt sich als die äußerste Steigerung und kosmologische Umsetzung des identitätslogischen Satzes dar, daß nichts gedacht und nichts erkannt werden kann, was der Denkende und Erkennende nicht selber ist.

47 48 49 50

W. Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik, Ges. Schriften 1, 1, S. 35. Fr. Schlegel, ebd., KA XII, S. 338. Fr. Schlegel, ebd., KA XII, S. 339. » Jede Erkenntnis «, stellt W. Benjamin fest, » ist ein immanenter Zusammenhang im Absoluten oder wenn man will, im Subjekt … Das Erkanntwerden eines Wesens durch ein anderes fällt zusammen mit der Selbsterkenntnis des Erkanntwerdenden, mit der des Erkennenden und mit Erkanntwerden des Erkennenden durch das Wesen, das er erkennt «. W. Benjamin, ebd., S. 58.

276

Logik und Welt im Widerstreit

Worum es mir im gegenwärtigen Zusammenhang geht, ist eines: deutlich zu machen, daß die Romantik das neuzeitliche Bewußtsein der Konvergenz der Welt auf das Subjekt, wie es in der kritischen Philosophie zum Ausdruck kommt, in das Denken von einem » absolut Absoluten « des Universums überführt. Dazu bestand Grund, solange das Denken überhaupt auf eine absolutistische Ursprungslogik fixiert blieb. Nur wird dieser Ursprung dem Universum selbst eingebunden. Die Unendlichkeit ist die des unendlichen Zusammenhangs. » Gott ist Grund und Welt «, heißt es bei Novalis.51 Und Schlegel weiß selbst noch in dem Buch » Über die Theorie der Gottheit «, also schon auf halbem Wege zurück in den Schoß der Kirche, die Gottheit in den Werdensprozeß der Welt einzubinden. Daß das Absolute Geist ist, reicht deshalb zu seiner Charakterisierung nicht aus; da es das Universum ist, ist es auch Substanz. Hegels Formel, es gelte, Subjekt und Substanz in einem zu denken,52 gilt auch für die Romantik, allerdings in einem anderen Sinn. Wir müssen sie erörtern.

2.4

Subjekt und Substanz in einem

2.4.1 Das Absolute als Substanz So sehr Novalis sich von Fichte hat bestimmen lassen, vom Subjekt her zu denken und das Subjekt auch absolut zu denken, er hat von Anfang an das Moment des Stoffes resp. der Substanz in den Anfang hineingenommen. In den Fichte-Stu­ dien heißt es: » Um das Ich zu bestimmen müssen wir es auf etwas beziehn. Beziehn geschieht durch Unterscheiden – beydes durch These einer absoluten Sfäre der Existenz. Dis ist das Nur Seyn – oder Chaos «.53

Und wenn er fortfährt: » Das absolute Ich ist dieser bestimmte Stoff, eh die Urhandlung in ihm tritt, eh die Reflexion auf ihn angewendet wird «,54 so kommt darin ganz im Gegensatz zu Fichte, bei dem das Absolute auf die Tathandlung des Setzens gestellt ist,55 ein Vorrang des Seins vor dem Tun zum Ausdruck. Das nun würde die Aporie, das Absolute zu denken, von der anderen Seite heraufbeschwö51 Novalis, Schriften, 2, S. 236 (425). 52 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 19. 53 Novalis, Schriften, 2, S. 106 (3). 54 Novalis, Schriften, 2, S. 117 (19). 55 Vgl. W. Janke, Fichte, S. 69 ff.

Das Absolute des Universums 277

ren. Denn in der absolutistischen Logik ist alles auf die Spitze der Handlung gestellt; die Erklärungsleistung liegt in der Demonstration der Genesis. Bei der Erörterung der analogen Problematik, zu bestimmen, was früher sei, das Gefühl oder die Urhandlung, durchschlägt Novalis den Knoten und erklärt: » Das dem Gefühl Gegebne scheint nur die Urhandlung als Ursache und Wirkung zu seyn. «56

Ursache und Wirkung zugleich hebt die zeitliche Folge auf. Das allerdings paralysiert die Logik; aber wir wollen uns nicht nachträglich noch der Unmöglichkeit aussetzen, das Absolute denken zu wollen. Die Aporie, das Tätige oder das Substanzhafte, den Geist oder den Stoff, das Erste sein zu lassen, kehrt allerdings in vielfacher Form wieder. Die Intention jedoch ist unzweideutig: Notwendig ist, beide in Relation zueinander zu denken. » In Beziehung auf die Materie ist der Geist Form – in Beziehung auf den Geist ist die Materie Stoff – oder vielmehr beyde sind sich Form und Stoff – es kommt nur an, auf welches von beyden man reflectirt, welches man zum Subject oder Praedicat macht. «57

Auch im Verständnis Gottes als des schlechthin Absoluten ist diese Intention ersichtlich: In aller Vergangenheit wurde Gott als das Absolute als Grund gedacht. Das tut auch Novalis. Auch er setzt den Grund ab gegen die Welt, aber er transzendiert ihn nicht, hält ihn vielmehr innerhalb der Welt: » Die Welt wird ihrem Grunde entgegengesetzt. Der Grund ist die Eigenschaft der Welt und die Welt die Eigenschaft des Grundes. Gott heißt Grund und Welt zusammen. «58

Grund ist das Bewirken des Zusammenhangs im Ganzen, darin ist er absolut.59 Die Substanzseite der Welt ist allerdings nicht einfach deren stoff‌liche, materielle Seite, wie wir sie vorfinden. Sobald das Denken sich der Selbsterkenntnis im Rekurs auf das Absolute überläßt, wird es eingeholt von der Logik, das Absolute als Geist denken zu müssen. Wenn Novalis bemüht ist, das Absolute in der Rela­ tion von Subjekt und Objekt festzuhalten, die beiden Pole nicht nur in der Synthese, sondern durch sie sein zu lassen,60 so denkt er die Synthese als Kraft, die 56 57 58 59 60

Novalis, Schriften, 2, S. 114 (15). Novalis, Schriften, 2, S. 175 (232); vgl. auch ebd., S. 179 (234). Novalis, Schriften, 2, S. 236 (425). Novalis, Schriften, 2, S. 269 (564). Novalis, Schriften, 2, S. 213 (301).

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Logik und Welt im Widerstreit

zwischen beiden hin und her geht, sie beide in Relation zueinander setzt – als Schweben. Diese Kraft aber denkt er als Geist, der ebenso das Subjekt wie die Substantialität des Objekts ausmacht: » … ein unendliches Factum, was in jedem Augenblick ganz geschieht – identisch ewig wirckendes Genie – Ichseyn. «61 Das ist mystisch, gewiß.62 Das Postulat der absolutistischen Logik, das Absolute auf die Spitze einer Handlung zu stellen, ist jedoch weder rational noch anschaulich einzulösen. Denn eine Handlung ist ohne das vorgängige Substrat des Subjekts nicht denkbar. Gleichwohl verlangt die Struktur der Logik ihr Recht: Sie will auch das Absolute in der Genese seiner selbst dargestellt sehen. Jahrtausende hat man sich damit begnügt zu konstatieren, Gott sei der, der sich selber schafft. Die Romantiker haben sich darauf eingelassen, diesen Satz einzulösen. Schlegel ist darin nicht weniger mystisch als Novalis. Wie in der Bestimmung des Absoluten als Geist ist Schlegel auch in der Bestimmung des Absoluten als Substanz ungleich direkter als Novalis. Er setzt das Absolute als das Unendliche, das alles in Einem ist und als Eins Alles. Mit dem Unendlichen ist zugleich ein Bewußtsein des Unendlichen gesetzt.63 Vereinigt sind Unendliches und Bewußtsein in der Weise, daß das Bewußtsein die Reflexion seiner selbst als unendlich ist. » Das einzige Objekt des Bewußtseyns ist das Unendliche und das einzige Prädikat des Unendlichen das Bewußtseyn. «64

Das Unendliche läßt er unbestimmt sein, das Bewußtsein als Unendliches bestimmt. Da beide zusammengehören, kann er sagen, das Unendliche sei das Produkt des Unbestimmten und Bestimmten. Dabei gilt es, sich zu erinnern, daß es sich erst selbst herstellen soll. Schlegel erklärt deshalb: » Wenn das Unbestimmte wirklich werden soll, muß es aus sich herausgehen und sich bestimmen. (Angewandt könnte dies heißen: Die Gottheit hat die Welt gebildet, um sich selbst darzustellen.) «65

Das nun kann in gar keiner anderen Weise als dadurch geschehen, daß die beiden Glieder: Unbestimmtes und Bestimmtes zusammengebracht werden. Das Bewußtsein reflektiert sich selbst als Bestimmtes im Ich, als Unbestimmtes im 61 Novalis, Schriften, 2, S. 267 (556). 62 So M. Dick, Die Entwicklung des Gedankens der Poesie, S. 102 f. 63 Vgl. zum folgenden Fr. Schlegel, Transzendentalphilosophie, KA XII, S. 7 ff., insbes. S. 20 Anm. 64 Fr. Schlegel, ebd., S. 6. 65 Fr. Schlegel, ebd., S. 20.

Das Absolute des Universums 279

Nicht-Ich. Im Ich ist das Bestimmte, im Nicht-Ich das Unbestimmte reell. Der eigentliche Schöpfungsprozeß ist ein Reflexionsprozeß im Absoluten. Wenn deshalb Schlegel lapidar erklärt: » Die Welt geht hervor aus dem Unbestimmten und dem Nicht-Ich «,66 so ist gar nicht zweifelhaft, daß in diesem Schöpfungsprozeß Subjekt und Substanz in einem gedacht werden. Schlegel erklärt denn auch: » Die unendliche Substanz ist zu denken … als Bewußtseyn, als ein Geist. «67 Der Satz läßt sich auch lesen: Bewußtsein als Geist ist unendliche Substanz. Die genetische Bestimmung setzt sich in der Bestimmung dessen, was die Welt ist, fort: Materie und Form. Beide können einzig aus der Substanz hervorgegangen sein, nur ist die Form aus der Substanz als Einheit hervorgegangen, die Materie aus deren Elementen, sie ist also Bewußtsein und unbestimmt Unendliches. In dieser Bestimmung kehrt wieder, daß Schlegel die Realität nun wirklich mystisch als Indifferenzpunkt zwischen beiden versteht. Die Materie als bloßes Zusammentreffen der Elemente ohne Form gedacht ist das Chaos. Wenn man nach einer (allegorischen) Entsprechung sucht, ist es der Äther. An naturgeschichtlich-philosophischen Spekulationen wie denen Schlegels wird deutlich, wie weit wir uns inzwischen von der Romantik entfernt haben. Um so wichtiger ist zu fragen, weshalb derartige Spekulationen in ihrer Zeit für bedeutsam erachtet wurden. Diese Frage läßt sich beantworten: Dadurch, daß Subjekt und Substanz im Absoluten als eines gedacht werden, soll die absolutistische Logik mit der Immanenz weltlichen Geschehens verbunden werden. Die Welt, die in der absolutistischen Logik auf die Spitze einer Handlung gestellt ist und von ihr her ihre Erklärung erfährt, soll in ihrem Bildungsprozeß der Materialität verbunden gehalten werden, um dadurch den Bildungsprozeß überhaupt im Innern der Welt lassen zu können. Eine transzendente Erklärung dessen, was in der Welt geschieht, ist unzeitgemäß. Das Absolute muß deshalb auch historisiert werden. Der Schöpfungsprozeß muß in der Immanenz der Welt ablaufen.68 Eben deshalb nennt Schlegel die Natur eine wirklich gewordene Gottheit.69 Daß sie überhaupt ist, haben Novalis wie Schlegel einem Urbedürfnis des Ich, sich entgegenzusetzen, zugeschrieben.70 Das ist nicht einfach die Reflexion in sich. Dann wäre alles in der Ruhelage des absoluten Anfangs geblieben. Die Reflexion in sich nimmt ihren Weg über das andere des Objekts. » Gott hat die Welt hervorgebracht, um sich selbst darzustellen. «71 66 67 68 69 70 71

Fr. Schlegel, ebd., S. 37. Fr. Schlegel, ebd., S. 39. Novalis, Die Lehrlinge zu Sais, Schriften, 1, S. 99. Fr. Schlegel, Transzendentalphilosophie, KA XII, S. 25. Novalis, Schriften, 2, S. 119 (22). Fr. Schlegel, Transzendentalphilosophie, KA XII, S. 39.

280

Logik und Welt im Widerstreit

Hegels Kritik der Romantik als einer substanzlosen Subjektivität72 bedarf ersichtlich der Korrektur.

2.5

Das Absolute als Relation

2.5.1 Die Gegenlage von Subjekt und Objekt Das Subjekt der Neuzeit findet sich, wenn es auf die Bedingungen der Erkenntnis zurückfragt, in einer entschiedenen Gegenlage zur Welt. Selbst die transzendentale Philosophie Fichtes hatte dem, wie wir gesehen haben, Rechnung getragen. Sie kannte, wenn auch in äußerst reduzierter Form, ein reales Außen: als Anstoß für das Ich, ein Nicht-Ich zu bestimmen und sich selbst zu begrenzen.73 Novalis hat diese Entgegensetzung als Struktur des Universums und damit als Struktur des Absoluten verstanden. So sehr die Reflexionen dieser Entgegensetzung von Subjekt und Objekt einen Modus Novalisschen Denkens darstellen und dessen Handschrift in der Darstellung zeigen, strukturlogisch gesehen sind sie zwingend: Wenn das Ich sich in dieser Gegenlage vorfindet, als Ich aber vom Ich der umfassenden Sphäre, dem » Großen Ich «, eingeschlossen wird, dann muß die umfassende Sphäre eben dieselbe Struktur aufweisen. Das Ich als absolut Absolutes kann m. a. W. keine andere Struktur als das absolute Ich im Endlichen haben. Auch in dem Subjekt des Universums findet sich die Entgegensetzung von Subjekt und Objekt wieder. Dabei führt der Weg des Subjekts in sich zurück über die Reflexion, in der das Subjekt sich selbst Objekt wird. Seiner Tätigkeit als Subjekt entspringt, das Objekt seiner selbst zu sein.74 Novalis versteht mithin die Identität des Subjekts bereits als Relation. In dieser Relationalität seiner selbst, so wird man Novalis verstehen müssen, ist es die Relationalität des Ganzen. 2.5.2 Zustand und Gegenstand Novalis reflektiert das Verhältnis zunächst in den Begriffen von Gegensatz und Gegenstand, er ersetzt dann im semantischen Spiel von » zu « und » gegen « Gegensatz durch Zustand.

72 Vgl. O. Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, S. 66 ff. 73 J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 279. 74 Novalis, Schriften, 2, S. 203 (284).

Das Absolute des Universums 281

» Alles, ohne Unterschied, worauf wir reflectiren und was wir empfinden, ist Gegenstand … Der Gegensatz selbst ist Gegenstand, insofern wir darauf reflectiren. «75

Novalis fährt fort: » Wendet sich die Reflexion vom Gegenstand überhaupt auf dessen Gegensatz, so dreht sie sich nur um, sie hat wieder einen Gegenstand vor sich, aber einen besondern – und so entdecken wir, daß der besondre Gegenstand der gegenständliche Gegensatz des Gegenstandes überhaupt war. «76

Worin liegt die Entdeckung, wenn es sich nur um einen Richtungswechsel handelt ? Bei einem bloßen Richtungswechsel, könnte man meinen, bleibe die Richtung Subjekt-Objekt erhalten. Auch jetzt ist es das Subjekt, das agiert, nur vom Objekt aus; es blickt vom Objekt aus auf sich zurück. Novalis gibt jedoch dem Erkenntnisprozeß, vom Objekt auf das Subjekt zurückzugehen, eine andere Wendung: Er rechnet die Gegenbewegung dem Objekt/Gegenstand selbst zu: » Thätigkeit ist nur zwischen Subject und Object denkbar. Der reflectirte Gegenstand und Zustand wandelt seine Natur – er ist nicht mehr der bloße Gegenstand und Zustand. Er ist umgekehrt. Jeder scheint zu seyn, was der andre ist. «77

Das also ist die Entdeckung: Jeder ist, was der andere ist. Für uns ist diese Annahme in keiner Weise zwingend. Denn daß im Erkenntnisprozeß das Subjekt erst durch die Entgegensetzung des Objekts Subjekt wird, ändert nichts daran, daß die Tätigkeit des Entgegensetzens allein von ihm ausgeht. Für Novalis aber ist sie zwingend. Der Grund kann nicht zweifelhaft sein: Novalis denkt in einer absolutistischen Logik, die beide, das erkennende Subjekt wie das erkannte Objekt, von einer gemeinsamen Sphäre des Ich umfaßt sieht. Die gemeinsame Sphäre aber läßt schon wegen ihrer identitätslogischen Struktur beide in gleicher Weise bestimmt sein. Beide sind von Anfang an auch in dieser Weise verbunden, gleich ursprünglich. Es ist deshalb auch nicht so, daß das eine das andere bestimmt und umgekehrt. Es ist die Tätigkeit der Sphäre, die zwischen beiden in ewigem Wechsel hin und her geht: » Wie entsteht eine Beziehung auf Zweyes zugleich ? Es ist eine Beziehung auf ihre gemeinschaftliche Sfäre. Die Synthese ist Beziehung auf Kraft, oder Thätigkeit, als der ge75 Novalis, Schriften, 2, S. 206 (288); zum Gegensatz als Zustand vgl. ebd., S. 208 (292). 76 Novalis, ebd., S. 206 (288). 77 Novalis, Schriften, 2, S. 213 (301).

282

Logik und Welt im Widerstreit

meinschaftlichen Sfäre des Zustands und Gegenstands. Wechselbestimmung ist nichts, als Thätigkeit. Der Wechsel liegt im Wesen des Thätigen. «78

In dieser Bestimmung der Subjekt-Objekt-Relation bringt sich jenes Verständnis des Universums als einer sich selbst gegenständlich gewordenen Gottheit – Ichheit – zum Ausdruck, das wir zuvor erörtert haben. Wenn Novalis konstatiert: » Jeder Gegenstand ist Zustand – jeder Zustand Gegenstand «,79 so gilt das für jeden der beiden Pole nicht nur in bezug auf den anderen, sondern auch für sich selbst. Das aber bedeutet: Jedes Objekt ist zugleich ein Subjekt. Eben deshalb sagt Novalis, die kritische Philosophie lasse uns » die Natur, oder Außenwelt, als ein menschliches Wesen ahnden – Sie zeigt, daß wir alles nur so verstehen können und sollen, wie wir uns selbst und unsre Geliebten, uns und euch verstehn … (Du) – (Statt Nicht-Ich – Du) Die Gemeinschaft und Eigenthümlichkeit. Alles kann Ich seyn und ist Ich oder soll Ich seyn. «80

2.5.3 Wider ein Erstes Daß das Absolute als Relation zwischen Subjekt und Objekt gedacht wird, läßt die Relation selbst zum Absoluten werden. Denn wenn auch Subjekt und Objekt im Universum erst durch die unendliche Tätigkeit Gottes zu dem bestimmt werden, was sie füreinander und für sich sind, so gilt doch auch von dieser Tätigkeit » die Regel: daß man sie nur in Verbindung, nicht allein wahrnehmen kann. Sie (ist) immer ein Verhältniß zu Gegenstand und Zustand. «81 Es ist nicht zu übersehen, daß sich in dieser Konzeptualisierung einmal mehr die Entwicklungslogik der Neuzeit Geltung verschafft. Das Absolute wird in die immanente Relationalität der Welt eingeholt; es ist deren immanente Dynamik. Man kann deshalb meinen, die frühromantische Philosophie sei eine Wendung gegen die Philosophie als prima philosophia.82 In der Tat gibt es Anhalte dafür, daß Novalis wie Schlegel ihre Not damit hatten, ein Erstes zu bestimmen. Explizit erklärt Novalis:

78 Novalis, ebd. 79 Novalis, ebd., S. 214 (301). 80 Novalis, Schriften, 3, S. 429 f. 81 Novalis, Schriften, 2, S. 215 (303). 82 So W. Menninghaus, Unendliche Verdoppelung, S. 57, 87 ff.

Das Absolute des Universums 283

» Jeder Zustand, jede Thathandlung setzt eine andre voraus – … Alles Suchen nach der Ersten ist Unsinn – es ist regulative Idee. «83

Ähnlich äußert sich Schlegel.84 Unsere Untersuchung zeigt jedoch, daß die absolutistische Logik selbst ungebrochen ist. Die Begründung der Pole, das Objekt als Subjekt (der Gegensatz als Zustand), ebenso wie das dynamische Moment: die Kraft Gottes, die die Wechselwirkung zwischen beiden bestimmt, folgt in der Struktur weiterhin der absolutistischen Logik. Tatsächlich sehen sich deshalb Novalis wie Schlegel auch permanent genötigt, von einem Absoluten als erstem her zu denken. Aufschlußreich ist dafür Novalis’ Bestimmung des Grundes. In aller Vergangenheit ist das Absolute auch als der Grund der Welt, zumindest ihrer inneren Ordnung, gedacht worden. Der Erklärungswert der absolutistischen Logik hängt daran, alles auf einen Ursprung zurückzuführen. Noch der Ursprung selbst wird ursprungslogisch hintergangen: Er ist der, der sich selber schafft. In dieser Weise hat noch Fichte das absolute Ich bestimmt: Das Ich setzt sich als sich setzend.85 Auch Novalis kennt das Absolute als Grund der Welt. Er sucht ihn allerdings in die Immanenz einzuholen: » Grund ist aber nicht Ursache im eigentlichen Sinne – sondern innre Beschaffenheit – Zusammenhang mit dem Ganzen. «86

Das hindert Novalis nicht, ihn der Welt entgegenzusetzen; anders kann das Begründende schlechterdings nicht gedacht werden. Ich habe die Äußerung schon angeführt: » Die Welt wird ihrem Grunde entgegengesetzt. « Dann folgt erneut der Versuch der Einholung: » Der Grund ist die Eigenschaft der Welt und die Welt die Eigenschaft des Grundes. Gott heißt Grund und Welt zusammen. «87 Wie sehr Novalis den absoluten Grund für jenen Dienst braucht, den das Absolute dem Denken immer getan hat, zeigt sich daran, daß er erklärt, bei ihm müsse alles Philosophieren enden.88 Der Schwächeanfall der absolutistischen Logik wird allerdings deutlich, wenn er fortfährt und fragt:

83 Novalis, Schriften, 2, S. 254 (472). 84 Fr. Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KA XVIII, S. 409: » Nicht das Unbedingte (zum Anfang zu suchen) sondern das Ursprüngliche in einem absoluten Punkt, ein Ey für das Universum giebts nicht. « 85 J. G. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 528. 86 Novalis, Schriften, 2, S. 269 (566). 87 Novalis, Schriften, 2, S. 236 (425). 88 Novalis, Schriften, 2, S. 269 (566).

284

Logik und Welt im Widerstreit

» Wenn dieser (der absolute Grund; G. D.) nun nicht gegeben wäre, wenn dieser Begriff eine Unmöglichkeit enthielte … «89

Das Denken erholt sich schnell, um im Bilde zu bleiben. Es sei, erklärt Novalis, nur unmöglich, dieses Absolute zu erreichen – es gibt es also !90 Tatsächlich ist auch in der entschiedenen Abweisung, ein Erstes denken zu sollen, mehr nicht gesagt, als daß es sich prädikativ nicht denken lasse.91 An der Notwendigkeit, gleichwohl von einem Absoluten her zu denken, hält Novalis ungeachtet des Umstandes, daß ein Erstes prädikativ zu denken nicht möglich ist, fest: » Aller wirklicher Anfang ist ein 2ter Moment. Alles was da ist, erscheint, ist und erscheint nur unter einer Voraussetzung – Sein individueller Grund, sein absolutes Selbst geht ihm voraus – muß wenigstens vor ihm gedacht werden. Ich muß allem etwas Absolutes Vorausdenken – voraussetzen – … «92

2.6

Deus absconditus

Die Unmöglichkeit, das Absolute zu denken, hat zunächst strukturelle Gründe. Der offenkundigste liegt in der Struktur der Reflexion: In der Reflexion entzieht sich das Ich als aktives seiner passiven Objektivation. Der, der auf sich reflektiert, ist immer ein anderer als der, der sich in der Reflexion in den Blick kommt. Die Selbstreflexion setzt, wenn man sie als Subjekt-Objekt-Relation versteht, einen unendlichen Regreß in Bewegung, den Fichte schon konstatierte93 und durch die Annahme eines unmittelbaren Bewußtseins in der Anschauung zu vermeiden suchte.94 Anders jedoch als Fichte, für dessen Denken eine positive Bestimmung des reflexiven Ich unabdingbar schien, haben Novalis wie Schlegel im unendlichen Regreß: also im Denken des Denkens, die Natur des Absoluten als eines Unendlichen bestätigt gefunden.95 Novalis hat die Uneinholbarkeit des Absoluten seiner Sphärentheorie verbunden. Im Wechselspiel von Gegensatz/Zustand und Gegen-

89 Novalis, Schriften, 2, S. 269 (566). 90 Novalis, Schriften, 2, S. 270 (566). 91 Daß das Absolute kein Prädikat habe und keines haben könne, hatte schon Fichte konstatiert. Vgl. J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 109. 92 Novalis, Schriften, 2, S. 591 (284). 93 J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 97. 94 J. G. Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 451 ff.; ders., Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 527 ff. 95 Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 325.

Das Absolute des Universums 285

stand, also von Subjekt und Objekt, ist das eigentlich absolute Moment: das Tätige im Subjekt, Freiheit. Als solches aber kann das Absolute nie Gegenstand werden: » Alles Substrat des Gegensatzes kann Gegenstand werden, ist aber eben darum nicht eigentlicher Gegensatz … Er hat eigentlich keine Sfäre, denn er schließt alle Sfären aus. Alle Worte, alle Begriffe sind vom Gegenstande entlehnt – Gegenstände – und darum können sie ihn nicht fixiren. Namenlosigkeit macht gerade sein Wesen aus – darum muß ihn jedes Wort verjagen. Er ist Nichtwort, Nichtbegriff. «96

Eigentlich könnten wir gar nichts über es aussagen. Wir müssen es aber; die Logik zwingt uns das Umögliche auf. » Was soll Echo machen, die nur Stimme hat. «97

Die Unmöglichkeit, im Denken das Absolute zu erfassen, hat immer schon vom Absoluten gegolten. Das zeigt die illustre, wieder und wieder verwandte Formel: Gott sei der, der sich selber schafft. Das Schaffen muß vorgegeben werden. Für die Romantik gibt es jedoch einen weiteren, ihr selbst verdeckten Grund, das Absolute prädikativ nicht erfassen zu können: Ihr Denken wird konfrontiert mit einem neuzeitlichen Verständnis des Universums, das in sich eigenständig und eines energetischen Anstoßes nicht bedürftig ist. Das Absolute ist das Ganze. Das Ganze in der Endlichkeit seiner Bezüge bedarf aber strukturlogisch keines Absoluten. Wenn deshalb Novalis wie Schlegel immer wieder betonen, das Unendliche müsse dem Endlichen verbunden gehalten werden, dann hat das Absolute in ihm keinen Platz; es wird aber von der Logik behauptet. Die Konsequenz dieser Lage ist: In der Immanenz des Universums wird das Absolute ungreifbar. Diese Konsequenz ist bereits am Anfang der Neuzeit sichtbar geworden: bei Pascal. Pascal erkennt mit der Schärfe des ihm eigenen Denkens die immanente Selbstgenügsamkeit des Universums. Eben deshalb wird Gott zum deus absconditus.98 Diese Verborgenheit ist eine andere als die, die bereits Juden und Christen in den beiden Jahrtausenden zuvor kannten. Absconditus ist dieser Gott, weil es für ihn in dieser Welt nichts zu tun gibt, er deshalb auch in ihr nicht wiederzufinden ist. Dabei kann es jedoch nicht sein Bewenden haben, solange das Denken auf die absolutistische Logik fixiert bleibt. Diese Logik zwingt das Denken, für die unabschließbare Endlichkeit ein Absolutes zu setzen, das mit Begriffen wie Unendlichkeit, Ursprüng96 Novalis, Schriften, 2, S. 202 (284). 97 Novalis, Schriften, 2, S. 202 (284). 98 B. Pascal, Pensées, S. 194, 556; vgl. dazu G. Dux, Die Gottverlassenheit der Sozialwelt, ÖZS 11, 1986, S. 6 ff.

286

Logik und Welt im Widerstreit

lichkeit, Geheimnis belegt wird. Das Absolute wird an das Ganze gebunden und entzieht sich eben deshalb der Erfaßbarkeit – deus absconditus. Würde das Ganze nicht in der Logik des Absoluten gedacht, wäre es nur das Ganze; als solches würde es kein Geheimnis in sich bergen, nichts könnte sich mitteilen, nichts sich entbergen und offenbaren. Gerade daran aber hat die Romantik festgehalten. Für uns stellt sich das Unerklärliche, das Geheimnisvolle Gottes, der sich entzieht, anders dar: Im deus absconditus wird der Widerspruch eines Weltverständnisses gegen die Logik, durch die es philosophisch seinen Ausdruck findet, explizit. In diesem Widerspruch bleibt in der Romantik die Logik noch Sieger.

Kapitel 4 Das Subjekt in der Romantik

1

Die erkenntniskritische Konstellation

Die erkenntniskritische Konstellation, in der das Subjekt sich in der Welt darstellt, hat sich in der Romantik gegenüber der kritischen Philosophie Kants und Fichtes verändert. Das Denken der kritischen Philosophie wird bestimmt von der Erfahrung der Neuzeit, daß die Welt auf das Subjekt konvergiert. Das Subjekt befindet sich in einer absoluten Gegenlage zur Welt; die Bedingungen dafür, daß sich die Welt darstellt, wie sie sich darstellt, können nur in ihm gesucht werden. Das Subjekt der Romantik hat diese Gegenlage zwar nicht überhaupt verlassen, es weiß sich jedoch von einer Sphäre des Absoluten umfaßt, die alles einschließt, und die – und das ist entscheidend – sich selbst als Ich erweist. Diese Konstella­ tion nötigt erkenntniskritisch dazu, das empirische Ich mit dem absoluten Ich des Universums als (teil-)identisch zu verstehen. Das Subjekt der Romantik wird, um es zu wiederholen, hinausgerissen in die absolute Position des absolut Absoluten. Novalis kann deshalb Gott, zugegeben in kryptischer Form, als Derivation der Gattung – das will sagen: als das Allgemeine des empirischen Ich ansehen.1 Mit dem Denken von einem absolut Absoluten des Universums wird die erkenntniskritische Position des Subjekts im Vergleich zur kritischen Philosophie nicht nur verändert, sie wird preisgegeben. Denn für dieses Subjekt ist die Frage nicht, wie es sich der erfahrbaren Welt vergewissert; keine methodologischen Probleme beunruhigen die Erkenntniskritik. Für dieses Subjekt ist die Kernfrage, was es bedeutet, dieses Absoluten im Universum teilhaftig zu sein.

1

Novalis, Schriften, 2, S. 236 (430).

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_16

287

288

2

Das Subjekt in der Romantik

Die schöpferische Magie des Subjekts

Die Welt ist nicht, sie wird. Die Grunderfahrung der Welt der Neuzeit ist historisch; im neuzeitlichen Bewußtsein der Historizität bringt sich die Einsicht zum Ausdruck, daß die Welt des Menschen auf den Menschen konvergiert. » Zur Welt «, sagt Novalis, » suchen wir den Entwurf – dieser Entwurf sind wir selbst – Was sind wir ? personificirte allmächtige Puncte. «2

Im Verständnis der Romantik hat das Universum, die werdende Gottheit, den Menschen nicht festgelegt auf einen Ist-Bestand, an den es sich zu binden gilt. So stellt es sich allerdings bei Fichte, so bei Hegel dar. Fichte bindet die schöpferische Potenz des Ich an Gesetze, die nun einmal die Gesetze der Wirklichkeit sind. Die Harmonie der Welt ist eine statische Bindung zwischen dem Ich und ihr. Hegel sucht das Subjekt auf den historischen Ist-Bestand zu verpflichten, der sich als Prozeß der Selbstverwirklichung des absoluten Geistes darstellt.3 Ganz anders die Romantik. Sie befreit von der ungeliebten Wirklichkeit. Im Menschen realisiert sich die Unendlichkeit des Absoluten. Die Romantik versteht die Freiheit des Geistes als eine unendliche schöpferische Potenz. » Man kann und man ist, was man will. Man ist mehr oder weniger Ich, je nachdem man will. «4

Eben weil das Subjekt sich hinausgerissen weiß in die absolute Sphäre des Weltgrundes, weiß es sich auch mit dessen schöpferischem Vermögen versehen. Im Absoluten als schöpferischer Potenz aber liegt nicht eine Welt, in ihr liegen unendliche Welten; denn die absolute Potenz des Schöpferischen muß sich in unendlichen Individualitäten realisieren. So hat Schlegel es gesehen.5 Die Sinne müssen deshalb von der erfahrbaren Welt abgezogen werden; Magie ist die Kunst, sie willkürlich zu gebrauchen.6 In der Grenzüberschreitung über die erfahrbare Welt hinaus gleicht das magische Tun einer Art Wahnsinn; nur ist es ein Wahnsinn nach Regeln und mit vollem Bewußtsein.7 Darin, daß das Subjekt Welt und Welten immer neu entstehen läßt, erweist es sich als göttlich. – » Gott will Götter «.8 2 3 4 5 6 7 8

Novalis, Schriften, 2, S. 541 (74). G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 14 ff. (Vorrede). Novalis, Schriften, 2, S. 294 (659). Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 438, 445 ff., 461 ff. Novalis, Schriften, 2, S. 546 (109). Novalis, Schriften, 2, S. 547 (111). Novalis, Schriften, 2, S. 584 (248).

Die schöpferische Magie des Subjekts 289

Daß das Subjekt vermöge der Einbildungskraft eigene Welten entstehen läßt, hindert nicht daran, sich einer vorfindlichen Welt und vorfindlichen Objekten gegenüber zu wissen. Wir wissen ja: Subjekt und Objekt waren für die Romantik gleich ursprünglich. Novalis hat in einer Überlegung, in der mehrere Gedankenreihen ineinandergreifen, erklärt: » Je unabhängiger von der Vernunft etwas ist, desto fähiger – Bestimmungsgrund zu seyn – Hierinn liegt das Geheimniß der Magie alles positiven – alles Unerklärlichen … «9

Das Subjekt erfährt sich selbst am Objekt, nimmt letzteres zum Anlaß seines eigenen schöpferischen Vermögens. Dabei gewinnen Vergangenheit und Zukunft eine andere Bedeutung als die Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft sind das Sujet des romantischen Denkens. Die Gegenwart droht, die Vorstellung unter das Joch des Vorfindlichen zu zwingen; es bedarf eigens einer Anstrengung, sich von ihr zu befreien. Vergangenheit und Zukunft geben sie von sich aus frei. Verfolgen wir den Gedanken und fragen, wodurch sich das Subjekt legitimiert weiß, in dieser Weise mit der vorfindlichen Welt zu verfahren. Die Antwort drängt sich auf: Was immer an Objekten vorgefunden wird, ist selbst nur Ausdruck eines Absoluten als einer unendlichen schöpferischen Potenz. Es ist so willkürlich, wie die Welt willkürlich ist. » Willkühr und Zufall sind die Elemente der Harmonie. Willkührliche und zufällige Welt. In beyden Zuständen dasselbe Verhältniß. Wunder Welt und Naturwelt. «10

Was sich derart als Willkür und Zufall darstellt, ist es wegen der Freiheit des absoluten Subjekts, aus dem es hervorgegangen ist. Letzterem bleibt es aber auch verbunden. Sich mit ihm in der zuvor genannten Weise, also selbstschöpferisch, in Verbindung zu setzen, ist deshalb die einzig angemessene Weise, dem ontologischen Status der Welt Rechnung zu tragen. Die schöpferische Magie, aus der Imaginationskraft Welt und Welten entstehen zu lassen, ist nach allem nicht nur kein Hinderungsgrund, sich einer objektiven Wirklichkeit eingebunden zu wissen, ganz im Gegenteil: Das romantische Sehnen geht darauf, in diese Wirklichkeit einzutauchen, mit ihr eins zu werden und in ihr aufzugehen. Nur ist diese Wirklichkeit nicht einfach das plane Vorgefundene, die Endlichkeit des hier und jetzt, vielmehr die Unendlichkeit des Absoluten. Das Endliche bietet nur den Ausgangspunkt, um in ihm das Unendliche zu erfahren. Das ist gemeint, wenn Novalis sagt: » Nach Innen geht der geheimniß9 Novalis, Schriften, 2, S. 295 (661). 10 Novalis, Schriften, 2, S. 548 (112).

290

Das Subjekt in der Romantik

volle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. «11 Daher rührt auch die Naturschwärmerei der Romantik. In ihr und durch sie hindurch sucht der Romantiker der Unendlichkeit des Absoluten teilhaftig zu werden. Das Unendliche im Absoluten zu finden, ist Ziel allen Denkens; in ihm aufgehen heißt sterben. » Sterben «, sagt Novalis, » ist ein ächtphilosophischer Act. «12 Es ist nach allem kaum möglich, der Romantik die Dekonstruktion eines transzendentalen Signifikats zu unterlegen, Novalis gleichsam mit den Augen Derridas zu lesen.13 Nicht nur hat Novalis Zeichen und Bezeichnetes einander entgegengesetzt, verschiedenen Sphären zugeordnet, die sich gegenseitig bestimmen,14 für den Romantiker kommt alles darauf an, sich in eins zu setzen mit dem Universum. Seine schöpferische Produktion mag mit den Zeichen und der Grammatik der Sprache noch so willkürlich umgehen, darauf komme ich noch zurück, mit ihnen soll eine Sphäre des Seins erreicht werden, die anders nicht zu erreichen ist. Möglich ist das nur dadurch, daß im magischen Gebrauch der Sprache die Zeichen eine Sympathie mit dem Bezeichneten aufweisen.15 Wenn der Mensch nur den richtigen Weg einschlägt, dann wird sein Gedankensystem zur getreuen Abbildung (!) des Universums.16

3

Das Verständnis der Natur als Objektwelt

Die Objektwelt ist eine Subjektwelt. Das gilt, wie wir gesehen haben, insofern, als sie aus der Subjektivität des Absoluten herausgegangen ist. Novalis wie Schlegel haben sich Spekulationen darüber hingegeben, warum die Welt überhaupt ist, und warum sie ist, wie sie ist. Beide gehen von einem Urbedürfnis des Ich aus, sich entgegenzusetzen.17 Damit ist ein Objektives gemeint: Die Selbstreflexion ist die Grundform der Produktivität. Umgekehrt erfolgt alle Produktivität in der Sphäre der Selbstreflexion. Die Welt liegt in der Immanenz der Selbstreflexivität des Ich. Ich habe das Dictum Schlegels schon zitiert: » Gott «, sagt Schlegel, » hat die Welt hervorgebracht, um sich selbst darzustellen. «18 Für Novalis entstand die vorfindli11 Novalis, Schriften, 2, S. 419 (22). 12 Novalis, Schriften, 2, S. 374 (35). 13 So W. Menninghaus, Die unendliche Verdoppelung, S. 96 ff., 115 ff. 14 Novalis, Schriften, 2, S. 108 (5). 15 Novalis, Schriften, 3, S. 266 (137). 16 So Novalis, in: Die Lehrlinge zu Sais, Schriften, 1, S. 101. 17 Novalis, Schriften, 2, S. 119 (22). 18 Fr. Schlegel, Transzendentalphilosophie, KA XII, S. 39; ders., Die Entwicklung der Philosophie KA XII, S. 419.

Das Verständnis der Natur als Objektwelt 291

che Welt als ein Spiel; es war ein Experimentieren des Geistes mit dem Nichts und dem Etwas.19 Was entstand, war deshalb Manifestation des Geistes selbst, » personificirte Emanationen «, wie Novalis notiert.20 Prägnant heißt es: Selbstheit ist das Prinzip der Mannigfaltigkeit – Du statt Nicht-Ich.21 Die Kosmogonie entspricht der Prozessualität des Erkennens, derzufolge sich im Erkenntnisprozeß Subjekt und Objekt immer zugleich als Subjekt und Subjekt begegnen. Jede Seite vereinigt in sich Zustand und Gegenstand, ist also ein selbstreflexives Subjekt-Objekt. » Alles, was man denken kann, denkt selbst … «22

Und mehr noch: » In allen Praedicaten, in denen wir das Fossil sehn, sieht es uns wieder. «23

Novalis erwägt deshalb, ob Erkenntnis vom Objekt überhaupt nur so weit möglich ist, als es sich selbst erkennt.24 Auch Schlegel hat in der Schöpfungsgeschichte die » grobe Körperlichkeit « des Universums trotz der Erstarrung beseelt sein lassen; sie ist Geist vom ursprünglichen Geist. Als Bewußtsein und tätiges Prinzip in ihm ist der Geist durch die Beharrlichkeit, die Starrheit auf allen Seiten lediglich gehemmt und gebunden.25 Fortan haben wir es deshalb mit zwei Arten von Bewußtsein zu tun: dem eingeschlossenen irdischen Geist und dem in der atmosphärischen Luft vorhandenen freien Geist. Und warum das alles ? Der ganze Bildungsprozeß des Universums erweist sich als notwendiger Weg des absoluten Geistes zur Darstellung seiner selbst in der unendlichen Mannigfaltigkeit seiner möglichen Gestaltungen. Die lassen sich allerdings erst in den Menschen realisieren; denn in ihnen kommt zum irdischen Trieb der Absonderung und Selbsterhaltung der Trieb der Darstellung hinzu und findet in den Sinnen auch die notwendigen Mittel. » Der Zweck bei allen Hervorbringungen der Erde ist doch, daß diese sich selbst wieder hervorbringe. «26

19 20 21 22 23 24 25 26

Novalis, Schriften, 3, S. 383 (634). Novalis, Schriften, 3, S. 266 (137). Novalis, Schriften, 3, S. 430 (820). Novalis, Schriften, 3, S. 623 (425). Novalis, Schriften, 3, S. 623 (421). Novalis, ebd. Vgl. zum folgenden Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 429 ff. Fr. Schlegel, ebd., S. 465.

292

Das Subjekt in der Romantik

Die Naturgeschichte ist deshalb ein unendlicher Prozeß der Perfektibilität; er beginnt mit der unendlichen Sehnsucht des absoluten Geistes, der sich mit seinem Gegenstand als absolutes Selbst erzeugt,27 und er endet mit der Entstehung der Menschen, denen die Aufgabe gestellt ist, den Bildungsprozeß des Absoluten in der unendlichen Mannigfaltigkeit seiner Möglichkeiten zu vollenden. Wie erinnerlich, ist die bei Schlegel so phantastisch ausgestaltete Natur­ geschichte durchaus als Darstellung eines realen naturgeschichtlichen Prozesses gemeint. Dessen Anfänge entziehen sich der Bestimmung der Naturwissenschaften und fallen der Philosophie zu; sie sind jedoch nicht weniger real als die ihnen nachfolgende Geschichte der Erde. Die Philosophie hat es überhaupt nur mit dem Realen zu tun: dem Welt-Ich in seinen verschiedenen Formationen.28 Die Naturgeschichte als Schöpfungsgeschichte – und vice versa – zeigt mithin, in welcher Welt die Romantiker lebten und welche Rolle sie sich selbst in diesem kosmogonischen Prozeß der Selbstwerdung des absoluten Geistes zuschrieben: Der Mensch, genauer der Romantiker, ist es, der endlich » die Reflexion des irdischen Elementes über sich selbst « verwirklicht und den weltgeschichtlichen Prozeß vollendet. Novalis hat die Form, in der die Geistigkeit zu sich selbst kommt, in dessen Selbstdarstellung in die Bestimmung des endzeitlichen Momentes aufgenommen. In der künstlerischen Schaffenskraft überbietet der Mensch die hinter ihm liegenden naturgeschichtlichen Gestaltungen des Absoluten, die dabei selbst zu ihrer Bestimmung gelangen. » Der Mensch «, sagt Novalis, » ist der Messias der Natur. «29

4

Poesie

Poesie also ist es, in der sich der Mensch selbst findet, weil er in ihr seine schöpferische Freiheit im Absoluten realisiert. Man muß, wenn man die Bedeutung der Poesie für die Romantik, und d. h. für das Subjekt der Romantik, verstehen will, den Doppelaspekt im Auge behalten, in dem sich die Subjektivität des Subjektes zeigt: in der Differenz, die zwischen dem Endlichen und Unendlichen liegt, und zugleich in deren Identität. Poesie ist in der Differenz zwischen Endlichem und Unendlichem das Verfahren, mit dem sich das endliche Subjekt seiner Unendlichkeit im Absoluten und damit seiner Identität mit ihm vergewissert. Dieser Weg führt über das Gefühl, die Stimmung, ekstatisch auch über die Begeisterung. Der Weg über das Gefühl, der im gemeinen Bewußtsein für die Romantik begriffsbildend geworden ist, hat systematische Gründe. In der Selbstreflexivität holt 27 Fr. Schlegel, ebd., S. 477. 28 Fr. Schlegel, ebd., S. 474. 29 Novalis, Schriften, 3, S. 248 (52); 1, S. 110.

Poesie 293

sich, wie wir gesehen haben, das Subjekt nie ein; immer ist dasjenige, das sich als Subjekt in die Objektstellung bringt, ein anderes als dasjenige, das in der Objektstellung erscheint. In dem Versuch, auf jenes Subjekt zu reflektieren, das sich in Objektstellung bringt, wiederholt sich das Spiel. Der Regreß ist unendlich und verweist aufs Unendliche. Unter diesen Umständen wäre das Subjekt nie bei sich, wenn es nicht einen anderen, direkten resp. unmittelbaren Weg gäbe. Fichte schon hat ihn beschritten: In der » Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre « hat er den Anstoß, den das Ich von » einem Etwas ausser demselben « erfährt, dem Ich als Gefühl gegeben sein lassen.30 Dieses Gefühl äußert sich als Nichtkönnen im Subjekt, also als Beschränkung des Triebes aufs Unendliche. Auch der weitere Erkenntnisprozeß ist vom Gefühl abhängig. » Von solchen lediglich subjectiven Beziehungen aufs Gefühl geht alle unsere Erkenntnis aus; ohne Gefühl ist gar keine Vorstellung eines Dinges ausser uns möglich. «31 Novalis hat Gefühl und Reflexion als die beiden Sphären verstanden, die dem Ich zugehören. Womit das Denken anfängt, was ihm als Ich gegeben ist, ist ein Gefühl; was gefühlt wird, sagt Novalis, ist die Urhandlung; die aber verknüpft das Gefühl mit der Reflexion.32 Ich habe oben bereits darauf hingewiesen, daß beide, Gefühl und Urhandlung, nicht als zeitlich verschieden gedacht werden dürfen, sondern instantan. Eben weil das Gefühl zum Ich als Urhandlung gehört, läßt sich über es auch das Ganze des Universums in das Ich einholen. Anders als Fichte, der das Gefühl in seiner inhaltlichen Bestimmtheit zur Gänze an das Ich verweist, hält Novalis im Gefühl fest, daß es Mittler des Gegenstandes ist. » Gefühl bezieht sich vom Gegenstand (Objekt) auf Gegensatz (Subjekt) und heißt zurückgehende Empfindung. «33

Als endliches Subjekt, das teilhat am Unendlichen, vergewissert sich deshalb das Subjekt seiner Partizipation am Unendlichen in einer doppelten Weise: Zum einen läßt es Welt dadurch entstehen, daß es sie darstellt. » Poesie ist die Darstellung des Gemüths – der innern Welt in ihrer Gesamtheit. «34

Dabei muß man sich bewußt bleiben, daß die Darstellung ein schöpferisches Geschehen ist, das dem Absoluten des Universums selbst zugehört. Wenn wir uns an J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Werke 1, S. 279. J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre 1, S. 314. Novalis, Schriften, 2, S. 114 (15); 116 (19). Novalis, Schriften, 2, S. 206 (289); Objekt, Subjekt, in Klammern gesetzt, sind von mir zugefügt. 34 Novalis, Schriften, 3, S. 650 (553).

30 31 32 33

294

Das Subjekt in der Romantik

die Kosmogonie Schlegels erinnern, so ist sie geradezu das Ziel der ganzen Schöpfung: Das Absolute sucht sich in der unendlichen Mannigfaltigkeit seiner selbst zu realisieren. Wenn, wie Schlegel sagt, die Gottheit sich im Menschen vollendet,35 dann in der Poesie. Und wenn Novalis sagt, die Darstellung des Gemüts müsse selbsttätig sein: » Nicht wie es ist, sondern wie es seyn könnte «,36 dann bringt auch er den kosmischen Bezug zum Ausdruck: Im Menschen realisiert sich das Absolute des Geistes. Damit ist auch schon die andere Seite der Vergewisserung der Partizipation des endlichen Subjekts am Absoluten und zugleich auch das Verfahren dieser Vergewisserung genannt: dadurch nämlich, daß sich das Subjekt der schöpferischen Potenz gleichmacht. Die schöpferische Potenz des Absoluten des Universums kann auf der Folie der absolutistischen Logik nur begriffen werden als die Macht vor der realen Gestaltung, die letztere erst aus sich heraus setzt. Wenn das Absolute in die Welt eingeholt wird, kann sie immer noch nicht anders gedacht werden, nur eben mit der Bestimmung, in der Welt zu sein. Das Subjekt realisiert, was philosophisch die transzendentale Poesie reflektiert: Es okkupiert als schöpferische Poesie den absoluten Werdepunkt des Geistes, jenen, in dem der Geist sich befindet, » eh er Geist wird. «37 Wie kann ein endliches Subjekt in der Welt dessen Ordnung transzendieren ? Es muß und wird versuchen, das Instrument der Ordnung, Sprache, aber eben nicht nur Sprache, sondern ebenso Denken, in seiner normalen Grammatik zu dekonstruieren und als Mittel herzurichten, um jenes schöpferische Moment zu erfassen. Chaos bezeichnet das Ursprüngliche des Ursprungs; und seiner gilt es teilhaftig zu werden. Eben so sagt es Schlegel: » Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftigen denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter. «38

Novalis faßt direkt das Verfahren ins Auge, in dem, im Umgang mit der Sprache, das Chaos erreicht wird: » Erzählungen, ohne Zusammenhang, jedoch mit Assoziation, wie Träume. Gedichte – blos wohlklingend und voll schöner Worte – aber auch ohne allen Sinn und Zu-

35 36 37 38

F. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 419. Novalis, Schriften, 3, S. 650 (557). Novalis, Schriften, 3, S. 248 (51). Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie (1800), KA XII, S. 204.

Poesie 295

sammenhang – höchstens einzelne Strofen verständlich – sie müssen, wie lauter Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen (seyn) … «39

Die Erklärung nimmt sich aus wie ein Vorgriff auf Rimbaud und Mallarmé oder weiter noch auf die Postmoderne. Zur Erhärtung lassen sich weitere Äußerungen Novalis’ anführen, so, wenn er in einem Monolog über die Sprache sagt: Sprache sei ein Spiel mit Worten, nur um sich selbst bekümmert.40 Dennoch ist etwas ganz anderes gemeint, als in der dekonstruktiven Theorie der Postmoderne, etwa bei Derrida, so anders, daß man sagen kann, die Romantik habe damit nichts, aber auch gar nichts gemein. Denn den Romantikern geht es gerade darum, sich einer existenten Wirklichkeit, eben des Absoluten des Universums, zu versichern. Das ist länger nicht dadurch möglich, daß die Metaphysik die Ontologie an der planen vorfindlichen Wirklichkeit festmacht. Die Romantiker haben sich gerade von der planen Wirklichkeit befreit, allerdings ohne sie ihres metaphysisch-ontologischen Status zu entsetzen oder auch nur systematisch entsetzen zu können. Die Ontologie ist eine Ontologie des Schöpferischen, aber des Schöpferischen im Absoluten des Universums. Eben deshalb kann Novalis von der Kunst sagen, das Wesen der Kunst liege in der Tätigkeit des Künstlers, die Welt nachzubilden.41 In der Versenkung in das Zentrum der Innerlichkeit versetzt sich das poetisch schaffende Ich zugleich in das Zentrum des absoluten Ich im Universum, setzt dessen Geschichte frei im Bewußtsein seiner selbst.42 Die wesensmäßige Identität des endlichen und unendlichen Ich ist die Quelle der Innerlichkeit. » Ich «, erklärt Novalis, » ist der Begriff des Innen. «43

Innen aber liegt das Universum. Die Identität des empirischen Ich mit dem alles umschließenden Ich des Universums ist der Grund für die Innerlichkeit der Romantiker. Im » Blüthenstaub « heißt es – ich habe die Äußerung schon angeführt: » Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg. In uns oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. «44

Im Innern ihrer selbst suchen sich die Romantiker eines Seins zu vergewissern, das ihnen die in der planen Realität verlorene Bedeutungsfülle des Daseins wie39 40 41 42 43 44

Novalis, Schriften, 3, S. 572. Novalis, Schriften, 2, S. 672 f. Novalis, Die Lehrlinge zu Sais, Schriften, 1, S. 102. Novalis, Heinrich von Ofterdingen, Schriften, 1, S. 210. Novalis, Schriften, 2, S. 286 (645). Novalis, Schriften, 2, S. 419 (22).

296

Das Subjekt in der Romantik

dergeben soll. Den Zugang zu ihm verschafft die Phantasie; ihre schöpferische Produktivität ist eins mit der schöpferischen Geistigkeit des Universums, die Welt und Welten aus sich heraussetzt. In ihr suchen die Romantiker sich dadurch mit jedweder Realität in eins zu setzen, daß sie durch sie hindurch in die Mitte des Universums vordringen. Das seit Beginn der Neuzeit schwelende Problem eines idealistischen oder realistischen Weltverständnisses soll auf diese Weise eine Lösung finden.45 Das romantische Subjekt partizipiert, wie wir eingangs schon gesehen haben, an der Geistigkeit Gottes. Alles Denken, erklärt Schlegel, vollends aber alle Poesie ist ein Divinieren.46 Wobei es im Divinieren geht, ist deutlich geworden: Sich der Teilhabe an einer bedeutungsvollen Welt zu vergewissern. Der Weg dazu führt über jedes einzelne Objekt; das Absolute ist in allem; nur führt er immer auch über das einzelne Objekt hinaus in die Unendlichkeit des Ganzen. Es geht nie um die profane, sondern immer um die höhere Welt. Denn sie allein ist die bedeutungsvolle. Aus dem Bewußtsein, sich im Zentrum des Universums zu befinden, weil die Geistigkeit nur eine ist, die endliche und unendliche im Wesen identisch sind,47 mehr noch: der Gegensatz zwischen ihnen gar nicht mehr statthat, wird auch die vielverkannte romantische Ironie verständlich.48 Sie ist der Poesie eng verbunden. Wie letztere ist sie der Unendlichkeit des Geistes im Universum verpflichtet. » Ironie «, sagt Fr. Schlegel in den » Ideen «, » ist klares Bewußtsein der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos. «49

Wenn poetisch leben unendlich leben heißt, dann muß jeder sich unablässig über sich selbst hinwegsetzen, auch über sein Schaffen in der Poesie, also auch » über ihr Höchstes «.50 Im Selbstverständnis der Romantik weiß sich der Mensch der Fülle des Seins teilhaftig. Entwicklungslogisch nimmt sich der Vorgang aus der Distanz von zwei Jahrhunderten anders aus: Die Romantik antwortet auf den Verlust der Welt, den das Subjekt in der Neuzeit erleidet; er ist ihr unerträglich. Unter der Geltung der absolutistischen Logik vermag sie jedoch nichts gegen ihn auszurichten; im GeFr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, Kr. Schr. StA 2, S. 203. Fr. Schlegel, Gespräch über die Poesie, Kr. Schr. StA 2, S. 205. Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 410 ff. Kierkegaard hat nicht wahrgenommen, daß Ironie wie Poesie gerade durch das Aufgehen im Absoluten entsteht. S. Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, S. 305. Vgl. im übrigen zur romantischen Ironie J. Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, sowie H. Prang, Die romantische Ironie. 49 Fr. Schlegel, Ideen, Kr. Schr. StA 2, S. 227 (69). 50 Vgl. Fr. Schlegel, Lyceum, Kr. Schr. StA 1, S. 246 (87). 45 46 47 48

Der Verlust der Welt in der Romantik 297

genteil: Sie setzt im Überstieg in eine jeder Anbindung an die vorfindliche Welt entbundenen Phantasie und Poesie das Siegel darauf.

5

Der Verlust der Welt in der Romantik

Der Romantik fiel eine Aufgabe zu, die im Transformationsprozeß des Denkens unabweislich war: das Subjekt in die Welt einzubinden und dabei seine in der Neuzeit gewonnene Position, die Welt auf sich konvergieren zu lassen, zu behaupten. Denn beides, das Wissen um die Konvergenz der Welt auf das Subjekt wie um die Einbindung des Subjekts in die Welt, bestimmt das Weltbild der Neuzeit. Wie beide Theoreme zu vereinen sind, macht die erkenntnistheoretische Problematik der Neuzeit aus. Die Romantik läßt darin die kritische Theorie hinter sich, daß sie über das an das empirische Subjekt gebundene absolute Ich hinausgeht und von einem Absoluten als Ich des Universums her zu denken sucht. Solange die absolutistische Logik fortgilt, ist diese Strategie in der Tat die einzige, durch die das Subjekt der Welt eingebunden werden kann. Ungeachtet der Unmöglichkeit, ein Erstes als Absolutes zu denken, es mithin prädikativ als Eines auszuzeichnen, muß an einem Absoluten als Ausgangspunkt allen Denkens festgehalten werden. Insofern aber ist es auch bestimmt; das Absolute muß als Subjektivität und Geistigkeit des Ich verstanden werden. Mit der Restitution eines Absoluten des Universums, von dem her die Welt verstanden werden soll, sucht die Romantik den Weltverlust, wie er sich als Konsequenz der kritischen Philosophie eingestellt hatte, wettzumachen. Die Restitution des Absoluten im Universum bedeutet nicht auch die Restitution der alten Metaphysik. Die Romantik bestimmt das Absolute derart, daß es in der Immanenz der Relationalität des Ganzen gehalten wird. Es ist offensichtlich, daß sich in dieser Konstellation die spezifische Bewegung in der Geistesgeschichte der Neuzeit zum Ausdruck bringt: Das Universum wird seit der naturwissenschaftlichen Revolution als ein System in zuständlicher Dynamik verstanden. Die Romantik sucht deshalb, das Absolute der Dynamik des Universums immanent sein zu lassen, hält damit aber an einem Agens für sie fest. Es ist als Ich des Agens in der Relationalität des Ganzen. Eingeholt in die Immanenz des Universums ist dieses Ich das » Große Ich – das Eins und Alles zugleich ist. «51 Schweben bezeichnet dessen eigenartige Positionalität, in aller Relationalität das » Bewegende zwischen der manifesten Wirklichkeit « zu sein. So stringent sich die Strategie, von einem absolut Absoluten des Universums her zu denken, unter der Fortgeltung der absolutistischen Logik erweist, sie steht 51 Novalis, Schriften, 3, S. 314 (398).

298

Das Subjekt in der Romantik

im unaufhebbaren Widerspruch zum Weltverständnis der Neuzeit. Daß das Universum in zuständlicher Dynamik gedacht wird, heißt gerade, daß es nicht länger eines energetischen Anstoßes bedarf. Der Widerspruch wird in der erneuten Vergeistigung des Universums manifest. In der naturwissenschaftlichen Revolu­ tion war die Natur jeder Geistigkeit entsetzt worden. Denn letztere lag in der subjektivisch-absolutistischen Logik begründet; und die wurde im Naturverständnis eliminiert. Die kritische Philosophie hatte die Eliminierung bestätigt: Wir haben, mit Kant zu reden, gar keinen Grund, die Natur » als intelligentes Wesen « anzunehmen.52 Die Restitution eines absoluten Ich im Universum als das alles bestimmende Agens läßt für das mechanistische Verständnis, in dem sich das Universum in der Naturwissenschaft ihrer Zeit darstellt, im Grunde keinen Platz. Die Romantiker weisen es einer vordergründigen technischen Betrachtung zu.53 Bestätigt sehen sich die Romantiker in der erneuten Vergeistigung des Universums dadurch, daß nicht einsichtig ist, wie anders der Mensch in die Natur hätte eingeordnet werden können. An der Geistigkeit des Menschen stabilisiert sich die Geistigkeit der Natur. Wenn selbst Kant es für ausgeschlossen erachtet hatte, daß je ein Newton des Grashalms würde gefunden werden,54 so ist es für die Romantiker schlechterdings unvorstellbar, daß je die Geistigkeit des Menschen aus dessen naturaler Organisation würde erklärt werden können.55 Die Romantik hebelt m. a. W. über die absolutistische Logik die Sinn- und Geistlosigkeit des Universums aus. In der Kosmologie der Romantik – und die romantische Philosophie ist eine einzige Kosmologie und Kosmogonie in einem – stützen sich das empirische Subjekt und das Subjekt des Universums gegenseitig. Das empirische Subjekt partizipiert als endliches am unendlichen, so wie das Endliche überhaupt am Unendlichen partizipiert, sich als dessen Manifestation erweist. Es wird über die vorfindliche Welt in eine höhere Welt hinausgerissen und in der Bestimmung der Sinnhaftigkeit seines Daseins an sie verwiesen. Die Bedeutsamkeit, die damit die höheren Welten gewinnen, ist allerdings nicht nur eine Konsequenz der Bindung an die absolutistische Logik. Die hätte nicht gehindert, das Subjekt auf die existente Welt als Manifestation des Absoluten zu verpflichten. Hegel hatte diese Bindung als die Bindung an die real gewordene Vernunft dem Subjekt einzuschärfen gesucht. Wenn die Romantik sich mit der manifesten Welt nicht zufrieden gibt, so deshalb, weil an dieser Welt die Sinnbestimmung nicht länger zu realisieren ist. 52 I. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 61, S. 359. 53 Vgl. Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 462: » … bloß mechanisch aber ist nichts, da ein alles belebender Geist die Natur durchdringt … « 54 I. Kant, ebd., § 75, S. 400. 55 So explizit Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XIII, S. 30.

Der Verlust der Welt in der Romantik 299

Eine Geschichte lang war Sinn an das tägliche Tun gebunden, weil letzteres das Subjekt an die sinnfreie Sphäre des Lebens zurückband. In der bürgerlichen Welt wird die produktive Tätigkeit von dieser Ressource abgekoppelt. Was die Romantik als System von Zwecken perhorresziert, ist Ausdruck der Selbstreferentialität, die fortan über die Ökonomie die Sozialwelt und mit ihr das tägliche Tun der Menschen bestimmt. Die Realität im planen Ist-Bestand der Gegenwart bindet; Bindung aber ist, wie Schlegel sagt, die ärgste Vernichtung, die es für geistige Wesen gibt.56 Die absolutistische Logik ermöglichte es dem Subjekt, sich von der planen Realität loszusagen und sich in der Poesie einer alles übersteigenden Willkürlichkeit schöpferischer Gestaltungen des Daseins hinzugeben: Leben als Poesie. Die Romantiker waren Intellektuelle; nur Intellektuelle sind in der Lage, sich ein derart ausgearbeitetes System zu konstruieren, um dann auch noch zu versuchen, es unter Geringachtung jeder Form von Alltäglichkeit zu leben. Denn das wollten die Romantiker: die Poesie leben. Möglich ist solch eine Programmatik nur, wenn das Subjekt zuvor schon von der vorfindlichen Praxis freigesetzt oder richtiger: erst gar nicht mehr auf sie verpflichtet wurde.57 Mit der Praxis wird es überhaupt von einer verpflichtenden Welt freigesetzt. Ersichtlich setzen die Romantiker mit dieser Entpflichtung das Siegel auf den Verlust der Welt. Denn der Überstieg in die Sphäre der Phantasie und Poesie kann die Welt nicht ersetzen. Mit ihnen gerät das Subjekt in eine prekäre Situation. Denn wie unsere konstitutionstheoretische Erörterung gezeigt hat, bildet das Subjekt sich in der Anbindung an eine Welt allererst in seiner Subjektivität aus. Notwendig, strukturnotwendig gerät deshalb das Subjekt mit dem Verlust einer verpflichtenden Welt in eine Krise.

56 Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 439. 57 Vgl. zur Lebenslage Novalis’ M. Dick, Die Entwicklung des Gedankens der Poesie, S. 460.

Kapitel 5 Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

1

Das empirische und das reflexive Subjekt

1.1

Differenz und Identität

Wonach fragen wir, wenn wir nach einem Subjekt fragen, das in eine Krise geraten ist und sich in der Krise dadurch zu behaupten sucht, daß es sich selbst neu bestimmt ? Ersichtlich sind wir mit zweien befaßt: mit dem empirischen Subjekt, das sich zu bestimmen sucht, und jenem, das in der Bestimmung Gestalt gewinnt. Das empirische Subjekt ist eines, das in der Sozialwelt verankert ist; es hat in ihr seinen Bildungsprozeß hinter sich. Als romantisches Subjekt lebt es unter spezifisch bürgerlichen Bedingungen und kreist in einer permanenten Selbstreflexion um sich. Damit entsteht das andere, jenes literarische, das in Briefen, Autobiographien oder in Romanen seinen Ausdruck findet. Im Fokus unseres Interesses ist das letztere, jenes, durch das das Subjekt der Zeit sich versteht oder zu verstehen sucht. Wir befinden uns also von vornherein nicht auf der Ebene der Beschreibung der realen Lebenspraxis, sondern auf der Deutungsebene, auf der das Subjekt nachfragt, wie es sich zu verstehen hat. Welches ? Doch wohl das empirische. Nur nimmt das empirische, das sich in ein Universum einzuordnen sucht, eine andere Gestalt an als jenes in den realen alltäglichen Lebensvollzügen. Gleichwohl sucht jede Selbst­bestimmung, sie mag ausfallen, wie sie will, sich als empirisches Subjekt zu bestimmen und einer Realität zu verbinden. Auch wenn das Subjekt meint, das Innerste seiner selbst sei ihm einzig in der Phantasie zugänglich, und auch wenn es vermöge der Phantasie sich einer hintergründigeren Wirklichkeit zu verbinden gedenkt, bleibt es noch immer das empirische Subjekt, das sich derart versteht. Überdies ist eine Phantasie, die sich reflexiv selbst als Phantasie und insofern als irreal weiß, doch darin real, daß von dem Subjekt, das sich dieser Phantasie verschreibt, gesagt wird, es suche sein Dasein in der Phantasie und durch sie © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_17

301

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Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

zu bestimmen. Wollte man das Gegenteil annehmen, würde man gar nicht verstehen, was das romantische Subjekt sei. Denn das bringt in seiner Intellektualität jene Radikalität mit, sich durch das in der Reflexivität gewonnene Selbstverständnis im realen Dasein bestimmen zu lassen. Poesie leben, das ist die Maxime der Romantiker.

1.2

Das empirische und das ästhetische Subjekt

K. H. Bohrer hat zwischen dem, was wir das empirische und das literarische Subjekt genannt haben, einen scharfen Schnitt gezogen und jenes, das sich in der literarischen Selbstdarstellung zeigt, da es ein poetisches ist, als ästhetisches Subjekt bezeichnet.1 Letzteres sieht er herausgenommen aus der Ordnung der sozialen Organisation, die die soziale Identität bestimmt und auf Selbsterhaltung verpflichtet. Das ästhetische wird nicht nur im Modus fiktionaler Selbstdarstellung faßbar, es selbst begründet sich allererst in der Reflexion und literarischen Formierung, ist also selber fiktional. Die Abkoppelung von der sozialen Realität ist zugleich eine Abkoppelung auch von der historischen Realität, also der Kontinuität der gesellschaftlichen Strukturen und Geschehnisse in der Zeit. Das ästhetische Subjekt läßt sich, sagt Bohrer, nur aus der Diskontinuität der Geschichte begreifen. Jede gegenteilige Behauptung fällt, folgt man Bohrer, dem Teleologieverdacht zum Opfer. Die Abkoppelung bedeutet darüber hinaus eine Abkoppelung von einer intersubjektiv geteilten Rede. Das ästhetische Subjekt kann sich nur in einer intersubjektiv nicht geregelten Rede darstellen. Bohrer hält sich in seiner Bestimmung der ästhetischen Subjektivität an dessen Selbstdarstellung, an die Inhaltsebene also. Wir haben sie kennengelernt: Je weiter die Romantik fortschreitet, desto entschiedener löst sich das Subjekt aus den Bezügen der realen Welt heraus; es findet sich selbst nicht als ein gegebenes vor, versteht sich vielmehr als das, das sich erst zu dem bestimmt, was es sein will. In dieser Form der Selbstbestimmung sieht Bohrer die Diskontinuität des ästhetischen Subjekts im Verhältnis zur Welt und Geschichte sowie die Preisgabe der Selbst­ behauptung begründet. Bliebe Bohrer auf der Beschreibungsebene, wäre wenig gegen die Darstellung der Subjektivität einzuwenden. Die Umwandlung in ein geschichtsphilosophisches Theorem verdirbt jedoch das Konzept und verkürzt die mögliche Erkenntnis. Denn die Frage, die sich ganz unabweislich stellt, ist, wodurch diese Konstellation historisch heraufgeführt worden ist und wie jenes ästhetische Subjekt dem realen verbunden ist.

1

Vgl. zum folgenden K. H. Bohrer, Der romantische Brief, S. 11 ff.

Das empirische und das reflexive Subjekt 303

Wir haben in den vorhergehenden Erörterungen gezeigt, daß die Ge­schichte über Strukturen organisiert ist, die in dem, was sie an Entwicklungsmöglichkeit enthalten, der Geschichte einen Richtungssinn verleihen. Es ist deshalb ein Irrtum zu meinen, daß Kontinuität überhaupt nur über eine Teleologie der Ge­ schichte hergestellt werde. Prozeßlogisch können Strukturen gar nicht anders gedacht werden als dadurch, daß die Möglichkeiten ihrer Weiterentwicklung als von ihnen mitbestimmt verstanden werden. Der Richtungssinn, der dadurch der Geschichte aufgezwungen wird, ist ganz unvermeidlich. Es kann in der Entwicklung Stillstand und Regressionen geben; Kulturen gehen unter, ein sozialstrukturell erreichtes Niveau der Entwicklung geht verloren. Das gibt es. Dann besteht die Chance, in einer anderen Kultur oder zu einer späteren Zeit den schon einmal erreichten Entwicklungsstand neu zu schaffen und die sozialstrukturelle Entwicklung fortzusetzen. Mit ihr ändert sich dann auch das Verhältnis von Subjekt und Welt und damit ebenfalls das Selbstverständnis des Subjekts. Im Blick auf diese virtuelle Linie der Entwicklung läßt sich sagen, daß nichts aus der Kontinuität der Geschichte herausfällt, auch nicht – das ist die Pointe ihrer strukturlogischen Betrachtung – eine Diskontinuität, derzufolge sich das Subjekt grundlegend anders versteht als in aller Geschichte zuvor. Das zeigt sich am Umbruch in der Logik des Weltverstehens, wie er sich in der Neuzeit vollzieht; er bewirkt eine Diskontinuität im Weltbild, die man sich radikaler nicht denken kann. Allein, dieser Umbruch ist über eine Kontinuität in der Geschichte heraufgeführt worden. Auch das Subjekt der Neuzeit artikuliert sich in der Romantik in einer Weise, die gegenüber allem, was zuvor als Subjekt verstanden wurde, diskontinuierlich ist. Auch die Diskontinuität im Selbstverständnis des Subjekts verdankt sich jedoch einer Kontinuität in der Entwicklung der Subjektivität, die der Kontinuität in der Entwicklung der Geschichte folgt. Die Diskontinuität, über die Bohrer das ästhetische Subjekt sich bestimmen sieht, ist eine historisch reale Diskontinuität und eben deshalb an Gesellschaft und Geschichte rückgebunden.

1.3

Erfahrung und Selbstverständnis

Jede Reflexion auf das Subjekt kann nichts anderes tun, als es aus der Welt, in der es sich vorfindet, zu verstehen zu suchen. Selbst der Imperativ, sich in der Reflexion thematisch zu machen und sich dadurch zu dem zu bestimmen, was es sein will, muß oder soll, muß interpretativ einer Welt zugerechnet werden, die das Subjekt darauf festlegt, in dieser reflexiven Weise sein Leben zu führen. Wir gehen mithin davon aus, daß jedes Ich ein aus der Erfahrung der Welt herausdestilliertes Ich ist. Wie sich das Subjekt für sich selbst darstellt, das hängt deshalb davon ab, in welcher Welt es sich vorfindet und wie es sich in ihr reflektiert. Wir fassen da-

304

Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

mit jene zwei Analyseebenen in den Blick, die wir eingangs unterschieden haben: Die erste wird bestimmt durch die realen Bezüge, unter denen das Subjekt sich bildet und lebt; die zweite wird bestimmt durch die reflexive Einbindung in das Deutungssystem des Universums; und das ist einer Logizität des Denkens verhaftet, durch die das interpretative Raster bestimmt wird, in der das Universum sich darstellt. Beide Ebenen sind gleichwohl einander vermittelt: Es ist immer das reale Subjekt in den von den realen Verhältnissen bestimmten Strukturen, das reflektiert. Es nimmt in die Reflexion sein eigenes Dasein mitsamt den daran haftenden realen Erfahrungen hinein. Die Frage ist deshalb allemal, wie es sich im Deutungssystem des Universums unterbringt. Wer deshalb das Subjekt nur so versteht, wie es sich unter dem Zwang der Logik explizit darstellt, erfaßt nicht die Situation, in der es sich befindet. Es kommt darauf an, das Wissen um die Realität, in der das Subjekt sich vorfindet, festzuhalten, um so die Verwerfungen zu erfassen, die sich zwischen beiden Analyseebenen bilden können. Letztere bestimmen in besonderer Weise die Situation des romantischen Subjekts. Das romantische Subjekt bildet sich, wie wir oben erörtert haben, unter grundlegend veränderten sozialisatorischen Bedingungen. Es entwickelt in der Bindung an die Familie, insbesondere an die Mutter, eine andere Intimität als in der Vergangenheit; und es gewinnt ein Verhältnis zur Welt, demzufolge es in seiner inneren Natur auf keine Daseinsweise in dieser Welt festgelegt wird. Kann es irgend zweifelhaft sein, daß das » ästhetische Subjekt «, also dasjenige, das sich in der reflexiven Darstellung und poetischen Gestaltung als Subjekt in der Weise zeigt, daß es aus jeder seiner Gestaltungen wieder heraustritt und sich über sie hinwegsetzt: kurz, sich ironisch gibt, kann es irgend zweifelhaft sein, daß dieses Subjekt erst durch den Bildungsprozeß des empirischen Subjekts möglich geworden ist ? Unter einer feudalen Sozialstruktur ist dieses Subjekt schlechterdings unvorstellbar. Notwendig ist deshalb der Bildungsprozeß des empirischen Subjekts vor jeder reflexiven Aufarbeitung seines Daseins in der Welt zu rekonstruieren. Das haben wir getan. Die vorhergehenden Überlegungen machen deutlich: Das ästhetische Subjekt steht in einem Entsprechungsverhältnis zum empirischen. In welcher Weise sich jedoch das ästhetische als das reflexive ausbildet, wird erst verständlich, wenn man sich die Logik vergegenwärtigt, die das Deutungssystem bestimmt. Erst durch sie entstehen jene Verwerfungen, die das Subjekt, wenn es von der reflexiven Höhenlage zurückzufinden sucht in die Alltagswelt, in eine verzweifelte Lage geraten lassen. Diese Logik ist, wie wir zuvor erörtert haben, selbst einer historischen Entwicklung unterworfen. Geistesgeschichtlich stellt sich die Neuzeit als derjenige Prozeß dar, in dem die Umstellung von einer absolutistischen zu einer funktional-relationalen Logik erfolgt. Der Prozeß ist immer noch nicht abgeschlossen. Die Gleichzeitigkeit beider Logiken bestimmt auf der reflexiven Ebene des Weltverständnisses das Denken. Das Verständnis der Welt wie das Selbstverständnis

Der Absolutismus des Subjekts in der Perspektive der Lebenspraxis 305

des Subjekts in der Romantik ist einzig aus dieser Umbruchsituation der Logik zu verstehen. Wenn man deshalb wissen will, warum sich das Subjekt der Romantik gerade so artikuliert, herausgelöst aus der planen empirischen Wirklichkeit, darauf festgelegt, Menschheit und Welt im eigenen Innern zu finden, mit dem Bezug zum Unendlichen, mit dem Verlangen nach Liebe und Tod etc., dann ist das einzig durch eine Bestimmung der Umbruchsituation in der Logik des Weltverstehens möglich. Wie sich das Subjekt unter dem Zwang der absolutistischen Logik in der romantischen Reflexion ausnimmt, haben wir zuvor erörtert. Die spekulative Bestimmung des Subjekts ist jedoch eines, das Dasein des Subjekts in der Lebenspraxis ein anderes. Die Romantik hat sich nicht darauf beschränkt, das Subjekt der Höhenlage des Absoluten zu verbinden, sie hat die spekulative Bestimmung in der Konsequenz für das tätige Dasein, in die, wenn man so will: reale Lebenspraxis rückzuführen gesucht. Auch diese Selbstdarstellung ist ein literarisches Produkt. Wir sind auch insoweit nicht mit der Empirizität des romantischen Selbst befaßt, sondern mit der Reflexion der Empirizität im Medium der Literatur. Gerade deshalb wird in der Kehre des Blicks: von der Höhenlage des Absoluten auf die Lebenslage der Akteure (im Roman) deutlich, daß der Absolutismus des Subjekts am Leben scheitert, weil das Leben an ihm zerbricht.

2

Der Absolutismus des Subjekts in der Perspektive der Lebenspraxis

2.1

Legibus absolutus

Das absolute Subjekt macht Ernst mit dem Bewußtsein, selbst Gott zu sein. Vergegenwärtigen wir uns, daß dieses Bewußtsein unter der Geltung der absolutistischen Logik, angesichts der Konstruktivität, in der die Welt sich darstellt, unabweisbar war. Infolge der Auflösung einer stabilen Ordnung, von der her dieses Subjekt Maßstäbe seines Denkens und Handelns hätte nehmen können, mußte daraus für ein Denken, das nur radikal genug war, die Verhältnisse zu nehmen, wie sie sich zeigten, die Inanspruchnahme einer absoluten Freiheit resultieren, und zwar wiederum ebenso für das Denken wie für das Handeln. Es ist diese Konsequenz, der sich das absolute Subjekt verschreibt: Es weiß sich außerhalb jeder beschränkenden Wahrheit, außerhalb auch jeder Moral. Tiecks Briefroman » William Lovell « hat diese eine Erfahrung zum zentralen Gegenstand: daß die Welt sich aus jeder Sicht und aus jeder Situation, in der sich die verschiedenen Figuren befinden, verschieden darstellt und jede Darstellung gleich wahr ist. Tieck läßt Rosa das Postulat auch aussprechen und dabei ausdrücklich das Sittengesetz auf die Seite setzen:

306

Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

» Wer ist die Gestalt, die in dem frohen Taumel uns in die Zügel des fliehenden Rosses fällt ? – die Wahrheit – die Tugend: – ein Schatten, ein Nebelphantom, dessen Schimmer mit der Sonne untergehn. «

Wohin wird der Gedanke ihn führen ? » Zur größten, schönsten Freiheit, zur uneingeschränkten Willkür eines Gottes. «2

Lovell, an den der Brief Rosas gerichtet ist, korrespondiert und gibt sich dem gleichen Taumel hin: » Alles unterwirft sich meiner Willkür, jede Erscheinung, jede Handlung kann ich nennen, wie es mir gefällt; die lebendige und leblose Welt hängt an den Ketten, die mein Geist regiert, mein ganzes Leben ist nur ein Traum, dessen mancherlei Gestalten sich nach meinem Willen formen. Ich selbst bin das einzige Gesetz in der ganzen Natur, diesem Gesetz gehorcht alles. Ich verliere mich in eine weite, unendliche Wüste – ich breche ab. «3

Es ist gar nicht zu übersehen, daß sich in dieser Selbstbestimmung der spekulative Absolutismus der transzendentalen Erkenntniskritik zum Ausdruck bringt. Gewiß, die transzendentale Erkenntniskritik Kants wie Fichtes hatte das Subjekt zu binden versucht. Der Sinn war gerade, unabänderliche Vorgaben zu schaffen. In einer sich ändernden Welt lösen sich jedoch die Vorgaben auf und verlieren ihre Gültigkeit; überdies kehrt der Absolutismus selbst heraus, daß das Absolute als Subjekt keiner Bindung fähig ist. Im Transzendentalismus hält sich, das ist oft bemerkt, der Absolutismus als säkularisierter Einheitsgott4 durch.

2.2

Verabsolutierung der Sinnlichkeit

Der Absolutismus des empirischen Subjekts führt notwendig zur Verabsolutierung seiner Körperlichkeit und das heißt in der romantischen Gier nach Genuß: seiner Sinnlichkeit. Weshalb ? In aller Vergangenheit war es kein Problem, den Körper der Geistigkeit zu integrieren und vice versa, weil die Körperwelt insgesamt einer kognitiven Struktur unterworfen war, die sich der immanenten Geistigkeit der Handlungslogik ver2 L. Tieck, William Lovell, S. 352. 3 L. Tieck, ebd., S. 355. 4 So E. Lenk, Die unbewußte Gesellschaft, S. 222.

Der Absolutismus des Subjekts in der Perspektive der Lebenspraxis 307

dankte. Zwar war die Seele als Sitz einer dem Absoluten verbundenen Geistigkeit in der einen oder anderen Form vom Körper trennbar, aber noch das jenseitige Leben der Seele wurde wiederum in der Glückseligkeit des Körpers gedacht. Wie sonst auch hätte der Mensch sich denken können ? Der Praxis der Lebensführung ließen sich deshalb auch ohne Not Maximen vorgeben, die der interpretativen Einheit einer in den Strukturen des Geistes wahrgenommenen Körperwelt entstammten. Die Körperlichkeit des Menschen hat jedoch durch die naturwissenschaftliche Revolution der Neuzeit eine andere Basis erhalten. Sie ist einer Natur eingeordnet, die jeder Geistigkeit entsetzt ist. Das ist, wie wir an Fichtes Philosophie gesehen haben, durchaus bewußt. Nur wird es durch die Behauptung einer absolutistischen Logik paralysiert und schließlich als Wissen unterlaufen. Die Körperlichkeit des Menschen und mit ihr deren Sinnlichkeit geraten in den Widerstreit zweier Logiken. Spekulativ wird die materiale Welt in das Absolute des Universums integriert; die Körperwelt ist eine erstarrte Geistigkeit. Im Höhenflug des Geistes der Poesie bleibt sie gleichwohl als die ungeliebte Realität zurück. Im ernüchterten Blick alltäglichen Daseins wird sie der machinalen selbstreferentiellen Organisation der Natur überlassen. » In dieser Körperwelt «, erklärt Tieck, » bin ich mir selbst nur mein erstes und letztes Ziel, denn der Körper ordnet alles nur bloß für seinen Körper an. «5

Das Schisma der Logiken läßt die Körperlichkeit nicht wirklich der Geistigkeit verbunden sein. Das wird auch bewußt.6 Das strukturelle Element der selbstreferentiellen Geschlossenheit gestattet nicht einmal, irgendeine Geistigkeit im körperlichen Dasein unterzubringen. Wenn aber die Vermittlung zwischen dem körperlichen und geistigen Dasein des Menschen nicht gelingt, wird der Körper in der fundamentalisierten Ableitungslogik zur bestimmenden Instanz der Lebensführung. » Denn freilich ist nichts als Sinnlichkeit das erste bewegende Rad in unserer Maschine, sie wälzt unser Dasein von der Stelle und macht es frei und lebendig. «7

In der Proklamation der Sinnlichkeit als bestimmende Instanz der Lebensführung setzt sich eine Konsequenz durch, die Fichte unter der Behauptung einer absolu5 6 7

L. Tieck, William Lovell, S. 495. Vgl. auch W. H. Wackenroder/L. Tieck, Herzensergießungen, S. 34. L. Tieck, ebd., S. 495. L. Tieck, ebd., S. 378.

308

Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

ten Geistigkeit noch unterlaufen hatte: Während für Fichte das Ich Herr im Hause ist und den Körper regiert, steht in einem ganz der Sinnlichkeit verhafteten Dasein die Seele abgeschlagen und machtlos im Hintergrund. Das aber heißt: Der Mensch lebt, wie das Räderwerk seiner Maschine es bestimmt. » Er ist, das ist sein Verbrechen und seine Tugend, sein Dasein ist seine Strafe und seine Wohltat, und wer hat dies nicht schon in sich selber empfunden ? «8

In dieser Philosophie ist die Sinnlichkeit nicht länger Ausgangsbasis eines Überstiegs ins Transzendente – sei es auch nur eines Transzendenten im Innern; sie ist » Haushofmeister unserer Maschine «.9 Praktisch führt diese Philosophie der Sinnlichkeit von der sublimen Form des Genusses auch noch des Genusses10 auf kürzestem Wege zur rohesten Form des Sich-Auslebens; und die ist fast immer mit der sexuellen Ausschweifung verbunden.11 » Das Leben ist nichts, wenn man es nicht auf die sinnlichroheste Art genießt; der Widerschein der Wollust fällt auf alle Gegenstände … «12

Die Protagonisten einer Philosophie der Sinnlichkeit in Tiecks » William Lovell « scheitern. Eine allein gelassene Sinnlichkeit wird schal, sobald sie genossen ist. Mit ihr wird das Leben verächtlich.13 Doch was ist damit gesagt ? Allenfalls soviel, daß die Romantiker nicht bereit sind, sich ihr umstandslos zu überlassen. Doch was besagt das für die Frage der Wahrheit dieser Position ? Schlechterdings nichts ! Denn unter der Ägide der absolutistischen Logik ist der Konsequenz dieses Denkens im Schisma der Logiken nicht zu entkommen. Es gibt denn auch keine Äußerung irgendeiner der gefaßteren Figuren, die ihr zu entkommen suchten. Mit welcher Philosophie denn auch ? Worauf es im gegenwärtigen Zusammenhang ankommt, ist eines: gewahr zu werden, daß sich in einer absolutistischen Logik diese Sicht des Lebens in der Kehre des Blicks von der spekulativen Höhenlage der Philosophie auf die Alltäglichkeit des Lebens notwendig herstellen muß. Das Schisma der beiden Logiken: der absolutistischen und der funktional-relationalen, überantwortet den Körper in seiner biologischen Verfassung einer seelenlosen machinalen Natur, ohne Möglichkeit, dieser Natur die Geistigkeit der Lebensführung zu verbinden. Es bleibt 8 L. Tieck, ebd., S. 496. 9 L. Tieck, ebd., S. 496, 378. 10 Vgl. Fr. Schlegel, Lucinde, KA V, S. 8. 11 L. Tieck, William Lovell, S. 408. 12 L. Tieck, ebd., S. 403. 13 L. Tieck, ebd., S. 608.

Der Absolutismus des Subjekts in der Perspektive der Lebenspraxis 309

ein Widerspruch, aber er läßt sich nicht auflösen. Fichte schon vermochte den Streit zwischen Idealismus und Realismus rational nicht zu entscheiden. Im definitiv gewordenen Schisma der Logiken vermag das Denken lediglich, sich einmal auf die eine, ein anderesmal auf die andere Seite zu schlagen.

2.3

Destruktion der Geistigkeit und Verlust der Wahrheit

Eine der faszinierendsten Beobachtungen, die man machen kann, wenn man die Philosophie der Neuzeit, die Erkenntnistheorie insbesondere, verfolgt, ist die Bereitschaft der Philosophen, sich ohne Rücksicht auf die Welt alltäglicher Erfahrungen einer vorgegebenen Logik zu überlassen. Logiken sind, das zeichnet sie aus, zwanghaft. Wenn deshalb etwas weichen muß, dann das alltägliche Bewußtsein. Das Faszinosum liegt selbstredend nicht darin, daß sich in der erkenntniskritischen Reflexion etwas anderes darstellt, als in aller Alltäglichkeit für wahr gehalten wird, sondern darin, daß die reflexiven Spekulationen in der Lage sind, eine Alltäglichkeit der Erfahrung so weit zu entwerten, daß die Erfahrung selbst nicht mehr verständlich wird. Der Transzendentalismus Kants wie Fichtes ist von dieser Art.14 Für einen Augenblick kann es scheinen, als werde der Verlust einer Wahrheit, die sich des Zugangs zur Welt und ihrer Erkenntnis sicher ist, durch das hypertrophe Bewußtsein des Subjekts, diese Welt selbst hervorzubringen, wettge­ macht. Auch lassen sich Strategien finden, die das erkenntniskritische Gravamen überspielen. Die romantische Ironie, sich im Bewußtsein einer Teilhabe am Absoluten jeder Fixierung überhoben zu erachten, gehört dazu. Tatsächlich trifft das erkenntnistheoretische Unvermögen, nicht entscheiden zu können, ob, mit Kleist zu reden, » das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist «, das romantische Subjekt, gerade weil es noch unter dem Anspruch einer absolutistischen Logik lebt, im Innersten seines Daseins.15 Kleist verbindet die Krise, in die er durch die kritische Philosophie gerät, mit der Vorahnung seines physischen Untergangs.16 Nicht zuletzt die Irrealisierung des Denkens führt seit der Romantik zu einer schleichenden Entwertung der Philosophie.17 Mit der absolutistischen Logik ließ sich leben, solange sie mit stabilen Welten befaßt war. Selbst in einer Philosophie, die, wie die Hegelsche, die Historizität ins 14 Er hat in der Gegenwart seine idealistischen wie materialistischen Nachfolger gefunden. Vgl. für die ersteren P. Winch, Understanding a Primitive Society, S. 307 ff.; für die letzteren H. R. Maturana, Erkennen, die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. 15 H.  v. Kleist, Brief an Wilhelmine von Zenge vom 22. März 1801, Werke und Briefe Bd. 2, S. 630 ff. (634). 16 H. v. Kleist, Brief an Wilhelmine von Zenge vom 9. April 1801, Werke und Briefe Bd. 2, S. 641. 17 L. Tieck, ebd., S. 540.

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Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

Absolute integriert, müssen die jeweiligen historischen Stufen der Entwicklung des Weltgeistes sich stabilisiert haben, wenn die Philosophie die Welt zur Einheit fügen, ihren Begriff bestimmen soll. Die der Logik eigene Form der Ableitung setzt voraus, daß das Abzuleitende bekannt ist. Eine Zeit, die sich in Bewegung erfährt, gleichwohl aber am Absolutismus des Denkens festhält, führt notwendig zur Skepsis. Skepsis beinhaltet die Resignation, unter der Fortgeltung einer auf eine absolute Wahrheit und eine absolute Gewißheit festgelegten Logik überhaupt Wahrheit und Gewißheit haben zu können. Wenn deshalb das Subjekt Ernst macht und die erkenntniskritische Überprüfung des Denkens in der Praxis der Lebenswelt fortsetzt, statt sie dort, als für sie nicht bestimmt und unangemessen, alsbald zu vergessen, gerät es in eine verzweifelte Situation. Die Unmöglichkeit, die Wirklichkeit zu erkennen, schlägt auf das Subjekt zurück. Der Irrealisierung des Denkens folgt die Entwertung der Geistigkeit überhaupt. Sie führt im nächsten Schritt zur Entwertung und Irrealisierung des Subjekts selbst. Das Subjekt muß sich in geistigen Lebensformen finden – oder es ist nicht. Ludwig Tieck bringt den radikal gegen sich selbst gewandten Absolutismus durch die Figur Balders zum Ausdruck. Balder zweifelt schließlich an der letzten Bastion, an der man seit Descartes nicht soll zweifeln können: an seiner eigenen Existenz.18 Gewiß, Balder gilt als krank; seine Krankheit ist eine Krankheit, die zum Wahnsinn führt; zu dem aber gehört, wie die Einfalt des Dieners Willy bemerkt, viel Verstand.19 Die skeptische Überzeugung, daß letzten Endes nichts auszumachen ist in der Welt, führt dazu, Verzicht zu tun und sich damit abzufinden, daß zwischen Wahrheit und Täuschung nicht zu unterscheiden ist.20 Daß diese Skepsis tatsächlich eine Konsequenz der absolutistischen Logik unter den Erkenntnisbedingungen der Neuzeit darstellt, bringt Tieck dadurch zum Ausdruck, daß er sie an den schon erörterten Absolutismus der Konvergenz der Welt auf das Subjekt anschließt. In einem Briefwechsel zwischen William Lovell und Rosa scheint William Lovell zunächst nur zu wiederholen, was in jedem philosophischen Kompendium der Zeit zu lesen ist: Wir haben in den Dingen, wie wir sie sehen und begreifen, nicht die Dinge selbst. Aber er schließt mit einer Sentenz, die rigoroser ist, als die Philosophie sie wahrhaben möchte: » Ich gebe also diese Wahrheit auf … «21 Rosa bestätigt den Verzicht:

18 19 20 21

L. Tieck, ebd., S. 351. L. Tieck, ebd., S. 355. L. Tieck, ebd., S. 333, 351, 380. L. Tieck, ebd., S. 351.

Welt ging verloren 311

» Mögen die Dinge außer mir sein, wie sie wollen; ein buntes Gewühl wird mir vorübergezogen, ich greife mit dreister Hand hinein und behalte mir, was mir gefällt, ehe der glückliche Augenblick vorüber ist. – … Die Wahrheit – die Tugend: – ein Schatten, ein Nebelphantom, dessen Schimmer mit der Sonne untergehen. «22

Dann führt er den Gedanken weiter aus. Wenn die Philosophen unter den Romantikern meinten, in der Magie der Sprache des Schöpferischen im Absoluten teilhaftig zu werden, destruiert Rosa gerade die Sprache zu einem bloßen Instrument, eine vordergründige Ordnung in die Verhältnisse zu bringen. Man könnte meinen, Tieck habe die Gegenszene zu jener zuerst von Fichte konstatierten Einsicht: » Jeder wird Gott … « geschrieben.23 Fichte verband damit die Vorstellung einer prästabilierten Harmonie; jeder wird Gott, soweit er nicht die Freiheit der anderen tangiert. Ebenso galt für Novalis das Postulat » Gott will Götter « als Ausdruck einer Teilhabe an der schöpferischen Potenz des Universums. Das Chaos ist die Vernunft der Welt, wie sie vor ihrer Schöpfung bereitliegt. Die Partizipa­tion führt deshalb zur Schönheit auch der schöpferischen Gestaltungen des Menschen. Dagegen wird in der die Geistigkeit destruierenden Kehre das Chaos zum Chaos einer sinnlich erfahrenen Welt – zu der größten, schönsten Freiheit der uneingeschränkten Willkür eines Gottes !24 In dieser Form » göttlicher Willkür « ist nicht nur die Wahrheit, vielmehr jede Form der Geistigkeit gegen den Nullpunkt geführt; sie ist nicht die Realisierung göttlicher Vernunft, vielmehr Strategie eines auf nichts mehr verpflichteten Lebens. Die Einbindung der Körperlichkeit in eine entgeistigte Körperwelt und die damit verbundene Aufwertung der Sinnlichkeit unterstützen die Entwertung der Geistigkeit in der Konsequenz einer absolutistischen Logik, die doch – paradox genug – einem Denken vom Vorrang des Geistes entstammt.

3

Welt ging verloren

3.1

Der Umbruch der Logik

Eine Geschichte lang fanden die Menschen die Bestimmung ihres Daseins an der vorfindlichen Welt. Diese Welt war überschaubar und einsichtig. Selbst auf die abgründig metaphysische Frage, woher sie komme und wohin sie gehe, fand sich 22 L. Tieck, ebd., S. 352. 23 J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre, Werke IV, S. 256. 24 L. Tieck, William Lovell, S. 352.

312

Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

eine Antwort. Sie war strukturlogisch vorgezeichnet. Eine der möglichen Antworten war, Gott habe sie in sechs Tagen geschaffen. Vergleichbare Antworten fanden auch die Philosophen. Auch sie kannten ein Absolutes, von dem sie die vorfindliche Ordnung bestimmt sahen: » Nähren sich doch alle menschlichen Gesetze von dem einen, göttlichen; denn dieses gebietet, soweit es nur will, und reicht aus für uns alle (und alles) und ist sogar noch darüber. «25

Diese Welt ging in der Neuzeit verloren. Worüber der Mensch Verfügung gewinnt, daran kann er nicht wiederum den Anhalt für sein eigenes Leben finden, jedenfalls dann nicht, wenn er nach einer Bestimmung sucht, die ihm absolute, unverbrüchliche Maximen der Lebensführung an die Hand geben soll. Noch bevor der Verlust der alten Welt sich in der definitiven Destruktion ihrer hergebrachten Strukturen jedem sichtbar zeigte, wurde in der sich bildenden bürgerlichen Welt das Subjekt von ihr freigesetzt. Es wurde, wie wir oben erörtert haben, im Prozeß seiner frühen Sozialisation schlicht nicht mehr auf sie verpflichtet. Gerade dadurch entstand die Möglichkeit der Indoktrination. Beim Eintritt in die Erwachsenenwelt hatte es deshalb zwei Möglichkeiten: Praktisch einlassen auf die Verhältnisse mußte sich jeder. Das bürgerliche Subjekt tat mehr: Es ließ sich von den Verhältnissen vereinnahmen und ideell auf sie festlegen. Notwendig wurde dieses Akzept ideologisch, denn die Verhältnisse hatten den Grund der Verpflichtung hinfällig werden lassen. Die andere Möglichkeit, sich der bürgerlichen Welt zu verweigern, verstrickte das Subjekt in jene Lebenslage, in der sich die Romantiker vorfanden. Der spekulative Versuch, sich der Welt im Absoluten des Universums zu versichern, scheiterte am Schisma der Logiken.

3.2

Die Aufklärung und das Schisma der Logiken

3.2.1 Das Reentry des Geistes Aufklärung meint Entzauberung. Wir wissen, worin sie gründet: in der Überwindung des subjektivischen Paradigmas als materialer Logik des Weltverstehens. Die philosophische Bewältigung dieses Wechsels war unmöglich, solange die Welt von einem Absoluten als Geist her gedacht wurde. Wir sind auf den Widerspruch bereits bei Fichte gestoßen. Fichte begreift die Natur, vorzüglich die belebte, im Mo-

25 Heraklit, Diels-Kranz, Vorsokratiker 22 B, 114.

Welt ging verloren 313

dell einer Autonomie, wie sie einem in sich geschlossenen System eigen ist.26 In dieser Weise findet er sie im naturwissenschaftlichen Verständnis seiner Zeit vor. Da jedoch alle Natur auf das (epistemische) Subjekt konvergiert, wird über dessen eigene durch und durch geistige Organisationsform die Zweckbestimmung erneut in die Natur eingefügt. Die Romantiker sahen sich vollends dem Widerspruch dieser radikal differenten Naturbetrachtung ausgesetzt. Sie müssen dem naturwissenschaftlichen Verständnis Rechnung tragen, das mittlerweile seinen Siegeszug begonnen hat. Dessen mechanistische Interpretamente lassen sich nicht abweisen. Auch für das romantische Denken stellt sich jedoch im Denken vom Absoluten strukturnotwendig die Geistigkeit als immanente Geistigkeit der Natur wieder her. Novalis bringt die Unentschiedenheit des auch hier wirksamen Schismas der Logiken in » Die Lehrlinge zu Sais « zum Ausdruck. Er inszeniert einen Disput, wie Natur zu denken sei. Seine eigene Position bringt er am ehesten durch die Rede jenes » ernsten Mannes « zum Ausdruck, der zunächst das herrscherliche Moment im Naturverständnis hervorhebt, durch das der Strukturwandel der Logik am Anfang der Neuzeit bewirkt worden ist: Der Mensch » fühlt sich Herr der Welt, sein Ich schwebt mächtig über diesen Abgrund … « Mit dieser Position ist das mechanistische Naturverständnis verbunden. Dieses mechanistische Verständnis der Natur kommt auch mehrfach zum Ausdruck. Gleichwohl findet Novalis, darin einmal mehr im Ansatz Fichte folgend, über das Ich den Weg zur Vergeistigung der Natur, nur daß, wie wir wissen, für Novalis das Ich (teil-)identisch mit dem » Großen Ich « ist. Die Mächtigkeit dieses Ich in der Natur bedeutet für ihn deshalb, daß der Mensch, gerade weil er die Welt auf sich konvergieren läßt, sich immer inniger der Natur verbindet. Das kann, da das Ich ein geistiges ist, nur bedeuten, daß auch die Natur zunehmend mehr der Geistigkeit unterworfen wird. Tatsächlich gipfelt die Rede » des ernsten Mannes « in der Feststellung: » Der Sinn der Welt ist die Vernunft: um deren Willen ist sie, und wenn sie erst der Kampfplatz einer kindlichen aufblühenden Vernunft ist, so wird sie einst zum göttlichen Bilde ihrer Tätigkeit, zum Schauplatz einer wahren Kirche werden. «27

Man muß nicht meinen, Novalis habe diese Sicht von Fichte einfach übernommen, so sehr die erneute Unterwerfung der Natur unter die Subjektivität des Geistes derjenigen Fichtes gleicht. Der Grund liegt in der Behauptung der absolutistischen Logik. Von ihr aus muß es zu einer erneuten Durchgeistigung der Natur kommen. Diese Konsequenz bringt Novalis deutlich zum Ausdruck:

26 J. G. Fichte, Das System der Sittenlehre, Werke IV, S. 215. 27 Novalis, Die Lehrlinge zu Sais, S. 90.

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Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

» Alles Göttliche hat eine Geschichte und die Natur, dieses einzige Ganze, womit der Mensch sich vergleichen kann, sollte nicht so gut wie der Mensch in einer Geschichte begriffen sein oder, welches eins ist, einen Geist haben ? Die Natur wäre nicht die Natur, wenn sie keinen Geist hätte, nicht jenes einzige Gegenbild der Menschheit, nicht die unentbehrliche Antwort dieser geheimnisvollen Frage, oder die Frage zu dieser unendlichen Antwort. «28

Wie Schlegel, der ebenfalls dem naturwissenschaftlichen Paradigma zwar vordergründig Rechnung trägt, es aber in der vom Absoluten her entworfenen Kosmologie völlig entwertet, läßt auch Novalis die Natur die Spitze ihrer Bestimmung im Menschen finden. Eben deshalb heißt es: » Der Mensch – ist der Messias der Natur. «29

Durch die über das Subjekt in die Natur eingeführte Geistigkeit entsteht auch die Naturschwärmerei. 3.2.2 Naturschwärmerei Die Behauptung der absolutistischen Logik, einer Geistlogik nota bene, führt trotz des Wissens um das Mechanistisch-Machinale der Natur zu einer Form der Naturaneignung, die zu den historischen Auszeichnungen der Romantik zählt: der Naturschwärmerei. In ihr kommt der transitorische Status der Zeit deutlich zum Ausdruck: Der Mensch weiß sich eingebunden in die Natur; in das machinale Muster kann er sich jedoch allenfalls in seiner Körperlichkeit einbinden. Wenn er, genötigt durch die Behauptung der absolutistischen Logik, sich gleichwohl in seiner Geistigkeit in der Natur erfahren will, dann muß er das Organ, das jene Mechanisierung bewirkt hat und auf ihr besteht: den Verstand, entmündigen. Die Romantik rekurriert auf das Gefühl.30 Durch das Gefühl sucht sich der Mensch die Natur in einer Weise zugänglich zu machen, die über das machinale Muster nicht möglich ist. Gefühl und Stimmung sind Phänomene, die ebenso der Körperlichkeit wie der Geistigkeit des Menschen: seiner Seele, wie man sagt, zuzurechnen sind. Da der Körper Teil der umfassenden Natur ist, werden in der absolutistischen Lo28 Novalis, ebd., S. 99. 29 Novalis, Paralipomena zu » Die Lehrlinge zu Sais «, Schriften, 1, S. 110; ebenso Schriften, 3, S. 248 (52). 30 Die Abwendung von der Vernunftkritik und die Hinwendung zum Gefühl wird eingeleitet bei J. J. Rousseau, Träumereien, S. 65 (Dritter Spaziergang).

Welt ging verloren 315

gik, die ihrer Struktur nach eine Identitätslogik ist, Gefühl und Stimmung auch dem Ganzen zugeschrieben. Mehr noch: Da das Ganze vor den Teilen ist, kommen sie von ihm her dem Körper zu. Die Natur verliert in der Schwärmerei der Naturromantik alle Konturen. Sie ist nicht das machinale Stratum, deren physikalische und organische Prozesse erkannt werden müssen, um sie für eine lebensdienliche Praxis nutzbar zu machen. Sie ist das Stratum der Erbauung. Morgen- und Abenddämmerung, das Fließen des Stromes, das Ziehen der Wolken versteht der Romantiker als Ausdrucksform seiner Seele. Die Natur der Romantik ist eine ästhetisierte Natur, der Phantasie überantwortet. Und gerade in ihrer Ästhetisierung ist sie funktionalisiert. Sie soll die Selbstgegebenheit eines Subjekts sichern, das sich der Natur einverleibt verstehen muß und doch nicht weiß, wie es sich einer machinalen Natur einverleiben kann. Darin liegt ein Spannungsverhältnis, verdeckt schließlich ein Widerspruch. Er ist den Romantikern dunkel bewußt gewesen. So gesteht Heinrich in Novalis’ » Heinrich von Ofterdingen «, daß er in den innigsten Minuten der Schwärmerei weniger lebendig sei, als wenn er Anteil am Handwerk seines Vaters nehme. Auch Brentano läßt Lady Hodefield erklären, daß sie, anders als ihre Freundin, ungeeignet sei, in der Naturschwärmerei zu finden, was sie suche: » Sie entwickelte meine Anlage zur Schwärmerei, aber meine Schwärmerei war die Sinnlichkeit. Wenn sie in den weiten Himmel sah, so berührte ich ängstlich, mit wunderbarem Entzücken, die Blätter und Blumen der Pflanzen, ich saß oder lag immer in mich selbst verschlungen im Garten, wenn wir solche Nächte zubrachten … «31

Einzig aus dem in sich verschlungenen Ich erwächst, was in die Natur hineingetragen wird. Die Ironie, mit der die Romantik auch der Naturschwärmerei begegnet, schlägt deshalb unversehens um in Desillusion. In der Kehre des Blicks auf die Welt der täglichen Erfahrung bleibt von der überbordenden Geistigkeit in der Natur nichts übrig. Im Alltag bestimmt das machinale Muster das Geschehen. In ihm erweisen sich auch die anderen romantischen Kategorien als ideologisch. Ihre Fortgeltung ist von der historischen Entwicklung überholt. Die Sinnentleertheit der Welt, der Natur wie der Sozialwelt – die Romantiker unterscheiden noch nicht systematisch zwischen beiden –, wird prägnant am Verlust jenes Deutungsschemas festgemacht, über das vordem die Welt zu einem sinnbestimmten Kosmos wurde, des teleologischen.

31 C. Brentano, Godwi, S. 102.

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Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

» Die Alltäglichkeit kehrt wieder … und alles verfliegt und verschwindet und kehrt wieder, ohne Absicht und Zusammenhang. «32

Wenn die Welt gleichwohl diesem Deutungsschema verbunden gehalten wird, stellt sie sich als » ein mühsam erfundener Scherz « dar.33 3.2.3 Willkür und Zufall In der romantischen Philosophie sind Willkür und Zufall Elemente der Harmonie, weil in ihnen sich die Freiheit des Geistes zum Ausdruck bringt;34 in der Kehre des Blickes wird ein über diese Momente bestimmtes Leben unerträglich. Vollends unerträglich ist es, diese Erfahrung einem höheren Wesen – Gott – zuschreiben zu sollen. Lieber noch als sich dieser unsichtbaren Hand ausgesetzt zu sehen, ist dem Subjekt der Alltagswelt der Gedanke, selbst an allem schuld zu sein.35 Es ist gar nicht zu übersehen: Die Erfahrung der Alltäglichkeit destruiert nicht nur die kategoriale Begriff‌lichkeit, mit der die romantische Philosophie hantiert und ihre Poesie zu begründen sucht, sie destruiert die absolutistische Logik. Tatsächlich war diese Logik im Naturverständnis durch die naturwissenschaftliche Revolu­tion und die Aufklärung längst überwunden. Die Philosophie konnte sich nur nicht mit der Konsequenz abfinden, die sich daraus für das Subjekt ergab. Denker wie Sade, die rückhaltlos die Konsequenzen für das Moralverständnis aufdeckten, indem sie es von jeder absoluten Versicherung ablösten, blieben die Ausnahme. Für das Weltverständnis insgesamt konnte die neue Logik keine strukturierende Bedeutung gewinnen, solange der Absolutismus das Verständnis des Subjekts – und sei es auch nur des epistemischen – bestimmte. Langsam, unendlich langsam, vollzieht sich der Prozeß der Transformation der absolutistischen Logik und ihrer schließlichen Überwindung.

3.3

Der Verlust der Sozialwelt

Was für die Natur sich erst abzeichnet und während der Romantik durch die Naturschwärmerei noch aufgefangen wird, ist für die Sozialwelt bereits Realität geworden: Welt ging verloren. Man muß, wie wir das oben getan haben, den Prozeß 32 L. Tieck, William Lovell, S. 387. 33 L. Tieck, ebd., S. 376. 34 Vgl. Novalis, Schriften, 2, S. 548 (112). 35 L. Tieck, William Lovell, S. 309.

Welt ging verloren 317

historisch-genetisch lesen, und das heißt in seiner strukturlogischen Entfaltung, um nicht der Vorstellung zu erliegen, er sei in seinen radikalen Konsequenzen, wie sie sich in der Spätromantik zeigen, mit historischen Kategorien nicht zu erklären und letzten Endes einer poetisch obsessiven Existenz zuzuschreiben.36 Der Verlust der Sozialwelt ist, wie wir gesehen haben, in der Entwicklung einer Subjektivität begründet, die sich deren Ordnung nicht länger als eigene innere Natur aneignet. Das zu sehen ist auch deshalb wichtig, weil sich zeigt, was Verlust der So­zialwelt heißt. Die Sozialwelt ist da; sie wird auch als Realität wahrgenommen – nur wird sie in dieser Faktizität nicht länger als für das Subjekt bedeutungsvoll akzeptiert. Sie läßt sich auch nicht länger als bedeutungsvoll akzeptieren. » Ich fühle mich «, schreibt Kleist, » ganz unfähig, mich in irgendein konventionelles Verhältnis der Welt zu passen. Ich finde viele ihrer Einrichtungen so wenig meinem Sinn gemäß, daß es mir unmöglich wäre, zu ihrer Erhaltung oder Ausbildung mitzuwirken. «37

3.3.1 Verlust der Kommunikabilität So wie das einzelne Subjekt sich selbst nur aus einer bestehenden Welt verstehen kann, weil Verstehen überhaupt nur über deren Bezüge herstellbar ist, so ist das Verstehen des anderen und das Verstandenwerden vom anderen überhaupt nur möglich, wenn beide einer gemeinsamen Welt angehören. Diese Feststellung ist ebenso von seiten des Mediums, durch das etwas verstanden wird, vorzüglich Sprache, wie von seiten dessen, was sich als Welt darstellt, begründet. Wenn man das Verständnis der Sprache aus ihrer Genese zu gewinnen sucht, so zeigt sich, daß Sprache sich überhaupt nur an einer vorfindlichen Wirklichkeit aufbauen läßt. Ihre differenzlogische Prozessualität, das eine immer nur in Differenz zum anderen zu bestimmen und die Vielzahl der differentiellen Bestimmungen zu einem systematischen Ganzen zusammenzuschließen, ist einzig über eine in die Konstruktivität eingeholte und durch sie bestimmte Außensphäre möglich. Ebenso ist ihre kommunikative Fixierung in den Regeln der Grammatik ohne die gemeinsame Erfahrung einer widerständigen Außenwelt nicht möglich. Mit diesem Verständnis der Sprache widersprechen wir entschieden jenem, das nach dem

36 So K. H. Bohrer, Der romantische Brief, S. 202 f. 37 H. v. Kleist, Brief an Wilhelmine von Zenge vom 10. Oktober 1801, Werke und Briefe Bd. 2, S. 692.

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Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

Vorgang Saussures meint, ohne Referenten auskommen zu können.38 Dem derzeit vorherrschenden Sprachverständnis gilt die Berufung auf Referenten als vorkritisch. Damit jedoch sitzt die Sprachtheorie einer ihr selbst uneinsichtig gebliebenen Struktur der Argumentation auf, die nur in Ableitungsbezügen zu operieren vermag und deshalb meint, Natur, die doch erst konstituiert werden müsse, nicht schon vorgeben zu können. Vorgeben muß man die Natur jedoch nur in ihrer Materialität; alle prädikativen Bestimmungen bilden sich erst im konstruktiven Bildungsprozeß der Welt. Nur läßt sich diese Konstruktivität von der Erfahrung im Umgang mit der vorgegebenen Materialität bestimmen. Als konstruktiven Realismus habe ich dieses Verständnis bezeichnet.39 Gänzlich unmöglich ist es, die sprachlichen Bestimmungen, soweit sie die Sozialwelt zum Gegenstand haben, nicht von Referenten bestimmt sein zu lassen. Denn die Organisationsformen der Sozialwelt werden zwar durch Sprache konstituiert, aber sie gehen nicht in Sprache auf. Wer » Sonntag « sagt oder » Stadt « oder » Bahnhof «, nimmt Handlungen in Bezug, die sich wieder und wieder als reales Tun der Subjekte in der Kommunikationsgemeinschaft vorfinden, Regeln also, mit denen man rechnen muß, aber auch rechnen kann.40 Solche Regeln haben Möglichkeitshorizonte. Verstehen läßt sich, was innerhalb ihrer gelegen ist, auch wenn es ganz neu erfunden und gesagt wird. Verstehen läßt sich aber auch nur, was innerhalb ihrer liegt, wenn die sprachlichen Konstrukte, die die Sozialwelt zum Gegenstand haben, in ihr einen wirklichen Referenten haben, mehr noch: wenn sie ihn erfassen. Wenn die Welt überhaupt aufhört, einsichtig zu sein, endet auch die Kommunikation. Worüber wollte man sich denn verständigen ? Die vorhergehende Erörterung des Sprachverständnisses war notwendig, um den Verlust der Kommunikabilität verständlich zu machen, der in der Romantik eintritt. Denn die Dimension dieses Verlustes erhellt nur, wenn man gewahr wird, daß sie nicht in der Uneinigkeit über irgendwelche ideellen Konstrukte ihren Grund hat, sondern darin, einer Realität verlustig gegangen zu sein, auf die das Leben sich verpflichten ließe. Das Subjekt wird auf sich zurückgeworfen, ohne von sich aus den Weg nach außen finden zu können. » Wir können höchstens einer dem andern das Eigne zeigen und vertauschen; aber uns erfüllen können wir nicht, ich kann dir nicht geben, was dir fehlt, und du mir nicht,

38 F. de Saussure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Saussure hatte allerdings auch keinen Grund, nach der Bedeutung der Referenten zu fragen. 39 Vgl. G. Dux, Die Logik der Weltbilder, S. 76 ff. 40 Zur Bedeutsamkeit der Regeln in der Pragmatik täglichen Handelns als Bedingung des Verstehens vgl. P. Winchs ansonsten untaugliche, weil idealistische Untersuchung » Die Idee der Sozialwissenschaft «.

Welt ging verloren 319

denn der Streit ist mit einem jeden losgebrochen, und jeder hat nur mit dem Seinigen zu tun. «41

Das ist noch moderat gedacht und trägt dem romantischen Glauben an die Individualität Rechnung. Wenn aber die Einsichtigkeit der Welt überhaupt entfällt, entfällt jede Kommunikabilität; mit ihr endet jede pragmatische Bedeutsamkeit. 3.3.2 Verlust der Moralität Die Moralität ist eine Organisationsform der Sozialität, die sich strukturnotwendig in der frühen Ontogenese eines jeden Gattungsmitgliedes ausbildet; in ihrer genuinen Form reicht sie deshalb auch nicht weiter, als Menschen realiter in einer Körpergemeinschaft miteinander verbunden sind. Ihrer Genese nach ist der Kern der Moralität m. a. W. familial bestimmt. Darüber hinaus läßt sie sich nur begrenzt erweitern. Ganz allgemein als Grundlage jedweder sozialen Organisation stellt sie sich lediglich in einer philosophischen Abstraktion dar, die nach den realen Bedingungen der Sozialität nicht fragt. Bis zur Neuzeit konnte Moralität als konstitutiv für jedwede Form von Gesellschaftlichkeit gelten, weil Gesellschaft ein Agglomerat einer Vielzahl vergleichsweise autarker Lebensgemeinschaften war, die in sich tatsächlich moralisch verbunden waren. Die oberhalb der kleinen Gemeinschaften des täglichen Lebens organisierten Herrschaftsformen waren immer schon amoralisch, mochten sie noch so sehr religiös legitimiert sein. Auch wenn Herrschern früh schon Pflichten für sozial Schwache auferlegt werden,42 wird Herrschaft dadurch nicht auf Moral gegründet. Derartige Obligationen entspringen einer gottgleichen Fürsorgepflicht. Man weiß, wie es faktisch um ihre Verwirklichung bestellt war. Man muß sich die Genesis der Moralität vor Augen führen, um zu verstehen, weshalb Moralität in der Romantik in der Kehre des Blicks von der Philosophie hin zum Leben als begründende Maxime der Sozialwelt in Abrede gestellt und, wo sie sich doch zu behaupten sucht, als Ideologie entlarvt wird. Mit der bürgerlichen Welt entstehen dafür ebenso die tatsächlichen wie die kognitiven Voraussetzungen. Denn mit der bürgerlichen Welt entsteht erstmals Gesellschaft als ein System, das Menschen jenseits jeder praktischen Interaktivität in einem ökonomischen und bald auch politischen Netzwerk verbindet. Daß fortan auch die Sozialwelt als machinales Getriebe verstanden werden kann, hat in dieser systemischen Entwicklung seinen Grund. Faktisch also entsteht eine Welt, die nicht mehr über 41 C. Brentano, Godwi, S. 183. 42 Vgl. die Reformtexte des Urukagina von Lagasch; S. N. Kramer, The Sumerians, S. 58, 79 ff.

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moralische Bindungen zusammengehalten wird. Damit einher geht die Delegitimation auf der Weltbildebene. In aller Vergangenheit wurde die Welt in ihrem Ist-Bestand einem Absoluten zugeschrieben. Was ohnehin feststand, wurde auch noch festgeschrieben. Mit der Konvergenz einer sich in den Revolutionen der Neuzeit ändernden Welt auf das empirische Subjekt ist diese Festschreibung nur noch schwer möglich. Die Romantik ist auch insofern in sich widersprüchlich. An sich muß auch die vorfindliche Welt, sie vor allem, als Emanation des Absoluten im Universum verstanden werden. Tatsächlich dient die Dynamisierung des absoluten Geistes dazu, die ungeliebte Welt hinter sich zu lassen und zu entwerten. Eine Legitimation dieser Welt, die auf sie verpflichtete, ist von ihm nicht zu erwarten. Die Romantik ist damit erst gar nicht mehr befaßt. Wenn man sich des absolutistischen Höhenflugs entschlägt, läßt die Destruktion der Geistigkeit, wie wir schon gesehen haben, den Menschen nur mehr als Natur und die Welt insgesamt als machinales Getriebe verstehen. Sie führt zu einer Philosophie der Sinnlichkeit, bar jeder Moralität.43 Die Kehre des Blicks im romantischen Denken deckt sich mit einer aufklärerischen Gedankenführung, die auf kürzerem Wege zur Preisgabe der Moralität führt. Die naturwissenschaftliche Revolution hatte die Natur jedweder Geistigkeit entsetzt; Natur ist seither ein System zuständlicher Dynamik, dessen Eigenbewegung keinerlei Eingriffskausalität mehr zuläßt. Die Existenz Gottes ist damit nicht widerlegt, für sie ist kein Platz vorhanden; Gott ist beschäftigungslos geworden. Das kann hinreichend Grund für seine Abschaffung sein. Sie wurde von Sade proklamiert, der damit einen scharfen Blick für die jetzt erst freigegebene Analyse der realen Konstitutionsbedingungen der Gesellschaft: Macht, verbindet. Sade gründet seine Philosophie auf die Selbstbewegung der Materie.44 Als mit ihr verbundene Konsequenz der Negation Gottes setzt er die menschliche Gesellschaft von jeder göttlichen Bestimmung und Legitimation frei, analysiert sie als Ausdruck von Macht und leitet eben daraus das Recht eines grenzenlosen, von jeder Moralität freien Egoismus her. Die Destruktion der Geistigkeit gilt ihm in einer Weise ausgemacht, daß darüber erst gar nicht mehr zu reden ist. Natur ist die einzige fundierende kategoriale Lebenspraxis, nota bene: eine jeder Geistigkeit entsetzte Natur. Das Böse, das Sade so exzessiv zu verherrlichen weiß, ist Ausdruck dessen, was übrigbleibt, wenn einem Lebewesen, das auf die Selbstbestimmung seines Daseins angelegt und angewiesen ist, die Geistigkeit seiner Lebensführung entzogen wird. Das ist der Grund, der das Böse eine ebenso exzessive Bindung mit der Sexualität eingehen läßt. Das Pornographische ist Repräsentant einer durch keine Geistigkeit mehr vermittelten Natürlichkeit. 43 L. Tieck, William Lovell, S. 495. 44 D. A. F. de Sade, Justine und Juliette, Bd. 1, S. 110 ff., passim.

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Die Romantik setzt die Aufklärung fort, indem sie hinter sie zurückgeht. Fort setzt sie die Aufklärung zunächst darin, daß sie die Konvergenz der Welt auf das empirische Subjekt festhält. Die Welt ist immer nur das, als was sie sich dem Menschen darstellt. Darin bleiben die Romantiker Kant und Fichte verbunden. Hinter die Aufklärung zurück gehen die Romantiker insofern, als sie den Versuch machen, die Welt noch einmal von einem universalen Absoluten zu denken. Auch darin liegt insofern ein progressives Moment, als sie das Absolute in die Relationalität des Universums einzubinden suchen. Die paradoxe Situation, daß die Romantiker die Aufklärung fortsetzen, indem sie hinter sie zurückgehen, wird in der Kehre des Blicks von der spekulativen Höhenlage der Philosophie auf die Alltagswelt deutlich. Denn dabei offenbart sich das vollständige Scheitern der himmelstürmenden Geistigkeit des absolutistischen Subjekts. Hier, im ekstatisch inszenierten Dasein, stellt sich die Welt als Anti-Entwurf der romantischen Philosophie dar: Der Mensch erweist sich als von jeder Geistigkeit freigesetzt, auf krude Sinnlichkeit reduziert, der Gemeinschaftlichkeit mit anderen beraubt, für jedes Verbrechen legitimiert. 3.3.3 Verlust der Sinnhaftigkeit Für die Philosophen unter den Romantikern war die real existente Sozialwelt Anathema. Das hat einen einsichtigen Grund. Diese Welt eignet sich realiter nicht länger, Bedeutungen aus ihr zu gewinnen, die den Sinnbedarf des Handelns deckten. Die Romantiker schreiben diesen Verlust der immanenten Zwecktätigkeit der Sozialwelt zu. Womit, fragt Julius in Friedrich Schlegels Lucinde, womit endet alle Zwecktätigkeit ? Mit der Antipathie gegen die Welt. » Der unerfahrne Eigendünkel ahndet gar nicht, daß dies nur Mangel an Sinn und Verstand sei und hält es für hohen Unmut über die allgemeine Häßlichkeit der Welt und des Lebens, von denen er doch nicht einmal das leiseste Vorgefühl hat. Er kann es nicht haben, denn der Fleiß und der Nutzen sind die Todesengel mit dem feurigen Schwert, welche dem Menschen die Rückkehr ins Paradies verwehren. «45

Und Julius fährt fort: » Ich nahm mir vor, mich zufrieden im Genuß meines Daseins über alle doch endliche, und also verächtliche Zwecke und Vorsätze zu erheben. «46 45 Fr. Schlegel, Lucinde, KA V, S. 27. 46 Fr. Schlegel, Lucinde, ebd., S. 27.

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Die Perhorreszierung der Zwecktätigkeit ist vordergründig. Denn zweckhaft war die Welt zu allen Zeiten eingerichtet und unter der ungebrochenen Geltung der subjektivischen Logik mehr als in späterer Zeit. Entscheidend ist, daß das zwecktätige Handeln des Menschen in ein ökonomisches System machinalen Zuschnitts eingebunden ist und deshalb keinen Anhalt an der Sinnressource » Leben « findet. Die Romantiker haben das durchaus wahrgenommen: » Das eine greift ins andere, und so entsteht die seltsame Maschinerie, die wir das menschliche Leben nennen. Verachtung und Verehrung, Stolz und Eitelkeit, Demut und Eigensinn; alles eine blinde, von Notwendigkeiten umgetriebene Mühle … «47

Der Verlust einer bedeutungsvollen Welt läßt aus der Philosophie Philosophien werden.48 Der Plural ist Ausdruck dafür, daß das Deutungssystem der Welt seine Angebundenheit an die hier und jetzt vorfindliche Realität verloren hat. Auch wenn Novalis diese Welt einem Absoluten verbunden sieht, ist dessen Geistigkeit nicht aus ihr zu entnehmen, vielmehr einzig in einem Schaffen zu erfahren, das sich mit der durch nichts gebundenen schöpferischen Potenz des Universums eins weiß. Nur durch sie wird die Geistigkeit in das Universum zurückgeführt. In ihr finden sich Philosophie und Poesie. Alle Philosophien haben ihren Zweck in der Poesie.49 Ist Poesie kommunikabel ? Sie ist es ebensosehr wie der Traum. 3.3.4 Die Welt wird Traum » Die Welt wird Traum, der Traum wird Welt … «, diese aber und abermals zitierte Zeile aus » Heinrich von Ofterdingen «50 ist von abgründiger Bedeutung. Denn was kann es heißen: Die Welt wird Traum ? Stellen wir zunächst fest: Es ist nirgends bei den Romantikern eine Welt entworfen, die die real vorfindliche ersetzen sollte, eine utopische. Das festzuhalten ist deshalb bedeutsam, weil der Mensch eine Welt braucht, in der er leben kann. Der Grund des Bedürfnisses nach Realität liegt in der anthropologischen Verfassung: Das menschliche Subjekt ist darauf angelegt, sich handelnd eine Welt zu schaffen;51 nur dadurch vermag es sich selbst als Subjekt zu bilden. An die Gegenlage der Welt bleibt es gebunden, wenn es sich 47 L. Tieck, William Lovell, S. 398. 48 Novalis, Schriften, 2, S. 526 (15); vgl. M. Dick, Die Entwicklung des Gedankens der Poesie, S.  223 ff. 49 Novalis, Schriften, 2, S. 372 (32). 50 Novalis, Heinrich von Ofterdingen, S. 319. 51 So auch Novalis, Heinrich von Ofterdingen, S. 319.

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als Subjekt erfahren will. Einzig in der Anbindung an eine Welt vermag es seine Autonomie ins Handeln umzusetzen. Das romantische Subjekt weiß um diese Bedürftigkeit. Die gesteigerte Selbstreflexivität hat es seiner anthropologischen Verfassung innewerden lassen. Die Absicht, sich eine Welt in Gestalt der Poesie zu schaffen, scheint der einzige Weg, der bleibt, wenn die reale dem Subjekt keine Möglichkeit der Selbstverwirklichung läßt. Auf diesen Ausweg verweist die Feststellung: Die Welt wird Traum. Der Mensch sucht sich in der zur Poesie gestalteten Phantasie der Bedeutsamkeit seines Daseins zu vergewissern, und zwar so, daß er diese Bedeutsamkeit im Schaffensprozeß jener Gestaltungen, die er Traum nennt, erfährt. Er läßt sie selbst entstehen. Den Kommentar zu sich selbst, als den Tieck den Traum bezeichnet,52 sucht er in dem Geschehen, das er träumt. Man kann sich dessen Bedeutsamkeit für den Romantiker nicht real genug vorstellen. Traum und Poesie sind das letzte Refugium bedeutungsvollen Lebens in einer bedeutungslos gewordenen Welt. Sophie Mereau, die spätere Frau Brentanos und zu ihrer Zeit selbst eine anerkannte Poetin, schreibt: » Ich habe jezt Wochenlang einer freien, poetischen Stimmung genoßen; mancher Reim ist aus meiner Feder gefloßen, und manchen glücklichen Nachmittag habe ich in meiner Einsamkeit verlebt, bis bei dem kalten Hauch der Nothwendigkeit alle die süßen Blumen meines Herzens erstarrt sind. – Ich kämpfe im Leben einen sonderbaren Kampf. Eine unwiderstehliche Neigung drängt mich, mich ganz der Phantasie hinzugeben, das gestaltlose Dasein mit der Dichtung Farben zu umspielen und unbekümmert um das Nöthige nur dem Schönen zu leben. «53

Kommen wir bei der Gelegenheit noch einmal auf die Frage des empirischen und des ästhetischen Subjekts zurück. Wer nimmt hier die Traumwelt für sich in Anspruch ? Ohne Zweifel das empirische Subjekt. Ihre Inanspruchnahme ist ein äußerster Akt der Selbstbehauptung. Denn nichts anderes ist ihm als Möglichkeit offen geblieben. Gleichwohl ist derjenige, der sich in der literarischen Welt als Subjekt darstellt, nicht einfach identisch mit ihm. Wenn Brentano Godwi in dem gleichnamigen Roman sagen läßt: » Ich lebe nun einmal in einer Traumwelt, und tue ich nicht recht, wenn ich darin lebe, wie man es kann ? «, so gilt die Traumwelt in dieser indikativisch definitiven Form sicher nicht für ihn, Brentano, in der Praxis alltäglichen Lebens. Für ihn ist die Welt des Traums eine, die unter äußerster Anstrengung erreicht wird; das gelingt nur zuweilen. Das Verlangen, das Leben als 52 L. Tieck, William Lovell, S. 472. 53 S. Mereau, Brief an Clemens Brentano vom November 1799. C. Brentano/S. Mereau, Briefwechsel, Bd. 1, S. 13.

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ein Kunstwerk führen zu wollen, sagt etwas über die Sinnzuschreibung an das Dasein aus, nicht über seine Praxis. Ersichtlich setzt das empirische Subjekt das literarische als eine Lebensform aus sich heraus, die ihm Bedeutsamkeit sichern soll. Auch das Subjekt der Briefe, der Liebesbriefe zumal, ist mithin nicht ein fundamental anderes als das empirische, das die Feder führt, während sie geschrieben werden. Diese Annahme brächte sie um ihren Sinn. Das Subjekt der romantischen Briefe ist als literarisches genau soweit ein anderes als das empirische, wie jenes Subjekt ein anderes ist, von dem man sich sagt, daß man es in der Absicht, das Leben sinn- und bedeutungsvoll führen zu wollen, sein müsse oder wolle oder solle. » Die Welt wird Traum – « hat noch eine andere Bedeutung, eine, um derentwillen ich sie abgründig genannt habe. In dieser Traumwelt wird ein Mythos lebendig gehalten. Mythen haben eine strukturelle Affinität zum Traum. Sie weisen auf einen Ursprung der Welt zurück, der vor der Welt liegt, jedenfalls vor der in ihr entfalteten Ordnung. Die Aborigines Australiens haben die Zeit dieser Welt Traumzeit genannt.54 Dabei spielt eine Strukturgesetzlichkeit mythischen Denkens mit: die Analogie. So wie die Welt vor ihrer Schöpfung ein Gedanke (Gottes) im Reich der Phantasie ist, gleich dem Gedanken, der noch in der Vorstellung haust, bevor er zur Tat wird, so gehört auch der Traum dem Reiche der Phantasie an. Gleiches aber hat im mythischen Denken den gleichen Ursprung. Der Traum gehört deshalb zum Grund der Welt oder jedenfalls zum Grund in der Welt, wenn man deren Ordnung zum Bezug nimmt. Für die Romantiker bedeutet deshalb der Traum Kommunikation mit dem Unendlichen. Gemeinhin sind Traumwelten in Grenzen verstehbar. Sie sind, angebunden an die reale Welt, deren Kontrapunkt und von einer begrenzten Grammatikalität. Sie lassen sich erzählen, auch wenn sie sich dabei verändern. Wir sind gewohnt, Träume dahin zu deuten, daß wir den Anteil des Subjekts an ihnen freilegen. Welchen Subjekts ? Unzweideutig von jenem, das in einer gegen die Traumwelt real gesetzten Welt lebt, das in dieser Welt Erlebnisse hat, die sich in der Traumwelt ihren Ausdruck verschaffen. Schattet man diese Welt ab, durchstreicht man die Anbindung der Traumwelt an die reale Welt, die sie ansonsten in der Differenz zu ihr behält, lassen sich die Traumwelten so wenig verstehen wie das Subjekt in ihnen. Ein Subjekt, das sich darauf festlegt, sich einzig in dieser Traumwelt zu finden, ist deshalb nicht länger kommunikabel; es läßt sich auch für andere nicht verstehen. Es wird, was es sein will: der absolute und eben deshalb undurchsichtige Indifferenzpunkt seiner traumhaften Produktionen.

54 Vgl. dazu W. H. Stanner, The Dreaming, S. 269 ff.; G. Dux, Die Zeit in der Geschichte, S.  168 ff.

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3.3.5 Traumverdacht Der Versuch, im ästhetischen Schaffensprozeß von Welt einen Ersatz für die bedeutungslos gewordene reale Welt zu gewinnen, ist ein untauglicher Versuch. Er führt auf direktem Wege in die Krise, und das aus einem einfachen Grunde: Eine Traumwelt ist eine Traumwelt, ist eine Traumwelt. Bewußt herbeigeführt als ästhetischer Prozeß, ist sie ein Spiel; und das hat, wie der Traum selbst, seinen Kontrapunkt in der realen Welt.55 Eine Bedeutsamkeit dieses ästhetischen Schaffens läßt sich nur gewinnen, wenn das Subjekt als ein empirisches dieser Welt verhaftet bleibt. Nur an einer realen Welt kann, um es zu wiederholen, das Subjekt sich bilden, nur an einer realen Welt kann es seine Identität in der Körperlichkeit seines Daseins erfahren und ausleben. Auch beim Übergang in die Traumwelt muß diese Welt festgehalten werden. Wenn deshalb dem ästhetischen Subjekt die Aufgabe zugeschrieben wird, die Selbstbehauptung des empirischen Subjekts zu gewährleisten, sicherzustellen, daß das Leben bedeutsam bleibt, dann ist diese Auf­gabe in einer Traumwelt, der die Anbindung an die reale Welt verlorengegangen ist, nicht zu bewältigen. Das Subjekt bleibt sich gerade in dem unverständlich, worauf es seine ganze Hoffnung setzt: in der schöpferischen Phantasie. Wenn die Welt Traum wird und das Leben Traum werden soll,56 dann findet das Subjekt für die schöpferischen Fähigkeiten der Poesie, der Phantasie, des Traumes keine Gegenlage mehr, der sie doch bedürfen, um menschlich bedeutsam zu sein. Alles gerät unter Traumverdacht. Der Prozeß schlägt um.57 Schon im » Heinrich von Ofterdingen «, in dem die notwendige Zuordnung von Leben und Traum deutlich gesehen wird,58 heißt es, daß Heinrich in manchen Augenblicken ungewiß war, » ob alles, was ihn umgab, nicht auch vielleicht eine Schöpfung seiner Einbildung sei. «59 Das Drama des Subjekts, das fürchten muß, der Welt nur als Traum habhaft zu sein, kommt jedoch erst in der Kehre des Blicks zum Ausdruck, wenn es gilt, die Lebenspraxis zu bestimmen. Tieck läßt Rosa im » William Lovell « den Höhenflug des Geistes, Welt um Welten entstehen und auch wieder untergehen zu lassen, als Exaltation einer erhitzten Phantasie darstellen, der die notwendige Erschlaffung des Geistes folge.60 Das Aufgebot der Sinne in einer Philosophie der Sinnlichkeit vermag, wie wir wissen, das Bewußtsein, der Wirklichkeit nicht habhaft zu sein, nicht auszulö55 Zum ästhetischen Schaffen als Spiel vgl. W. Menninghaus, Unendliche Verdoppelung, S.  149 ff. 56 Novalis, Schriften, 3, S. 281 (237). 57 Vgl. zum folgenden Ph. Lersch, Der Traum in der deutschen Romantik, S. 39 ff. 58 Vgl. Novalis, Heinrich von Ofterdingen, Schriften, 1, S. 199. 59 Novalis, ebd. 60 L. Tieck, William Lovell, S. 346.

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schen. Die Gottseligkeit des Träumens wird zum Gefühl des Verlustes und bringt sich als solches auch zu Bewußtsein. Die Welt wird mit Traumverdacht belegt und das Leben in ihr als verloren betrachtet. Traumverdacht will sagen: Es möchte alles nur Täuschung sein. » So taumeln wir alle Im Schwindel die Halle Des Lebens hinab, Kein Lieben, kein Leben Kein Sein uns gegeben Nur Träumen und Grab «

heißt es im Liebeszauber Tiecks.61 Die reale Welt läßt sich nicht negieren; wir wissen warum: Das Subjekt bedarf der Gegenlage der Welt, um an ihr sich zu bilden und im Leben zu behaupten. Wenn das Subjekt die Welt zum Traum werden läßt, irrealisiert es sich selbst. Die historische Konstellation ist, als was sie von den Romantikern in der Aufwachphase ihres Daseins empfunden wird: verzweifelt. Denn der Traumverdacht weist an eine empirische Wirklichkeit zurück, die ja gerade mit der Grund dafür ist, die Bedeutsamkeit des Lebens in den Traumwelten zu suchen, genauer: im Schaffensprozeß der Traumwelten.

4

Die Krise des romantischen Subjekts

4.1

Selbsterfahrung im Handeln

Die Reflexivität, die der Mensch dadurch entwickelt, daß er Handlungskompetenz gewinnt, läßt sich auch nur über das Handeln befriedigen. Wer man ist, zeigt sich daran, was man tut. Kein Weg nach innen vermag diesen Umweg über die Äußerlichkeit zu ersetzen. Selbst wenn sich der Mensch zur dauernden Kon­templation bestimmt sieht, muß er sich sagen, daß es eine Bestimmung seines Tuns in der Welt sei. In aller Vergangenheit hat sich das Subjekt mit dem, was es tat, eingebun61 L. Tieck, Liebeszauber, Werke, Bd. 2, S. 99. Elisabeth Lenk fügt hinzu: » Was sich in der Romantik manifestiert, ist nicht Traumglaube, sondern Traumzweifel, ist das permanente, schockartige Erwachen aus einem Zustand, in den man versunken war, in den jeder › naive ‹ Mensch versunken ist, jeder, dem noch nicht die Schneide der Selbstbeobachtung in der Seele sitzt. Was die Romantiker artikulieren, ist ein universeller Traumverdacht, ein Mißtrauen gegenüber aller Unmittelbarkeit, gegenüber den Augenblicken der Versunkenheit in bloßes Sein. « E. Lenk, Die unbewußte Gesellschaft, S. 221.

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den gewußt in eine stabile Welt. In ihr war vorgesehen, was zu tun und was zu lassen war. Man konnte gegen die Ordnung verstoßen, gleichwohl besagte, daß auch anders gehandelt werden konnte, nicht, daß alles hätte auch ganz anders sein können. Das neuzeitliche Subjekt hat demgegenüber ein gesteigertes Bewußtsein erworben, sich zum Handeln selbst bestimmen zu müssen und durch das Handeln zu dem, was es ist. Wenn man, wie das romantische Subjekt, den Bildungsprozeß bis zur Adoleszenz damit abschließt, sich auf keine Daseinsform festgelegt zu haben, dann wird die Notwendigkeit, sich im Handeln erst zu dem zu bestimmen, der man sein will, imperativisch. Man kann nicht überhaupt nicht handeln wollen, denn einzig durch Handeln läßt sich das Leben führen. Gerade deshalb bricht die Nötigung, die Identität im Handeln erst bestimmen zu müssen, über das neuzeitliche Subjekt wie ein Verhängnis herein. Denn woran soll es sich bestimmen ? Der Imperativ: Werde – nicht der, der du bist, vielmehr der, der du sein willst, ist für das romantische Subjekt um so zwingender, als es das Bewußtsein der Konvergenz der Welt auf den Menschen als Konvergenz auf das einzelne Subjekt begreift und letzteres absolut setzt. Unter dem Postulat dieser Maxime ist die Krise unausweichlich. Es sind nur unterschiedliche Wege, auf denen es in sie geraten kann. Verfolgen wir sie genauer.

4.2

Die Selbstbestimmung der Vernunft

Das bürgerliche Subjekt ist, wie wir wissen, offen für Indoktrination. Es ist dies so sehr, daß sich bis in die Sozialisationstheorie unserer Tage die Vorstellung hat halten können, Sozialisation sei überhaupt Indoktrination. Der normale Weg des Subjekts aus bürgerlicher Familie ist, sich die Maxime der bürgerlichen Selbstbestimmung, den Willen, auf dem Markt erfolgreich zu sein, zu eigen zu machen. Was geschieht mit dem Subjekt, das sich an dieser Indoktrination, aus welchen Gründen immer, hat vorbeibewegen und zur Intellektualität weiterentwickeln können ? Eines jeden Anhalts an der vorfindlichen Welt beraubt und ganz auf sich zurückgewiesen, entwickelt es die Vorstellung, sich einzig aus der Vernunft bestimmen zu müssen, aber auch zu können. Die Selbstwahrnehmung auf der Folie der absolutistischen Logik bietet dafür den Anhalt: Gott will Götter. Die Indoktrination des Marktes wird mithin durch die Verpflichtung auf eine sich selbst bestimmende Vernunft ersetzt. Die Romantiker machen mit der postulierten Freiheit des Subjekts Ernst. Sie weigern sich, eine Berufsrolle zu übernehmen, Brentano etwa, relativieren ihre Bedeutung, wie Novalis, oder entsagen ihrer, wie Kleist. Auch die literarischen Figuren in den Romanen Tiecks und Brentanos sind herausgenommen aus der Welt alltäglicher Tätigkeiten und Daseinsvorsorge. Wir kennen das Riff, auf das die-

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Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

ses Lebensschiff auflaufen muß: Aus der Absolutheit eines Absoluten ist für das Leben nichts zu gewinnen. Auch das absolute Ich kann sich nur dann zu etwas bestimmen, wenn das Absolute einen Anhalt an einer vorfindlichen Welt findet. Bei Rousseau ist diese Vorstellung noch lebendig; er geht davon aus, daß es ewige Wahrheiten gibt, die von den Weisen aller Zeiten anerkannt und in das menschliche Herz eingeschrieben sind.62 Sie lassen sich in der Welt wiederfinden. Von der gleichen Vorstellung hatte sich auch Fichte noch bestimmen lassen. Bei beiden, bei Rousseau wie bei Fichte, fiel jedoch zwischen den Soll- und den Ist-Zustand der Gesellschaft bereits der Schatten. Für ein nachromantisches, und hier vor allem für ein soziologisches Verständnis des Subjekts hat die Vorstellung, in einer bürgerlichen Gesellschaft einer sich selbst bestimmenden Vernunft folgen zu wollen, von vornherein etwas Absurdes. Einmal abgesehen davon, daß Vernunft sich nicht länger als Selbstbestimmung denken läßt, stößt jede Selbstbestimmung auf eine Welt, deren Strukturen keinem der in ihr agierenden Subjekte verfügbar sind. Notwendig muß deshalb geschehen, was Anthony Stephens für das Ich Kleists konstatiert: Es unterliegt jenen Bedeutungen, die für sich » die Welt « bereits in Anspruch genommen haben. Dabei fügt er mit feinem Sinn für die Bedingung, unter der dieses Ich sich versteht, hinzu: » Das Ich, das sich als Ursprung erlebt. «63 Welche Bedeutungen sind es ? Und weshalb scheitert das Subjekt an ihnen ?

4.3

Verlust der Autonomie

Das romantische Subjekt artikuliert ein hedonistisches Lebensziel: » Glück und Genuß ist der Zweck unseres Lebens «, erklärt Brentano.64 Dabei werden Glück und Genuß so bestimmt, daß sie an das Subjekt selbst zurückverweisen. Godwi, den Brentano die zuvor erwähnte Programmatik des Daseins äußern läßt, fährt fort, die Umstände des Lebens so auffassen und so behandeln zu wollen, daß sie in uns Glück und Genuß erschaffen und daß wir dabei selbst zum Zwecke allen Lebens werden. Wir wissen, daß einzig in der Rückführung des Handelns und der Handlungsziele in den Genuß des Lebens die Ressource für Sinn zu finden ist.65 Mit dieser Sinnbestimmung läuft das romantische Subjekt auf, oder richtiger: es liefe auf, wenn es je den Versuch machte, sie in der vorfindlichen Welt zu realisieren. Denn die Sozialwelt wird mit der industriellen Revolution von einer Ökonomie bestimmt, die die tägliche Arbeit von der unbegrenzten Sinnressource Le62 63 64 65

J. J. Rousseau, Träumereien, S. 67, 73. A. Stephens, Geburtsmetapher, S. 213. C. Brentano, Godwi, S. 41. Vgl. oben S. 221 f.

Die Krise des romantischen Subjekts 329

ben abkoppelt. Was getan wird, wie etwas getan wird und wieviel getan werden muß, wird durch die Anforderungen des ökonomischen Systems bestimmt, dem jeder unterworfen ist. Die Selbstreferentialität im ökonomischen System bedeutet ebenso dessen Autonomisierung wie Totalisierung. An ihr wird jede Form der Sinnbestimmung, die das Handeln auf eine autonome Vernunft rückbeziehen will, zunichte. Sinn wird dadurch zum Sinn an sich und gerade deshalb in der Bedeutungsebene gelebten Lebens leer. Das 19. Jahrhundert steht auf dem Kontinent erst am Beginn der industriellen Revolution. Die Intellektuellen nehmen jedoch mit feinem Gespür die Entwicklung auf, die vor ihnen liegt. Tieck hat im » William Lovell « unter Hinweis auf die Öde der Büroarbeit die protestantische Ethik und mit ihr das ganze Gerede von der bildenden Kraft der Arbeit, ihres » Wertes an sich « durchgestrichen: altfränkisch, philosophisch, unwahr.66 Wenn deshalb das romantische Subjekt einer hedonistischen Philosophie anhängt, so bringt sich darin das Verlangen zum Ausdruck, Leben in seinen menschlichen Möglichkeiten: in der Verbindung von Körperlichkeit und Geistigkeit, führen zu wollen. Die Dramatik unter der Decke romantischer Genußsucht ist nicht zu übersehen: Das romantische Subjekt insistiert darauf, nicht der Möglichkeit verlustig zu gehen, in einem auf Sinn angelegten Dasein sinnvoll zu leben. Nur wer selbst einem metaphysischen Sinnbegriff anhängt, kann in dieser Form der Hedonie einen Anflug von Nihilismus sehen. Man muß die Feststellung unter dem Eindruck der romantischen Einsicht weiterführen. Die Art der Autonomisierung von Sinn im tätigen Leben der Arbeit, wie sie im bürgerlichen Ethos entsteht, bringt den Menschen um das, was menschenmöglich sinnvoll heißen kann. Gerade weil die Romantik noch am Anfang eines Weges steht, der für Jahrhunderte Schicksal werden soll, kann sie auf einen Ausweg sinnen, auf dem sie diesem Schicksal zu entrinnen sucht. Die Verweigerung gegenüber der bürgerlichen Welt ist ein Akt der schieren Selbstbehauptung. Für das romantische Subjekt bietet sich keine Aussicht, dieses Sinnbedürfnis zu befriedigen. Es hat die Welt gleich zweimal verloren: ein erstes Mal dadurch, daß sich für ein auf seine Autonomie insistierendes Subjekt die reale Welt nicht länger eignet, seinem auf Sinn angelegten Dasein einen Anhalt zu bieten, ein zweites Mal dadurch, daß es unter einer absolutistischen Logik in der freigesetzten Selbstreflexion sich aus einem Absoluten zu verstehen sucht, das sich einzig in Traumwelten zu realisieren weiß. Wenn es dem leeren Höhenflug des Geistes entsagt, findet es sich einer Natur ausgeliefert, die nichts als das Factum brutum der Sinnlichkeit kennt, und einer Sozialwelt, die das Handeln in ein machinales Getriebe einbindet. Es ist diese Erfahrung des Verlustes einer bedeutungsvollen Welt,

66 L. Tieck, William Lovell, S. 544.

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Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

die das romantische Subjekt in eine Krise geraten läßt. Ihren Ausdruck findet die Krise in dem Verlust der Identität.

5

Nicht-Identität

Jede Identität ist eine soziale Identität, das gilt auch für jene, die gemeinhin im Unterschied zur sozialen als persönliche bezeichnet wird. Denn auch das Individuelle, das jede Identität auszeichnet, bildet sich in den Bezügen, in denen das Subjekt in der Welt lebt. Die Ausbildung der Identität ist die Antwort auf die Herausforderung, die sie für das Subjekt darstellt; es mißt sich an ihrer Bewältigung und schreibt sich durch sie seine eigene Bedeutsamkeit zu. Die Zuschreibung von Bedeutsamkeit ist nur möglich in einer bedeutungsvollen Welt; sie gehört selbst zum Bedeutungsganzen der Welt hinzu. Beide: das bedeutsame Selbst wie die bedeutungsvolle Welt, sind einander zugeordnet und voneinander abhängig. Woraus anders sollte die Bedeutung rühren, die der Welt zukommt, als aus der Bedeutung, die sie für das Subjekt hat. Auch eine in sich sinnhafte Welt gewinnt Bedeutung nur für das Subjekt, das sie so versteht. Identität gewinnt das Subjekt dadurch, daß es seine innere Natur mit der institutionalisierten Ordnung der Außenwelt zur Deckung bringt. Es rückt in der Zuordnung des Selbst zur Welt in seiner Lebenspraxis in eine konstitutionelle Ruhelage in ihr ein. Die Befriedung seiner inneren Natur läßt die Welt bedeutungsvoll sein. Die Ruhelage der Identität wird ins Bewußtsein überführt und trägt sich als Einklang zwischen Subjekt und Welt zur Schau. Eine Identität dieser Observanz geht in der Neuzeit verloren. Mit der bedeutungsvollen Welt wird auch die Bedeutsamkeit, die sich das Subjekt in der Identität bis zur Neuzeit zugeschrieben hat, hinfällig. In einer Gesellschaft, wie sie sich seit der industriellen Revolution entwickelt, gibt es Widerstände zuhauf, im Marktgeschehen zum Beispiel oder in den Machtpotentialen der Politik. Ihre Bewältigung kann Erfolgsgefühle auslösen, aber sie hilft nicht, eine Identität auszubilden. Was immer in dieser Welt geschieht, läßt sich nicht in die innere Natur des Subjekts überführen. Denn die Gesellschaft ist zwar nicht überhaupt von den Bedürfnissen der Subjekte abgekoppelt – jeder fristet sein Leben vermöge des ökonomischen Outputs –, abgekoppelt sind jedoch die Handlungen der einzelnen, mittels derer sich das soziale System bildet und erhält, von deren Bedürfnissen. Die Romantiker sind die ersten, die aus der objektiven Lage, daß Subjekt und Welt nicht länger zur Deckung zu bringen sind, die Konsequenz ziehen und sich von der real vorfindlichen Welt ihrerseits abkoppeln. Sie erwarten nichts von ihr, weil sie wissen, daß sie von ihr nichts für sich gewinnen können. Notwendig, weil unausweichlich, geht ihnen deshalb mit dem Verlust der bedeutungsvollen Welt

Nicht-Identität 331

auch ihre Identität verloren. Traumwelten sind völlig ungeeignet, Identität zu bilden. Sie haben geradezu eine gegenteilige Funktion. Traumwelten sind eigens dazu bestimmt, das Subjekt von jeder Bindung freizuhalten. In den Wachphasen seines Daseins findet sich das romantische Subjekt deshalb in einer abgrundtiefen Einsamkeit wieder. Seine Identität ist die Nicht-Identität. Auch die Nicht-Identität muß lebbar gehalten werden. Das romantische Subjekt ist sich seiner Lage bewußt. Es ist eingeklemmt zwischen zwei Welten: Auf der einen Seite steht eine Welt, in der es leben muß und in der es, derer realen Strukturen wegen, nicht leben kann; auf der anderen Seite wird es bestimmt von einer Welt, deren unterliegende Logik ein absolutes Sinnverlangen kennt, das an keiner Realität länger noch einen Widerhall findet. Die Situation, die dadurch für das romantische Subjekt entsteht, kommt nicht in den Blick, solange man die Romantik lediglich als literarische Epoche versteht und das romantische Subjekt als literarisches Subjekt herauslöst aus den realen Bezügen der Welt. Zum literarischen Subjekt gehört es, sich im Kult des Absoluten zu ergehen; dabei hat es sein Bewenden. Wenn man dagegen das literarische Subjekt als Deutungsversuch versteht, mit dem das empirische seine Situation in der veränderten Welt zu bewältigen sucht, dann wird die Belastung sichtbar, die die Unversöhnlichkeit beider Welten darstellt. Denn aus dem Kult des Absoluten in der literarischen Produktivität führt kein Weg zurück ins empirische Dasein des Subjekts. Aus dieser Perspektive gewinnt jener Zug, mit dem das romantische Subjekt sich selbst betrachtet: die Ironie, noch einen anderen Zug als nur den, der Unendlichkeit des Absoluten in dessen unaufhebbarer Freiheit in immer neuen Welten Ausdruck zu verschaffen.

5.1

Die Ironie der Ironie

Ironie, so hat man gesagt, ist das Medium, das zwischen Realem und Idealem, Endlichem und Unendlichem vermittelt.67 Das jedoch vermöchte die Poesie in aller Ernsthaftigkeit ohne jeden Anflug von Ironie. Die Pointe der Ironie ist, historisch-genetisch gesehen jedenfalls, daß sie den ungeklärten Status, den die Wirklichkeit innehat: das Moment des Widerspruchs, das in dem historisch Transitorischen des transzendentalen Absoluten ebenso zum Ausdruck kommt wie in der Inanspruchnahme eines Absoluten für das Universum, festhält und mit ihm zu leben versucht. Die Ironie des Romantischen, jede schöpferische Produktivität dadurch in Frage zu stellen, daß sie von dem Bewußtsein begleitet wird, von einer anderen Produktivität abgelöst zu werden, bringt überdeutlich zum Ausdruck, daß keine irgend denkbare Objektivation als manifeste Festschreibung des Abso67 H. Prang, Die romantische Ironie, S. 13 mit Bezug auf das 238. Athenäums-Fragment.

332

Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

luten in einer Welt, auch nicht in einer romantisierten, möglich ist. Für die Philosophen unter den Romantikern kommt darin das Schweben des Absoluten in der Unendlichkeit des Universums zum Ausdruck. In der Kehre des Blicks auf die Praxis der Lebensführung bricht sich die Ironie an der Unmöglichkeit, mit einer radikal ironisch gemeinten Welt und einem radikal ironisch gehaltenen Selbst fertig zu werden. Das Bewußtsein, mit der Ironie zwar eine Lebenslage zum Ausdruck zu bringen, aber nichts mit ihr ausrichten zu können, schlägt auf dessen eigenes Verständnis zurück. Es reflektiert sich selbst ironisch. Wie die Poesie ist auch die Ironie darin reflexiv, daß sie sich auf sich selbst richtet: also Ironie der Ironie ist.68 Als Ironie der Ironie aber läuft sie nicht einfach leer, sie entwertet das ironische Verfahren, indem sie völlig undurchsichtig werden läßt, ob etwas und was mit ihr zu gewinnen ist. In der ironischen Reflexivität wird sie, als was Fr. Schlegel sie bezeichnet hat: eine transzendentale Buffonerie.69 Der Überstieg ins Absolute wird buchstäblich entlarvt, wie das Übersinnliche entlarvt wird, mit dem die Romantiker umzugehen pflegen.70 Das ist es, was die Metaphysiker eines positiven Absoluten in Harnisch gegen die Ironie gebracht hat – Hegel wie Kierkegaard. Gott läßt sich nicht spotten. Die Dramatik in der Durchkreuzung der Ironie durch Ironie liegt darin, daß auch in der Kehre des Blicks von der spekulativen Höhenlage des Absoluten auf das Leben dessen Verständnis und der Anspruch an es an die Logik des Denkens vom Vorrang des Geistes gebunden bleiben. Das Subjekt kann nicht anders, als sich von einem Absoluten her zu verstehen; es findet jedoch nichts davon in der Welt, in der es lebt. Das Schisma zwischen der real vorfindlichen Welt und dem Deutungsschema, in dem sie sich in der philosophisch-religiösen Reflexion darstellt, führt nicht zur Bescheidung im Endlichen, auch nicht zur Resignation, beides wird durch ein Denken vom Absoluten her ständig durchkreuzt, es führt zum Wahnsinn.

5.2

Wahnsinn

Der Wahnsinn ist als neuzeitliches Phänomen nicht erst ein Thema der Romantik. Das mit Beginn der Neuzeit sich entwickelnde Bewußtsein der Konvergenz der 68 Die gesteigerte Reflexivität der Romantik läßt jedes auszeichnende Vermögen des Menschen seinerseits reflexiv werden und durch sich selbst bestimmt sein; vgl. Fr. Schlegel, Lucinde, KA V, S. 41. 69 Fr. Schlegel, Kritische Fragmente, Kr. Schr. StA 1, S. 242 (42). 70 Vgl. die Entlarvung des » Übersinnlichen « in Brentanos Roman » Godwi « in der Szene mit dem stillen Licht; C. Brentano, Godwi, S. 308, 385.

Nicht-Identität 333

Welt auf das Subjekt läßt früh schon bewußt werden, daß die Wirklichkeit verfehlt werden kann, der Geist sich in Wahnwelten zu bewegen vermag. Die Romantik gibt dem Verfehlen der Wirklichkeit eine andere Bedeutung: Wenn die bedeutsame Welt eine Welt in der Schwebe des Absoluten ist, die nur durch die Poesie erreicht wird, wenn schließlich in dieser durch die Phantasie geschaffenen Realität der Überstieg über die plane vorfindliche Welt gesucht und eine Kommunikation mit dem Unendlichen ermöglicht werden soll, dann ist Leben als poetisches Leben die Form bedeutungsvollen Lebens. Wahn-Sinn wird deshalb zur Metapher sinnerfüllten Daseins, identisch mit Liebe.71 Wahnsinn steht dann für alles, was mit dem ordinären Verstande nicht zu fassen ist, und davon hat jeder etwas in sich. Bis zu einem gewissen Grade sind deshalb alle Menschen wahnsinnig.72 Auch der Wahnsinn gewinnt eine andere Bedeutung, wenn nicht die philosophische Reflexion des Absoluten und deren poetische Umsetzung in Frage stehen, vielmehr die Selbstbehauptung des empirischen Subjekts in der alltäglichen Praxis. So wie das Bewußtsein der Romantik zwischen Realität und Phantasie hin- und hergerissen wird, und die Unmöglichkeit, zu einem Urteil zu kommen, wie Realität verstanden und wie sie der Konstruktivität vermittelt werden muß, das Subjekt zu zerreißen droht,73 so wird auch der Wahnsinn Ausdruck dieser Zerrissenheit. Unter dem Anspruch der absolutistischen Logik, Wahrheit, Gewißheit, Gerechtigkeit im Dasein finden und realisieren zu wollen, gerät das Subjekt in eine derart ausweglose Situation, daß es wahnsinnig werden muß. Statt Wahrheit, Gewißheit, Moral, die länger nicht zu finden sind, findet das Subjekt das Chaos, aber nicht jenes, in dem die Welt in ihrer noch unentfalteten Ordnung und Schönheit beschlossen liegt, das vernünftige Chaos, wie Novalis sagt,74 vielmehr jenes, in dem nichts Göttliches und keinerlei Sinn mehr auszumachen sind. Alles, erklärt Balder, ist » ohne Absicht und Zusammenhang «; er gibt damit eine exakte Beschreibung der neuzeitlichen Welt unter der Perspektive einer absolutistischen Logik.75 Kurz: Wahnsinnig muß man gerade unter dem Anspruch der Vernunft werden, eine absolute Wahrheit entdecken und danach leben zu wollen. Balder fährt fort: » Ich verstelle mich nicht mehr und bin wahnsinnig ! – wie vernünftig die Menschen doch sind. «76

71 Vgl. C. Brentano, Brief an Sophie Mereau vom 10. Januar 1803. C. Brentano/S. Mereau, Briefwechsel Bd. 1, S. 42. 72 L. Tieck, William Lovell, S. 594 f. 73 Als » bodenloses Schwanken zwischen Täuschung und Realität « versteht auch M. Janz, Marmorbilder, S. 91, die Ironie der Ironie in der Entlarvung des Übersinnlichen. 74 Vgl. Novalis, Schriften, 3, S. 281 (234). 75 L. Tieck, ebd., S. 386 f. 76 L. Tieck, ebd., S. 386 f.

334

Die Krise des Subjekts nach dem Verlust der Welt

Wahnsinnig wird man nicht kampflos; der Anspruch der Vernunft stürzt in Zweifel, die nicht zu bewältigen sind; Wahnsinn wird so schließlich zum Zufluchtsort, in dem die Qual, Wahrheit zu wollen und nicht finden zu können, endet.77 » Daß der Wahnsinn immer rascher mich beflügle, Und zum dunklen Tor der Hölle zügle, Nur Erinnyen ! gebt mich von den Zweifeln frei ! «78

Da der Wahnsinn aus der Welt herausführt, öffnet er schließlich das Geisterreich und führt zur Kommunikation mit dem Unendlichen, also doch auch zu dem, zu dem glücklichere Naturen sich auf anderem Wege: durch Poesie, den Zugang zu verschaffen wissen.79 Wie sehr der Wahnsinn Verzweiflung an der Welt ist, zeigt sich in seiner trivialsten Form, wenn Rosaline, die verführte Unschuld vom Lande, ob der Treulosigkeit ihres Verführers erklärt: » Ich will wahnsinnig werden «, und es auch wird.80 Wenig ist so bezeichnend für die Romantik, jedenfalls in einem historisch-genetischen Verständnis, wie die Konvergenz jener beiden Bedeutungen von Wahnsinn, die auf getrenntem Wege zu ihm führen: In beiden ist die Welt ein Chaos; für die glücklicheren, die poetischen Naturen ist dieses Chaos das » Nur Seyn «, die Kraft der Schöpfung unter Abstraktion der Mannigfaltigkeit der Welt;81 es wird zum Anlaß, sich mit ihm in eins zu setzen, die gemeine Welt hinter sich zu lassen, um in einer selbstgedachten, selbstgebildeten Welt zu leben. Unter deren Versicherung wird dann das Chaos zum schönen, romantischen Chaos.82 Die anderen, erdenschweren Naturen sind an die vorfindliche Wirklichkeit gekettet. Sich ihr zu überlassen, in ihr leben zu wollen, bedeutet Untergang im Wahnsinn, solange dieses Leben dem Anspruch des Absoluten verhaftet bleibt. Die Krise des romantischen Subjekts besteht nach allem darin, einer bedeutungsvollen Welt verlustig gegangen zu sein, gleichwohl aber dem Anspruch einer Sinnbestimmung des Daseins im Absoluten verhaftet zu bleiben. Aus dieser Konstellation heraus entsteht, was wir romantische Liebe nennen.

77 78 79 80 81 82

L. Tieck, ebd., S. 334, 633. L. Tieck, ebd., S. 503. L. Tieck, ebd., S. 337, 348. L. Tieck, ebd., S. 448. Novalis, Schriften, 2, S. 106 (3); 2, S. 454 ff. (94 f.). Fr. Schlegel, Lucinde, KA V, S. 9.

Kapitel 6 Romantische Liebe

1

Ihre Genese in der Krise

Was die romantische Liebe meint, läßt sich nur verstehen, wenn man der Genese des romantischen Subjekts nachgeht. Diese eingangs aufgestellte These hat sich im Verfolg unserer Erörterung bestätigt: Liebe, haben wir gesagt, sei, von der Existenz des anderen in einer Weise überwältigt zu sein, daß das eigene Leben im Bannkreis der Körperzone des anderen gelebt werden soll. Den Grund dafür, überwältigt zu werden, haben wir darin gesehen, daß ego in der inneren Natur alters Kristallisationen findet, auf die er sich in früher Zeit in seiner eigenen Natur hat verpflichten lassen. Ego findet in alter für seine innere Natur die Anbindung an die Welt und zugleich deren Bestätigung. Dabei galt für diese individuelle Welt immer schon, daß sie zwischen beiden erst geschaffen werden mußte, alter stellte immer schon das Realitätsprinzip für die Individualität egos dar. Es ist nicht mehr vonnöten, als sich diese innere Struktur des Liebens zu vergegenwärtigen, um gewahr zu werden, weshalb Liebe in der Romantik eine exorbitante Bedeutung gewinnt: Liebe soll im anderen die verlorengegangene Welt wiederbringen, und das in einer alle Empirie übersteigenden Bedeutsamkeit des Daseins. Das romantische Subjekt kennt seine Situation zumindest insoweit, als es um die Problematik der Lebenslage geht. Denn die Krise stellt sich in dem Scheitern des Versuchs her, für das eigene Leben irgendeinen Anhalt an der Welt zu finden, durch den es sich als bedeutsam erwiese. Das Subjekt reflektiert deshalb auf die Krise zu dem Zweck, ihrer Herr zu werden. Nur geschieht das in einem Denken der Zeit, das zerrissen wird vom Schisma der beiden Logiken: jener Logik, die einer in sich selbstgenügsamen Welt unterliegt, und jener, die ein sie übersteigendes Absolutes kennt. Die Liebe gehört im Denken der Zeit beiden Sphären an: der Weltlichkeit wie dem sie übersteigenden Absoluten. Sie muß sich schon deshalb als Mittlerin beider Sphären anbieten. Wir wissen, darin steckt insofern ein © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_18

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336

Romantische Liebe

realistisches Moment, als der andere der inneren Natur egos, ihrer Individualität, wirklich den Zugang zur Welt vermittelt. Die Frage ist allerdings, wieviel Welt jeder braucht, wie sehr er m. a. W. selbst schon in einer bedeutungsvollen Welt verortet sein muß, um sein zu können, was er sein soll. Die Romantik hat sich um das Vermögen der Liebe nicht weiter gesorgt. Sie hat Liebe so absolutistisch verstanden wie alle hehren Eigenschaften des Menschen. Mehr noch: Sie galt ihr als mit dem Absoluten identisch.

2

Liebe im Verständnis der Romantik

2.1

Kindheit

2.1.1 Die Nähe zum Ursprung Der Schlüssel zum Verständnis des neuzeitlichen Subjekts liegt, wie wir wissen, in der veränderten Kindheit. In der Kindheit liegt aber, wie wir ebenfalls wissen, auch der Schlüssel zum Verständnis der Liebe. Die Romantik weiß um diese Schlüsselstellung der Kindheit und sucht sie dem Verständnis des Subjekts nutzbar zu machen. Das geschieht, wie nicht anders zu erwarten, in einer metaphysischen Überlagerung: Kindheit ist die Lebenssphäre, in der der Mensch noch dem Urspung, von dem er kommt, nahe und verbunden ist. Das wird am deutlichsten bei Novalis. Von der Kindheit heißt es im Heinrich von Ofterdingen: » Ein Geist ist hier geschäftig, der frisch aus der unendlichen Quelle kommt … «1

Ihre Bindung an den Ursprung bewirkt zugleich die Bindung an die Liebe. Im metaphysischen Verständnis ist der Ursprung verströmende Liebe. Diesem dunklen Ursprung bleibt jeder verbunden; es gilt, sich seiner im Leben bewußt zu bleiben; man verliert, wenn man sich von ihm entfernt. » Ach ! damals ! damals – immer strebt mein Geist zurück in jenes schöne Land, das einst die Heimat war. «2

1

2

Novalis, Heinrich von Ofterdingen, S. 327. Im gleichen Sinn äußert sich Tieck im William Lovell, und das nicht zufällig durch Balder, dem härtesten der Metaphysiker unter den romanhaften Subjekten, dann auch durch William Lovell selbst. Vgl. L. Tieck, William Lovell, S. 358, 471. L. Tieck, William Lovell, S. 631; vgl. auch ebd., S. 380.

Liebe im Verständnis der Romantik 337

In der Rückbindung an Ursprung und Kindheit in einem wird die Liebe ewig die Bindung an letztere und damit auch an die Mutter beinhalten. 2.1.2 Frühkindliche Entwicklungen Brentano hat einige der neuzeitlichen Züge der Kindheit und ihre Bedeutung für den Entwicklungsprozeß des Subjekts thematisch werden lassen. Das gilt zunächst für die Isolation von der Außenwelt, in der die Kindheit verläuft. Sie ist für seine eigene Kindheit extrem. In der Familie seiner Tante, in der er seit dem sechsten Lebensjahr erzogen wurde, war er praktisch eingesperrt. » Vor die Haustür kam ich nie. « Anders übrigens seine Schwester, die sich mit den Fräuleins der Gesellschaft in deren Etikette üben durfte.3 Die Konsequenz dieser von der Welt abgeschiedenen Kindheit macht Brentano an Eusebio deutlich, jenem Knaben, der in » Godwi « mit Werdo und Otilie in einer Art Eremitage aufwächst: » Die Außenwelt «, läßt Brentano Lady Hodefield feststellen, » hat ihn auf der Stufe seiner Kindheit nie gefesselt. « Nach innen geht der Weg. Der Anreiz der Selbstreflexion, die früh ausgebildet wird, verlangt einen hohen Preis: » Er öffnet die Arme mit Sehnsucht, und nimmer kann er mehr umarmen als sich selbst. «4 Welt, diese auch in der Gegenwart so vielfältig und gründlich verkannte soziologische Einsicht, läßt sich nur an Welt gewinnen; das war auch Brentano bewußt. Die romantische Liebe wäre nicht in der Weise dem Gefühl verhaftet, wie sie es ist, hätte sich nicht jene frühkindliche Intimität zur Mutter gebildet, die aus der Zuwendung der Mutter zum Kind in der bürgerlichen Familie entsteht. Diese Zuwendung ist, wie wir gesehen haben, nicht der Grund für die Bedeutung, die Gefühl und Gemüt in romantischer Zeit zugeschrieben werden. Überhaupt läßt sich die Romantik durch die Gefühlsbetontheit, die Hochschätzung des Gemüts und der Stimmung allein nicht begreifen, obgleich alle drei Schlüsselbegriffe der Romantik sind. Ihre Bedeutung gewinnt die Gefühlsbestimmtheit der Romantik dadurch, daß durch sie der Zugang zu einer Welt gefunden werden soll, die in den rationalen Strukturen ihrer Organisation ihre Bedeutsamkeit und deshalb auch ihre verpflichtende Kraft verloren hat. Die über das Gefühl gesuchte Bindung gilt deshalb einer Welt, deren Oberflächenstrukturen in der Hinwendung zum und Einswerdung mit dem Absoluten unterlaufen werden sollen. Die Bedingung für diese Form einer gefühlsbestimmten Welterfahrung liegt allerdings in der frühkindlichen Intimität bürgerlicher Familien. Sie bildet sich, wie wir gesehen haben, dem Organismus ein, prägt ihn und hält sich zeitlebens als Bedürfnis durch. Sie in 3 4

C. Brentano, Godwi, S. 286. C. Brentano, Godwi, S. 83 f.

338

Romantische Liebe

die Welt hineinzutragen, muß der Romantik völlig legitim erscheinen, da das Subjekt in seiner eigenen Natur mit der inneren Natur der Welt zur Deckung gebracht wird. Es gehört zu den hellsichtigen Einsichten in die eigene Situation, und damit zur gesteigerten Selbstreflexivität, mit der das Subjekt sich in der Romantik wahrnimmt, daß die Romantiker in der frühkindlichen Entwicklung der Mutter für die Entwicklung glückhaften Lebens, gelungenen Liebens zumal, eine entscheidende Bedeutung zuschreiben.

2.2

Marmorbilder: Die toten Mütter

Die Romantiker lassen die Bedeutsamkeit der Mutter am liebsten auf einer Negativfolie hervortreten: in ihrem Fehlen. Man kann, wenn man will, ihr Fehlen lediglich als Funktionswert in der Organisation der Erzählung verstehen. Tote Mütter eignen sich gut, um die Sehnsucht nach dem Vergangenen, der Heimat, wie nach dem Künftigen, der Wiedervereinigung mit dem Ursprung des Lebens im Tode, zum Ausdruck zu bringen. Bedeutsam bleibt, daß es Mütter sind, denen dieser Funktionswert zugeschrieben wird. In Brentanos » Godwi « fehlt nicht nur dem jungen Godwi die Mutter; Joduno und Otilie haben ebenfalls tote Mütter, und Eusebio wächst ohne mütterliche Liebe auf.5 Gerade deshalb ist in ihnen die Sehnsucht nach den Müttern mächtig. Godwi begegnet seiner toten Mutter in Gestalt einer Marmorstatue im Park, ohne zu wissen, daß sie seine Mutter darstellt; sein Vater hat die Statue errichtet. Wir wollen uns mit dieser Statue näher befassen. Denn an ihr läßt sich das Verständnis der Mutterbindung in der Romantik und die Bedeutung, die sie für die Liebe gewinnt, klären. Von der Marmorstatue im Park heißt es: » Und es schien das tiefbetrübte Frauenbild von Marmorstein, Das ich immer heftig liebte, An dem See im Mondenschein, Sich mit Schmerzen auszudehnen Nach dem Leben sich zu sehnen. Traurig blickt es in die Wellen, Schaut hinab mit totem Harm, Ihre kalten Brüste schwellen, Hält das Kindlein fest im Arm. 5

Auch Mathildes Mutter in Novalis’ » Heinrich von Ofterdingen « stirbt bald nach der Geburt; Novalis, Schriften 1, S. 288.

Liebe im Verständnis der Romantik 339

Ach, in ihren Marmorarmen Kann’s zum Leben nie erwarmen ! «6

Die Beschreibung steht in einem Bericht Godwis über seine frühe Kindheit. Die Sehnsucht, mit der der junge Godwi seiner toten Mutter verbunden ist, wird daran deutlich, daß er sie in dem bewegten Wasser des Teiches wiederzufinden sucht; dabei stürzt er in das Wasser, wird aber gerettet. In der Szene wiederholt sich das Trauma seiner Kindheit; denn seine Mutter starb, als sie ihrerseits – aus Sehnsucht nach dem Geliebten – mit ihm ins Wasser stürzte, auch damals wurde der Knabe gerettet. Nach dem Aufwachen ist die erste Frage an den Vater: » … ach ! die Marmorfrau – Wer ist sie ? – Wessen Bild ? – Wer tat ihr weh ? Daß sie so tief betrübt aufs holde Kind Und in den stillen See herniederweint ? «

Und der Bericht fährt fort: » Mein Vater hob die Augen gegen Himmel Und ließ sie starr zur Erde niedersinken, Sprach keine Silbe und verließ die Stube. In diesem Augenblick fiel mein Los. «7

Die Frage ist, wie man die Verkörperung der toten Mutter in dem Marmorbild zu verstehen hat; und die Frage ist weiter, aus welchen realen Lebensbedingungen heraus diese literarische Figur mitsamt ihren Bezügen entstehen konnte. Hier scheiden sich die Geister. Marlies Janz hat in den Frauen des » Godwi « die Symbolfiguren einer patriarchalen bürgerlichen Familie gesehen, die » die Stillegung des weiblichen Körpers durch patriarchale Gewalt « darstellen. Zugleich symbolisieren die versteinerten Frauen » die Verführungskraft von Weiblichkeitsbildern, deren Glücksversprechen jenseits aller Realisierbarkeit zu liegen und deshalb an den Tod gebunden zu sein scheint. «8 Wenn man Janz folgt, stellen die Bindungen der Figuren des Romans an ihre toten Mütter, Godwis vor allem an die seine, Regressionswünsche in eine nicht ausgekostete Kindheit dar, die mit Todeswünschen zusammengehen: » Regressionswünsche und Todeswünsche gegen das geliebte Objekt werden damit für das Kind ununterscheidbar. Nur die tote Mutter 6 7 8

C. Brentano, Godwi, S. 145. C. Brentano, Godwi, S. 146 f. M. Janz, Marmorbilder, S. 43.

340

Romantische Liebe

scheint ihm die Erfüllung seiner regressiven Wünsche gewährleisten zu können. «9 Die gleichen Wünsche richten sich, folgt man Janz, auf die Frauen, die Godwi liebt – wenn er sie liebt. Janz unterlegt nicht nur dieser Stelle, sondern dem Roman neben dem Deutungsmuster der patriarchalen Gewalt über Frauen in bürgerlichen Familien das einer psychoanalytischen Triebtheorie, in der die ödi­pale Konfliktsituation mit dem Todestrieb eine Symbiose eingeht. Was immer sich im Roman an Geschlechtscharakteren und Beziehungen zwischen den Geschlechtern findet – und die machen dessen eigentlichen Gehalt aus –, wird den psychoanalytischen Interpretationsschemata unterworfen. Beide Schemata, das patriarchale und das psychoanalytische, geben auch die Interpretationsgrundlage für die realen Geschlechterverhältnisse in der Gesellschaft der Neuzeit ab, die der Interpretation integriert werden. Es ist, um bei den Marmorbildern zu bleiben, sicher richtig, daß Brentano die Mutter unter dem patriarchalen Regiment des Vaters wahrgenommen hat.10 Nicht fraglich ist auch, daß der Patriarchalismus ganz allgemein das Geschlechterverhältnis während der Zeit der Romantik bestimmt hat. Damit jedoch ist noch nicht gesagt, daß der Patriarchalismus auch den literatrischen Bedeutungsgehalt der Statuen aus Marmor, die, wie wir sehen werden, bei Brentano häufig vorzufinden sind, ausmacht. Janz läßt allerdings das Verständnis der Marmorstatuen weniger von dem Patriarchalismus als von dem mit ihm verbundenen psychoanalytischen Deutungsmuster eines ambivalenten Todeswunsches gegenüber den Frauen bestimmt sein. Im Blick auf das Todesmotiv, das den Statuen tatsächlich unterliegt, stellt die psychoanalytische Deutung jedoch eine grobe Verzeichnung dessen dar, was die Romantiker meinten, wenn sie Liebe und Tod einander verbanden. Gehen wir der Verbindung nach. Im » Godwi « hat die Marmorstatue im Park sowohl Bedeutung für den Knaben Godwi als auch für dessen Vater. Fassen wir die Beziehung ins Auge, die der junge Godwi zu ihr herstellt. In jener Szene, die die autobiographischen Erlebnisse der frühen Kindheit wiedergibt, heißt es von ihr: » … durch den weißen duftigen Busen blutet das warme rote Herz Liebe heraus zu mir «11. Diese Liebe erstarrt, versteinert, wie die Tage unter der Trennung versteinern. Wie sehr Brentano in der Versteinerung der Statue das Moment der Trennung zum Ausdruck bringen wollte, zeigt sich daran, daß er die Tage der Trennung von der eigenen Mutter in dieselbe Bildform gefaßt hat:

9 M. Janz, ebd., S. 34. 10 Vgl. H. M. Kastinger Riley, Clemens Brentano, S. 13. 11 C. Brentano, Godwi, S. 284.

Liebe im Verständnis der Romantik 341

» Die Tage in des Lebens Blumenflucht Wie kleine Gärten zwischen steilen Mauern, Die nie ein Sonnenstrahl hat heimgesucht, Wo kalte Marmorkinder einsam trauern, … «

So steht es in den Einleitungsversen zu den Romanzen vom Rosenkranz.12 Man muß sich an die Bedeutsamkeiten halten, die Brentano selbst mit dem Marmorbild verbunden hat, und nicht ein Schema unterlegen, das dem Roman fremd ist. Daß Brentano in der Marmorstatue den Kontrast zwischen dem Leben und der Möglichkeit, seine Glückseligkeit auszukosten, im Sinn hat, wird auch an der Vorstellung deutlich, die er sonst mit einer Bildsäule verbindet. Sie läßt sich zwei Stellen entnehmen, die mit dem Marmorbild im Garten nichts zu tun haben: Bildsäulen sind für Brentano Ausdruck eines Ich, das in der fortstrebendsten Leidenschaft ewig ruht, ohne Ruhe zu sein.13 Als diesen Kontrast zwischen der Lebendigkeit des vergehenden Augenblicks und der Unbeweglichkeit und Kälte einer abgestorbenen Zeit führt Brentano auch die Marmorbilder an.14 Im Einklang damit symbolisieren sie an anderer Stelle eine verlorene Göttlichkeit.15 Auch hier also ist die Versteinerung Ausdruck der Bedeutung, die die Statue resp. die Person, die sie darstellt, für den hat, der sich in ihr wiederfindet und zu ihr hingezogen fühlt, ohne die Bindung realisieren zu können. Kann es irgend zweifelhaft sein, daß die Marmorstatue im Park für die verwaiste Liebe und Sehnsucht im Innern des Knaben steht ? Diese Liebe hat einen inneren Bezug zum Tod, und das nicht nur, weil die Mutter tot ist; sie selbst ragt aus der Kindheit ins Leben, unerreichbar, aber als Versprechen, im Tod erreichbar zu werden. Brentano denkt sich deshalb auch die lebende Geliebte in Marmor gesetzt, um seiner Liebe erreichbar zu sein.16 Wir treffen damit auf jene innige Verbindung, die die Romantik zwischen der Liebe und dem Tod hergestellt hat.

2.3

Liebe und Tod

Es gibt eine metaphysische Vorstellung von der Liebe, die so alt ist wie das Verhältnis der Geschlechter und das Denken selbst. Wir haben sie oben kennengelernt; sie ist substanzlogisch ausgelegt. Dieser Vorstellung zufolge stellt sich die Schöp12 C. Brentano, Romanzen vom Rosenkranz, Werke 1, S. 654. 13 C. Brentano, Godwi, S. 95. 14 C. Brentano, ebd., S. 61. 15 C. Brentano, ebd., S. 96 f. 16 Vgl. C. Brentano, Brief vom 18./21. August 1799, sowie vom 10. Januar 1803: C. Brentano/S. Mereau, Briefwechsel Bd. 1, S. 4, 54.

342

Romantische Liebe

fung als Akt der Entäußerung als Akt der Liebe dar und, da in der Ursprungs­logik alles, was ist, nur solange dauert, als es erhalten wird, dauert auch die Schöpfung in der Liebe. Die Romantik versteht deshalb die Welt selbst als durch Liebe bestimmt.17 Jedwede Form menschlicher Liebe, vor allem die Liebe zwischen den Geschlechtern, stellt sich ihr als Partizipation an der göttlichen Liebe dar, die den Kosmos durchdringt; sie ist » das Unum des Universums «, der Endzweck der Weltgeschichte.18 Da der Ursprung des Lebens aber auch zugleich der Ort seiner Rückkehr ist – nichts vergeht in diesem Verständnis der Welt –, entsteht jene Einheit, die mehr als jede andere die Romantik charakterisiert: die von Liebe und Tod. Der mythische Verbund ist einmal mehr ursprungslogisch geknüpft. Woher etwas ist, dahin kehrt es auch zurück.19 Daher rührt – der mythische Kontext bestätigt es –, wenn Novalis fragt: » Wo gehn wir denn hin ? « und antwortet: » Immer nach Hause. «20 Notwendig ist diesem Verständnis zufolge die Macht der Liebe auch die Macht des Todes. Beides gilt als eines: sich in die Liebe und in den Tod versenken. Unter der Ägide dieser mythischen Logik sind Novalis’ Hymnen an die Nacht entstanden. Die Romantiker benötigen für diese Partizipation am Absoluten keine Transzendenz ins Jenseits. Sie halten an ihr auch noch fest, nachdem das Absolute in die Totalität der Materie eingeholt wurde. Auch die chemische Auflösung des Lebens in dessen molekulare Bestandteile konnte ihnen noch als unendliche Vereinigung mit der kosmischen Liebe gelten.21 Im Leben ließ sich ein Anflug dieser Rückkehr im Traum erreichen. Denn der Traum gehört zur Sphäre des Ursprungs; ich habe oben darauf hingewiesen. Sterben heißt: ins Land der Träume zurückkehren.22 Man kann sich der Macht, die die Struktur der Logik über das Denken und nicht nur über das Denken, vielmehr zugleich auch über das Empfinden hat, daran vergewissern, daß Brentano in den leidenschaftlichen Briefen an Sophie Mereau wieder und wieder erklärt, er wünsche sich, sie sei tot: » Ich habe wieder sehnlich gewünscht daß Du tod sein mögst, und ich auch. … «23

17 Vgl. Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 438, 475, passim. 18 Novalis, Schriften, 3, S. 248 (50). 19 Alle Tätigkeit, erklärt Schlegel, muß in ihren Anfang zurückkehren. Vgl. Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 431. Das ist eine Konsequenz der Logik. Die Vorstellung ist uralt; vgl. das berühmte Fragment Anaximadros’ in: H. Diels/W. Kranz, Fragmente der Vorsokratiker 12 B 1, S. 89. 20 Novalis, Heinrich von Ofterdingen, Schriften 1, S. 325. 21 Vgl. B. Weißenborn, Einleitung zu: K. v. Günderode, Die Briefe, S. 33. 22 Vgl. den Brief Karolines von Günderode an Claudine Piautatz vom April 1804, Die Briefe, S. 126. 23 C. Brentano, Brief vom 18./21. August 1799; C. Brentano/S. Mereau, Briefwechsel Bd. 1, S. 7.

Liebe im Verständnis der Romantik 343

Wenig später berichtet er von einem Tagtraum, in dem der gleiche Wunsch lebendig wird. Dabei faßt er ihr Bild wie in dem zuvor schon erörterten Zusammenhang in Marmor: » … in einem Busche stand Dein Bild von Marmor, und ich weinte, es war Dein Denkmal, Du warst Gott sei Dank tod … «24

Nur wer Liebe mit dem Ursprung des Seins in eins denkt, kann Liebe und Tod derart verbunden verstehen. Als eins mit dem Ursprung wird Liebe zur Religion. Die aber verlangt ihrerseits ihre Petrifikation in symbolischer Gestalt. So jedenfalls haben es die Romantiker gesehen.25 Es gibt einen untrüglichen Ausdruck dafür, daß die Romantiker die Liebe mit dem Ursprung des Universums identisch verstanden: das mit ihr ver­bundene Zeitbewußtsein. Es kommt am sinnfälligsten in der Gleichsetzung von Poesie und Liebe in beider ekstatischer Erfahrung zum Ausdruck. Poesie ist deshalb Ausdruck der Liebe, weil sie sich des Unendlichen vergewissert; das ist der Grund, der umgekehrt Liebe nur in der Poesie zu Wort kommen läßt.26 » Zwischen mir und dem Geliebten muß die Poesie stehen, die von mir selbst ausgeht. Wenn er mich umarmt, und ich mich in ihm umfasse, so ist die Gewalt in mir und ihm, und ich habe gedichtet. «27

Beiden, Liebe wie Poesie, ist eigen, daß sich der Mensch mit ihnen in einer anderen Zeit bewegt, einer mythischen Zeit, in der die Vergangenheit ebenso präsentisch erfahren wird wie die Zukunft. Von ihr gilt, daß sie, wie alles Geschehen, an das sie gebunden ist, dem Absoluten entstammt.28 Die ekstatische Gegenwärtigkeit in der romantischen Liebe ist dieser Logik zuzuschreiben. Sie entstammt der absoluten Lust, und die ist – wie der Ursprung – ewig, außer aller Zeit.29 Eben deshalb ist Liebe eins mit der Religion.

24 C. Brentano, ebd. Vgl. weiter den Brief vom Dezember 1801, ebd., S. 19., sowie den Brief vom 10. Januar 1803, ebd., S. 50. 25 Explizit Novalis, Schriften, 3, S. 248 (52). 26 Novalis, Heinrich von Ofterdingen, S. 287. 27 C. Brentano, Godwi, S. 99. 28 Vgl. zum mythischen Zeitverständnis G. Dux, Die Zeit in der Geschichte, S. 168 ff. 29 Novalis, Schriften, 3, S. 667.

344

2.4

Romantische Liebe

Liebe und Religion

Matt hat in dem Liebesverständnis der Romantik eine Gegenreligion gegen die alte theistische Religion des Christentums heraufgeführt gesehen: » In die Natur gefahren ist, was einst › Gott ‹ hieß, und regt sich unendlich darin, und wenn man den letzten Namen dafür sucht, kommt man immer nur auf › Liebe ‹. «

Und weiter: » Wer in so fundamentalem Sinn von › der Liebe ‹ spricht, der setzt jedesmal einen Akt der Gottesbeseitigung. Sei es der christlich-orthodoxe Vater-Gott, sei es der aufklärerisch-deistische Welt-Baumeister, er wird vom Thron geworfen in jedem Bekenntnis zur Liebe als der alles durchwaltenden Energie. Die Liebes-Ehrfurcht, die LiebesFrömmigkeit ist um so ehrfürchtiger und frömmer, je mehr sie durch ihre Hingabe verstecken kann, daß sie zugleich angreift. Nicht einfach in einer neuen Religion also besteht die letzte Einheit der klassisch-romantischen Epoche, sondern wesentlich im Oppositionscharakter dieser Religion, ihrer Beschaffenheit eben als einer Gegenreligion und in den tausend Listen, mit denen das säkulare Skandalon verborgen zu halten versucht wird. «30

Der alte Gott, so Matt, ist beseitigt in der Hingabe an eine vergöttlichte Welt – nur, ungeheurer Verrat, nicht nur auf den Kanzeln lebt der alte Gott weiter, auch die Intellektuellen verheimlichen die letzte, heiligste Wahrheit, die der Liebesreligion. Ersichtlich erfaßt Matt in dem, was er als Wechsel der Religion versteht, ein Moment jener oben erörterten Entwicklungslogik, derzufolge das Absolute zum einen im menschlichen Subjekt gelegen ist, zum anderen in das Innere des Universums eingeholt wird. Die Pointe an diesem transformatorischen Prozeß ist jedoch gerade, daß sich in der Romantik jene Logik ihrer Struktur nach behauptet, die aller Religion und aller Metaphysik seit Urzeiten zugrunde gelegen hat. Die Romantik fährt fort, die Welt von einem Absoluten her zu verstehen. Das Absolute läßt sich jedoch nicht wirklich in die Immanenz der Welt überführen. Nur der Behauptung dieser Logik ist die Einheit von Liebe und Tod zuzuschreiben. Nur deshalb können romantisch Liebende wie in aller Metaphysik zuvor einander versichern: » Wir sind ewig, weil wir uns lieben. «31 In der Einheit von Liebe und Tod

30 P. von Matt, Liebesverrat, S. 213. 31 Novalis, Heinrich von Ofterdingen, Schriften, 1, S. 288.

Liebe im Verständnis der Romantik 345

geht das Leben im Tode zurück in den Ursprung und sichert beiden Ewigkeit. » Nur im Tode wird geboren. «32

2.5

Kritik ödipaler Interpretamente

Kommen wir noch einmal auf das Verständnis der Marmorstatuen zurück. Es ist nach allem keine Frage, daß ihr Bedeutungsgehalt einen Todeswunsch einschließt, aber nicht einen, der sich gegen die Mutter und gegen die Frau richtet, sondern der untrennbar mit der Liebe zur Mutter und zur geliebten Frau verbunden ist, um sich ihrer in Ewigkeit zu versichern.33 Die psychoanalytische Umdeutung der Verbindung von Liebe und Tod, die die Romantik ganz mythisch dachte, verdirbt deren Verständnis. Das gilt auch dann, wenn man annehmen wollte, das psychoanalytische Verständnis müsse dem mythisch-metaphysischen unterlegt werden. Einmal abgesehen davon, daß sich das letztere einer jahrtausendealten Logik verdankt und sich schon deshalb nicht psychoanalytisch unterlaufen läßt, es ist auch sonst nichts dran an der psychoanalytischen Lehre von Todestrieb und ambivalentem Todeswunsch. Ich habe oben nachzuweisen gesucht, daß die Theorie, insbesondere auch der Ödipus-Komplex, das Produkt einer erkenntniskritisch überholten Argumentationsstruktur darstellt. Man kann aber nicht meinen, Prozesse, die es als Normalverlauf der Kindheit nie gegeben hat, als Schlüssel zum Verständnis der Literatur zu benutzen. Das ist das Risiko, das jeder eingeht, der fertige Schablonen übernimmt und ganze Epochen über sie zu interpretieren sucht. Bibliotheken werden zu Makulatur, wenn sich herausstellt, daß die Schablone nicht stimmt. Der ödipalen Interpretation der frühkindlichen Entwicklung hat eine Eigenheit Vorschub geleistet, die sich mit dem, was wir » bürgerliche Sozialisation « genannt haben, notwendig eingestellt hat und in der Romantik auch wahrgenommen wurde: Der Ablösungsprozeß von der Mutter gelingt häufig nicht. Ich habe bei der Kritik des ödipalen Konfliktes bereits darauf hingewiesen. Ganz gelingt die Ablösung niemandem. Das soll sie auch nicht. Auch bleibt die Trennung für viele ein Trauma, insbesondere dann, wenn die Mutter früh stirbt. Gemeinhin aber entfernt sich das eigene Leben von ihr; die Bindung nimmt die Form der Erinnerung, zuweilen der Sehnsucht an. Brentano hat diese Möglichkeit einer Entwicklung, in 32 C. Brentano, Godwi, S. 121. 33 Zur Bekräftigung verweise ich auf die Marmorstatue im Traum des Vaters im » Heinrich von Ofterdingen «. Wie immer dieser Traum zu deuten sein mag, die der Marmorstatue von M. Janz zugeschriebene Bedeutung ist in diesem Kontext ausgeschlossen. Vgl. Novalis, Heinrich von Ofterdingen, Schriften 1, S. 201.

346

Romantische Liebe

der die Ablösung nicht gelingt, an der Biographie Franzesco Firmentis dargestellt und damit hundert Jahre vor Freud eine » ödipale Konfliktsituation « aufgedeckt. Von Franzesco Firmentis Entwicklung nämlich heißt es, daß sie ganz in sich gekehrt blieb, ohne Wendung nach außen, daß er infolgedessen der » unbestimmteste und undeutlichste Mensch « wurde. Antonio Firmenti fährt in dem Bericht über das Leben seines Bruders fort: » Meine Mutter gab sich ihm ganz mit ihrem innersten Wesen aus Mitleid hin, und er verwuchs mit seinem eigenen Ursprung, aus dem er sich doch hätte entfernen und sich seinen eignen, freien Raum hätte erfüllen müssen. «34

Normale und pathologische Entwicklung liegen ersichtlich dicht beisammen. Für das Subjekt einer bürgerlichen Ontogenese bleibt die frühkindliche Emotionalität der Mutterliebe zeitlebens erhalten, und das auch dann, wenn der Knabe, denn um den geht es in den Selbstdarstellungen auch vor Freud schon, zumeist eine normale Entwicklung durchmacht, sich von der Mutter trennt oder durch äußere Umstände getrennt wird. Die Mutterliebe wird auf diese Weise zum Urbild der Liebe überhaupt. Sie wird auch als solche bewußt. Damit ist allerdings nicht auch schon entschieden, wie die Herkunft der Geschlechterliebe aus der frühen Mutterliebe zu verstehen ist. Das substanzlogische Denken der Zeit, wie wir es auch noch bei Freud gefunden haben, ist diesem Verständnis eher abträglich. Denn wenn auch die Liebe der frühen Kindheit jede künftige bestimmt, so stellt die Geschlechterliebe doch keine Regression in die Kindheit dar. Denn der, der liebt, ist ein anderer als der, der als Kind liebte und geliebt wurde. Wir sind, haben wir bei der Erörterung der Entwicklung der Subjektivität gesagt, was wir als Geschichte hinter uns gebracht haben. Man kann deshalb auch nur so lieben, wie die Erfahrung der hinter uns liegenden Liebe uns im Verlauf der weiteren Erfahrung hat werden lassen. Aber man kehrt deshalb nicht zurück.

2.6

Freie Liebe

Der romantischen Liebe wird nachgesagt, eine Liebe zu sein, die ihre Erfüllung nicht in der Ehe sucht. Das ist richtig; um jedoch zu verstehen, was mit der Wendung gegen die Ehe gemeint ist, muß man die Gründe kennen, die zu der Wendung gegen sie führen. Sie sind aufs engste den spezifisch historischen Verhältnissen verbunden, unter denen sich die romantische Liebe bildet. Das wird deutlich, wenn wir die Gründe ins Auge fassen, mit der Brentano Lady Hodefield, die Frau 34 C. Brentano, Godwi, S. 167.

Liebe im Verständnis der Romantik 347

im » Godwi «, die ihre eigene Situation am schärfsten zu reflektieren weiß, ihre Aversion gegen die Ehe begründen läßt: » Menschen «, erklärt sie, » mit voller Lebensfähigkeit, und so auch ich, stehen immer im Kampf mit dem geregelten Leben. Sie sind bloß für das Dasein, und nicht für den Staat gebildet. Schmerzhaft schlägt sie die bürgerliche Gesellschaft in das Silbenmaß der Tagesordnung, und sie kämpfen, und verderben, weil die Liebe in ihr in das Handwerk des Ehestandes gewaltsam eingezünftet ist. Häusliches Glück und gesellige Freude trägt man ihnen auf, die nur weltliches Glück und Freude des Universums erkennen. Viele, die früh schon in diesem Kerker eingefangen sind, ja die in ihm die Augen eröffnen, siechen mit ihrer größern oder geringern Anlage fort, oder brechen durch übergroßen Reiz einseitig hervor, und der Geringste muß wenigstens in einem Fieber, in einem Rausche, und oft schrecklich im Wahnsinn, der ewigen Poesie ihren Tribut bezahlen. Solche heftigen Reize sind Einsamkeit, Freundeslosigkeit und Eitelkeit. – «35

Ersichtlich ist die Aversion gegen die Ehe nur ein Sonderfall der Unfähigkeit, sich einem geregelten Leben einzuordnen. Die Freiheit von der Ehe ist mithin nichts, das der Liebe an sich zugeordnet wird. Sie muß vielmehr als Ausdruck der Grundverfassung des romantischen Subjekts verstanden werden: Das romantische Subjekt hat ganz einfach die bürgerliche Form der gesellschaftlichen Organisation nicht in seine innere Natur überführt. Es kann sie deshalb auch nicht leben. Es versteht sich überdies aus der Willkür eines Absoluten, das keiner weiteren Bestimmung fähig ist als der, sich dem Universum eingefügt zu wissen – frei und freischwebend im Chaos der Poesie. Eingespannt in die bürgerliche Form würde seiner Subjektivität Gewalt angetan. Denn, um noch einmal Schlegel zu zitieren: » Bindung ist die ärgste Vernichtung, die es für geistige Wesen gibt. «36

Es scheint, als sei damit alles gesagt, was über die romantische Liebe und die Bestimmung ihres Verhältnisses zur Ehe zu sagen ist. Das Gegenteil ist richtig. Man würde die romantische Liebe gründlich verkennen, wenn man den Begründungen der Romantiker aufs Wort glaubte und jede Bindungsfähigkeit in Abrede stellte. Entscheidend für die Bindungsunfähigkeit ist, daß die romantische Liebe jenseits der bürgerlichen Welt angesiedelt ist. Wir haben diesen Zug schon erörtert, müssen ihn aber noch ein Stück weiter verfolgen. In dem Bericht über Julius’ Lehrjahre der Männlichkeit in Schlegels » Lucinde « wird die Gemeinsamkeit der Liebenden und damit die Bedingung der Möglich35 C. Brentano, Godwi, S. 100. 36 Fr. Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie, KA XII, S. 439.

348

Romantische Liebe

keit dafür, daß endlich nach so vielen Näherungen die Liebe möglich wird, damit begründet, daß auch Lucinde nicht in der gemeinen Welt lebe. Das ist das Romantische der Liebe: » Lucinde hatte einen entschiednen Hang zum Romantischen, er (Julius) fühlte sich betroffen über die neue Ähnlichkeit und er entdeckte immer mehrere. Auch sie war von denen, die nicht in der gemeinen Welt leben, sondern in einer eignen selbstgedachten und selbstgebildeten. Nur was sie von Herzen liebte und ehrte, war in der Tat wirklich für sie, alles andre nichts; und sie wußte, was Wert hat. Auch sie hatte mit kühner Entschlossenheit alle Rücksichten und alle Bande zerrissen und lebte völlig frei und unabhängig. «37

Ganz ebenso läßt Brentano Godwi von Otilie sagen: » Sie kennet keine Welt … «38

Und in den Briefen beschwört er seine spätere Frau: » Ich bitte dich, trenne dich immer mehr von der großen Welt … «39

Das ist ganz pragmatisch gemeint, aber doch zugleich die nicht minder pragmatische Voraussetzung dafür, in einer anderen, in der Geisteswelt der Poesie, zu leben. Wenn, wie wir wissen, für das romantische Subjekt Welt bereits im Bildungsprozeß verlorengegangen ist, so wird diese Situation des Subjekts in der Liebe bewußt umgesetzt; sie führt in eine andere Welt. » Die Welt «, schreibt Godwi an Römer, als er ihm den Zustand seiner Liebe mitteilt, » ist von mir gesprungen … ich fühle, daß ich in einer andern Welt bin. «40 Die andere Welt ist eine Welt ebenso der Liebe wie der Poesie. Die aber nehmen den Weg nach innen und suchen der Totalität der Welt als einer Totalität des Geistes dadurch teilhaftig zu werden, daß sie im Schweben zwischen allen Weltbezügen dessen Substantialität zu erfassen streben. Das Subjekt befindet sich deshalb in der Wendung nach innen in einer intermediären Lage zwischen dem Außen und Innen. Als jenes, das den Weg antritt, ist es hier, als jenes, das sich in der Substantialität des Geistes weiß, ist es dort; es ist hier und dort, noch hier und schon dort. Medium ist, was seit je Medium war: die Ekstase. Wenn deshalb der 37 38 39 40

Fr. Schlegel, Lucinde, KA V, S. 53. C. Brentano, Godwi, S. 124. C. Brentano, Brief vom 7. Oktober 1803; C. Brentano/S. Mereau, Briefe, Bd. 2, S. 7. C. Brentano, Godwi, S. 115 f.

Liebe im Verständnis der Romantik 349

Weg nach innen in der Natur seinen Ausgang nimmt, um Natur und Poesie eins werden zu lassen, dann ist die Liebe in der Ekstase der Sexualität die konkreteste Art der Poesie, um in dieser anderen Welt zu sein. » Und was ist das Herz der Natur anders als die Minute, wo sich die Arme umschlingen und alle Trennung ein Einziges wird, und was ist die Umarmung der Liebe anders als der geistigste und körperlichste Gedanke des Lebens, wo alles nur die Kraft wird, zu bilden, ohne zu reflektieren, das Objektivste ohne Bewußtsein, das Kunstwerk der Genialität ? «41

Lady Hodefield kann deshalb ohne zu erröten mit Bezug auf Poesie erklären, daß ihr » das einzige Talent des Bildens in der Geschlechtsliebe liege «. » Zwischen mir und dem Geliebten muß die Poesie stehen, die von mir selbst ausgeht. Wenn er mich umarmt, und ich mich in ihm umfasse, so ist die Gestalt in mir und ihm, und ich habe gedichtet. «42

Wir haben die Dauer der Beziehung zwischen den Geschlechtern nicht an die bürgerliche Form der Ehe gebunden, vielmehr schlicht eine Konsequenz des Umstandes sein lassen, daß Liebe, solange sie dauert, Dauer will. Liebende suchen sich zu binden. In diesem Sinne kennen auch Romantiker die Ehe. Als Bindung der Geister, die alle Stufen der Menschheit durchschreitet, von der ausgelassensten Sinnlichkeit bis zur geistigsten Geistigkeit, versteht Friedrich Schlegel die Ehe und läßt sie deshalb die Form sein, in die die Liebe, die den anderen findet, von dem alles abhängt, sich umsetzt.43 Schlegels Lob der Ehe wird gemeinhin als Ausnahme im Chor der Romantik verstanden. Das ist sie nicht. An dem Willen zur Dauer und der Bindung fehlt es nirgends. Auch Brentano hat in den unendlichen Versicherungen, Sophie Mereau zu lieben, erklärt, das einzige, was er suche, sei die Ehe.44 Es wäre abwegig zu meinen, in dem Wunsch nach der Ehe spreche das empirische Subjekt, in dem nach der Liebe das ästhetische. Denn abgesehen davon, daß es ohnehin nicht angeht, das empirische Subjekt und das ästhetische beziehungslos nebeneinanderstellen zu wollen, statt sie zu unterscheiden und nach ihrer beider Bedeutung füreinander zu fragen, hat Brentano auf beider Verbindung eigens insistiert. Im Brief vom November 1801 versichert er Sophie Mereau, daß ihm die 41 42 43 44

C. Brentano, Godwi, S. 93. C. Brentano, Godwi, S. 99 f. Fr. Schlegel, Lucinde, KA V, S. 11. C. Brentano, Brief vom 12. Oktober 1803; C. Brentano/S. Mereau, Briefe, Bd. 2, S. 20; vgl. auch Brief vom 20. Oktober 1803, ebd., S. 43, sowie vom 27. Oktober 1803, ebd., S. 66.

350

Romantische Liebe

» menschlichen, natürlichen « Bezüge in der Verbindung die » rein poetischen « seien.45 Das Fehlen der Dauer, der Mangel der Bindung also ist es nicht, was die romantische Liebe von deren bürgerlicher Form in der Ehe abhebt. Es ist die Art der Bindung an den anderen: Sie ist eine Bindung ohne Welt.

2.7

Jungfrau und Dirne

Jede Liebe enthält ihrer Natur nach das grenzenlose Ganze des Universums in sich.46 In ihr ist die Schöpferkraft des Universums versammelt; sie macht das Treibende der Wollust aus. Als Schöpferkraft ist Liebe die Kraft des kosmischen Ursprungs;47 eben deshalb ist jede ihrer Äußerungen eine Feier der Religion. » Wir umarmten uns «, läßt Schlegel Julius erklären, » mit ebenso viel Ausgelassenheit wie Religion. «48 Die Identität von Liebe und Ursprung zieht andere Identifikationen nach sich. Denn die mythische Grundstruktur läßt Gleiches dem gleichen Ursprung verbunden sein.49 Wir haben schon gesehen, daß die Ursprünglichkeit des Universums mit der Ursprünglichkeit der Kindheit identisch erachtet wird; der Ursprünglichkeit der kosmischen Liebe gehört auch die Jungfräulichkeit an. Ursprünglichkeit und Jungfräulichkeit sind eins. Mit der Ursprünglichkeit der kosmischen Liebe wird überdies deren Grenzenlosigkeit verbunden gedacht. Die Grenzenlosigkeit der Liebe aber findet sich verkörpert in der Dirne. Die Konsequenz drängt sich auf: Nicht nur kann die Liebe der Dirne als die reine Liebe des Ursprungs erscheinen, da der Ursprung zugleich der Jungfräulichkeit verbunden ist, wird die Liebe der Dirne über die Rückbindung an den Ursprung zur reinen jungfräulichen Liebe. Jungfrau und Dirne, in dieser mythischen Verbindung sieht der Romantiker das Wesen der Liebe erfaßt.50 Durch beider Bindung an die Ursprünglichkeit werden sie identisch. Es wäre deshalb zu kurz gegriffen, wenn man meinte, die Verbindung von Jungfrau und Dirne sei Ausdruck bürgerlicher Weiblichkeitsvorstellungen, die die Liebe auf zwei Rollen: die der Frau und Mutter einerseits und der Prostituierten andererseits, verteile. Auch wenn nicht zweifelhaft ist, daß die 45 C. Brentano/S. Mereau, Briefe, Bd. 1, S. 17. 46 Vgl. Novalis, Schriften, 2, S. 485 (4). 47 C. Brentano, Godwi, S. 242. 48 Fr. Schlegel, Lucinde, KA V, S. 8; im gleichen Sinn Novalis, Schriften 2, S. 395 (56). 49 Vgl. G. Dux, Die Logik der Weltbilder, S. 133. 50 Mythisch nenne ich die Verbindung deshalb, weil im mythischen Denken Begriffsanalo­gien, wie wir sie im Verständnis der Liebe finden, allemal als identifikatorische Bestimmungen aufgefaßt werden. Das ist eine Konsequenz der Ursprungslogik. Vgl. G. Dux, Die Zeit in der Geschichte, S. 153 f.

Liebe im Verständnis der Romantik 351

Hochschätzung der Jungfräulichkeit und das Verlangen, eine Jungfrau in die Ehe zu führen, sozial-strukturelle Gründe hat, die ihr Pendant in der Institutionalisierung der Prostitution finden, sind die Vorstellungen, die in der Ideenwelt daran haften, nicht einfach das Spiegelbild der sozial-strukturellen Organisation.51 Das Denken kennt eigene Strukturen, die eine ihm eigene Darstellung – und Verklärung – der realiter vorgefundenen Verhältnisse ermöglichen. Für das romantische Verständnis der Liebe kann nicht zweifelhaft sein, daß ihre Rückbindung an den Ursprung des Universums die Jungfräulichkeit des Mädchens und die Entgrenzung der Liebe in der Dirne zusammenführt und für die Romantiker zum Faszinosum werden läßt. In der romantischen Phantasie bleibt die Verbindung zwischen Jungfrau und Dirne rein, wie sie im Gedanken angelegt ist. Brentano hat ihrer Verkörperung in dem marmornen Bild Violettas ein Denkmal gesetzt. Wenn irgend zweifelhaft sein konnte, was die Marmorstatuen bedeuten: nämlich Gegenwärtigkeit der Liebe in der Nicht-Gegenwärtigkeit, Verkörperung dessen, was in der Welt nicht zu leben ist, weil es diese Welt (nach innen) übersteigt, » winkendes Denkmal in das Leben gestellt «52, dann wird das Denkmal Violettas diese Zweifel beseitigen. – Violetta ist ein der frühen Liebe verschriebenes Mädchen, das Godwi auf einer seiner Reisen getroffen, jedoch verlassen hat, um, wie er später sagt, sich selbst zu retten und das, als er es wiederfindet, zur Prostituierten geworden ist. Jetzt endlich, Violetta ist dem Wahnsinn nahe, verbindet er sich ihr; sie stirbt jedoch einen Tag nach der Hochzeit. Was an der Liebe wegen ihrer ins Unendliche verweisenden Ursprünglichkeit immer mitgedacht werden muß: die Verbindung zum Tod, wird in die Erstarrung eines Denkmals gefaßt, dessen Inneres gleichwohl Leben meint. Brentano hat die Identität von Liebe, Leben und Tod in einer Weise gestaltet, die für mein Empfinden die gelungenste Schöpfung des Romans darstellt: in einer frühmorgendlichen Begegnung Marias, des Erzählers, mit dem Standbild Violettas im Park.53 Die Szene ist sorgfältig gestaltet. Maria steigt aus dem Fenster in den Garten und setzt sich auf den Sockel der Statue, ohne sie selbst anzusehen. Er sinniert über das Unglück Violettas, indem er die freie Liebe der armen Mädchen der kalten Liebe der Ehe entgegensetzt. Dabei zeigt sich, wie sich die Entgrenzung der Welt in die der Liebe übersetzt. Die aufgehende Sonne wird als Liebe des verlorenen Mädchens verstanden; sie hat sich in sie geflüchtet, so wie das Gute sich in die Poesie flüchtet. In dieser Entgrenzung des Inneren in die Kraft des Universums 51 Vgl. dazu G. Dux, Die Spur der Macht, S. 349 ff. – Auch die Besessenheit der Männer früherer Zeiten, eine Jungfrau in die Ehe zu führen, gründete in mythischen Vorstellungen. 52 C. Brentano, Godwi, S. 93. 53 Vgl. zum folgenden C. Brentano, Godwi, S. 292 – ​297.

352

Romantische Liebe

geht es nicht um die bürgerliche Welt mit ihrer patriarchalen Familie, um die geht es allenfalls auch; es geht um ein neuzeitliches Verständnis des Selbst, das sich der Bindung an die vorfindliche Welt entsetzt sieht und in seiner Freiheit trotz der Fixierung auf die traditionale Logik zu Wort bringt. Noch bevor der Betrachter die Statue selbst sprechen läßt, verdeutlicht er die Situation, in der er sich befindet: Er artikuliert die widersprüchliche Situation, in einer Welt zu leben, die für das Subjekt unverbindlich geworden ist, die aber gleichwohl Gewalt über es hat. Dabei wird deutlich, daß die prinzipalisierte Moral wie die prinzipalisierte Religion einer vergangenen Stufe der Weltgeschichte angehörten. Mit solchen Gedanken stimmt der Betrachter auf das Erlebnis der Statue ein, das anders gar nicht zu verstehen wäre. Das Erlebnis, das Maria widerfährt, als er sich endlich der Statue selbst zuwendet, lese ich als Bestätigung meines Verständnisses, in den Marmorstatuen die Grenzlage des Liebens zum Ausdruck gebracht zu sehen. Denn die Statue beginnt, lebendig zu werden. Sie tritt, wie die Liebe, aus der Begrenzung heraus, indem sie erkannt werden will und erkannt wird – erkennen in jenem biblischen Sinn, demzufolge der Weg zum anderen über die Vereinigung mit dessen Körper führt. Man muß die Bewegung des Bildes selbst sprechen lassen, um zu sehen, wie verkehrt es wäre zu sagen: das Standbild scheine zu leben zu beginnen. Denn damit würde mit ihr, was es verkörpert, die Liebe, zum Phantom. Letztere tritt aus der steinernen Verkörperung heraus ins Leben: » Als es vor mir stand, wie aus der Finsternis erstiegen, wie erblühet, gestaltet und frei, drang es heftig auf mich ein, und forderte von mir, was es war; es begehrte mit Gewalt, daß ich es erkenne, und ich fühlte mit Freude in meiner Brust, daß ich es erkannte, und daß es und ich in der Dunkelheit sein Begehren war, und daß sein Erlangen mit dem Lichte kam, in mir und in ihm. «

Es folgt eine ungemein erotische Beschreibung der Statue, die hier in der Breite ihres Ausdrucks nicht wiedergegeben werden soll. Der Betrachter vergleicht, was beim Betrachten in ihm vorgeht, mit dem Erlebnis, das jemandem widerfährt, der in der Dämmerung in einer Laube auf eine Frau trifft, die, hingestreckt aufs weiche Moos, mit dünnem Gewand, das ihren Körper freigibt, der Lust ergeben schläft, und der er sich im Rausche eigener Lust nähert. In einer Kaskade der Sprache gewinnt die Lust Ausdruck, deren Apotheose nicht beschrieben, sondern selbst zu Wort kommen soll: » … und wenn das geschürzte Gewand das würdevolle Haupt schon längst bedeckt, den Busen du befreien willst, um hinzugehen in aller Freiheit in die Lust, wenn dann die schöne holde Brust – mit einer offenen Wunde blut’gen Lippen zu dir spricht, was

Liebe im Verständnis der Romantik 353

dir des Hauptes Würde, und nicht des Schoßes heimliches Vertrauen sagte, wenn alle deine Lust in diese Wunde wie in ihr Grab dann sinkt, und hülfesuchend das Gewand du von dem ganzen schönen Leibe niederziehst, und von der schmerzenvollen Wunde aufwärts blickst, hin nach dem Haupte, Gebet zu holen, und nieder über des süßen Leibes Zaubereien, mit dem Traume der irdischen Wonne deinen Schmerz zu lindern, wie in der Erinnerung des schönen Lebens die Trauer um den Tod sich mildert, und wenn du ewig zu der Wunde wieder hin mußt, bis endlich alles das in ihr zusammenrinnt, und Lust und Schmerz und Hoheit aus der Wunde blühen – so hast du voll des Bildes Eindruck … «

Ersichtlich wird das ekstatische Erleben bestimmt von der Wunde, von der es zuvor bei der Beschreibung der Statue geheißen hatte, daß sie dem Ganzen des Bildes Einheit gebe, der Schwan sich an sie schmiege und so den Schmerz des Anblicks lindere. Die Frage drängt sich auf: Was ist die Wunde ? Sie läßt sich kaum prosaisch beantworten: Zu viele Bezüge schießen zusammen. Man kann beginnen mit der Wunde der unerfüllten Liebe, von der Brentano bei seinem jahrelangen Werben um Sophie Mereau spricht.54 In einem früheren Zusammenhang heißt es dann jedoch im » Godwi « ganz allgemein, daß Lieben Geben sei, um eine Wunde auszufüllen. Daran angeschlossen ist das Verlangen, durch den Genuß des Lebens eine so tiefe Spur zurückzulassen, als die Lücke sei, die es im Grabe auszufüllen gelte.55 In jeder dieser Bestimmungen ist Liebe eine Wunde im Leben, die in ihm nicht zu heilen ist. Weshalb ! Weil sie eine im Leben unstillbare Sehnsucht nach der Ursprünglichkeit des Lebens darstellt. Diese Wunde bemächtigt sich der Lust, ist stärker als sie, läßt sie ihr Grab in ihr finden. In ihrer beider Erleben liegt zugleich Erfüllung und Trauer. Eben weil Liebe der ekstatischen Ursprünglichkeit verbunden ist, findet die Lust nur im Tode ihre Erfüllung. Die wilde Sprache ist die Sprache einer Poesie, die mitgerissen ist von dem, was sie verbindet. Der Grund dessen, was da verbunden wird, läßt sich nicht im Trauma einer nicht ausgekosteten Symbiose mit der Mutter56 und der durch es bewirkten Regression sowie einer im bürgerlichen Patriarchalismus unterdrückten Weiblichkeit sehen. Auch liegt der Liebe nicht eine Verwechslung von Leben und Tod zugrunde, die in letzter Konsequenz eine narkotisierende Todeslust hervorruft.57 In dieser Wunde hat eine Verlorenheit Ausdruck gefunden, auf die eine Liebe antwortet, die sich deshalb in ihrem stärksten Ausdruck an das Grab verwiesen sieht, weil sie ihren Urgrund in der Ursprünglichkeit von Leben und Tod 54 C. Brentano, Brief vom Februar 1803; C. Brentano/S. Mereau, Briefwechsel, Bd. 1, S. 65. 55 C. Brentano, Godwi, S. 58. 56 So M. Janz, Marmorbilder, S. 69. 57 So ebenfalls M. Janz, Marmorbilder, S. 49.

354

Romantische Liebe

hat. Die religiöse Dimension ist nicht zu übersehen. Die Wunde und welterlösende Liebe Christi ist vielleicht nicht mitgedacht, aber sicher mitgemeint. Deutlich wird die religiöse Dimension in der scheinbar unvermittelt eingeführten Absicht, » Gebet zu holen «. Die religiöse Dimension übersteigt die bürgerlich-patriarchale Bedrückung der Weiblichkeit; nicht in der Aussperrung des weiblichen Eros liegt der Grund der Passion.58 Diese Passion geht durch alle Erdenschwere hindurch; sie will » hinter die bürgerliche Welt und ihre Gewässer. « Von dem Standbild des Mädchens, Violettas, das in der ekstatischen Beschreibung ins Leben versetzt wird, heißt es, daß sich in dessen Mitte Wollust und Liebe löse und darin die Wunde erschließe. Wenn die Wunde die Passion Christi mitklingen läßt, so damit zugleich die religiöse Dimension der Liebe. Diese Dimension führt nicht in die Transzendenz, sie nimmt nicht Zuflucht zum Leiden Gottes, sie führt deshalb auch nicht über die Wunde hinaus. Die Apotheose der Liebe läßt alle Welt zurück, ohne aus ihr herauszuführen. Sie führt ewig in die Wunde wieder hinein. Ihr Betrachter endet die Beschreibung, indem er sich wendet, ins Haus zu den Seinen zurückkehrt und das Erlebnis im Gefühl behält. Welt ging verloren, Liebe ward geboren.

3

Bedeutsamkeit und Krise der romantischen Liebe

3.1

Identität und Welt

Liebe, haben wir gesagt, bildet sich unter anthropologischen Bedürfnissen, die aber erst unter der je historischen Konstellation der Gesellschaft ihre konkrete Form und Bedeutsamkeit findet. In aller Geschichte ließen sich jene Be­dürfnisse, aus denen Liebe erwächst, auch befriedigen. Die Lebensgemeinschaft der Geschlechter stellte eine Zone der Privatheit her, die es dem Subjekt ermöglichte, die konstitutionelle Selbstbezogenheit des Körpers und die kommunikative Lebensform des Geistes miteinander zu vereinen. Die Vermittlung war immer prekär, da der Körper prinzipiell nicht vermittelbar ist, gleichwohl ließen sich beide: die naturale und die kommunikative Seite des Daseins aneinanderbinden. Ebenso ließ sich in der Lebensgemeinschaft der Geschlechter Identität bestärken. Der Ausbildung der Identität kam zu Hilfe, daß Welt eine vergleichsweise stabile Ordnung war. Die Grenzlage einer kommunikativ bestätigten Individualität ließ sich in dieser Welt realisieren, weil das Subjekt sich schon in der frühen Ontogenese seiner inneren Natur nach auf sie festgelegt und verpflichtet hatte. Problemlos und ohne Spannung war das Verhältnis von Subjekt und Welt zu keiner Zeit. Identität bildet sich zu allen Zeiten aus der Aneignung von Welt und 58 So M. Janz, ebd., S. 94.

Bedeutsamkeit und Krise der romantischen Liebe 355

der Selbstbehauptung in ihr. Beide, Aneignung von Welt wie Selbstbehauptung, begründen eine Individualität, die eine Bestätigung durch den anderen sucht. Die gemeinen Lasten des Lebens lassen das Verlangen entstehen, Beistand durch den anderen zu finden. Not aller Art, Krankheit insbesondere, schließlich das Leben hin zum Tode müssen bewältigt werden und lassen sich doch immer nur schlecht bewältigen. Durch die Geschichte hin ist dokumentiert, daß der andere dadurch, daß er sein Leben an das des anderen koppelte, ihn darin bestärkte, dieses Leben in den Grenzen seiner Möglichkeiten auch führen zu können. Liebe, darum ist es mir zu tun, war so nötig wie möglich; und es gab sie. Gemessen an den Vorgaben der Vergangenheit sind die Bedingungen, unter denen Liebe in der Romantik möglich werden soll, denkbar ungünstig. In der Krise, in die das Subjekt geraten ist, sind die Bedingungen, unter denen sich Liebe vormals realisierte oder realisieren konnte, hinfällig geworden. Dadurch ist das Lieben selbst in eine Krise geraten. Die Situation, in der sich die romantische Liebe befindet, läßt sich prägnant bestimmen: Das Bedürfnis nach Liebe ist so lebendig wie je zuvor; ihre Bedeutung ist eher noch gestiegen. Denn wenn vordem die Bedürfnisse, die in der Liebe eine Befriedigung suchten, eine Abstützung an der Welt fanden, findet sich jetzt ihre Befriedigung jeden Anhalts an ihr beraubt. Wenn Liebe einst Vermittlung zur Welt bedeutete, so steht sie jetzt selbst unvermittelt da. Die Erwartung an sie wächst dadurch ins Unermeßliche. Das Problem liegt nach allem in der Vermittlung von Subjekt und Welt durch den geliebten anderen. Die Bedürftigkeit des Subjekts, seine Lebensführung kommunikativ bestimmt und seine Individualität kommunikativ bestätigt zu sehen und darin der Welt einzubinden, ist kaum realisierbar. Denn jedwede Form der Individualität läßt sich auch als Grenzwert der Kommunikation wegen der differentiellen Natur der Geistigkeit nur in einer kommunikativ deutbaren und gedeuteten Welt finden und bestätigen. In der Neuzeit wird aber jede Deutung unsicher und gerät in den Verdacht der Irrealität. Überdies muß man sich bewußt bleiben, daß es nicht um die plane Einbindung in die Welt geht. Die wird in der Sozialwelt der Neuzeit stärker als je zuvor. Worum es geht, ist, mit der Einbindung zu einem bedeutungsvollen Leben zu gelangen. Das Individuum will sich der Bedeutsamkeit seines eigenen, höchst praktischen Daseins durch den anderen versichern. Dazu aber fehlen alle Voraussetzungen, seit es eine bedeutsame, sinnvermittelnde Welt nicht mehr gibt. Vordem galt es, sich in einer sinnhaften und sinnvollen Welt unterzubringen und dazu den anderen zu benötigen; fortan soll der andere die Welt allererst sinnvoll werden lassen. Vordem waren Natur und Geist in einer Welt interpretativ zu vermitteln, in der beide über dieselben Strukturen schon vermittelt waren; jetzt soll, da beide sich als unvermittelbar darstellen, Liebe diese Vermittlung ermöglichen. Wenn schließlich in aller Vergangenheit die Zone der Privatheit komplementär zur Öffentlichkeit war, dann trägt fortan die Zone des

356

Romantische Liebe

Privaten allein die Last, das eigentlich sinnvolle Leben zu sein. Romantische Liebe läßt sich nach allem kaum dadurch kennzeichnen, daß man auf die Herzens­ gemeinschaft verweist, die Liebende verbindet, das Gefühl, das sie füreinander hegen, die Stimmung, in der sie miteinander verkehren. Das alles sind nur Momente, die sich erst aus der Grundkonstellation der Zeit ergeben. Ich habe sie oben näher erörtert: Dem Subjekt ist eine bedeutungsvolle Welt verloren gegangen und mit ihr seine Identität abhanden gekommen. Liebe aber bildet sich immer noch aus Bedürfnissen, die nicht preisgebbare Ansprüche an die Lebensführung stellen. Sie soll deshalb die Voraussetzungen mitschaffen, an denen sie einst selbst gehangen hat. Sie soll mit einem Wort ebenso Welt schaffen wie Identität in ihr bewirken. Bei Friedrich Schlegel ist diese Funktionalisierung auf eine unüberbietbare Formel gebracht, jene, die ich oben als Motto der Untersuchung vorweggestellt habe. Von den Liebenden heißt es dort: » Sie waren einer dem andern das Universum. «59

In der Tat ist es das, was Liebende einer dem anderen seither immer wieder zugemutet haben. Wieder und wieder erwarten sie und sichern sie sich zu, einander die Welt oder knapper noch: » alles « zu sein.60 Aus dieser Situation heraus entstehen jene Beschwörungen, wie wir sie in den Briefen der Romantik finden, Briefe, in denen nahezu nichts steht als: nicht ohne den anderen leben zu können, wenn Leben irgend Sinn und Glück zum Inhalt haben solle. Wir müssen annehmen, daß sich die Grundkonstellation, aus der die romantische Liebe hervorgeht, bis heute nicht wesentlich geändert, vielmehr noch eine Zuspitzung erfahren hat. Denn die Bedingungen, die in der Romantik nur für die kleine Gruppe intellektueller Subjekte galten, haben sich verallgemeinert und verstärkt; auch ist die Einsicht in die Bedingungen des Daseins in unserer Zeit allgemeiner und deutlicher geworden. Wäre es anders, wären Briefe wie die von Antonin Artaud an Génica Athanasiou schwerlich denkbar. Auch in ihnen heißt es: » Du bist der Mittelpunkt, Anfang und Ende meines Lebens. Mir scheint, ich bin nicht in mir selbst. «61 Die romantische Liebe ist die ausschließliche Liebe, die, in der sich jeder an nichts sonst als an den anderen halten will, um seinem Leben Sinn zu geben. Das ist eine verzweifelte Situation in der Welt. Unübersehbar ist die romantische Liebe an die Krise des Subjekts infolge des Verlusts der Welt gebunden; nur gerät sie dabei selbst in die Krise. 59 Fr. Schlegel, Lucinde, KA V, S. 67. 60 C. Brentano, Brief vom 8. Oktober 1803; C. Brentano/S. Mereau, Briefe, Bd. 2, S. 12, ebenso S. 812. 61 A. Artaud, Brief an Genica vom 13. Mai 1923, Briefe, S. 37.

Bedeutsamkeit und Krise der romantischen Liebe 357

3.2

Krise der romantischen Liebe

3.2.1 Krise der Reorganisation der Intimität In aller Vergangenheit erfolgt die Reorganisation der Intimität durch ein Subjekt, das sich von der Herkunftsfamilie nicht nur abgekoppelt hat, um Autonomie zu gewinnen, das vielmehr diese Autonomie tatsächlich dadurch gewonnen hat, daß es sich alle Fähigkeiten angeeignet hat, die notwendig sind, um in der Welt zu leben. Mit den Fähigkeiten hat es sich Welt verschafft. Das gilt prinzipiell für beide Geschlechter; es gilt jedoch für den Mann in besonderer Weise; er rüstet sich früh schon für Berufsrollen in der Außenwelt zu und entwickelt das, was man einen Charakter nennt. In dieser Phase der Autonomisierung der Lebensführung erfolgt die Reorganisation der Intimität. Sie stellt, das zu zeigen habe ich oben große Mühe walten lassen, gerade nicht die Regression auf eine frühere Stufe der ontogenetischen Entwicklung dar. Sie ist Reorganisation auf einem veränderten Entwicklungsniveau unter veränderten Anforderungen des Lebens. Das romantische Subjekt hat sich nicht in dieser Weise gebildet, es hat sich deshalb auch nicht in dieser Weise gelöst. Da es sich keiner Welt als innerer Natur verpflichtet hat, hat es auch keine Identität ausgebildet, die sich an einer Welt zu fixieren vermöchte. Die Reorganisation der Intimität gerät deshalb in eine Situation, in der es vollkommen unbestimmt ist, welches Subjekt es denn ist, das die Intimität zu reorganisieren versucht, und in welchen Lebensformen sich die Reorganisation vollziehen soll. Der Reorganisation wird deshalb die Aufgabe zugeschrieben, allererst die Bedingungen zu schaffen, um Leben in eine lebbare Form zu fassen. Brentano hat erklärt, das Schicksal der unbedeutenderen Menschen sei die Ordnung, und, so müssen wir ergänzen, das Schicksal der bedeutenderen das Chaos.62 Es lebt sich schlecht im Chaos; das romantische Chaos verwandelt sich nämlich unter der Hand in das schiere Unvermögen, den Tag zu gestalten, um Sinnvolles zu tun. Darauf aber ist der Mensch angewiesen; er muß etwas gestalten. Bren­ tano erklärt denn auch wenige Tage später, nichts sehnlicher zu wollen, als zumindest die praktische Dimension dieser Unordnung zu verlassen. Wodurch ? Durch nichts anderes als durch die Verbindung mit der Geliebten: » Mein fester Wille, ja das Einzige, worauf ich mich einzulaßen gedencke, ist die Ehe, ist die Ordnung, denn ich empfinde, daß alle Trägheit, meine Fehler, meine Un­ruhe, Unzufriedenheit ihren Ursprung aus der Unordnung herzuleiten haben, ich habe bis jezt, mit meinen Gedanken, Worten, Werken, meinem Besizz, meinen Freunden, ja mit meiner Liebe selbst in einer gewißen Unordnung gelebt, die ganz darauf hinauslief, 62 C. Brentano, Brief vom 7. Oktober 1803: C. Brentano/S. Mereau, Briefe, Bd. 2, S. 1.

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Romantische Liebe

mich in allen meinen Verhältnißen selbst in denen zur Kunst zum Verderben zu bringen. In dem ich mich mit Dir verbinde, übernehme ich eine freudige heilige Pflicht, ich will mit Dir Verbunden auf alle Weise zur Ordnung streben, ja in Dir selbst die Ruhe und Reinheit wieder mit allem ihren segensvollen Einfluß auf das Leben hervorführen. «63

Er läßt sich sogar hinreißen zu erklären, daß aus der mit soviel Kunstsinn drapierten Unordnung die Mutlosigkeit zum Leben und der Unwille zum Leben entstehe. Die Reorganisation der Intimität, darauf kommt es mir im gegenwärtigen Zusammenhang an, ist auch für die Romantik von überragender Bedeutung, eher bedeutender noch als zuvor. Denn die Ablösung wird nicht länger un­termauert durch den Prozeß, in dem Welt erworben und der Kindheit ein Ende bereitet wird. Allein, die Reorganisation soll nicht wie in aller Vergangenheit Intimität als Zone in einer anderweitig schon gegründeten Verfassung des Lebens ausbilden, die Zone, in der sie gelebt wird, abheben gegen ein in anderweitigen Lebensformen geführtes Leben, sie soll vielmehr ein Leben allererst lebbar machen. Ist das möglich ? Der andere hat nie mehr vermocht, als sich in der Intimität gemeinsamen Lebens dem Lebenspartner dadurch bedingungslos zu verschreiben, daß er das Akzept auf dessen individuelles Dasein in der Welt gab, allenfalls noch, daß er das feindliche Andere dieser Welt von ihm abzuhalten suchte. Daß die Reorganisation der Intimität vermöchte, mit ihr Welt zu organisieren, sei es auch nur, die Welt des täglichen Lebens in der Zone der Privatheit, ist eine Illusion. Welt baut sich nur an Welt auf. Wo sie nicht ist, sich kommunikativ auch nicht herstellen läßt, bleibt auch die Liebe im Chaos; man mag dann sehen, wie man gemeinsam mit letzterem fertig wird. Die Hoffnung, sie möchte Ersatz bieten für das, was anderwärts nicht zu haben ist, ist nur geeignet, ihre eigene Krise heraufzubeschwören. 3.2.2 Die Sinnkrise Die Sinnkrise der Neuzeit wird, wie wir gesehen haben, aus zwei Quellen gespeist: Zum einen läßt sich Sinn nicht länger an der vorfindlichen Wirklichkeit festmachen. Die Natur ist schon in der naturwissenschaftlichen Revolution jeder immanenten Sinnhaftigkeit entsetzt worden. Die Sozialwelt folgt seit der industriellen Revolution Systemimperativen, deren Tätigkeitsfelder es dem Menschen nicht erlauben, seine Bedürfnisse in einer Weise zu befriedigen, durch die zugleich der Sinnbedarf seines Tuns abgedeckt würde. Den Grund haben wir oben erörtert: 63 C. Brentano, Brief vom 12. Oktober 1803; C. Brentano/S. Mereau, Briefe, Bd. 2, S. 20 f.

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Die Arbeit wird weder in ihrem Vollzug noch in ihren Resultaten in die sinnfreie Körperzone zurückgeführt. Intellektuelle verweigern sich deshalb dieser Art von Tätigkeit64 mit der Konsequenz, daß ihr Bedürfnis, tätig zu sein, überhaupt brachzuliegen droht. Die Sinnkrise wird zum andern von der Behauptung einer metaphysischen Struktur der Weltwahrnehmung gespeist, derzufolge der Mensch etwas tun muß, das den Sinn des Lebens gewährleisten soll. Diesen Sinn gibt es nicht länger. Beide Krisenmomente werden der Liebe überbürdet mit der Absicht, Remedur zu schaffen. Der Grund für diesen Versuch ist gar nicht zu verkennen: In der Interaktion mit dem geliebten anderen wird eine Außensphäre realisiert, die in der Tat in einer Weise sinnhaft ist, daß sie in die sinnfreie Dimension des Daseins zurückführt. Liebe, um Brentano noch einmal zu zitieren, ist die schönste Sinnlosigkeit von der Welt.65 Das Verhältnis der Geschlechter hat immer schon dieses in die Sinnfreiheit des Lebens zurückkehrende Sinnmoment in gesteigerter Form verwirklicht. Es muß deshalb in dem Moment eine überragende Bedeutung gewinnen, in dem die anderen Organisationsformen des Daseins, Arbeit insbesondere, von der Sinn­ ressource Leben abgekoppelt werden. Wie sehr es in der Romantik um diese Dimension zu tun ist, wird an einer Episode in Kleists Leben deutlich. Als Kleist nach der bei ihm durch Kant aus­gelösten Krise des Glaubens, Wissenschaft könne (absolute) Wahrheit vermitteln, von der Flucht nach Paris zurückkehrt und vor der Aufgabe steht, ein irgend sinnvolles Leben zu beginnen, beschließt er, sich in der Schweiz als Bauer anzusiedeln. Es bedarf keiner Begründung, weshalb ihm diese Tätigkeit als die einzig sinnvolle erscheint. Im gegenwärtigen Zusammenhang wichtig ist, daß es der letzte Versuch war, seine Liebe zu Wilhelmine von Zenge, wenn es denn eine Liebe war, überhaupt in ein lebbares Dasein zu integrieren. Kleist will in ein handelndes Leben zurück, das zugleich ein sinnerfülltes Leben ist. Das aber vermag er nur in einer der Vergangenheit angehörenden Lebenspraxis zu sehen.66 Der Brief vom 27. Oktober 1801 an Wilhelmine von Zenge enthält das Ultimatum, in dieses Leben einzuwilli­ gen oder die Beziehung als gescheitert anzusehen. Weshalb ? Weil nur in einem Leben, dessen sinnhafte Tätigkeit sich aus der fraglosen Bedeutsamkeit des Lebens speist, die Einheit mit der Liebe hergestellt werden kann. Die von Kleist ge­radezu beschworene Formel von » Haus, Liebe, Arbeit « meint diese in sich zurückkehrende Sinnhaftigkeit. Der Versuch mißlingt; Wilhelmine von Zenge lehnt ab. 64 Vgl. den Brief H. v. Kleists an Wilhelmine von Zenge vom 13. Oktober 1800, Werke und Briefe, Bd. 2, S. 584 ff. 65 C. Brentano, Brief vom 11. Oktober 1803; C. Brentano/S. Mereau, Briefe, Bd. 2, S. 19. 66 Vgl. H.  v. Kleist, Brief vom 27. Oktober 1801 an Wilhelmine von Zenge, Werke und Briefe Bd. 2, S. 691 ff.

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Romantische Liebe

Kleists Versuch, gegen die Zeit die Einheit der Lebenspraxis mit der Liebe herzustellen, macht deutlich, weshalb die romantische Liebe unter der Krise des Subjekts selbst in die Krise geraten muß: Die Interaktion in der Lebensgemeinschaft mit dem anderen kann soviel Sinn nicht beibringen, wie erwartet wird, um ein Leben in seiner tagtäglichen Praxis sinnvoll werden zu lassen oder gar durch sie den Sinn des Lebens realisiert zu sehen. Wenn in dieser Beziehung Sinn wirklich in die sinnfreie Zone des Körpers zurückgeführt wird, dann doch nur wie in einer Enklave inmitten einer Welt, die diese Möglichkeit gerade nicht mehr bereithält. Solange deshalb das Sinnverlangen unter der Anforderung einer metaphysischen Logik verbleibt, die den Sinn des Lebens zu realisieren verlangt und in der Liebe die metaphysische Überhöhung zu praktizieren gedenkt, muß mit dem Mißlingen des Überstiegs schließlich auch die Liebe scheitern. Die neuzeitliche Liebe, diese Feststellung können wir wagen, hat nur eine Chance, wenn sie mit dem Akzept verbunden wird, daß an der Welt Sinnbestimmungen des Daseins nicht zu finden sind – an der Natur nicht, weil sie jeder Sinnhaftigkeit entsetzt ist, und an der Sozialwelt nicht, weil deren Organisation, obwohl sinnhaft in ihren Elementen, abgekoppelt ist von der Bedürftigkeit der Ressource Leben. 3.2.3 Natur: Geist; Sexualität: Kommunikation Liebe, das war die umfassendste Bestimmung, die wir ihr gegeben haben, die, die auch noch die Reorganisation der Intimität einschließt, Liebe ist die Vermittlung der naturhaften Körperlichkeit mit der kommunikativen Geistigkeit, in der das Leben geführt werden muß. Die Bedeutung der Sexualität haben wir in der Rolle gesehen, die sie in dieser Vermittlung spielt. Wir haben die Schwierigkeit in der Vermittlung zur Welt bereits erörtert. Das Subjekt der Romantik befindet sich in einer widersprüchlichen Situation: Es ist in der Struktur des Denkens einer Logik verpflichtet, die den Umbruch des Weltverständnisses in der Neuzeit in seinen Konsequenzen für das Verständnis des Subjekts inhibiert; es hält daran fest, sich von einem Absoluten zu verstehen und einem Sinnkosmos einfügen zu müssen, weil es meint, anders nicht sinnvoll leben zu können. In der Tat: Solange man die Welt von einem Absoluten her begreift, stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Und solange man nach dem Sinn des Lebens fragt, muß man einen sinnhaften Kosmos herbeischaffen, denn nur von ihm könnte dem Leben Sinn zukommen. Daß es diesen Kosmos nicht mehr gibt, vermag das Subjekt der Romantik unter der Fixierung des Denkens auf die absolutistische Logik nicht wahrzunehmen. Daß sich gleichwohl mit ihm nicht mehr leben läßt, ist nichtsdestotrotz eine Erfahrung der Zeit. Daraus erhellt, wie der oben schon angeführte Satz: » Sie waren einer dem andern das Universum «, zu verstehen ist. Das Subjekt der

Bedeutsamkeit und Krise der romantischen Liebe 361

Romantik ist entschlossen, sich im anderen, und das heißt in der sinnhaften Kom­ munikation mit ihm, der Sinnhaftigkeit der Welt zu versichern. Jene Menschen, in denen die Liebe wohnt, läßt Brentano Lady Hodefield erklären, erblicken wie reine Wesen » den Spiegel, in dem sie sich spiegeln und tragen aus der Welt mit ihrem eigenen Bilde die Welt in sich zurück. «67 Das ist ein phantastisches Spiel der Reflexivität. Der Liebende blickt in die Welt wie in einen Spiegel. Als was er sich (!) sieht, stammt aus dem, wie er sich in der Welt sieht. Als was er die Welt (!) sieht, stammt aus dem, wie er sich sieht. In dieser Weise reflektiert, nimmt er die Welt wahr. Lady Hodefield treibt die Reflexion über das Reflektierte weiter: Was jene Liebende aus der Welt aufnehmen, ist wie die Bündelung der Schöpferkraft in jedem Subjekt, ein Geschehen, das seine Ähnlichkeit in der Geschlechtsliebe findet. In der Metaphorik des Spiegels ist die Erkenntnisbewegung der Neuzeit festgehalten: Das Subjekt vermag sich überhaupt nur zu begreifen, wenn es sich aus der Welt begreift, in die es eingebunden ist; was Welt ist, vermag es jedoch nur aus sich heraus zu bestimmen. Man könnte, die Metaphorik aufbrechend, daran anknüpfen und fragen: Als was erblicken sich diese Menschen denn ? Diese Frage wäre nicht zu beantworten, ohne die andere vorzuziehen und zu fragen, als was denn die Welt sich darstellt, wenn sie zurückgetragen wird. Wenn wir dann noch Welt so verstünden, wie sie sich in den drei Jahrhunderten der Neuzeit entwickelt hat: Natur als jenes selbstreferentielle System, Sozialwelt als jene autonome Welt der Zwecke, dann wären wir sicher auf dem Wege zu einer neuzeitlichen Erkenntnistheorie, aber einer, die die Romantik bereits hinter sich gelassen hätte. Die Spiegelmetaphorik hätten wir jedoch gründlich verfehlt. Denn die besagt gerade das Gegenteil: Sie will, daß in dem Wechselspiel die Welt sich durch den Menschen nicht darstellt, wie sie ist, sondern wie er ist, kurz, daß er sie vergeistige. Woran das Subjekt leidet, worüber es in eine Krise geraten ist, das soll in jenen kindlich reinen Menschen, die mit den Blicken der Liebe die Welt betrachten, wiedergewonnen werden. Wenig später fährt Lady Hodefield denn auch fort: » Ich traure, wenn ich in das Morgenrot sehe, in das Abendrot, in den heißen treibenden Tag, in die tiefe volle Nacht. Denn es ist, als träten sie vor, sie anflehend: › o, gib uns eine Seele und ein Leben, das wir deinesgleichen seien ‹ … «68

Was also zeigt der Spiegel ? Den Menschen als Messias der Natur. Der unterliegende Widerspruch ist eklatant: Wer postuliert, im anderen und durch den anderen hindurch die Sinnerfülltheit des Universums zu erfahren, hält in der Metaphorik die Situation der Zeit und mit ihr die Unwahrheit des Gewoll67 C. Brentano, Godwi, S. 97. 68 C. Brentano, Godwi, S. 99.

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Romantische Liebe

ten fest. Denn damit ist ja zugleich die Negativfolie der realen Welt, von der sich die romantische abhebt, mitgenannt: Ohne daß sich der andere vor die Welt stellte, wäre das Universum nicht, wonach man verlangt; es wäre nicht beseelt und nicht bedeutungsvoll, vielmehr eine leere, jeder Geistigkeit entsetzte Welt. Diese Welt begründet die Krise des romantischen Subjekts. Es nimmt sie auf, indem es der Liebe auflädt, sie zu bewältigen. Einmal mehr ist festzustellen, daß Liebe dabei selbst in die Krise geraten muß. Wäre das Universum, was es einmal war und als was es sich immer noch erweisen soll: vom Geist durchsetzt, den Menschen in seiner Geistigkeit umschließend und bewahrend, jedes Leben wäre für sich von dieser Seligkeit bestimmt und würde im anderen nur finden, was es selbst schon hätte, nur eben in sublimierter Form auf seine Individualität hin gebündelt. Im anderen eine Welt finden zu wollen, die ohne ihn fehlt, ist eine Illusion. Denn der andere steht als alter ego nicht anders da als ego selbst. Wenn Liebe zwischen ihnen ist, dann ist sie wie alle kommunikative Geistigkeit in der neuzeitlichen Welt eine Enklave in einer verlorenen und das heißt geistentsetzten Welt. Der Grundwiderspruch der Romantik liegt, das haben unsere Erörterungen gezeigt, darin, durch die absolutistische Logik genötigt worden zu sein, die Welt gegen das manifeste Wissen und die manifeste Erfahrung alltäglichen Lebens erneut vergeistigt zu haben. Das war unvermeidlich, gewiß; der Widerspruch gehört zum Transformationsprozeß der Geistesgeschichte. Als Widerspruch mitgeführt wurde er darin, daß auch die Alltagswelt jeder Bedeutsamkeit entsetzt war und einzig im poetischen Überstieg über sie Sinn und Bedeutung für das menschliche Dasein gefunden werden sollte. In der Kehre des Blicks von der Höhenlage philosophischer Spekulation und poetischer Illusionierung gesteht sich die Romantik die Entgeistigung der vorfindlichen Welt ein. Gegen sie vermag auch die Liebe keine Remedur zu schaffen. In die Krise führt die Erwartung, im anderen und vermittelt durch ihn solle sich für beide ein in sich selbst geistiges Universum neu bilden. Denn damit wird der Kommunikation unter Liebenden angesonnen, was sie nicht zu leisten vermag. Die Enttäuschung schlägt auf die Liebe zurück. Sie ist nicht, was sie sein sollte. Und sie wird nicht, was sie sein könnte. 3.2.4 Kritik der Traumwelt Die Romantiker wissen, daß in der planen vorfindlichen Welt der Sinn des Lebens nicht zu finden ist, dessen sie doch zum Leben zu bedürfen meinen. Eben deshalb suchen sie in der Phantasie und Poesie den Überstieg über diese Welt zu gewinnen. Und wenn es heißt: Sie waren einer dem andern das Universum, so soll auch diese Welt erst in der Poesie geschaffen werden. Nur – wessen Welt ist sie ? Sie ist die Welt des Liebenden, der sie entstehen läßt, sei es nun ego oder alter. Aber da-

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mit ist sie nicht auch schon die Welt des anderen. Denn diese Welt der Phantasie entsteht schon in einer nur begrenzt kommunikablen Rede. Da auch das Verständnis des anderen selbst an die Welt gebunden ist, die eigens für ihn geschaffen wird, führt aus dieser Traumwelt kein Weg zu ihm. Auch der andere vermag sich in ihr nicht wiederzufinden. Diese Liebe ist notwendig eine einsame Liebe, strikt das, als was sie entstanden ist: als ein Phantasma. Kommen wir ein letztes Mal auf die Frage des empirischen und des ästhetischen Subjekts und damit zugleich der empirischen und der ästhetischen Liebe zurück. Es kann gar nicht zweifelhaft sein, daß die phantastische Welt und die phantastische Liebe eine die Empirie hinter sich lassende ästhetische Welt eines ästhetischen Subjekts und einer ästhetischen Liebe sind. Eine Verwechslung zwischen beiden ist ausgeschlossen. Allein, es kann ebensowenig zweifelhaft sein, daß über diese ästhetische Welt die Bedeutung dessen bestimmt werden soll, was sich in der tagtäglichen Empirie zwischen den Liebenden vollzieht.69 Gerade die Briefe stellen die Verbindung zwischen den Ebenen her. Was sonst sollten denn alle Beschwörungen, die Liebe leben zu wollen, aus denen doch die Briefe bestehen ! Brentano hat an der Verbindung dieser beiden Ebenen denn auch keinen Zweifel gelassen. Wenn das Leben in der Alltäglichkeit Anlaß gibt, an ihm zu leiden, mutlos bis zur Verzweiflung zu werden, so soll die gesuchte Vereinigung mit der Geliebten dagegen deshalb Remedur bieten, weil in der Liebe der Überstieg in die ästhetische Welt gesehen wird. Worauf es deshalb ankommt, ist, gerade die Verbindung zwischen der empirischen und der ästhetischen Subjektivität und Liebe zu sehen. In einem Brief Brentanos vom 18. März 1803 heißt es: » … ich bin ein sehr natürlicher Mensch, und rede von natürlichen Dingen, und wünsche zu besizzen, was ich mich zu befriedigen, zu beglücken getraue. «70

Die Verbindung und der stetige Wechsel zwischen den beiden Ebenen lassen aber auch die Problematik und schließlich die Krise der Liebe deutlich werden: Was ist denn von einer Traumwelt, die gerade keinen Anhalt an der empirischen Welt findet, für die letztere zu erwarten ? Wie soll denn die Bedeutung überhaupt in sie eingespielt werden ? Liebende bedürfen einer gemeinsamen Welt; soll sie eine geheimere, schönere Welt sein, wie Hölderlin sie dachte, muß sie hier sein, eingerichtet als eine Enklave inmitten der anderen, gemeineren, nicht eine im Traum. Die romantische Liebe, daran also kann kein Zweifel sein, liegt hinter uns.

69 Vgl. für viele C. Brentano, Brief vom 8. Oktober 1803; C. Brentano/S. Mereau, Briefe, Bd. 2, S. 9. 70 C. Brentano/S. Mereau, Briefwechsel, Bd. 1, S. 73.

Zum Schluß

1  Unsere Zeit hat uns die Welt anders verstehen lassen, als sie in aller Vergan-

genheit verstanden wurde. Sie hat uns deshalb auch die Aufgabe gestellt, das Verständnis des Menschen in seinen Lebensformen neu zu bestimmen. Dazu gehört auch das Verhältnis der Geschlechter. Wir haben seine Entstehung an den Prozeß der Enkulturation, also an die Ausbildung geistiger als sozio-kultureller Lebensformen, gebunden. Diesen Prozeß haben wir gattungsgeschichtlich verstanden: als Anschluß an eine jeder Geistigkeit entsetzte Naturgeschichte, in der gleichwohl die Bedingungen heraufgeführt wurden, um eine Geistigkeit der Lebensformen des Menschen entstehen zu lassen. Wir haben mithin das Verhältnis der Geschlechter von allem Anfang an in einer Weise zu bestimmen gesucht, die zu denken der Romantik noch ganz unmöglich war; sie ist in unserer eigenen Zeit zwar denkbar geworden, allein, das allgemeine Verständnis hält Abstand aus Furcht, wir könnten verlieren, was wir ohnehin nicht mehr besitzen: das Zutrauen in eine dem Universum eigene Geistigkeit. Das gattungsgeschichtliche Verständnis der menschlichen Lebensformen und mit ihnen des Geschlechterverhältnisses läßt uns auch deren Geschichtlichkeit anders verstehen, als sie in aller Vergangenheit verstanden wurde. Wir verstehen die Geschichte als einen konstruktiven Prozeß, in dem der Mensch mit der Organisationskompetenz über die Natur zugleich seine gesellschaftlichen Organisa­ tionsformen weiterentwickelt hat. In der Fortsetzung und Steigerung des konstruktiven Prozesses bildet sich eine Entwicklungslogik in der Geschichte, die zugleich die Entwicklungslogik des Subjekts bestimmt. Die Annahme, das Subjekt entwickle sich in der Geschichte derart, daß diese Entwicklung einer eigenen Logik folge, ist unserer Zeit fremd. Mehr noch: Unsere Zeit entwickelt eine außerordentliche Widerständigkeit gegen sie. Das ist verständlich, aber irreal. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3_19

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Zum Schluß

Was Logik der historischen Entwicklung mit Blick auf das Subjekt meint, zeigt sich auf die einfachste Weise, wenn man dem Entwicklungsprozeß des Subjekts systematisch nachgeht. Wir wissen: Zu allen Zeiten, selbst in den frühesten Anfängen, hat sich die Organisationsform der Subjektivität in der frühen Ontogenese eines jeden Gattungsmitgliedes gebildet. Dieser Bildungsprozeß ist ein Interaktionsprozeß mit der Außenwelt, in dem mit dem Aufbau der letzteren das Subjekt in ein reflexives Verhältnis ebenso zu ihr wie zu sich selbst gerät. In der Geschichte wird dieser Prozeß fortgeführt. Je weiter der Mensch eine Organisationskompetenz entwickelt, durch die er die Außenwelt in seine Verfügungsgewalt bringt, desto mehr gerät das Subjekt in ein reflexives Verhältnis zu ihr und sich selbst. Exakt das ist es, was die Logik in der Geschichte des menschlichen Subjekts ausmacht. Die Feststellung, daß sich in der Geschichte die Reflexivität des Subjekts steigert, impliziert, daß der Mensch ein Bewußtsein gewinnt, sein Dasein in kulturellen Lebensformen zu führen. Es gehört zur historischen Selbsterfahrung unserer Zeit, zu verfolgen, wie der Mensch mit jedem neuen Organisationsniveau der Gesellschaft seine Lebensformen zunehmend mehr thematisch werden läßt und sich ihrer in ihrer Bedeutsamkeit für sein Leben zu vergewissern sucht. Das gilt in hervorragendem Maße für die Bedeutsamkeit des Geschlechterverhältnisses und also der Liebe. Wir können den Vorgang ein erstes Mal nach der Ausbildung der frühen Hochkulturen beobachten. Es ist einer der eindrücklichsten Augenblicke der Geschichte, als der Mensch beginnt, seine kulturellen Organisationsformen gegen die Natur abzuheben. In der Neuzeit erreicht der Prozeß insofern eine nicht mehr überbietbare Höhenlage, als der Mensch der Konstruktivität seiner Lebensformen und der inneren Logik ihrer Entwicklung in der Geschichte inne wird. 2  Das historisch rekonstruktive Verständnis der Neuzeit bestimmt auch das Ver-

ständnis des Geschlechterverhältnisses, wie es sich insbesondere in der Romantik entwickelt hat. Wir haben den Kerngehalt des Geschlechterverhältnisses darin gesehen, daß der Mensch unter den Anforderungen einer autonomer gewordenen Lebensführung in der Adoleszenz die Intimität im Verein mit der Sexualität reorganisiert und auf diese Weise eine Lebensform ausbildet, in der die Sinnfreiheit des Körpers mit der kommunikativen Sinnhaftigkeit der Lebensführung vermittelt ist. Nicht zuletzt sucht das Subjekt in der Bindung an den anderen dessen Anerkennung und damit zugleich für seine individuelle Natur die Anbindung an die Welt. Das Geschlechterverhältnis folgt deshalb strukturnotwendig der Entwicklung der Subjektivität in der Geschichte nach. Es ist an die Entwicklung des Verhältnisses von Subjekt und Welt gebunden. Die letztere nimmt in der Romantik einen dramatischen Verlauf: Dem Subjekt geht die Welt verloren. Was Weltverlust des Subjekts heißt, zeigt sich als erstes, wenn man dessen Bildungsprozeß in der frühen Ontogenese ins Auge faßt; andere Bedeutungsgehalte schließen sich an.

Zum Schluß 367

Der Bildungsprozeß des Subjekts zeichnet sich unter den Bedingungen einer bürgerlichen Sozialisation dadurch aus, daß das nachwachsende Gattungsmitglied seinem Organismus keine derjenigen Lebensformen als innere Natur einbildet, in denen es dermaleinst sein Leben führen wird. Das Subjekt wird in seiner Kindheit zwar auf Emotionen festgelegt, an Attitüden des Verhaltens gebunden und auf Haltungen in der Welt als Befindlichkeiten seiner selbst verpflichtet, nicht jedoch auf die Aneignung einer Welt. Es kann deshalb hinkünftig in jeder Welt leben oder in keiner. Diese Form des Weltverlustes wird in höchst folgenreicher Weise durch den Umbruch im Weltbild verstärkt und untermauert. Eine theoretische und eine praktische Dimension lassen sich unterscheiden. Die theoretische Dimension des Weltverlustes im Umbruch des Weltbildes der Neuzeit wird bestimmt durch das Bewußtsein der Konvergenz der Welt auf den Menschen. Es ist das Resultat bereits der naturwissenschaftlichen Revolution und wird durch jede der folgenden Revolutionen, der industriellen und der politischen, noch verstärkt. Da das Subjekt als Autor der Konstrukte gilt, in denen die Welt sich darstellt, es selbst aber absolutistisch verstanden wird, ist schlechterdings nicht ersichtlich, in welchem Sinne es selbst durch eine außerhalb seiner vorfindliche Wirklichkeit bestimmt wird, auch nicht, daß die Konstrukte seiner Welt irgendeine Sachhaltigkeit aufweisen. Nicht nur die ontologische, auch die ontische Dimension der Materialität geht dieser Welt verloren. Es ist diese Dimen­sion des Weltverlustes, die in der kritischen Philosophie, in der Philosophie Fichtes insbesondere, Urstände feiert. Die praktische Dimension – genauer: die theoretisch-praktische Dimension – zeigt sich, wenn man die Struktur der Konstrukte, in denen sich nach dem Umbruch des Weltbildes Welt darstellt, ins Auge faßt. Bis zur Neuzeit wurden die tätige Daseinsform des Menschen und die ihm zugehörige Welt strukturkonform verstanden. Beide waren sinnhaft organisiert. Diese Strukturkonformität ist durch den Umbruch im Weltbild in der Folge der neuzeitlichen Revolutionen hinfällig geworden. Das gilt zum einen für das Verständnis der Natur. Die naturwissenschaftliche Revolution hat das Universum jeder Geistigkeit nach Art der ins menschliche Handeln eingebundenen Geistigkeit entsetzt und damit zugleich auch von jeder Form von Sinnhaftigkeit entbunden. Sie hat damit auch das Leben als solches der Geistigkeit und Sinnhaftigkeit verlustig gehen lassen. Sinn ist ein Organisationsmodus des menschlichen Daseins, sonst nichts. Es gilt zum anderen für die Sozialwelt, wenn auch in anderer Weise. Zwar ist die Sozialwelt über in sich sinnhafte Interaktionen aufgebaut, als Gesamtorganisation wird sie jedoch zu einem Gefüge nach machinalem Muster. So wird sie in der Romantik verstanden. 3  Das Subjekt gerät durch den Weltverlust in eine Sinnkrise. Sie besteht dar-

in, daß es für die Sinnbestimmung seiner Lebensführung an der vorfindlichen

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Zum Schluß

Welt länger keinen Anhalt findet. Das ist für eine Orientierung der Sinnbestimmung des Handelns an der Natur offenkundig. Es gilt aber in ungleich gravierenderer Weise für den Verlust der Möglichkeit, Sinn an der Sozialwelt festzumachen. In der bürgerlichen Gesellschaft gerät das Subjekt unter Lebensbedingungen, die es ihm verwehren, seine Tätigkeiten in die sinnfreie Zone des Körpers zurückzuführen. Arbeit wird zu einem Tun, dessen Sinn nicht länger als dem Körper zugehörige Daseinsform erlebt wird. Auch wenn sie die Lebenspraxis stabilisiert, läuft das Dasein in der Arbeit leer, sie vermag ihm Sinn nicht zu vermitteln. Die Zweck­ bestimmung zum Gelderwerb kann den Leerlauf nicht beheben. Hier und jetzt ist das, was getan wird, nicht das, worin das Leben selbst Genüge findet. Der Verlust der Welt ist Grund genug, um das Subjekt in eine schwer zu bewältigende Lage seiner Lebensführung zu bringen. Seine Zuspitzung zur Krise erfährt der Verlust der Welt jedoch dadurch, daß das Subjekt der Romantik darauf insistiert, den Sinn des Lebens kennen und nach ihm leben zu wollen. Es denkt weiter in der Struktur der absolutistischen Logik. Eine Geschichte lang hat die absolutistische Logik das Denken der Menschheit bestimmt und für Mythos und Metaphysik die Struktur bereitgestellt, um die Welt zur Einheit zusammenzufassen. Mit der naturwissenschaftlichen Revolution ist diese Logik zwar aus dem Naturverständnis eliminiert worden, aber nicht deshalb auch schon aus der Philosophie. Die Geistesgeschichte kennt unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten. Auf der abstraktiven Ebene der Philosophie behauptet sich die absolutistische Logik auch weiterhin. Auch die Romantik sieht sich genötigt, von einem absoluten Ich des Universums das absolute endliche Ich umfaßt zu sehen. Sie verläßt damit die erkenntnistheoretische Reserviertheit der kritischen Philosophie, ohne die Konvergenz der Welt auf das absolute Ich preiszugeben. Da der Überstieg in eine vormalige Transzendenz unmöglich geworden ist, nachdem die Dynamik des Universums sich als zuständlich erwiesen hat, sucht das romantische Denken das Absolute ins Innere des Universums zu legen. Das Absolute der Romantik ist das subjektivisch gedachte Agens, dessen Sein in der Dynamik der unendlichen Relationalität gelegen ist. Es liegt in der Konsequenz, erneut von einem Absoluten im Universum her zu denken, das Universum auch erneut zu vergeistigen. Das läßt den Widerspruch der romantischen Philosophie zu der von der Neuzeit heraufgeführten Welt und mit ihr die Sinnkrise nur noch schärfer hervortreten. Denn das Universum ist zuallererst die Natur. Aus ihr aber ist jede Sinnhaftigkeit eliminiert. Auch an der vorfindlichen Sozialwelt ist realiter keine Sinnbestimmung des Daseins zu gewinnen. Für die Lebensführung läuft deshalb die Philosophie der Romantik leer. Damit erfährt die Sinnkrise ihre Dramatik. Das Schisma der Logiken, der hergebrachten absolutistischen und der neuzeitlich funktional-relationalen, läßt das Subjekt in den Hiatus zwischen planer Sinnlosigkeit und absolutem Sinnverlangen stürzen.

Zum Schluß 369

4  Die romantische Liebe wird gemeinhin durch die ekstatische Gefühlsbe-

stimmtheit, die Vereinigung der Liebenden im Gemüt, den Bund der Herzen bestimmt. Das ist sie alles auch. Die nach innen verlagerte Gefühlsbestimmtheit meint jedoch viel mehr und anderes als bloße Sentimentalität. In der Innerlichkeit wird die Identität der Subjektivität des empirischen Ich mit dem » Großen Ich « des Universums manifest. Daß das Universum im Innern der Seele gelegen sei, diese romantische Vorstellung beruht auf mythischen Konnexen, durch die das empirische Subjekt mit dem Absoluten des Universums verbunden gedacht wird. Wie in aller absolutistischen Logik wird das Absolute des Ursprungs geistig verstanden. Die Geistigkeit aber liegt im Innern der Subjektivität, nicht im Äußern der Materialität. Das romantische Subjekt kann deshalb meinen, getrost auf die Materialität der Welt Verzicht zu tun; es hat sie ohnehin verloren. Daß das romantische Subjekt am Absoluten des Ursprungs partizipiert, heißt auch, daß es an der ursprünglichen Schöpferkraft der Liebe partizipiert. Denn Liebe ist in aller mythischen und metaphysischen Logik mit der Schöpferkraft des Absoluten identisch. Sie ist die Schöpferkraft per se. Wo sie ist, ist Schöpfung in sich versammelt. Es ist dieses metaphysische Verständnis der Liebe, das sich umsetzt in ein Verständnis der Liebe im Verhältnis der Geschlechter, demzufolge in ihr der Ausweg aus der Sinnkrise des Daseins gefunden werden soll. Liebe hat immer schon bewirkt, ego durch alter in seiner inneren Natur die Anbindung an die Welt finden zu lassen. Das geschah in aller Vergangenheit unter Bedingungen eines Ich, das von sich aus bereits einer Welt verbunden war, die als Teil des Universums verstanden wurde. In der romantischen Liebe wird von alter erwartet, diese Welt für ego allererst entstehen zu lassen. Einer soll dem anderen das Universum sein. Die Pointe daran ist, daß das Universum im anderen als das entstehen soll, als was es die Romantik zu bestimmen gesucht hat: als sinnstiftender Kosmos. Es ist gar nicht zu übersehen: Die Versicherung der Liebenden, einer dem anderen das Universum und damit alles zu sein, ist als Ersatz für den Wegfall einer bedeutungsvollen Welt zu lesen. Sie ist damit in eins der Versuch der Selbst­ behauptung unter der Dauer einer absolutistischen Logik, die den Überstieg über die vorfindliche Welt verlangt, um dem Menschen zusprechen zu können, wonach er verlangt: den Sinn des Lebens. Diese Form der Liebe ist deshalb ihre Krise, weil nicht ersichtlich ist, daß ein Universum länger noch als sinnstiftender Kosmos in irgendeiner Weise entstehen könnte. Auch die Poesie bringt ihn nicht bei; und was sie beibringt, ist ohne Bedeutung, um der Bedürftigkeit in der vorfindlichen Welt zu begegnen. Es ist ebensowenig ersichtlich, daß der andere das Universum, wenn es denn für die Bedeutsamkeit des Daseins notwendig wäre, ersetzen könnte. Nach dem Verlust der Welt kann Liebe immer nur die Versicherung eines bedeutungsvollen Lebens bewirken, das eines in sich sinnhaften Universums ermangelt, seiner auch nicht bedarf.

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Zum Schluß

5  Wir sind über die Romantik hinaus, können es jedenfalls sein. Auch die ro-

mantische Liebe ist nicht länger die Liebe unserer Tage. Die Feststellung gewinnt ihre Bedeutung erst unter dem Eindruck des Wissens, daß sich die neuzeitliche Konstellation des Weltverlustes in dem zuvor erörterten Sinne erhalten hat. Das gilt zunächst für die ontogenetische Entwicklung des Subjekts. War es in der Romantik nur die kleine Gruppe der bürgerlichen Intellektuellen, die aufwuchsen, ohne eine Welt ihrer inneren Natur eingebildet zu haben, so ist diese Entwicklung heute in den industriellen Gesellschaften allgemein. Jede Welt ist nur noch ein unverbindliches Konstrukt. Es gilt darüber hinaus für den Weltverlust infolge des Umbruchs im Weltbild. Auch heute noch bestimmt das erkenntnistheoretische Unvermögen, der Konstruktivität der Welt eine wenigstens ontische Sachhaltigkeit zu sichern, das Bewußtsein. Diese Dimension will mir überwindbar erscheinen, nicht jedoch die theoretisch-praktische. Der Verlust einer Welt, die der Sinnhaftigkeit der Lebensführung Maßstäbe setzen könnte, ist definitiv geworden. Das allgemeine Bewußtsein beginnt sich darein zu schicken, daß das Universum in sich einer Sinnhaftigkeit ermangelt, die dem menschlichen Tun strukturkonform wäre. Das ist der Befund. Die Feststellung läßt uns nicht übersehen, daß auch noch das Subjekt der Gegenwart auf der Deutungsebene in Philosophie und Religion weiterhin der absolutistischen Logik verhaftet bleibt, daß es transzendente Bezüge herzustellen sucht, daß Weltentwürfe vorliegen, die der Natur eine Geistigkeit unterlegen, und daß das Bedürfnis nach sinnstiftenden Weltbezügen sich in einer Vielzahl von weltanschaulichen Bewegungen Ausdruck verschafft. Sie läßt auch nicht übersehen, daß die offizielle Kultur diesen Deutungsmustern das Machtpotential organisierter Staatlichkeit zur Verfügung stellt. Das alles ist nicht zweifelhaft; und es hat Folgen, die auch heute nicht oder nur schwer zu bewältigen sind. Damit sind wir hier nicht befaßt. Worauf es im gegenwärtigen Zusammenhang ankommt, ist, gewahr zu werden, daß in der Lebenspraxis die Anerkennung einer in sich selbst genügsamen, keines Agens bedürftigen Welt längst erfolgt ist. Die Praxis tagtäglichen Daseins wird in einer nachmetaphysischen Welt gelebt. Für das, was in ihr realiter getan wird, werden metaphysische Deutungsmuster nicht länger in Anspruch genommen. Erst in der weltanschaulichen Beschwörung, etwa in der Politik, tauchen die traditionalen Deutungsmuster wieder auf, leere Interpretationshülsen in Anbetracht dessen, was tagtäglich geschieht. Wenn wir gleichwohl feststellen, wir seien über die Romantik hinaus, obwohl sich die Konstellation des Weltverlustes erhärtet hat, so gilt das lediglich in jenem zuvor dargelegten Sinne: Für das gemeine Bewußtsein ist es tagtägliche Realität, an der Welt selbst keinen Sinn zu finden, diese Realität auch nicht auf irgendein Absolutes hin übersteigen zu können. Die nachmetaphysische Erfahrung ist weit genug fortgeschritten, um sich erkenntnistheoretisch einholen zu lassen. Wir wissen um die Genese des Schismas

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der beiden Logiken, an die die Romantik gebunden ist. Mit diesem Wissen haben wir eine Position gewonnen, von der aus das Schisma und die mit ihm verbundenen Aporien der Romantik erkenntniskritisch zu bewältigen sind. Das jedoch ist längst nicht geschehen. Noch immer liegt ein Graben zwischen der Erfahrung der Realität, die selbst schon eine Erfahrung in Gedanken ist, und dem reflexiv aufgearbeiteten Verständnis der Realität, durch das einsichtig würde, wie der Mensch ihr eingebunden ist. Noch immer wird deshalb dem Menschen angesonnen, sich entscheiden zu sollen zwischen triebhafter Natürlichkeit und in sich gründender Geistigkeit. Die Frage ist, ob nicht endlich die Alternative verabschiedet werden muß. Ihre Beantwortung steht und fällt mit der Preisgabe der absolutistischen Logik. 6  Die Sinnkrise des Daseins, die durch den Weltverlust eingetreten ist, wird durch die weltanschauliche Entlastung, die sie bei einer Preisgabe der absolutistischen Logik erfährt, nicht geringer. Im Gegenteil: Sie hat eine Situation entstehen lassen, die ein helles Bewußtsein der Ohnmacht mit sich führt. Der Mensch hat in dem Sinn ein Bewußtsein seiner radikalen Autonomie gewonnen, daß er jede Sinnbestimmung an sich selbst zurückverwiesen sieht. Realiter macht deshalb nichts länger Sinn als eine Lebensführung, die in die sinnfreie Dimension der Körperlichkeit zurückführt. Auch die subtilste Geistigkeit weiß nichts anderes aufzubieten. Das heißt nicht, sie in die naturale Triebhaftigkeit rückführen und in ihr aufgehen lassen zu wollen. Ganz im Gegenteil ! Wir haben die Geistigkeit als ein Stratum verstanden, das gerade nicht der Natürlichkeit einzuverleiben ist. Der Mensch muß sich in der Verbindung der beiden Straten ausleben. Nur – er hat auch nichts anderes aufzubieten, als sich darin auszuleben. Diesem Bewußtsein der Autonomie des Sinns steht jedoch die um keine Sinnbestimmung des Daseins bekümmerte Autonomie der Sozialwelt entgegen. Sie ist es, die eine Krise der Lebensführung heraufbeschwört und mit ihr auch eine Krise im Verhältnis der Geschlechter. Wir haben der Liebe zugeschrieben, die prekäre menschliche Daseinsform zwischen einer sinnfreien Körperlichkeit und einer kommunikativen Geistigkeit der Lebensführung lebbar werden zu lassen. Sie schafft eine Sphäre der Vermittlung zwischen Körper und Geist und zwischen den Geistern. Eben deshalb ist sie unlösbar darin verstrickt, Sinn im sinnhaft geführten Dasein realisieren zu helfen. Wenn Liebe schon in aller Vergangenheit eigen war, diese Rückführung des Sinns in die sinnfreie Zone des Daseins zu vermitteln, dann gewinnt sie erst recht in einer Zeit überragende Bedeutung, in der diese Lebensführung ins helle Bewußtsein tritt und gegen die Sozialwelt realisiert werden muß. Die Geistigkeit des Daseins an die Lust des Körpers zu leben rückzubinden, ist das, was in einer radikal säkular gewordenen Welt zählt. Liebe wird dafür zum Kristallisationskern.

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Durch die Freisetzung des einzelnen von jeder verpflichtenden Welt braucht jeder die kommunikative Bestimmung des eigenen Daseins dringlicher als je zuvor. Damit wird auch die Belastung deutlich, der das Lieben ausgesetzt ist. Sie besteht zum einen darin, eine kommunikative Praxis in einer Welt einzurichten, über die kommunikativ keine verbindlichen Deutungsmuster verfügbar sind. Das Problem liegt insoweit auf der Deutungsebene. Sie besteht zum anderen darin, daß gar nicht ersichtlich ist, in welchen gemeinsamen Lebensformen in einer total gewordenen Sozialwelt sich die Autonomie des Subjekts, die ja an den Körper rückgebunden ist, verwirklichen läßt. Denn in der Totalisierung der Sozialwelt wird mit der Natur auch der Körper als Referent auf die Seite gesetzt und nur noch als Krisen­potential und Störfaktor bedeutsam. Wenn und soweit die Sozialwelt den Subjekten keine Chance läßt, sich jene Lebensformen zu schaffen, in denen die Sinnhaftigkeit des Geschehens an die Sinnfreiheit des Körpers angebunden bleibt, erstickt auch die Liebe. Eben weil Sinn in die Zone der Sinnfreiheit des Körpers rückgeführt werden muß, ist Naturverlust Sinnverlust. Jede Liebe braucht eine Welt, in der sich die Liebenden finden. Noch die äußerste Lust lebt davon, sich aus einer gemeinsamen Welt zu stehlen und sich in ihr wiederzufinden.

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Personenregister

A

C

Abercrombie, Nicholas  112 Allen, M.  204 Anderson, John  185 Aristophanes 105 Aristoteles 149 Arnim, Achim  53 Artaud, Antonin  52 f., 75, 356 Athanasiou, Génica  52, 75, 356

Chasseguet-Smirgel, Janine  176, 191 Chodorow, Nancy  47 f., 133, 192 Chomsky, Noam  36 Claudel, Paul  16, 81 Cooper, David  65 Count, Earl W.  11 Crawley, Ernest  64

B

Darwin, Charles  3, 165 Deleuze, Gilles  185 Derrida, Jacques  290, 295 Descartes, René  310 Dick, Manfred  267, 299 Dilman, Ilham  96 Durkheim, Emil  83, 112

Balint, Michael  88 Barnacle, Nora  52, 75 Bataille, Georges  62, 81 – ​84, 86, 89, 166 Benedek, Therese  132 Benjamin, Jessica  47 f., 194 Benjamin, Walter  275 Bilz, Rudolf  135 Bischof, Norbert  147, 149 Bohrer, Karl Heinz  302 f. Brawne, Fanny  73 Brentano, Clemens  53, 55, 63, 76, 87, 202, 315, 323, 327 f., 332, 337 f., 340 ff., 345 f., 348 f., 351, 353, 357, 359, 361, 363 Brown, Robert  51

D

E

Edey, Maitland  123 f. Engels, Friedrich  5 F

Fichte, Johann Gottlieb  20, 219, 236, 241 – ​260, 263 ff., 272, 274 ff., 280, 283 f., 287 f., 293, 306 f., 309, 311 ff., 321, 328, 367

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3

385

386 Personenregister

Flandrin, Jean-Louis  87 Foucault, Michel  7 f., 29, 32 Fox, Robin  147 Freud, Sigmund  3 f., 16, 34, 36, 43, 45, 48, 52, 54 f., 84, 89, 104, 137, 164 – ​197, 206, 346 G

Galenson, Eleanor  44 f., 176, 181 f. Gehlen, Arnold  235 Gough, E. Kathleen  119 Gould, Stephen Jay  13 Guattari, Félix  185 Günderode, Karoline von  227, 230, 342 H

Haering, Theodor  261 Harth, L. W. M.  117 Hassenstein, Bernhard  11 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  55, 240, 261, 276, 280, 288, 298, 309, 332 Hieronymus 87 Hildebrand-Nilshon, Martin  5 f. Hill, Kim  124 Höch, Hanna  53 Hölderlin, Friedrich  363 Husserl, Edmund  25 I

Isaac, Glynn L.  124, 127 J

Janz, Marlies  333, 339 f., 345 Johanson, Donald C.  123 ff. Joyce, James  52, 75

K

Kabo, Vladimir R.  126 Kaiser, Markus  12 Kant, Immanuel  66, 111, 241, 287, 298, 306, 309, 321, 359 Keats, John  73 Kelso, Jack  125 Kierkegaard, Sören  259 f., 272, 296, 332 Klein, Melanie  189 Kleist, Heinrich von  309, 317, 327, 359 f. König, René  122 Kramer, Samuel Noah  319 L

Laplanche, Jean  187, 189 Larsen, Roger  132 Lawick-Goodall, J. von  148 Leakey, Mary D.  116 Leakey, Richard  123 Lenk, Elisabeth  306, 326 Lévi-Strauss, Claude  3 – ​6, 10, 13, 41, 50, 137, 166, 168, 174, 193 Lippe, Rudolf zur  66 Lovejoy, C. Owen  123 f. Löwith, Karl  240 Luhmann, Niklas  20, 28 M

Mae, Michiko  226 Magritte, René  53 Mahler, Margaret S.  36, 44, 176 – ​180, 195 Malinowski, Bronislaw  95, 114, 155, 168, 196 Mallarmé, Stéphane  295 Marx, Karl  3, 5, 240 Maslow, Abraham Harold  51 f. Matt, Peter von  98, 101, 344

Personenregister 387

Matthiesen, Ulf  83 Maturana, Umberto R.  309 Mead, George H.  68, 219 Meillassoux, Claude  146 Meinefeld, Werner  11 Mellen, Sydney L. W.  125 Menninghaus, Winfried  325 Mereau, Sophie  53, 55, 76, 323, 342, 349, 353 Morgan, Lewis H.  112 Murdock, G. P.  117 f. Musil, Robert  65, 76, 87, 105, 226, 234 N

Nicolaisen, Bernd  14 Nietzsche, Friedrich  3, 32, 97 Novalis  55 f., 75 f., 226 f., 261, 264 – ​272, 275 – ​295, 299, 311, 313 ff., 322, 327, 333, 336, 338, 342 f., 345 O

Olivier, Christiane  177 Opler, Marvin K.  113 P

Parsons, Talcott  220 Pascal, Blaise  285 Piaget, Jean  14, 19, 179 Piautatz, Claudine  342 Pilling, Arnold, R.  117 Plessner, Helmuth  19, 22, 24, 66, 69, 234 Pontalis, Jean-Bertrand  187, 189 Prang, Helmut  296

R

Reik, Theodor  78 Rimbaud, Arthur  212, 295 Roiphe, Herman  44 f., 176, 181 f. Rougemont, Denis de  84 Rousseau, Jean-Jacques  314, 328 S

Sade, D. A. F.  316, 320 Sarsby, Jacqueline  95, 99 Saussure, Ferdinand de  318 Savigny, C. F. von  230 Scheler, Max  23 Schlegel, Friedrich  227, 264 ff., 268, 271 – ​279, 282 – ​285, 288, 290 ff., 294, 296, 298 f., 314, 321, 332, 342, 347, 349 f., 356 Schulz, Walter  91 Schütz, Alfred  25 Seneca 87 Sichtermann, Barbara  75 Slocum, Sally  6, 13 Spiro, Melford E.  159 Stendhal 74 Stephens, Anthony  328 Strohschneider-Kohrs, Ingrid  296 Suttie, Jan Dishart  36, 41, 54, 170 T

Talmon, Yonina  159 Thomson, George  112 Tieck, Ludwig  227, 305, 307 f., 310 f., 323, 325 ff., 329, 336 Tornow, Monica  80, 91, 93, 104

Q

V

Quiatt, Duane  125

Varela, Francisco J.  39

388 Personenregister

W

Wackenroder, Wilhelm Heinrich  227 Weber, Max  220 Weinberg, Kerson S.  159 West, Uta  99 Wilson, Peter J.  151

Winch, Peter  309, 318 Wittgenstein, Ludwig  119 Wolf, Arthur P.  158 f. Z

Zenge, Wilhelmine von  359

Sachregister

A

Abhängigkeit  42, 72 Ableitungslogik  9, 307 Ablösungsprozeß  37, 41, 46, 48 ff., 150, 152 f., 157, 192, 194 ff., 345 Absolute, das  16, 31, 240, 242, 244 ff., 248, 250 f., 259 ff., 265 f., 268 – ​278, 280, 282 – ​285, 287 – ​290, 292 f., 295 – ​298, 305 ff., 320 f., 328, 331 – ​334, 336 f., 342 ff., 368 f. absolut Absolutes  237, 264, 266, 272, 276, 280, 287, 297 als Geist  9, 271 f., 276 f., 312 als Grund  283 als Subjekt  267 f. als Substanz  276, 278 als Unendliches  289 f. des Universums  8, 246, 261, 266, 268, 272, 295, 297, 312 metaphysische 8 romantische  261, 368 schöpferische Potenz des  294 Uneinholbarkeit des  284 Aggressivität  89 f., 92 f., 169 Akkommodation  21, 26, 34 f. A-Kommunikativität des Körpers  60

Aktionensystem  22, 26, 74, 111, 123, 186, 229 anderer kompetenterer  13, 21, 37, 40 verallgemeinerter 68 Anerkennung des anderen  71, 76 Anthropologie philosophische 66 Strukturale  3, 13 Verfassung, anthropologische  9, 11 f., 19, 29, 33, 41, 64, 66 f., 85, 90, 110, 120, 137 f., 164, 169, 186, 199 f., 211, 231, 234, 322 Antriebspotential, organisches  19, 23, 43 Äquilibration und Disäquilibration  19 f., 36 f. und Intimität  38, 40 f. Arbeitsteilung, geschlechtsspezifische  125 ars erotica  88 Assimilation und Akkommodation  35 Aufklärung  77, 228, 241 f., 312, 316, 321 Aufwachphase  178, 326 Außenstellung des Mannes  194

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2019 G. Dux, Geschlecht und Gesellschaft – Warum wir lieben, Gesammelte Schriften 9, https://doi.org/10.1007/978-3-658-17375-3

389

390 Sachregister

Außenwelt  11, 19 f., 29, 34 – ​41, 46 f., 49, 59, 61, 67, 70, 74, 111, 178, 181, 194, 216 f., 223, 234, 248 – ​251, 275, 282, 317, 330, 337, 357, 366 Widerständigkeit der  20, 26, 39 Autonomie d. Menschen  7, 234 Autonomiegewinn  35, 42, 46, 50 f., 152, 155, 194 Autonomiestreben 47 B

Bedürfnislage des Subjekts  30 Befindlichkeit des Organismus  23 Beschützerrolle des Mannes  140 Besuchsgatten 119 Bewußtsein  3, 5, 21, 24 – ​27, 34, 73, 86, 98, 205 f., 236, 239 – ​243, 246 f., 249 – ​ 254, 257, 259, 261, 272, 274 ff., 278 f., 284, 288, 291 f., 295 f., 305, 309, 325, 327, 330 – ​333, 349, 366 f., 370 f. organisches 27 reflexives  31, 241 Beziehung Ausschließlichkeit der  95 außereheliche 103 monogame 123 symbiotische  34 f., 37 f., 100, 155, 179 Bezugsperson, sorgende (s. a. Mutter)  13, 37, 42, 44, 51, 156, 178 f. Bildung, bürgerliche  225 Böse, das  320 C

Chaos, romantisches  334, 357 Charakter  68, 91, 153, 226, 253, 357 D

Denken  5, 9 f., 23, 25 f., 30 ff., 80, 83 f., 102, 112, 149, 159, 168, 207, 225, 229,

237, 242 – ​245, 247 – ​250, 252, 255, 258 – ​261, 263 f., 267 f., 271 f., 275 ff., 280, 283 ff., 287, 289 f., 293 f., 296 f., 304 f., 308 – ​311, 313, 324, 332, 335, 341 f., 346, 351, 360, 368 vom Vorrang der Natur  9, 18, 28, 245, 250 vom Vorrang des Geistes  9, 255, 271, 311, 332 deus absconditus  285 Dezentrierungsprozeß 36 Dualismus, Cartesischer  248 E

Ehe  53, 56, 87, 97 f., 101, 104, 106, 346 f., 349, 351, 357 Besuchsehe 118 Gruppenehe  112, 114 konsanguine 145 romantisches Verständnis der  346 ff. Einsamkeit, konstitutionelle  111, 200 f. und Gemeinsamkeit  64 Enkulturation  3 f., 6, 12 – ​15, 17, 109 f., 121 f., 126, 128, 133, 137, 139, 164 ff., 186, 204, 215, 217, 365 gattungsgeschichtliche 5 kompetenztheoretisches Verständnis der  7 ontogenetische 193 triebtheoretisches Verständnis der  169 Entdeckung des anderen  75 f. Entgrenzung  80, 84, 86, 88, 202, 228, 351 romantische 351 Entwicklungstheorie, psychoanaly­ tische 181 Entwurfslogik, romantische  92

Sachregister 391

Erkenntnis (s. Kognition)  XX, 36, 230, 240, 249, 254, 260, 264, 275, 280, 291, 293, 302, 309 Erkenntnisprozeß  20, 281, 291, 293 Erkenntnistheorie transzendentale 241 Erotik  62, 79 – ​89, 107, 202 Ethik  230, 260, 329 Ethnien Aborigines  61, 324 Achuara-Jivaro 96 Ägypter 145 Azande 145 Dieri 115 !Kung Bushmen  160 Mundurucú 120 Nayar  96, 119, 138 f. Tiwi 117 Trobriander  95, 155 f. Urabunna 115 Yantruwunta 115 Extase  84 – ​88, 98, 107, 202, 348 f. F

Familie als korporative Einheit  115 Kernfamilie  117 f., 160 Organisation, familiale  XIX, 16 f., 107, 109 f., 116 ff., 120 ff., 126, 129, 141 f., 165 f., 200, 204 f. Protofamilien 127 Universalität der  116, 118 f. Frau Ungleichheit der  XXI Unterwerfung der  94 G

Gefühlsbestimmtheit 337 Geschichte  XXI, 3, 8 f., 15, 23, 28, 31, 33, 47, 51, 63, 68, 70, 72, 75, 77, 80,

86, 93 f., 99, 102, 107, 109 – ​114, 121, 134, 136, 140, 142, 146, 154, 165, 167, 203 f., 212 f., 216 ff., 223 f., 226, 232, 234, 239 f., 243, 245, 250, 259 f., 263, 272, 274, 292, 295, 299, 302 f., 311, 314, 354 f., 365 f., 368 als Gattungsgeschichte  240 Geschlechtsidentität  44 – ​48, 52, 140, 142, 172 f., 181 f., 184, 188, 192, 194, 206 weibliche 195 Geschlechtsrollen  50, 120 Geschwisterliebe 76 Geselligkeit, ungesellige  66, 111 Gesellschaft  XXII, 4, 7, 13 – ​17, 28, 33, 47, 61, 63, 66 – ​70, 83, 94, 99, 102, 107, 113, 115, 117, 120 ff., 128, 141, 150 f., 160, 166, 168, 175, 199, 202 f., 213, 217 ff., 225, 231 f., 257 f., 260, 303, 319 f., 328, 330, 337, 340, 354, 366 Gesellschaften agrarische  98, 101 f., 118, 141, 217, 223 archaische 98 bürgerliche  101, 328, 347, 368 feudale 98 hortikulturelle 103 industrielle  69, 94, 105, 141, 143, 161, 218, 235, 370 Kibbuz-G. 159 matrilineare  118 f. pristine  103, 216, 223 rezente Sammler-Jäger-G.  116, 122, 128 Sammler-Jäger-G.  103, 111, 116, 217 traditionale  68, 103, 143, 155, 218 ff., 222 – ​225 Gleichverteilung der Frauen  4 Glück  64, 83, 85 f., 105, 328, 347, 356

392 Sachregister

Gott das Göttliche  82, 270 H

Handeln  20, 22, 24 – ​27, 30, 35, 39, 61, 65, 70 f., 90, 114, 133, 220 ff., 230, 232 f., 239, 245, 250 – ​255, 258, 305, 322 f., 326, 329, 367 Handlung Handlungsbewußtsein  25 ff. Handlungssinn  220 f. Handlungskompetenz  13, 20 ff., 26, 31, 35, 42, 110, 114, 195, 215 ff., 219, 225, 228 f., 239, 326 Handlungslogik  31, 185, 236, 241, 243 f., 252, 269, 272, 306 Harmonie, prästabilierte  255 ff., 311 Heiratsformen, chinesische  158 f. Herrschaft  217, 255, 259, 319 Homöostase  34, 64 homo sapiens (sapiens)  12, 122 f., 126 ff., 137 f. I

Ich

Großes Ich  264, 297 Ichbildung  179, 181 Ichheit  243, 271, 275, 282 Ich-Triebe  169 ff. Nicht-Ich  178, 249, 264, 275, 279 f., 282, 291 Ur-Ich  274, 275 Welt-Ich  273 ff., 292 Identität  15, 20, 23, 28, 67 f., 70 f., 75, 91 f., 95, 97, 103 f., 111, 156, 201, 225, 247, 269, 272, 280, 292, 295, 301 f., 325, 327, 330 f., 350 f., 354, 356 f., 369 konventionelle 226 Verlust der  330

Ideologie  90, 176, 228, 319 Individualität  XXI, 16, 30, 68 – ​7 1, 111, 114, 201, 219, 245, 319, 335 f., 354 f., 362 Individuation  35, 37, 179 Instinkt  12, 41, 147, 149, 191 Organisation, instinktive  19 Intimität  XXI, 10, 16, 33 f., 37 – ​42, 46, 49 – ​53, 56, 59, 61, 63, 73, 97, 102 ff., 107, 110, 120, 129, 135, 139, 141 f., 152 f., 155, 194, 196, 200 f., 204 f., 304, 337, 357 f., 366 frühkindliche  42, 110, 139 f., 156, 337 geschwisterliche  157, 205 Reorganisation der  49 f., 54, 62, 71, 97, 102, 157, 200, 357 f., 360 und Sexualität  16, 33, 49 ff., 56, 61, 103, 110, 200 Inzest Geschwister-Inzest 148 Inzest-Vermeidung, subhumane  147 Inzesttabu  50, 145 – ​148, 150 – ​156, 159 f., 205 Universalität des  145 Ironie, romantische  296, 309, 315, 331 ff. J

Jagd, kooperative  6, 127 Jäger-Hypothese 6 Jungfrau und Dirne  350 f. K

Kapitalismus  227, 258 Kastrationskomplex männlicher/Kastrationsangst  173, 175 f., 182 f., 189, 191 weiblicher  173, 175 f., 182 f.

Sachregister 393

Kindheit (s. Ontogenese) romantisches Verständnis der  53, 336 ff. Kognition Kompetenz, kognitive  6, 19, 21, 126, 137 Strukturen, kognitive  21, 30 f., 218, 236 f., 306 Kommunikation Bestätigung, kommunikative  111 Kompetenz, kommunikative  78 Lebensform, kommunikative  60, 65, 67, 354 und Macht  XX Kompetenz, konstruktive  170, 177, 193, 199, 206 Kompetenzerwerb (s. Ontogenese)  45 f. Konjunktiv, kategorischer  69, 234 Konstruktivismus  10 f., 251 radikaler 20 Realismus, konstruktiver  318 Konventionalität 228 Konvergenzbewußtsein  240 ff. Koppelung, soziale  39 Körper  40, 44, 56, 60 – ​63, 65, 67, 79, 82 f., 85, 183, 200, 219, 232, 235, 245, 306 ff., 314, 352, 354, 368, 371 und Kommunikation  65 Kristallisationen  74 f., 78, 201, 335 Kunstbegriff, romantischer  295 L

Lachen 86 Latenzphase  43, 49 f., 196 Lernen  37, 123 Lerntrieb 35 Libido  157, 167, 170 ff., 174, 179 ff.

Liebe  XIX–XXII, 9, 15 – ​18, 30, 33, 51 – ​55, 59, 61, 63, 65, 67, 71 ff., 75 – ​80, 82, 84 f., 87 – ​91, 93 – ​101, 103, 106, 109, 111, 125, 129, 140, 143, 152, 163, 166 f., 171, 196, 200 – ​205, 207, 211 ff., 224, 237, 266, 273, 305, 333, 335 – ​338, 340 f., 343 – ​363, 366, 369 ff. ästhetische 363 Geschwisterliebe 76 jungfräuliche 350 Krise der  363 Liebesakt  80, 83, 86, 92 Mutterliebe 346 ritterliche 99 romantische  XXII, 18, 32, 99, 203, 213, 224, 237, 266, 334 f., 337, 343, 346 f., 350, 354 – ​357, 360, 363, 369 f. und Macht  89 und Tod  80 f., 84, 305, 340 – ​345 unglückliche 55 Universalität der  203 Logik  18, 24, 31 f., 56, 80, 83 f., 157, 177, 185, 190, 192 f., 195, 207, 236, 241, 243 ff., 249 f., 252, 256, 258 ff., 263, 265, 267, 270, 272, 277, 279, 283, 285, 298, 303 f., 309 f., 312, 314, 316, 322, 331 ff., 335, 342 – ​345, 352, 360, 365 f., 368 f. absolutistische  24, 31, 223, 236, 241 f., 251 f., 255 ff., 259 f., 263 – ​ 267, 269, 271 f., 277 ff., 281, 283, 285, 294, 296 – ​299, 305, 307 – ​ 311, 313 f., 316, 327, 329, 333, 360, 362, 368 – ​371 funktional-relationale 304 mythisch-metaphysische 84 pristine  80, 185, 243, 268, 272 Schisma der  307 ff., 312 f., 368 Umbruch der  241, 311

394 Sachregister

Loslösungsphase  36, 38, 42, 178 Lust  43, 85 f., 88, 97, 107, 170 f., 182, 188, 343, 352 f., 371 Lustprinzip  186, 188 und Schmerz  353 M

Macht  XXI, 23, 29, 47, 67, 69, 72, 89, 90 – ​94, 101 ff., 106 f., 140, 153, 166, 176, 202 f., 217, 258, 294, 320, 342 und Gegenmacht  203 Magie, schöpferische  288 f. Möglichkeitsform des Daseins  91, 105 Motorik  11, 20 ff., 35, 37, 74, 179, 181, 239 Mutter  13 f., 34 – ​38, 40, 42, 44, 46 – ​50, 52, 53, 54, 73, 89, 100, 110, 112, 117, 132 – ​135, 137 – ​140, 142, 148, 150, 152 – ​ 156, 159, 173 – ​176, 178 ff., 188, 191, 194 f., 199, 204 f., 225, 304, 337 – ​341, 345 f., 350, 353 mütterliches Verhalten  132 – ​135, 137 Mutterrolle  132, 135 f., 140, 142 f., 205 Mutter-Sohn-Beziehung 46 tote  338 f. Mutter-Kind-Dyade  39, 110, 129, 131 ff., 136 f., 139, 152, 155, 199, 204 f. N

Narzißmus  36, 171 ff., 176, 179 ff. Phase, narzißtische  171, 179, 194 primärer  36, 170, 172, 180 f. sekundärer  180 f. weiblicher 176 Natur  4, 9 f., 13, 18, 22 f., 28, 30 f., 35, 39 ff., 43, 55, 60, 62, 64 – ​68, 70 f., 73, 76 ff., 93, 97, 100, 107, 125, 131 ff.,

135, 152, 154, 166, 185 ff., 190 – ​193, 206, 215, 217, 219, 221, 223, 229 – ​234, 239 f., 246 ff., 251, 255, 257, 259 f., 265, 269 f., 279, 281 f., 284, 290, 292, 294, 298, 306 ff., 312 – ​316, 318, 320, 329 f., 335, 338, 344, 349 f., 355, 358, 360 f., 365 – ​368, 370, 372 innere  22 f., 30, 39, 49, 56, 67, 69, 70 – ​76, 78, 93, 102, 104, 111, 114, 135, 200 f., 204, 218 f., 221, 223, 228 ff., 260, 304, 317, 330, 335 f., 338, 347, 354, 357, 367, 369 f. Naturgeschichte  XX, 3, 7 ff., 17 f., 113, 125, 167, 204, 233, 274, 292, 365 Naturschwärmerei  290, 314 ff. Normen  67, 116, 227 Nullage, kulturelle  137, 215 O

Objekt Objektbildung  179, 181 Objektpermanenz  36, 44, 179 Objekt-Triebe 169 Objektwahl  170, 172, 174 Objektwechsel 148 Ödipus-Komplex  43, 163 f., 167 ff., 173 ff., 184 f., 187 ff., 191 f., 195 ff., 206, 345 Ontogenese  12 – ​15, 18, 21, 26, 28, 33, 38, 43, 61, 67, 69, 72, 78, 80, 109 f., 114, 121, 126, 136 f., 152, 154, 163, 167 f., 189, 191, 195, 197, 199, 201, 205, 211, 215, 217, 219, 224, 227, 243, 346 frühe  12 f., 20, 37, 41, 45, 57, 59, 121, 129, 137, 179, 191, 199 f., 204, 215, 217 f., 223 f., 226 f., 268, 319, 354, 366 Organisationskompetenz  4, 12, 94, 136, 216 f., 229, 239 f., 365 f.

Sachregister 395

Organismus  9, 12, 19, 20 – ​26, 28 ff., 34 – ​43, 49, 54, 59 ff., 64 f., 68, 85, 133 ff., 139, 179, 186, 199, 215, 222 f., 225, 234 f., 239, 247, 337, 367 kindlicher 34 Organisationsform des (s. Subjektivität)  13, 19, 22, 215, 219 Selbstreferentialität des  55, 65, 67 und Außenwelt  20, 34 P

Paarbildung, monogame  123 Paläoanthropologie  116, 122, 137 Passion  55, 75, 93, 354 Penisneid (s. a. Kastrationskomplex)  47 f., 164, 176, 182, 188, 191, 194, 206 Phase autoerotische  43, 170 narzißtische  171, 179, 194 phallische  43, 172, 174 f., 182, 188, 193 f. postpubertäre  42, 196 pubertäre 188 sensomotorische  36, 38 symbiotische  36 ff., 41, 52, 100, 139, 178, 180 symbolische 45 Poesie  292 – 296 Positionalität, exzentrische  22, 66 Prägung, frühkindliche  134 f., 137 Promiskuitätsthese 113 Prozessualismus 9 Psyche Massenpsyche  168, 189 psychische Verfassung  68, 71 psychosomatische Krankheiten  23 psychosomatische Organisation  39

R

Realitätsprinzip  29, 70 f., 76, 186, 335 Reflexivität  31, 35, 49, 112, 114, 152, 199, 215, 217, 239 f., 273, 302, 326, 332, 361, 366 Regression  52 ff., 62, 88, 100, 139, 153, 154, 200, 205, 346, 353, 357 Rekonstruktion  XXI, 6, 9, 11, 14, 31, 33, 52, 77, 109, 113 ff., 122 f., 128, 133, 140, 152, 164, 177 f., 197, 200, 204, 218, 236, 240, 247 Revolution industrielle  227, 230 ff., 252, 260, 328 ff., 358 naturwissenschaftliche  230 f., 233, 252, 259, 265, 297 f., 307, 316, 320, 358, 367 f. neolithische  216 f., 229 politische  217, 231 S

Schönheit  73, 172, 311, 333 Schöpfungsakt (s. a. Liebesakt)  5, 168 romantischer  288 ff. Schweben, romantisches  270 f., 278, 297, 332, 348 Sehnsucht  30, 81, 106, 273, 292, 337 ff., 341, 345, 353 Seitensprung 103 Selbst Selbstbehauptung  69, 91, 302, 323, 325, 329, 333, 355, 369 Selbstbewußtsein (s. a. Reflexi­ vität)  25, 28, 70, 239, 241 Selbstbezüglichkeit 61 Selbsterfahrung  30, 71, 85, 326, 366 Selbstgegebenheit  24, 27, 31, 315 Selbstreferentialität des Organismus  55, 65, 67

396 Sachregister

Sensomotorik sensomotorische Phase  36, 38 Sexualität  XXI, 4, 10, 15 ff., 33, 42 f., 49 ff., 62, 71, 79 f., 82 – ​88, 91, 96 f., 99, 103 f., 106 f., 110 f., 114, 120, 139, 152, 155 – ​158, 176, 184, 186 – ​189, 191, 193, 196 f., 200 ff., 207, 320, 349, 360, 366 Decrescendo der  106 fremdgehende 104 genital zentrierte  44, 50 f., 187 kindliche 172 Sexualakt 82 Sexualtrieb  43, 165, 169, 186, 206 und Intimität  15 und Tod  80 Sinn  62 ff., 86, 110, 212, 220 – ​223, 229, 231 – ​235, 266, 299, 313, 321, 328 f., 333, 356, 358 ff., 362, 367 – ​371 metaphysischer 329 Sinnbestimmung  220, 223 f., 230, 232 f., 298, 328, 334, 367 f., 371 Sinnhaftigkeit  60, 62, 64, 86 ff., 97, 103, 107, 200, 202, 220 f., 223, 232 f., 266, 298, 321, 358 – ​ 361, 366 ff., 370, 372 Sinnkrise  358 f., 367 ff., 371 Sinnlosigkeit  63 f., 87, 202, 359, 368 Sinnverlust  231, 233, 372 sinnvoll leben  360 Sittengesetz  245, 253 – ​258, 305 Sorge um sich  61, 64 f. Sozialisation bürgerliche  224, 345, 367 Sphärentheorie, romantische  264 f. Sprache  7, 10, 13, 17, 21, 23, 26, 29 f., 37, 45, 53 f., 67, 123, 126, 168, 268, 290, 294 f., 311, 317 f., 352 f. Steuerungskompetenz 179

Subjekt  XX, XXII, 7, 15, 17 ff., 21 – ​24, 26 – ​31, 34 f., 39, 44, 49 ff., 56, 59, 65 f., 68 – ​7 1, 86, 91, 94, 97, 102, 104 f., 112, 114, 134, 153, 170, 177, 195, 199 – ​203, 206, 212 f., 215 – ​221, 223 – ​ 231, 233 – ​237, 240 – ​243, 245 f., 249, 252 – ​260, 263, 265, 267, 269 f., 272, 274 – ​277, 279 – ​283, 287 ff., 291 – ​294, 296 – ​299, 301 – ​306, 309 f., 312 – ​318, 320 – ​333, 335, 337 f., 344, 346 – ​349, 352, 354 f., 357, 360 f., 363, 365 – ​370, 372 ästhetisches  302 ff., 323, 325, 363 Bedürfnislage des  30 bürgerliches  226, 228, 312, 327 Krise des  301, 356, 360 neuzeitliches  91, 224, 228, 234, 236, 242, 327, 336 romantisches  230, 256, 296, 301, 304, 309, 323, 326 – ​329, 331, 334 f., 347 f., 357, 362, 369 und Gesellschaft  70 Universalität des  113 Subjektivität  XX, 13, 15, 18 ff., 22 f., 28, 51, 66 f., 69 f., 77, 111 – ​114, 121, 172, 199, 203, 211, 215 – ​220, 224 f., 227 f., 235, 239 ff., 261, 269, 275, 280, 290, 292, 297, 299, 302 f., 313, 317, 346 f., 363, 366, 369 Subjektlogik  31, 265 Subjekt-Objekt-Relation  25, 27, 274, 282, 284 Subjektverständnis  XX, 316, 328, 336, 360 Substanzlogik  9, 53, 184 f., 190, 192, 197, 248 Symbiose  23, 37, 152, 178, 340, 353 Beziehung, symbiotische  34 f., 37 f., 100, 155, 179

Sachregister 397

T

Tier-Mensch-Übergangsfeld  11 f., 123 f., 131, 138, 199 Tod Todesinstinkt 84 Todessehnsucht 84 Todestrieb  84, 89, 169, 340, 345 Tötungswunsch  163, 206 Transzendentalphilosophie  242, 268, 272 Traumwelt, romantische  323 – 326, 329, 331, 362 f. Traumzeit 324 Trieb Destruktionstriebe 169 Triebdynamik  43, 49, 104 Triebverzicht 166 Triebtheorie, psychoanalytische  340 U

Über-Ich 174 Unbewußtes  188, 191 f., 197, 207 Urhandlung  276 f., 293 Urphantasie  189 f. Ursprung  8, 56, 80, 84, 164, 168, 190, 192, 233, 241, 244, 253, 273, 276, 283, 294, 324, 328, 336 ff., 342 f., 345 f., 350, 357, 369 absoluter 257 Ursprungslogik  31, 185, 190, 241, 276, 342, 350 Urtrieb  246 f., 253 V

Vater  40, 44, 46 ff., 50, 112, 119, 129, 138 – ​143, 150, 154 ff., 165, 173 – ​176, 183, 188, 191, 194 f., 204 f., 315, 338 ff. Vaterrolle  119, 138 – ​143, 205 Vater-Tochter-Beziehung  154 f. Vaterhorde 165

Verletzungen, frühkindliche  92 Vernunft, absolute  245 Verstehen  7, 76 f., 107, 317 f. W

Wahnsinn, romantischer  332 ff. Welt  XXI, 9 ff., 13, 18, 20 f., 24, 27 ff., 31, 35 f., 38 – ​41, 44 ff., 49, 56, 59, 65 – ​ 72, 74 – ​77, 81, 84 – ​88, 90 ff., 94, 97 f., 103 – ​107, 123, 168, 170, 193, 195, 197, 201, 211 ff., 215 – ​231, 233 – ​237, 239 – ​ 243, 247, 249 – ​260, 263 ff., 267 ff., 272, 274 – ​280, 282 f., 285, 287 – ​290, 293 – ​299, 301 – ​307, 309 – ​313, 315 – ​335, 337, 342, 344, 348, 350 f., 354 – ​363, 366 – ​371 bürgerliche  227, 299, 312, 319, 329, 352, 354 Innenwelt 170 mediale  231, 235 Naturwelt 289 Sozialwelt  9 f., 13, 31, 35, 39, 69, 98, 111, 216 f., 219, 223, 227 f., 230, 235, 239 f., 252, 255 ff., 260, 299, 301, 315 f., 318 f., 321, 328 f., 355, 358, 360 f., 367 f., 371 Weltgeist  240, 261 Weltverlust  218, 228 – ​231, 260, 266, 297, 366 f., 370 f. Weltverständnis neuzeitliches  263, 266 romantisches 266 Umbruch des  360 Wende, kopernikanische  243 Werte  220 f. Wiederannäherungsphase (s. a. Loslösungsphase)  38 Wiederholungszwang 90

Smile Life

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