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Timo Arnold
Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes Plädoyer für einen vollumfänglichen Grundrechtsschutz kommerzieller Werbeinhalte
Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes
Timo Arnold
Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes Plädoyer für einen vollumfänglichen Grundrechtsschutz kommerzieller Werbeinhalte
Timo Arnold Schwansee, Deutschland Dissertation Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2018
ISBN 978-3-658-24789-8 ISBN 978-3-658-24790-4 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Dieses Werk entstand während meiner Tätigkeit am Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Es wurde von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-SchillerUniversität Jena im September 2018 als Dissertation angenommen. Der Weg bis zur druckfertigen Fassung war erkenntnisreich, aber auch steinig. Glücklicherweise musste ich ihn nicht alleine beschreiten. Den zahlreichen Weggefährten, die mich während meiner Promotionszeit begleiteten und in vielfältiger Weise unterstützten, möchte ich an dieser Stelle danken. Ein ganz besonders herzliches Dankeschön gilt zunächst meinem Doktorvater, Prof. Dr. Michael Brenner, für die hervorragende Betreuung und konstruktive Kritik. Die Jahre an seinem Lehrstuhl haben mich nachhaltig geprägt. Ich werde sie in bester Erinnerung behalten. Ebenfalls sehr gedankt sei Prof. Dr. Thomas Kleinlein für die freundliche Übernahme des Zweitgutachtens sowie Prof. Dr. Jochen Schlingloff für seine Mitwirkung in der Prüfungskommission. Jonas Hyckel und Benedikt Coridaß danke ich vielmals dafür, dass sie sich die Zeit nahmen, die Rohfassung Korrektur zu lesen. Ich weiß, das war nicht selbstverständlich. Den entscheidenden Grundstein dieser Arbeit legte mein Vater, Jörg Hopfe. Er förderte mich nicht nur von Kindesbeinen an, sondern weckte auch in mir den Wunsch, es ihm gleichzutun und Jura zu studieren. Ich bin ihm für all das unendlich dankbar. Der weitaus größte Dank gebührt jedoch meiner wundervollen Frau, Anica Arnold, und meiner bezaubernden Tochter, Tilda Arnold. Sie mussten in den vergangenen Jahren viel auf mich verzichten. Ohne ihren bedingungslosen Rückhalt hätte ich keine einzige Zeile zu Papier gebracht. Sie sind mein ganzes Glück. Ihnen und meiner verstorbenen Schwester, Isabell Hopfe, widme ich diese Arbeit. Timo Arnold V
Inhalt Inhalt Inhalt
§ 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I Hintergrund und Anlass der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erster Teil: Grundlegung und Bestandsaufnahme § 2 Wirtschaftswerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I Wirtschaftswerbung im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Definitionen und Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 a) Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 b) Wirtschaftswerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 2 Werbung und Wirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 a) Konsumsteuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 b) Wettbewerbsförderung durch Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 c) Werbewirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 d) Werbung als Medienfinanzier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 3 Wirtschaftswerbung als Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Konsumenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 4 Wirtschaftswerbung und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 a) Wirtschaftswerbung als Ausgangspunkt sozialer Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 b) Wirtschaftswerbung als Projektionsfläche des gesellschaftlichen Wandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 II Wirtschaftswerbung im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1 Beteiligte am Werbeprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 2 Werbeformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 VII
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Inhalt
a) Werbeobjekt und -subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Werbe-Submix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Werbemittel und -träger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zielrichtung der Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Werbewirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Werbebotschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Werbewirkungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 3 Dogmatischer Überblick zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I Subjektiv- und objektivrechtlicher Gehalt der Meinungsfreiheit . . . . II Das Verhältnis der Meinungsfreiheit zu anderen Grundrechten . . . . 1 Die Meinungsfreiheit im Kontext der Kommunikationsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Kommunikationsgrundrechte im Allgemeinen . . . . . . . . . b) Das Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. GG . . . . . . . . . . . . . c) Das Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das Verhältnis zu Art. 5 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Das Verhältnis zu Art. 4 Abs. 1 und 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Das Verhältnis zu Art. 8 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Das Verhältnis zu Art. 9 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Das Verhältnis zu Art. 10 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . i) Das Verhältnis zu Art. 17 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Das Verhältnis der Meinungsfreiheit zu den Wirtschaftsgrundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wirtschaftsgrundrechte im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Verhältnis zu Art. 12 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Das Verhältnis zu Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . III Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Begriff der Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Tatsachenäußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Ermittlung des Aussagegehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Geschütztes Verhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Gewerbeschädigende Kritik und Boykottaufrufe . . . . . . . . . . . . . . 6 Urheberschaft einer Meinungsäußerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Negative Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15 15 16 16 17 18 20 23 23 24 24 24 25 25 27 27 27 28 28 29 29 29 29 29 29 31 31 32 35 36 37 38 39
Inhalt
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§ 4 Stand in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I Rechtsprechung des BVerfG zum verfassungsrechtlichen Schutz der Wirtschaftswerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Wirtschaftswerbung einzig als Berufsausübung . . . . . . . . . . . . . . . 2 Wirtschaftswerbung auch als Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Anpreisungen im Rahmen von Presseberichten oder literarischer Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Werbung ohne pressetextlichen oder literarischen Bezug . . . . II Entwicklung in der Rechtsprechung der Fachgerichte . . . . . . . . . . . . . III Entwicklung in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Zweiter Teil: Wirtschaftswerbung im Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG § 5 Meinungspotential von Wirtschaftswerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I Werturteile und meinungsbildende Tatsachenbehauptungen im Bereich der Wirtschaftswerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Einzelne Wirtschaftswerbemaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unterscheidung nach Werbe-Submix . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Klassische Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aaa) Grundgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bbb) Informative Zusätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) „Echte“ Werturteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Meinungsbildende Tatsachenmitteilungen . . . . (3) Vorenthaltung von Informationen . . . . . . . . . . . ccc) Suggestiv vermittelte Zusätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ddd) Insbesondere: einfache Plakatfälle . . . . . . . . . . . . . . . bb) Public Relations . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Direct Marketing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Sponsoring . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Product Placement und Schleichwerbung . . . . . . . . . . . . . b) Unterscheidung nach Einführungs-, Erhaltungs-, Erinnerungs- und Expansionswerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gesamtheit der Wirtschaftswerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II Im Rahmen einer „geistigen Auseinandersetzung“ . . . . . . . . . . . . . . . 1 Fehlende innere Überzeugung des Werbenden? . . . . . . . . . . . . . . . 2 Manipulationsvorwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59 59 59 60 60 60 61 61 62 63 64 65 66 67 67 68 69 69 70 70 72 IX
X
Inhalt
III Schutz der Werbebeteiligten durch die Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . 1 Werbetreibende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Werbeagenturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Werbungsdurchführende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Werbeadressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 6 Ausschluss der Wirtschaftswerbung aus dem Schutzbereich wegen politischer Attitüde der Meinungsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . I Geschichte der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Vom Mittelalter bis zum aufgeklärten Absolutismus . . . . . . . . . . . 3 Nordamerikanische und Französische Revolution . . . . . . . . . . . . . 4 Restauration und Vormärz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Paulskirchenverfassung von 1849 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Preußische Verfassung von 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Reichsverfassung von 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Weimarer Reichsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Drittes Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II Telos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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§ 7 Systematische Erwägungen zur Einbeziehung von Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit . . . . . I Exklusiver Schutz der Wirtschaftswerbung durch die Wirtschaftsgrundrechte – Systematische Einwände gegen die Einbeziehung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . 1 Schutz von Meinungen nach inhaltlicher Prägung . . . . . . . . . . . . . 2 Gefahr der Schrankenkumulierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II Schutz der Werbung innerhalb des Systems der Kommunikationsgrundrechte – Zwingende Rückschlüsse für die Einbeziehung von Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Rückschluss aus pressefreiheitlichem Schutz der Wirtschaftswerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Rückschluss aus rundfunkfreiheitlichem Schutz der Wirtschaftswerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
3 Rückschluss aus kunstfreiheitlichem Schutz der Wirtschaftswerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Rückschluss aus Komplementärfunktion zur Informationsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III Argementum e contrario aus staatlichem Verbraucherinformationsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 8 Meinungsfreiheitlicher Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und auf europäischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I Die Meinungsfreiheit des 1. Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika und Wirtschaftswerbung . . . . . . 1 Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Grundlegendes zur Meinungsfreiheit des 1. Zusatzartikels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Wirtschaftswerbung im Schutzbereich der Meinungsfreiheit des 1. Zusatzartikels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausgangspunkt: Ausschluss der Wirtschaftswerbung aus dem Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Übergang: Aufweichen der pauschalen Ausschlussthese über die Pressefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kehrtwende: Einbeziehung von Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II Die Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK und Wirtschaftswerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Grundlegendes zur Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK . . . . . . 3 Einbeziehung der Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einbezug wirtschaftlicher Sachverhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einbezug von Anpreisungen im Rahmen von Presseberichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Umfassender Schutz der Wirtschaftswerbung . . . . . . . . . . . . . III Die Meinungsfreiheit des Art. 11 GRCh und Wirtschaftswerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Position des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Position des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Schlussfolgerung im konkreten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
2 Grundlegendes zur Meinungsfreiheit des Art. 11 GRCh . . . . . . . 123 3 Einbeziehung der Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 11 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 IV Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Dritter Teil: Wirtschaftswerbung und die Rechtfertigung von Eingriffen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG § 9 Beschränkungen der Wirtschaftswerbung als Eingriffe in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I Eingriffe in die Meinungsfreiheit im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . II Werbebeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Beschränkungen im Bereich des allgemeinen Marktteilnehmer- und Wettbewerbsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . b) Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG . . . . . . . . . . 2 Beschränkungen im Bereich des Jugendschutzes . . . . . . . . . . . . . a) Jugendmedienschutz-Staatsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien . . . . . . . . . . . . . c) Jugendschutzgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Sonstige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG . . . . . . . . . . 3 Beschränkungen zur Sicherung der Meinungsvielfalt im Bereich der Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien . . . . . . . . . . . . . b) Presserecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG . . . . . . . . . . 4 Beschränkungen im Bereich des produktbezogenen Gesundheitsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Heilmittelrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Lebensmittelrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Tabakerzeugnisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG . . . . . . . . . . 5 Beschränkungen im Bereich bestimmter Berufsstände . . . . . . . . a) Werbung von Anwälten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Werbung von Notaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129 129 130 131 131 134 135 136 136 136 136 136 137 137 138 138 139 139 139 141 142 143 143 144
Inhalt
c) Werbung von Steuerberatern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Werbung von Wirtschaftsprüfern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Werbung von Ärzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Werbung von Kliniken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Werbung von Apothekern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG . . . . . . . . . . 6 Beschränkungen im Bereich des Persönlichkeitsrechtsschutzes von Nichtmitbewerbern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Recht am eigenen Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Recht der persönlichen Ehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG . . . . . . . . . . 7 Beschränkungen im Bereich der Verkehrssicherheit, der Einhaltung des Widmungszwecks öffentlicher Straßen sowie des Baurechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Straßenverkehrsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Straßenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Baurecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG . . . . . . . . . . III Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 10 Rechtfertigung von wirtschaftswerbebezogenen Eingriffen in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG im Allgemeinen . . . . . I Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 „Allgemeine Gesetze“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Allgemeinheit“ von Werberegelungen im Bereich der positiven Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Definition der „Allgemeinheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) „Allgemeinheit“ von Werberegelungen . . . . . . . . . . . . . . . b) „Allgemeinheit“ von Werberegelungen im Bereich der negativen Gewährleistung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Definition der „Allgemeinheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) „Allgemeine“ Werberegelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 „Jugendschützende“ Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Definition der „jugendschützenden“ Bestimmungen . . . . . . . b) „Jugendschützende“ Werbebestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . 3 „Ehrschützende“ Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Definition „ehrschützender“ Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . b) „Ehrschützende“ Werbevorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIII
145 145 145 145 146 146 147 147 147 147 148 148 149 152 152 152 153 153 153 154 154 155 155 156 156 157 157 157 158 158 158 XIII
XIV
Inhalt
II Schranken-Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Legitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Mildere Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gleiche Eignung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aaa) Früheres Leitbild des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bbb) Leitbild des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ccc) Heutiges Leitbild des BGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ddd) Leitbild des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Konkrete oder abstrakte Abwägung? . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gewicht der sich gegenüberstehenden Rechtsgüter . . . . aaa) Verfassungsrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bbb) Einbezug der Wirtschaftswerbung in die Sonderstellung öffentlich-politischer Meinungsäußerungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Intensität des Eingriffs bzw. der Beeinträchtigung . . . . . aaa) Verschiedene Eingriffsarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bbb) Mehrdeutige Äußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ccc) Verwechslung von Tatsachen mit Meinungen . . . . ddd) Wahre Tatsachenäußerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . eee) Kritik und Beleidigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . fff) Produkthinweispflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Zensurverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . § 11 Rechtfertigung von wirtschaftswerbebezogenen Eingriffen in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG im Besonderen – Schlaglichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I Geplantes Verbot der Außen- und Kinowerbung für Tabakerzeugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Schranke – Verbote der Außen- und Kinowerbung für Tabakerzeugnisse als „allgemeine Gesetze“ i. S. v. Art. 5 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Schranken-Schranke – Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Legitime Zwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
c) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Wertigkeit der sich gegenüberstehenden Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Intensität des Eingriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II Geplantes Verbot sexistischer Werbung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Schranke – Verbot sexistischer Werbung als „allgemeine Gesetze“ i. S. v. Art. 5 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Schranken-Schranke – Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Legitimer Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Menschenwürdeverachtende sexistische Werbung . . . . . bb) Geschlechtsdiskriminierende Werbung i. S. v. Art. 3 Abs. 2 (und 3) GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Sonstige „geschlechtsdiskriminierende“ Werbung . . . . . dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XV
181 182 182 184 184 185 185 185 186 186 186 187 187 187 188 189 190 190 190 191
Vierter Teil: Ergebnisse § 12 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Stand in Rechtsprechung und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Meinungspotential von Wirtschaftswerbung . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Ausschluss der Wirtschaftswerbung aus dem Schutzbereich wegen politischer Attitüde der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . 4 Systematische Erwägungen zur Einbeziehung von Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Meinungsfreiheitlicher Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und auf europäischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195 195 195 196 199 200 201 XV
XVI
Inhalt
6 Beschränkungen der Wirtschaftswerbung als Eingriffe in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Rechtfertigung im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Rechtfertigung im Besonderen – Schlaglichter . . . . . . . . . . . . . . II Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
202 202 203 204
Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209
Einleitung § 1 Einleitung
I
§1
Hintergrund und Anlass der Untersuchung
I Hintergrund und Anlass der Untersuchung
Wirtschaftswerbung ist so alt wie der Tauschhandel.1 Erschöpfte sich die kommerzielle Kommunikation anfangs noch in der mündlichen Warenpräsentation auf Marktplätzen, durchlief sie im Laufe der Jahrtausende analog zum gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Fortschritt eine enorme Entwicklung.2 Durch Meilensteine wie die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, von Hörfunk und Fernsehen oder die Entfaltung der industriellen Massenproduktion kamen ihr indes immer neue Aufgaben zu. Stand zunächst die bloße Bekanntmachungsfunktion im Mittelpunkt, ging es danach vornehmlich um die Hervorhebung der Produktqualität und schließlich um die §10 Abgrenzung von Wettbewerbern.3 Im Zuge dieses Professionalisierungsprozesses veränderten sich freilich auch die Werbemethoden. Immer ausgeklügeltere und diffizilere Vorgehensweisen, potentielle Kunden zu locken, bereiteten allerdings recht früh einen Nährboden für scharfe Kritik. So stellte etwa der deutschamerikanische Autor und Maler Cronau in seinem „Buch der Reklame“ bereits 1887 fest: „Man ist im Publikum leicht geneigt, die Begriffe Reklame und Schwindel für identisch zu halten, und scharfe Moralisten stehen nicht an, die Reklame als unmoralisch zu erklären.“4 In die gleiche Kerbe schlug später der französische „Werbepapst“ Séguéla, der die gesellschaftlichen Ressentiments gegenüber dem omnipräsenten Phänomen der Wirtschaftswerbung – welche ohne Zweifel bis zum heutigen Tage andauern – jedoch noch pointierter zu umschreiben wusste, indem er folgenden berühmten Ausspruch tätigte: „Sag
1 2 3 4
Käseborn/Siekerkötter/Fehn, Wirtschaftswerbung, 5. Schweiger/Schrattenecker, Werbung, 1 ff. Kloss, Werbung, 30. Cronau, Das Buch der Reklame, 1 f. 1
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Arnold, Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4_1
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§ 1 Einleitung
meiner Mutter nicht, dass ich in einer Werbeagentur arbeite, sie glaubt, ich sei Klavierspieler in einem Bordell.“5 Dementsprechend zeitig kamen zugleich Eindämmungsbestrebungen auf. Ein Paradebeispiel hierfür ist das sog. Intelligenzwesen im Preußen des 18. Jahrhunderts – die Festlegung eines staatlichen Monopols für den Druck von Werbeanzeigen.6 Mit dieser undifferenzierten und allumfassenden Kontrolle haben die heutigen Werbebeschränkungen freilich wenig gemein. Dennoch ist moderne Wirtschaftswerbung sowohl auf nationaler Ebene als auch auf der Ebene der EU in großem Umfang reglementiert. Die verschiedenen Zielrichtungen des breit gefächerten Werberegimes reichen vom allgemeinen Täuschungsschutz über den Gesundheitsschutz bis hin zum Schutz der Verkehrssicherheit. Aus verfassungsrechtlicher Warte ist es angesichts dieser weitreichenden Einschnitte naturgemäß von Interesse, welche Rechte die Werbeindustrie ggf. entgegenzusetzen hat. Besteht mit Blick auf die Einschlägigkeit der Wirtschaftsgrundrechte völlige Einigkeit, scheiden sich bei der Frage der Eröffnung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit des GG seit jeher die Geister. Im Einklang mit der gesellschaftlichen Stigmatisierung wirtschaftswerblicher Maßnahmen versagte das BVerfG der Wirtschaftswerbung zunächst apodiktisch jeden meinungsfreiheitlichen Schutz. Exemplarisch hierfür steht der „Werbefahrten-Beschluss“7 aus den 1970ern, welcher das Schubladendenken (Wirtschaftswerbung ist Wirtschaft und keine Meinung.) der damaligen Verfassungsrichter besonders deutlich zutage förderte. Angetrieben von der sich seit den 1960er Jahren immer mehr formierenden Kritik aus den Reihen des Schrifttums8 vollzog das BVerfG in der vielzitierten „Benetton I-Entscheidung“9 zur Jahrtausendwende eine grundsätzliche Abkehr von seiner vormaligen Jurisdiktion. Von nun an sollten auch rein wirtschaftswerbliche Maßnahmen den Schutz von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG genießen; allerdings nur soweit sie meinungsbildenden Charakter besitzen. Damit wurde zwar die ausnahmslose Verneinung der meinungsfreiheitlichen Protektionsdignität von Wirtschaftswerbung aufgegeben, im Detail bleibt jedoch weiter unklar, wann genau einer wirtschaftswerblichen Äußerung die geforderte Meinungsbildungsqualität beigemessen werden kann. Aus diesem Grund will die vorliegende Arbeit das aktuelle Schutzniveau unter Zugrundelegung der jüngeren Rechtsprechung des BVerfG näher umreißen, um es anschließend kritisch
5 Lediglich überliefert; zitiert nach Kloss, Werbung, 9. 6 Kloss, Werbung, 34. 7 BVerfGE 40, 371. 8 Etwa Lerche, Werbung und Verfassung, 76 ff; Wacke, in: FS Schack, 197, 201 ff. 9 BVerfGE 102, 347.
II Methodik
3
hinterfragen zu können. Hierbei wird insbesondere der (vermeintlich) unpolitische Regeltypus der Wirtschaftswerbung im Blickpunkt stehen. Auch wenn die Thematik „Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit“ in der Vergangenheit bereits das eine oder andere Mal Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen war, ist eine wiederholte Auseinandersetzung mit der Materie aufgrund verschiedener Entwicklungen angezeigt. So befinden sich die vorangegangenen größeren Studien aufgrund ihres deutlich fortgeschrittenen Alters10 beispielsweise mit Blick auf die angesprochene jüngere Rechtsprechung, die neuen Argumente diverser Autoren für und gegen eine Unterschutzstellung oder die sich aus der nunmehr bestehenden Verbindlichkeit der GRCh ergebenden Folgen nicht mehr auf dem aktuellen Stand.
II Methodik II Methodik
Zur Konturierung des meinungsfreiheitlichen Schutzes der Wirtschaftswerbung im GG soll neben der Anwendung der vier klassischen juristischen Auslegungsmethoden und der europarechtskonformen Auslegung ebenso ein Vergleich mit dem First Amendment der US-amerikanischen Bundesverfassung beitragen. Zudem verfolgt die vorliegende Untersuchung einen interdisziplinären Ansatz, indem sie aktuelle wirtschaftswissenschaftliche und sozialpsychologische Erkenntnisse gewinnbringend in die grundrechtliche Diskussion einzustellen versucht.
III
Gang der Darstellung
III Gang der Darstellung
Der Aufbau der Arbeit ist progressiv angelegt und orientiert sich an der Reihenfolge einer schulmäßigen Grundrechtsprüfung: Im ersten Teil soll zunächst unter der Überschrift „Grundlegung und Bestandsaufnahme“ sowohl auf den Untersuchungsgegenstand der Wirtschaftswerbung sowie den Begriff der Meinung i. S. d. Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG eingegangen als auch der Stand in Rechtsprechung und Literatur analysiert werden. Hierauf aufbauend erfolgt sodann der Brückenschlag in Form der Untersuchung der Eröffnung des Schutzbereichs. Dieser den Schwerpunkt der Abhandlung bildende zweite Abschnitt will eingangs klären, 10 Von 1984: Drettmann, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit; von 1993: Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit. 3
4
§ 1 Einleitung
ob (und ggf. welche) Werbeaussagen im Grundsatz geeignet sind, Meinungen zu sein, um im Anschluss die vorgebrachten Ausschluss- sowie Schutzgründe auf ihre Tragfähigkeit hin abklopfen zu können. Auf dieser Basis soll alsdann im dritten Teil – gerade auch vor dem Hintergrund der starken europarechtlichen Determination des Werberechtssektors – beleuchtet werden, welchen werbebeschränkenden Vorschriften überhaupt eine Eingriffsqualität in Bezug auf die Meinungsfreiheit des GG zukommt. Zur Abrundung widmet sich die Studie schlussendlich noch der Frage der Rechtfertigung, indem sie nicht nur allgemeine Rechtfertigungskriterien herausarbeitet, sondern auch konkrete Schlaglichter setzt.
Erster Teil Grundlegung und Bestandsaufnahme
5
Wirtschaftswerbung § 2 Wirtschaftswerbung
§2
Zunächst einmal gilt es, den Gegenstand der Untersuchung genauer einzugrenzen. Nur anhand einer genauen Definition, der Beleuchtung der allgemeinen Funktionen sowie der Feststellung der näheren Ausgestaltung und Wirkungsweise von Wirtschaftswerbung kann eine fundierte verfassungsrechtliche Einordnung erfolgen.
I Wirtschaftswerbung im Allgemeinen I Wirtschaftswerbung im Allgemeinen 1 Definitionen und Abgrenzung a)
Werbung
Der Begriff der „Werbung“ etablierte sich erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts. In Deutschland war zuvor lange Zeit das Wort „Reklame“ gebräuchlich, welches häufig mit Marktschreierei gleichgesetzt wurde11 und sich vom französischen Wort „réclame“ („Réclamer“ steht im Französischen für „ausrufen“ oder „anpreisen“.) ableitet. Grund für den Wandel war das Bestreben der Nationalsozialisten, die angeblich jüdische Reklame der Weimarer Republik durch eine deutsche Werbung zu ersetzen.12 Etymologisch stammt das Wort „werben“ von dem althochdeutschen „werban“ ab, was etwa so viel bedeutet wie „sich bemühen“, „etwas betreiben“ oder „hin- und hergehen“.13 An diese Vieldeutigkeit anknüpfend wird auch der heutige
11 Vgl. Sennebogen, Zwischen Kommerz und Ideologie, 42. 12 Vgl. Sennebogen, Zwischen Kommerz und Ideologie, 121. 13 Schweiger/Schrattenecker, Werbung, 1. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Arnold, Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4_2
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8
§ 2 Wirtschaftswerbung
Werbungsbegriff in der wirtschaftswissenschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Literatur äußerst mannigfaltig bestimmt.14 So sieht etwa Lerche in der Werbung eine „Tätigkeit, die mittels planmäßiger Anwendung beeinflussender Mittel darauf abzielt, andere Menschen, sei es in ihrer Eigenschaft als Individuum oder in deren Eigenschaft als Mitglieder bestimmter Gruppen, für eine konkrete Meinung oder Verhaltensweise zu gewinnen.“15 Derweil definieren beispielsweise von Rosenstiel und Kirsch diese als „Kommunikation, die öffentlich stattfindet und den Zweck hat, bestimmte (Ziel-) Gruppen von Menschen zu beeinflussen.“16 Letztlich unterscheiden sich die verschiedenen Definitionen aber nur in ihrem Wortlaut. Inhaltlich besteht weitgehende Identität. Zwei entscheidende Merkmale lassen sich dabei immer wieder finden: Zum einen handelt es sich bei der Werbung um einen Kommunikationsvorgang und zum anderen besteht eine Ausrichtung auf die Veränderung des Verhaltens des bzw. der Adressaten.17 Dies aufgreifend soll nachfolgend in Anlehnung an Kloss Werbung als eine „absichtliche und zwangsfreie Form der Kommunikation, mit der gezielt versucht wird, Einstellungen von Personen zu beeinflussen“18, um eine Verhaltensänderung zu bewirken, verstanden werden. Hervorzuheben ist neben den beiden genannten Hauptkennzeichen auch das Merkmal der „Zwangsfreiheit“, wonach der Beeinflussungsversuch vom Adressaten erkannt und kontrolliert werden können muss.19 Ist dies nicht der Fall, liegt eine sog. – außerhalb des Werbungsbegriffs liegende – Manipulation vor, bei der der Rezipient ohne sein Wissen und oft auch gegen seinen Willen gezielt gelenkt wird.
b)
Wirtschaftswerbung
Eine besondere Form der Werbung – und wohl auch die häufigste – ist die Wirtschaftswerbung. Von ihr wird gesprochen, wenn der Werbende mit der Beeinflussung
14 Vgl. zum Werbebegriff u. a. Behrens, Absatzwerbung, 11 ff.; Bussmann/Droste, Werbung und Wettbewerb im Spiegel des Rechts, 11; Mayer/Illmann, Markt- und Werbepsychologie, 373; Pepels, Grundlagen der Werbung, 9; Schmidt-Tophoff, Das Recht der Außenwerbung, 13. 15 Lerche, Werbung und Verfassung, 11. 16 von Rosenstiel/Kirsch, Psychologie der Werbung, 40. 17 So auch Mayer, Werbewirkung und Kaufverhalten, 6. 18 Kloss, Werbung, 6. 19 Kloss, Werbung, 6.
I Wirtschaftswerbung im Allgemeinen
9
ökonomische Ziele verfolgt.20 Sie bildet somit den Oberbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Ausprägungen. Unter die Wirtschaftswerbung fallen nicht nur die klassische Werbung, sondern beispielsweise auch Public Relations-Werbung oder Sponsoring. Auf die verschiedenen Spielarten wird jedoch an späterer Stelle noch näher einzugehen sein. Abzugrenzen ist die Wirtschaftswerbung insbesondere von der Propaganda, bei der es um eine politische oder religiöse Beeinflussung geht.21
2 a)
Werbung und Wirtschaft Konsumsteuerung
Wirtschaftswerbung erfüllt primär den Zweck einer Bedarfslenkung und -konkretisierung beim Konsumenten und sorgt somit für eine Absatzsteigerung von Wirtschaftsgütern sowie Dienstleistungen. Dies sind jedoch bei Weitem nicht die einzigen Effekte, die durch Werbung erzielt werden.
b)
Wettbewerbsförderung durch Werbung
Wirtschaftswerbung ist darüber hinaus von enormer Bedeutung für einen funktionierenden Wettbewerb. Sie verschafft durch die Zurverfügungstellung von Informationen über die angebotenen Produkte und Dienstleistungen einen Marktüberblick, welcher insbesondere vor dem Hintergrund der steigenden Menge an Spezialprodukten von großer Wichtigkeit ist. Die durch diese Markttransparenz22 ermöglichte Vergleichbarkeit von Preisen und Produkteigenschaften verschärft den Konkurrenzkampf. Denn die Unternehmen versuchen – alarmiert durch die
20 Kloss, Werbung, 6; Lerche, Werbung und Verfassung, 11; vgl. hierzu auch § 2 Abs. 2 Nr. 7 RStV, der allerdings Werbung mit Wirtschaftswerbung gleichsetzt; ebenso BVerfG NJW 2004, 3765, 3767: Werbung sei ein Verhalten, „das planvoll darauf angelegt ist, andere dafür zu gewinnen, die Leistungen des Werbenden in Anspruch zu nehmen“; umfassende Erörterungen hierzu auch in BVerfGE 71, 162, 181 f.; BVerfG NJW 2015, 1438, 1439; BGH NJW 2017, 407, 408. 21 Definition der Propaganda nach Buchli, in: Handbuch der Werbung, 11: „Beeinflussung des Menschen, die ihn veranlasst, sich freiwillig eine Überzeugung anzueignen und sie als wahr anzuerkennen“. Das Wort „Propaganda“ ist geschichtlich gesehen sicherlich nicht unbelastet. Im Rahmen dieser Arbeit soll es jedoch nicht i. S. v. „Agitation“ oder „Indoktrination“ verstanden, sondern – der eigentlichen Wortbedeutung entsprechend – schlicht mit der „Verbreitung“ der genannten Inhalte gleichgesetzt werden. 22 Vgl. Arbeitsgruppe Werbung, Media Perspektiven 1998, 436; Degenhart, in: FS Lukes, 287, 293; Fezer, GRUR 1976, 472, 483; Kloss, Werbung, 52; Lerche, Werbung und Verfassung, 12. 9
10
§ 2 Wirtschaftswerbung
mittelbar an die Konkurrenz gerichteten Werbebotschaften23 – zwangsläufig, die Qualität ihrer Produkte zu erhöhen und sich gleichzeitig in den Preisen zu unterbieten, um am Markt bestehen zu können.
c)
Werbewirtschaft
Die Wirtschaftswerbung ist zudem selbst ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. So wurden in Deutschland im Jahr 2017 rund 26 Milliarden Euro24 in die Werbung investiert, was einem Anteil von knapp einem Prozent 25 am Bruttoinlandsprodukt entspricht. Zudem sorgt die Werbebranche für eine Vielzahl an Arbeitsplätzen.26
d)
Werbung als Medienfinanzier
Eine weitere (Neben-)Rolle der Wirtschaftswerbung ist die des Medienfinanziers. Allein 2017 erzielten die deutschen Medien Netto-Werbeeinnahmen in Höhe von 15,31 Milliarden Euro.27 Werbung ist aber nicht nur für die Medienunternehmen von unschätzbarem Wert, sondern letztlich auch für die freiheitlich demokratische Grundordnung, da ohne diese Geldquelle eine plurale Medienlandschaft nicht denkbar wäre. Sie schützt die Medien zum einen als (zusätzlicher) Geldgeber vor zu großer Einflussnahme gesellschaftlicher sowie staatlicher Kräfte. Zum anderen ist sie überhaupt ein unverzichtbares Element für die Existenz der meisten Medienunternehmen. Mit anderen Worten: Werbung gewährleistet Medienvielfalt und sorgt dadurch mittelbar für demokratiekonstituierende Meinungsvielfalt.28
23 Vgl. Lerche, Werbung und Verfassung, 15 f.: „wirtschaftskommunikativer Wettbewerb“. 24 Vgl. Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, Wirtschaft und Werbung 2017, http://www.zaw.de/zaw/branchendaten/wirtschaft-und-werbung/?navid=986495986495. 25 Vgl. Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, Wirtschaft und Werbung 2017, http://www.zaw.de/zaw/branchendaten/wirtschaft-und-werbung/?navid=986495986495. 26 Vgl. Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, Arbeitsmarkt Werbewirtschaft, http://www.zaw.de/zaw/branchendaten/arbeitsmarkt-werbewirtschaft/. 27 Vgl. Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, Wirtschaft und Werbung 2017, http://www.zaw.de/zaw/branchendaten/wirtschaft-und-werbung/?navid=986495986495. 28 Arbeitsgruppe Werbung, Media Perspektiven 1998, 436.
I Wirtschaftswerbung im Allgemeinen
3
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Wirtschaftswerbung als Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Konsumenten
Wirtschaftswerbung leistet als Kommunikationseinrichtung29 den Transfer zwischen Produktion und Nachfrage. In erster Linie stellt sie damit Markttransparenz für die im Gegensatz zu den Mitbewerbern unmittelbar angesprochenen Konsumenten her.30 Dabei folgt Werbung dem herkömmlichen Kommunikationsmuster, welches Lasswell in seinem Grundmodell zur Kommunikation folgendermaßen beschreibt: Wer sagt was zu wem auf welchem Kanal mit welcher Wirkung?31 Diese lakonische Formulierung lässt sich ergo ohne Weiteres auf den Werbesektor konkretisieren: Der Werbetreibende teilt die Werbebotschaft dem Rezipienten bzw. Konsumenten über den Werbeträger mit und erzielt den entsprechenden Werbeeffekt. In der Realität stellt sich die Marktkommunikation naturgemäß komplexer dar. Hintergrund ist die Notwendigkeit der Verschlüsselung der Werbebotschaften in Wörter, Bilder oder etwa Filme.32 Von großer Bedeutung ist dabei die Dekodierbarkeit der verschlüsselten Inhalte, da ohne ein identisches Verständnis der Werbebotschaft von Werbetreibendem und Rezipienten der erwünschte Werbeeffekt nicht eintreten wird.33 Dies gilt umso mehr, als dieser Kommunikationsprozess etlichen Störsignalen ausgesetzt ist, zu denen beispielsweise eine selektive Wahrnehmung aufgrund momentaner Bedürfnisse oder vorhandene Einstellungen des Konsumenten gehören. Anders ausgedrückt: Der Empfänger wird die Werbeinhalte stets anhand eigener Erfahrungen und Wertevorstellungen interpretieren.
29 Das Wort „Kommunikation“ stammt vom Lateinischen „communis“ ab, was so viel wie „gemeinsam“ bedeutet, vgl. Kloss, Werbung, 13; Schweiger/Schrattenecker, Werbung, 6. Durch Kommunikation werden mithin Gedanken geteilt, um im wahrsten Sinne des Wortes Gemeinsamkeiten herzustellen. 30 Kloss, Werbung, 52; Lerche, Werbung und Verfassung, 12. 31 Lasswell, in: The Communication of Ideas, 37; vgl. zudem Kloss, Werbung, 12; Pepels, Marketing-Kommunikation, 21; Schweiger/Schrattenecker, Werbung, 6 f. 32 Kloss, Werbung, 13; Pepels, Marketing-Kommunikation, 21; Schweiger/Schrattenecker, Werbung, 12 ff. 33 Behrens, Werbung, 72 ff. 11
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4 a)
§ 2 Wirtschaftswerbung
Wirtschaftswerbung und Gesellschaft Wirtschaftswerbung als Ausgangspunkt sozialer Interaktion
Wirtschaftswerbung gilt zu Recht als Kulturfaktor einer modernen Gesellschaft.34 Sie hat Einfluss auf die Sprache und kann zudem Bildungs- und Erziehungseffekte35 mit sich bringen. Werbeinhalte sind überdies mittlerweile fester Bestandteil der Alltagskommunikation. Sie werden als allgemein bekannt vorausgesetzt, dienen – wie etwa das Thema „Wetter“ – häufig der Kontaktaufnahme zwischen Familienangehörigen, Freunden, Arbeitskollegen oder Nachbarn und stimulieren somit soziale Interaktion.36 Im Gegensatz zum Wetter ist Werbung jedoch ein reizbares Thema. Über sie wird gestritten oder Einigkeit erzielt.37
b)
Wirtschaftswerbung als Projektionsfläche des gesellschaftlichen Wandels
Neben dieser alltagskommunikativen Seite beinhaltet die Wirtschaftswerbung einen weiteren gesellschaftsrelevanten Aspekt. Aufgrund der Tatsache, dass Werbung nur dann erfolgreich sein kann, wenn sie sich stets den Marktverhältnissen und den Wünschen der Verbraucher anpasst,38 fungiert sie nämlich auch als Spiegel des gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Wandels und stellt somit eine Dokumentation des jeweiligen Zeitgeistes dar.39 Sichtbar wird dies etwa in der Retrospektive der Entwicklung der Wirtschaftswerbung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, die man mit Schnibben40 in fünf Phasen einteilen kann. Die erste Phase umfasst die Nachkriegszeit, welche vor allem von Güterknappheit geprägt war. Dementsprechend sah die Nachkriegswerbung i. d. R. eine Abgrenzung zu Konkurrenzprodukten ebenso wenig vor wie eine
34 Zurstiege, in: Die Gesellschaft der Werbung, 121, 122. 35 Vgl. Kloss, Werbung, 10. 36 Möller, Gesellschaftliche Funktionen der Konsumwerbung, 126. 37 Vgl. Zurstiege, in: Die Gesellschaft der Werbung, 121, 128. 38 Vgl. Bergler, Werbung und Gesellschaft, 9; Ingenkamp, Werbung und Gesellschaft, 113; Zurstiege, in: Die Gesellschaft der Werbung, 121, 125. 39 Vgl. Ingenkamp, Werbung und Gesellschaft, 113; Schnibben, Spiegel vom 21. Dezember 1992, 114, 125: Werbung als „Kronzeuge gesellschaftlicher Veränderung“ und „Beweismittel sozialen Wandels“; Zurstiege, in: Die Gesellschaft der Werbung, 121, 136. 40 Der nachfolgende Abschnitt ist angelehnt an Schnibben, Spiegel vom 21. Dezember 1992, 114.
I Wirtschaftswerbung im Allgemeinen
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Herausstellung von Eigenschaften. Vielmehr beschränkten sich die Botschaften auf die Rückmeldung beim Verbraucher.41 Als die erste Nachfragewelle befriedigt war, flammte in den 1950er Jahren ein Konkurrenzkampf auf, der die Unternehmen dazu zwang, ihr Produkt von anderen abzugrenzen und hervorzuheben. Diese Werbung der zweiten Generation bediente sich allerdings noch einer eher sachlich-nüchternen Argumentation.42 In dem darauffolgenden Jahrzehnt kam es zu einem grundlegenden Wandel in der Werbekonzeption. Da wegen zunehmender Marktsättigung eine gewisse Konvertibilität vieler Produkte einsetzte, verloren rationale Argumente an Überzeugungskraft. Die Werbeindustrie reagierte auf diese Entwicklung mit Anzeigen und Spots, die neben der Anpreisung von Produkten auch Leitbilder verkauften.43 Werbung der dritten Art beinhaltete Lifestyle und Aufklärung. In der Zeit der „Hippies“ und „68er“ griff sie zudem erstmalig die Ideale einer neuen, jüngeren Generation auf.44 Die einsetzende Werbeflut führte allerdings nicht nur zu einer gewissen Immunität der Verbraucher gegen die meisten Werbeinhalte, sondern auch zu einer erheblichen gesellschaftlichen Missbilligung und Ablehnung. Während sich die Nachkriegsjugend von den Eltern emanzipierte, zwangen diese Umstände die Werbetreibenden ebenfalls zu einem Befreiungsschlag. Werbung wurde selbstsicherer, unterhaltsamer, ironischer, teilweise sogar zu einer gewissen Art „Antiwerbung“.45 Die seit Mitte der 1980er aufkommende Werbung der vierten Generation stand somit unter dem Motto: „Wer tolle Werbung macht, macht auch gute Produkte.“46 Werbung der fünften Art verfolgte wiederum einen völlig anderen Ansatz. Anzeigen wurden zur Versinnbildlichung gesellschaftlicher Ziele und damit zum Ereignis. Eine Vorreiterrolle kam vor allem dem Modeunternehmen „Benetton“ mit seinen berühmten Werbebildern von Aids-Kranken, arbeitenden Kindern oder ölverschmierten Vögeln zu. Diese Motive brachten in den 1990er Jahren die heile Werbewelt ins Wanken, indem sie die Produkte nicht mehr mit bunten und fröhlichen Farben garnierten, sondern sich mit der harten Realität und dem Leid der Menschheit auseinandersetzten. Mehr als je zuvor wurde deutlich: „Nicht das Werbebild steuert das psychische Verhalten der Menschen, sondern der ZivilisatiZ. B. schlicht „Persil“ oder „Es gibt wieder Sunlicht-Seife“. Z. B. „Eterna – mit regulierbarer Kragenweite“ oder „Fewa hält die Wohnung rein“. Z. B. „Freude am Leben – Martini“ oder „Stuyvesant – Der Duft der großen weiten Welt“. Kloss, Werbung, 48; z. B. „1968 im Afri-Cola Rausch“. So bekannte sich beispielsweise „Volkswagen“ in einem amateurhaften Schwarz-WeißSpot dazu, Geld lieber in Autos zu investieren als in Werbung. 46 Schnibben, Spiegel vom 21. Dezember 1992, 114, 118. 41 42 43 44 45
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§ 2 Wirtschaftswerbung
onsstil spiegelt sich in der Werbung wider – also die Wünsche, Ideen, Hoffnungen und auch die Realitäten der heute lebenden Menschen.“47 Dies zeigt auch die aktuelle Werbeentwicklung. In Zeiten von Klimawandel und immer knapper werdenden natürlichen Ressourcen ist das ökologische Bewusstsein der Verbraucher in den letzten Jahren enorm gestiegen. Parallel hierzu lässt eine wachsende Fokussierung der Werbung auf dieses Thema beobachten: Stromanbieter werben vermehrt mit „Ökostrom“. Autohersteller stellen vor allem die spritsparenden Eigenschaften und geringen CO2-Werte ihrer Kraftfahrzeuge heraus.
II II
1
Wirtschaftswerbung im Besonderen Wirtschaftswerbung im Besonderen
Beteiligte am Werbeprozess
Der Werbeprozess spielt sich aufgrund der stetig zunehmenden Internationalisierung der Unternehmen und des damit einhergehenden wachsenden Konkurrenzdrucks sowie der immer komplexer werdenden Medienlandschaft i. a. R. nicht mehr nur im Verhältnis zwischen Werbetreibendem und den Werbeadressaten ab. Vielmehr sind häufig neben den die Werbung durchführenden Medienunternehmern, wie Rundfunkgesellschaften bzw. -anstalten, Zeitungs-, Plakat- oder Internetunternehmern, auch professionelle Agenturen zwischengeschaltet. Zu diesen zählen zum einen sog. Kreativagenturen, die mit Hilfe von Grafikern und Textern den strategischen und kreativen Part der Werbegestaltung übernehmen, zum anderen aber gleichfalls die sog. Mediaagenturen, welche für die Planung und den Einkauf der Medien verantwortlich zeichnen. Nach wie vor gibt es zudem – trotz der wachsenden Spezialisierung in diesem Bereich – beide Geschäftsfelder abdeckende sog. Full-Service-Agenturen.
2 Werbeformen Die Werbung ist ein sehr pluriformes Phänomen. Folglich gibt es ein großes Bukett an Klassifikationsmöglichkeiten.
47 Nickel, Werbung und Moral, 21.
II
a)
Wirtschaftswerbung im Besonderen
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Werbeobjekt und -subjekt
Zunächst kann zwischen Werbeobjekten und -subjekten unterschieden werden. Unter Werbeobjekten versteht man die beworbenen Sach- und Dienstleistungen. Der Begriff der Werbesubjekte umfasst dagegen die Werbeadressaten.
b)
Werbe-Submix
Des Weiteren wird Werbung häufig in „Werbung above the line“ und in „Werbung below the line“ unterteilt.48 Zur ersten Kategorie gehören neben der klassischen Werbung auch Public Relations, also Öffentlichkeitsarbeit i. w. S., die nicht allein mit Pressearbeit gleichgesetzt werden kann, sondern die Pflege und Förderung der Beziehungen eines Unternehmens insgesamt beinhaltet.49 „Werbung below the line“ ist hingegen der Oberbegriff für alle nicht-klassischen Werbeformen. Hierzu gehören hauptsächlich das Direct Marketing50, das Sponsoring51 und das Product Placement. Insbesondere letzteres wird immer wieder als Unterfall der sog. Schleichwerbung52 bzw. getarnten Werbung gesehen.53 Auch wenn im Allgemeinen 48 Kloss, Werbung, 5; Schweiger/Schrattenecker, Werbung, 125 f. 49 Freilich stellt die Pressearbeit, zu der z. B. die Herausgabe von Pressemitteilungen oder das Abhalten von Pressekonferenzen zählen, nichtsdestotrotz den Schwerpunkt der Public Relations-Aktivitäten dar. Allerdings fallen auch Veranstaltungen wie ein „Tag der offenen Tür“ oder Betriebsbesichtigungen unter den Begriff der Public Relations, vgl. Kloss, Werbung, 174 f. Zur Abgrenzung zu gesellschaftskritischer Unternehmenswerbung siehe Hartwig, ZUM 1998, 782, 788 f. 50 Direct Marketing stellt im Gegensatz zu den anderen genannten Werbekategorien eine Form der Individualkommunikation dar, bei der eine interaktive Beziehung zum Werbeadressaten aufgebaut werden soll, um diesen zu einer individuellen, messbaren Reaktion zu veranlassen, vgl. Kloss, Werbung, 510. Unter diesen Begriff fallen somit etwa Telefonwerbung, Teleshopping, Online-Werbung (z. B. per E-Mail oder in Form des sog. Retargetings, welches abschätzig auch „Verfolgerwerbung“ genannt wird) oder aber i. w. S. auch die Haushaltswerbung. 51 Für den Bereich des Rundfunks legaldefiniert in § 2 Abs. 2 Nr. 9 RStV. Im Allgemeinen versteht man darunter die Zuwendung von Finanz-, Sach- und/oder Dienstleistungen vom Sponsor an eine Einzelperson, eine Gruppe von Personen oder eine Organisation bzw. Institution aus dem gesellschaftlichen Umfeld des Sponsors (Gesponserter) gegen die Gewährung von Rechten zur kommunikativen Nutzung von Personen bzw. Organisationen und/oder Aktivitäten des Gesponserten, vgl. Hermanns/Marwitz, Sponsoring, 44. Zudem lassen sich verschiedene Formen des Sponsorings, wie etwa das Sportsponsoring oder das Sozialsponsoring, unterscheiden. 52 Im Allgemeinen wird unter dem Begriff der Schleichwerbung Werbung verstanden, bei der die werbliche Absicht gegenüber dem Umworbenen getarnt wird, vgl. Schweiger/ Schrattenecker, Werbung, 418. 53 Stellvertretend für viele Kreile, in: Fezer/Büscher/Obergfell I, S 5 Rn. 23. 15
16
§ 2 Wirtschaftswerbung
die Grenzen fließend sind, haben die Landesgesetzgeber aber zumindest für den Bereich des Rundfunks und der Telemedien differenziert. Gemäß der in § 2 Abs. 2 Nr. 8 und Nr. 11 RStV niedergelegten Legaldefinitionen bildet die „Kennzeichnung“ das wesentliche Unterscheidungskriterium. Während Schleichwerbung den Werbezweck der Erwähnung oder Darstellung von Waren, Marken etc. in Sendungen mangels Anzeige verschleiert, liegt Product Placement vor, wenn eine Kennzeichnung der entsprechenden Maßnahme erfolgt. Getarnte Werbung kann jedoch genauso gut in anderen Bereichen, etwa in den Printmedien, auftauchen.54 Vor dem Hintergrund der Verschleierungstaktik werden Schleichwerbung und – jedenfalls vor der Einführung der rundfunkrechtlichen Kennzeichnungspflicht – auch Produktplatzierungen zum Teil als manipulativ attribuiert.55
c)
Werbemittel und -träger
Ebenso lässt sich Werbung in Werbemittel und -träger gliedern. Werbemittel stellen Maßnahmen dar, mit deren Hilfe der Werbetreibende auf den Werbeadressaten einzuwirken versucht, um den erwünschen Werbeeffekt zu erzielen. Sie sind am Ende nichts anderes als gestalterische Konkretisierungen der Werbebotschaft.56 Typische Werbemittel sind etwa Plakatgestaltungen, Rundfunkspots und Zeitungsanzeigen. Werbeträger fungieren indes als Vehikel für die Werbemittel.57 Zu ihnen gehört neben den Printmedien und dem Rundfunk zunehmend auch das Internet.
d)
Zielrichtung der Werbung
Ein weiteres Unterscheidungskriterium bildet die Zielrichtung der Werbung: Einführungswerbung dient der Einführung eines neuen Produktes am Markt, Erhaltungswerbung der Sicherung des Absatzes, Erinnerungswerbung58 der Festset54 Vgl. Hoeren, in: Fezer/Büscher/Obergfell II, § 5a Rn. 220 ff. 55 Degenhart, in: FS Lukes, 287, 303; Schweiger/Schrattenecker, Werbung, 418. 56 Behrens, Werbung, 196. Die wichtigsten gestalterischen Elemente von Werbebotschaften sind Bilder, Bewegtbilder, Wörter, Musik und Farben. 57 Behrens, Werbung, 166. 58 Für den Bereich der Heilmittelwerbung ist der Begriff Erinnerungswerbung in § 4 Abs. 6 S. 2 HWG legaldefiniert. Danach liegt eine Erinnerungswerbung vor, „wenn ausschließlich mit der Bezeichnung eines Arzneimittels oder zusätzlich mit dem Namen, der Firma, der Marke des pharmazeutischen Unternehmers oder dem Hinweis „Wirkstoff:“ geworben wird.“ Diese Definition wurde vom Gesetzgeber mit Blick auf die Folge der Entbindung von gewissen inhaltlichen Anforderungen an die entsprechende Heilmittelwerbung sehr eng gefasst. Im Allgemeinen werden – entsprechend der obigen Ausführungen – unter den Begriff Erinnerungswerbung jegliche Werbemaßnahmen subsumiert, die an vorangegangene Werbeinhalte anknüpfen und dafür sorgen sollen, dass das Produkt beim
II
Wirtschaftswerbung im Besonderen
17
zung im Gedächtnis der Konsumenten und Expansionswerbung der Vergrößerung des Absatzes.59 Letztlich geht es bei allen genannten Kategorien jedoch um die Kaufempfehlung einer Ware bzw. um die Anregung der Inanspruchnahme einer Dienstleistung, so dass diese nicht mehr als „Akzentuierungen einer gemeinsamen Zielrichtung“60 sind.
e) Werbewirkung Schließlich kommt auch der Werbewirkung Unterscheidungskraft zu. Im Wesentlichen wird zwischen informativer und suggestiver Werbung differenziert. Informative Werbemethoden, wie beispielsweise die Herausstellung von Produkteigenschaften oder Preisangaben, wirken auf rationaler Ebene.61 Im Gegensatz dazu sprechen suggestive Werbeappelle den emotionalen, teils unbewussten Bereich beim Adressaten an.62 Trotz dieser Eigenschaft darf Suggestivwerbung nicht mit (total-)subliminaler „Werbung“ verwechselt werden, welche sich unterhalb der Schwelle der bewussten Wahrnehmbarkeit abspielt, bei welcher der potentielle Konsument also noch nicht einmal bemerkt, dass er einem Reiz ausgesetzt wird.63 Bestes Beispiel hierfür sind lediglich Sekundenbruchteile andauernde „Werbeeinblendungen“ mit sehr geringem Lichteinsatz in Kino- oder Fernsehfilmen.64 Solche Beeinflussungsversuche sind manipulativ und fallen daher aus dem Werbebegriff.65 In der Praxis werden informative und suggestive Werbeformen vielfach miteinander verknüpft. Dementsprechend ist eine Trennung nicht immer möglich.
Werbepublikum nicht in Vergessenheit gerät. Dementsprechend können auch die bloße Wiederholung von bereits geschalteten und über die bloße Nennung der Marke oder der Ware hinausgehenden Anzeigen oder an vorherige Werbemaßnahme anknüpfende, jedoch mit einem zusätzlichen Inhalt (z. B. Auszeichnung des Produkts) ausgestattete Werbeappelle in diese Kategorie fallen. 59 Vgl. Kaiser, in: Werbung, 1, 8. 60 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 22. 61 Kaiser, in: Werbung, 183, 184 f.; Lerche, Werbung und Verfassung, 18 f.; Zsöks, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 9. 62 Kaiser, in: Werbung, 183, 184; Lerche, Werbung und Verfassung, 19 f.; Zsöks, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 9. 63 Vgl. Zsöks, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 7 f. 64 Sog. Subliminal Projection. 65 Schweiger/Schrattenecker, Werbung, 418. 17
18
§ 2 Wirtschaftswerbung
3 Werbebotschaften Entscheidend für die rechtliche Bewertung und Einordnung von Wirtschaftswerbung ist deren jeweiliger Aussagegehalt. Trotz der schier unerschöpflichen inhaltlichen Ausgestaltungsmöglichkeiten folgen Werbebotschaften einem charakteristischen Schema. Mit Lerche ist nämlich zu konstatieren, dass sämtliche Werbeaussagen einen Sach- und Richtungsbezug aufweisen.66 Sachlich enthält jede werbliche Botschaft einen Hinweis auf ein bestimmtes Produkt und/oder den Produzenten. Darüber hinaus zielen Werbemaßnahmen auf den Erwerb oder die entgeltliche Inanspruchnahme des jeweiligen Produkts durch die entsprechende Zielgruppe ab.67 Dieser Kerninhalt, der allen Werbebotschaften inhärent ist, wird oftmals zusätzlich von informativen und/oder suggestiven Gehalten flankiert, welche das Motiv für die gewünschte Verhaltensweise liefern.68 Dabei sollen die informativen Aussagen vornehmlich positive Eigenschaften und den Preis des beworbenen Produktes herausstellen. Die suggestiven Elemente nehmen dagegen den Werbeadressaten als solchen ins Visier, indem sie auf dessen physiologische, soziale oder etwa egozentrische Bedürfnisse eingehen. Bestes Beispiel hierfür ist Imagewerbung, bei der Marken, Firmen oder Produkte mit Leitbildern, Prestige, einem bestimmten Nimbus o. Ä. aufgeladen werden.69 Die zum Grundgehalt gehörenden Kauf- bzw. Inanspruchnahmeempfehlungen erfolgen hierbei oftmals sehr dezent, da sie unabhängig von der Werbeform nicht immer expressis verbis und unmittelbar geäußert werden. Letztlich erschließen sie sich jedoch aus dem Empfängerhorizont und den Begleitumständen. Denn fast alle Werbemaßnahmen befinden sich in einem Werbeumfeld, so dass sie aus dem Blickwinkel der potentiellen Konsumenten stets als konkludente und/oder mittelbare Empfehlungen wahrgenommen werden.70 Was sonst, fragt sich der Adressat, will das werbende Unternehmen damit bezwecken? 66 Lerche, Werbung und Verfassung, 17 f. 67 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 24 bricht den Kerninhalt auf folgende treffende Formulierung herunter:„Kaufen Sie das Produkt X!“; Lerche, Werbung und Verfassung, 17 f. 68 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 25: „Kaufen Sie das Produkt X, weil…“; Lerche, Werbung und Verfassung, 18 ff. 69 Vgl. Kloss, Werbung, 134. 70 So häufig etwa bei klassischer Suggestivwerbung, aber auch bei Public Relations-Maßnahmen, die schon aufgrund der inhaltlichen Gegenstände der Öffentlichkeitsarbeit so gut wie nie einen direkten und ausdrücklichen Kauf- bzw. Inanspruchnahmeappell beherbergen werden.
II
Wirtschaftswerbung im Besonderen
19
Besonders problematisiert wird dieser Aspekt bei der bloßen Verwendung von Markenzeichen und -namen mit der Begründung, dass diese für sich genommen keinen dem obigen Grundschema entsprechenden Aussagegehalt haben.71 Freilich gilt an dieser Stelle jedoch nichts anderes als das eben Gesagte. Auch diese Darstellungen befinden sich in einem Werbeumfeld – etwa auf Plakaten, Banden oder Trikots – und sind demnach aus dem Empfängerhorizont – jedenfalls in letzter Konsequenz – als konkludente Kauf- bzw. Inanspruchnahmeempfehlung zu werten.72 Hatjes Begründungsansatz, dass „die Präsentation eines Marken- oder Herstellernamens auf die Erinnerung an vorhergehende Werbemaßnahmen Bezug [nimmt], mit deren Hilfe der Konsument den isolierten Hinweis auf ein Produkt oder einen Produzenten zu einer inhaltlich vollständigen Werbeaussage komplettieren kann“73, verkennt hingegen zum einen die Heterogenität der Kenntnisse der verschiedenen Adressaten über vergangene Werbemaßnahmen. Der durchschnittlich informierte und verständige Verbraucher wird nämlich häufig angesichts der unerschöpflichen Werbeflut nicht in der Lage sein, jede beliebige Werbeaussage zu vervollständigen. Damit stellt er lediglich einen lückenhaften Grundsatz auf, der eine uneinheitliche Bewertung zur Folge hat. Zum anderen beinhaltet Hatjes Gedankengang mit dem Abstellen auf vorherige Werbemaßnahmen eine auf unzulässigem Auslegungsmaterial beruhende Fremdinterpretation.74 Hinzu kommt, dass – wie gerade angedeutet – umfangreich gestaltete, über die bloße Verwendung von Markenoder Herstellernamen hinausgehende Werbemaßnahmen häufig ebenso keinen expliziten Kaufappell implizieren. Eine Wesensverschiedenheit zwischen bloßer Darstellung eines Symbols und umfassenderer Werbung, die eine andere Beurteilung rechtfertigt, liegt jedenfalls nicht vor. I. Ü. ist eine solche Konstruktion – wie gesehen – gar nicht notwendig. Die einzige Werbeform, welche sich nicht als Werbung geriert und sich somit außerhalb eines werblichen Umfelds präsentiert, ist die Schleichwerbung durch den dramaturgischen Einbau von Markenartikeln. Folglich greift die obige Argumentation nicht ausnahmslos. Indes lässt sich auch hier aus der Sicht eines objektiven Empfängers eine Kauf- bzw. Inanspruchnahmeaufforderung ausfindig machen. Und zwar entsteht diese aufgrund eines Umstandes, der bei den anderen Werbeformen 71 Vgl. Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 25 f. 72 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 26, 84 merkt zutreffend an, dass bei Etiketten im Einzelfall geprüft werden muss, ob diese lediglich auf den Verpackungsinhalt hinweisen oder ob sie zusätzlich einen werblichen Aussagegehalt enthalten. 73 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 25 f., 84 – „qualifizierter Werbeappell“; ebenso Drettmann, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 116 f. 74 Vgl. hierzu Ahrens, JZ 2004, 763, 769 f.; Schuppert, AfP 2003, 113, 115. 19
20
§ 2 Wirtschaftswerbung
in diesem Zusammenhang nur subsidiär greift: Der Verschmelzung des Hinweises auf das entsprechende Produkt mit (meist) suggestiven, imagetransferierenden Gehalten. Anders ausgedrückt: In der Lieferung eines Grundes steckt immer auch eine gewisse Empfehlung.
4 Werbewirkungsmodelle Die Ausgestaltung der Werbeaussage steht freilich im Dienste des Werbeerfolgs: der Kauf der beworbenen Ware bzw. die Inanspruchnahme der angepriesenen Dienstleistung. Die empirische Sozialforschung sowie die Sozialpsychologie haben im Laufe der Zeit etliche Wirkungsmodelle und -formeln zur Auflösung des Verhältnisses zwischen Werbemaßnahme und Werbeerfolg entwickelt. Früher vorherrschend war das sog. Stimulus-Response-Modell.75 Es unterstellt, dass Werbereize die Adressaten unmittelbar und in gleicher Weise erreichen sowie die gleichen Wirkungen entfalten. Heute wird dieser Ansatz als zu trivial abgelehnt. Das Modell vernachlässigt nämlich die verschiedenen Werbewirkungsbedingungen und wird dem äußerst komplexen individuellen Koordinatensystem, das zur Kaufentscheidung führt, nicht gerecht.76 In der Folge wurden neue, vielschichtigere Wirkungsmodelle, wie das sog. Stimulus-Organism-Response-Modell77 oder verschiedene sog. Involvement-Modelle78, entwickelt, um den Weg vom Reiz bis zur Kaufentscheidung nachzuvollziehen. Letztlich lässt sich aber immer nur das Resultat des Kaufentscheidungsprozesses und nicht dieser selbst beobachten, so dass es bis heute keine gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Art und Weise der Werbewirkungen gibt.79 So ist es auch nicht verwunderlich, dass sich die Ergebnisse verschiedener Studien zum Teil widersprechen oder statistisch nicht signifikant sind. Mit Blick auf die angeblich manipulative Wirkung steht besonders die oben beschriebene Suggestivwerbung in der Kritik. So wird vorgebracht, der Adressat derartiger Webebotschaften sei in Wahrheit wegen der Beeinflussung seines Unterbewusstseins nicht mehr Herr seiner Entscheidung, nehme aber an, er habe frei 75 Dazu Bergler, Werbung als Untersuchungsgegenstand der empirischen Sozialforschung, 12; vgl. Huth/Pflaum, Einführung in die Werbelehre, 43. 76 Vgl. Kloss, Werbung, 85 f. 77 Vgl. Huth/Pflaum, Einführung in die Werbelehre, 43. 78 Vgl. Kloss, Werbung, 92 ff. 79 Vgl. Behrens, Werbung, 271 ff.; Grunert/Stupening, Werbung, 47 ff.; Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 26.
II
Wirtschaftswerbung im Besonderen
21
und selbständig gehandelt.80 An dieser Stelle gilt indes nichts anderes als das eben Festgestellte. Neben die Tatsache, dass Werbung per definitionem ein zwangsfreies Kommunikationsinstitut darstellt, tritt vor allem der Umstand, dass die konkrete Relation zwischen Reiz und Kaufreaktion wissenschaftlich nicht abschließend erforscht ist. Zudem sprechen drei weitere Aspekte gegen diese These. Zum einen führt i. d. R. erst eine – untrennbare – Gemengelage aus Bewusstsein und Unterbewusstsein, konkret aus rationalen Informationen und suggestiv vermittelten Emotionen, zur erwünschten Kaufentscheidung.81 Zum anderen muss – wie gesehen – die suggestiv verschlüsselte Botschaft vom Adressaten entschlüsselt werden können, um wirksam zu sein. Zum Dritten gilt als gesichert, dass Werbung Bedürfnisse im Verbraucher nie wecken, sondern diese werbungsvorgegebenen Faktoren lediglich zu einem Bedarf konkretisieren kann.82 Werbung kann Verhaltensweisen mithin nur beeinflussen, sofern der Umworbene dazu bereit ist. Ein Grund für diese Grenze der Beeinflussbarkeit ist u. a. folgender trivialer Fakt: Werbung kann keine Sanktionen ausüben.83 Jeder hat folglich die Möglichkeit, den Werbeappel abzulehnen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass tatsächlich mehr nicht gekauft als gekauft wird.84 Die Vorstellung, der Konsument erwerbe quasi ferngesteuert Güter, die er gar nicht benötige,85 erscheint damit fernliegend. Dies gilt hingegen nicht für die zu Recht umstrittenen (total-)subliminalen Beeinflussungsversuche, weil sie einen direkten und ungefilterten Reiz-Reaktions-Ablauf hervorrufen wollen. Es ist – im Gegensatz zu den überschwelligen Werbemethoden – allerdings äußerst zweifelhaft, ob derartige Maßnahmen überhaupt irgendeine Wirkung entfalten, da auch diesbezüglich wissenschaftlich fundierte Nachweise fehlen.86
80 Vgl. von Rosenstiel/Kirsch, Psychologie der Werbung, 23 ff., 234. 81 Vgl. Mähling, Werbung, Wettbewerb und Verbraucherpolitik, 249. 82 Kloss, Werbung, 77 f., 130; Wilhelm, Werbung als wirtschaftstheoretisches Problem, 75. 83 Kloss, Werbung, 7. 84 Kloss, Werbung, 7. 85 Vgl. wegweisend Packard, Die geheimen Verführer, 14, 20, der die Verbraucher als „Marionetten“ und die Werbeleute als „tiefenpsychologische Manipulatoren“ bezeichnet. 86 Lerche, Werbung und Verfassung, 29; Schweiger/Schrattenecker, Werbung, 418. 21
Dogmatischer Überblick zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG
§3
§ 3 Dogmatischer Überblick zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit
Als Grundlage für die rechtliche Bewertung soll vornehmlich die gefestigte und in der Praxis relevante Rechtsprechung des BVerfG zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit dienen. Nichtsdestotrotz ist auch die Schilderung von teils abweichenden Stimmen aus der Literatur zum besseren Verständnis späterer Begründungsmuster unentbehrlich.
I
Subjektiv- und objektivrechtlicher Gehalt der Meinungsfreiheit
I Subjektiv- und objektivrechtlicher Gehalt der Meinungsfreiheit
Die Meinungsfreiheit ist zunächst als subjektives Freiheitsrecht gegen staatliche Beeinträchtigungen zu begreifen. Dieser Abwehrcharakter ist allgemein anerkannt87 und entspricht der liberalen Tradition der Grundrechte im GG. Darüber hinaus hat die Meinungsfreiheit nach Ansicht vieler Autoren88 und des BVerfG89 eine objektive Komponente, die ihre Daseinsberechtigung aus der konstitutiven Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG für den demokratischen Staat bezieht.90 Denn nur durch freie Meinungsbildung und öffentliche Auseinanderset87 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 100; Hoffmann-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 39; Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 47; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 3. 88 Stellvertretend für viele Hoffmann-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 40 ff.; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 9. 89 BVerfGE 7, 198, 204 f.; 57, 295, 319 f. 90 BVerfGE 7, 198, 208; 62, 230, 247; 82, 272, 281; 93, 266, 292 f.; Bethge, in: Sachs, Art. 5 Rn. 17; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 106; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 3; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 9. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Arnold, Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4_3
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§ 3 Dogmatischer Überblick zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit
zung mit politischen Themen durch ablehnende oder billigende Äußerungen kann eine politische Willensbildung des Volkes i. S. d. Art. 21 Abs. S. 1 GG stattfinden und die Staatsgewalt tatsächlich vom Volke ausgehen, vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG. In der Folge führt die objektiv-rechtliche Dimension zu einer Ausstrahlungswirkung des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG auf die gesamte Rechtsordnung.91 Legislative, Exekutive und Judikative müssen somit das Grundrecht bei der Schaffung, Anwendung und Auslegung einfachen Rechts berücksichtigen. Dies beinhaltet vor allem die staatliche Gewährleistungsaufgabe, Kommunikationsvorgänge offen zu halten und vor Meinungsmonopolen zu schützen.92 Trotz der unterschiedlichen Zielrichtungen der beiden Dimensionen bilden sie keinen Gegensatz, sondern bedingen und unterstützen sich wechselseitig. Dementsprechend zieht die objektiv-rechtliche Wirkung sogar eine Verstärkung der Geltungskraft der individuellen Seite der Meinungsfreiheit nach sich.93 Letztendlich stehen beide Dimensionen gleichberechtigt nebeneinander.
II
Das Verhältnis der Meinungsfreiheit zu anderen Grundrechten
II Das Verhältnis der Meinungsfreiheit zu anderen Grundrechten
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a)
Die Meinungsfreiheit im Kontext der Kommunikationsgrundrechte
Die Kommunikationsgrundrechte im Allgemeinen
Die Meinungsfreiheit zählt im Allgemeinen zusammen mit der Informationsfreiheit und den Medienfreiheiten des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG zu den klassischen Kommunikationsgrundrechten.94 In die Kategorie der „Kommunikationsgrundrechte i. w. S.“ fallen neben der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit, der Glaubensfreiheit und der
91 BVerfGE 7, 198, 205 f.; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 107; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 11. 92 Hoffmann-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 41; Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 47; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 11. 93 Hoffmann-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 40; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 10. 94 Vgl. Hoffmann-Riem, Kommunikationsfreiheiten, 29; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 1 f.
II Das Verhältnis der Meinungsfreiheit zu anderen Grundrechten
25
Versammlungsfreiheit, auch die Vereinigungs- und insbesondere Koalitionsfreiheit, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis sowie das Petitionsrecht.95 All diese Rechte weisen einen unmittelbaren Bezug zur geistigen Kommunikation auf. Sie sind zweckmäßig dadurch verkettet, dass sie die geistige Verständigung, deren Inhalt, bestimmte Ausübungsformen und/oder die Verbreitung auf anfälligen Wegen vollumfänglich schützen und damit existenzielle Bedeutung für die freiheitliche Demokratie haben.96 Das Verhältnis der Meinungsfreiheit zu den anderen Kommunikationsgrundrechten ist äußerst komplex und teilweise sehr umstritten. Gleichwohl ist die Beleuchtung dieser Thematik für die Abgrenzung der jeweiligen Schutzbereiche unerlässlich. Zudem können an späterer Stelle daraus wertvolle Erkenntnisse für den Streit um die Einbeziehung der Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit gewonnen werden. Die nachfolgenden Ausführungen sollen deshalb die verschiedenen Konzepte skizzieren und einen Überblick über das kommunikationsgrundrechtliche Beziehungsgeflecht verschaffen.
b)
Das Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. GG
Die Informationsfreiheit statuiert die Befugnis, sich aus allgemein zugänglichen Quellen zu unterrichten, und versteht sich somit als Rezipientenrecht.97 Die Meinungsfreiheit dagegen ist auf den Kommunikator zugeschnitten. Damit unterscheiden sich die beiden Grundrechte zwar in ihrer Zielrichtung, stehen aber trotzdem in einem Komplementärverhältnis zueinander,98 da die Informationsfreiheit letztlich den Empfang der Botschaften des Meinungsträgers sichert und damit ebenso Voraussetzung der freien Meinungsbildung ist.
c)
Das Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG
Über das Verhältnis der Medienfreiheiten zur Meinungsfreiheit besteht in Literatur und Rechtsprechung seit Langem ein Dissens, der letzten Endes auf unterschiedlichen Auffassungen zur Gewichtung der objektiven und individuellen Grundrechts-
95 Vgl. Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 93 f.; Hufen, Staatsrecht II, 3. Teil 4. Abschnitt Rn. 1 f. 96 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 94. 97 Vgl. BVerfGE 27, 71, 81; Hoffmann-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 97; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 14. 98 Vgl. Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 2; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 33. 25
26
§ 3 Dogmatischer Überblick zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit
wirkungen fußt.99 So nimmt die wohl herrschende Literatur100 unter Betonung der individuellen Seite der Mediengrundrechte ein Spezialitätsverhältnis zwischen Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. und S. 2 GG an, in dessen Rahmen die Meinungsfreiheit die Stellung als „Stammgrundrecht“101, „herrschendes Ausgangsgrundrecht“102, „Grundtatbestand“103 bzw. „konstitutionelle Basis“104 einnimmt. Anders ausgedrückt: Die speziellen Kommunikationsformen sollen das allgemeine Grundrecht auf Meinungsfreiheit verdrängen. Andere Stimmen in der Literatur sowie das BVerfG sehen zwar einen gegenseitigen Bezug zwischen Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. und S. 2 GG, gehen hingegen von einem Aliudverhältnis aus.105 Demzufolge fielen etwa im Bereich der Presse die inhaltlichen Meinungsäußerungen allein unter die Meinungsfreiheit und nur, „wenn es um die im Pressewesen tätigen Personen in Ausübung ihrer Funktion, um ein Presseerzeugnis selbst, um seine institutionell-organisatorischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen sowie um die Institution einer freien Presse überhaupt geht“106, sei die Pressefreiheit einschlägig. Entsprechendes muss folgerichtig auch für den Rundfunk gelten.107 Hintergrund ist die stärkere Akzentuierung des objektiv-rechtlichen Elements des Grundrechtsschutzes durch die Medienfreiheiten. Aufgrund der enormen Massenwirkung der Medien und den starken Konzentrationstendenzen erwachse nämlich aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ein Ausgestaltungsauftrag zur Sicherstellung einer die Meinungsvielfalt gewährleistenden Medienordnung.108
99 Vgl. zum Streit Papier, Der Staat 13 (1974), 399, 401 ff.; 18 (1979), 422, 425 ff. 100 Vgl. Bullinger, AöR 108 (1983), 161, 183; Hufen, Staatsrecht II, 3. Teil 4. Abschnitt Rn. 2, § 25 Rn. 14; Scholz, in: FS Löffler, 355; Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 5 f. 101 Hufen, Staatsrecht II, 3. Teil 4. Abschnitt Rn. 2. 102 Bullinger, AöR 108 (1983), 161, 183. 103 Scholz, in: FS Löffler, 355. 104 Scholz, in: FS Löffler, 355. 105 Vgl. BVerfGE 85, 1, 12 f.; 86, 122, 128; Hoffmann-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 142; Schemmer, in: BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 20. 106 BVerfGE 85, 1, 12 f.; entsprechend BVerfGE 86, 122, 128. 107 Vgl. Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 14; Schemmer, in: BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 20. 108 BVerfGE 12, 205, 260; 73, 118, 152 f.; BVerfG NVwZ 2007, 1287, 1288 f.; Hoffmann-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 156 f. argumentiert darüber hinaus mit dem Wortlaut „wird gewährleistet“.
II Das Verhältnis der Meinungsfreiheit zu anderen Grundrechten
d)
27
Das Verhältnis zu Art. 5 Abs. 3 GG
Weniger umstritten ist das Verhältnis der Meinungsfreiheit zur Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Rechtsprechung109 und Literatur110 gehen diesbezüglich weit überwiegend von einer Gesetzeskonkurrenz aus. Bei künstlerischen bzw. wissenschaftlichen Meinungsäußerungen ist Art. 5 Abs. 3 GG folglich stets spezieller.
e)
Das Verhältnis zu Art. 4 Abs. 1 und 2 GG
Ebenso verhält es sich mit religiösen Meinungsäußerungen. Hinsichtlich des religiösen Bekenntnisses wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG als lex generalis hinter Art. 4 Abs. 1 und 2 GG zurücktritt.111 Wer also seinen Glauben nach außen verkündet, kann sich allein auf die Glaubensfreiheit berufen.
f)
Das Verhältnis zu Art. 8 GG
Kollektive Meinungskundgaben sind im Rahmen von Versammlungen typische Begleiterscheinungen, so dass die Abgrenzung der beiden Schutzbereiche häufig erforderlich sein wird. Die Beziehung der beiden Grundrechte ist dabei ebenfalls nicht unumstritten. Anknüpfend an die eben im Verhältnis zu den Medienfreiheiten geschilderte Dogmatik im Bereich der Kommunikationsgrundrechte nimmt ein Teil der Literatur112 auch an dieser Stelle ein Spezialitätsverhältnis an. In einer Versammlung geäußerte Meinungskundgaben fielen danach gleichfalls unter Art. 8 Abs. 1 GG, da bereits im Versammeltsein eine Meinungsäußerung liege und die beiden Aspekte folglich untrennbar miteinander verbunden seien.113
109 BVerfGE 30, 173, 191 f.; 81, 298, 305 f. 110 Vgl. etwa Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 13; Kempen, in: BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 96; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 45; Scholz, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Abs. 3 Rn. 10 ff. 111 Vgl. BVerfGE 32, 98, 107; Herzog, in: Maunz/Dürig I, Art. 4 Rn. 83; Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 13; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 45; Wendt, in: von Münch/Kunig I, Art. 5 Rn. 115. 112 Vgl. Ehrentraut, Versammlungsfreiheit im amerikanischen und deutschen Verfassungsrecht, 132 ff.; Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 14; Kniesel/Poscher, NJW 2004, 422, 424. 113 Kniesel/Poscher, NJW 2004, 422, 424. 27
28
§ 3 Dogmatischer Überblick zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit
Das BVerfG114 schlägt – im Einklang mit dem Großteil der Literatur115 – wiederum einen anderen Weg ein und geht von einer Idealkonkurrenz aus. Ist die Versammlung als solche betroffen, handelt es sich also um versammlungsspezifische Tätigkeiten, wie die Organisation oder die Veranstaltung, so soll einzig Art. 8 Abs. 1 GG einschlägig sein. Bezieht sich die staatliche Einmischung dagegen auf Meinungsinhalte, sei diese an der Meinungsfreiheit zu messen.
g)
Das Verhältnis zu Art. 9 Abs. 3 GG
Weniger umstritten ist das Verhältnis von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG zu Art. 9 Abs. 3 GG. Für Meinungsäußerungen in Tarifauseinandersetzungen ist Art. 9 Abs. 3 GG gegenüber Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG nach weit überwiegender Auffassung lex specialis.116
h)
Das Verhältnis zu Art. 10 GG
Dem BVerfG zufolge ist die Beziehung von Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis und der Meinungsfreiheit ebenso ausgestaltet, soweit ein Eingriff in das Recht der freien Meinungsäußerung gerade in der staatlichen Wahrnehmung und ggf. Verarbeitung der mit Mitteln der Kommunikation geäußerten Meinung liegt.117 Diese Haltung ist jedoch nicht unumstritten. So wollen einige Autoren im Falle einer behördlichen Beeinträchtigung von Meinungsäußerungen über Briefverkehr oder Telefon beide Grundrechte nebeneinander anwenden.118 Art. 10 GG soll dabei den Kommunikationsvorgang schützen und Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG den Aussagegehalt.
114 BVerfGE 82, 236, 258; 90, 241, 246. 115 Vgl. etwa Depenheuer, in: Maunz/Dürig II, Art. 8 Rn. 182; Hoffmann-Riem, in: AK-GG I, Art. 8 Rn. 21; Höfling, in: Sachs, Art. 8 Rn. 84, Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 47. 116 BVerfGE 28, 295, 310; Hufen, Staatsrecht II, § 37 Rn. 17; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 9 Rn. 32; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 45; a. A. Scholz, in: Maunz/Dürig II, Art. 9 Rn. 111, 335, der Idealkonkurrenz annimmt. 117 BVerfGE 113, 348, 364; so auch Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 10 Rn. 2. 118 Durner, in: Maunz/Dürig II, Art. 10 Rn. 211; Gusy, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 10 Rn. 42.
III Persönlicher Schutzbereich
i)
29
Das Verhältnis zu Art. 17 GG
Letzteres gilt laut weitgehend unbestrittener Ansicht entsprechend jedenfalls für die im Rahmen einer Petition kundgegebenen Meinungen.119 Somit stehen Art. 17 GG und Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG in Idealkonkurrenz zueinander.
2 a)
Das Verhältnis der Meinungsfreiheit zu den Wirtschaftsgrundrechten Wirtschaftsgrundrechte im Allgemeinen
Von den Kommunikationsgrundrechten grenzen sich solche Grundrechte ab, die nicht dem Dialog dienen, sondern die ein freies wirtschaftliches Agieren gewährleisten wollen. Hierzu gehören in erster Linie die Berufs- und Eigentumsfreiheit.
b)
Das Verhältnis zu Art. 12 Abs. 1 GG
Berufs- und Meinungsfreiheit stehen nach einhelliger Auffassung ebenfalls nebeneinander.120 Berufsbezogene Meinungen genießen folglich den Schutz von Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG.
c)
Das Verhältnis zu Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG
Gleichermaßen verhält es sich mit Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG. Auch hier wird übereinstimmend Idealkonkurrenz angenommen.121
III
Persönlicher Schutzbereich
III Persönlicher Schutzbereich
Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG ist ein sog. Jedermannsrecht, auf das sich „jeder“ unabhängig von der Staatsbürgerschaft berufen kann. Zwar stehen natürliche Personen im Fokus des Schutzes des Menschenrechts auf freie Meinungsäußerung, es können sich aber auch inländische juristische Personen i. S. v. Art. 19 Abs. 3 GG auf die Meinungsfreiheit berufen, da sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar 119 BVerfG NJW 1991, 1475, 1477; Klein, in: Maunz/Dürig III, Art. 17 Rn. 135. 120 Vgl. BVerfGE 71, 162, 175; 85, 248, 263 ff.; Kämmerer, in: von Münch/Kunig I, Art. 12 Rn. 96; Ruffert, in: BeckOK-GG, Art. 12 Rn. 164. 121 Schulze-Fielitz, in: Dreier I, Art. 5 I, II Rn. 318; Wendt, in: von Münch/Kunig I, Art. 5 Rn. 11. 29
30
§ 3 Dogmatischer Überblick zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit
ist.122 Voll- oder teilrechtsfähige Personenmehrheiten dürfen demnach als solche am geistigen Meinungskampf teilnehmen und müssen das Feld nicht den jeweils dahinter stehenden natürlichen Personen überlassen. Grundsätzlich nicht vom persönlichen Schutzbereich umfasst sind jedoch juristische Personen des öffentlichen Rechts.123 Der Staat und seine Einrichtungen können nämlich nicht zugleich Träger und Adressaten von Grundrechten sein (sog. Konfusionsargument). Allerdings lässt das BVerfG Ausnahmen dann zu, wenn juristische Personen des öffentlichen Rechts einem grundrechtlich geschützten Lebensbereich zuzuordnen sind.124 So können sich Kirchen und andere als öffentlich-rechtliche Körperschaften anerkannte Religionsgemeinschaften aufgrund der Tatsache, dass diese i. d. R. keine staatlichen Aufgaben wahrnehmen, auf sämtliche Grundrechte,125 Universitäten auf die Wissenschaftsfreiheit126 und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten auf die Rundfunkfreiheit127 berufen. Nach neuerer bundesverfassungsgerichtlicher Judikatur gilt nun Entsprechendes für Grundrechte, die die Rundfunkfreiheit unterstützen.128 In Bezug auf die Meinungsfreiheit hat dies zur Folge, dass – die objektiv-rechtliche Sicht des Gerichts auf die Medienfreiheiten zugrunde gelegt – die Berufung einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt auf Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG in bestimmten Konstellationen möglich ist.129
122 BVerfGE 45, 63, 79; 68, 193, 205 f.; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 33; Schemmer, in: BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 2. 123 BVerfGE 68, 193, 206; 75, 192, 195 f.; vgl. Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 389. 124 BVerfGE 59, 231, 254. 125 BVerfGE 21, 362,374; Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 391. 126 BVerfGE 15, 256, 262. 127 BVerfGE 83, 238, 312. 128 BVerfGE 107, 299, 310. 129 BVerfGE 95, 220, 234; 97, 298, 310; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 41; Hoffmann-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 36.
IV Sachlicher Schutzbereich
IV
31
Sachlicher Schutzbereich
IV Sachlicher Schutzbereich
1
Begriff der Meinung
Die Tatsache, dass die Meinungsfreiheit als eines der „vornehmsten Menschenrechte überhaupt“130 den demokratischen Prozess ermöglicht und somit für eine freiheitliche Demokratie schlechthin konstituierend ist, führt zu einer großzügigen Auslegung des Schutzbereichs.131 Diese Weite ist jedoch der Grund dafür, dass der Begriff der Meinung einer exakten Definition kaum zugänglich ist. So kommt es auch, dass jegliche Definitionsversuche letztlich einen umschreibenden Charakter haben. Nach dem BVerfG soll es etwa auf das Element des „Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung“132, der Stellungnahme oder des Dafürhaltens133 ankommen. Bei der Äußerung müsse es sich um ein Werturteil, eine Ansicht oder Anschauung bestimmter Art handeln134, welche(s) die „geistige Wirkung“135 erzielt, „andere überzeugen zu wollen“136. I. d. S. skizziert auch die rechtswissenschaftliche Literatur eine Meinung beispielsweise als ein(e) „Ansicht, Auffassung, Überzeugung, Wertung, Urteil, Einschätzung, Stellungnahme zu allen möglichen sachlichen Gegenständen und Personen“137 oder „jedes Stellung beziehende Dafürhalten i. S. einer präskriptiven Wertung“138 . In der Gesamtschau ist letzten Endes für die Qualifizierung einer Äußerung als Meinung entscheidend, ob sie ein Werturteil bzw. eine „wertende Stellungnahme“139 im Rahmen einer „geistigen – also nicht mit Zwang verbundenen – Auseinandersetzung“ bzw. sonstigen sozialen Kommunikation140 darstellt.
130 BVerfGE 69, 315, 344; Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 33. 131 BVerfGE 61, 1, 9; 71, 162, 179; Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 6; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 5; Schulze-Fielitz, in: Dreier I, Art. 5 I, II Rn. 62; Wendt, in: von Münch/Kunig I, Art. 5 Rn. 8. 132 BVerfGE 61, 1, 8. 133 BVerfGE 90, 241, 247; 93, 266, 289. 134 BVerfGE 30, 336, 352; 102, 347, 359. 135 BVerfGE 7, 198, 210. 136 BVerfGE 7, 198, 210. 137 Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 73; Wendt, in: von Münch/ Kunig I, Art. 5 Rn. 8. 138 Schulze-Fielitz, in: Dreier I, Art. 5 I, II Rn. 62. 139 Wendt, in: von Münch/Kunig I, Art. 5 Rn. 8; so auch Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 36. 140 Badura, Staatsrecht, C Rn. 62. 31
32
§ 3 Dogmatischer Überblick zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit
Meinungen sind stets subjektiv. Demzufolge ist es unerheblich, welchen Gegenstand141 oder Zweck142 eine Äußerung hat, ob sie wertvoll oder wertlos, rational oder emotional ist.143 Auch übersteigerte, scharfe144, satirische, polemische, schockierende und beunruhigende145 Aussagen werden vom sachlichen Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst. Gleiches gilt für Beleidigungen. Ansonsten wäre die Schranke der persönlichen Ehre in Art. 5 Abs. 2 GG schlichtweg überflüssig.146 Teilweise wird allerdings eine Schutzbereichsbegrenzung für die sog. Schmähkritik, welche durch eine persönliche Diffamierung und Herabsetzung sowie die fehlende Auseinandersetzung in der Sache gekennzeichnet ist,147 gefordert.148 Jedoch scheint das BVerfG – jedenfalls in seiner neueren Rechtsprechung – davon auszugehen, dass auch solche Stellungnahmen grundsätzlich den Schutz der Meinungsfreiheit genießen.149
2 Tatsachenäußerungen Tatsachen fallen hingegen nicht unter die Definition einer Meinungsäußerung. Beide Begriffe lassen sich – jedenfalls theoretisch – klar voneinander trennen. Während jeder Meinung – wie gesehen – eine subjektive Beziehung des Äußernden zum Aussageinhalt inhärent ist,150 werden Tatsachenbehauptungen „durch die objektive
141 Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 109; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 63 f., Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 5; Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 650. 142 Hoffman-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 31; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 5. 143 Vgl. BVerfGE 30, 336, 347; 33,1,14; 93, 266, 289; Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 109; Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 6; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 5; Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 650; Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 74. 144 BVerfGE 61, 1, 7; 85, 1, 15. 145 BVerfG ZUM-RD 2003, 117. 146 Vgl. Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 650; Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 61 Rn. 4. 147 BVerfGE 82, 272, 283 f.; 93, 266, 294. 148 Vgl. etwa OLG München GRUR 2006, 268, 275. 149 BVerfG NJW 2006, 3266, 3267; 3769, 3771; NStZ-RR 2016, 308; vgl. zudem Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 61 Rn. 4. 150 BVerfGE 93, 266, 289; 94, 1, 8.
IV Sachlicher Schutzbereich
33
Beziehung zwischen der Äußerung und der Wirklichkeit charakterisiert.“151 Letztere sind somit im Gegensatz zu ersteren dem Beweis zugänglich.152 Inwieweit Tatsachenäußerungen trotz dieses Umstandes in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fallen, gehört nach wie vor zu den umstrittensten Fragen im Bereich der Dogmatik zu Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG. Eine zentrale Rolle spielen dabei die unterschiedlichen Auffassungen zur praktischen Trennbarkeit der beiden Kundgabekomponenten. So votiert die herrschende Lehre unter Negierung der Separierbarkeit für eine grundsätzliche Unterschutzstellung aller Tatsachenäußerungen.153 Eine wertungsfreie Mitteilung von Tatsachen sei praktisch nicht möglich, da jede Tatsachenbehauptung beim Entäußerer einen subjektiven Filter durchlaufe und somit zwangsläufig eine wertende Konnotation enthielte.154 Schließlich bedeute schon die Auswahl sowie Art und Weise der Übermittlung eine Wertung.155 Zudem ginge mit jeder Äußerung einer Tatsache deren Bewertung als mitteilenswert einher.156 Des Weiteren sei eine solche Sichtweise erforderlich, um einen Gleichlauf mit Art. 10 EMRK und Art. 11 GRC, welche ausdrücklich „Informationen“ mit einbeziehen, zu gewährleisten.157 Das BVerfG geht hingegen grundsätzlich von einer praktischen Trennbarkeit aus. Tatsachenbehauptungen sollen jedoch dann in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fallen, wenn sie einen Meinungsbezug aufweisen. Dies sei der Fall, sofern sie „Voraussetzung der Bildung einer Meinung sind“158, eine Wertung flankieren oder sich mit dieser vermengen159 oder einem individuellen Mitteilungsbedürfnis160 entspringen. Dementsprechend eng ist der Korridor für reine, nicht meinungsbezogene Tatsachenäußerungen, welche etwa bei Angaben im Rahmen 151 Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 61 Rn. 6. 152 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 47 ff.; Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 7; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 8; Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 652; Kloepfer; Verfassungsrecht II, § 61 Rn. 6; Schemmer, in: BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 5. 153 Vgl. Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 51; Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 7; Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 653; Schulze-Fielitz, in: Dreier I, Art. 5 I, II Rn. 65. 154 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 50 ff.; Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 7; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 21; Schulze-Fielitz, in: Dreier I, Art. 5 I, II Rn. 63. 155 Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 653; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 21. 156 Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 113. 157 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 50; Schulze-Fielitz, in: Dreier I, Art. 5 I, II Rn. 66. 158 BVerfGE 85,1, 15; so etwa auch BVerfGE 65, 1, 41. 159 BVerfGE 61, 1, 9; 85, 1, 13 f.; 90, 241, 247. 160 BVerfGE 65, 1, 41. 33
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§ 3 Dogmatischer Überblick zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit
statistischer Erhebungen angenommen wurden.161 Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass die Mitteilung der sich daraus ergebenden Statistik wiederum unweigerlich Meinungsrelevanz besitzt.162 Aufgrund dessen werden die beiden Ansichten in den seltensten Fällen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Darüber hinaus nimmt das BVerfG eine weitere Einschränkung für bestimmte unwahre Tatsachenbehauptungen vor. Es führt dazu aus: „Außerhalb des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG liegen […] bewußt unwahre Tatsachenbehauptungen und solche, deren Unwahrheit bereits im Zeitpunkt der Äußerung unzweifelhaft feststeht.“163 Solche Äußerungen torpedieren nämlich den Schutzzweck der Meinungsfreiheit, eine freie (öffentliche oder private) Meinungsbildung zu gewährleisten.164 „Alle übrigen Tatsachenbehauptungen mit Meinungsbezug genießen den Grundrechtsschutz, auch wenn sie sich später als unwahr herausstellen.“165 Die Grenze zwischen bewusst und erwiesenermaßen unwahren sowie den übrigen Tatsachenäußerungen ist dabei fließend. Damit die Funktion der Meinungsfreiheit nicht in Mitleidenschaft gezogen wird, dürfen andererseits aber auch keine zu hohen Anforderungen an die Wahrheitspflicht gestellt werden.166 Um dieses Spannungsverhältnis aufzulösen, ist eine einzelfallbezogene Betrachtungsweise angezeigt. Es muss demnach in der konkreten Situation geprüft werden, ob die jeweiligen Umstände oder das Telos ein Absehen von weitergehenden Wahrheitsnachforschungen rechtfertigen. Wichtige Kriterien sind dabei der Schwierigkeitsgrad der Nachprüfung – wobei es an dieser Stelle maßgeblich darauf ankommt, ob die Information dem persönlichen oder einem fremden Erfahrungsbereich entstammt – und der Zeitdruck.167 So werden der Tagespresse und dem Rundfunk wegen des Aktualitätsdruckes und der Tatsache, dass sich der Gegenstand der Berichterstattung häufig außerhalb der 161 BVerfGE 65, 1, 41. 162 BVerfG AfP 1999, 159, 160; Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 116. 163 BVerfGE 99, 185, 197; ebenso Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 117 ff.; a. A. Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 8; Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 61 Rn. 9; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 22; Schulze-Fielitz, in: Dreier I, Art. 5 I, II Rn. 65. 164 BVerfGE 54, 208, 219; 61, 1, 8; Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 117. 165 BVerfGE 99, 185, 197. 166 BVerfGE 54, 208, 219 f.; 61, 1, 8; 85, 1, 22; 90, 241, 254; Antoni, in: Hömig/Wolff, Art. 5 Rn. 5; Badura, Staatsrecht, C Rn. 62. Allgemein gilt: Zur Annahme bewusst falscher Tatsachenmitteilung ist zumindest eine grobe Fahrlässigkeit erforderlich, vgl. Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 119. Hinsichtlich erwiesenermaßen falscher Äußerungen sind strenge Evidenzkriterien zu fordern, vgl. Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 119; Grimm, NJW 1995, 1697, 1699. 167 BVerfGE 54, 208, 220; 99,185, 199.
IV Sachlicher Schutzbereich
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eigenen Herrschaftssphäre befindet, regelmäßig keine übertriebenen Sorgfalts- und Recherchepflichten aufgebürdet.168
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Ermittlung des Aussagegehalts
Insbesondere vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Wahrheitspflicht bei Tatsachenäußerungen kann der Ermittlung des objektiven Sinns einer Aussage durchaus schutzkonstitutive Bedeutung zukommen. Maßgeblich ist hierbei weder die Absicht des Äußernden noch das Verständnis der von der Äußerung Betroffenen, sondern die Sichtweise eines verständigen und unvoreingenommenen Durchschnittspublikums.169 Ausgangspunkt der Auslegung ist dabei stets der Wortlaut der umstrittenen Aussage. Regelmäßig wird es aber erforderlich sein, weitere Faktoren, wie den Kontext und die Begleitumstände der Äußerung, einzubeziehen.170 Nicht selten kommt es indes zu mehrdeutigen Äußerungen. In diesen Fällen ist zunächst anhand der genannten Auslegungsregeln genau zu begründen, welche Deutungsvariante bei der rechtlichen Beurteilung zugrunde zu legen ist.171 Beinhaltet die Aussage hingegen mehrere nicht fernliegende Deutungsalternativen, greift die sog. Stolpe-Doktrin des BVerfG, welche aber erst im Rahmen der Rechtfertigung von Relevanz ist.172 Allerdings liegt weder eine bewusst oder erwiesenermaßen unwahre Tatsachenangabe noch eine mehrdeutige Aussage vor, wenn die Inhaltsambivalenz so stark ausgeprägt ist, dass die betreffende Äußerung keine eigenständige Behauptung mehr enthält, sondern erkennbar unvollständig und ergänzungsbedürftig ist.173 Eine solche Aussage ist schließlich nicht geeignet, Fehlvorstellungen beim Rezipienten hervorzurufen.
168 Vgl. BVerfGE 54, 208, 219 f.; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 49; Starck/ Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 141. 169 BVerfGE 93, 266, 295. 170 BVerfGE 93, 266, 295. 171 Vgl. Specht/Müller-Riemenschneider, NJW 2015, 727, 728. 172 Vgl. BVerfGE 114, 339, siehe § 10 II. 1. d) cc) bbb). 173 BVerfG NJW 2010, 3501, 3502. 35
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§ 3 Dogmatischer Überblick zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit
Geschütztes Verhalten
Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG schützt neben der Bildung174 und dem Haben175 vor allem auch das Verbreiten einer Meinung in „Wort, Schrift und Bild“. Der Schutzbereich umfasst demnach nicht nur einen Werkbereich, sondern auch einen Wirkbereich.176 Meinungsäußerungen in „Wort“ sind alle hörbaren Werturteile, auch wenn sie durch CD oder vergleichbare Trägermedien übertragen werden. 177 „Schrift“ meint sämtliche Schriftarten, egal ob elektronische Texte, wie Internetschriften, oder etwa Kurz- und Blindenschrift.178 Das Merkmal „Bild“ umfasst jedes aus sich selbst verständliche Zeichen, unabhängig davon, ob es gemalt oder in sonstiger Weise hergestellt wurde.179 Der Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG ist auf den Art. 118 WRV zurückzuführen, der allerdings noch die Formel „Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise“180 enthielt. Jedoch sollte die Kürzung um die letzte Alt. keine Minimierung des Schutzumfangs im Vergleich zur WRV mit sich bringen. Vielmehr ist sie lediglich Ausdruck des Konzentrationsbestrebens der Mütter und Väter des GG.181 Ob man mit der herrschenden Lehre die oben genannte Aufzählung deshalb ebenfalls als nur beispielhaft ansieht182 oder mit der Gegenansicht einen abschließenden Charakter annimmt, aber die Merkmale weit auslegt,183 ist dabei von rein dogmatischer Bedeutung. Letztlich kommen beide Lesarten zum gleichen Ergebnis. Jede Form der Meinungsäußerung ist geschützt, so dass selbst Gesten oder suggestive Kundgaben, wie das Tragen bestimmter Symbole, vom Schutzbereich erfasst werden.184
174 BVerfGE 27, 71, 81; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 75. 175 BVerfG NJW 2012, 945, 946; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 77. 176 Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 10. 177 Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 87; Wendt, in: von Münch/ Kunig I, Art. 5 Rn. 15. 178 Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 88; Wendt, in: von Münch/ Kunig I, Art. 5 Rn. 15. 179 BVerfGE 71, 108, 113; 107, 275, 280. 180 Vgl. Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte IV, 168. 181 Vgl. Wendt, in: von Münch/Kunig I, Art. 5 Rn. 16. 182 So etwa Hoffman-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 33; Schemmer, in: BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 14. 183 So etwa Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 86. 184 BVerfGE 72, 183, 184 f.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 12.
IV Sachlicher Schutzbereich
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Ebenso geschützt sind die Wahl von Ort und Zeitpunkt der Meinungsäußerung185 sowie die Empfangsmöglichkeit der Botschaft für den Adressaten186. Andernfalls würde der Grundrechtsrechtsschutz des Verbreiters leerlaufen, da seine Entäußerung zu einem bloßen Monolog verkommen würde, wenn sie nicht gehört werden kann. Der Adressat genießt hingegen nicht den Schutz der Meinungsfreiheit. Ihm kommt lediglich die Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. GG zugute.187 Die Grenze des Schutzes durch Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG muss jedoch an der Stelle gezogen werden, an der das (gewaltsame) Aufzwingen einer Meinung beginnt.188 Denn der Sinn und Zweck des Grundrechts besteht nach dem BVerfG darin, einen „geistigen Kampf der Meinungen“ 189 zu gewährleisten. Ein solcher findet freilich nicht statt, wenn Druckmittel zur Bildung einer Meinung herangezogen werden.
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Gewerbeschädigende Kritik und Boykottaufrufe
Auch die Bereiche „Kritik“ und „Boykott“ sind von der Dogmatik der Weite des Schutzbereichs der für die Demokratie essentiellen Meinungsfreiheit geprägt. So überrascht es freilich nicht, dass nach der Rechtsprechung des BVerfG gewerbeschädigende Kritik grundsätzlich den Schutz der Meinungsfreiheit genießt, obwohl dem Gewerbetreibenden unter Umständen wirtschaftliche Nachteile drohen.190 Dies gilt zum einen unabhängig davon, ob Geschädigter und Entäußerer in einem Konkurrenzverhältnis zueinander stehen, da die Mitbewerbereigenschaft eine „geistige Auseinandersetzung“ nicht per se ausschließt191 und zum anderen sogar unabhängig von der Verfolgung eigener wirtschaftlicher Interessen192. Der Grund hierfür liegt in der oben angesprochenen „Zweckfreiheit“ bzw. Universalität der Meinungsfreiheit. Auf die Eigennützigkeit oder Uneigennützigkeit einer Meinungsäußerung kommt es nicht an. 185 Vgl. Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 10; Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 656. 186 Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 9. 187 Vgl. Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 658. 188 BVerfGE 25, 256, 265; 62, 230, 245. 189 BVerfGE 25, 256, 265. 190 Vgl. argumentum a fortiori aus BVerfGE 7, 198, 203 ff.; vgl. zudem BGHZ 45, 296, 307 f.; Badura, Staatsrecht, C Rn. 62; Brinkmann, NJW 1987, 2721, 2722. In diesen Zusammenhang gehört auch der meinungsfreiheitliche Schutz von Internetbewertungsportalen, siehe etwa BGH NJW 2015, 489, 492. 191 Vgl. Bleckmann, Staatsrecht II, § 26 Rn. 31. 192 Vgl. BVerfGE 62, 230, 244 f.; Wendt, in: von Münch/Kunig I, Art. 5 Rn. 14. 37
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§ 3 Dogmatischer Überblick zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit
Ist eine derartige Kritik also vom Schutzbereich erfasst, greifen folgerichtig die allgemeinen Grundsätze zum Umfang des Schutzes. Eine scharfe und überzogene gewerbeschädigende Kritik ist demzufolge unschädlich.193 Die Frage nach der Unzulässigkeit von gewerbeschädigender „Schmähkritik“194 stellt sich allerdings – wie bereits angedeutet – richtigerweise erst im Rahmen der Rechtfertigung. Entsprechendes gilt für Boykottaufrufe,195 die als Unterfall bzw. Folge der gewerbeschädigenden Kritik eingeordnet werden können. In diesem Zusammenhang ist allerdings noch einmal zu betonen, dass die Auseinandersetzung mit argumentativen Mitteln geführt werden muss. Wie bereits erwähnt sind nämlich Vorgehensweisen, die den geforderten „geistigen Kampf der Meinungen“196 konterkarieren, nicht geschützt. Wer also seinen Boykottaufruf – etwa aufgrund einer wirtschaftlich beherrschenden Position – mit physischem oder wirtschaftlichem Zwang verbindet, kann sich nicht auf die Meinungsfreiheit berufen.197
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Urheberschaft einer Meinungsäußerung
Gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG hat jeder das Recht, „seine Meinung“ frei zu äußern und zu verbreiten. Fraglich ist dabei, ob – so wie es der Wortlaut nahelegt – nur die Äußerung und Verbreitung eigener oder auch die fremder Meinungen geschützt sind. Teilweise wird vertreten, dass grundsätzlich nur eigene Meinungen den Schutz der Meinungsfreiheit genießen. Die Kundgabe fremder Wertungen und Stellungnahmen soll hingegen nur dann schutzwürdig sein, wenn sich der Entäußerer diese zu eigen macht, sie ihm also objektiv zugerechnet werden können.198 Andere Stimmen verzichten auf die Unterscheidung zwischen fremden und eigenen Inhalten, suchen jedoch das Korrektiv auf der subjektiven Seite, indem sie eine Beeinflussungsabsicht fordern.199 193 Badura, Staatsrecht, C Rn. 62. 194 Vgl. Badura, Staatsrecht, C Rn. 62; Wendt, in: von Münch/Kunig I, Art. 5 Rn. 13. 195 Vgl. BVerfGE 7, 198, 203 ff.; 25, 256, 264; Badura, Staatsrecht, C Rn. 62; Bleckmann, Staatsrecht II, § 26 Rn. 31; Brinkmann, NJW 1987, 2721, 2723; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 10; Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 651, Schemmer, in: BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 13; Wendt, in: von Münch/Kunig I, Art. 5 Rn. 14. 196 Antoni, in: Hömig/Wolff, Art. 5 Rn. 6. 197 Bleckmann, Staatsrecht II, § 26 Rn. 31. 198 BVerfGE 7, 198, 210; 61, 1, 8 f.; 95, 173, 181; Lerche, Werbung und Verfassung, 93. 199 So etwa Drettmann, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 123.
IV Sachlicher Schutzbereich
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Diese Sichtweisen sind freilich problematisch. So geht die erstgenannte Ansicht bereits im Ansatz fehl, da in jeder Zitierung von Meinungen anderer jedenfalls eine schützenswerte wahre Tatsachenmitteilung (in Bezug auf die Existenz der Fremdaussage) mit Meinungsrelevanz steckt.200 Eine Unterscheidung fremder und eigener Inhalte würde den Zitierenden folglich zu Unrecht vom meinungsfreiheitlichen Schutz ausgrenzen. Der Ruf nach einer Beeinflussungsabsicht liefe dagegen unweigerlich auf eine unzulässige Motivforschung201 hinaus. Subjektive Elemente entziehen sich naturgemäß jeglicher Überprüfbarkeit. Dementsprechend ist eine teleologische Extension i. d. S. angezeigt, auf die eben genannten Elemente zu verzichten bzw. diese im Einzelfall als gegeben zu unterstellen, um den Schutzbereich nicht übermäßig einzuengen. Letztlich geht es um die Kundgabe einer Meinung als solcher, so dass auch die Äußerung und Verbreitung einer fremden Meinung unter Nennung des Urhebers erfasst sind.202 Nichts anderes gibt auch das BVerfG im Ergebnis zu, wenn es in dem Verbot öffentlich wörtlicher Mitteilungen des Inhalts amtlicher Schriftstücke einen Eingriff in Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG erkennt.203
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Negative Meinungsfreiheit
Neben der Freiheit, seine Meinung zu äußern und zu verbreiten, gewährt Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG gleichfalls das Recht, seine Meinung nicht bilden und äußern zu müssen sowie fremde Meinungen nicht als eigene verbreiten zu müssen (negative Meinungsfreiheit). 204 Das BVerfG vertritt die Auffassung, dass im Gegensatz hierzu die Verpflichtung zur Verbreitung fremder Meinungen als fremde Meinun-
200 Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 129. 201 Vgl. Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 23. 202 Hoffmann-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 32; Merten, DÖV 1990, 761, 768; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 23; in diese Richtung auch Kloepfer, Produkthinweispflichten bei Tabakwaren als Verfassungsfrage, 29 ff., der die Schutzwürdigkeit von Kundgaben erkennbar fremder Meinungen auf die Existenz des Tatbestandsmerkmals „zu verbreiten“ stützt. 203 BVerfGE 71, 206, 213. Konsequenterweise hat das BVerfG die Unerheblichkeit der Urheberschaft einer Meinung in einem Beschluss zur Veröffentlichung von Auszügen in Pressespiegeln nunmehr ausdrücklich mit dem Hinweis darauf festgestellt, dass die bloße Verbreitung fremder Äußerungen Teil eines schützenswerten Kommunikationsprozesses sei, vgl. BVerfG NJW-RR 2010, 470. 204 BVerfGE 65, 1, 40 f.; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 31. 39
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§ 3 Dogmatischer Überblick zum Schutzbereich der Meinungsfreiheit
gen mangels Zurechenbarkeit nicht geschützt sei.205 Freilich verkennt es an dieser Stelle, dass sich die negative Seite eines Grundrechts stets spiegelbildlich zu dessen positiven Gewährleistungen präsentiert.206 Wie gerade festgehalten kommt es im letztgenannten Bereich jedoch nicht darauf an, ob eigene oder fremde Wertungen geäußert und verbreitet werden, sondern nur auf die Kundgabe einer Meinung als solcher. Folglich kann auch auf der negativen Seite kein Zurechenbarkeitskriterium aufgestellt werden, so dass die Verpflichtung zur Verbreitung von erkennbar fremden Meinungen gleichfalls den Schutzbereich betreffen muss.207
205 BVerfGE 95, 173, 181. 206 Vgl. Merten, DÖV 1990, 761. 207 Kloepfer, Produkthinweispflichten bei Tabakwaren als Verfassungsfrage, 28 f.; Merten, DÖV 1990, 761, 768; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 31.
Stand in Rechtsprechung und Literatur § 4 Stand in Rechtsprechung und Literatur
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§4
Rechtsprechung des BVerfG zum verfassungsrechtlichen Schutz der Wirtschaftswerbung
I BVerfG zum verfassungsrechtlichen Schutz der Wirtschaftswerbung
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Wirtschaftswerbung einzig als Berufsausübung
In seiner ersten richtungsweisenden Entscheidung zum Themenkomplex „Wirtschaftswerbung“ hatte sich das BVerfG Ende der 1950er Jahre mit der Wirksamkeit der PolizeiVO über die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens von 1941 zu beschäftigen.208 Vorausgegangen war eine auf diese VO gestützte gerichtliche Verhängung einer Geldstrafe aufgrund eines vom Beschwerdeführer – einem Vertreiber chemisch-pharmazeutischer Präparate – und seinen Vertretern in Umlauf gebrachten Werbeprospekts mit dem Titel „Die segenreichen Radiumstrahlen“. Das BVerfG maß die VO lediglich an Art. 12 Abs. 1 GG und stellte somit die Weichen für die verfassungsrechtliche Rechtsprechungspraxis der kommenden Jahrzehnte.209 Zwar deutete das Gericht Ende der 1960er Jahre in der Entscheidung „Südkurier“ zunächst einen leisen dogmatischen Wandel in der Frage der Einschlägigkeit der Meinungsfreiheit im Bereich der Wirtschaftswerbung an, indem es zwar im Grundsatz konstatierte, dass Werbung „in der Regel […] keine Meinung des Anzeigenden wieder[gibt], sondern lediglich nicht bekannte mögliche Leser auf[fordert], ihm ein Angebot zum Abschluss eines Vertrags über den in der Anzeige bezeichnenden Gegenstand zu machen“210, es aber ausnahmsweise vorkommen könne, dass 208 BVerfGE 9, 213. 209 BVerfGE 9, 213, 221 ff., so auch BVerfGE 32, 311, 316 ff.; 33, 125, 168 ff.; die Frage der Eröffnung des Schutzbereichs der Meinungsfreiheit zumindest offenlassend BVerfGE 11, 234, 238. 210 BVerfGE 21, 271, 179. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Arnold, Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4_4
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§ 4 Stand in Rechtsprechung und Literatur
„der Anzeigende seine eigene Meinung verbreiten will; so bedienen sich politische Parteien, wirtschaftliche und kulturelle Vereinigungen sowie Einzelpersonen häufig des Anzeigenteils der Zeitungen, um ihren Standpunkt der Allgemeinheit gegenüber zu vertreten und für ihre Bestrebungen zu werben.“211 Bereits 1975 erteilten die Richter im „Werbefahrten-Beschluss“ der Öffnung hin zur Meinungsfreiheit indes postwendend eine deutliche Absage. So stellten sie im Rahmen der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 33 Abs. 1 S. 3 StVO a.F., welcher reine Werbefahrten im Straßenverkehr verbot, lapidar fest, dass die Frage, „ob ein generelles Werbeverbot vor allem mit Art. 5 GG in Einklang steht“212, unerheblich sei, „da es in dem zur Entscheidung stehen Fall nur um Wirtschaftswerbung geht“213. Die Vorschrift wurde folglich einzig wegen der Verletzung der Berufsausübungsfreiheit für nichtig erklärt. In die gleiche dogmatische Richtung wies der „Mars-Kondom-Beschluss“ aus dem Jahre 1994. Darin versagte das BVerfG nämlich einem Scherzartikelhersteller hinsichtlich eines an den bekannten „Mars“-Schokoriegel angelehnten „Mars“Schriftzugs auf einer Kondompackung mit der Begründung, dass dieser damit rein kommerzielle Zwecke verfolge und es deshalb nicht auf eine satirische Deutungsweise ankäme, von vornherein den Schutz der Meinungsfreiheit.214 Die Ausklammerung der Wirtschaftswerbung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit ist in der Folge durch weitere Entscheidungen bestätigt worden. So etwa zwei Jahre darauf in einem Urteil zur Apothekenwerbung.215 Gegenstand dieser Entscheidung waren u. a. von einem Berufsgericht für Heilberufe verhängte Geldbußen wegen verschiedener Zeitungsanzeigen, in denen eine Apotheke als „Guten-Tag-Apotheke“ und „Haus der Gesundheit“ bezeichnet wurde.216 Das BVerfG stellte bei seiner Prüfung abermals einzig auf die Berufsfreiheit ab – wiederum ohne überhaupt auf die Meinungsfreiheit einzugehen. In diese Reihe gehört auch ein Beschluss zu Produktwarnungen auf Packungen von Tabakerzeugnissen aus 1997. Die Richter stiegen zwar – die Frage der Anwend211 BVerfGE 21, 271, 179. 212 BVerfGE 40, 371, 382. 213 BVerfGE 40, 371, 382; noch deutlicher BayVerfGHE 4, 63 ff., der der Wirtschaftswerbung den meinungsfreiheitlichen Schutz mit der Begründung versagte, dass „Mitteilungen, die in keiner Weise überzeugende, belehrende oder sonst richtungsgebende geistige Wirkungen auf die Umwelt haben sollen oder können, […] keine Meinungsäußerungen im Sinne der BV Art. 100 [sind]; denn diese Bestimmung will das Geistesleben und die dazu erforderliche Verbreitung von Gedankengut schützen.“ 214 BVerfG NJW 1994, 3342 f. 215 BVerfGE 94, 372. 216 Vgl. BVerfGE 94, 372, 381.
I BVerfG zum verfassungsrechtlichen Schutz der Wirtschaftswerbung
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barkeit der Grundrechte des GG auf einen zwingend europarechtlich determinierten Regelungsgegenstand beiseiteschiebend – in die Grundrechtsprüfung ein, konstatierten jedoch zugleich, dass die „Verpflichtung zu Warnhinweisen […] Produzenten und Händler von Tabakerzeugnissen beim Vertrieb ihrer Waren, nicht bei der Teilnahme am Prozeß der Meinungsäußerung und Meinungsverbreitung“217 betrifft. Dem schloss sich eine Entscheidung zu Anwaltswerbung durch Sponsoring diverser kultureller Veranstaltungen aus dem Jahre 2000218 an, die erneut von völliger Ignoranz gegenüber der Meinungsfreiheit geprägt war. Entsprechendes gilt für diverse Beschlüsse in den Folgejahren, welche sich etwa um eine von einem Tierarzt geschaltete Zeitungsanzeige samt Öffnungszeiten219 oder Werbung einer Rechtsanwältin mit sportlichen Erfolgen220 drehten. Selbst in jüngerer Vergangenheit hat das Gericht mit dem „Zahnärztehaus-Beschluss“221 diese Rechtsprechungslinie fortgeführt, indem es den Hinweis der Berufsgerichte, die zuvor eine zahnärztliche Gemeinschaftspraxis aufgrund einer Zeitungsanzeige zu einer Geldbuße verurteilt hatten, auf die verschiedenen Deutungsvarianten der Anzeigenüberschrift „Zahnärztehaus I.“ (z. B. i. S. v. „Kompetenzzentrum“222) ignorierte und abermals nur Art. 12 Abs. 1 GG zur Begründung seiner Entscheidung heranzog.
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Wirtschaftswerbung auch als Meinung
Parallel hierzu hat sich eine zweite Rechtsprechungslinie herausgebildet, in der das BVerfG kommerzielle Kommunikation unter gewissen Voraussetzungen unter den Meinungsbegriff des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG subsumierte. Dabei lassen sich zwei Kategorien unterscheiden: zum einen Anpreisungen im Rahmen eines redaktionell oder literarisch gestalteten Textes und zum anderen Werbung ohne einen solchen Bezug.
217 BVerfGE 95, 173, 181. 218 BVerfG NJW 2000, 3195. 219 BVerfG NJW 2002, 3091. 220 BVerfG NJW 2003, 2816; in dieselbe Richtung BVerfG NJW 2004, 3765. 221 BVerfG GRUR 2012, 72; ähnlich BVerfG NJOZ 2013, 448; NJW 2008, 1298. 222 Vgl. BVerfG GRUR 2012, 72, 74. 43
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a)
§ 4 Stand in Rechtsprechung und Literatur
Anpreisungen im Rahmen von Presseberichten oder literarischer Werke
1985 kam es zu einem ersten richtungsweisenden Urteil, dessen Hintergrund eine vom Berufsgericht verhängte Geldbuße für einen Arzt darstellte, welcher in seiner teils autobiographischen Buchveröffentlichung „Sieg über das Altern – Frischzellentherapie heute“ die von ihm praktizierte Frischzellentherapie anpreisend heraushob. Das BVerfG konstatierte zunächst, dass „das Grundrecht der Meinungsfreiheit auch für Wirtschaftswerbung jedenfalls dann als Prüfungsmaßstab in Betracht kommt, wenn eine Ankündigung einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat oder Angaben enthält, die der Meinungsbildung dienen“223, und bejahte diese Voraussetzungen sodann, weil der Autor nicht nur sachliche und wertende Argumente mit der autobiographischen Erzählung vermischte, sondern auch im „Kampf um die eigene Anerkennung“224 mit seiner Argumentation überzeugen wollte.225 Nur kurz darauf musste sich das BVerfG mit vermeintlich berufswidriger Anwaltswerbung auseinandersetzen. 226 In der Sache ging es um die Weitergabe einer Selbstanzeige eines Rechtsanwaltes an Presse- und Rundfunkorgane, welche zu einer Berichterstattung mit werblichem Nebeneffekt für seine Kanzlei führte. Daraufhin sprach ihm die zuständige Rechtsanwaltskammer eine Missbilligung aus. Das später angerufene BVerfG nutze die Gelegenheit, die Grenzen des anwaltlichen Werbeverbots verfassungsrechtlich näher zu konturieren. Hierbei legte es sein Augenmerk auf die Prüfung der Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG, stellte am Ende seiner Ausführungen aber fest, dass der mit einem derart verstandenen Werbeverbot erreichte Erfolg zudem „in keinem angemessenem Verhalten zu der mit ihm verbundenen Einbuße für […] die Meinungsfreiheit“227 steht. Ebenfalls um eine Drittveröffentlichung mit Werbeeffekt ging es in einem Fall Anfang der 1990er. Die Verfassungsbeschwerde betraf die Verurteilung des Beschwerdeführers auf der Grundlage des berufsordnungsrechtlichen Werbeverbots für Ärzte wegen der Duldung eines äußerst wohlwollenden und unter seiner Mithilfe zustande gekommenen Presseberichts in der „Bild der Frau“ über seine 223 BVerfGE 71, 162, 175. 224 BVerfGE 71, 162, 180. 225 Ebenso BVerfG GRUR 2007, 1083: Diese Verfassungsbeschwerde betraf u. a. die Versagung der Verbreitung des Buchs „Warum kennen Tiere keinen Herzinfarkt – aber wir Menschen“, in dem der Beschwerdeführer ein von ihm entwickeltes Vitaminprogramm („Dr. R’s Vitaminprogramm“) zur Therapie zahlreicher Krankheiten empfiehlt. Auch hier ordnete das BVerfG die Anpreisungen als Meinungsäußerung ein. 226 BVerfG NJW 1988, 194. 227 BVerfG NJW 1988, 194, 196.
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nicht schulmedizinische Behandlung von Krebspatienten mit dem Medikament „Suprefact“. Zwar löste das BVerfG die aufgeworfene verfassungsrechtliche Frage abermals primär über Art. 12 Abs. 1 GG, hielt jedoch gleichzeitig den Schutzbereich der Meinungsfreiheit für eröffnet, da der Beschwerdeführer laut der Richter „die ihm auferlegte Verpflichtung nur erfüllen kann, indem er entweder jegliche Mitwirkung an Illustriertenberichten verweigert oder die Mitwirkung von der vorherigen Vorlage und Genehmigung des Manuskripts abhängig macht.“228 Dementsprechend sei er „nicht mehr in der Lage, autonom zu bestimmen, ob er sich gegenüber der Presse äußert.“229 Zudem argumentierte das Gericht mit dem Umstand, dass der Beschwerdeführer vorher öffentlich scharf angegriffen worden ist und die Äußerungen lediglich seiner Verteidigung dienten.230 In seinem „JUVE-Handbuch-Beschluss“ aus dem Jahre 2003 hatte sich das BVerfG ein weiteres Mal mit Anpreisungen im Rahmen eines redaktionell gestalteten Werkes zu befassen.231 Diesmal war es jedoch die Verlegerin selbst, welche Verfassungsbeschwerde einreichte. Vorausgegangen war eine auf § 1 UWG a.F. gestützte zivilgerichtliche Untersagung der Veröffentlichung optisch hervorgehobener Rangeinstufungen von bestimmten Kanzleien in einem Handbuch über wirtschaftsrechtlich orientierte Rechtsanwaltskanzleien. Das BVerfG maß die Veröffentlichungsuntersagung – wie selbstverständlich – an dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und stellte im Ergebnis mangels Rechtfertigung des Eingriffs eine Verletzung fest. 232 Situativ ähnlich gelagert war eine Verfassungsbeschwerde aus dem Jahre 2005, welche sich um die Verurteilung zur Unterlassung von Artikeln wie dem streitgegenständlichen Bericht mit dem Titel „Medikamente aus dem Ausland – es geht ganz einfach“ drehte, der die Dienstleistungen eines gewissen Unternehmens durch eine Preisgegenüberstellung, die Angabe von Telefonnummern, Bürozeiten sowie Zahlungs- und Lieferbedingungen besonders hervorhob und in dessen Rahmen der Geschäftsführer zusammen mit dem Firmennamen blickfangmäßig bildlich dargestellt wurde.233 Auch hier zogen die Verfassungsrichter die Wertungen der Meinungsfreiheit ohne Weiteres heran. 234
228 BVerfGE 85, 248, 263. 229 BVerfGE 85, 248, 263. 230 BVerfGE 85, 248, 263. 231 BVerfG NJW 2003, 277. 232 BVerfG NJW 2003, 277, 278 f. 233 BVerfG NJW 2005, 3201; ZUM-RD 2006, 7. 234 BVerfG NJW 2005, 3201; ZUM-RD 2006, 7, 8. 45
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b)
§ 4 Stand in Rechtsprechung und Literatur
Werbung ohne pressetextlichen oder literarischen Bezug
Daneben begann das BVerfG, seine Rechtsprechung in Bezug auf Werbung außerhalb von Presseberichten oder Buchveröffentlichungen teilweise zu überdenken. Einen Meilenstein in diesem Bereich setzte vor allem die berühmte „Benetton I-Entscheidung“235 im Jahre 2000, deren Auslöser ein Rechtstreit um die Wettbewerbswidrigkeit verschiedener Zeitungsanzeigen des Modeunternehmens bildete, die neben dem Firmennamen „United Colors of Benetton“ eine auf einem Ölteppich schwimmende ölverschmierte Ente, schwer arbeitende Kinder in der Dritten Welt oder ein nacktes menschliches Gesäß mit dem Stempel „H.I.V. POSITIVE“ zeigten.236 Die „Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e. V.“ sah in den genannten Anzeigen einen Verstoß gegen § 1 UWG a.F., forderte den Verlag „Gruner + Jahr“ auf, die Veröffentlichungen dieser Werbeannoncen in seinem Magazin „Stern“ zu unterlassen, und beschritt, als dieser ablehnte, den Rechtsweg. Das zuständige LG gab den Klagen statt. Weil die Sprungrevisionen hiergegen ohne Erfolg blieben, sah sich die „Gruner + Jahr GmbH & Co. KG“ gezwungen, im Anschluss das BVerfG anzurufen. Die Verfassungsrichter bestätigten zunächst die im „Frischzellen-Urteil“237 aufgestellte Formel, indem sie erneut konstatierten, dass „kommerzielle Meinungsäußerungen sowie reine Wirtschaftswerbung, die einen wertenden, meinungsbildenden Inhalt hat“238, den Schutz der Meinungsfreiheit genießen, und attestierten anschließend den streitigen Werbefotos einen solchen Gehalt. Als Begründung führten sie an, dass die Anzeigen „allgemeine Missstände (Umweltverschmutzung, Kinderarbeit, Ausgrenzung von H.I.V.-Infizierten)“239 veranschaulichten und „damit zugleich ein (Un-)Werturteil zu gesellschaftlich und politisch relevanten Fragen“240 enthielten. An der Eröffnung des Schutzbereiches der Meinungsfreiheit ändere i. Ü. auch der reine Imagewerbecharakter nichts, da zwar der Eindruck entstehen könne, dem Unternehmen gehe es nicht um einen Beitrag zur Meinungsbildung, sondern nur darum, sich ins Gespräch zu bringen, jedoch sei diese Deutungsvariante weder die einzige noch besonders naheliegend.241 Vielmehr würden in der öffentlichen
235 BVerfGE 102, 347. 236 Vgl. BVerfGE 102, 347, 348. 237 BVerfGE 71, 162, 175. 238 BVerfGE 102, 347, 359. 239 BVerfGE 102, 347, 359. 240 BVerfGE 102, 347, 359. 241 BVerfGE 102, 347, 359 f.
I BVerfG zum verfassungsrechtlichen Schutz der Wirtschaftswerbung
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Wahrnehmung die in den Werbeanzeigen enthaltenen Botschaften „Benetton“ zugerechnet.242 In der Folge hob das BVerfG die angegriffenen Urteile des BGH auf. Diesen Ansatz verfolgten die Karlsruher Richter nachfolgend nicht nur in der „Fortsetzung“ dieses Urteils, der „Benetton II-Entscheidung“243, welche durch die erneute Zurückweisung der Revision in Bezug auf die „H.I.V. POSITIVE“-Anzeige durch den BGH zustande kam, sondern auch in anderen Fällen gefühlsbetonter Werbung. So etwa in einem Beschluss aus dem Jahre 2002 zu Werbeprospekten für synthetische Pelze, die potentielle Käufer als Menschen mit Verstand, Herzensbildung und Moral bezeichneten und auf das Leiden der Tiere in Intensivzuchten und in Forschungslaboren hinwiesen sowie zu Brillenwerbung, welche mit dem Emblem der „Aktionsgemeinschaft Artenschutz“ versehen war.244 Ebenfalls in diese Kategorie fällt eine aktuelle Entscheidung aus 2015, in der das BVerfG über Schockwerbung eines Rechtsanwalts auf Kaffeetassen zu befinden hatte.245 Auf den streitgegenständlichen Tassen befand sich beispielsweise neben der Bemerkung „Körperliche Züchtigung ist verboten § 1631 Abs. 2 BGB“ und dem Namen sowie der Berufsbezeichnung des Rechtsanwalts die durchgestrichene Abbildung einer Frau, die mit einem Prügel auf das entblößte Hinterteil eines Kindes schlägt. Da diese Form der Werbung letztlich nichts anderes als eine Spielart der gefühlsbetonten Werbung darstellt, ist es nicht verwunderlich, dass das BVerfG – konsequenterweise – abermals den Maßstab des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG anlegte. In einer anderen, besonders beachtenswerten Entscheidung ging das BVerfG 2001 sogar noch einen Schritt weiter und qualifizierte die unter Hinweis auf eine Doppelblindstudie abgegebene Zusicherung der therapeutischen Äquivalenz eines Generikums („Therapeutische Äquivalenz bewiesen“246) in einer Zeitungsanzeige eines Pharmaherstellers als Meinungsäußerung, obwohl ein politischer oder gesellschaftlicher Bezug i. e. S. nicht bestand.247 Der Kammer reichte es für die Annahme einer wertenden Stellungnahme aus, dass sich die Beschwerdeführerin „billigend zu der Studie“248 äußerte.
242 BVerfGE 102, 347, 360. 243 BVerfGE 107, 275. 244 BVerfG NJW 2002, 1187, 1188. 245 BVerfG NJW 2015, 1438. 246 Vgl. BVerfG NJW 2001, 3403. 247 Ebenso keinen politischen Bezug i. e. S. weist ein Nichtannahmebeschluss des BVerfG aus 2002 zu Werbung mit Preisvergleichen anonym aufgeführter Konkurrenten auf und ist daher ähnlich zu bewerten, BVerfG NJW 2003, 2229. 248 BVerfG NJW 2001, 3403, 3404. 47
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II
§ 4 Stand in Rechtsprechung und Literatur
Entwicklung in der Rechtsprechung der Fachgerichte
II Entwicklung in der Rechtsprechung der Fachgerichte
Die frühe fachgerichtliche Rechtsprechung verweigerte – wie einst das BVerfG – der Wirtschaftswerbung ausnahmslos den Schutz der Meinungsfreiheit. So führte etwa der dritte Strafsenat des BGH im Jahre 1953 im Rahmen eines Strafverfahrens wegen Werbung für Büsten- und Schlankheitsmittel aus, dass „Werbung für ein gewerbliches Erzeugnis keine Meinungsäußerung im Sinne“249 von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG sei. Vielmehr wolle „der Werbungtreibende […] Käufer für sein Erzeugnis werben und nicht eine persönliche Überzeugung zum Ausdruck bringen.“250 Ebenso deutlich tat zwei Jahre später der fünfte Strafsenat des BGH seine ablehnende Haltung kund. Das Verbot der irreführenden Heilmittelwerbung durch falsche Angaben über die Zusammensetzung eines Mittels bedeute „keine Beschränkung des in Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verankerten Grundrechts der freien Meinungsäußerung. Denn mit der Werbung will der Werbende den angesprochenen Personenkreis zum Kauf anreizen, nicht aber eine persönliche Überzeugung ausdrücken.“251 Im selben Jahr äußerte sich auch das BVerwG zu diesem Themenkreis, indem es in einer Entscheidung zur Rechtsgültigkeit baurechtlicher Vorschriften zur Gestaltung von Reklame nicht weniger rigoros und absolut festhielt, Sinn der Werbung sei „nicht die Äußerung einer bestimmten Ansicht […], sondern die Beeinflussung des Käufers mit dem Ziel, ihn kaufbereit zu machen.“252 Damit war der Grundstein für nachfolgende Entscheidungen der obersten Verwaltungsrichter gelegt. So beurteilten sie etwa 1963 die Genehmigungsfähigkeit von Werbeanlagen mit Aufschriften wie „Die gute Einkaufsstätte K. im Herzen der Stadt“ oder „Der Weg zu K. Ihr Vorteil“ allein anhand von Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG.253 In besonders großem Maße waren zudem die Zivilsenate des BGH und der OLGe mit werberechtlichen Fragen befasst. Auch die zivilrechtlichen Spruchkörper sprachen fortwährend diversen Werbemaßnahmen die Meinungsqualität ab. Dies geschah wiederum zum Teil konkludent durch eine vollständige Ausblendung der Meinungsfreiheit bei der Entscheidungsfindung. Stellvertretend für eine Vielzahl
249 BGHSt 5, 12, 22. 250 BGHSt 5, 12, 22. 251 BGHSt 8, 360, 379. 252 BVerwGE 2, 172, 178. 253 BVerwGE 17, 322, 325; so auch BVerwGE 40, 94, 98, in der das BVerwG über die Gültigkeit einer Ortssatzung, die ein generelles Verbot von Großflächenwerbetafeln in Mischgebieten vorsah, zu befinden hatte.
II Entwicklung in der Rechtsprechung der Fachgerichte
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von derartigen Urteilen und Beschlüssen254 sollen zum einen das „Senatoriumswerbung-Urteil“255, welches der BGH Ende der 1970er fällte, zum anderen ein Urteil aus dem Jahre 2002256 zu den Voraussetzungen zulässiger Kopplungsangebote und zum Dritten ein Urteil aus 2014257 zur Zulässigkeit eines rechtsanwaltlichen Werbeschreibens genannt sein. Teilweise bezogen die Zivilrichter aber auch offen Stellung gegen die Eröffnung des Schutzbereichs. So formulierten sie etwa 1994 im „Mars-Kondom-Urteil“, mit dem sich in der Folge – wie gesehen – das BVerfG zu beschäftigen hatte: „Vorliegend steht nicht eine Meinung der Bekl. über die Kl. und deren Erzeugnisse oder Werbemethoden sowie die Äußerung einer solchen Meinung zur Beurteilung, sondern die rein kommerzielle Benutzung fremder angesehener Marken.“258 Dagegen gingen die Zivilsenate zwischenzeitlich – parallel zur Rechtsprechung des BVerfG – dazu über, gleichfalls „klassische“ Meinungsäußerungen mit Werbeeffekten259, Fälle gefühlsbetonter Werbung260, aber auch Werbung, die Fragen von politischem oder gesellschaftlichem Interesse auf eine andere Art in den 254 Vgl. nur BGH GRUR 1987, 49; 1999, 1100; 2002, 828; NJW 1992, 2969; 1995, 2486; OLG Karlsruhe NJW 1990, 3155; OLG München WRP 1990, 127; OLG Oldenburg GRUR-RR 2007, 83. 255 BGH GRUR 1978, 255: Streitgegenstände dieser Entscheidung waren die von einem Arzt und Inhaber eines Privatsenatoriums geschalteten Zeitungsanzeigen, in denen sowohl der Name des Arztes genannt als auch eine 6-Tage-Kur gegen Alterserkrankungen und Verschleißerscheinungen empfohlen wurden. 256 BGH GRUR 2002, 976: Hier hatte der BGH über die Zulässigkeit des Angebots eines Videorekorders, welches jedoch unter der Bedingung des Abschlusses eines Stromliefervertrags stand, zu befinden. Die Anzeige trug dabei die Überschrift „Irgendwo ein besseres Angebot gesehen? Das gibt’s doch gar nicht!“; ähnlich BGH GRUR 2002, 979. 257 BGH GRUR-RR 2015, 108: Die Kläger sind Rechtsanwälte im Bereich des Banken- und Kapitalmarktrechts und vertraten Anleger einer Fondsgesellschaft. Die Beklagten – ebenfalls Rechtsanwälte im besagten Bereich – richteten das streitgegenständliche Schreiben an von ihnen anwaltlich nicht vertretene Gesellschafter der Fondsgesellschaft. Es enthielt Informationen über ihre Kanzlei sowie rechtliche Hinweise und Empfehlungen. In die gleiche Richtung gehend BGH GRUR 2015, 286. 258 BGH NJW 1994, 1954, 1955; ähnlich BGH GRUR 1995, 57. 259 BGH AfP 1987, 592: Zeitschrifteninterview mit Arzt samt Bildern seiner Klinik; BGH GRUR 2012, 74: Herabsetzung von Mitbewerbern in Beitrag eines Newsletters. 260 Entscheidung zur „Benetton“-Werbung „Kinderarbeit“, BGH GRUR 1995, 595, 597: „Die Meinungsäußerung eines Gewerbetreibenden ist deshalb nicht von vornherein außerhalb des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, weil sie Wettbewerbszwecken im Sinne des § 1 UWG dient. Die Vorschrift des § 1 UWG ist vielmehr unter Beachtung der Bedeutung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG auszulegen“; so auch BGH GRUR 1995, 600, 601: „Benetton“-Werbung „H.I.V. POSITIVE“; BGH NJW 2015, 72: 49
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§ 4 Stand in Rechtsprechung und Literatur
Mittelpunkt rückt, an Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG zu messen. Bekannte Beispiele für letztere Kategorie stellen die Urteile zu Zigarettenwerbung unter Namensnennung prominenter Persönlichkeiten dar. So ging es in einem Verfahren um die Werbemaßnahme des deutschen Tochterunternehmens eines international tätigen Tabakkonzerns, in der die gerichtlich angeordneten Schwärzungen des Buches „Hinter den Kulissen“ von Dieter Bohlen in humoristischer Weise aufgegriffen wurden.261 Der BGH verwies zunächst auf die Darlegungen des BVerfG zum meinungsfreiheitlichen Schutz kommerzieller Meinungsäußerungen sowie reiner Wirtschaftswerbung und führte näher aus: „Dabei haben nicht nur Beiträge, die sich mit Vorgängen historisch-politischer Bedeutung befassen, einen meinungsbildenden Inhalt, sondern auch solche, die Fragen von allgemeinem gesellschaftlichen Interesse aufgreifen. Auch durch unterhaltende Beiträge kann Meinungsbildung stattfinden; solche Beiträge können die Meinungsbildung unter Umständen nachhaltiger anregen und beeinflussen als sachbezogene Informationen.“262 Soweit die Beklagte mit ihrer Werbung „dazu auffordere, Publikationen vor ihrer Veröffentlichung einer sorgfältigen inhaltlichen Überprüfung zu unterziehen, thematisiere sie einen Belang von öffentlichem Interesse“263 und könne sich somit auf den Schutz des Art. 5 Abs. 1 S.1, 1. Alt. GG berufen. Vereinzelt wurden jüngst aber auch produkt- bzw. marktbezogene werbliche Äußerungen unter den grundgesetzlichen Meinungsbegriff subsumiert, ohne dabei einen politischen bzw. gesellschaftlichen Bezug herzustellen. Die Entscheidung „Gib mal Zeitung!“264 handelt von einem sarkastischen Kino-Werbespot der „TAZ“, welcher auf scherzhafte Art und Weise zum Ausdruck bringen sollte, dass die „TAZ“ „nicht für jeden ist“, also nicht dem Massengeschmack entspricht und sich insbesondere nicht an die Leser wendet, die zum Typus des „Bild“-Zeitungslesers gehören. Dabei zog der BGH zur Interpretation des Begriffs der unlauteren Herabsetzung i. S. d. § 6 Abs. 2 Nr. 5 UWG ohne Weiteres u. a. die Wertungen des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG heran.265 Freilich könnte man auch hier argumentieren, dass der Spot
anwaltliche Schockwerbung auf Kaffeetassen; OLG Hamm GRUR 2003, 975: Kopplung von Bierkauf mit Sponsoring-Leistungsangebot. 261 BGH NJOZ 2008, 4549; vgl. auch das Parallelverfahren BGH GRUR 2008, 1124, in dem das besagte Tabakunternehmen in satirisch-spöttischer Form die Entgleisungen von Ernst August von Hannover für seine Werbung nutzte. 262 BGH NJOZ 2008, 4549, 4552. 263 BGH NJOZ 2008, 4549, 4552 f. 264 BGH GRUR 2010, 161. 265 BGH GRUR 2010, 161, 164, trotz zwingender europarechtlicher Determination des § 6 UWG.
III Entwicklung in der Literatur
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eine Diskussion von allgemeinem Interesse über Qualitätsjournalismus anregen will. Die Richter stellten jedoch nicht auf diesen Aspekt, sondern vornehmlich auf den Produktvergleich und die Frage der Verunglimpfung ab. Noch eindeutiger ist der Befund zu einem Urteil des BGH aus 2016, das die Frage der Zulässigkeit von Werbung auf einer anwaltlichen Berufskleidung zum Gegenstand hatte.266 Denn hier legten die Bundesrichter den Maßstab der Meinungsfreiheit ebenfalls an, obwohl auf der umstrittenen Robe lediglich der Name des Rechtsanwaltes und die Internetadresse seiner Kanzlei vermerkt waren.
III
Entwicklung in der Literatur
III Entwicklung in der Literatur
In Anlehnung an die Weimarer Staatslehre, welche „geschäftliche[n] Ankündigungen“ bzw. „Ankündigungen, die auf den Verkauf von Waren gerichtet sind“, die Verfolgung „ungeistiger Ziele“ unterstellte und somit den Schutz der Meinungsfreiheit versagte267, sprach sich die früher herrschende Lehre in der Bundesrepublik pauschal gegen die Einbeziehung von Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG aus.268 Begründet wurde dies – im Gleichklang mit früheren Entscheidungen des BVerfG und der Fachgerichte – mit der Behauptung, dass wirtschaftliche Ziele einer Äußerung den Meinungscharakter nehmen würden.269 Schließlich wolle der Werbende lediglich den potentiellen Käufer beeinflussen, hingegen nicht seine persönliche Überzeugung ausdrücken.270 Alsbald kamen jedoch gewichtige Gegenstimmen auf. So durchbrachen in den 1960er Jahren vor allem Eichmann271, Wacke272 sowie Lerche273 diese breite Meinungsfront und plädierten für einen grundsätzlichen meinungsfreiheitlichen Schutz von Wirtschaftswerbung. Dabei argumentierten die Vorreiter u. a. damit, dass „Werbung für Ware“ der „Werbung für Ideen“ im Grunde genommen gleiche, der Unternehmer mit seiner Werbung – trotz der kommerziellen Triebfeder – über266 BGH NJW 2017, 407, 409. 267 Etwa Häntzschel, in: HDStR II, 651, 655. 268 Stellvertretend Lenz, in: Hamann/Lenz, Art. 5 B. Rn. 1. 269 Stein, in: Zinn/Stein I, Art. 11 Rn. 3. 270 Vgl. Schmidt-Tophoff, Das Recht der Außenwerbung, 58; Strodthoff, Werbung in Wirtschaft und Recht, 69. 271 Eichmann, GRUR 1964, 57, 61. 272 Wacke, in: FS Schack, 197, 201 ff. 273 Lerche, Werbung und Verfassung, 76 ff. 51
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§ 4 Stand in Rechtsprechung und Literatur
zeugen wolle.274 Allerdings knüpften sie die Unterschutzstellung gleichzeitig an einige Voraussetzungen, so dass nicht jede Form von Werbung erfasst sein sollte. Nach Eichmann sind Werbebotschaften etwa nur dann schützenswert, soweit sie zum einen den „Hinweis auf irgendeine Besonderheit, die die gewerbliche Leistung nach Ansicht des Werbungtreibenden als außergewöhnlich kaufgünstig erscheinen lässt“275 und zum anderen „eine rationale Untermauerung dieser Behauptung“276 enthielten. Kundgaben von Tatsachen, reine Erinnerungswerbung oder die bloße Namensnennung seien indes nicht geschützt.277In die gleiche Richtung weisen Wackes Ausführungen. Ihm zufolge genießt Wirtschaftswerbung nämlich nur dann den meinungsfreiheitlichen Schutz, wenn sie inhaltliche Substanz aufweise.278 Dementsprechend fielen ebenfalls Slogans sowie reine Tatsachenmitteilungen aus dem Schutzbereich.279 Eine ähnliche Unterscheidung trifft Lerche, indem er informativ-wertende Werbemitteilungen verlangt und Botschaften, denen es an „Konkretheit“ und klarer „Zurechenbarkeit“ fehlt, vom Schutz der Meinungsfreiheit ausnimmt.280 Als Beispiele für ausgeklammerte Werbeformen führt auch er reine Erinnerungswerbung sowie bloße Warens- und Namenszeichenangaben an.281 Diese grundsätzlich befürwortende Ansicht setzte sich letztlich im Laufe der Jahre durch und kann heute getrost als herrschende Lehre bezeichnet werden. Die große Mehrheit der Autoren aktueller Werke orientiert sich – wenn auch mit teils abweichender Akzentuierung – an der einzelfallbezogenen Dogmatik der drei Pioniere.282 Stellvertretend sei eigens Degenhart genannt, welcher neben diversen 274 Terminologie Lerche, Werbung und Verfassung, 79; vgl. zudem Eichmann, GRUR 1964, 57, 61; Wacke, in: FS Schack, 197, 202 f. 275 Eichmann, GRUR 1964, 57, 61. 276 Eichmann, GRUR 1964, 57, 61. 277 Eichmann, GRUR 1964, 57, 61. 278 Wacke, in: FS Schack, 197, 204 ff. 279 Wacke, in: FS Schack, 197, 204 ff. 280 Lerche, Werbung und Verfassung, 86. 281 Lerche, Werbung und Verfassung, 86. 282 Ahrens, JZ 2004, 763, 769 fordert einen verbal eindeutig formulierbaren Aussagegehalt, der bei der bloßen Verwendung einer Marke nicht gegeben sein soll; nach Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 64 dient ein Großteil – also nicht jede Form – der Wirtschaftswerbung der Meinungsbildung; Hesse, ZUM 1987, 548, 550 schließt sich ausdrücklich Lerche an; Hoffmann-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 31; ders., ZUM 1996, 1, 4 sieht die Werbung nur in ihrem kommunikativen Gehalt von der Meinungsfreiheit erfasst; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 5; Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 651; Schemmer, in: BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 4; Schmitt-Glaeser, AöR 113 (1988), 52, 72 gibt an, dass eine meinungsbildende Funktion von Wirtschaftswerbung „in der Regel
III Entwicklung in der Literatur
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anderen Werbemaßnahmen vor allem auch Schleichwerbung und Product Placement von der meinungsfreiheitlichen Protektion ausschießen will.283 Nur sehr wenige Stimmen gehen – zumindest vermeintlich – einen Schritt weiter und treten explizit für einen Schutz aller Werbebotschaften und -formen ein.284 So proklamiert etwa Hatje, „daß es praktisch keine Werbebotschaft gibt, die inhaltlich nicht geeignet wäre, als Meinung i. S. v. Art. 5 Abs. 1 GG geschützt zu werden.“285 Unterdessen nimmt er aber die Präsentation unbekannter Markennamen oder -zeichen implizit vom Schutz aus.286 Gleichermaßen bezieht Drettmann Stellung, welcher dazu Zweifel in Bezug auf die Schutzwürdigkeit „akzidentielle[r] Werbung der Einzelhändler“287 äußert. Diese Erkenntnis darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nach wie vor beachtliche Gegenvoten im Schrifttum gibt. Hervorzuheben sind hierbei insbesondere Faßbender und Ipsen, in weiten Teilen auch Oppermann.288 Alle drei halten (grundsätzlich) an der ablehnenden Auffassung fest und begründen diese neben der altbekannten Attestierung einer fehlenden „geistigen Auseinandersetzung“ in der Sache z. B. mit der generellen Verortung der Werbung in den Bereich des wirtschaftlichen Handelns, mit der historischen Auslegung sowie mit systematischen Erwägungen in Bezug auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 Abs. 1 GG.289
anzunehmen“ sei; zwar befürwortend, jedoch in dieser Frage nicht ins Detail gehend und somit offenlassend: Bleckmann, Staatsrecht II, § 26 Rn. 22 f.; Hufen, in: FS Schmidt, 347, 348 ff.; ders., Staatsrecht II, § 25 Rn. 9; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 23; Schulze-Fielitz, in: Dreier I, Art. 5 I, II Rn. 62; Schuppert, AfP 2003, 113, 115; Selmer, in: FS Vogel, 405, 416 ff.; Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 79; Ullmann, GRUR 1996, 948, 951. 283 Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 137; ders., in: FS Lukes, 287, 301 ff. klammert zudem einfache Plakatfälle, bestimmte Formen der Trikotwerbung sowie bloße Aufmerksamkeitswerbung aus. 284 Etwa Wendt, in: von Münch/Kunig I, Art. 5 Rn. 11. 285 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 85. 286 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 25 f., 84. 287 Drettmann, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 116 ff. 288 Zumindest kritisch auch Jestaedt, Jura 2002, 552, 557. 289 Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 422; grundsätzlich gegen die Einbeziehung, jedoch Ausnahmen anerkennend Faßbender, GRUR Int. 2006, 965, 969 ff.; Oppermann, in: FS Wacke, 393, 395 ff. 53
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§ 4 Stand in Rechtsprechung und Literatur
IV Auswertung IV Auswertung
Die Rechtsprechung des BVerfG zum Grundrechtsschutz der Wirtschaftswerbung ist von einem bemerkenswerten Wandel geprägt. In der Konsequenz der frühen generellen Positionierung gegen die Einbeziehung der Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit hat das BVerfG die Liberalisierung des Wirtschaftswerbesektors zunächst über Art. 12 Abs. 1 GG vorangetrieben. Ausgehend von den Entscheidungen zu in Presseberichten oder Buchveröffentlichungen eingebetteten Anpreisungen verschob sich der Schwerpunkt der Rechtsprechung sodann allmählich auf Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG. Nach dem vorläufigen Höhepunkt – der Entscheidung „Therapeutische Äquivalenz“ – bremsten die Verfassungsrichter diese Entwicklung in jüngeren Entscheidungen jedoch wieder aus. Legt man also die beiden skizzierten Rechtsprechungslinien übereinander, zeichnet sich aktuell folgendes Bild ab: Gesichert ist, dass nach dem BVerfG zumindest pressetextliche und literarische Anpreisungen sowie Wirtschaftswerbung mit evident gesellschaftskritisch bzw. politisch meinungsbildendem Inhalt in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fallen. Offensichtlich scheint es zudem wahre produkt- bzw. dienstleistungsbezogene Tatsachenangaben, wie z. B. die zutreffende Mitteilung von CO2-Werten eines PKWs oder von Öffnungszeiten oder den bloßen Hinweis auf die Existenz eines Unternehmens bzw. Produktes, nicht an Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG zu messen. Hinsichtlich der sonstigen Inhalte des (vermeintlich) unpolitischen „Normalfalls“290 der produkt- oder marktbezogenen Werbung zeigt sich die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung hingegen ambivalent und sorgt somit für viele Fragezeichen. Muss ein Bierhersteller in seiner Werbung etwa zur Rettung der Dritten Welt aufrufen, um in den Genuss der Meinungsfreiheit zu kommen? Ist die Werbekampagne eines Modeunternehmens nur dann schutzwürdig, wenn es diese mit der Aufforderung zur Bekämpfung von Homophobie verbindet? Oder reicht eine völlig gesellschaftsunkritische Wertung, wie beispielsweise der bloße Hinweis eines Wurstfabrikanten, seine Wurst sei „absolute Weltklasse“, zur Eröffnung des Schutzbereichs aus? Die Rechtsprechung der Fachgerichte nahm letztendlich einen vergleichbaren Verlauf. Lehnten die Fachrichter im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung des einfachen Rechts zunächst ebenso einheitlich die Einbeziehung von Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit pauschal ab, wurden mit der Zeit Werbebeschränkungen – teilweise naturgemäß chronologisch früher und sozusagen in „vorauseilendem Gehorsam“, aber auch sensibilisiert durch die
290 Terminologie von Hufen, in: FS Schmidt, 347, 352.
IV Auswertung
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genannten Leitentscheidungen des BVerfG – mehr und mehr an Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG gemessen. Auch in der Literatur lässt sich ein deutlicher Meinungsumschwung beobachten, welcher allerdings ungleich eher einsetzte und sich im Vergleich wesentlich radikaler vollzog. Die heute herrschende Lehre geht demnach von einer recht weitgehenden Einbeziehung wirtschaftswerblicher Inhalte in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus. So bescheinigt die überwiegende Zahl der Autoren auch produkt- bzw. dienstleistungsbezogenen Tatsachenangaben sowie (vermeintlich) unpolitischen Werturteilen die Meinungseigenschaft. Unter den Befürwortern besteht vornehmlich Uneinigkeit über die Schutzwürdigkeit von Markenzeichenangaben und Erinnerungswerbung. Zudem werden Zweifel an der Protektionsdignität von akzidentieller Werbung der Einzelhändler, Schleichwerbung und Product Placement geäußert. Neben der Beantwortung dieser speziellen Fragestellungen werden nichtsdestotrotz die nach wie vor von einigen Literaten angeführten pauschalen Gegenargumente zur allgemeinen Unterschutzstellung auf ihre Durchschlagskraft zu inspizieren sein.
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Zweiter Teil Wirtschaftswerbung im Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG
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Meinungspotential von Wirtschaftswerbung
§ 5 Meinungspotential von Wirtschaftswerbung
§5
Die Grundvoraussetzung für den Schutz der Wirtschaftswerbung durch die Meinungsfreiheit ist, dass diese überhaupt Meinungen i. S. d. Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG beinhalten kann. Demnach hat die Auseinandersetzung mit der Frage, ob und ggf. welche Werbeinhalte grundsätzlich geeignet sind, Meinung zu sein, gleich am Anfang des zweiten Teils der Arbeit zu erfolgen.
I
Werturteile und meinungsbildende Tatsachenbehauptungen im Bereich der Wirtschaftswerbung
I Werturteile und meinungsbildende Tatsachen
Wirtschaftswerbung enthält (kommerzielle) Anpreisungen. Dies deutet auf eine hohe Meinungsrelevanz, d. h. auf das Vorhandensein einer Vielzahl von Wertungen sowie meinungsbildenden Tatsachenäußerungen, hin.
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Einzelne Wirtschaftswerbemaßnahmen
Zunächst sind – in Abgrenzung zur Gesamtheit aller wirtschaftswerblichen Maßnahmen – einzelne Werbemaßnahmen auf ihren Meinungsgehalt zu beleuchten. Die folgende Untersuchung orientiert sich hierbei an der oben vorgenommenen Unterteilung der Werbungsformen.291
291 Siehe § 2 II. 2. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Arnold, Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4_5
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§ 5 Meinungspotential von Wirtschaftswerbung
a)
Unterscheidung nach Werbe-Submix
aa)
Klassische Werbung
Inhaltlich folgen klassische Werbeinhalte dem – bereits erläuterten – für alle Werbebotschaften geltenden charakteristischen Schema.292 aaa) Grundgehalt Eingangs stellt sich die Frage, ob schon der jeder Werbeaussage immanente Grundgehalt, sprich der Hinweis auf ein Produkt und/oder den Produzenten i. V. m. einer direkten oder indirekten Kaufempfehlung bzw. Empfehlung zur Inanspruchnahme der angebotenen Leistung, isoliert betrachtet vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst sein kann. Exakt analysiert enthält nämlich bereits der bloße Produkt- bzw. Produzentenhinweis die Tatsache der Existenz des jeweiligen Produkts und/oder Unternehmens. So banal diese Information klingen mag, so wesentlich ist sie für das Publikum. Denn die Kenntnis von der Existenz eines Produkts stellt nicht nur die Grundvoraussetzung für einen späteren Erwerb dar, sondern – vorgelagert – ggf. auch für weitere meinungsbildende Nachforschungen durch den Verbraucher. Damit beinhaltet die werbliche Kernaussage zumindest eine wahre Tatsachenbehauptung, welche fernerhin Voraussetzung zur Meinungsbildung ist. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Tatsachenschutz293 im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 S.1, 1. Alt. GG ernstgenommen kann der werbliche Grundgehalt allein deswegen in den Schutzbereich fallen. Warum ausgerechnet der Bereich der Wirtschaftswerbung, welcher die fließenden Grenzen zwischen wertenden Stellungnahmen und Tatsachen besonders deutlich aufzeigt, von der weiten bundesverfassungsgerichtlichen Schutzbereichsdogmatik 294 ausgenommen werden soll, leuchtet jedenfalls nicht ein. Zudem gilt es, Folgendes zu beachten: Indem das werbende Unternehmen zum Erwerb seiner Produkte bzw. zur Inanspruchnahme seiner Dienstleistungen animiert, bewertet es diese zum einen konkludent als „kaufens- bzw. auftragswert“. Zum anderen geht damit zumindest dann, wenn sich die Werbeaussage auf den Grundgehalt beschränkt, unweigerlich – sozusagen als notwendiger Zwischenschritt – auch die Aufforderung, weitere Produktrecherchen anzustellen, einher, die wiederum eine versteckte Bewertung als „nachforschenswert“ enthält. Deutlich wird dies insbesondere durch die Nutzung von erkennbar ergänzungsbedürftigen Slogans und markigen Aussagen, die keine eigenständige Behauptung enthalten und lediglich Aufmerksamkeit erwecken sowie Anreize zu weiteren Produktnach292 Siehe § 2 II. 3. 293 Siehe § 3 IV. 2. 294 Siehe § 3 IV. 1.
I Werturteile und meinungsbildende Tatsachen
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forschungen bieten sollen. 295 Insofern impliziert die werbliche Grundaussage über den Tatsachenkern hinaus „klassische“ Werturteile. bbb)
Informative Zusätze
Über den Grundgehalt hinaus weisen die allermeisten klassischen Werbebotschaften unmittelbar produkt- bzw. produzentenbezogene informative Zusätze auf, deren Meinungsrelevanz hingegen auf den ersten Blick zu erkennen ist. (1) „Echte“ Werturteile Dementsprechend offenbart sich an dieser Stelle eine schier unendliche Fülle an „echten“ Werturteilen, die ihren Ausdruck regelmäßig in einer direkten oder indirekten positiv-adjektivischen Umschreibung in Wort, Schrift 296 und/oder (Bewegt-)Bild297 finden. Besonders beliebt ist dabei die Verwendung von Komparativen298 und Superlativen299, so dass auch vergleichender Werbung300 das Privileg des Schutzes der Meinungsfreiheit zukommen kann.301 In diesem Zusammenhang spielen ferner Abwertungen eine gewichtige Rolle. Unternehmen setzen bisweilen ihre Mitbewerber und deren Produkte herab, um sich und die eigenen Produkte zu erhöhen.302 Solche werblichen Praktiken fallen – wie gesehen – selbst dann in den Schutzbereich, wenn sie einen beleidigenden oder gar schmähkritisierenden Anstrich haben.303
295 Vgl. BVerfG NJW 2010, 3501, 3502; i. Ü. siehe § 3 VI. 3.; z. B.: „Douglas – Come in and find out“, „Nike – Just do it“, „Domäne…kann’s“. 296 Direkt: „Fiat 500: Groß in der Leistung – klein im Verbrauch“; „Meister Proper Waschmittel Color: Starke Schmutzentfernung. Leuchtende Farben.“; „Der neue BMW 3er Gran Turismo: Großartig außen. Großzügig innen.“; indirekt: Der Werbeslogan „Mercedes CLA-Shootingbrake – eine neue Ära der Vernetzung“ beinhaltet die Aussage, dass der PKW mit besonders konnektiver Technik ausgestattet und damit modern ist. 297 Z. B.: Die Abbildung eines sich im Meer gegenseitig nass spritzenden Paares im Rahmen der „Lübzer Grapefruit“-Werbung soll aufzeigen, dass das Bier erfrischend ist. 298 Z. B.: „Schneller steif, länger steif – Hansano Konditorsahne“. 299 Z. B.: „Redcoon feiert 10 Jahre – Der billigste Jubiläumsverkauf aller Zeiten“. 300 Z. B.: „Was ist blau und günstiger als die Telekom? Sparen Sie bei O2!“; „Block House: Hier gibt’s die besten Steaks der Stadt“; „Penny – Die günstigsten Anlaufstellen auf dem Kiez: Cindy, Mandy und Penny“. 301 Vgl. Kloepfer/Michael, GRUR 1991, 170. 302 Vgl. etwa BGH GRUR 2010, 161, 164. 303 OLG München GRUR-RR 2004, 309, 311, das jedoch Schmähkritik vom Schutzbereich ausschließen will; vgl. ferner Ohly, in: Ohly/Sosnitza, § 6 UWG Rn. 66 ff. 61
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§ 5 Meinungspotential von Wirtschaftswerbung
(2) Meinungsbildende Tatsachenmitteilungen Zugleich lässt sich aber auch eine große Menge an Tatsachenmitteilungen finden, die bestimmte produkt- bzw. produzentenbezogene Eigenschaften i.w.S. enthalten. Dementsprechend wird der Werbeadressat beispielsweise über besondere Inhaltsstoffe, Verwendungsmöglichkeiten, Testergebnisse oder schlicht den Preis und die Öffnungszeiten informiert. Dabei ermöglichen nicht nur die einzelnen Tatsachenbehauptungen für sich genommen eine Wertung – so lassen beispielsweise Preisangaben Vergleiche mit den Angeboten der Mitbewerber sowie Rückschlüsse über die Qualität der Produkte304 bzw. der Dienstleistungen oder die Öffnungszeiten Folgerungen auf die Kundenfreundlichkeit der Unternehmen zu –, sondern wirkt bereits auch deren Auswahl meinungsbildend.305 Schließlich wird der Werbende i. a. R. nur solche Eigenschaften anführen, die ihn oder sein Produkt in ein positives Licht rücken. All diese Feststellungen beweisen abermals, wie eng die Verzahnung von Meinungen und Tatsachenangaben auf diesem Terrain ist, und stützen damit die Forderung nach der konsequenten Anwendung der allgemeinen Tatsachenschutzdogmatik für den Bereich der Wirtschaftswerbung. Da das BVerfG bewusst und erwiesenermaßen unwahre Tatsachenkundgaben vom Grundrechtsschutz ausnimmt,306 ist an dieser Stelle eine nähere Befassung mit den Wahrheitsanforderungen angezeigt. Unternehmen sind nämlich nicht selten geneigt, ihre Produkte zur Erhöhung der Absatzchancen mit Eigenschaften zu garnieren, die diese gar nicht aufweisen.307 Dass eine solch klare und unverhohlene Lüge nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sein kann, ist offensichtlich. Jedoch muss in gewissen Grenzfällen genau analysiert werden, ob der Werbende bewusst wider besseres Wissen gehandelt hat bzw. was er wenigstens hätte wissen müssen. Dabei gelten die allgemeinen Kriterien. 308 Dies hat zur Folge, dass insbesondere an den werbenden Hersteller erhöhte Sorgfaltsanforderungen zu stellen sind, da die Fabrikation des Produkts in seiner Herrschaftssphäre erfolgt und für ihn Nachprüfungen aufgrund dessen im Allgemeinen leichter durchzuführen sind. 304 Dies zeigt etwa die Debatte um sog. Billigfleisch aus Massentierhaltung besonders deutlich. 305 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 82 f.; Hufen, in: FS Schmidt, 347, 354 f. 306 Siehe § 3 IV. 2. 307 Die durch den irreführenden Namen und entsprechende Abbildungen vorgenommene Täuschung über gewisse Aromen eines Lebensmittels fiele dementsprechend nicht in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG, vgl. hierzu etwa OLG Düsseldorf GRUR-RR 2013, 300. Ebenso verhält es sich beispielsweise mit PKW-Werbung, die mit geschönten Abgaswerten operiert – wie geschehen im sog. „Volkswagen“-Abgas-Skandal. 308 Siehe § 3 IV. 2.
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Insgesamt dürfen aber die Anforderungen auch für den Produzenten nicht so hoch sein, dass der Zweck der Meinungsfreiheit darunter leidet. Dies betrifft vor allem Fragen der wissenschaftlichen Beweisbarkeit.309 Dagegen kann etwa der werbende Händler grundsätzlich – soweit es keine gegenteiligen Anhaltspunkte gibt – auf die Herstellerangaben vertrauen, da er einen wesentlich erhöhten Nachforschungsaufwand betreiben müsste. (3) Vorenthaltung von Informationen So bereitwillig der Werbende die positiven Seiten des beworbenen Produkts bzw. Produzenten herausstellt, umso schwerer wird es ihm naturgemäß fallen, nachteilige, dem Werbeerfolg nicht zuträgliche Eigenschaften anzuführen. Da Art. 5 Abs.1 S. 1, 1. Alt. GG jedoch ebenfalls die negative Meinungsfreiheit enthält, ist auch das Verschweigen bestimmter Produktinformationen geschützt. Dementsprechend kann der Schutzbereich im Falle der Auferlegung von Offenbarungs-, Hinweis- und Aufklärungspflichten selbstredend eröffnet sein. Auch das BVerfG hat sich zu dieser Thematik bereits geäußert. Im Rahmen der oben angesprochenen Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit staatlicher Warnungen auf Tabakerzeugnisverpackungen aus dem Jahre 1997 ging es allerdings davon aus, dass die negative Seite von Art. 5 Abs.1 S. 1, 1. Alt. GG letztendlich nicht beeinträchtigt sein kann, soweit die Warnung „deutlich erkennbar Äußerung einer fremden Meinung“ 310 ist, dem werbenden Hersteller folglich nicht zugerechnet wird.311 In einem solchen Fall sei das Verhalten des Staates lediglich an der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG zu messen.312
309 So auch Hufen, in: FS Schmidt, 347, 355. Als Beispiel kann in diesem Zusammenhang etwa Werbung für homöopathische Arzneimittel unter Angabe von Anwendungsgebieten dienen (welche allerdings durch § 5 HWG grundsätzlich verboten ist). Schließlich vertrauen Millionen von Menschen weltweit auf die Wirksamkeit der Homöopathie, obwohl in den allermeisten Fällen ein wissenschaftlicher Wirksamkeitsnachweis nicht erbracht werden kann. Die Effektivität von Homöopathika ist demnach mittlerweile regelrecht zur Glaubensfrage avanciert. Dahingehende Tatsachenäußerungen basieren somit genau genommen selbst auf einer Wertung, was deren enorme Meinungsbildungsrelevanz, mithin allgemein die Verquickung von „echten“ Meinungen und Tatsachen abermals belegt, vgl. hierzu BGH GRUR 2012, 647, 651. Vergleichbar ist letztlich auch BVerfG NJW 2001, 3403, obwohl die Entscheidung den Tatsachenkern der werblichen Äußerung ignoriert. 310 BVerfGE 95, 173, 182; i. Ü. siehe § 3 IV. 7. 311 So auch Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 659; Schemmer, in: BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 20 f.; a. A. Ruffert, in: BeckOK-GG, Art. 12 Rn. 164. 312 BVerfGE 95, 173, 181. 63
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§ 5 Meinungspotential von Wirtschaftswerbung
Dabei verkannte das Gericht eindrucksvoll die Reichweite der negativen Komponente. Wie gesehen kann es nämlich nicht auf die Urheberschaft einer Meinung ankommen. Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG schützt vielmehr Meinungsäußerungen als solche. Dies hat jedoch unweigerlich zur Folge, dass die negative Freiheit – spiegelbildlich zur positiven Gewährleistung – ebenso vor der Pflicht schützt, eine fremde Meinung als fremde verbreiten zu müssen.313 Demnach kann auch die Pflicht zum Abdruck erkennbar staatlicher Warnhinweise in den Schutzbereich fallen.314 Davon unabhängig vernachlässigten die Verfassungsrichter mit ihrer auf die negative Meinungsfreiheit beschränkten Sichtweise Di Fabios berechtigten Einwand, dass die Kennzeichnungsanordnung dem Hersteller aus teleologischen Gründen implizit untersagt, auf der Produktverpackung in entsprechender Weise das Gegenteil dessen zu behaupten, was durch die Warnhinweise vermitteln werden soll.315 Dies zugrunde gelegt muss letztlich auch das BVerfG jedenfalls die Möglichkeit einer Beeinträchtigung der positiven Seite der Meinungsfreiheit durch die staatliche Instru mentalisierung von Verpackungen zum Zwecke der Gegenwerbung konzedieren. ccc)
Suggestiv vermittelte Zusätze
Darüber hinaus beinhalten klassische Werbeaussagen – wie gesehen – typischerweise weitere Zusätze, die jedoch nicht unmittelbar produkt- bzw. produzentenbezogen sind, sondern primär auf die emotionale Seite des Werbeadressaten abzielen und einen erhöhten Suggestivitätsgrad aufweisen. Wurden solche Elemente zunächst insbesondere von der Tabak- und Jeansindustrie verwendet, ist Suggestivwerbung mittlerweile allgemein üblich. Die Gefühlsgerichtetheit darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass solche Zusätze gleichfalls als Transportmittel von Werturteilen dienen. So wird etwa das Rauchen bestimmter Zigaretten, das Tragen einer bestimmten Jeans oder das Fahren eines bestimmten Autos durch das Aufladen der Produkte mit einem gewissen Image oder das Kreieren von Leitbildern klandestin als schick, kommunikativ, rebellisch, freiheits- oder charakterstiftend bewertet.316 In diesem Zusammenhang spielt auch das Instrument des Imagetransfers eine bedeutende Rolle. So wird häufig 313 Siehe § 3 IV. 7. 314 Umfassend hierzu Kloepfer, Produkthinweispflichten bei Tabakwaren als Verfassungsfrage, 28 f. 315 Di Fabio, NJW 1997, 2863. 316 So auch Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 79; z. B.: „Chester field“-Plakat mit Abbildung eines ausdrucksstarken Männergesichts: „Romantiker – Kämpfer – Chester“; „Winston“-Plakat mit zwei rauchenden und sich unterhaltenden Friseuren vor ihrem Salon: „1 Salon – 25 Haarschnitte – 5 Minuten Freiheit“; zweigeteiltes „Wrangler“-Plakat dividiert die Menschheit in „Wrangler“, also „coole“ Individualisten
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die Sympathie zu bekannten Persönlichkeiten, wie zu Schauspielern oder Sportlern, genutzt, um deren positive Eigenschaften mittels entsprechender Inszenierung auf das jeweilige Produkt zu projizieren.317 Die potentielle Meinungsqualität von Imagetransfers wird besonders durch den Vergleich mit der unstrittig meinungsrelevanten politischen Wahlkampfwerbung sichtbar, welche sich ebenfalls häufig prominenter Schützenhilfe bedient.318 Nicht selten gehen mit dieser Art Werbung demnach regelrechte Interpretationsund Identifikationsangebote an den Verbraucher einher, so dass dieser im Ergebnis des Identifikationsprozesses durch die Benutzung des beworbenen Produktes sogar selbst gewisse wertende Überzeugungen ausdrückt.319 ddd)
Insbesondere: einfache Plakatfälle
Immer wieder wird die Meinungsdignität von Werbung mit bloßen Markenzeichen und -namen infrage gestellt.320 Dessen ungeachtet besitzen Marken- und Namenszeichen jedoch – wie erläutert – im Werbeumfeld einen schutzessentiellen eigenen Aussagegehalt.321 Dieser wird sich zwar nicht selten auf den (für den Schutz durch Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG vollkommen ausreichenden) werblichen Grundinhalt und dessen Meinungswert beschränken, kann aber aufgrund der kreativen Zeichengestaltung oder aufschlussreicher Namensgebung sogar zusätzlich informative und suggestive Wertungselemente in sich bergen.322 Für die Möglichkeit der Einbeziehung solcher Darstellungen in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG und gegen die Abqualifizierung als bloße Wahrnehmungszeichen, die keinen Kommunikationsvorgang auslösen,323 streiten dazu nachfolgende Überlegungen: Zuerst sei in Erinnerung gerufen, dass es nicht auf die Form einer Mitteilung, sondern und Freiheitsmenschen, sowie „Wrongler“, mithin Herdentiere und Mitläufer; „Mercedes“-Werbung mit Untertitel: „Der neue GLA – Freiheit ist ansteckend“. 317 Z. B.: „Haribo“-Werbung mit Thomas Gottschalk. 318 Vgl. Handelsblatt-Online, Bekannte Wahlkampfhelfer – Diese Promis rühren die Werbetrommel für die Parteien, http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/ bundestagswahl-2013/bekannte-wahlkampfhelfer-diese-promis-ruehren-die-werbetrommel-fuer-die-parteien/8658008.html. 319 Vgl. Schuppert, AfP 2003, 113, 115. 320 Siehe § 4 III. 321 Siehe § 2 II. 3. 322 Informativ: Der „Lamborghini“-Stier dient etwa als Symbol für leistungsstarke Motoren und schnelle Autos; suggestiv: Der Lorbeerkranz um den „Mercedesstern“ symbolisiert beispielsweise Erfolg und will somit Siegertypen ansprechen bzw. aus jedem, der einen „Mercedes“ kauft, i.ü.S. einen Erfolgstyp machen. 323 von Münch, AfP 1974, 598, 601. 65
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auf deren Inhalt ankommt. Alle erdenklichen Weisen, Meinungen kundzutun, sind geschützt.324 Außerdem ist keine durchgreifende Divergenz zwischen dieser Form der wirtschaftlichen Kommunikation und Parteisymbolen oder -kürzeln erkennbar.325 Letzteren wird hingegen reinweg Meinungsqualität bescheinigt.326 Der Vergleich mit politischen Zeichen bietet darüber hinaus ein weiteres Argument gegen Hatjes nach der Bekanntheit der Marke differenzierenden Ansatz.327 Schließlich würde niemand auf Parteikürzel reduzierte Werbung neuer politischer Parteien vom Schutz ausnehmen, allein weil im Gegensatz zu den etablierten Parteien das Parteiprogramm noch nicht geläufig ist. Gleiches muss auch für den wirtschaftswerblichen Sektor gelten. Der vollumfängliche Genuss der Meinungsfreiheit darf nicht nur allgemein bekannten Produkten und Unternehmen zuteilwerden.
bb)
Public Relations
Bei der Öffentlichkeitarbeit von Unternehmen geht es im Wesentlichen um Transparenz, Aufklärung, Vertrauensgewinn und die Ansehenssteigerung beim Publikum durch Äußerungen zu Themen, die sowohl einen geschäftlichen als auch einen öffentlichen Bezug haben.328 Public Relations soll mit anderen Worten ein positives Unternehmensbild in der allgemeinen Wahrnehmung formen, also die öffentliche Meinung über das werbende Unternehmen heben. Entsprechende Zeitungsanzeigen oder Pressemitteilungen sind folgerichtig über den Meinungsgehalt der werblichen Grundaussage hinaus ebenfalls mit einem Konglomerat aus informativen und suggestiven Inhalten ausgestattet, welche wertende Stellungnahmen und meinungsbildende Tatsachenäußerungen aufweisen, die den qualitativen Anforderungen des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG genügen.329
324 Siehe § 3 IV. 4. 325 So auch Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 84 f. 326 Siehe § 3 IV. 4.; vgl. etwa BVerfGE 71, 108, 113; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 12; Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 89. 327 Siehe § 2 II.3. 328 Vgl. Hartwig, ZUM 1998, 782, 788, der als Beispiele einen in einer Anzeige veröffentlichten Brief der „Yves Rocher GmbH“ an die französische Umwelt- und Forschungsministerin gegen die Wiederaufnahme der Atomversuche im Pazifik und eine Anzeige der „Deutschen Shell AG“, die die Kontroverse um die Versenkung der „Brent Spar“ in der Nordsee aufgreift, anführt. 329 Ebenso Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 82; Jarass, NJW 1981, 193, 194.
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cc)
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Direct Marketing
Die verschiedenen Formen des Direct Marketings grenzen sich von klassischen Werbemaßnahmen nur durch ihren individuellen Zuschnitt ab, weisen also ein ebenso breites Inhaltsspektrum auf. Der potentielle Meinungswert von E-Mail-Werbung, Retargeting, Haushaltswerbung, Telefonwerbung und Teleshopping ist demnach identisch mit dem der klassischen Werbung, so dass die obigen Ausführungen an dieser Stelle entsprechend gelten.330
dd)
Sponsoring
Sponsoringmaßnahmen sind stets bilateral. Auf der einen Seite steht die Förderung einer sportlichen, kulturellen oder sonstigen Veranstaltung. Im Gegenzug wird im Rahmen der Veranstaltung zumindest das Marken- oder Warenzeichen des Förderers dargestellt oder dessen Name genannt.331 Beide Dimensionen sind getrennt auf ihren Meinungswert zu überprüfen. Die durch die Präsentation des Markennamens bzw. -zeichens nach außen dokumentierte Unterstützung des Sponsors trägt zweifelsohne eine Sympathiebekundung oder sogar Solidarisierung mit dem Gesponserten sowie dessen Veranstaltung und damit deren Beurteilung als „unterstützenswert“ in sich.332 Die wertende Komponente wird umso augenfälliger, wenn man bedenkt, dass einer Sponsoringmaßnahme i. d. R. ein sorgfältig durchgeführter Auswahlprozess vorangeht, in dem etwa regionale Bezüge oder gemeinsame Wertevorstellungen eine wichtige Rolle spielen.333 Hinzu kommt der Meinungsgehalt der Markennamen und -zeichen im Werbeumfeld an sich. Diesbezüglich kann auf die Ausführungen zu den einfachen
330 Siehe § 5 I. 1. a) aa). Ergänzend sei an dieser Stelle erwähnt, dass Zeitpunkt und Ort von Meinungskundgaben mitgeschützt sind, siehe § 3 IV. 4. Demnach steht die Benutzung neuartiger Werbeplattformen, wie dem Internet, der meinungsfreiheitlichen Schutzwürdigkeit nicht entgegen. Dies gilt insbesondere auch für das genannte Retargeting, bei dem das Surfverhalten des Verbrauchers zunächst analysiert wird, um auf später besuchten Internetseiten individuell zugeschnittene Werbebanner schalten zu können. 331 Siehe § 2 II. 2. b). Teilweise werden im Rahmen des Sponsorings aber auch komplette Werbespots dargeboten – ermöglicht etwa durch digitale Banden. Bezüglich deren Meinungsgehalt sei an dieser Stelle auf die Ausführungen zur klassischen Werbung verwiesen. 332 So auch Ahrens, JZ 2004, 763, 768; Hoffmann-Riem, ZUM 1996, 1, 3 f. 333 Dementsprechend sponsern viele Unternehmen beispielsweise lokale Sportvereine. So tritt „Volkswagen“ etwa als Trikotsponsor des „VfL Wolfsburg“ auf. Deshalb werden – umgekehrt – regelmäßig auch gewisse Sympathien der Gesponserten für die jeweiligen Sponsoren deutlich. 67
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§ 5 Meinungspotential von Wirtschaftswerbung
Plakatfällen verwiesen werden,334 wobei beim Sponsoring aufgrund der eben geschilderten wertenden Unterstützung nicht selten zusätzlich suggestive Inhalte in Form eines gewissen Imagetransfers vorliegen werden.
ee)
Product Placement und Schleichwerbung
Die Platzierung von Markennamen und -zeichen z. B. auf Werbeplakaten im Hintergrund von Filmen, Serien oder Sendungen unterscheidet sich vom Sponsoring hauptsächlich im Grad der Suggestivität. Inhaltlich sind beide Werbeformen weitgehend deckungsgleich. So geht es bei dieser Form des Product Placements ebenfalls um die wertende Unterstützung eines Projekts sowie um die Zurschaustellung von Markenzeichen und -namen und die damit getätigten Imagetransfers. Hinsichtlich des potentiellen Meinungsgehalts gelten an dieser Stelle folglich die obigen Darstellungen.335 Product Placement durch den dramaturgischen Einbau von Produkten ist hingegen weitestgehend vergleichbar mit stark suggestiven klassischen Werbespots.336 Auch hier spielen insbesondere Imagetransfers eine gewichtige Rolle – nicht nur wegen der wertenden Unterstützung mit Blick auf das Projekt insgesamt, sondern zugleich hinsichtlich der konkreten das Produkt benutzenden Figur. 337 Indes werden zum Teil aber ebenso informative Inhalte vermittelt – beispielsweise durch das Aufzeigen bestimmter Eigenschaften. Bezüglich der mit dem Product Placement verwandten Schleichwerbung gilt Entsprechendes.338 Allerdings bleibt die Unterstützung des Projekts mangels Kennzeichnung im Verborgenen. Dementsprechend kommen die hierauf aufbauenden Wertungselemente bei getarnter Werbung nicht zum Tragen. 334 Siehe § 5 I. 1. a) aa) ddd). 335 Siehe § 5 I. 1. a) dd); in diese Richtung auch Bork, GRUR 1988, 264, 268; a. A. ohne nähere Begründung wohl Wacke, in: FS Schack, 197, 204. 336 Siehe § 5 I. 1. a) aa) ccc). 337 So platziert etwa „Aston Martin“ Autos in „James Bond“-Filmen, um die Attribute des Agenten (edel, charmant, elitär, sportlich etc.) auf die Wagen abfärben zu lassen. An dieser Stelle ist jedoch Vorsicht geboten. Bewegt sich der Werbende im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben, muss er die redaktionelle Unabhängigkeit wahren, vgl. § 7 Abs. 7 S. 2 Nr. 1 RStV. Seine Handlung erschöpft sich in der Zurverfügungstellung des jeweiligen Produkts. Dementsprechend kann nur diesbezüglich und nicht etwa in einer konkreten Inszenierung eine wertende Äußerung des werbenden Unternehmens vorliegen. Letztere ist hinsichtlich der inhaltlichen Aussage vielmehr von der Meinungsfreiheit der Filmemacher erfasst. 338 Auch das BVerfG misst getarnter Werbung offenbar Meinungscharakter bei, vgl. zum Teil die obige Fallgruppe der Anpreisungen im Rahmen redaktionell oder literarisch gestalteter Texte, siehe § 4 I. 2. a).
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b)
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Unterscheidung nach Einführungs-, Erhaltungs-, Erinnerungs- und Expansionswerbung
Neben der Unterscheidung nach dem Werbe-Submix unterteilt man Wirtschaftswerbung ferner in die Kategorien der Einführungs-, Erhaltungs-, Erinnerungs- und Expansionswerbung. Dabei wird allein der Erinnerungswerbung zum Teil – freilich ohne nähere Begründung – die Eigenschaft abgesprochen, meinungshaltig sein zu können.339 Diese Annahme fußt jedoch auf einem multiplen Fehlverständnis. Wie gesehen stellen die vier verschiedenen Gattungen nämlich lediglich Ausprägungen einer gemeinsamen Zielsetzung dar.340 Eine inhaltliche Unterscheidungskraft kommt ihnen folglich gar nicht zu. So können zur Einführung und zur Erinnerung auch inhaltlich identische Anzeigen geschaltet werden. Die landläufige Gleichsetzung von Erinnerungswerbung mit der Präsentation bloßer Marken- und Warenzeichen ist also nicht in jedem Fall zutreffend. Davon unabhängig ist auch die daran anknüpfende These, dass derartige Zeichen und Symbole keinen Meinungsgehalt haben, – wie bereits erläutert – nicht haltbar.341
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Gesamtheit der Wirtschaftswerbung
Jedoch ist nicht nur jede einzelne Werbemaßnahme für sich genommen geeignet, Meinungen i. S. v. Art. 5 Abs.1 S. 1, 1. Alt GG zu enthalten, sondern kommt auch der Gesamtheit aller wirtschaftswerblichen Akte ein eigenständiger Meinungswert zu. Wie gesehen schafft nämlich die Summe aller Anzeigen, Spots und Aktionen Markttransparenz und ermöglicht somit einen Blick auf die wirtschaftliche, politische, kulturelle Situation eines Gebietes,342 mithin „eine Annäherung an die Wahrheit“343. Diese Erkenntnis birgt indes ein weiteres gewichtiges Argument für die meinungsfreiheitliche Schutzeignung von einzelnen Werbemaßnahmen in sich. Denn damit ein bewertbares, aussagekräftiges und vollständiges Gesamtbild gewiss entstehen kann, muss jedes einzelne Puzzleteil als potentiell schützenswert angesehen werden.
339 Siehe § 4 III. 340 Siehe § 2 II. 2. d). 341 Siehe § 5 I. 1. a) aa) ddd). 342 Siehe § 2 I. 2. b) sowie § 2 I. 3. 343 Bleckmann, Staatsrecht II, § 26 Rn. 23. 69
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II
§ 5 Meinungspotential von Wirtschaftswerbung
Im Rahmen einer „geistigen Auseinandersetzung“
II Im Rahmen einer „geistigen Auseinandersetzung“
Es sei in Erinnerung gerufen, dass die Äußerung eines Werturteils bzw. einer meinungsbildenden Tatsache nicht die einzige Schutzvoraussetzung der Meinungsfreiheit darstellt. Die Kundgabe muss zudem im Rahmen einer „geistigen Auseinandersetzung“ erfolgen. Wie bereits erläutert verlangt dieses ungeschriebene Tatbestandsmerkmal, dass die Konfrontation mit argumentativen Mitteln zu führen ist.344 Wirtschaftswerbung sah und sieht sich nach wie vor dem Vorwurf ausgesetzt, ebendiese Anforderung nicht zu erfüllen, sondern einzig die Vermittlung von Kaufimpulsen anzustreben. 345 Im Wesentlichen werden von den Kritikern zwei Gründe für diese Annahme vorgebracht.
1
Fehlende innere Überzeugung des Werbenden?
Zum einen spiegele die Werbeaussage nicht die tatsächliche Überzeugung des Werbenden wider. Vielmehr orientiere sie sich inhaltlich an dem, was den meisten Absatzerfolg verspricht. Mit einer nicht aufrichtigen werblichen Äußerung könne man – so die Folgerung – aber gar nicht erst in eine „geistige Auseinandersetzung“ eintreten. 346 Vorab ist darauf hinzuweisen, dass nach heute gefestigter Dogmatik die Frage der inneren Überzeugung streng genommen keine Frage der „geistigen Auseinandersetzung“ ist, da durch diese Schutzhürde lediglich jede Form von Zwang ausgeschlossen werden soll.347 Nichtsdestotrotz wird sie – wie gesehen – in diesem Zusammenhang angeführt und daher auch an dieser Stelle behandelt. Unabhängig vom Standort der Diskussion kann der obigen Argumentation in der Sache freilich nicht gefolgt werden. Zunächst ist abermals zu bekräftigen, dass es auf subjektive Elemente, wie einer inneren Überzeugung, nicht ankommen kann, weil sie sich jeglicher Überprüfbarkeit entziehen.348 Eine Abschichtung nach der Wahrhaftigkeit von Meinungskundgaben käme also einer unzulässigen 344 Siehe § 3 IV. 1. 345 Früher etwa BayVerfGHE 4, 63 ff.; Häntzschel, in: HDStR II, 651, 655; heute Faßbender, GRUR Int. 2006, 965, 970; Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 422. 346 BGHSt 5, 12, 22; 8, 360, 379; Schmidt-Tophoff, Das Recht der Außenwerbung, 58; Strodthoff, Werbung in Wirtschaft und Recht, 69. 347 Siehe § 3 IV. 1. 348 Siehe § 3 IV. 6.
II Im Rahmen einer „geistigen Auseinandersetzung“
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Motivforschung349 gleich und würde zwangsläufig in einem „staatlichen Meinungsrichtertum“350 bzw. „Sittenwächtertum“351 enden. Darüber hinaus müssten andernfalls etliche politische Meinungsäußerungen aus dem Schutzbereich fallen, weil sie – vermeintlich – nur aufgrund von Parteidisziplin oder aus politischem Kalkül geäußert werden.352 Hinzu kommt, dass der Vorwurf rein tatsächlich nicht gerechtfertigt ist. Man kann dem Werbenden die Überzeugung von dem beworbenen Produkt sowie seiner Botschaft nicht pauschal absprechen.353 So nehmen Händler vorzugsweise nur ausgewählte, gut verkäufliche Waren in ihr Sortiment auf und machen sich infolgedessen i. d. R. vor der Ergänzung bzw. Veränderung der Produktpalette ein genaues Bild von den jeweiligen Produkteigenschaften. Wenn sie diese Eigenschaften dann in der Werbung herausstellen, kann von einer fehlenden Überzeugung nicht gesprochen werden. Sofern Drettmann also unterstellt, die Werbung des Einzelhändlers verfolge „vorrangig das Ziel, den Verbraucher auf den Umfang oder die Preiswürdigkeit des Angebots aufmerksam zu machen“354 , und dass eine „durch Art. 5 Abs.1 S. 1 GG zu schützende Einflussnahme auf die Meinungsbildung […] zu verneinen [sein kann], etwa in den Fällen, denen der Werbungstreibende vorrangig seiner Preisauszeichnungspflicht nachkommen will“355, verstößt er nicht nur gegen den geschilderten Grundsatz der Unzulässigkeit von Motivforschungen, sondern verkennt auch diesen Aspekt. Die Unrichtigkeit der Behauptung der fehlenden Wahrhaftigkeit von Werbebotschaften tritt indes besonders bei der Hersteller-Werbung zu Tage. Der Produzent gründet seine Existenz auf seinen Produkten und identifiziert sich dementsprechend mit seinen Werken. Nicht selten wird er sogar äußerst von seinen Fabrikaten bzw. Dienstleistungen eingenommen sein. Dies gilt vor allem, wenn der Herstellung eine jahrelange Entwicklung – etwa in unternehmenseigenen Forschungseinrichtungen – voranging. Wacke spricht in dem Zusammenhang zwar pathetisch, aber dennoch treffend von einem „missionarischen Charakter“356 der Werbung.
349 Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 23. 350 Schulze-Fielitz, in: Dreier I, Art. 5 I, II Rn. 62. 351 Leisner, UFITA 37 (1962), 129, 136 f. 352 So auch Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 89. 353 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 90; Wacke, in: FS Schack, 197, 202 f. 354 Drettmann, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 117. 355 Drettmann, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 118. 356 Wacke, in: FS Schack, 197, 202. 71
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§ 5 Meinungspotential von Wirtschaftswerbung
2 Manipulationsvorwurf Zum anderen sei Wirtschaftswerbung im Allgemeinen manipulativ und übe eine Art psychischen Zwang aus,357 so dass der Umworbene – ohne es zu merken – plötzlich „von sich aus will, was er eigentlich gar nicht wollte.“358 Doch auch diese pauschale These ist – wie gesehen – längst entkräftet. Denn sie basiert letztendlich auf der Verwechslung von suggestiv geschickt vermittelten Inhalten mit Manipulation und verkennt eindrucksvoll, dass werbungsvorgegebene Bedürfnisse im Verbraucher nie durch die Werbung geweckt, sondern einzig zu einem Bedarf konkretisiert werden können. 359 So bedient sich derweil auch der Prototyp aller Meinungskundgaben, die politische Propaganda, suggestiver Methoden360 – ohne jedoch deshalb eine meinungsfreiheitliche Entrechtung fürchten zu müssen. Diskussionswürdig ist in diesem Zusammenhang allenfalls, ob Product Placement und Schleichwerbung eine „geistige Auseinandersetzung“ ausschließen. Anders als teilweise behauptet fallen beide Werbeformen jedoch nicht in diese Kategorie;361 de lege lata vorgenommenes, erlaubtes Product Placement schon alleine deshalb nicht, weil die in § 7 Abs. 7 S. 3–6 RStV vorgesehene Kennzeichnungspflicht sogar den Werbezweck für die Adressaten sichtbar macht. Die einfachgesetzlich verbotene Schleichwerbung bewegt sich hierbei sicherlich an der Grenze zum Zwang. Die Tatsache, dass getarnte Werbung – wie der Name schon sagt – nicht als Werbung erkennbar ist, führt jedoch trotzdem nicht zur Einordnung als Manipulation i. o. S. Die von ihr ausgesendeten Reize an sich bleiben im Gegensatz zu unterschwelliger „Werbung“ für den Adressaten erkennbar und somit kontrollierbar. Letztlich liegt hierin „nur“ eine Irreführung über die Neutralität und Glaubhaftigkeit des Meinungsäußernden, die jedoch im Ergebnis keinen Zwang zu begründen vermag.362 Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der „geistigen Auseinandersetzung“ führt somit lediglich zum Schutzbereichsausschluss von (total-)subliminaler „Werbung“. Dieser gehirnwäscheähnliche Auswuchs hat – die Wirksamkeit unterstellt
357 In diese Richtung Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 422; vgl. zudem von Rosenstiel/Kirsch, Psychologie der Werbung, 23 ff., 234. 358 Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 61. 359 Siehe § 2 II. 4. 360 So auch Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 89. 361 A. A. Degenhart, in: FS Lukes, 287, 303, der zudem Product Placement und Schleichwerbung gleichsetzt. 362 So wohl auch BVerfG NJW 2005, 3201; ZUM-RD 2006, 7.
III Schutz der Werbebeteiligten durch die Meinungsfreiheit
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– aufgrund seiner Unterschwelligkeit – wie erläutert – manipulativen Zwangscharakter, stellt deshalb aber auch keine Werbung i. S. d. Definition dar.363
III
Schutz der Werbebeteiligten durch die Meinungsfreiheit
III Schutz der Werbebeteiligten durch die Meinungsfreiheit
Derweil bleibt zu klären, welche Tätigkeiten in den Schutzbereich fielen, wer sich aus dem Kreise der Werbebeteiligten also auf die Meinungsfreiheit berufen dürfte, sofern keines der noch zu erörternden Argumente gegen eine Unterschutzstellung greifen sollte.
1 Werbetreibende In erster Linie wären freilich die Werbetreibenden selbst – egal ob sie natürliche oder juristische Personen sind – durch Art. 5 Abs.1 S. 1, 1. Alt. GG geschützt.364 Dies ist letztlich unstrittig und bedarf keiner näheren Erläuterung. Es gilt jedoch zu beachten, dass im Falle einer künstlerisch gestalteten Werbemeinung aufgrund des Spezialitätsverhältnisses von Meinungs- und Kunstfreiheit allein eine Berufung auf Art. 5 Abs. 3 GG in Betracht käme.365
2 Werbeagenturen Weit problematischer ist die Frage nach dem meinungsfreiheitlichen Schutz der Werbeagenturen. Hierbei bietet es sich an, zwischen den Tätigkeiten von Kreativagenturen auf der einen sowie Mediaagenturen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Die Einschaltung von Kreativagenturen ist in der professionalisierten Werbewelt mittlerweile ein gebräuchliches Mittel. Deren Aufgabe ist es, mit Hilfe von
363 Siehe § 2 I. 1. a). 364 Drettmann, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 124; Lerche, Werbung und Verfassung, 93; i. Ü. bleibt hierdurch die Möglichkeit, sich gleichzeitig auf Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 S. 1 GG zu berufen, aufgrund der Idealkonkurrenz dieser Grundrechte mit der Meinungsfreiheit unberührt. 365 Siehe § 3 II. 1. d). 73
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§ 5 Meinungspotential von Wirtschaftswerbung
Grafikern und Textern den kreativen Part der Werbegestaltung zu übernehmen.366 Demzufolge sind Kreativagenturen nicht selten Urheber oder jedenfalls Miturheber der konkreten Werbeaussage. Freilich werden sie i. d. R. nicht nach außen in Erscheinung treten, so dass sie streng genommen keine schützbare Äußerung tätigen. Sobald sich die Agenturen im Konfliktfall hinsichtlich der Werbeaussagen auf die Meinungsfreiheit berufen, legen sie ihre Mitwirkung am Erstellungsprozess offen. Vor dem Hintergrund, dass sie – wie gerade angedeutet – dem Werkbereich – das Haben und Bilden einer Meinung ist ebenfalls geschützt367 – der werblichen Meinungskundgabe zuzuordnen wären, könnte ihnen dann jedoch nur schwer der Schutz des Art. 5 Abs.1 S. 1, 1. Alt. GG versagt werden.368 Wird aber bei der Werbeausformung die Schwelle zu einer freien schöpferischen Gestaltung übertreten, gilt das eben bei den Werbetreibenden zur Kunstfreiheit Erläuterte entsprechend. Anders gelagert ist die Situation bei den für den Einkauf der Medien zuständigen Mediaagenturen.369 Diese befänden sich nicht im Werk-, sondern im Wirkbereich der Werbemeinung, der jedoch keinesfalls von minderem Gewicht ist.370 Auch hier lässt sich ein potentiell schutzwürdiges Verhalten ausmachen371 – immerhin reichen die Mediaagenturen die mögliche Werbemeinung an die Medienunternehmen durch. Dass sie dabei eine fremde Meinung als fremde – sprich unter Angabe der Urheberschaft – verbreiten würden, hätte auf ihren Schutz durch die Meinungsfreiheit nach der hier vertretenen Auffassung genauso wenig Auswirkung wie die Frage nach ihrer Überzeugung von der Werbebotschaft.372 Auf den ersten Blick mag die Unterschutzstellung dieser Tätigkeit recht ausufernd erscheinen. Genau betrachtet passt sie jedoch in eine Reihe mit der Rechtsprechung des BVerfG zur Presse- und Kunstfreiheit. So sprach es in der Vergangenheit z. B. einem Presse-Grossisten, der eine ähnliche Mittlerfunktion einnimmt, den Schutz 366 Siehe § 2 II. 1. 367 Siehe § 3 IV. 4. 368 A. A. Drettmann, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 125 f., weil die angeblich erforderliche Beeinflussungsabsicht fehle; ohne nähere Begründung Lerche, Werbung und Verfassung, 94. Die Möglichkeit, sich daneben auf Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 S. 1 GG zu berufen, besteht freilich für die Kreativagenturen ebenso. 369 Siehe § 2 II. 1. 370 Siehe § 3 IV. 4. 371 A. A. wiederum Drettmann, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 125 f. mit der gleichen Begründung wie bei den Kreativagenturen; Lerche, Werbung und Verfassung, 93 wegen der angeblich fehlenden Zurechenbarkeit. Auch die Mediaagenturen können sich selbstverständlich zusätzlich auf andere Grundrechte (Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 S. 1 GG) berufen. 372 Siehe § 3 IV. 6.
III Schutz der Werbebeteiligten durch die Meinungsfreiheit
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des Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG zu, weil dieser einer Beschäftigung nachgeht, die „in enger organisatorischer Bindung an die Presse erfolgt“373 sowie „für das Funktionieren einer freien Presse notwendig ist.“374 In die gleiche Richtung weist auch ein Urteil zur umsatzsteuerlichen Mehrbelastung der Schallplatte, in dem die Verfassungsrichter ausführten: „Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG schützt […] nicht nur die künstlerische Betätigung, sondern darüber hinaus auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks, die für die Begegnung mit dem Werk als einem kunstspezifischen Vorgang sachnotwendig ist. Die Ausstrahlungswirkung dieser Verfassungsbestimmung erstreckt sich daher auf die Medien (Kommunikationsmittel), da sie durch Vervielfältigung, Verbreitung und Veröffentlichung die zwischen Künstler und Publikum unentbehrliche Mittlerfunktion ausüben. Insoweit kommt den Schallplattenherstellern ebenfalls der Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG zu.“375
3 Werbungsdurchführende Gleiches könnte man auch für die Werbungsdurchführenden annehmen, denn auch sie verbreiten eine fremde Meinung als fremde, indem sie Werbeinhalte Dritter an die Werbeadressaten weitergeben. Nach der Dogmatik des BVerfG dürfen sich die Presse-376 und Rundfunkschaffenden in diesem Zusammenhang hingegen einzig auf die jeweils einschlägige Medienfreiheit stützen, weil die Beschaffung und Verbreitung von Fremdinformationen – seien sie meinungshaltig oder nicht – deren institutionelle Aufgabe darstelle.377
4 Werbeadressaten Werbeadressaten können sich selbstverständlich ebenfalls nicht auf die Meinungsfreiheit berufen. Sie sind lediglich Rezipienten, aber eben keine Kommunikatoren.378
373 BVerfG NJW 1988, 1833. 374 BVerfG NJW 1988, 1833; ähnlich BVerfG NZA 1999, 583. 375 BVerfG NJW 1974, 689. 376 Aufgrund des weiten Pressebegriffs können sich etwa auch Plakatunternehmer auf die Pressefreiheit berufen, vgl. nur BVerfGE 66, 116, 134. 377 BVerfGE 21, 271, 279; in die gleiche Richtung BVerfGE 102, 347, 359. 378 Siehe § 3 II. 1. b). 75
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§ 5 Meinungspotential von Wirtschaftswerbung
Das Konsumieren von Wirtschaftswerbung genießt folglich nur den Schutz der Informationsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. GG.379
IV Ergebnis IV Ergebnis
Jede Werbung – auch reine Marken- und Namenszeichenangaben, „bloße“ Erinnerungswerbung, akzidentielle Werbung von Einzelhändlern sowie Schleichwerbung und Product Placement – enthält Werturteile und/oder meinungsbildende Tatsachen, entfaltet geistige Wirkungen und kann somit Meinung i. S. v. Art. 5 Abs.1 S. 1, 1. Alt. GG sein. Das Feld der Wirtschaftswerbung ist mithin eine immens meinungsrelevante Materie. Dies zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass Wirtschaftswerbung oft Ausgangspunkt stark meinungsbildender sozialer Interaktionen ist.380 Neben den Werbetreibenden könnten sich auch die beteiligten Werbeagenturen auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen.
379 Oppermann, in: FS Wacke, 393, 405 f.; Selmer, in: FS Vogel, 405, 418; Ullmann, GRUR 1996, 948, 957; Wendt, in: von Münch/Kunig I, Art. 5 Rn. 11. 380 Möller, Gesellschaftliche Funktionen der Konsumwerbung, 126; siehe § 2 I. 4. a).
Ausschluss der Wirtschaftswerbung aus dem Schutzbereich wegen politischer Attitüde der Meinungsfreiheit?
§6
§ 6 Ausschluss wegen politischer Attitüde
Eine erste Einschränkung könnte sich aus einem eventuell vorhandenen politischen Habitus der Meinungsfreiheit ergeben. Immerhin wird Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG immer wieder als politisches Grundrecht bezeichnet. Die Vertreter dieser Auffassung stützen sich zuvorderst auf die historische Auslegung, aber auch auf das Telos der Verfassungsbestimmung sowie auf den Vergleich mit der Rechtsprechung zu Art. 8 GG. Ein solch restriktives Normverständnis hätte freilich enorme Auswirkungen auf die Einbeziehung der Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich. Warum Ipsen381 jedoch daraus einen pauschalen Ausschluss ableiten will, leuchtet angesichts der Fälle gefühlsbetonter Werbemaßnahmen mit eindeutig politischen Einschlägen, welche neben privat-wirtschaftlichen Zwecken zumindest auch gesellschaftsrelevante Ziele verfolgen, nicht ein. Ob allerdings zumindest die (teilweisen) Aufspaltungsversuche der Rechtsprechung, welche dem „unpolitischen“ Regelfall der Wirtschaftswerbung den Schutz der Meinungsfreiheit immer wieder versagt hat, ihre Rechtfertigung haben, gilt es, im Folgenden anhand der vorgebrachten Argumente zu untersuchen.
I
Geschichte der Meinungsfreiheit
I Geschichte der Meinungsfreiheit
Zunächst soll die Darstellung der wechselhaften Geschichte der Meinungsfreiheit Aufschlüsse über die Natur des in Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG verbürgten Grundrechts geben.
381 Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 422. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Arnold, Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4_6
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78
§ 6 Ausschluss wegen politischer Attitüde
1 Antike Die Geschichte der Meinungsfreiheit beginnt in der Antike. Eine Verbriefung der Redefreiheit war zwar sowohl dem antiken Griechenland als auch dem antiken Rom fremd,382 was jedoch keinesfalls die Nichtexistenz dieses Rechts bedeutete. Im Griechischen gab es mit der „Parrhesia“383 sogar einen speziellen Begriff für das Recht des freien Redens, welches schon damals aufgrund seiner Kontrollfunktion als wichtige Bedingung für eine echte Demokratie galt.384 Allerdings wurde dieses Privileg lediglich dem „Vollbürger“ zuteil, da nur er in der „Polis“ politisch wirken durfte; Frauen und Sklaven fanden hingegen kein Gehör.385 Auch im republikanischen Rom herrschte Toleranz gegenüber anderen Meinungen. Vollständige Redefreiheit bekam aber nur derjenige, der „auctoritas“386 hatte, also jemand, von dem man glaubte, er hätte wahrlich etwas zu sagen. Mit dem Aufkommen des Christentums endete hingegen im kaiserlichen Rom die geistige Toleranz. An ihre Stelle trat im 3. Jahrhundert n. Chr. der Versuch, diese Entwicklung durch die Verfolgung und Unterdrückung der Christen sowie die Zerstörung christlicher Schriften aufzuhalten.387
2
Vom Mittelalter bis zum aufgeklärten Absolutismus
Im Mittelalter kehrten sich die Vorzeichen um. Es war nun die Kirche, welche aufgrund des geistigen Herrschaftsanspruches des von Kaiser Konstantin 324 n. Chr. zur Staatsreligion ernannten Christentums gegen unerwünschte, zumeist religiöse Meinungsäußerungen vorging und Andersgläubige unterdrückte. Diese Verfolgung erlangte sodann 1184 durch die Einführung der Inquisition eine neue Qualität.388 In den Inquisitionsprozessen wurden zahllose Häretiker zum Feuertod verurteilt, ketzerische Schriften verboten und anschließend beseitigt. Reichte anfangs aufgrund geringer Auflagen noch eine Nachzensur aus, um geistige Schriften flächendeckend der kirchlichen Kontrolle zu unterwerfen, änderte sich dies jedoch 382 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 57. 383 Vgl. Ricker, in: Handbuch des Presserechts, Kapitel 4 Rn. 4. 384 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 58. 385 Vgl. Ricker, in: Handbuch des Presserechts, Kapitel 4 Rn. 4. 386 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 58; Ricker, in: Handbuch des Presserechts, Kapitel 4 Rn. 5. 387 Vgl. Ricker, in: Handbuch des Presserechts, Kapitel 4 Rn. 5. 388 Vgl. Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 1.
I Geschichte der Meinungsfreiheit
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schlagartig mit der Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Gutenberg im Jahre 1450.389 Gedanken jedweder Art konnten von nun an einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, so dass die Kirche angesichts der Masse an Schriften und Büchern einen Strategiewechsel vollzog. Durch die päpstliche Bulle Inter multiplices von 1487 wurde im gesamten Bereich der römischen Kirche die Vorzensur eingeführt.390 Die hierfür zuständigen Bischöfe waren allerdings schnell überfordert, der Schriftenflut Herr zu werden. Daher musste der Staat der Kirche mithilfe von Zensurgesetzen unter die Arme greifen. So verpflichtete etwa der Augsburger Reichsabschied von 1530 die Reichsfürsten zur Verhinderung der Verbreitung abweichender religiöser Lehren.391 Der Staat nutzte die Vorzensur jedoch zugleich als Mittel zur Machterhaltung und Unterdrückung politischer Kritik.392 Bis ins 18. Jahrhundert richtete sich die Zensur primär gegen Bücher. Mit dem Aufkommen der periodischen Presse verschob sich der Fokus nach und nach. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts gab sich Preußen repressive presserechtliche Sondervorschriften.393 Im Gegensatz dazu gewährte das unter dem aufgeklärten Absolutisten Friedrich II. entstandene Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 immerhin Meinungsfreiheit in Religionsangelegenheiten.394 Vergleichbare Entwicklungen lassen sich in England und Frankreich feststellen. In beiden Ländern wurde ebenfalls das Mittel der Vorzensur eingesetzt.395 Zudem war es auch hier um das Grundrecht der Meinungsfreiheit lange Zeit schlecht bestellt. Weder das erste Verfassungsdokument der Geschichte, die Magna Charta Libertatum von 1215396, welche den Schutz des Adels und des Klerus vor willkürlicher Verhaftung vorsah, noch die Habeas Corpus Acte von 1679397 verbrieften ein Recht auf freie Meinungsäußerung. Die englische Bill of Rights aus dem Jahre 1689 enthielt zwar eine Indemnitätsregelung für Parlamentsmitglieder398, von einer umfassenden Meinungsfreiheit für jedermann kann jedoch nicht die Rede sein.
389 Vgl. Ludwig, Geschichte des Schreibens I, 214 ff. 390 Vgl. Ricker, in: Handbuch des Presserechts, Kapitel 4 Rn. 10. 391 Vgl. Ricker, in: Handbuch des Presserechts, Kapitel 4 Rn. 11. 392 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 63. 393 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 65. 394 Vgl. Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 298 ff. 395 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 66. 396 Vgl. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, § 17 Rn. 12. 397 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 60. 398 Vgl. Stourzh, in: Meinungsfreiheit I, 121, 122 f. 79
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3
§ 6 Ausschluss wegen politischer Attitüde
Nordamerikanische und Französische Revolution
Eine entscheidende Rolle für die Entstehungsgeschichte der Meinungsfreiheit spielte die Nordamerikanische Revolution. Kurz vor der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 kam es in der englischen Kolonie Virginia zur Verabschiedung der Bill of Rights,399 die gemeinhin als erste moderne Menschenrechtskodifikation bezeichnet wird. Die getroffene Feststellung, „that all men are created equal; that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights“400, offenbart deren naturrechtlichen Hintergrund. Eines dieser angeborenen Rechte war die in Art. 12 niedergelegte Pressefreiheit („freedom of the press“), welche a fortiori die individuelle Freiheit der Meinungsäußerung beinhaltete.401 Zunächst keinen Grundrechtskatalog enthielt dagegen die Amerikanische Bundesverfassung von 1787. Grundrechte fanden vielmehr erst 1791 mit der Aufnahme der ersten zehn Amendments Eingang in die Verfassung. Die Zusatzartikel verankerten neben der Eigentumsgarantie, der Religionsfreiheit und der Versammlungsfreiheit insbesondere auch die Freiheit der Meinung und der Presse („freedom of speech and press“402).403 Die Entwicklungen in Nordamerika hatten einen maßgeblichen Einfluss auf die Französische Revolution. Insofern konstatierte der Art. 11 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789, dass die „freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen […] eines der wichtigsten Rechte des Menschen“404 ist und „jeder Bürger […] mithin frei reden, schreiben und drucken“405 kann. Durch Art. 10 wurde vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen kirchlichen Zensur dabei die Freiheit der religiösen Meinungsäußerung besonders hervorgehoben: „Niemand soll wegen seiner Meinungen, selbst religiöser Art, belästigt werden.“406 Im Laufe der Revolution nahm die Bedeutung der Menschenrechte immer mehr ab. So sah die jakobinische Verfassung vom 24. Juni 1793 in Art. 7 zwar noch den Schutz der Meinungs- und Pressefreiheit vor, trat jedoch nie in Kraft.407 Auch die Direktoralverfassung vom 22. August 1795 enthielt in Art. 353 eine Garantie der 399 Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 25. 400 Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 23. 401 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 68. 402 First Amendment, vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 42. 403 Vgl. Stourzh, in: Meinungsfreiheit I, 121, 136 f. 404 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 70. 405 Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 60. 406 Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 60. 407 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 71.
I Geschichte der Meinungsfreiheit
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Meinungsfreiheit, bot aber keinen Schutz mehr gegen gesetzgeberische Eingriffe.408 Sowohl in den Konsulatsverfassungen von 1799 und 1802 als auch in der Verfassung von 1804, durch die Bonaparte zum Kaiser proklamiert wurde, suchte man sodann vergeblich nach entsprechenden Kommunikationsfreiheiten. Napoleon I. strebte vielmehr danach, die Presse z. B. mittels Zensur in seinem Sinne zu lenken.409
4
Restauration und Vormärz
Das Ende der Dominanz des napoleonischen Frankreichs in Europa, welches durch den gescheiterten Russlandfeldzug und der Völkerschlacht von Leipzig im Oktober 1813 herbeigeführt wurde, brachte die Frage nach der Neugestaltung der staatlichen Ordnung Deutschlands mit sich. Die durch die französische Fremdherrschaft hervorgerufenen Forderungen nach nationalstaatlicher Einheit und einer einheitlichen Verfassung mit Grundrechten sind jedoch vorerst unerfüllt geblieben. Als Vorsitzender des Wiener Kongresses von 1814/15 verfolgte der österreichische Außenminister Metternich nämlich das Ziel der Wiederherstellung des vorrevolutionären Zustands.410 Diese Restaurationspolitik spiegelte sich sodann in der Deutschen Bundesakte vom 8. Juni 1815, welche die Gründung des Deutschen Bundes bedeutete, wider.411 Zwar wurde in Art. 18d niedergelegt, dass sich die Bundesversammlung „bey ihrer ersten Zusammenkunft mit Abfassung gleichförmiger Verfügungen über die Preßfreyheit und die Sicherstellung der Rechte der Schriftsteller und Verleger gegen den Nachdruck“412 zu beschäftigen hat. Diese Passage entpuppte sich jedoch nur wenige Jahre später als leeres Versprechen: In der Folge des sog. Sandschen Attentats trafen sich die Minister verschiedener deutscher Regierungen im August 1819 in Karlsbad, um schwerwiegende Einschränkungen besonders für die Freiheiten der Presse und der Universitäten vorzunehmen.413 Die Karlsbader Beschlüsse enthielten eine Reihe von Gesetzentwürfen, die u. a. zu einem äußerst restriktiven „Preßgesetz“ führten. Dieses sah eine uneingeschränkte Pressezensur für alle Bundesstaaten vor und überlagerte somit deren teils in den
408 Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 86. 409 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 72. 410 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte I, 531 ff. 411 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte I, 556 ff. 412 Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte I, 90. 413 Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 265 ff.; Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 326. 81
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§ 6 Ausschluss wegen politischer Attitüde
Landesverfassungen verbrieften Meinungs- und Pressefreiheiten sowie deren freiheitliche Pressegesetze.414 Die beschriebenen Entwicklungen riefen besonders bei den Burschenschaften eine tiefe Enttäuschung hervor. Im Jahre 1817 verliehen sie auf dem Wartburgfest415 ihrem Unmut Ausdruck und forderten neben der nationalen Einheit eine gesamtdeutsche Verfassung, die vor allem auch die Rede- und Pressefreiheit416 garantiert. Diese Forderungen wurden im Laufe des Vormärzes immer lauter. So war die Gewährleistung der Meinungs- und Pressefreiheit eines der Hauptanliegen der Akteure417 des durch die französische Juli-Revolution ausgelösten Hambacher Fests von 1932.418 Entsprechendes gilt für das Offenburger Programm vom 12. September 1847419, in dessen Art. 2 die Demokraten das Ende der Vorenthaltung des „unveräußerlichen Rechts des menschlichen Geistes, seine Gedanken unverstümmelt mitzuteilen“420, verlangten. Jene Ereignisse waren entscheidende Wegbereiter der März-Revolution in Deutschland, deren Initialzündung allerdings wieder einmal ein Umsturz in Paris421 lieferte.
5
Paulskirchenverfassung von 1849
Die Paulskirchenverfassung war die erste gesamtstaatliche deutsche Verfassung mit einer „vollentwickelte[n] Konzeption“422. So enthielt sie neben staatsorganisatorischen Regelungen in ihrem Abschnitt IV auch einen umfassenden Grundrechtskatalog, welchem gemäß § 130 unmittelbare Verbindlichkeit zukommen sollte.423 Zentra414 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 76. 415 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte I, 718 ff. Die Einladung und Ausrichtung erfolgte durch die Jenaer Urburschenschaft, welche sich 1815 gründete, vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte I, 708 f. 416 31. Grundsatz des vom Jenaer Professor Luden zusammengefassten Programms, vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte I, 722. 417 Die Hauptakteure Wirth und Siebenpfeiffer waren nicht nur promovierte Juristen, sondern bezeichnenderweise auch Zeitungsherausgeber, vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 271. 418 Vgl. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, § 30 Rn. 10, 12. 419 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte II, 449 f. 420 Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte I, 323. 421 Die Revolution im Februar 1848 schaffte die Monarchie ab und machte Frankreich wieder zur Republik, vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 308. 422 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte II, 821. 423 Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 336.
I Geschichte der Meinungsfreiheit
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ler Bestandteil dieses Katalogs war der in § 143 statuierte Schutz der Meinungsäußerung- und Pressefreiheit. Die Regelung umfasste für alle Deutschen „das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern“424, und stellte klar, dass die „Preßfreiheit […] unter keinen Umständen […] durch vorbeugende Maaßregeln, namentlich Censur, Concessionen“425, beschränkt werden dürfe. Damit schien zunächst ein lang gehegter Wunsch vieler Protagonisten des Vormärzes in Erfüllung zu gehen. Dieser Traum nahm jedoch mit der Ablehnung der Kaiserkrone Friedrich Wilhelms IV. ein jähes Ende.426 Die Versuche, die Paulskirchenverfassung auf kämpferischem Wege in Geltung zu bringen (sog. Reichsverfassungskampagne), scheiterten am Ende vor allem an der Übermacht des preußischen Militärs.427 Letztlich blieben die Grundrechte der Paulskirchenverfassung und damit die Meinungs- und Pressefreiheit lediglich Programm, dienten jedoch als Vorbild für alle folgenden Grundrechtskataloge.
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Preußische Verfassung von 1850
Die nur kurze Zeit später erlassene Preußische Verfassung von 1850 lehnte sich etwa mit ihrem Art. 27 zum Teil an den § 143 der Pauskirchenverfassung an, indem sie vorsah, dass jedem Preußen „das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern“ 428, zugestanden werde. Allerdings gewährte diese Vorschrift lediglich Schutz gegenüber Eingriffen der Verwaltung und Rechtsprechung.429 Der Gesetzgeber hingegen konnte die Meinungs- und Pressefreiheit weitestgehend beliebig beschränken. Die einzige Hürde bildete dabei das verfassungsrechtlich festgeschriebene Zensurverbot: „Die Censur darf nicht eingeführt werden; jede andere Beschränkung der Preßfreiheit nur im Wege der Gesetzgebung.“430 Diese großzügige Restriktionsmöglichkeit wurde bereits 1851 mit dem Erlass des preußischen Pressegesetzes, welches beispielsweise einen Konzessionszwang431 normierte, genutzt.
424 Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte I, 391. 425 Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte I, 391. 426 Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte II, 846 ff. 427 Vgl. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, § 31 Rn. 20 f. 428 Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte I, 503. 429 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 84. 430 Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte I, 503. 431 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 84. 83
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§ 6 Ausschluss wegen politischer Attitüde
Reichsverfassung von 1871
Nach dem Sieg Preußens über Frankreich im Jahre 1870 traten die süddeutschen Staaten dem Norddeutschen Bund bei.432 Somit war der Weg für die von Bismarck forcierte Reichsgründung frei. Die Reichsverfassung, welche am 1. Januar 1871 in Kraft trat, beinhaltete jedoch – ebenso wie die Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1867 – keinen Grundrechtskatalog.433 Dementsprechend fehlte es auch an einer verfassungsrechtlichen Garantie der Meinungs- und Pressefreiheit. Immerhin erfuhr die Freiheit der Presse und damit zugleich die der Meinungsäußerung auf einfachgesetzlicher Ebene durch das Reichspressegesetz von 1874 zunächst volle Anerkennung, indem etwa von einer Sonderbesteuerung und einem Konzessionszwang abgesehen sowie ein Zensurverbot statuiert wurde.434 Diese Garantien standen angesichts der fehlenden Verfassungsfestigkeit allerdings auf äußerst wackeligen Füßen. Nach der Beendigung des „Kulturkampfes“ gegen die Katholiken wendete sich Bismarck verstärkt der zweiten Kategorie von vermeintlichen „Reichsfeinden“ zu – den Sozialisten. Nur drei Jahre nach dem sog. Gothaer Programm verschiedener sozialistischer Gruppen und der Gründung der „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“435 kam es 1878 zur Verabschiedung des sog. Sozialistengesetzes, welches die junge Partei sowie alle sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Druckschriften verbot (vgl. § 11 des sog. Sozialistengesetzes436).437 Die im Reichspressegesetz gewährten Freiheiten wurden mithin zu einem nicht unerheblichen Teil wieder zurückgenommen.
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Weimarer Reichsverfassung
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs begann in Deutschland eine neue Ära. Im Zuge der November-Revolution entstand die Weimarer Republik. Die von dem von der Nationalversammlung in Weimar neu gewählten sozialdemokratischen Reichspräsidenten Ebert am 11. August 1919 ausgefertigte und verkündete WRV vollendete nicht nur den Übergang von der Monarchie zur Republik, sondern brachte zugleich ein Wiederaufleben der Grundrechte mit sich. Der Grundrechtekatalog der WRV 432 Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 403 f. 433 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 83. 434 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 83. 435 Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 470. 436 Vgl. Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte II, 466. 437 Vgl. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, § 35 Rn. 13.
I Geschichte der Meinungsfreiheit
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lehnte sich an die Paulskirchenverfassung an und enthielt mit seinem Art. 118 die erste einheitlich geltende Garantie der Meinungs- und Pressefreiheit in Deutschland.438 Geschützt wurde – wie bereits erwähnt – das Recht jedes Deutschen, „seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern.“439 In den Schutzbereich fielen jedoch nach damals herrschender Meinung hauptsächlich politische Äußerungen.440 Aussagen mit vorwiegend wirtschaftlichem Hintergrund genossen allenfalls den Schutz der Berufsfreiheit. Als Schranken waren in Art. 118 Abs. 2 WRV die „allgemeinen Gesetze“441 sowie gesetzliche Maßnahmen „zum Schutze der Jugend“442 und „zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur“443 vorgesehen. Zudem enthielt die Bestimmung ein Zensurverbot. Obwohl den Vätern der WRV damals schon die enorme Bedeutung der Meinungs- und Pressefreiheit für die Funktionstüchtigkeit der Demokratie bewusst war, wurden die Grundrechte insgesamt als unverbindliche Programmsätze verstanden.444 Der Reichspräsident konnte zudem aufgrund des sog. Diktaturvorbehalts in Art. 48 Abs. 2 WRV mittels NotVO im Falle einer erheblichen Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung gewisse Grundrechte, zu denen auch Art. 118 WRV zählte, vorübergehend außer Kraft setzen.445 Wie gefährlich dieses Instrument für die Weimarer Demokratie war, zeigte dessen inflationäre Nutzung durch den Reichspräsidenten Hindenburg am Anfang der 1930er Jahre, die letztendlich entscheidend den Weg zur Machtübernahme der Nationalsozialisten ebnete. Im Rahmen des sog. Preußenschlags von 1932, „mit dem das letzte Bollwerk der Opposition niedergerissen wurde“ 446, derogierte Hindenburg etwa durch eine entsprechende NotVO zahlreiche Grundrechte – u. a. auch die Meinungsfreiheit – für Groß-Berlin und die Provinz Brandenburg.
438 Vgl. Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 1. 439 Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte IV, 168; siehe § 3 IV 4. 440 Vgl. Häntzschel, in: HDStR II, 651, 655; Rothenbücher, VVDStRL 4 (1928), 6, 16; siehe zudem Hufen, in: FS Schmidt, 347, 350. 441 Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte IV, 168. 442 Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte IV, 169. 443 Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte IV, 169. 444 Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 542. 445 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 86. 446 Vgl. Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, Rn. 563. 85
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§ 6 Ausschluss wegen politischer Attitüde
Drittes Reich
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten läutete ein dunkles Kapitel für die Presse- und Meinungsfreiheit in Deutschland ein. Knapp einen Monat nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler kam es am 28. Februar 1933 infolge des Reichstagsbrands zum Erlass der VO des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat.447 Gemäß § 1 dieser sog. ReichstagsbrandVO wurde neben weiteren Grundrechten auch der Art. 118 WRV außer Kraft gesetzt. Damit war der Weg für die Verfolgung Andersdenkender frei. Die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 stand nur am Beginn einer Reihe von Maßnahmen, die dazu dienten, ein staatsgelenktes Presse- und Kulturwesen zu schaffen. Hervorzuheben ist dabei das Reichskulturkammergesetz448 vom 22. September 1933, das mit der Reichskulturkammer eines der wichtigsten Überwachungsorgane in diesem Bereich schuf. Für den Pressebetrieb besonders bedeutsam war die von Führungskräften der NSDAP gesteuerte und zwangsmitgliedschaftlich organisierte Reichspressekammer – eine von sieben Unterkammern der Reichskulturkammer.449 Daneben sind auch das Schriftleitergesetz450 vom 4. Oktober 1933, das Lichtspielgesetz451 vom 16. Februar 1934 sowie das Theatergesetz452 vom 15. Mai 1934 erwähnenswert, welche ebenfalls im erheblichen Maße zur Ermöglichung der Indoktrination der Bevölkerung durch das nationalsozialistische Regime beitrugen.
10 Grundgesetz Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war die Debatte über die Verbriefung der Kommunikationsfreiheiten in der Verfassung maßgeblich von diesen negativen Erfahrungen geprägt. Dementsprechend hatte der Parlamentarische Rat bei deren Ausgestaltung, wie die umfangreichen Beratungen453 zeigen, die enorme Wichtigkeit der Meinungs- und Pressefreiheit für den demokratischen Neubeginn stets vor Augen. Gleichzeitig war er sich aber auch der Geschichte dieser Grundrechte
447 Huber, Dokumente zur Deutschen Verfassungsgeschichte IV, 663 f. 448 RGBl. 1933 I, 661 ff. 449 Vgl. Gornig, Äußerungsfreiheit und Informationsfreiheit als Menschenrechte, 87. 450 RGBl. 1933 I, 713. 451 RGBl. 1934 I, 95. 452 RGBl. 1934 I, 411. 453 Vgl. Hoffman-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 6.
I Geschichte der Meinungsfreiheit
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bewusst. So knüpfte Art. 5 GG mit Verkündung des GG am 23. Mai 1949 an seine Vorläufer in der Verfassungshistorie – insbesondere an Art. 118 WRV – an.454 Genau diese offensichtliche Verwandtschaft zu Art. 118 WRV, welcher nur politische Botschaften i. e. S. erfasste sowie der Umstand, dass die Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG über einen langen Zeitraum politisch erkämpft wurde, nehmen Faßbender455 und Oppermann456 nunmehr zum Anlass, sich gegen die (grundsätzliche) Einbeziehung von („unpolitischer“) Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich auszusprechen. Auch wenn die historische Auslegung Fingerzeige bieten kann, darf sie nicht zu einer Versteinerung der Verfassung führen und hat demzufolge – isoliert betrachtet – keinen zwingenden Charakter: „Welche Ziele mit einem Gesetz verfolgt werden […], ist […] seiner Entstehungsgeschichte meist nur in mehr oder minder unscharfen Umrissen zu entnehmen.“457 Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Beliebigkeit von geschichtlichen Begründungsmustern. Eine Bestimmung kann nämlich – wie geschildert – sowohl in Anlehnung an die historischen Vorbilder als auch (teilweise) in bewusster Abkehr von den (nicht bewährten) Vorgängervorschriften geschaffen worden sein. So würde heute z. B. auch niemand vertreten, dass Art. 5 Abs. 3 GG nur solche Kunst schütze, die bei dem „gesund Empfindenden [einen] ästhetische[n] Eindruck“ 458 hinterlässt, weil dies der vorherrschende dogmatische Ansatz zu Art. 142 WRV war. Entscheidend ist also letztlich der objektivierte Wille der Mütter und Väter des GG, mithin primär die Frage nach dem im Wortlaut manifestierten Sinn und Zweck der Verfassungsbestimmung im Kontext des jeweiligen Zeitgeistes. 459
454 Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier I, Art. 5 I, II Rn. 4. 455 Faßbender, GRUR Int. 2006, 965, 969. 456 Oppermann, in: FS Wacke, 393, 399. 457 Zippelius, Juristische Methodenlehre, 42. 458 Kitzinger, in: Nipperdey II, Art. 142, 469. 459 Lerche, Werbung und Verfassung, 80 f. will sämtliche Verfassungsbestimmungen „sinnvariabel“ lesen; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 42 spricht vom „Bedeutungswandel“ der Gesetze; kritisch hierzu Faßbender, GRUR Int. 2006, 965, 969; Oppermann, in: FS Wacke, 393, 399. 87
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§ 6 Ausschluss wegen politischer Attitüde
II Telos II Telos
Wie gesehen ist die Meinungsfreiheit schlechthin konstituierend für die freiheitliche Demokratie.460 Dieser Charakter als zentrales demokratisches Funktionselement verleitet abermals dazu, dem Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG einen rein politischen Anstrich zu geben. I. d. S. trägt Faßbender vor, dass mit dem Einbezug (des „unpolitischen“ Regelfalles) der Wirtschaftswerbung ein Verlust an Glaubwürdigkeit für die objektive Funktion der Meinungsfreiheit einherginge, ein solch weites Normverständnis also die Banalisierung des Grundrechts zur Folge hätte.461 In der Konsequenz soll nur der Kampf der Meinungen im politisch-gesellschaftlichen Raum erfasst sein. Zwar ist zutreffend, dass die Meinungsfreiheit die Demokratie durch das Offenhalten des Meinungsbildungsprozesses erst ermöglicht. Unter der Fahne der Demokratie – konträr zum neutralen Wortlaut – die Engführung des Schutzbereichs vorantreiben zu wollen, führt jedoch unweigerlich ebengerade zum Untergang derselben. Gegen die Verkürzung spricht nämlich nicht nur die subjektive Komponente des Grundrechts, wonach der Grundrechtsträger autonom darüber entscheiden kann, was für ihn relevant ist,462 sondern auch das Faktum, dass sich ein privates Thema ohne Weiteres zum öffentlichen Thema wandeln kann und umgekehrt. Die Behinderung einer Kommunikation mit scheinbar rein privatem Inhalt ist mithin eine Behinderung potenziell öffentlicher Kommunikationsinhalte. Mit anderen Worten: Die freie private und öffentliche Meinungsbildung setzen sich gegenseitig voraus.463 Nur durch den umfassenden Schutz jeglicher Inhalte wird demnach die eben angesprochene freie Meinungsbildung, welche für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung unerlässlich ist, möglich. Dementsprechend ist es für die Eröffnung des Schutzbereichs nach heute einhelliger Auffassung unerheblich, auf welchen Gegenstand sich die Meinungsäußerung bezieht.464 Vor dem Hintergrund dieser „Gegenstandsfreiheit“ und gleichfalls wegen des Differenzierungsverbots zwischen wertvollen und wertlosen Meinungen kann es ferner nicht darauf ankommen, zu welchem Zweck eine Meinungskundgabe erfolgt.465 So schließen nach dem BVerfG auch privat-kommerzielle Interessen den Grund460 Siehe § 3 I. 461 Faßbender, GRUR Int. 2006, 965, 969 f. 462 BVerfGE 82, 272, 281; i. Ü. siehe § 3 I. 463 Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 58; ders., in: FS Lukes, 287, 291; Hoffman-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 25, 40. 464 Siehe § 3 IV. 1. 465 Siehe § 3 IV. 1.
II Telos
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rechtsschutz durch Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG nicht aus. In seiner Entscheidung „Sonnenfreunde“ stellt es hierzu fest: „Die Kundgabe einer Meinung bleibt auch dann Meinungsäußerung, wenn sie wirtschaftliche Vorteile bringen soll.“466 Dem kann – auch vor dem Hintergrund der Unzulässigkeit von Motivforschungen – nur zugestimmt werden. Eine „kommerzialisierte Meinungsverbreitung“467, bei der der Zugang zu Meinungsinhalten nur gegen Entgelt erfolgt, ist immerhin üblich. Das beste Beispiel bildet in diesem Zusammenhang die Presse, die in einem besonders hohen Maße einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung leistet468 und zum Großteil kommerziell vertrieben wird. Aber auch der öffentlich-rechtliche Rundfunk, für den der Rundfunkbeitrag zu entrichten ist, kann – freilich mit Abstrichen – in diesem Zusammenhang angeführt werden. Zudem bildet meinungshaltige Kunst, die kostenpflichtig und exklusiv in einer Galerie zu besichtigen ist, ein weiteres anschauliches Beispiel. Die Richtigkeit der eben erfolgten abstrakt-dogmatischen Argumentation offenbart sich gerade im Bereich der Wirtschaftswerbung. Denn „Werbung für Ideen“ und „Werbung für Ware“ ähneln sich stark.469 Die Übergänge sind fließend, da zum einen politische Wahlkampfwerbung vielfach eine ökonomische Note aufweist. So bedient sich die politische Propaganda – wie bereits festgestellt – mittlerweile selbstverständlich kommerzieller Methoden.470 Die Parteien geben inzwischen Millionenbeträge für Werbeagenturen und professionell geplante Wahlkampagnen aus.471 Viele politische Botschaften zielen darüber hinaus darauf ab, das wirtschaftliche Verhalten des Wahlvolks zu beeinflussen.472 Als Beispiele seien nur die Bereiche der Steuer- und Subventionspolitik genannt, konkret etwa der mit der „Umweltprämie“ (vulgo „Abwrackprämie“) verbundene Appell, sein altes Fahrzeug zu entsorgen und einen Neu- bzw. Jahreswagen zu erwerben sowie zuzulassen. Indes haben subjektive Kriterien ebenfalls keinerlei Unterscheidungskraft.473 Immerhin werden gerade
466 BVerfGE 30, 336, 352; so auch etwa Schemmer, in: BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 4; a. A. veraltet, vgl. hierzu Wacke, in: FS Schack, 197, 198 m. w. N. 467 BVerfGE 30, 336, 352. 468 Vgl. BVerfGE 10, 118, 121; 12, 113, 125. 469 Terminologie von Lerche, Werbung und Verfassung, 79. 470 Siehe § 5 II. 2. 471 Vgl. Gennies/Schulze, Wahlkampf der Werber – Wie private Agenturen die Parteien beraten, http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/wahlkampf-der-werber-wie-private-agenturen-die-parteien-beraten/8356192.html. 472 So auch Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 86 f. 473 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 87 f.; Lerche, Werbung und Verfassung, 79. 89
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werbliche Äußerungen und Wahlversprechen ambitionierter Politiker nicht selten auch von der Motivation eines beruflichen Fortkommens getragen, sind mithin nicht allein altruistischer, sondern zugleich egoistischer Natur. Zum anderen hat neben der politisch-gesellschaftskritischen Wirtschaftswerbung auch der Regeltypus der Wirtschaftswerbung stets eine politische Seite. Die durch die Gesamtheit der Werbebotschaften hervorgerufene Markttransparenz474 ermöglicht nämlich – wie gesehen – einen Blick auf die wirtschaftliche, kulturelle und politische Lage einer Region. Zudem zeigt die Vornahme staatlicher Aufklärungsfeldzüge und Warnungen den politischen Charakter der Wirtschaftswerbung. So kämpfen etwa im Rahmen der öffentlichen Raucherdebatte die werbenden Tabakunternehmen und der Gegenwerbung veranstaltende Staat um die Meinungshoheit innerhalb der Verbraucherschaft. Schließlich führt daneben die angeführte Dokumentationsfunktion hinsichtlich des gesellschaftlichen Wandels475 zu einer – wenngleich camouflierten – Verquickung von kommerziellen und politischen Inhalten. Wenn beispielsweise in einem vordergründig nichtgesellschaftskritischen Werbespot für einen Badreiniger entgegen der tradierten Rollenverteilung ein Mann für die Sauberkeit im Haushalt zuständig zeichnet, ist zumindest nicht auszuschließen, dass darin zugleich ein politisches Statement für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, mithin eine Sympathiebekundung zu dieser gesellschaftspolitischen Entwicklung liegt. „Werbung für Ware“ leistet daher durchaus einen nicht zu unterschätzenden Beitrag für eine funktionsfähige Demokratie und wird letztlich auch der objektiven Funktion der Meinungsfreiheit gerecht. Dies gilt umso mehr, als Wirtschaftswerbung gleichsam eine überlebensnotwendige Voraussetzung für die Willensbildung in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung ist, welche wiederum eine wichtige Grundlage der Demokratie bildet. Interessanterweise nimmt das BVerfG gerade beim Konterpart der Wirtschaftswerbung seine Dogmatik der „Zweck- und Gegenstandfreiheit“ ernst. Gewerbekritik und Boykottaufrufe sieht es nämlich selbst dann vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst, wenn sie von einem Mitbewerber geäußert wurden.476 Wenn aber die Gegenwerbung zur Verfolgung eigener wirtschaftlicher Interessen geschützt ist, muss dies denknotwendig auch für die zuratende Ansicht gelten.477 Schließlich sind beide Auffassungen integrale Bestandteile ein und derselben meinungsbildenden Debatte. 474 Siehe § 2 I. 2. b) und § 2 I. 3. 475 Siehe § 2 I 4. b). 476 Siehe § 3 IV. 5. 477 So auch Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 79.
III Systematik
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Die Forderung nach dem Ausschluss des – genau analysiert inexistenten – „nichtpolitischen“ werblichen Regelfalles ist somit in zweierlei Hinsicht inkonsistent. Zum einen kommt sie mit der „Gegenstands- und Zweckfreiheit“ des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG in einen unlösbaren Konflikt und zum anderen widerspricht sie der daraus folgenden Rechtsprechung zur Gewerbekritik und zu den Boykottaufrufen.
III Systematik III Systematik
Faßbender478 und Ipsen479 versuchen darüber hinaus, die Schutzbereichsbegrenzung auf politische Meinungen und den damit eingehenden Ausschluss (vermeintlich) nicht-gesellschaftskritischer Wirtschaftswerbung durch einen Vergleich mit der Rechtsprechung zu Art. 8 Abs. 1 GG zu fundieren. Das BVerfG definiert Versammlungen nämlich als „örtliche Zusammenkünfte mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.“480 Der Gedanke dieses engen Versammlungsbegriffs müsse wegen des kommunikationsgrundrechtlichen Zusammenhangs der Versammlungs- und Meinungsfreiheit auf Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG transferiert werden. Damit ist zwar ein gewisser Widerspruch in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung aufgedeckt, jedoch nicht inhaltlich geklärt, an welcher „dogmatischen Stellschraube“ überzeugenderweise zu drehen ist. Denn in letzter Konsequenz ist dieses Argument beliebig und kann ebenso gut ins Gegenteil verkehrt werden. Das BVerfG gründet seine eingeschränkte Versammlungsdefinition maßgeblich auf der besonderen Bedeutung des Art. 8 Abs. 1 GG für die mit geringen plebiszitären Elementen ausgestattete parlamentarische Demokratie des GG481 sowie auf der Annahme, dass die Privilegierungen des VersG nicht weiter ausgedehnt werden dürfen als nötig.482 Diese Argumentation vermag freilich in keiner Weise zu überzeugen. So kann in Bezug auf den erstgenannten Rechtfertigungsgrund nichts anderes als bei der Meinungsfreiheit gelten: Die Verkürzung des Schutzbereichs im Namen der Demokratie ist aufgrund des Wechselseitigkeitsverhältnisses von scheinbar rein privaten und öffentlichen Meinungen dem Schutzzweck nicht nur 478 Faßbender, GRUR Int. 2006, 965, 970. 479 Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 422. 480 BVerfGE 104, 92, 104; so auch BVerfG NJW 2001, 2459, 2460; BVerwGE 26, 135, 137; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 8 Rn. 3. 481 BVerfG NJW 2001, 2459, 2460; 2002, 1031, 1032. 482 BVerfG NJW 2001 2459, 2460. 91
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unzuträglich, sondern sogar demokratieschädlich. Zudem führt diese Lesart zu der im Einzelfall schwer lösbaren Abgrenzungsfrage, ob das Gesamtgepräge einer Veranstaltung vom privaten Spaß- und Unterhaltungszweck oder von der Kundgabe öffentlicher Meinungen bestimmt ist.483 Aber auch der zweite Begründungsansatz ist untauglich. Verstößt es doch evident gegen den Vorrang der Verfassung, wenn das BVerfG das einfach-gesetzliche Verhältnis zwischen Polizeirecht und polizeifestem Versammlungsrecht zur Minimierung des Schutzumfangs von Art. 8 Abs. 1 GG heranzieht.484 Nach alledem ist die restriktive Auslegung des BVerfG mit der herrschenden Lehre485 abzulehnen und der dogmatische Gleichlauf der Meinungsund Versammlungsfreiheit einzig durch eine Anpassung der Rechtsprechung zu Art. 8 Abs. 1 GG herbeizuführen. Derweil lassen sich in der Tat Rückschlüsse von der Versammlungsfreiheit auf den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG ziehen – allerdings nicht im Sinne Ipsens und Faßbenders, sondern vielmehr dergestalt, dass Art. 8 Abs. 1 GG („friedlich und ohne Waffen“) aufzeigt, dass Schutzbereichsbegrenzungen von Grundrechten nur angenommen werden können, sofern sie explizit im Normtext vorgesehen sind. Die Implikation von Inhalten mit scheinbar rein privaten Zielsetzungen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit wird argumentativ zudem – zumindest indiziell – durch einen Vergleich mit der Kunstfreiheit gestützt. Schließlich entledigt sich der Künstler nach der Rechtsprechung des BVerfG hinsichtlich seines meinungshaltigen Kunstwerkes nicht des Schutzes von Art. 5 Abs. 3 GG, nur weil er seine Kunst berufsmäßig, mithin zu einem privat-kommerziellen Zweck ausübt.486Aus systematischer Warte ist eine Schutzbereichsfokussierung des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG daher insgesamt nicht angezeigt.
483 Vgl. BVerwGE 129, 42; Tschentscher, NVwZ 2001, 1243, 1245 f. 484 So auch Depenheuer, in: Maunz/Dürig II, Art. 8 Rn. 52. 485 Den sog. erweiterten Versammlungsbegriff vertritt etwa Kunig, in: von Münch/Kunig I, Art. 8 Rn. 14; in diese Richtung aber auch BVerfGE 69, 315, 343: Der Schutz des Art. 8 GG „ist nicht auf Veranstaltungen beschränkt, auf denen argumentiert und gestritten wird, sondern umfaßt vielfältige Formen gemeinsamen Verhaltens bis hin zu nicht verbalen Ausdrucksformen.“ Vgl. zudem BVerwGE 56, 63, 69; VGH München NVwZ 1988, 1055, 1056; für den sog. weiten Versammlungsbegriff treten etwa ein Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 808 ff.; Schulze-Fielitz, in: Dreier I, Art. 8 Rn. 25 ff. 486 Vgl. BVerfG NJW 2008, 39, 40; Scholz, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Abs. 3 Rn. 18, 50; Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 435.
IV Ergebnis
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IV Ergebnis IV Ergebnis
Weder die Geschichte der Meinungsfreiheit noch systematische Erwägungen bieten zwingende Gründe zur Beschränkung des Schutzbereichs auf politische Inhalte, welche zum (teilweisen) Ausschluss von wirtschaftswerblichen Äußerungen führte. Im Gegenteil: Aus teleologischer Sicht ist die Einbeziehung der Wirtschaftswerbung vor dem Hintergrund der vom BVerfG postulierten Weite des Schutzbereichs487 sogar obligatorisch – dies gilt auch für Werbung ohne (offensichtlichen) politisch-gesellschaftlichen Impetus.
487 Siehe § 3 IV. 1. 93
§7
Systematische Erwägungen zur Einbeziehung von Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit § 7 Systematische Erwägung
Dieser Befund kann nun allenfalls noch durch Spezialitätsüberlegungen oder übergeordnete Systemwertungen relativiert werden. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang lautet: Sind wirtschaftswerbliche Maßnahmen – trotz der Offenheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG für sämtliche wirtschaftswerblichen Inhalte – vornehmlich als Annex wirtschaftlicher Betätigung zu begreifen und deshalb systematisch exklusiv im Bereich der Wirtschaftsgrundrechte anzusiedeln oder können sie zugleich der Meinungsfreiheit zugeordnet werden? Neben der Beantwortung dieser Fragestellung sind jedoch auch die in der Literatur vorgetragenen systematischen Argumente, welche das bisherige Zwischenergebnis weiter zu stützen versuchen, auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen.
I
Exklusiver Schutz der Wirtschaftswerbung durch die Wirtschaftsgrundrechte – Systematische Einwände gegen die Einbeziehung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit
I Exklusiver Schutz durch die Wirtschaftsgrundrechte
Der werbliche Kontakt zum Kunden genießt als Form des unternehmerischen Handelns den Schutz der Berufsfreiheit.488 Geht es etwa um das Produkt- und Werbemittel oder das Recht am ausgeübten und eingerichteten Gewerbebetrieb hinsichtlich bereits bestehender werblicher Betätigungen eines Unternehmens (abgeschlossene Werbeverträge etc.), kann ebenso Art. 14 Abs.1 S. 1 GG relevant
488 Zur Rechtsprechung siehe § 4 I. und § 4 II.; Drettmann, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 24 ff.; Lerche, Werbung und Verfassung, 72, 92; Oppermann, in: FS Wacke, 393, 394; Selmer, in: FS Vogel, 405, 408 f. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Arnold, Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4_7
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§ 7 Systematische Erwägung
werden.489 Beides ist unstreitig. Diverse Autoren wollen es jedoch mit nachfolgender Begründung hierbei belassen.
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Schutz von Meinungen nach inhaltlicher Prägung
Zwar leugnen Oppermann und Ipsen den Kommunikationscharakter490 der Wirtschaftswerbung nicht, behaupten jedoch, dass zwischenmenschliche Kommunikation keinesfalls exklusiv von der Meinungsfreiheit geschützt sei, sondern „je nach ihrer inhaltlichen „Färbung“ von durchaus verschiedenen Grundrechten aufgenommen“491 werde. Zur Untermauerung ihrer These führen sie als Beispiel missionarische Meinungskundgaben an, die aufgrund ihres religiösen Einschlages einzig von der Glaubensfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützt sind.492 Demzufolge müsse man wirtschaftswerbliche Aussagen, deren Schwerpunkt nun mal im wirtschaftlichen Sektor liege, allein den sachnäheren bzw. spezielleren Wirtschaftsgrundrechten der Berufs- und Eigentumsfreiheit zuordnen.493 Andernfalls würden diese Äußerungen grundlos privilegiert. Dieser Ansatz mag zwar a prima vista einleuchtend erscheinen, leidet aber bei genauerer Betrachtung an einem erheblichen Mangel: Er verkennt die Wesensverschiedenheit von Wirtschafts- und Kommunikationsgrundrechten. Erstere zielen nämlich im Gegensatz zu letzteren nicht auf den Schutz von menschlichem Meinungsaustausch sowie dessen Modalitäten ab.494 Deshalb kommen – wie gesehen – Spezialitätsverhältnisse hinsichtlich bestimmter Meinungen auch nur unter Kommunikationsgrundrechten in Betracht,495 während zwischen Meinungsfreiheit und Berufs- sowie Eigentumsfreiheit nach fast einhelliger Auffassung Idealkonkurrenz herrscht.496 Verschiedene inhaltliche Prägungen können mithin einzig eine spezifische Verortung innerhalb der kommunikationsgrundrechtlichen Ordnung
489 Zur Rechtsprechung siehe § 4 II.; Drettmann, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 26 ff.; Lerche, Werbung und Verfassung, 73 ff., 88; Oppermann, in: FS Wacke, 393, 394; Selmer, in: FS Vogel, 405, 409 ff. 490 Siehe § 2 I. 3. 491 Oppermann, in: FS Wacke, 393, 398. 492 Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 422; Oppermann, in: FS Wacke, 393, 399. 493 Ipsen, Staatsrecht II, Rn. 422; Oppermann, in: FS Wacke, 393, 399. 494 Vgl. Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 79. 495 Siehe § 3. II. 1. 496 Siehe § 3. II. 2.
I Exklusiver Schutz durch die Wirtschaftsgrundrechte
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zur Folge haben.497 Der kumulierte Schutz der Wirtschaftswerbung durch die Meinungsfreiheit und die Wirtschaftsgrundrechte ist also nicht systemwidrig.
2
Gefahr der Schrankenkumulierung?
Oppermann gibt ferner zu Bedenken, dass der erweiterte Schutz der Wirtschaftswerbung durch Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 S. 1 und 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG die Gefahr einer Schrankenkumulierung mit sich brächte, indem das „fein ausdifferenzierte Vorbehaltssystem zum Berufsfreiheitsschutz sowie zum Eigentumsschutz in vielen Fällen mit den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG gedoppelt würde.“498 Die Folge sei eine „Nivellierung des Grundrechtsschutzes […] auf einem „niederen“ Niveau“499. Auch diese rein vom Ergebnis her gedachte These verdient gewiss keine Zustimmung. Schließlich sieht sich der Grundrechtsberechtigte nicht allein neuen Schranken ausgesetzt. Vielmehr bekommt er ein weiteres Grundrecht in Gänze zur Seite gestellt. Mit anderen Worten: Eine isolierte Addition von Schranken ist per se systemwidrig, da diese stets im Zusammenhang mit dem jeweiligen Schutzbereich und ihren Schranken-Schranken zu sehen sind. Außerdem ist die Conclusio eines absinkenden Schutzes schon alleine deshalb unzutreffend, weil – so viel kann unabhängig von der Frage der Gewichtung im Einzelfall vorweggenommen werden – die Schranken der Art. 12 Abs. 1 S. 2 und 14 Abs. 1 S. 2 GG (einfache Gesetzesvorbehalte) viel weitere Eingriffsmöglichkeiten eröffnen als die der Meinungsfreiheit (qualifizierter Gesetzesvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG500).501 Ferner verstrickt sich Oppermann in einen Widerspruch, wenn er mit Blick auf die meinungsfreiheitliche Unterschutzstellung der Wirtschaftswerbung die vermeintliche Gefahr einer Schrankenkumulierung mit der Folge heraufbeschwört, dass diese grundsätzlich zu verneinen sei, eine Dopplung der Gesetzesvorbehalte jedoch bezüglich der von ihm bejahten rundfunk- und pressefreiheitlichen Protektion in Kauf nimmt.502
497 So auch Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 94. 498 Oppermann, in: FS Wacke, 393, 400. 499 Oppermann, in: FS Wacke, 393, 400. 500 Vgl. Hufen, Staatsrecht II, § 9 Rn. 10. 501 So auch Bleckmann, Staatsrecht II, § 26 Rn. 22. 502 Oppermann, in: FS Wacke, 393, 404 f. 97
98
§ 7 Systematische Erwägung
II
Schutz der Werbung innerhalb des Systems der Kommunikationsgrundrechte – Zwingende Rückschlüsse für die Einbeziehung von Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit?
II
Werbung im System der Kommunikationsgrundrechte
Obschon die systematischen Argumente der Gegner einer meinungsfreiheitlichen Protektion nicht verfangen, holen die Befürworter zum kommunikationsgrundrechtssystematischen Konter aus. So brachte Hufen einst vor, dass die Verdrängung der Wirtschaftswerbung aus dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit nicht mit der Rechtsprechung des BVerfG zur Presse-, Rundfunk- und Kunstfreiheit, wonach Werbung durchaus durch das jeweilige Grundrecht geschützt sei, in Einklang zu bringen wäre.503 Wendt argumentiert zudem mit der Komplementärfunktion der Meinungsfreiheit der Werbenden in Bezug auf die Informationsfreiheit der Verbraucher.504 Diese benötigten nämlich Informationen zur freiheitlichen Konsum- und Investitionsentscheidung. Hierzu sei der umfassende Schutz der Wirtschaftswerbung jedoch notwendige Bedingung.
1
Rückschluss aus pressefreiheitlichem Schutz der Wirtschaftswerbung
Eingangs ist zu konzedieren, dass das BVerfG in gefestigter Rechtsprechung in der Tat davon ausgeht, dass die Pressefreiheit auch den Anzeigenteil umfasst.505 Als Begründung führte es zunächst die Kommunikationsaufgabe der Presse an. Wörtlich argumentierten die Verfassungsrichter in der (bereits erwähnten) „Südkurier-Entscheidung“: „Daß auch eine […] Verbreitung reiner Nachrichten ohne eigene Stellungnahme von der Pressefreiheit geschützt ist, kann nicht zweifelhaft sein […]. Daher beginnt die Pressefreiheit nicht erst mit der pressemäßigen Verbreitung einer eigenen Meinung, sondern umfasst bereits die Beschaffung von Informationen und deren Verbreitung. Auch eine Anzeige stellt eine solche Nachricht dar.“506 Im gleichen Atemzug stellten sie – wie oben festgehalten – nebenbei klar, dass Anzeigen i. a. R. keine Meinung enthielten, sondern lediglich ein Angebot zum Abschluss eines 503 Hufen, in: FS Schmidt, 347, 350; ders., Staatsrecht II, 4. Auflage, § 25 Rn. 9; seit der 5. Auflage wird dieses Argument nicht mehr angeführt. 504 Wendt, in: von Münch/Kunig I, Art. 5 Rn. 11. 505 BVerfGE 21, 271, 278; 64, 108, 114; inzident auch BVerfGE 77, 346. 506 BVerfGE 21, 271, 279.
II
Werbung im System der Kommunikationsgrundrechte
99
Vertrages darstellten.507 Zwar wurde die Finanziersrolle der Werbung508 zunächst ausdrücklich außenvorgelassen, allerdings in einem späteren Beschluss als zweiter Schutzgrund aufgeführt: „Nicht unberücksichtigt bleiben darf auch die Bedeutung des Anzeigenteils für die Erfüllung der Kommunikationsaufgabe der Presse sowie für die Erhaltung ihrer wirtschaftlichen Grundlage als wesentlicher Voraussetzung ihrer Unabhängigkeit.“509 Beide Erwägungsgründe sind indes erkennbar auf die Institution der freien Presse zugeschnitten.510 Dies verwundert angesichts der stärkeren Betonung der objektiv-rechtlichen Dimension der Medienfreiheiten durch das BVerfG und der daraus folgenden Annahme eines Aliudverhältnisses zwischen Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt und S. 2 GG nicht.511 Inhaltliche Rückschlüsse von der Rechtsprechung zur Pressefreiheit auf den Meinungsgehalt von Wirtschaftswerbung verbieten sich demnach.
2
Rückschluss aus rundfunkfreiheitlichem Schutz der Wirtschaftswerbung
Entsprechendes gilt naturgemäß auch für den Bereich des Rundfunks – mit dem Unterschied, dass die Karlsruher Richter die rundfunkfreiheitliche Unterschutzstellung der Wirtschaftswerbung sogar einzig mit deren Funktion als wirtschaftliches Rückgrat der privaten Rundfunkveranstalter bzw. als wichtige Einnahmequelle der Rundfunkanstalten fundieren, auf eine etwaige Kommunikationsaufgabe des Rundfunks also gar nicht erst eingehen.512 Exemplarisch sei an dieser Stelle nur auf die fünfte Rundfunkentscheidung hingewiesen, in der die Frage zu klären war, „ob und inwieweit die Finanzierung regionaler und lokaler Programme der Landesrundfunkanstalten durch Werbung vom Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG umfaßt wird.“513 Die Verfassungsrichter stellten dazu fest: „Die finanzielle Sicherung
507 BVerfGE 21, 271, 278 f. 508 Siehe § 2 I. 2. d). 509 BVerfGE 64, 108, 114. 510 So auch Oppermann, in: FS Wacke, 393, 403. 511 Siehe § 3 II. 1. c). 512 Vgl. BVerfGE 73, 118, 123; 83, 238, 310; 87, 181, 200, 203 f.; 90, 60, 91; 119, 181, 219 f.; BVerfG NJW 1999, 709, 710; unterschwellige Kritik von Starck/Paulus, in: von Mangoldt/ Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 185. 513 BVerfGE 74, 297, 342. 99
100
§ 7 Systematische Erwägung
dieser Programme ist Bestandteil ihres Schutzes durch die Rundfunkfreiheit.“514 Im Weiteren führten sie fort, dass der private Rundfunk zur Erhaltung seiner „Existenz auf Einnahmen aus Wirtschaftswerbung angewiesen“515 sei.
3
Rückschluss aus kunstfreiheitlichem Schutz der Wirtschaftswerbung
Auch zum Schutz der Werbung durch die Kunstfreiheit hat sich das BVerfG bereits grundlegend geäußert. In seinem Beschluss „Herrnburger Bericht“ konstatierte es, dass die Kunstfreiheit auch den Wirkbereich umfasse, „in dem der öffentliche Zugang zu dem Kunstwerk verschafft wird, also seine Darbietung und Verbreitung. Zu diesem Wirkbereich zählen auch die Medien, die durch Vervielfältigung, Verbreitung und Veröffentlichung eine unentbehrliche Mittlerfunktion zwischen Künstler und Publikum ausüben. Die Werbung für ein Kunstwerk ist zwar kein Medium, welches das Kunstwerk selber oder seinen Inhalt transportiert. Sie bildet aber ein Kommunikationsmittel, das ebenfalls zum Wirkbereich künstlerischen Schaffens gehört; denn die Kunst ist wie die Schutzgüter der anderen „Kommunikationsgrundrechte“ öffentlichkeitsbezogen und daher auf öffentliche Wahrnehmung angewiesen. Aus diesem Grund fällt auch die Werbung für ein Kunstwerk unter den Schutz des Grundrechts.“516 Damit ist jedoch freilich keine Aussage darüber getroffen, ob Werbung im Allgemeinen selbst Kunst sein kann. Nur eine solche Feststellung ließe aber – aufgrund des Spezialitätsverhältnisses zwischen Kunst- und Meinungsfreiheit – Rückschlüsse auf den Meinungsgehalt von Werbebotschaften zu. Die „bloße“ Einbeziehung der Werbung in den Wirkbereich der Kunstfreiheit wegen ihrer kommunikativen Hilfsfunktion kann hingegen ebenso wenig wie die oben genannten medienspezifischen Aspekte (Kommunikationsaufgabe und Finanziersrolle) für inhaltliche Bewertungen fruchtbar gemacht werden.
514 BVerfGE 74, 297, 342. 515 BVerfGE 74, 297, 343. 516 BVerfG NJW 1988, 325 f.
III Umkehrschluss aus staatlichem Verbraucherinformationsrecht
4
101
Rückschluss aus Komplementärfunktion zur Informationsfreiheit
Freilich ist zuzugeben, dass die Meinungs- und Informationsfreiheit in einem Komplementärverhältnis zueinander stehen.517 Eine bloße Ergänzungs- und Unterstützungsfunktion erlaubt allerdings noch keine Synchronisierung. Erforderlich ist vielmehr eine Spiegelbildlichkeit der beiden Tatbestände. 518 Der Begriff der Information ist hingegen umfassender angelegt. Eingeschlossen sind nicht nur Meinungen und Tatsachen. Auch Ereignisse und Vorgänge bieten beispielsweise geeignete Informationsquellen.519 Demzufolge lassen sich aus Art. 5 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. GG ebenfalls keine Rückschlüsse auf den Tatbestand der 1. Alt. ziehen.520 Die Vorstellung Wendts vom umfassenden Schutz der Wirtschaftswerbung aufgrund des Informationsbedürfnisses der Verbraucher ist damit allenfalls als im Ergebnis erstrebenswert, nicht aber als systematisch zwingend anzusehen.
III
Argementum e contrario aus staatlichem Verbraucherinformationsrecht
III Umkehrschluss aus staatlichem Verbraucherinformationsrecht
Träger öffentlicher Gewalt beschränken sich längst nicht mehr auf die althergebrachten verwaltungsrechtlichen Hilfsmittel. Vielmehr beteiligt sich der moderne, daseinsfürsorgende Staat aktiv an gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Prozessen. Dementsprechend sendet er auch Informationen und Warnungen diverser Art im Bereich des Verbraucherschutzes aus. Beste Beispiele hierfür bilden die geäußerten Überlegungen zur Einführung einer Lebensmittelampel,521 die angesprochenen Warnungen auf Tabakwarenverpackungen522 oder etwa vor glykolhaltigen Weinen.523 Das BVerfG hat derartige Maßnahmen stets unter gewissen Vorausset-
517 Siehe § 3 II. 1. b). 518 Vgl. Merten, DÖV 1990, 761, 763. 519 BVerfG NJW 2001, 1633, 1634; vgl. zudem Oppermann, in: FS Wacke, 393, 406. 520 Vgl. Merten, DÖV 1990, 761, 763. 521 Vgl. Kafsack, Kommt die Ampel, ist Schluss mit Nutella, http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/debatten/lebensmittel-lobby-verhindert-vernuenftiges-13832395.html. 522 Vgl. BVerfGE 95, 173. 523 Vgl. BVerfG NJW 2002, 2621. 101
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§ 7 Systematische Erwägung
zungen gebilligt.524 In seinem „Glykolwein-Urteil“ hat es sogar einen Eingriff in Art. 12 Abs. 1 GG verneint, weil die konkrete marktbezogene Information einer staatlichen Aufgabe entsprang, von der zuständigen Stelle kommuniziert wurde sowie sachlich und richtig war.525 Aus der verfassungsgerichtlich attestierten Legitimität staatlicher Verbraucherinformationen wird vereinzelt geschlussfolgert, dass den Werbenden der Schutz der Meinungsfreiheit zugebilligt werden müsse. So argumentiert Degenhart: Wenn „staatliche Informationstätigkeit als Gegengewicht zu interessengesteuerter, kommerzieller Kommunikation aufgefasst und hieraus eine staatliche Informationsaufgabe bei Marktversagen begründet wird, bildet Werbung ihrerseits ein legitimes Gegengewicht.“526 Hufen greift diesen Gedanken auf und betont zudem die besondere Glaubwürdigkeit offizieller Kundgaben, welche das Recht zur Gegenwehr auslösten. Zur Herstellung von „Waffengleichheit“ müsse dem Werbetreibendem neben anderen Grundrechten vor allem auch Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG zur Seite stehen.527 Dieser Ansatz ist freilich ist stark ergebnisorientiert und liefert gleichfalls kein zwingendes systematisches Argument. Träger öffentlicher Gewalt können sich in ihrer Funktion grundsätzlich nicht auf Grundrechte und somit auch nicht auf die Meinungsfreiheit berufen.528 Im Gegenteil: Sie sind an diese gebunden, vgl. Art. 1 Abs. 3 GG. Auf der den Grundrechtsträgern im Diskurs entgegengesetzten staatlichen Seite befinden sich also „lediglich“ gesetzliche Grundlagen, Zuständigkeitsnormen und Schutzpflichten,529 die keine spiegelbildlichen Schlüsse auf die Schutzbereichseröffnung der Meinungsfreiheit für Werbetreibende zulassen. In welche Rechte die Träger öffentlicher Gewalt eingreifen, ist vielmehr anhand der jeweiligen Tatbestandsmerkmale zu ermitteln und nicht aufgrund vorgezogener Abwägungsüberlegungen zu entscheiden.
524 Vgl. etwa BVerfG NJW 1997, 2871, 2872 f. 525 BVerfG NJW 2002, 2621, 2622 ff. Trotz der Rückendeckung durch das BVerfG keimt immer wieder Kritik an dieser Praxis auf, vgl. Di Fabio, NJW 1997, 2863; Faßbender, NJW 2004, 816, 817 f. So bezeichnet etwa Hufen, in: FS Schmidt, 347, 355 die Informationspolitik ablehnend als staatliche Gegenwerbung und patriarchalischen Verbraucherschutz. Diese Staatspädagogik sei letztlich im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip überprüfungswürdig. 526 Degenhart, in: BK III, Art. 5 Abs. 1 und 2 Rn. 135. 527 Hufen, in: FS Schmidt, 347, 356. 528 Vgl. nur Hufen, Staatsrecht II, § 6 Rn. 38; Sodan/Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht, § 23 Rn. 16. 529 Die Bunderegierung ist etwa aufgrund ihrer Staatsleitungsaufgabe (Art. 62 ff. GG) befugt, marktbezogene Informationen mitzuteilen, vgl. BVerfG NJW 2002, 2621, 2623.
IV Ergebnis
103
IV Ergebnis IV Ergebnis
Zwar führt die Aussparung der Wirtschaftswerbung vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG nicht zu einem Antagonismus im grundgesetzlichen Gefüge, es bestehen letztlich aber auch keine unüberwindbaren systematischen Gründe gegen die meinungsfreiheitliche Unterschutzstellung.
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Meinungsfreiheitlicher Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und auf europäischer Ebene
§8
§ 8 Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und Europa
Nach der systematischen Betrachtung innerhalb des GG sollen abschließend ein dogmatischer Vergleich mit der Rechtslage in den USA sowie eine Einordnung von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG im grundrechtlichen Mehrebenensystem Europas als Erkenntnisquellen dienen. Zweckmäßigerweise ist zunächst die Rechtsprechung des Supreme Courts zum 1. Zusatzartikel der Amerikanischen Bundesverfassung auf fruchtbare Ansätze für die hiesige, grundgesetzliche Debatte zu durchleuchten, da diese aufgrund der zeitlichen Geltungsdauer des First Amendments zwangsläufig eine Pionierrolle einnimmt. Die chronologische Folge einhaltend wird sodann der Blick auf die hierdurch inspirierte530 Judikatur des EGMR zu Art. 10 EMRK zu richten sein, die wiederrum starke Einflüsse auf die Dogmatik des EuGH zu Art. 11 GRCh hat, welcher den letzten Vergleichsgegenstand bildet.
I
Die Meinungsfreiheit des 1. Zusatzartikels zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika und Wirtschaftswerbung
I 1. Zusatzartikel zur Verfassung der USA und Wirtschaftswerbung
Der 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika beherbergt eine Vielzahl von Grundrechten. Er schützt explizit zum einen die Religionsfreiheit, zum anderen aber neben dem Petitionsrecht, der Presse- und Versammlungsfreiheit vor allem auch die Redefreiheit: „Congress shall make no law […] abridging the freedom of speech“. Im Laufe der Jahre stellte der Supreme Court klar, dass die Gewährleistungen der „free speech“ sowie der „free press“ auch
530 Dazu Hufen, in: FS Schmidt, 347, 350 f. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Arnold, Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4_8
105
106
§ 8 Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und Europa
weitere, ungeschriebene Rechte, wie die Kunst-, Wissenschafts-, Informations- und Rundfunkfreiheit, implizieren.531
1
Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG
Freilich sind Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG und die US-amerikanische Garantie der Meinungsfreiheit nicht in ein gemeinsames System eingebunden und stehen somit in keinem konkreten Verhältnis zueinander. Jedoch basieren beide Gewährleistungen auf einer liberalen Grundrechtstradition und sind Teil rechtsstaatlicher Systeme, die weitgehend ähnlichen kulturellen sowie wirtschaftlichen Verhältnissen entspringen.532 Folglich lassen sich die Lösungsansätze des Supreme Courts für das deutsche Grundrecht durchaus verwenden.
2
Grundlegendes zur Meinungsfreiheit des 1. Zusatzartikels
So ist es nicht verwunderlich, dass gewisse Parallelen zwischen der Rechtsprechung des BVerfG und des Supreme Courts im Bereich der Meinungsfreiheit festzustellen sind. Dies gilt zum einen für die allgemeine Stellung im grundrechtlichen Gefüge: Auch der Supreme Court betont nämlich die besondere Wichtigkeit der Meinungsfreiheit für die Demokratie und attestiert dem Grundrecht eine herausragende Bedeutung.533 Damit einhergehend hebt er zudem stets die grundsätzliche Gleichwertigkeit aller geschützten Meinungen hervor.534 Zum anderen finden sich Gemeinsamkeiten auch en détail: Denn beim 1. Zusatzartikel kommt es ebenso wie bei Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG nicht darauf an,
531 Für die Kunstfreiheit Miller v. California, 413 U.S. 15, 24 (1973); für die Wissenschaftsfreiheit University of Pennsylvania v. Equal Employment Opportunity Commission, 493 U.S. 182 (1990); für die Informationsfreiheit Virginia State Board of Pharmacy v. Virginia Citizens Consumer Counsil, 425 U.S. 748 (1976); für die Rundfunkfreiheit Red Lion Broadcasting Company v. FCC, 395 U.S. 367 (1969); Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, 157 f. m. w. N. 532 Vgl. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, 387; Zippelius, Juristische Methodenlehre, 47 f. 533 Pittsburgh Press Company v. Pittsburgh Commission on Human Relations, 413 U.S. 376, 381 (1973). 534 Siehe nur Roth v. U.S., 354 U.S. 476, 484 (1957).
I 1. Zusatzartikel zur Verfassung der USA und Wirtschaftswerbung
107
ob eine wertende Stellungnahme sachlich oder unsachlich ist.535 Auch der Wert einer Äußerung ist nicht von Belang. Ebenfalls erstreckt sich der grundrechtliche Schutz nicht nur auf schriftliche und mündliche Aussagen, sondern gleichzeitig auf bild- und symbolhafte Kundgaben.536 Entsprechendes gilt für das Recht, seine Meinung nicht äußern zu müssen.537 In Nuancen gibt es aber auch dogmatische Unterschiede: So sind zwar desgleichen Tatsachenmitteilungen vom Schutz des 1. Zusatzartikels erfasst. Dies gilt jedoch grundsätzlich unabhängig von deren Wahrheitsgehalt.538 Zudem fallen etwa obszöne Äußerungen im Gegensatz zur deutschen Garantie von vorherein aus dem Schutzbereich.539 Des Weiteren wird nicht immer präzise zwischen den verschiedenen Grundrechten differenziert, da sie letztlich den gleichen Schranken unterliegen.540
3
Wirtschaftswerbung im Schutzbereich der Meinungsfreiheit des 1. Zusatzartikels
Die Rechtsprechung des Supreme Court ist ebenso wie die des BVerfG von einem signifikanten Umschwung geprägt. Propagierten die obersten Richter anfangs noch den gänzlichen Ausschluss der Wirtschaftswerbung vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit, vollzogen sie Jahrzehnte später eine vollkommene Kehrtwende.
a)
Ausgangspunkt: Ausschluss der Wirtschaftswerbung aus dem Schutzbereich
Im Jahre 1942 war der Supreme Court im Rahmen der Rechtssache „Valentine v. Chrestensen“541 zum ersten Mal mit der Frage befasst, ob Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fallen kann. Dieser wegweisenden Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der Beklagte Chrestensen verteilte Werbeflyer für die entgeltliche Besichtigung eines in seinem Eigentum stehenden ausgesonderten U-Boots der US-Navy. Nach dem Hinweis des Polizisten Valentine, dass derartige Werbung gegen § 318 des New York City Sanitary Code verstoße, der die Verteilung von Flugblättern in den Straßen nur zur „information“ oder zum 535 Roth v. U.S., 354 U.S. 476, 484 (1957). 536 Vgl. Grossmann, JöR N.F. 10 (1961), 181, 218. 537 Etwa Riley v. National Federation of Blind, 487 U.S. 781 (1988). 538 Vgl. Zsöks, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 21. 539 Miller v. California, 413 U.S. 15, 24 (1973). 540 Vgl. Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 33. 541 Valentine v. Chrestensen, 316 U.S. 52 (1942). 107
108
§ 8 Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und Europa
„public protest“ dulde, versah Chrestensen deren Rückseiten mit einer Beanstandung der mangelnden Kooperationsbereitschaft der städtischen Werftverwaltung. Da er den abermaligen Fingerzeig ignorierte, dass auch dieser zweiseitige Flyer der oben genannten Norm zuwiderlaufe, wurde er vorübergehend verhaftet. Der Supreme Court nutzte die Chance, um den Grundstein für die sog. commercial speech-Doktrin zu legen, welche über lange Zeit die Richtschnur für die Beurteilung des verfassungsrechtlichen Schutzes von Wirtschaftswerbung darstellte. Die Richter befanden ohne nähere Erläuterung, dass das First Amendment die rein kommerzielle Werbung nicht schütze: „We are equally clear that the Constitution imposes no such restraint on government as respects purely commercial advertising.“542 Zwar sei die auf der Rückseite abgedruckte Kritik an der Werftverwaltung isoliert gesehen schutzwürdig, jedoch handelte der Beklagte in Umgehungsabsicht, so dass die Protektion entfalle: „It is enough for the present purpose that the stipulated facts justify the conclusion that the affixing of the protest against official conduct to the advertising circular was with the intent, and for the purpose, of evading the prohibition of the ordinance.“543 Aufgrund dessen sei § 318 des New York City Sanitary Code im Ergebnis mit der Verfassung vereinbar. In der Folge dieses Richterspruchs konnten Beschränkungen von wirtschaftswerblichen Maßnahmen allenfalls am 5. und 14. Zusatzartikel – namentlich an der Eigentumsfreiheit („private property“), dem Recht auf einen angemessenen Gerichtsprozess („due process of law“) sowie dem allgemeinen Gleichheitssatz („equal protection of the laws“) – gemessen werden, die dem Gesetzgeber ein weiten Gestaltungsspielraum zugestehen.544 Der (grundsätzlich) wesentlich höhere Schutz durch die Meinungsfreiheit blieb den Werbetriebenden somit generell versagt.545 Freilich offenbarte sich bereits damals die Schwierigkeit der Abgrenzung von kommerzieller zu nicht-kommerzieller Rede. So kommunizierte der Supreme Court zwar die diesbezüglichen Bedenken der Vorinstanz: „The court below […] adverts to the difficulty of apportioning […] the contents of the communication as between
542 Valentine v. Chrestensen, 316 U.S. 52, 54 (1942). 543 Valentine v. Chrestensen, 316 U.S. 52, 55 (1942). 544 Vgl. etwa U.S. Dept. of Agriculture v. Moreno, 413 U.S. 528, 535 (1973): Lediglich Vernunfts- und Willkürkontrolle; vgl. zum Ganzen Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 36; Zsöks, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 23 f. 545 Vgl. die berühmte „Footnote Four“ aus U.S. v. Carolene Products Company, 304 U.S. 144, 152 ff. (1938), welche eine abgestufte Prüfungsdichte für „preferred freedoms“ (strenger Kontrollmaßstab), zu denen etwa die Meinungs- und Pressfreiheit zählen, auf der einen sowie für wirtschaftliche Freiheiten und das Eigentumsrecht (weniger strenger Kontrollmaßstab) auf der anderen Seite etablierte.
I 1. Zusatzartikel zur Verfassung der USA und Wirtschaftswerbung
109
what is of public interest and what is for privat profit.“546 Jedoch präsentierte er keinen suffizienten Lösungsansatz. Dementsprechend sah man sich bei den folgenden Entscheidungen genötigt, die Vorgaben aus „Valentine v. Chrestensen“ zu präzisieren. In der Rechtssache „Pittsburgh Press Company v. Pittsburgh Commission on Human Relations“ führten die Richter etwa aus, dass das ausschließlich kommerzielle Interesse des Werbetreibenden und seiner künftigen Vertragspartner bzw. das Auffordern zu einer kommerziellen Transaktion Wesenselement einer jeden „commercial speech“ sei und damit das maßgebliche Abgrenzungskriterium zur nicht-kommerziellen Rede darstellte.547 Infolgedessen wurden nicht nur klassische Werbeakte, sondern auch die bloße Verwendung von Markennamen, Firmen oder einfach gestalteten Schildern als kommerzielle Rede qualifiziert.548
b)
Übergang: Aufweichen der pauschalen Ausschlussthese über die Pressefreiheit
Indes schlug der Supreme Court in seiner Judikatur zur Pressefreiheit in Bezug auf wirtschaftliche Zielsetzungen einen deutlich toleranteren Ton an. In der Entscheidung „New York Times Company v. Sullivan“, in der es allerdings um eine aus Sicht des Gerichts nicht-kommerzielle Werbeanzeige ging, konstatierte es beispielgebend, dass der Umstand, dass die „New York Times“ für die Veröffentlichung der Werbung eine Vergütung erhielt, ebenso unerheblich ist wie der Fakt, dass die entsprechenden Zeitungen und Bücher selbst verkauft werden.549 Es sah den Schutzbereich der Pressefreiheit also trotz exklusiv kommerzieller Interessen des Verlegers als eröffnet an. Diese Rechtsauffassung dokumentierten die obersten Richter sodann in weiteren Entscheidungen. Demgemäß führte der Supreme Court etwa in der oben angesprochenen Sache „Pittsburgh Press Company v. Pittsburgh Commission on Human Relations“ unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das gerade genannte Urteil näher aus: „If a newspaper’s profit motive were determenative, all aspects of its operations – from the selection of news stories to the choice of editorial position – would be subject to regulation if it could be established that they were con546 Valentine v. Chrestensen, 316 U.S. 52, 55 (1942). 547 Pittsburgh Press Company v. Pittsburgh Commission on Human Relations, 413 U.S. 376, 385 (1973); kritisch hierzu Wright, Selling Words, 54 f. 548 Linmark Accociates v. Township of Willingboro, 431 U.S. 85 (1977); Friedmann v. Rogers, 440 U.S. 1, 11 (1979). 549 New York Times Company v. Sullivan, 376 U.S. 254, 266 (1964); vgl. in diesem Zusammenhang zudem Smith v. California, 361 U.S. 147, 150 (1959); Bigelow v. Virginia, 421 U.S. 809 (1975) 109
110
§ 8 Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und Europa
ducted with a view toward increased sales. Such a basis for regulation clearly would be incompatible with the First Amendment.“550 Auch wenn das oberste Gericht die „commercial speech-Doktrin“ damit nicht aufgab, führte diese Rechtsprechung bereits zu einem gewissen Aufweichen der pauschalen Ausschlussthese, da sie erhellte, dass ausschließlich wirtschaftliche Zielsetzungen nicht in jedem Fall eine Versagung des Schutzes durch den 1. Zusatzartikel zeitigen.
c)
Kehrtwende: Einbeziehung von Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich
Die endgültige Wende vollzog sich sodann Mitte der 1970er Jahre im Fall „Virginia State Board of Pharmacy v. Virginia Citizens Consumer Council“551, in welchem die Richter die Verfassungsmäßigkeit des Verbotes von Preiswerbung durch Apotheker im Bundesstaat Virginia zu prüfen hatten. Es stellte sich ihnen mithin abermals die Frage, ob reine Wirtschaftswerbung den Schutz der Meinungsfreiheit des First Amendments genießt. Laut Justice Blackburn stand man in concreto vor dem vermeintlichen Problem, dass die Apotheker nicht ihre Meinung hinsichtlich kulturellen, philosophischen oder politischen Themen abgäben, sondern lediglich verlautbaren wollten, dass sie ein bestimmtes Medikament zu einem bestimmten Preis verkaufen.552 Diese Bedenken aufgreifend bescheinigte der Supreme Court den Apothekern anfangs auf der einen Seite ein exklusiv wirtschaftliches Interesse, gab jedoch danach auf der anderen Seite zu, dass Äußerungen von Arbeitgebern oder -nehmern im Rahmen eines Arbeitskampfes, die unbestritten den Schutz des 1. Zusatzartikels genießen, ebenso vorwiegend wirtschaftlich geprägt seien.553 Des Weiteren hob das Gericht die Bedeutung der Wirtschaftswerbung als Informationsquelle in einer freiheitlichen Marktwirtschaft hervor und betonte das öffentliche Interesse daran, dass ökonomische Entscheidungen auf einer ausreichenden Informationsbasis ergehen. Zudem könne man – so die Richter – nicht behaupten, dass der freie Fluss von wirtschaftlichen Informationen die Ziele des
550 Pittsburgh Press Company v. Pittsburgh Commission on Human Relations, 413 U.S. 376, 385 (1973). 551 Virginia State Board of Pharmacy v. Virginia Citizens Consumer Council, 425 U.S. 748 (1976). 552 Virginia State Board of Pharmacy v. Virginia Citizens Consumer Council, 425 U.S. 748, 761 (1976). 553 Virginia State Board of Pharmacy v. Virginia Citizens Consumer Council, 425 U.S. 748, 762 (1976).
I 1. Zusatzartikel zur Verfassung der USA und Wirtschaftswerbung
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demokratiebezogenen 1. Zusatzartikels nicht bedienten.554 All diese Erwägungen bedeuteten im Ergebnis nicht weniger als die offene Abkehr von der „commercial speech-Doktrin“. Bereits vier Jahre später definierte der Supreme Court den meinungsfreiheitlichen Schutz der Wirtschaftswerbung eingehender. In der Rechtssache „Central Hudson Gas & Electric Corporation v. Public Service Commission of New York“555 hatte er sich mit dem von der Public Service Commission of New York aufgrund der Ölkrise verhängten Werbeverbot für Stromanbieter zu befassen. Die Richter hielten an den Grundsatzentscheidungen von „Virginia State Board of Pharmacy v. Virginia Citizens Consumer Council“ fest, entwickelten aber darüber hinaus den sog. Central Hudson-Test, der bis heute Gültigkeit beansprucht556 und sowohl die Protektionsvoraussetzungen als auch die Anforderungen an die staatliche Regulierung von Wirtschaftswerbung konkretisiert: „In commercial speech cases, then, a four-part analysis has developed. At the outset, we must determine wheter the expression is protected by the First Amendment. […] Next we ask whether the asserted govermental interest is substantial. If both inquiries yield positive answers, we must determine wheter the regulation directly advances the gouvermental interest asserted, and whether it is not more extensive than is necessary to serve that interest.“557 Im Rahmen des Schutzbereichs ist insbesondere die erste Stufe des Tests von Interesse, auf welcher zu prüfen ist, ob im konkreten Fall überhaupt eine durch den 1. Zusatzartikel geschützte wirtschaftswerbliche Maßnahme vorliegt. Im konkreten Fall führte der Supreme Court hierzu aus, dass sich auf nicht gesetzmäßige Aktivitäten beziehende oder irreführende Werbung jedenfalls keinen Schutz genieße: „For commercial speech to come within that provision, it at least must concern lawful acitivity and not be misleading.“558 In dem vorangestellten Punkt, wann eigentlich eine Maßnahme als „commercial speech“ zu qualifizieren ist, zeigt sich die Recht554 Virginia State Board of Pharmacy v. Virginia Citizens Consumer Council, 425 U.S. 748, 765 (1976). 555 Central Hudson Gas & Electric Corporation v. Public Service Commission of New York, 447 U.S. 557 (1980). 556 Vgl. etwa Bolger v. Youngs Drug Product Corporation, 463 U.S. 60, 68 f. (1983); die Voraussetzungen restriktiv handhabend und damit einen höheren Schutzstandard für Wirtschaftswerbung gewährend 44 Liqourmart, Incorporated v. State of Rhode Island, 517 U.S. 484, 499 (1996); Greater New Orleans Broadcasting v. U.S., 527 U.S. 173, 181 (1999). 557 Central Hudson Gas & Electric Corporation v. Public Service Commission of New York, 447 U.S. 557, 566 (1980). 558 Central Hudson Gas & Electric Corporation v. Public Service Commission of New York, 447 U.S. 557, 566 (1980). 111
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§ 8 Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und Europa
sprechung bisweilen uneinheitlich. Gingen die Richter in „Hudson Gas & Electric Corporation v. Public Service Commission of New York“ nicht weiter auf diesen Aspekt ein, wurde in Folgeentscheidungen entweder auf das altbewährte Kriterium des wirtschaftlichen Interesses bzw. des Aufforderns zu einer kommerziellen Transaktion zurückgegriffen559 oder aber gefordert, dass die Maßnahme kumulativ auf Gewinnerzielung gerichtet sein, auf einen Markennamen Bezug nehmen sowie die Form einer Werbeanzeige haben müsse.560 Die vielgestaltigen Definitionsversuche erhellen letztlich zum wiederholten Male, dass es im Einzelfall schwer bis unmöglich sein kann, kommerzielle von nicht-kommerzieller Rede abzugrenzen, und offenbaren damit die Schwäche dieses Ansatzes.
II
Die Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK und Wirtschaftswerbung
II Art. 10 EMRK und Wirtschaftswerbung
Auch in Art. 10 EMRK sind mehrere Grundrechte beheimatet. Sein Schutz erstreckt sich auf die unterschiedlichsten Formen der Kommunikation und reicht von der – hier relevanten – inhaltsbezogenen Meinungsbildung und -äußerung (Abs. 1 S. 1) über die Informationsbeschaffung (Abs. 1 S. 2) sowie die verschiedenen Arten der medialen Verbreitung (Abs. 1 S. 3: Rundfunk und Film; ungeschrieben auch die Presse) bis hin zur nicht ausdrücklich erwähnten Kunst- und Wissenschaftsbetätigung.561
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Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG
Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag, dessen innerstaatliche Geltung sich ganz und gar nach nationalem Recht richtet;562 in Deutschland mithin nach Art. 59 Abs. 2 GG, der anordnet, dass völkerrechtliche Verträge durch Bundesgesetz ins innerstaatliche Recht inkorporiert werden. Damit kommt der EMRK lediglich der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zu mit der Folge, dass sie nicht Prüfungsmaß-
559 Posadas de Puerto Rico Associates v. Tourism Company of Puerto Rico, 478 U.S. 328, 340 (1986). 560 Bolger v. Youngs Drug Product Corporation, 463 U.S. 60, 66 f. (1983). 561 Vgl. Daiber, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, Art. 10 EMRK Rn. 20, 21. 562 Die EMRK enthält keine Transformationsregelung, vgl. Pache, EuR 2004, 393, 396.
II Art. 10 EMRK und Wirtschaftswerbung
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stab bei Verfassungsbeschwerden vor dem BVerfG ist. Verstöße gegen die Konvention sind demnach nur gesetztes- und völkerrechts-, hingegen nicht verfassungswidrig. Nichtsdestotrotz ist die EMRK für die Auslegung der Grundrechte des GG von Relevanz. So betont das BVerfG, dass zur Vermeidung von Diskrepanzen die deutschen Grundrechte konventionskonform ausgelegt werden sollen, bei der Verfassungsauslegung also die EMRK und die Urteile des EGMR angemessen – d. h. nicht schematisch streng563 – Berücksichtigung zu finden haben.564 Letztlich ist eine komparative Betrachtung daher nicht nur zulässig, sondern sogar verfassungsgerichtlich geboten.
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Grundlegendes zur Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK
Die Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK weist ebenfalls eine große dogmatische Schnittmenge mit der des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG auf. So wird ihr gleichermaßen grundlegendes Gewicht für die Demokratie und die Entwicklung des Einzelnen zugeschrieben.565 Ebenso soll es nicht auf das Niveau, den Gegenstand oder den gesellschaftlichen Mehrwert einer Äußerung ankommen: Bloß unterhaltende, lapidare sowie verletzende, schockierende oder beunruhigende Beiträge werden – wie bei der Meinungsfreiheit des GG – vom Schutzbereich umfasst.566 Dies gilt abermals unabhängig von der Ausdrucksform,567 so dass etwa auch Kundgaben durch schlüssiges Verhalten schutzwürdig sein können.568 Selbstverständlich schützt Art. 10 EMRK zugleich Tatsachenbehauptungen. Allerdings ist deren Wahrheitsgehalt anders als bei Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG auf Tatbestandsebene – wie beim First Amendment – nicht von Bedeutung.569 Auch unterscheidet der EGMR – parallel zur Rechtsprechung des Supreme Courts – nicht immer trennscharf zwischen den einzelnen Kommunikationsgrundrechten.
563 BVerfG NJW 2011, 1931, 1935 stellt klar, dass die konventionskonforme Auslegung nicht zu einer Minderung des Grundrechtsschutzes durch das GG führen darf. 564 BVerfGE 74, 358, 370; 111, 307, 317; vgl. zudem Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473, 475; Schaller, EuR 2006, 656, 657 f. 565 Vgl. nur EGMR NJW 1999, 1315, 1316. 566 EGMR NJW 1999, 1321; Daiber, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, Art. 10 EMRK Rn. 12. 567 EGMR NVwZ 2007, 313; vgl. zudem Marauhn, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rn. 9. 568 Vgl. Cornils, in: BeckOK-InMe, Art. 10 EMRK Rn. 19. 569 EGMR Urteil vom 23. Juni 2009, Nr. 17089/883, Rn. 29. 113
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§ 8 Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und Europa
Einbeziehung der Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK
Der Weg in den umfassenden Schutz der Wirtschaftswerbung durch die Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK war schon seit Mitte der 1970er Jahre vorgezeichnet. Die Rechtsprechungsentwicklung des EGMR, welche letztlich in dem Leading Case „Casado Coca v. Spanien“ und seinen Folgeentscheidungen mündete, vollzog sich in den drei nachstehend geschilderten Schritten.
a)
Einbezug wirtschaftlicher Sachverhalte
1971 wollte der Londoner Verleger Richard Handyside eine englische Fassung des dänischen Buches mit dem Titel „The Little Red Schoolbook“ auf den Markt bringen. Das Nachschlagewerk für Schüler behandelte neben allgemeinen Fragestellungen zum Unterricht und zur Erziehung auf etwa 10 Prozent der Seiten auch das Thema „Sexualität“. Aufgrund diverser Anzeigen beschlagnahmte die Polizei sämtliche bei Handyside und in seiner Druckerei lagernden Exemplare. Im anschließenden gerichtlichen Verfahren wurde Handyside wegen Verstoßes gegen den Obscene Publications Act zu einer Geldstrafe verurteilt und zudem die Vernichtung der beschlagnahmten Bücher angeordnet. Nachdem die Berufung ohne Erfolg blieb, wandte sich Handyside zunächst an die EKMR, die den Fall im Jahre 1976 vor den EGMR brachte.570 Dieser konnte im Ergebnis zwar keine Verletzung des Grundrechts der Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK feststellen, sah jedoch den Schutzbereich trotz der eindeutig kommerziellen Zielrichtung des Verlegers ohne Zweifel als eröffnet an.571 Einige Jahre später festigten die Straßburger Richter diese Rechtsansicht: Der Fall „markt intern Verlag v. Deutschland“572 drehte sich um einen Artikel in einem Informationsheft für den Drogerie- und Kosmetikeinzelhandel. Streitpunkt war die Zitierung der Aussage einer Drogistin, mit der sie das Geschäftsgebaren des „Cosmetic-Club International“ (CCI) kritisierte. Wurde die gegen das vom CCI initiierte Unterlassungsurteil des BGH eingelegte Verfassungsbeschwerde durch das BVerfG noch wegen mangelnder Erfolgsaussichten abgewiesen, obsiegte der „markt intern Verlag“ mit seiner Klage schließlich vor dem EGMR. Der Gerichtshof merkte zunächst an, dass der Presseartikel Informationen kommerzieller Natur enthält, um sodann festzuhalten, dass Informationen solcher Art nicht
570 EGMR EuGRZ 1977, 38. 571 EGMR EuGRZ 1977, 38, 40. 572 EGMR EuGRZ 1996, 302.
II Art. 10 EMRK und Wirtschaftswerbung
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vom Anwendungsbereich des als verletzt gerügten Art. 10 EMRK ausgeschlossen werden könnten, der sich freilich nicht nur auf bestimmte Arten von Informationen, Ideen oder Ausdrucksformen bezöge.573 Damit erteilte er der Argumentation der Bundesregierung, die dem Verlag unterstellte, nicht die öffentliche Meinung beeinflussen zu wollen, sondern vielmehr mit der Förderung einer bestimmten Gruppe von Unternehmen ein rein wirtschaftliches Interesse zu verfolgen, eine eindeutige Absage.574
b)
Einbezug von Anpreisungen im Rahmen von Presseberichten
Ging es in den beiden vorgenannten Fällen noch um wirtschaftliche Sachverhalte im Allgemeinen, hatte der EGMR 1983 in der Rechtssache „Barthold v. Deutschland“575 über die Konventionsmäßigkeit des Verbots der Wiederholung von Äußerungen mit zumindest auch werblichem Charakter in einem Pressebericht zu befinden. Gegenstand der Auseinandersetzung war ein Artikel im „Hamburger Abendblatt“ über den Tierarzt Dr. Barthold, der eine Katze außerhalb der Sprechzeiten in den Abendstunden behandelte und im gleichen Zuge die Einführung eines regelmäßigen tierärztlichen Nachtdienstes forderte. In dem Bericht wurde Barthold nicht nur namentlich genannt, sondern auch seine Funktion als Chef einer Tierklinik erwähnt. Zudem war er auf einem Foto abgebildet. In der Folge erhob die „Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e. V.“ Unterlassungsklage gegen Barthold vor den Zivilgerichten. Das OLG Hamburg gab der Klage letztinstanzlich statt. Eine Verfassungsbeschwerde gegen dieses Urteil blieb ohne Erfolg. Die anschließend angerufene EKMR stellte hingegen eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest. Der EGMR bestätigte diese Rechtsauffassung, ließ dabei aber noch ausdrücklich offen, ob Reklame als solche in den Schutzbereich fällt.576 Vielmehr begründetet er die Anwendbarkeit des Art. 10 EMRK damit, dass die „verschiedenen Teile der umstrittenen Erklärung […] ineinander verwoben [sind] und ein Ganzes dar[stellen], in dessen Mittelpunkt die Äußerung einer „Meinung“ und die Mitteilung von „Nachrichten“ zu einem Gegenstand allgemeinen Interesses steht. Davon lassen sich die Bestandteile, die mehr die Form als den Inhalt betreffen und die nach Auffassung der deutschen Gerichte einen Werbeeffekt begründen, nicht trennen, und zwar umso
573 EGMR EuGRZ 1996, 302, 304. 574 EGMR EuGRZ 1996, 302, 304. 575 EGMR NJW 1985, 2885. 576 EGMR NJW 1985, 2885, 2886. 115
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§ 8 Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und Europa
weniger, als die der Beschränkung unterworfene Veröffentlichung hier ein von einer Journalistin veröffentlichter Artikel und nicht eine Reklameschrift ist.“577
c)
Umfassender Schutz der Wirtschaftswerbung
Im Jahr 1991 deutete die EKMR in ihrer Entscheidung „Hempfing v. Deutschland“578 an, in welche Richtung sich die Auslegung des Art. 10 EMRK im Bereich der Wirtschaftswerbung entwickeln würde. Stein des Anstoßes war ein an verschiedene Inkassobüros gerichtetes Werbeschreiben des Stuttgarter Rechtsanwalts Hempfing, in dem er sich vorstellte, aktuelle Mandate umriss und offen seine Dienste anbot. Die Rechtsanwaltskammer Stuttgart stellte daraufhin einen Verstoß gegen § 2 Abs. 1 der StandesRL fest und sprach ihm eine Missbilligung aus. Da die von Hempfing beim Ehrengericht für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer Stuttgart sowie beim BVerfG eingelegten Rechtsbehelfe ohne Erfolg blieben, wandte er sich in der Folge an die EKMR und rügte eine Verletzung seiner Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK. Die Kommission bestätigte diese Rechtsauffassung zwar im Ergebnis nicht, sah aber immerhin den Schutzbereich – ohne nähere Begründung – als eröffnet an.579 Drei Jahre später kam auch der EGMR nicht umhin, zum Thema „Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit“ inhaltlich Stellung zu beziehen. Im Fall „Casado Coca v. Spanien“580 hatten die Straßburger Richter gleichfalls über die Vereinbarkeit von Beschränkungen anwaltlicher Werbung mit der EMRK zu urteilen: Casado Coca eröffnete 1979 eine Anwaltskanzlei in Barcelona. Um Mandanten zu akquirieren, schaltete er diverse Anzeigen in örtlichen Zeitungen und verschickte Werbebriefe an verschiedene Unternehmen, woraufhin ihn der Rat der Standesvertretung der Anwälte 1981 im Rahmen eines gegen ihn eingeleiteten Disziplinarverfahrens sanktionierte. Infolgedessen ging er ab dem Jahre 1982 dazu über, Anzeigen zu veröffentlichen, die lediglich seinen Namen, seine Berufsbezeichnung, seine Büroadresse und seine Telefonnummer enthielten. Für eine entsprechende Annonce im 577 EGMR NJW 1985, 2885, 2886; ähnlich EGMR NJW 2003, 497: Streitgegenstand dieser Entscheidung war ein Presseartikel über die Laseroperationstechnik von Augenarzt Dr. Stambuk, der nach Ansicht des Berufsgerichts für Ärzte in Tübingen sowie des Landesberufsgerichts Baden-Württemberg hierdurch seine Tätigkeit (auch bildlich) werbend herausstellen ließ und damit gegen §§ 25 Abs. 2, 27 der einschlägigen BO verstieß. Zur Begründung der Anwendung von Art. 10 EMRK verwies der EGMR diesmal nicht auf eine etwaige Gemengelage mit einem Thema von öffentlichem Interesse, sondern stellte angesichts seiner zwischenzeitlich gefestigten Rechtsprechung im Bereich der Wirtschaftswerbung einen Eingriff in die Meinungsfreiheit lakonisch fest. 578 EKMR NJW 1992, 963. 579 EKMR NJW 1992, 963. 580 EGMR ÖJZ 1994, 636.
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Publikationsorgan der Grund- und Hausbesitzervereinigung in Valldoreix erhielt er sodann von der Standesvertretung abermals eine Verwarnung, die im weiteren Gang der Dinge vom Rat der nationalen Standesvertretung bestätigt wurde. Hiergegen wendete sich Casado Coca an die Verwaltungsgerichte sowie den Spanischen Verfassungsgerichtshof und rügte eine Verletzung des Art. 20 der spanischen Verfassung (Recht auf freie Meinungsäußerung). All seine Bemühungen blieben jedoch ohne Erfolg. Die spanischen Verfassungsrichter erkannten schlussendlich, dass die verfassungsrechtlich verbürgte Meinungsfreiheit auf Werbeankündigungen nicht anwendbar sei. Daher sah sich Casado Coca gezwungen, 1989 den Weg zum EGMR zu beschreiten und sich auf seine Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK zu berufen. Die spanische Regierung stellte sich hingegen in Einklang mit der Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichtshofs zu Art. 20 der spanischen Verfassung auf den Standpunkt, dass Art. 10 EMRK nicht anwendbar sei, weil „die Einschaltungen […] in keiner Weise eine Nachricht kommerzieller Natur begründeten, sondern eine bloße Ankündigung darstellten (were simply advertising).“581 Die Positionierung des EGMR fiel zwar nicht im Ergebnis, aber jedenfalls in dieser Frage zugunsten Casado Cocas aus. Die Richter hielten zunächst fest, dass es für die Schutzbereichseröffnung nicht darauf ankommen kann, „ob eine Äußerung auf Gewinn gerichtet ist oder nicht“582. Anschließend unterstrichen sie in Anlehnung an das Urteil im Fall „markt intern Verlag v. Deutschland“ abermals die „Gegenstandsfreiheit“ des Art. 10 EMRK. Insbesondere – so der EGMR – müsse keine politische Kundgabe vorliegen, vielmehr seien auch „künstlerische Ausdrucksformen, Nachrichten kommerzieller Art und sogar leichte Musik und mittels Kabel übertragene Werbeankündigungen“583 erfasst. Schließlich subsumierten die Richter wie folgt: „Im vorliegenden Fall gaben die bekämpften Ankündigungen lediglich den Namen des Bf., Beruf, Adresse und Telefonnummer an. Sie wurden eindeutig mit dem Ziel der Ankündigung (advertising) veröffentlicht, aber sie stellten Personen, die Rechtsbeistand suchten, Informationen zur Verfügung, die eindeutig von Nutzen und geeignet waren, ihren Zugang zum Recht (access to justice) zu erleichtern. Art. 10 EMRK ist daher anwendbar.“584
581 EGMR ÖJZ 1994, 636, 637. 582 EGMR ÖJZ 1994, 636, 637. 583 EGMR ÖJZ 1994, 636, 637; vgl. zudem EGMR ÖJZ 1999, 20. 584 EGMR ÖJZ 1994, 636, 637. 117
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§ 8 Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und Europa
Damit waren die Weichen für die Zukunft gestellt. Von nun an maß der EGMR jegliche Formen der Wirtschaftswerbung an der Meinungsfreiheit;585 so geschehen – noch im gleichen Jahr – etwa in der Entscheidung „Jacubowski v. Deutschland“586, die auf folgender arbeitsrechtlichen Streitigkeit basierte: Zwischen dem Journalisten Jacubowski und seinem (ehemaligen) Arbeitgeber, der „Deutschen Depeschendienst AG“ (ddp), kam es zum Zerwürfnis. Gegen die im Anschluss ausgesprochene Entlassung klagte Jacubowski vor dem OLG Köln, welches jedoch die Rechtmäßigkeit der Kündigung unter Verweis auf die durch ein von ihm verfasstes und noch während des Gerichtsverfahrens an den Kundenkreis der ddp gerichtetes Rundschreiben hervorgerufene schwerwiegende Loyalitätspflichtverletzung bestätigte. Inhalt des Schreibens vom 25. September 1984 war – neben Hinweisen auf diverse Zeitungsartikel zur Sache „Jacubowski v. ddp“ – vor allem die mit Blick auf die geplante Eröffnung einer eigenen PR-Agentur ausgesprochene Einladung zu einer persönlichen Unterhaltung über die künftigen Entwicklungen am Nachrichtenmarkt. Durch Urteil vom 11. Dezember 1986 wurde Jacubowski sodann vom OLG Düsseldorf die weitere Verbreitung des Rundbriefes wegen des Verstoßes gegen § 1 UWG a. F. untersagt. Eine Revision wurde vom BGH mangels Erfolgsaussichten nicht zugelassen. Die dagegen eingelegte Verfassungsbeschwerde nahm das BVerfG aus demselben Grund nicht an. Der EGMR sah in der Gerichtsentscheidung zwar keine Verletzung von Art. 10 EMRK, stellte aber in ausdrücklicher Anlehnung an „Casado Coca v. Spanien“ fest, „daß die streitige Maßnahme ohne Zweifel einen Eingriff in das Recht des Bf. auf Ausübung der Meinungsfreiheit darstellt. Der Umstand, daß diese Freiheit in einem bestimmten Fall anders ausgeübt wird als bei der Diskussion von Angelegenheiten des öffentlichen Interesses, entzieht ihr nicht den Schutz des Art. 10 EMRK.“587 Dieser Linie blieb der EGMR auch in der jüngeren Vergangenheit treu, wobei er den Begründungsaufwand hinsichtlich der Eröffnung des Schutzbereichs mit zunehmender Zementierung seiner Rechtsprechung nach und nach reduzierte. So stellte er z. B. in seiner Entscheidung „Krone Verlag GmbH & Co. KG v. Österreich“ im Jahre 2003 konzise fest, dass im Fall einer Unterlassungsverfügung aufgrund
585 Insbesondere das Thema „Werbung von Rechtsanwälten“ avancierte in der Folge zu einem Dauerbrenner in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK, vgl. EGMR NJOZ 2009, 1248; 1252; Urteil vom 9. März 1999, Nr. 32813/96; zustimmend Calliess, AfP 2000, 248, 249; Di Fabio, AfP 1998, 564, 568 f.; Marauhn, in: Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 4 Rn. 8. 586 EGMR NJW 1995, 857. 587 EGMR NJW 1995, 857 f.
III Art. 11 GRCh und Wirtschaftswerbung
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einer preisvergleichenden Werbung der Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 10 EMRK unstrittig sei.588 Nichtsdestotrotz sind mit vielen neueren Entscheidungen angesichts der Bandbreite der zugrundliegenden Sachverhalte weitere Erkenntnisgewinne verbunden. Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang beispielsweise die Urteile „Hachette Filipacchi Presse Automobile und Dupuy v. Frankreich“ sowie „Société de Conception de Presse et d’Edition und Ponson v. Frankreich“ vom 5. März 2009, die sich um die Meinungsqualität von auf Zeitungsfotos abgebildeten Markenzeichen drehten.589 Dabei betonte der EGMR, dass die streitgegenständlichen Fotografien in einem bestimmten Kontext zu betrachten seien, der diesen einen schützenswerten Aussagegehalt verleihen würde. Von Interesse sind an dieser Stelle zudem die bereits erwähnten Fälle der Zigarettenwerbung mit Prominentennamen.590 Wie der BGH in Bezug auf Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG stellte der EGMR in seinen beiden Urteilen aus dem Jahr 2015 im Rahmen der Begründung der Anwendbarkeit des Art. 10 EMRK darauf ab, dass die jeweiligen Werbemaßnahmen durchaus einen Beitrag zu einer Diskussion von öffentlichem Interesse lieferten.591
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Die Meinungsfreiheit des Art. 11 GRCh und Wirtschaftswerbung
III Art. 11 GRCh und Wirtschaftswerbung
Art. 11 GRCh vervollständigt den kommunikationsgrundrechtlichen Reigen in Europa. Seine Verwandtschaft zu Art. 10 EMRK lässt sich angesichts des teilidentischen Wortlauts der Bestimmungen nicht leugnen. Dementsprechend schützt Art. 11 Abs. 1 GRCh gleichfalls die Meinungs- und Informationsfreiheit. Nicht unter die Meinungsäußerungsfreiheit gefasst werden allerdings die Freiheiten der Kunst und Wissenschaft, für die die GRCh im Gegensatz zur EMRK mit Art. 13 eine eigene Vorschrift bereithält. Auch die Medienfreiheiten wurden separiert und finden sich in Art. 11 Abs. 2 GRCh wieder.
588 EGMR ÖJZ 2004, 397, 398. 589 EGMR Urteil vom 5. März 2009, Nr. 13353/05; Urteil vom 5. März .2009, Nr. 26935/05. 590 Siehe § 4 II. 591 EGMR GRUR-Prax 2015, 409. 119
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§ 8 Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und Europa
Verhältnis zu Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG
Das BVerfG trug maßgeblich zur Anerkennung der europäischen Grundrechte durch den EuGH bei. So stand im Kern seiner berühmten „Solange I-Entscheidung“ die Forderung nach einem effektiven Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene.592 Der Kodifizierung der daraufhin vom EuGH durch richterliche Rechtsfortbildung anhand eines wertenden Rechtsvergleichs der mitgliedstaatlichen Verfassungen „ins Leben gerufenen“ Grundrechte ging ebenfalls ein Anstoß aus Deutschland voraus.593 Mit dem Inkrafttreten der GRCh im Jahre 2009 gewannen die ehemaligen ungeschriebenen Rechtsgrundsätze sodann auf Kosten nationaler Grundrechte zunehmend an Bedeutung. Bildlich ausgedrückt fällt die „Solange-Rechtsprechung“ dem BVerfG damit nun „auf die Füße“. Dieser von Kirchhof treffend als „Grundrecht gegen Grundrecht“594 beschriebene neuartige Konflikt eskalierte in jüngerer Zeit mit der Folge, dass sich das Kooperationsverhältnis zwischen EuGH und BVerfG de facto zu einer Art Dualismus gewandelt hat. Zwar sind sich die Gerichte im Grundsatz einig, dass primäres und sekundäres Unionsrechts auch gegenüber dem GG Anwendungsvorrang genießt.595 Ob es zwischen den Grundrechten des GG und denen der GRCh überhaupt zur Kollision kommt, ist aber gerade der Streitpunkt. Mit anderen Worten: Fraglich ist, wie weit der in Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh geregelte Anwendungsbereich der Charta reicht, wie also das Merkmal der „Durchführung des Rechts der Union“ zu verstehen ist.
a)
Position des EuGH
In der Rechtssache „Åkerberg Fransson“, gleichsam Ursprung des Zwists, stellte sich der EuGH auf den Standpunkt, dass die Unionsgrundrechte selbst bei sehr allgemein gehaltenen unionalen Vorgaben – wie etwa der unspezifischen Verpflich592 BVerfGE 37, 271, 279 ff.; 73, 339, 366 ff.: Anerkennung eines ausreichenden Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene und Zurücknahme der Prüfungskompetenz gegenüber Gemeinschaftsrecht; grundsätzlich bestätigend bzw. fortschreibend BVerfGE 89, 155, 171 ff.; BVerfG NJW 2000, 3124; 2009, 2267. 593 Siehe Däubler-Gmelin, EuZW 2000, 1. 594 Kirchhof, NVwZ 2014, 1537. 595 Vgl. hierzu Safferling, NStZ 2014, 545. Das BVerfG statuiert allerdings mit der sog. Identitätskontrolle (in Bezug auf Art. 1 GG und Art. 20 GG) sowie der sog. Ultra-vires-Kontrolle Ausnahmen von diesem Grundsatz, vgl. BVerfGE 89, 155, 171 ff.; BVerfG NJW 2009, 2267; 2016, 1149: erstmalige Aktivierung der sog. Identitätskontrolle zur Überwindung der Zulässigkeitshürde. Generell gegen einen Anwendungsvorrang von EU-Recht in Bezug auf die nationalen Grundrechte ist Kirchhof, NVwZ 2014, 1537.
III Art. 11 GRCh und Wirtschaftswerbung
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tung, Steuerbetrug zu bekämpfen – Geltung beanspruchen, und setzte damit in Kontinuität zu seiner früheren Rechtsprechung596 auf eine äußerst weite Auslegung des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh.597 Raum für die Geltung der Grundrechte der Mitgliedstaaten bestehe nur, wenn in Bezug auf eine bestimmte Fallgestaltung die Präsenz des Primär- und Sekundärrechts der EU beschränkt ist. Dennoch müsse auf den Vorrang, die Einheit und die Wirksamkeit des Unionsrechts geachtet werden. 598 Eine Präzisierung seiner Vision vom Verhältnis der nationalen und unionalen Grundrechte nahmen die Luxemburger Richter sodann im Fall „Melloni“ vor, indem sie zunächst konstatierten, dass bei zwingenden unionsrechtlichen Vorgaben aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts kein Platz für nationale Grundrechte verbleibe599 – eine Feststellung, die das BVerfG grundsätzlich mitträgt.600 Nichts anderes folge i. Ü. aus Art. 53 GRCh, der keine Mindestschutzklausel darstelle.601 Zudem bekräftigten die Richter noch einmal, dass sich Entfaltungsmöglichkeiten für nationale Grundrechte ergäben, wenn der jeweilige Sachverhalt nur begrenzt durch das Recht der EU determiniert ist. Allerdings müsse der Anwendungsvorrang der GRCh – wie gehabt – auch im Bereich nationaler Spielräume beachtet werden, weil sonst die Verfassungsidentität der Union infrage gestellt würde.602 Demgemäß ist Thym beizupflichten, wenn er den Ansatz des EuGH frappant als These von der „Doppelgeltung der Grundrechte“603 bezeichnet.
b)
Position des BVerfG
Die Reaktion des BVerfG ließ nicht lange auf sich warten. So holte Karlsruhe in seinem knapp zwei Monate später gefällten Urteil zur Antiterrordatei zum Gegenschlag aus: Da es „keine unionsrechtliche Bestimmung, die die Bundesrepublik Deutschland zur Einrichtung einer solchen Datei verpflichtet“604, gibt, sei die „Ausgestaltung der Antiterrordatei nicht durch Unionsrecht determiniert“605. „Demzufolge
596 Siehe etwa EuGH EuZW 2003, 14; NJW 1992, 2621. 597 EuGH EuZW 2013, 302, 303. 598 EuGH EuZW 2013, 302, 303. 599 EuGH EuZW 2013, 305, 309. 600 In Bezug auf RL BVerfGE 118, 79, 95 f.; 123, 267, 354. 601 EuGH EuZW 2013, 305, 308 f.; die herrschende Lehre sieht dies zu Recht kritisch, vgl. nur Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 53 GRCh Rn. 4 ff. 602 EuGH EuZW 2013, 305, 309. 603 Thym, NVwZ 2013, 889, 891. 604 BVerfG NJW 2013, 1499, 1501. 605 BVerfG NJW 2013, 1499, 1501. 121
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§ 8 Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und Europa
liegt auch kein Fall der Durchführung des Rechts der Europäischen Union vor“606, so die Richter. Die rein mittelbare Beeinflussung des nationalen Rechts durch einzelne EU-Vorschriften zur Terrorismusbekämpfung sei hierzu jedenfalls nicht ausreichend. Um seiner Ansicht Nachdruck zu verleihen, sendete das BVerfG zudem eine unverhohlene Warnung nach Luxemburg aus: „Nichts anderes kann sich aus der Entscheidung Åkerberg Fransson ergeben. Im Sinne eines kooperativen Miteinanders zwischen dem BVerfG und dem EuGH darf dieser Entscheidung keine Lesart unterlegt werden, nach der diese offensichtlich als Ultra-vires-Akt zu beurteilen wäre oder Schutz und Durchsetzung der mitgliedstaatlichen Grundrechte in einer Weise gefährdete (Art. 23 I 1 GG), dass dies die Identität der durch das Grundgesetz errichteten Verfassungsordnung in Frage stellte.“607 Insgesamt pocht das BVerfG auf eine weitestmögliche Trennung der Grundrechtssphären: Bei zwingenden Unionsvorgaben soll allein die GRCh anwendbar, mithin grundsätzlich der EuGH zuständig sein.608 Existieren hingegen mitgliedstaatliche Gestaltungsspielräume, seien insoweit die Grundrechte des GG anwendbar, so dass das BVerfG für Rechtsschutz sorge.609 Thym spricht insoweit passend von der „Trennungsthese“610 des BVerfG. Diese Haltung ist aus Sicht des deutschen Verfassungsgerichts nur allzu verständlich. Kämpft es doch gegen die drohende eigene Bedeutungslosigkeit.
c)
Schlussfolgerung im konkreten Fall
Konkret ist also problematisch, ob im Bereich nationaler Gestaltungsspielräume allein Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG oder ebenfalls der Anwendungsvorrang genießende Art. 11 GRCh gilt. Wenngleich die Position des EuGH, im Bereich nationaler Umsetzungsspielräume die nationalen Grundrechte dem Diktat der GRCh zu unterstellen, zu weitgehend erscheint, weil sie eine bedenkliche Marginalisierung mitgliedstaatlicher Verfassungen bedeutet, bleibt abzuwarten, welche Ansicht sich am Ende durchsetzt.
606 BVerfG NJW 2013, 1499, 1500. 607 BVerfG NJW 2013, 1499, 1501. 608 Außer die Anwendung des Unionsrechts ist dermaßen offenkundig, dass für einen Zweifel keinerlei Raum bleibt („acte clair“). Dann kann auch das BVerfG zwingende Unionsvorgaben anhand der GRCh prüfen. So geschehen in seiner „Solange III-Entscheidung“, allerdings unter äußerst großzügiger und damit fragwürdiger Auslegung des oben genannten Ausnahmefalles, vgl. BVerfG NJW 2016, 1149, 1162. Letztlich ist hierin eine weitere Provokation des EuGH seitens des BVerfG zu erblicken. 609 Vgl. BVerfGE 73, 339, 387; 102, 147, 165. 610 Thym, NVwZ 2013, 889, 892.
III Art. 11 GRCh und Wirtschaftswerbung
123
So oder so werden die jeweiligen Konsequenzen für die Auslegung des Schutzbereichs von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG jedoch nicht voneinander abweichen. Es gilt nämlich, Folgendes zu beachten: Selbst für den Fall, dass die Doppelgeltungsthese des EuGH die Oberhand erhalten sollte, lässt sich aus dem Vorrang der GRCh als Teil des europäischen Primärrechts nur eine „Ergebnisverpflichtung“, hingegen kein zwingendes Erfordernis einer dogmatischen Kohärenz ableiten.
2
Grundlegendes zur Meinungsfreiheit des Art. 11 GRCh
Wie geschildert erkannte der EuGH die Grundrechte der EG (heute EU) bereits vor Inkrafttreten der GRCh an.611 Eine maßgebliche Erkenntnisquelle bildete dabei die EMRK, weil alle Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zugleich der Konvention unterworfen waren (und sind).612 Dies erklärt zum einen die angesprochene partielle Wortlautübereinstimmung von Art. 10 EMRK und Art. 11 GRCh.613 Zum anderen folgt daraus aber auch die Existenz der Transferklausel des Art. 52 Abs. 3 GRCh, die bestimmt, dass Rechte der Charta, welche den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben und vom Schutzniveau nicht hinter die Konvention zurückfallen dürfen.614 Will konkret heißen: Die Meinungsfreiheit des Art. 11 GRCh wird weitestgehend so ausgelegt wie die des Art. 10 EMRK.615 Daher gilt das oben Festgehaltene hier entsprechend.616
3
Einbeziehung der Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 11 GRCh
Auch mit Blick auf das Thema „Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit“ kann demnach umfassend auf die reichhaltige Rechtsprechung des EGMR verwiesen
611 Siehe etwa EuGH NJW 1980, 505, 506. 612 Vgl. nur EuGH EuZW 2009, 428, 430; NJW 1980, 505, 506. 613 Siehe § 8 III.; zur Genese von Art. 11 GRCh vgl. von Coelln, in: Stern/Sachs, Art. 11 Rn. 1 ff. 614 I. Ü. genießt die EMRK gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV darüber hinaus den Rang eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes. 615 Vgl. Calliess, in: Calliess/Ruffert, Art. 11 GRCh Rn. 3; von Coelln, in: Stern/Sachs, Art. 11 Rn. 9; Jarass, GRCh, Art. 11 Rn. 1; Wolffgang, in: Lenz/Borchardt, Art. 11 GRCh Rn. 1. 616 Siehe § 8 II. 2. 123
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§ 8 Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und Europa
werden.617 Gleichwohl erhellend sind in diesem Zusammenhang die Schlussanträge des Generalanwalts Fennelly vom 15. Juni 2000 im Verfahren der Bundesrepublik Deutschland gegen das Europäische Parlament und den Rat der Europäischen Union mit dem Ziel, die TabakwerbeRL (RL 98/43/EG) für nichtig erklären zu lassen. Nach einem kurzen Abriss der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR führte er nämlich wie folgt aus: „Informationen wirtschaftlicher Natur sollten auch im Gemeinschaftsrecht geschützt sein. Solche Informationen tragen zwar nicht in derselben Weise wie politische, journalistische, literarische oder künstlerische Meinungen in einer liberalen demokratischen Gesellschaft zur Erreichung sozialer Ziele wie beispielsweise der Förderung der demokratischen Debatte und der Verantwortlichkeit oder dem Infragestellen tradierter Überzeugungen im Hinblick auf die Förderung der Toleranz oder des Wechsels bei. Persönliche Rechte werden jedoch als Grundrechte nicht nur wegen ihrer instrumentalen, sozialen Funktion anerkannt, sondern auch deswegen, weil sie für die Autonomie, die Würde und die Persönlichkeitsentwicklung erforderlich sind. Die Freiheit der Bürger, wirtschaftliche Tätigkeiten zu fördern, fließt daher nicht nur aus ihrem Recht auf wirtschaftliche Betätigung und im Gemeinschaftskontext der allgemeinen Verpflichtung auf eine auf den freien Wettbewerb gestützten Marktwirtschaft, sondern auch von ihrem ursprünglichen Anspruch als Menschen, Ansichten zu jeder Frage einschließlich der Qualität von Waren oder Dienstleistungen, die sie verkaufen oder erzeugen, auszudrücken und zu empfangen.“618 Der EuGH selbst hat Beschränkungen von Wirtschaftswerbung bisher meist nur auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten beleuchtet,619 sich aber auch schon zum Thema „Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit“ positioniert. Als Beispiel soll zum einen die Rechtssache „Damgaard“620 aus dem Jahr 2009 dienen. Obwohl es hierbei um einen Fall der Anpreisung eines Produkts durch einen Dritten ging, der wohl kein eigenes kommerzielles Absatzinteresse mit seinen Äußerungen verfolgte, konstatierte der EuGH im Sinne Fennellys en passant, dass die Meinungsfreiheit auch „im Geschäftsverkehr, besonders in einem Bereich, 617 Siehe § 8 II. 3. 618 Generalanwalt Fennelly, Rechtssache 376/98, Slg. 2000, I-8419 Nr. 154. Der EuGH ist im Anschluss allerdings nicht mehr auf die Frage der Vereinbarkeit der RL mit der Meinungsfreiheit eingegangen, weil er diese schon aus Gründen fehlender Unionskompetenz für nichtig erklärt hat, EuGH EuZW 2000, 694. Auch in einer aktuellen Entscheidung zur neuen TabakRL aus dem Jahre 2016 geht der EuGH nicht explizit auf die Schutzbereichseröffnung der Meinungsfreiheit ein, sondern prüft lediglich die Verhältnismäßigkeit der verschiedenen Beschränkungen, zu denen auch Verpackungskennzeichnungsverbote gehören, EuGH EuZW 2016, 582. 619 Vgl. etwa EuGH LMRR 1990, 3; NJW 1983, 1256. 620 EuGH EuZW 2009, 428.
IV Ergebnis
125
der so komplex und wandelbar ist wie die Werbung“621, Anwendung finde. Bezog er sich hierbei mangels Verbindlichkeit der GRCh noch auf die ungeschriebene Meinungsfreiheit der EU (und damit inhaltlich explizit auf Art. 10 EMRK), sah er etwa im Jahre 2015 den Schutzbereich des Art. 11 GRCh bei der Frage als eröffnet an, ab wann ein Mineralwasser als „kochsalz- oder natriumarm“ beworben werden darf.622
IV Ergebnis IV Ergebnis
Der Befund am Ende dieses vergleichenden sowie standortbestimmenden Kapitels ist zunächst eindeutig: Innerviert durch die Rechtsprechung des US-Supreme Courts zeigt sich der EGMR sehr großzügig und fasst auch den „Regelfall“ der Werbung „ohne“ politischen Bezug in den Schutzbereich von Art. 10 EMRK. Selbst für die bloße Nennung von Markennamen oder spartanische Werbeanzeigen statuieren die Straßburger Richter keine Ausnahmen. Aufgrund der Transferklausel des Art. 52 Abs. 3 GRCh gilt Entsprechendes für Art. 11 GRCh. Doch welche Folgen haben diese Feststellungen für die Deutung des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG? Das Wort des EGMR hat zwar bei der Interpretation der deutschen Grundrechte durchaus Gewicht – sei es unmittelbar im Wege der konventionskonformen Auslegung des GG oder mittelbar über den Umweg der (grundsätzlich) höherrangigen GRCh. Zwingende Rückschlüsse, ob Wirtschaftswerbung nur von Art. 12 Abs. 1 GG (und Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG) oder auch durch Art. 5 Abs. 1 S. 1, Alt. 1 GG geschützt ist, können hieraus allerdings nicht gezogen werden. Obschon eine „Ergebnisverpflichtung“ für die Mitgliedstaaten besteht, kann aus dem Vorrang der GRCh und dem besonderen Status der EMRK kein Zwang zur dogmatischen Kohärenz abgeleitet werden. Dies gilt im konkreten Fall auch vor dem Hintergrund, dass die EMRK – wie i. Ü. auch die US-amerikanische Bundesverfassung – keinen expliziten Schutz der Berufsfreiheit enthält, dort also mit Blick auf die Zuordnungsfrage eine andere Ausgangslage herrscht. Nichtsdestotrotz bietet die vorgenannte Rechtsprechung deutliche Fingerzeige. Zudem wäre ein dogmatischer Gleichlauf zur Ermöglichung einer vereinfachten Rechtsanwendung jedenfalls wünschenswert.
621 EuGH EuZW 2009, 428, 430. 622 EuGH LMuR 2016, 12, 18. 125
Dritter Teil Wirtschaftswerbung und die Rechtfertigung von Eingriffen in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG
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§9
Beschränkungen der Wirtschaftswerbung als Eingriffe in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit § 9 Wirtschaftswerbebezogene Eingriffe in den Schutzbereich
Nachdem geklärt ist, dass – mit Ausnahme erwiesenermaßen oder bewusst wahrheitswidriger werblicher Tatsachenäußerungen – jede Wirtschaftswerbemaßnahme von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG geschützt ist, rücken nun die staatlichen Werbebeschränkungen in den Fokus. Dabei soll die Darlegung der allgemeinen Eingriffsdogmatik als Grundlage für die darauffolgende Erläuterung der konkreten die Werbung betreffenden Eingriffe und Eingriffsmöglichkeiten dienen.
I
Eingriffe in die Meinungsfreiheit im Allgemeinen
I Eingriffe in die Meinungsfreiheit im Allgemeinen
Zunächst ist herauszustellen, dass nur die deutsche Staatsgewalt in die Grundrechte des GG eingreifen kann, da nur sie gemäß Art. 1 Abs. 3 GG an diese gebunden ist. Eingriffe in die Meinungsfreiheit lassen sich – der allgemeinen Eingriffsdogmatik folgend – in zwei Kategorien aufteilen. Zum einen existieren die unmittelbaren, finalen, rechtsförmigen und zwangsweise durchsetzbaren Maßnahmen nach dem sog. klassischen Eingriffsbegriff. Hierunter fallen alle Anordnungen, die Meinungsäußerungen ver- oder gebieten. 623 Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang Gerichtsentscheidungen, die – etwa durch die fälschliche Einordnung einer wertenden Äußerung als Tatsachenbehauptung624 – auf einer mangelbehafteten oder gar fehlenden Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und anderen Rechtsgütern basieren.625
623 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 15; Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 683; Starck/ Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 267. 624 BVerfG DÖV 2016, 916. 625 Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 17; Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 61 Rn. 33. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Arnold, Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4_9
129
130
§ 9 Wirtschaftswerbebezogene Eingriffe in den Schutzbereich
Zum anderen sind auch mittelbare bzw. faktische Beeinträchtigungen nach dem sog. modernen Eingriffsbegriff anerkannt.626 Hierzu zählt z. B. das Übertönen einer Meinungsäußerung.627 Voraussetzung ist jedoch, dass die Bagatellgrenze überschritten wird und/oder die Beeinträchtigung final erfolgt.
II Werbebeschränkungen II Werbebeschränkungen
Demnach sind jegliche Werbeverbote und mittelbaren Werbebeeinträchtigungen geeignet, in die Meinungsfreiheit des GG einzugreifen.628 Wie gesehen können aber nicht nur Ver- sondern auch Gebote Eingriffe darstellen. Demnach haben Hinweisund Warnpflichten gleichfalls potentiellen Eingriffscharakter. Von einem Eingriff ist grundsätzlich selbst dann auszugehen, soweit der Staat dem Werbetreibenden eine Aussage fälschlicherweise unterstellt, was insbesondere der Fall ist, wenn Werturteile als Tatsachenkundgaben behandelt werden.629 Da nicht nur Inhalte, sondern auch Äußerungsmodalitäten den Schutz des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG genießen,630 können Eingriffe auch vorliegen, wenn sich Beschränkungen allein auf die Form, den Zeitpunkt, die Umstände oder den Ort einer Werbeaussage beziehen.631 Der Sektor der Werbebegrenzungen ist recht unübersichtlich. Dies liegt zum einen an der großen Zahl, zum anderen aber auch an den unterschiedlichen Zielrichtungen der Einschränkungen. Der nachfolgende – freilich nicht abschließende – Überblick632 soll neben der Vorstellung der wichtigsten Restriktionen zugleich dazu dienen, den Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG abzustecken. Die enorme Präsenz des Europarechts im Bereich der Werbung macht eine Ab626 Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 15; Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 683; Starck/ Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 267. 627 Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 16; Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 61 Rn. 32. 628 Hufen, in: FS Schmidt, 347, 357, der dazu noch die Einführung eines präventiven Verbots mit Erlaubnisvorbehalt anführt; Zsöks, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 61. 629 Hufen, in: FS Schmidt, 347, 357. 630 Siehe § 3 IV. 4. 631 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 97; Zsöks, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 61 f. 632 Der Gesetzgeber verfolgt in Bezug auf einzelne Werbebeschränkungen nicht selten ein Bündel an Motiven. Die nachkommende Kategorisierung ist dementsprechend nicht zwingend, sondern orientiert sich vielmehr an der schwerpunktmäßigen und spezifischen Bereichszugehörigkeit der Restriktionen.
II Werbebeschränkungen
131
grenzung zu Art. 11 GRCh nämlich zwingend erforderlich.633 Die zumindest noch bis vor kurzem augenscheinlich fehlende Sensibilität für die Anwendbarkeit der EU-Grundrechte in der Praxis bzw. die Unsicherheit vieler Rechtsanwender, welcher Maßstab im konkreten Fall anzulegen ist, zeigt die Notwendigkeit der Klärung dieser Frage umso deutlicher. Als Beispiele seien nur der Beschluss des BVerfG aus 1997 zur Verfassungsmäßigkeit von Warnungen auf Tabakverpackungen634 sowie das „Gib mal Zeitung!-Urteil“635 und ein Urteil zu Werbung für verschreibungspflichtige Arzneimittel636 des BGH von 2009 genannt, die trotz europarechtlicher Determination der Sachverhalte lediglich auf Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG (und Art. 10 EMRK), jedoch mit keiner Silbe auf die Grundrechte der EU eingehen.
1
Beschränkungen im Bereich des allgemeinen Marktteilnehmer- und Wettbewerbsschutzes
Das UWG bezweckt im Allgemeinen den Schutz der Mitbewerber und Verbraucher (sowie der sonstigen Marktteilnehmer) vor unlauteren geschäftlichen Handlungen sowie den Schutz des Interesses der Allgemeinheit an einem unverfälschten Wettbewerb, vgl. § 1 UWG (sog. Schutzzwecktrias637). Dementsprechend birgt es eine Reihe von grundlegenden Einschränkungen wirtschaftswerblicher Betätigungsmöglichkeiten in sich und steht so im Mittelpunkt des Kanons der werberestringierenden Gesetze.
a)
Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
Die zentrale Norm des UWG stellt dessen § 3 dar, der sowohl als Verweisungsregelung auf das Rechtsfolgenregime der §§ 8 ff. UWG hinsichtlich der Spezialnormen der §§ 3a bis 6 UWG als auch als Standort für zwei Auffangtatbestände dient: Zum einen für die allgemeine Generalklausel (Abs. 1), welche insbesondere im B2B-Bereich von Relevanz ist – an dieser Stelle werden etwa die Unlauterkeit der pauschalen werblichen Herabsetzung aller oder zumindest eines Großteils der Mit-
633 Siehe § 8 III. 1. 634 BVerfGE 95, 173; i. Ü. siehe § 4 I. 1.; zu Recht deshalb kritisiert von Di Fabio, NJW 1997, 2863. 635 BGH GRUR 2010, 161, 164; i. Ü. siehe § 4 II. 636 BGH GRUR 2009, 984, 987. 637 Vgl. Podszun, in: Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig, § 1 UWG Rn. 11; Sosnitza, in: Ohly/Sosnitza, § 1 UWG Rn. 6. 131
132
§ 9 Wirtschaftswerbebezogene Eingriffe in den Schutzbereich
bewerber638 und die Unlauterkeit der nicht unter einen Spezialtatbestand fallenden Rufausbeutung eines Mitbewerbers in der Werbung639 diskutiert; zum anderen aber auch für die Verbrauchergeneralklausel (Abs. 2). Letztere hat jedoch angesichts der zahlreichen verbraucherschützenden Spezialbestimmungen des UWG bislang nur geringe praktische Bedeutung erlangt.640 Einen Katalog von stets unzulässigen geschäftlichen Handlungen641 gegenüber Verbrauchern enthält darüber hinaus der Anhang zu § 3 Abs. 3 UWG. Die sog. schwarze Liste642 verbietet u. a. als Information getarnte Werbung (Nr. 11) oder Werbung unter Täuschung über die betriebliche Herkunft von Waren oder Dienstleistungen (Nr. 13). § 4 UWG regelt dagegen die (primär) mitbewerberschützenden Fälle der Herabsetzung (Nr. 1), der Anschwärzung (Nr. 2), der unlauteren Nachahmung (Nr. 3) sowie der gezielten Behinderung (Nr. 4) eines Mitbewerbers. Für den Werbenden ist hierbei vornehmlich der erste und letzte Unlauterkeitstatbestand von Relevanz. Dabei gilt es zu beachten, dass sich die Herabsetzung – nach überzeugender Auffassung – in Abgrenzung zur allgemeinen Generalklausel auf einen konkreten oder mehrere individualisierbare Mitbewerber beziehen muss.643 Eine unlautere gezielte Behinderung kann etwa in einer Kundenabwerbung durch Verleitung zum Vertragsbruch liegen.644 Das UWG schützt des Weiteren vor aggressiven geschäftlichen Handlungen, die geeignet sind, Verbraucher oder sonstige Marktteilnehmer zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die diese andernfalls nicht getroffen hätten, vgl. § 4a Abs. 1 S. 1 UWG. Aggressiv ist eine geschäftliche Handlung nach Abs. 1 S. 2 dann, wenn sie im konkreten Fall unter Berücksichtigung aller Umstände (siehe Konkretisierungen des Abs. 2) die Entscheidungsfreiheit der genannten Personen erheblich durch Belästigung (Nr. 1), Nötigung (Nr. 2) oder unzulässige Beeinflussung (Nr. 3) beeinträchtigt. Dabei können unter das Merkmal der Belästigung die Tatbestände des die Privatsphäre schützenden § 7 UWG, mithin etwa Werbewurfsendungen in Briefkästen mit dem Aufkleber „Keine Werbung“, Werbung ohne vorherige ausdrückliche Einwilligung durch einen Telefonanruf oder unter Verwendung 638 Vgl. hierzu Sosnitza, in: Ohly/Sosnitza, § 3 UWG Rn. 54. 639 Siehe BGH GRUR 1983, 247, 248, Sosnitza, in: MüKo-UWG I, § 3 UWG Rn. 130. 640 Köhler, in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, § 3 UWG Rn. 3.30. 641 Zum Begriff siehe Alexander, Wettbewerbsrecht, Rn. 255 ff.; Schlingloff, in: FS Köhler, 617, 618. 642 Ausführlich hierzu Alexander, in: MüKo-UWG I, Anhang zu § 3 Abs. 3 UWG Rn. 1 ff. 643 Vgl. Sosnitza, in: Ohly/Sosnitza, § 3 UWG Rn. 54. 644 Umfassend hierzu Jänich, in: MüKo-UWG I, § 4 Nr. 10 UWG Rn. 89.
II Werbebeschränkungen
133
eines Anrufautomaten, von E-Mails oder eines Faxgeräts, gefasst werden.645 Als Nötigung sind ggf. Werbe- und Verkaufsfahrten ohne eindeutigen Hinweis auf den Charakter der jeweiligen Veranstaltung646 oder Werbemaßnahmen am Unfallort647 zu begreifen. Die Konstellation der menschenverachtenden Aufmerksamkeitswerbung648 oder gewisse Formen der sog. Laienwerbung649 sind indes im Einzelfall unter das Tatbestandsmerkmal der unzulässigen Beeinflussung zu subsumieren. Besonders wichtig und von großer praktischer Relevanz sind ferner die Irreführungstatbestände der §§ 5 und 5a UWG. Danach dürfen zum einen entscheidungserhebliche geschäftliche Handlungen keine unwahren oder sonstigen zur Täuschung geeigneten Angaben über die in § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 1–7 UWG aufgeführten Umstände enthalten, zu denen etwa wesentliche Merkmale der Ware bzw. Dienstleistung (Nr. 1), der Preis (Nr. 2) oder die Person des Anbieters (Nr. 3) gehören. Folglich spielt an dieser Stelle die Abgrenzung von Tatsachen- zu Meinungsäußerungen eine entscheidende Rolle.650 Zum anderen dürfen den Verbrauchern aber auch keine wesentlichen Informationen i. S. d. § 5a Abs. 3 und 4 UWG mit der Folge vorenthalten werden, dass deren Entscheidung möglicherweise beeinflusst wird, vgl. § 5a Abs. 2 UWG. Gemäß § 5a Abs. 6 UWG handelt zudem unlauter, wer den kommerziellen Zweck einer geschäftlichen Handlung nicht kenntlich macht und so den Verbraucher eventuell in seiner geschäftlichen Entscheidung beeinflusst. Damit ist insbesondere das Betreiben von getarnter Werbung bzw. von Schleichwerbung untersagt.651 Schließlich hält das UWG mit dem Katalog des § 6 Abs. 2 ebenso eine Regelung bereit, die gewisse Anforderungen an komparative Werbung aufstellt. So müssen sich Werbevergleiche beispielsweise auf Waren oder Dienstleistungen für den gleichen Bedarf oder dieselbe Zweckbestimmung beziehen (Nr. 1) und dürfen nicht den
645 Vgl. hierzu Alexander, Wettbewerbsrecht, Rn. 918 ff.; Fritzsche, WRP 2016, 1, 3. 646 Vgl. BGH GRUR 1986, 318, 320; 1988, 829, 830. 647 Vgl. BGH GRUR 1975, 264, 265; 266, 267; 1980, 790, 791; 2000, 235, 236. 648 Vgl. Sosnitza, in: Ohly/Sosnitza, § 4a UWG Rn. 107. 649 Vgl. Köhler, in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, § 4a UWG Rn. 1.58; Lettl, Wettbewerbsrecht, § 6 Rn. 75 ff. 650 Vgl. Nordemann, in: Götting/Nordemann, § 5 Rn. 0.63 ff. 651 Siehe hierzu nur BGH GRUR 1981, 835; ausführlich hierzu Köhler, in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, § 5a UWG Rn. 7.29 ff.; Sosnitza, in: Ohly/Sosnitza, § 5a UWG Rn. 99 ff. Eine aktuelle Problematik in diesem Zusammenhang stellt Schleichwerbung im Rahmen von sog. Influencer-Marketing in sozialen Netzwerken dar, vgl. nur OLG Celle GRUR 2017, 1158. 133
134
§ 9 Wirtschaftswerbebezogene Eingriffe in den Schutzbereich
Ruf des von einem Mitbewerber verwendeten Kennzeichens in unlauterer Weise ausnutzen oder beeinträchtigen (Nr. 4).652 Ergänzend sei erwähnt, dass das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Presseberichten zufolge im Jahre 2016 unter Minister Maas vor dem Hintergrund der sog. Kölner Silvesternacht einen Vorschlag für die Erweiterung des UWG um einen § 7a ausgearbeitet hatte, der sich gegen diskriminierende Werbung richten sollte.653 Ziel dieses Vorhabens war es, durch die Formung eines modernen Geschlechterbildes in der Gesellschaft u. a. dazu beizutragen, dass sich derartige Vorkommnisse nicht wiederholen.654 Zwar wurde der Entwurf in der vergangenen Legislaturperiode nicht umgesetzt, jedoch ist das Verbot sexistischer Werbung nach wie vor in aller Munde. Besonders die Organisation „Pinkstinks“, welche seinerzeit das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz beriet, betont unentwegt ihre affirmierende Haltung zu einer entsprechenden Regelung.655
b)
Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG
Die Normen des UWG sind in einem erheblichen Maße europarechtlich determiniert. Dies betrifft insbesondere den B2C-Bereich, der durch die UGP-RL (RL 2005/29/EG)656 vollharmonisiert wurde: So sind § 3 Abs. 2 UWG durch Art. 5 Abs. 2 UGP-RL, § 3 Abs. 3 UWG durch den Anhang I zur UGP-RL, § 4a UWG weitgehend durch Art. 2 lit. j), 8 und 9 UPG-RL, § 5 UWG zum Teil durch Art. 6 UGP-RL, § 5a UWG durch Art. 7 UGP-RL sowie § 7 UWG zum Teil durch Nr. 26 Anhang I zur UGP-RL vorbestimmt. Weitere die Privatsphäre von Verbrauchern schützende Vorgaben hält darüber hinaus Art. 13 VorratsdatenspeicherungsRL (RL 2002/58/ EG) bereit, der ebenso partiell die europarechtliche Vorlage für § 7 UWG bildet. Ferner ist aber auch der B2B-Bereich teilweise vom Europarecht vorgegeben. So bezweckt Art. 13 VorratsdatenspeicherungsRL zugleich die Ungestörtheit der 652 Eingehend Alexander, Wettbewerbsrecht, Rn. 1313 ff; Lettl, Wettbewerbsrecht, § 8 Rn. 25 ff. 653 Zeit-Online, Justizminister will sexistische Werbung verbieten, http://www.zeit.de/ politik/deutschland/2016-04/heiko-maas-geschlechterdiskriminierende-werbung-verbot-vorschlag. 654 Spiegel-Online, „Jahr der Frauen“ – SPD will sexistische Werbung verbieten, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/diskriminierende-werbung-verbieten-spd-ruft-jahr-der-frauen-aus-a-1072404.html. 655 Vgl. Zeit-Online, Justizminister will sexistische Werbung verbieten, http://www.zeit.de/ politik/deutschland/2016-04/heiko-maas-geschlechterdiskriminierende-werbung-verbot-vorschlag. 656 Grundlegend zur Umsetzung der UGP-RL in deutsches Recht Alexander, WRP 2014, 1384.
II Werbebeschränkungen
135
Betriebsabläufe von Unternehmen, vgl. Abs. 5 S. 2. Zudem sind die konkurrenzschützenden Bereiche der §§ 5 und 6 UWG durch die Art. 2 lit. c), 3 und 4 WerbeRL (RL 2006/114/EG) vorbestimmt. Dementsprechend sind all diese Vorschriften dem Anwendungsbereich der Grundrechte des GG größtenteils entzogen und müssen sich weit überwiegend an der GRCh messen lassen.657 Der Raum für die Anwendung der deutschen Meinungsfreiheit ist folglich gering. Er beschränkt sich letztlich auf diejenigen Regelungen, die sich im B2B-Sektor befinden und/oder nicht auf zwingendem Europarecht beruhen. Hierzu zählen insbesondere weite Teile der allgemeinen Generalklausel des § 3 Abs. 1 UWG und § 4 UWG658, aber etwa auch § 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG, weil der zugrundliegende § 13 Abs. 3 VorratsdatenspeicherungsRL den nationalen Gesetzgebern einen Umsetzungsspielraum belässt. Nur bezüglich derartiger Vorgaben kann ein Eingriff in Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG bejaht werden. Eine etwaige Bestimmung zu sexistischer Werbung wäre wohl vom Regelungsbereich der UGP-RL, die freilich keine entsprechende Regelung enthält, ebenso nicht erfasst, da es beim geplanten § 7a UWG – wie erläutert – um die Verhinderung negativer Auswirkungen bestimmter Werbeinhalte auf die Wertevorstellungen in der Gesellschaft geht und eben nicht um das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes, die wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher oder das Erreichen eines hohen Verbraucherschutzniveaus (vgl. Art. 1 UGP-RL). Die UGP-RL trennt nämlich konzeptionell strikt zwischen dem europäischen Lauterkeitsrecht auf der einen und den Kategorien der Moral und Sitte auf der anderen Seite, die nach wie vor im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten liegen, um Konflikten zwischen wirtschaftlich begründeten Lauterkeitsvorschriften und nationalen Moralen vorzubeugen. 659 Infolge der fehlenden Sperrwirkung wäre § 7a UWG in keiner Weise europarechtlich geprägt, so dass Art. 5 Abs.1 S. 1, 1. Alt. GG Anwendung fände. Ein Verbot diskriminierender Werbung hätte demnach in Bezug auf die Meinungsfreiheit des GG gleichfalls Eingriffsqualität.
2
Beschränkungen im Bereich des Jugendschutzes
Des Weiteren existieren etliche Werbevorschriften, die – zumindest auch – den Jugendschutz intendieren. Sie finden sich in den unterschiedlichsten Gesetzen wieder: 657 Umfassend hierzu Raue, GRUR Int. 2012, 402; vgl. zudem Büscher, GRUR 2013, 969, 972. 658 Vgl. Büscher, GRUR 2013, 969, 972. 659 Micklitz, in: MüKo-UWG I, Art. 5 UGP-RL Rn. 15. 135
136
§ 9 Wirtschaftswerbebezogene Eingriffe in den Schutzbereich
a) Jugendmedienschutz-Staatsvertrag So etwa im JMStV, der in seinem § 6 eine Vielzahl an Werbebeschränkungen zum Schutze der Jugend für den Rundfunk und die Telemedien bereithält. Hierzu zählen z. B. das generelle Verbot der körperlichen und seelischen Beeinträchtigung von Kindern und Jugendlichen (Abs. 2), das Verbot direkter Kaufappelle unter Ausnutzung der Unerfahrenheit (Abs. 2 Nr. 1), das Trennungsgebot (Abs. 3) oder das Verbot von an Kinder und Jugendliche gerichteter Werbung für alkoholische Getränke (Abs. 5).
b)
Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien
Ferner dürfen gemäß § 7a Abs. 1 RStV Kindersendungen wegen der besonderen Empfänglichkeit von Kindern für Werbebotschaften nicht durch Werbung unterbrochen werden. Nach § 8 Abs. 6 RStV ist es zudem untersagt, Sponsorenlogos in Sendungen für Kinder zu zeigen.
c) Jugendschutzgesetz Auch im JuSchG lassen sich verschiedene Werberegeln finden. Zum einen verbietet § 15 Abs. 4 JuSchG die Nutzung der Liste jugendgefährdender Medien zum Zwecke der geschäftlichen Werbung. Zum anderen darf gemäß § 15 Abs. 5 JuSchG bei Werbemaßnahmen nicht darauf hingewiesen werden, dass ein Verfahren zur Aufnahme des Träger- oder eines inhaltsgleichen Telemediums in die Liste anhängig ist oder gewesen ist. Beide Abs. entsprechen damit § 6 Abs. 1 S. 2 und 3 JMStV, sind jedoch insofern weitergehend, als dass der Anwendungsbereich des JMStV gemäß § 2 Abs. 1 JMStV auf Rundfunk und Telemedien beschränkt ist. Eine Werbebeschränkung in Bezug auf Filme sowie Film- und Spielfilmprogramme, die nach § 14 Abs. 2 oder 6 JuSchG gekennzeichnet sind, enthält darüber hinaus § 3 Abs. 2 S. 3 JuSchG.
d) Sonstige Weitere jugendschütze Werbevorschriften sind etwa § 5 Abs. 2 S. 1 GlüStV, § 11 Abs. 1 S. 1 Nr. 12 HWG, § 21 Abs. 1 Nr. 2 TabakerzG und Ziff. 28 Anhang zu § 3 Abs. 3 UWG.
e)
Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG
Auch das Feld der jugendschützenden Werberegelungen hat starke europarechtliche Bezüge. So sind die Normen des JMStV und des RStV durch die AVMD-RL (RL 2010/13/EU) geprägt, die in ihrem Anwendungsbereich gemäß Ziff. 28 Anhang I zur UPG-RL (und Art. 3 Abs. 4 UGP-RL) beim Jugendschutz Vorrang vor der UGP-RL genießt. Im Gegensatz zu § 6 JMStV, der mit den europarechtlichen Vorgaben der
II Werbebeschränkungen
137
Art. 9 Abs. 1 lit. e) und g), Art. 22 lit. a) und 27 AVMD-RL korrespondiert, geht § 7a Abs. 1 RStV im Einklang mit Art. 4 Abs. 1 und 26 AVMD-RL über die Anforderungen des Art. 20 Abs. 2 S. 2 AVMD-RL hinaus. Da Art. 10 Abs. 4 S. 2 AVMD-RL zudem lediglich eine Ermächtigung für die dementsprechend fakultative Regelung des § 8 Abs. 6 S. 2 RStV enthält, besteht bei den jugendschützenden Direktiven des RStV durchaus Raum für die Anwendung von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG. Gleiches gilt in Bezug auf die genannten Vorschriften des JuSchG, § 5 Abs. 2 S. 1 GlüStV sowie § 21 Abs. 1 Nr. 2 TabakerzG, welche nicht oder ebenfalls nur gering europarechtlich vorbestimmt sind. Dagegen muss hinsichtlich der Meinungsfreiheit des GG die Eingriffsqualität des § 11 Abs. 1 S. 1 Nr. 12 HWG verneint werden, weil dieser exakt den zwingenden Vorgaben des Art. 90 lit. e) GK Humanarzneimittel (RL 2001/83/EG) entspricht.
3
Beschränkungen zur Sicherung der Meinungsvielfalt im Bereich der Medien
Auch die Sicherung der Medienvielfalt und -unabhängigkeit dient als Schutzgut diverser werbebeschränkender Vorschriften.
a)
Staatsvertrag für Rundfunk und Telemedien
Eine besonders große Zahl derartiger Restriktionen beinhaltet der RStV. § 7 Abs. 1 RStV begrenzt die Rundfunkwerbung zwar allein inhaltlich, die Abs. 2 bis 8 bezwecken neben dem Verbraucherschutz jedoch gerade auch die Verhinderung von externen sowie sachfremden Einflussnahmen, indem sie verschiedene Vorgaben zur Trennung von Werbung zum übrigen Programm implizieren. So bestimmen etwa die Abs. 2 und 3, dass Werbetreibende das übrige Programm inhaltlich und redaktionell nicht beeinflussen dürfen und dass Werbung als solche leicht erkennbar und vom redaktionellen Inhalt unterscheidbar sein muss. Entsprechendes hält § 8 Abs. 2 RStV noch einmal speziell für den Bereich des Sponsorings fest. Gemäß § 58 RStV gelten dieselben Einschränkungen zugleich für Werbung in Telemedien. Ferner enthält § 16 RStV zum Zwecke einer unabhängigkeitssichernden (begrenzten) Mischfinanzierung660 strenge Werbezeitbeschränkungen und zum Teil sogar Werbeverbote für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk. § 45 RStV, das privat-rundfunkrechtliche Pendant zu § 16 RStV, ist dagegen weit weniger restriktiv.
660 Ladeur, in: Binder/Vesting, § 16 RStV Rn. 3. 137
138
§ 9 Wirtschaftswerbebezogene Eingriffe in den Schutzbereich
b) Presserecht Aber auch die Pressegesetze der Länder halten (zumindest auch) vielfalts- und unabhängigkeitsschützende Vorschriften bereit. Die entsprechenden Normen sind jedoch wesentlich konziser gehalten als das ausdifferenzierte Werberegelwerk des RStV und sehen übereinstimmend lediglich vor, dass Anzeigen in Presseerzeugnissen als solche kenntlich gemacht werden müssen, sofern sich ihr kommerzieller Charakter nicht bereits aus ihrer Darstellung und Anordnung ergibt. 661
c)
Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG
Die Frage nach der Anwendbarkeit der Meinungsfreiheit des GG stellt sich freilich ebenso auf dem Feld des Medienvielfaltschutzes. Diesmal jedoch aus verschiedenen Gründen. Zum einen ist der genannte Bereich gleichfalls in weiten Teilen europarechtlich geprägt: So ist § 7 Abs. 2 bis 8 RStV662 durch Art. 9 Abs. 1 lit. a) und b) AVMD-RL663, § 8 Abs. 2 RStV durch Art. 10 Abs. 1 lit. a) AVMD-RL, § 45 RStV durch Art. 23 AVMD-RL und § 58 RStV durch Art. 9 Abs. 1 lit. a) und b) AVMD-RL determiniert. § 16 RStV ist indes einzig in Bezug auf seine Abs. 2 und 3 durch Art. 23 AVMD-RL vorbestimmt. Presseerzeugnisse fallen hingegen nicht unter den Begriff der audiovisuellen Mediendienste i. S. v. Art. 1 lit. a) AVMD-RL. Aber auch die UGP-RL findet im Bereich der presserechtlichen Werbenormen i. d. R. keine Anwendung. Laut EuGH kann von Geschäftspraktiken i. S. v. Art. 2 lit. d) UGP-RL nämlich nur dann die Rede sein, wenn sich die jeweiligen Praktiken „in den Rahmen der Geschäftsstrategie eines Wirtschaftsteilnehmers einfügen und unmittelbar mit der Absatzförderung und dem Verkauf seiner Produkte und Dienstleistungen zusammenhängen“664 . Da Werbeanzeigen in der Presse meist keine Eigenwerbung für das jeweilige Presseprodukt beinhalten, sondern den Absatz anderer Produkte und Dienstleistungen fördern sollen, ist diese Voraussetzung nur in seltenen Einzelfällen erfüllt.665 Zum anderen zielen die oben genannten Vorschriften naturgemäß auf die Medienschaffenden ab und spielen demzufolge – die Anwendbarkeit der Grundrechte des GG vor dem Hintergrund des Europarechts im konkreten Fall vorausgesetzt – 661 Vgl. nur Art. 9 BayPrG, § 10 LPressG NRW, § 10 TPG. 662 Der Vollständigkeit halber: § 7 Abs. 1 RStV ist durch Art. 9 Abs. 1 lit. c) AVMD-RL vorbestimmt. 663 Die AVMD-RL genießt wiederum Vorrang vor der UGP-RL, vgl. Art. 3 Abs. 4 UGP-RL. 664 EuGH GRUR 2013, 1245, 1246. 665 EuGH GRUR 2013, 1245, 1246; vgl. zudem Sosnitza, in: Ohly/Sosnitza, § 5a UWG Rn. 103.
II Werbebeschränkungen
139
primär im Bereich der Medienfreiheiten des Art. 5 Abs.1 S. 2 GG. Es ist allerdings Folgendes zu beachten: Indem die nicht durch zwingendes Europarecht vorbestimmten Werbenormen Einschränkungen der Äußerungsmodalitäten mit sich bringen, verkürzen sie jedenfalls mittelbar den Schutzbereich der Meinungsfreiheit für werbende Unternehmen.
4
Beschränkungen im Bereich des produktbezogenen Gesundheitsschutzes
Die produktbezogenen Werbenormen zum Gesundheitsschutz sind ebenfalls breit gefächert. Neben den Beschränkungen im Bereich der Heilmittel sind insbesondere die Restriktionen auf den Gebieten der Lebensmittel sowie Tabakwaren von Interesse.
a) Heilmittelrecht Das zentrale Regelungswerk zur Begrenzung von Heilmittelwerbung ist das HWG. Es beinhaltet ein Bukett an Werbeschranken für Arzneimittel und Medizinprodukte, aber auch für andere Mittel, Verfahren, Behandlungen und Gegenstände, soweit sich die Werbeaussage auf die Erkennung, Linderung oder Beseitigung von krankhaften Beschwerden jedweder Art bezieht, vgl. § 1 Abs. 1 HWG. Die Bandbreite der Restriktionen reicht vom Verbot irreführender Heilmittelwerbung (§ 3 HWG) über die Verbote von Werbung für zulassungspflichtige, aber nicht zugelassene Arzneimittel (§ 3a HWG), der Angabe von Anwendungsgebieten in Werbung für homöopathische Arzneimittel (§ 5 HWG) sowie von Werbung für Versandhandel und Teleshopping (§ 8 HWG) bis hin zu den Werbeverboten für verschreibungspflichtige Arzneimittel und Psychopharmaka (§ 10 HWG). Daneben verbietet § 8 Abs. 5 RStV noch einmal explizit das Sponsoring von Sendungen für Arzneimittel, die nur auf ärztliche Anordnung erhältlich sind.
b) Lebensmittelrecht Eine abwechslungsreiche und ausgewogene Ernährung ist die Grundvoraussetzung für eine gute Gesundheit. Dementsprechend gelten für die Lebensmittelwerbung strenge Anforderungen. Im Mittelpunkt des Lebensmittelwerberegimes steht die Health-Claim-VO (VO EG 1924/2006), welche Werbeangaben für Lebensmittel, die an den Endverbraucher weitergegeben werden, reglementiert, vgl. Art. 1 Abs. 2 Health-Claim-VO. Die Art. 3 ff. Health-Claim-VO enthalten zunächst allgemeine Grundsätze zur inhaltlichen Ausgestaltung. Danach dürfen nährwert- und gesundheitsbezogene 139
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§ 9 Wirtschaftswerbebezogene Eingriffe in den Schutzbereich
Informationen beispielsweise weder falsch oder irreführend sein (Art. 3 S. 2 lit. a) Health-Claim-VO), noch zum übermäßigen Verzehr von Lebensmitteln ermutigen (Art. 3 S. 2 lit. c) Health-Claim-VO). Des Weiteren werden gewisse Bedingungen zur Verwendung gesundheits- und nährwertbezogener Angaben formuliert. So sind etwa bei Getränken mit einem Alkoholgehalt von mehr als 1,2 Volumenprozent gesundheitsbezogene Angaben untersagt (Art. 4 Abs. 3 S. 1 Health-Claim-VO). Dementsprechend dürfen Biere oder auch Weine – zumindest in einem bestimmten Zusammenhang – z. B. nicht als „bekömmlich“ beworben werden, weil diese Attribuierung als Langzeitversprechen zu verstehen sei, dass das entsprechende Lebensmittel auch bei längerem Konsum nicht schade.666 Zudem müssen sich nährwert- und gesundheitsbezogene Informationen etwa auf allgemein anerkannte wissenschaftliche Nachweise stützen und durch diese abgesichert sein (Art. 6 Abs. 1 Health-Claim-VO). Im Anschluss stellen die Art. 8 f. Health-Claim-VO gesonderte Forderungen an nährwertbezogene Angaben. Diese dürfen etwa nur gemacht werden, wenn sie im Anhang zur Health-Claim-VO aufgeführt sind (Art. 8 Abs. 1 Health-ClaimVO). Vergleichende nährwertbezogene Angaben sind zwar im Grundsatz erlaubt, eine entsprechende Gegenüberstellung darf jedoch beispielsweise nur zwischen Lebensmitteln derselben Kategorie stattfinden (Art. 9 Abs. 1 Health-Claim-VO). Im Gegensatz hierzu sind gesundheitsbezogene Angaben grundsätzlich verboten und nur gestattet, sofern sie neben den allgemeinen Anforderungen zugleich den speziellen Voraussetzungen der Art. 10 ff. Health-Claim-VO entsprechen, insbesondere also gemäß Art. 15 ff. Health-Claim-VO zugelassen und in die Liste der zugelassenen Angaben gemäß Art. 13 und 14 Health-Claim-VO aufgenommen wurden (Art. 10 Abs. 1 Health-Claim-VO). Darüber hinaus sind Art. 7 LebensmittelinformationsVO (VO EU 1169/2011), Art. 16 Lebensmittel-Basis-VO (VO EG 178/2002) sowie Art. 3 Abs. 2 BedarfsgegenständeVO (VO EG 1935/2004) zu beachten, welche allgemeine Irreführungsverbote in Bezug auf jegliche Informationen in an Verbraucher gerichtete Werbung für Lebensmittel bzw. für Gegenstände statuieren, die dazu bestimmt sind, mit Lebensmitteln in Berührung zu kommen.667 Da diese VO gemäß Art. 288 AEUV
666 Vgl. EuGH EuZW 2012, 828; OLG Stuttgart GRUR-RR 2017, 200. 667 Seit dem 1. Januar 2018 sind zudem die Kennzeichnungsvorschriften der Art. 9 Abs. 3 lit. b), Art. 10 Abs. 2 lit. g) und Art. 14 lit. f) Novel-Food-VO (VO EU 2015/2283) zu beachten.
II Werbebeschränkungen
141
unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gelten, finden die inhaltsgleichen §§ 11, 33 LFGB keine Anwendung und sind somit obsolet.668 Bislang sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene gescheitert sind verschiedene Bestrebungen zur Einführung einer sog. Lebensmittelampel, d. h. einer farblichen Kennzeichnung von Verpackungen zur Unterscheidung vermeintlich gesunder und ungesunder Lebensmittel.669 Dennoch werden die Befürworter hierzulande nicht müde, eine solche Kategorisierung einzufordern.670 Als Vorbild soll dabei das „traffic light labelling“671 in Großbritannien dienen.
c) Tabakerzeugnisrecht Sowohl das TabakerzG als auch die TabakerzVO wollen den Gesundheitsgefahren begegnen, die vom Tabakkonsum ausgehen. Zu diesem Zwecke implizieren auch sie eine Fülle an Werbebeschränkungen. Zuvorderst geht es erneut um den Schutz vor Täuschung. So dürfen gemäß § 18 Abs. 2 S. 1 TabakerzG keine irreführenden werblichen Informationen auf Packungen oder den Tabakerzeugnissen selbst in den Verkehr gebracht werden. Von diesem Verbot sind laut § 18 Abs. 2 S. 2 TabakerzG insbesondere etwa Aussagen betroffen, die Tabakerzeugnissen gesundheitliche oder stimulierende Wirkungen beimessen (Nr. 1) oder den Eindruck erwecken, dass ein Tabakerzeugnis weniger schädlich als andere sei (Nr. 2). Obendrein statuiert § 21 TabakerzG ein Verbot der Werbung mit qualitativen Zielen, so dass z. B. keine werbliche Information verwendet werden darf, die das Inhalieren des Tabakrauchs als nachahmenswert erscheinen lässt (Abs. 1 Nr. 3). Zudem ist die Tabakwerbeindustrie in der Wahl ihrer Werbeträger stark eingeschränkt. So verbietet § 8 Abs. 4 RStV Tabakunternehmen das Sponsoring von Rundfunksendungen. Überdies ist ihnen gleichfalls nicht gestattet, Werbung für Tabakerzeugnisse im Hörfunk zu schalten oder Hörfunkprogramme zu sponsern, vgl. § 19 Abs. 1 und 4 TabakerzG. Ähnliches gilt gemäß § 20 TabakerzG für Werbung in 668 Vgl. Meyer, in: Meyer/Streinz, § 19 LFGB Rn. 2; Rohnfelder/Freytag, in: Erbs/Kohlhaas III, § 33 LFGB Rn. 4. 669 Siehe Kafsack, Kommt die Ampel, ist Schluss mit Nutella, http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/debatten/lebensmittel-lobby-verhindert-vernuenftiges-13832395.html; Reiblein, Aigner lehnt Regelung erneut ab – Gebt der Lebensmittelampel keine Chance, http:// www.wiwo.de/unternehmen/handel/aigner-lehnt-regelung-erneut-ab-gebt-der-lebensmittel-ampel-keine-chance/8440802.html. 670 Vgl. nur Foodwatch, Nährwert- Ampel: Damit alle Lebensmittel Farbe bekennen, https:// www.foodwatch.org/de/informieren/ampelkennzeichnung/2-minuten-info/. 671 Vgl. hierzu Food Standards Agency, Traffic light labelling, http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/20081230165348/http://www.eatwell.gov.uk/foodlabels/trafficlights/. 141
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§ 9 Wirtschaftswerbebezogene Eingriffe in den Schutzbereich
audiovisuellen Mediendiensten. Dazu darf Tabakerzeugniswerbung in Druckerzeugnissen sowie Diensten der Informationsgesellschaft nur ausnahmsweise und unter bestimmten Bedingungen veröffentlicht werden, vgl. § 19 Abs. 2 und 3 TabakerzG.672 Ferner gibt es auf nationaler Ebene Pläne, den Tabakunternehmen zukünftig weitere Werbeplattformen zu entziehen. So sollten bis 2020 die grundsätzlichen Verbote der Außen- und Kinowerbung folgen.673 Ein entsprechender, im April 2016 vom damaligen Kabinett abgesegneter Gesetzentwurf wurde jedoch von der Bundestagsfraktion der „Union“ blockiert. Es bleibt abzuwarten, wie sich der neu formierte Bundestag und die aktuelle Bundesregierung zu diesem Thema positionieren. Doch nicht nur die genannten Vorschriften des TabakerzG und des RStV besitzen Werberelevanz, sondern auch die TabakerzVO. Indem die §§ 10 ff. TabakerzVO diverse Kennzeichnungspflichten für Verpackungen von Tabakerzeugnissen vorsehen, verkürzen sie die Werbemöglichkeiten der Tabakindustrie ebenfalls in einem erheblichen Maße. Dies gilt zum einen mit Blick auf die Tatsache, dass diese durch die minutiös nach Inhalt und Form vorgeschriebenen allgemeinen Warnhinweise (§ 13 TabakerzVO) und kombinierten Text-Bild-Hinweise (§ 14 TabakerzVO) – welche zusammengenommen den Großteil einer jeden Packung einnehmen – genötigt wird, bestimmte absatzhindernde Informationen an die Verbraucher weiterzugeben,674 zum anderen jedoch vor allem deshalb, weil die Unternehmen die besagten Hinweise gemäß § 11 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 TabakerzVO unkommentiert lassen müssen. Die Verpackungen von Tabakerzeugnissen fallen damit insgesamt als Werbeträger weitgehend aus. Außerdem gelten die Vorgaben der §§ 10 ff. TabakerzVO gleichfalls für Abbildungen von Verpackungen, die für an Verbraucher gerichtete Werbemaßnahmen in der EU bestimmt sind, vgl. § 11 Abs. 2 TabakerzVO.675
d)
Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG
Das Europarecht hat indes auch vor dem Bereich des produktspezifischen Gesundheitsschutzes keinen Halt gemacht. Evident ist dies vor allem im Lebensmittelrecht, 672 Vgl. hierzu BGH GRUR 2017, 1273. 673 Siehe der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des TabakerzG, https:// www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/Gesundheit/Tabakrichtlinie/EntwurfTabakerzGKabinett.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt besucht am 10. August 2018. 674 Damit läge im Falle der Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG ein Eingriff in die negative Meinungsfreiheit des GG vor, siehe § 9 II. 675 Vgl. zur Auslegung des § 11 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 TabakerzVO im Fall der Verdeckung der Warnhinweise in einem Ladenlokal LG München Urteil vom 5. Juli 2018, 17 HK O 17753/17.
II Werbebeschränkungen
143
das – wie gesehen – maßgeblich durch verschiedene unmittelbar geltende VO der EU geprägt ist. Dementsprechend bestünde ein nennenswerter Anwendungsspielraum der deutschen Meinungsfreiheit allein im Falle der nationalen Etablierung einer Lebensmittelampel. Ebenfalls weitestgehend vom Anwendungsbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG ausgenommen sind die §§ 3 bis 12 HWG, welche fast durchgängig auf den Art. 62 und 86 bis 96 GK Humanarzneimittel beruhen, die auf dem Gebiet des produktspezifischen Gesundheitsschutzes Vorrang vor der UGP-RL genießen, vgl. Art. 3 Abs. 3 UGP-RL. Allerdings ergeben sich an der einen oder anderen Stelle gewisse Entfaltungsmöglichkeiten für die nationalen Gesetzgeber. So belässt etwa Art. 88 Abs. 3 GK Humanarzneimittel einen Umsetzungsspielraum676 mit der Folge, dass § 4a Abs. 2 HWG als Eingriff in die Meinungsfreiheit des GG zu werten ist. Ähnlich verhält es sich beispielsweise auch mit Art. 87 Abs. 3 GK Humanarzneimittel und § 6 Nr. 2 HWG sowie Art. 90 lit. a) GK Humanarzneimittel und § 9 HWG. Im Gegensatz hierzu lassen die TabakRL (RL 2014/40/EU), die TabakwerbungRL (RL 2003/33/EG) und die AVMD-RL den Mitgliedstaaten keinen Raum bei der Umsetzung. Folglich entsprechen die §§ 18 bis 20 TabakerzG und die §§ 10 bis 17 TabakerzVO genau den Vorgaben der Art. 3 bis 5 TabakwerbungRL, Art. 8 bis 13 TabakRL sowie Art. 9 Abs. 1 lit. d) AVMD-RL, so dass diese allein an Art. 11 GRCh zu messen sind.677 § 21 TabakerzG und den avisierten Außen- und Kinowerbeverboten für Tabakerzeugnisse käme hingegen Eingriffsqualität in Bezug auf Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG zu.
5
Beschränkungen im Bereich bestimmter Berufsstände
Auch die Möglichkeiten von Angehörigen bestimmter Berufsstände, Werbung in eigener Sache zu treiben, sind rechtlich stark limitiert. Von berufsspezifischen Werbeverboten und -beschränkungen sind namentlich u. a. Anwälte und Notare, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer sowie die Heilberufe betroffen.
a)
Werbung von Anwälten
Anforderungen an die Anwaltswerbung lassen sich vorrangig in § 43b BRAO finden, der neben dem Verbraucher- und Mitbewerberschutz vornehmlich die Aufrechterhaltung der Vertrauenswürdigkeit des Anwalts als Organ der Rechtspflege (vgl. 676 So auch Fritzsche, in: Spickhoff, § 4a HWG Rn. 2. 677 In diese Richtung ebenso BVerfG NVwZ 2016, 1171, 1174; so auch schon zum VTabakG BGH GRUR 2011, 631, 632. 143
144
§ 9 Wirtschaftswerbebezogene Eingriffe in den Schutzbereich
§ 1 BRAO) bezweckt.678 Werbung ist dem Rechtsanwalt danach nur erlaubt, soweit sie über seine berufliche Tätigkeit in Form und Inhalt sachlich unterrichtet und nicht auf die Erteilung eines Auftrags im Einzelfall abzielt. § 43b BRAO stellt folglich drei Voraussetzungen auf: Die Werbeinformation muss zunächst berufsbezogen sein. Diese Bedingung ist erfüllt, wenn sich die werblichen Hinweise auf berufliche Fähigkeiten und Qualifikationen i. w. S. beschränken.679 Ferner hat die Unterrichtung sachlich zu erfolgen. Sie darf weder inhaltlich irreführend680 noch von der Form her inadäquat sein. Letzteres ist nach der Rechtsprechung hingegen immer dann der Fall, wenn die Darstellungsweise den Gehalt deutlich überwuchert.681 Das schlussendlich aufgestellte Verbot der Einzelfallwerbung bezieht sich expressis verbis auf bestimmte Aufträge, jedoch nicht auf bestimmte Mandanten.682 Konkretisiert werden die Anforderungen des § 43b BRAO von den §§ 6-10 BORA. Zudem existiert mit § 43c BRAO eine Spezialregelung in Bezug auf Fachanwaltsbezeichnungen. Von wirtschaftswerblicher Relevanz ist darüber hinaus § 20 S. 1 BORA, der Werbung auf der anwaltlichen Robe zwar nicht explizit untersagt, dem jedoch ein solches Verbot immanent sein soll.683
b)
Werbung von Notaren
Notare unterliegen indes ungleich strengeren Beschränkungen. Ausweislich § 29 Abs. 1 BNotO haben sie jedes gewerbliche Verhalten, insbesondere eine dem öffentlichen Amt widersprechende Werbung zu unterlassen. Notarswerbung ist damit zwar nicht generell verboten, darf allerdings keine Zweifel an der überparteilichen und unabhängigen Stellung des Notars wecken.684 Anwaltsnotare unterliegen zudem den Sonderbindungen von § 29 Abs. 2 und 3 BNotO. So hat sich u. a. die anwaltliche Werbung nicht auf die Tätigkeit als Notar zu erstrecken. Ergänzt wird § 29 BNotO
678 Vgl. Ohly, in: Ohly/Sosnitza, § 3a UWG Rn. 40; Träger, in: Feuerich/Weyland, § 43b BRAO Rn. 1. 679 Ausführlich hierzu Ernst, in: MüKo-UWG II, § 43b BRAO Rn. 2. 680 BGH DStR 2012, 2203, 2204; Römermann, in: BeckOK-BORA, § 6 BORA Rn. 65. 681 BGH GRUR 2002, 84, 85; 902, 905. 682 BGH GRUR 2002, 84, 86; Römermann, in: BeckOK-BORA, § 43b BRAO Rn. 14 ff. 683 BGH NJW 2017, 407, 409. 684 Vgl. Schäfer, in: Schippel/Bracker, § 29 BNotO Rn. 2.
II Werbebeschränkungen
145
durch die werbebezogenen standesrechtlichen RL der Notarkammern gemäß § 67 Abs. 2 Nr. 7 BNotO.685
c)
Werbung von Steuerberatern
§ 57a StBerG entspricht nicht nur dem Wortlaut nach, sondern auch materiell § 43b BRAO.686 Folglich kann an dieser Stelle auf die dortigen Ausführungen verwiesen werden.687
d)
Werbung von Wirtschaftsprüfern
Anforderungen an Werbung von Wirtschaftsprüfern finden sich in § 52 WPO, welcher lakonisch feststellt, dass Wirtschaftsprüfern nur lautere Werbung erlaubt ist. Letztlich gelten jedoch die gleichen Maßstäbe wie für Anwälte und Steuerberater.688 Insofern genügt auch hier ein Verweis nach oben.689
e)
Werbung von Ärzten
Auch die Arztwerbung ist reglementiert: § 27 MBO-Ärzte690 beinhaltet etliche Vorgaben, die der Gewährleistung des Patientenschutzes durch sachgerechte Information und der Vermeidung der Kommerzialisierung des Arztberufes dienen, vgl. Abs. 1. So sind Ärzten gemäß Abs. 2 – wie Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern – nur sachliche und berufsbezogene Informationen gestattet. Untersagt ist damit insbesondere anpreisende, irreführende sowie vergleichende Werbung, siehe Abs. 3. Zudem stellen die Abs. 4 und 5 gewisse Forderungen an die Führung beruflicher Bezeichnungen und Qualifikationen.
f)
Werbung von Kliniken
Die Werbebeschränkungen für Kliniken sind hingegen weniger restriktiv. Dieses sog. Klinikprivileg gründet sich auf der Tatsache, dass Kliniken letztlich Gewerbebetriebe darstellen, die aufgrund des höheren Aufwandes und des größeren Leistungsspektrums in einem viel stärkeren Maße als niedergelassene Ärzte auf 685 Vgl. hierzu Abschnitt VII der Empfehlungen der BNotK für die RL der Notarkammern in DNotZ 1999, 258, 261 f. 686 Vgl. Ohly, in: Ohly/Sosnitza, § 3a UWG Rn. 50. 687 Siehe § 9 II. 5. a). 688 Vgl. Köhler, in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, § 3a UWG Rn. 1.178. 689 Siehe § 9 II. 5. a) und § 9 II. 5. c). 690 Die BO der Landesärztekammern sind entsprechend ausgestaltet, vgl. etwa § 27 BO Landesärztekammer Bayern, § 27 BO Landesärztekammer Thüringen. 145
146
§ 9 Wirtschaftswerbebezogene Eingriffe in den Schutzbereich
Werbung angewiesen sind.691Nichtsdestotrotz hat Klinikwerbung in sachangemessener Weise zu erfolgen,692 was immer dann der Fall ist, wenn sie ein berechtigtes Informationsverlangen693 der Patienten bedient. Das Patienteninteresse kann aber durchaus auch Gesichtspunkte wie eine besondere Klinikatmosphäre oder -ausstattung umfassen.694
g)
Werbung von Apothekern
Die Werbemöglichkeiten von Apothekern sind – neben den allgemeinen Regelungen des HWG695 – durch die BO der Landesapothekenkammern begrenzt. Zwar divergiert die Regelungsdichte der verschiedenen Werbenormen, jedoch weisen alle Vorschriften inhaltlich in die gleiche Richtung: Sie dienen dem Schutz der Vertrauensstellung und der beruflichen Integrität der Apotheker sowie dem Gesundheitsschutz.696 Dementsprechend ist unlautere Apothekerwerbung unisono verboten.697 Im Einzelnen sind damit etwa irreführende Werbemaßnahmen,698 das Vortäuschen einer besonderen und bevorzugten Stellung der eigenen Apotheke699 oder Werbung, die einen Mehrverbrauch oder Fehlgebrauch von Arzneimitteln fördert,700 untersagt.
h)
Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG
Die UGP-RL nimmt in Art. 3 Abs. 8 berufsständische Verhaltenskodizes und andere spezielle Regeln für reglementierte Berufe von ihrem Anwendungsbereich aus. Das Feld der berufsständischen Werbebeschränkungen ist dennoch europarechtlich determiniert: Nach Art. 24 der DienstleistungsRL (RL 2006/123/EG) sind nämlich sämtliche absoluten Verbote der kommerziellen Kommunikation für reglementierte Berufe aufzuheben. Überdies müssen berufsrechtliche Regeln 691 Köhler, in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, § 3a UWG Rn 1.189. 692 BVerfG NJW 2000, 2734, 2735. 693 OLG Celle GRUR-RR 2012, 262, 263. 694 BVerfG NJW 2003, 2818, 2819. 695 Siehe § 9 II. 4. a). 696 Vgl. nur § 11 Abs. 1 BO Landesapothekenkammer Hessen. 697 Vgl. etwa § 20 Abs. 1 BO Landesapothekenkammer Bayern, § 11 Abs. 3 S. 1 BO Landesapothekenkammer Hessen, § 16 Abs. 1 S. 1 BO Landesapothekenkammer Thüringen. 698 Vgl. etwa § 20 Abs. 2 Nr. 1 BO Landesapothekenkammer Bayern, § 16 Abs. 1 S. 2 BO Landesapothekenkammer Thüringen. 699 Vgl. etwa § 11 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 BO Landesapothekenkammer Hessen, § 16 Abs. 3 Nr. 1 BO Landesapothekenkammer Thüringen. 700 Vgl. etwa § 20 Abs. 2 Nr. 2 BO Landesapothekenkammer Bayern, § 11 Abs. 2 BO Landesapothekenkammer Hessen, § 16 Abs. 1 S. 2 BO Landesapothekenkammer Thüringen.
II Werbebeschränkungen
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nicht diskriminierend, durch einen zwingenden Grund des Allgemeinwohls gerechtfertigt und verhältnismäßig sein. Folglich verbleibt den Mitgliedstaaten bei der konkreten Ausgestaltung ihres berufsständischen Werberechts ein recht weiter Umsetzungsspielraum, der je nach Einzelfall zur Anwendbarkeit der Grundrechte des GG führt. Die vorgenannten Vorschriften greifen mithin in ihrer spezifischen Ausformung durchaus in Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG ein.
6
Beschränkungen im Bereich des Persönlichkeitsrechtsschutzes von Nichtmitbewerbern
Des Weiteren kann Wirtschaftswerbung zum Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG von Nichtmitbewerbern eingeschränkt werden. Dabei sind vornehmlich zwei Fallgruppen von Relevanz.
a)
Recht am eigenen Namen
Zum einen hat in der Vergangenheit das Recht am eigenen Namen in den Fällen Bedeutung erlangt, in welchen Prominentennamen ungefragt zu Werbezwecken verwendet wurden.701 Etwaige Ansprüche auf Wert- bzw. Schadensersatz i. H. d. fiktiven Lizenzgebühr und Unterlassung können dabei auf die §§ 812 ff., 823 ff. sowie 1004 BGB (analog) gestützt werden.
b)
Recht der persönlichen Ehre
In Zeiten, in denen Provokationen und Überspitzungen in der Wirtschaftswerbung gang und gäbe sind, spielt zum anderen der Aspekt des Ehrschutzes eine nicht unerhebliche Rolle. Als zivilrechtliche Anspruchsgrundlagen für Nichtmitbewerber kommen hier wiederum die §§ 823 und 1004 BGB (analog) in Betracht. Beleidigende Werbung kann selbstverständlich aber auch strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, vgl. §§ 185 ff. StGB.
c)
Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG
Die aufgezählten Normen sind vom Europarecht unabhängig. Der Anwendung von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG steht folglich nichts im Wege mit der Folge, dass sämtlichen genannten Beschränkungen mit Blick auf die deutsche Garantie der Meinungsfreiheit Eingriffsqualität zukommt.
701 BGH GRUR 2008, 1124; NJOZ 2008, 4549; i. Ü. siehe § 4 II. 147
148
7
§ 9 Wirtschaftswerbebezogene Eingriffe in den Schutzbereich
Beschränkungen im Bereich der Verkehrssicherheit, der Einhaltung des Widmungszwecks öffentlicher Straßen sowie des Baurechts
Schlussendlich existieren zudem zahlreiche Werbebeschränkungen, welche der Verkehrssicherheit, der Einhaltung des Widmungszwecks öffentlicher Straßen oder baurechtlicher Zielvorgaben dienen. Sie greifen folgerichtig im Bereich der werblichen Nutzung des öffentlichen Raumes. Derartige Nutzungen sind indes kein neues Phänomen. Gleiches gilt naturgemäß für dementsprechende Eindämmungs- und Ordnungsbestrebungen. So unternahm Ernst Litfaß bereits 1855 in Berlin den ersten Versuch, das wilde und inflationäre Plakatieren an Häusern und Mauern durch die Errichtung von Anschlagssäulen einzugrenzen. Das daraus hervorgegangene heutige Beschränkungsgeflecht der Außenwerbung, zu der i. Ü. neben klassischen Plakaten und Anpreisungen auf Fahrzeugen mittlerweile auch neuere Formen wie z. B. Lichtprojektions- oder Sprühschablonenwerbung gehören, lässt sich in die nachfolgenden Kategorien ziselieren.
a) Straßenverkehrsrecht § 33 StVO – die zentrale werbebeschränkende Norm des Straßenverkehrsrechts702 – verbietet in Abs.1 S. 1 Nr. 3 jede (von außerhalb der Fahrbahn auf den Verkehr einwirkende) Werbung und Propaganda durch Bild, Schrift, Licht oder Ton außerhalb geschlossener Ortschaften, wenn dadurch Verkehrsteilnehmer in einer den Verkehr gefährdenden oder erschwerenden Weise abgelenkt oder belästigt werden können. Ausweislich Abs. 1 S. 2 gilt Entsprechendes für innerörtliche Werbung, welche imstande ist, den außerörtlichen Verkehr in gleicher Weise zu stören. Zudem sind auch Werbe- und Propagandamaßnahmen i. V. m. Verkehrszeichen sowie -einrichtungen unzulässig, vgl. Abs. 2 S. 2. Gemäß Abs. 3 bestehen diese Werbeverbote jedoch nicht bei Hinweisbeschilderungen für Nebenbetriebe an Bundesautobahnen und für Autohöfe. Daneben lohnt sich ein Blick in § 32 StVO, der mit der Statuierung des Verbots, die Straße in verkehrsgefährdender oder -erschwerender Weise zu beschmutzen, zu benetzen oder mit gleichem Effekt Gegenstände auf Straßen zu bringen oder dort liegen zu lassen, ebenso außenwerbliche Bedeutung erlangt. Dies gilt vor allem mit Blick auf das Abstellen eines Kraftfahrzeugs703, Anhängers704 oder 702 Ein Kurzüberblick ebenso bei Brenner/Bohnert, in: Lexikon Straßenverkehrsrecht, 585, 586 f.; Bulla/Schneider, ZfBR 2011, 657, 661. 703 Etwa BGH NJW 2002, 1280; OVG Münster NJW 2005, 3162. 704 Etwa OVG Münster NJW 2005, 3162.
II Werbebeschränkungen
149
Fahrrads705 zu Werbezwecken. Ob diese (verkehrstauglichen) Gegenstände hingegen als verkehrsfremd und damit als mögliche Hindernisse i. S. v. § 32 StVO einzuordnen sind, hängt davon ab, ob im Einzelfall der Schwerpunkt der Nutzung die Werbung oder die Teilnahme am Verkehr ist. Maßgebliche Prüfkriterien sind hierbei etwa die Funktionsfähigkeit des Fahrzeugs, dessen regelmäßige Nutzung und die Ausrichtung zur Straße.706 Ferner kann aber z. B. im konkreten Fall auch Sprühschablonenwerbung auf Radwegen, die wie Gehwege ebenfalls zur Straße gehören,707 ein entsprechendes Hindernis in Form einer Beschmutzung darstellen – etwa dann, wenn die geforderte mögliche Verkehrsgefährdung deshalb vorliegt, weil Fahrradfahrer aufgrund der Verwechslungsgefahr mit einer Einkaufstüte o. Ä. zu Ausweichmanövern gezwungen werden. 708
b) Straßenrecht Des Weiteren hält auch das Straßenrecht diverse Restriktionen für die Außenwerbung bereit. Eingangs sind in diesem Zusammenhang die straßenrechtlichen (An-)Baubeschränkungen zu nennen. So sieht auf der Ebene des Bundesrechts § 9 Abs. 1 und 2 i. V. m. Abs. 6 S. 1 FStrG für Anlagen der Außenwerbung längs von Bundesfernstraßen (Bundesautobahnen und Bundesstraßen) innerhalb gewisser Abstände zu außerhalb von Ortsdurchfahrten liegenden Fahrbahnen Bauverbote bzw. Zustimmungsvorbehalte vor. Zudem dürfen gemäß § 9 Abs. 6 S. 2 FStrG außerorts an Brücken über Bundesfernstraßen keine Anlagen der Außenwerbung angebracht werden. Ähnliche Regelungen lassen sich in Bezug auf Kreis- und Landesstraßen in den Landesstraßengesetzen finden.709 Straßenrechtlich weniger streng reglementiert ist hingegen die innerörtliche Außenwerbung. Auch wenn die Voraussetzungen im Detail divergieren, haben die meisten Landesstraßengesetze die Forderung nach Wahrung der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs gemein.710 Die Tatsache, dass Anlagen der Außenwerbung stets versuchen, die Aufmerksamkeit der Verkehrsteilnehmer auf sich zu lenken, konfligiert durchaus mit diesem Kriterium. Innerhalb der Ortsdurchfahrten ist das Gefahrenpotential im Vergleich zum Verkehr außerorts jedoch deutlich geringer. 705 Vgl. OVG Hamburg NVwZ-RR 2010, 34. 706 Vgl. OVG Münster NJW 2005, 3162, 3163; Smith, NVwZ 2012, 1001, 1002. 707 OLG Düsseldorf NJW 1995, 2172. 708 Smith, NVwZ 2012, 1001, 1005. 709 Vgl. etwa § 22 Abs. 1, 2 und 5 StrG BW, §§ 28 Abs. 1 und 2, 25 Abs. 1 StrWG NRW, § 24 Abs. 1, 2 und 7 ThürStrG. 710 Vgl. etwa § 24 Abs. 1 S. 2 BayStrWG, §§ 28 Abs. 1, 25 Abs. 2 S. 1 und 3 StrWG NRW, § 24 Abs. 3, 4 und 7 ThürStrG. 149
150
§ 9 Wirtschaftswerbebezogene Eingriffe in den Schutzbereich
Das liegt zum einen an der niedrigeren Höchstgeschwindigkeit und zum anderen daran, dass die Verkehrsteilnehmer wegen der zu erwartenden Ablenkungen zu einer erhöhten Aufmerksamkeit verpflichtet sind.711 Von der Materie der (An-)Baubeschränkungen zu trennen ist die Frage nach einer möglicherweise erforderlichen Sondernutzungserlaubnis für Werbemaßnahmen. Im Gegensatz zu (An-)Baubeschränkungen, die bauliche Anlagen längs von Straßen betreffen, stellt eine Sondernutzung eine Nutzung der Straße selbst dar.712 Die beiden Rechtsinstitute beziehen sich mithin auf unterschiedliche Sphären mit der Folge, dass es zur Abgrenzung entscheidend darauf ankommt, ob die betreffende Werbeanlage in den öffentlichen Straßenraum713 eindringt. Grundlegend kann darüber hinaus von einer Sondernutzung jedoch freilich bloß gesprochen werden, soweit auch tatsächlich eine über den Gemein- oder Anliegergebrauch hinausgehende Nutzung vorliegt,714 der Gebrauch der öffentlichen Straße also weder im Rahmen der Widmung715 erfolgt, noch zur Nutzung eines anliegenden Grundstücks erforderlich716 ist. Eine Werbemaßnahme bzw. -anlage löst folglich allein dann eine Sondernutzungserlaubnispflicht aus, wenn sie beide Eigenschaften auf sich vereint. I. d. R. trifft dies beispielsweise auf Nasenschilder, Litfaßsäulen, Werbevitrinen, Mega-Light-Anlagen, Werbestände, Negativ-Graffitis sowie Sprühschablonenwerbung und Lichtprojektionswerbung auf Gehwegen zu.717 Daran ändert selbst der Umstand nichts, dass der Gemeingebrauch den sog. kommunikativen Verkehr einschließt, d. h. jede Nutzung, „die den öffentlichen Straßenraum auch als Stätte der kommunikativen Begegnung, der Pflege menschlicher Kontakte und des Informations- und Meinungsaustauschs begreift.“718 Denn nach der Spruchpraxis des BVerwG ist bei der Abgrenzung vornehmlich auf die Aspekte des Eingreifens in den Gehwegraum 711 BVerwG WRP 59, 363; Bulla/Schneider, ZfBR 2011, 657, 661. 712 Vgl. z. B. § 18 Abs. 1 S. 1 StrWG NRW, § 18 Abs. 1 S. 1 ThürStrG. 713 Zu den öffentlichen Straßen gehören alle Straßen, Wege und Plätze, die dem öffentlichen Verkehr gewidmet sind, vgl. etwa § 2 Abs. 1 StrWG NRW, § 2 Abs.1 ThürStrG. Dabei wird vom Begriff des Straßenraumes nicht nur der Straßenkörper selbst erfasst, sondern auch der Luftraum über dem Straßenkörper, Zubehör (z. B. Verkehrszeichen und -einrichtungen) sowie Nebenanlagen (etwa Lager und Straßenmeistereien), vgl. etwa § 2 Abs. 2 StrWG NRW, § 2 Abs. 2 ThürStrG. 714 Vgl. z. B. § 18 Abs. 1 S. 1 StrWG NRW, § 18 Abs. 1 S. 1 ThürStrG. 715 Vgl. etwa § 14 Abs. 1 StrWG NRW, § 14 Abs. 1 ThürStrG. 716 Vgl. etwa § 14 a Abs. 1 StrWG NRW, § 14 Abs. 4 ThürStrG. 717 BVerwG NJW 1978, 1933, 1934; VG Frankfurt NVwZ 1991, 195 196; Bulla/Schneider, ZfBR 2011, 657, 662; Smith, NVwZ 2012, 1001, 1003 f., 1005 f. 718 BVerwG NJW 1990, 2011.
II Werbebeschränkungen
151
sowie der Beweglich- bzw. Ortsfestigkeit abzustellen.719 Danach kann man jedoch allenfalls das Verteilen von Flugblättern unter den Begriff des kommunikativen Verkehrs fassen.720 Ob beim Abstellen von Fahrrädern, Kraftfahrzeugen und Anhängern mit Werbeabsicht ein verkehrsfremder Zweck besteht, hängt wiederum vom Schwerpunkt der Nutzung im Einzelfall ab.721 Der werbliche Außenkontakt von Gewerbetreibenden kann dagegen unter gewissen Umständen auch als Anliegergebrauch qualifiziert werden. Hintergrund ist, dass es Unternehmern möglich sein soll, „vor der eigenen Tür“ Laufkundenakquise „über die Straße“ für sich selbst zu betreiben.722 Erforderlich zur Nutzung eines anliegenden Grundstücks i. S. d. Landesstraßengesetze sind Werbemaßnahmen allerdings nur, wenn sie nicht zu weit in den Straßenraum hineinragen.723 Folgerichtig muss beispielsweise vor der Installation eines Firmenschildes oder der Anbringung einer Werbetafel regelmäßig keine straßenrechtliche Erlaubnis eingeholt werden.724 Als weitere Beschränkung kommt in bestimmten Fällen die straßen- und wegerechtliche Reinigungspflicht in Betracht.725 Voraussetzung hierfür ist eine Verunreinigung der Straße. Wann eine solche vorliegt, bestimmt sich nach der Verkehrsauffassung.726 Als nicht-sozialadäquat wird i. d. R. etwa die Aufbringung von Farben angesehen. Dabei macht es nach der Rechtsprechung „keinen Unterschied, ob die Farbe in Form von Schriftzeichen oder Bildern aufgetragen wird und daher einen Sinnzusammenhang ausdrückt, oder ob sie einfach ausgegossen oder sonst „sinnlos“ aufgebracht wird. Es kommt auch nicht darauf an, ob sie noch feucht ist und daher, anders als bereits getrocknete Farbe, verkehrsgefährdend wirkt.“727 Demgemäß ist insbesondere Sprühschablonenwerbung meist als beseitigungspflichtige Verschmutzung zu qualifizieren.728
719 BVerwG VerwRspr 1971, 86, 89; OLG Karlsruhe NJW 1976, 1360, 1361. 720 OLG Karlsruhe NJW 1976, 1360, 1361; VG Frankfurt NVwZ 1991, 195 196 m. w. N. 721 Siehe § 9 II. 7. a). 722 BVerwG NJW 1975, 357; 1977, 1789; Günther, NVwZ 1995, 670, 671. 723 Smith, NVwZ 2012, 1001, 1004. 724 Smith, NVwZ 2012, 1001, 1003; Stahlhut, in: Straßenrecht, Kapitel 25 Rn. 104. 725 Vgl. etwa Art. 16 BayStrWG, § 17 Abs. 1 StrWG NRW, § 17 Abs. 1 S. 1 ThürStrG. 726 OLG Frankfurt NJW 1990, 2008. 727 OLG Frankfurt NJW 1990, 2008. 728 So auch Smith, NVwZ 2012, 1001, 1005. 151
152
§ 9 Wirtschaftswerbebezogene Eingriffe in den Schutzbereich
c) Baurecht Mit Ausnahme sehr kleiner Werbeträger unterliegen Werbeanlagen als bauliche Anlagen freilich der baurechtlichen Genehmigungspflicht729 und müssen demzufolge mit bauplanungs- und bauordnungsrechtlichen Vorgaben im Einklang stehen. Indes lassen sich vornehmlich in den Landesbauordnungen speziell auf Außenwerbung zugeschnittene Normierungen finden. Die verschiedenen Vorschriften sind im Einzelnen zwar zum Teil voneinander abweichend ausgestaltet, haben jedoch meist die Statuierung eines Verunstaltungsverbots gemein,730 wonach Werbeanlagen nicht das Straßen-, Orts- sowie Landschaftsbild entstellen dürfen. Namentlich ist in diesem Zusammenhang insbesondere eine störende Häufung von Werbeanlagen unzulässig.
d)
Anwendbarkeit von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG
Das Feld der straßen- und straßenverkehrsrechtlichen sowie baurechtlichen Werbebeschränkungen ist ebenso frei von europarechtlichen Einflüssen. Damit finden die deutschen Grundrechte in diesem Bereich vollumfänglich Anwendung, so dass die vorgenannten Einschränkungen gleichfalls Eingriffe in die Meinungsfreiheit des GG darstellen.
III Ergebnis III Ergebnis
Das Werberecht und die damit verbundenen Einschränkungen für die Werbe beteiligten sind sehr facettenreich. Nicht jede Restriktion ist jedoch – wie gesehen – automatisch mit einem Eingriff in Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG gleichzusetzen, weil die Werberegelungen der EU dessen Anwendungsbereich stark einengen. Die Normen des UWG, zur Sicherung der Meinungsvielfalt im Medienbereich und im Sektor des produktspezifischen Gesundheitsschutzes haben infolgedessen regelmäßig keine entsprechende Eingriffsqualität. Insbesondere auf den Gebieten des Jugendschutzes, der freien Berufe, des Persönlichkeitsrechtsschutzes von Nichtmitbewerbern sowie des Straßen-, Straßenverkehrs- und Baurechts ist die Meinungsfreiheit des GG hingegen nach wie vor von großer Relevanz.
729 Vgl. zu genehmigungs- bzw. verfahrensfreien kleineren Werbeanlagen z. B. Art. 57 Abs.1 Nr. 12 BayBO, § 60 Abs. 1 Nr. 12 ThürBO. 730 Etwa Art. 8 S. 3 BayBO, § 13 Abs. 2 BauO NRW, § 10 Abs. 2 ThürBO.
§ 10
Rechtfertigung von wirtschaftswerbebezogenen Eingriffen in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG im Allgemeinen § 10 Rechtfertigung im Allgemeinen
Schutzbereichsbeeinträchtigungen führen jedoch i. d. R. nicht automatisch zu einer Verletzung des jeweiligen Grundrechts. Die oben genannten Eingriffe in die Meinungsfreiheit können folglich durchaus verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein. Dies ist der Fall, wenn sie von den Schranken des Art. 5 Abs. 2 GG gedeckt sind.
I Schranken I Schranken
Art. 5 Abs. 2 GG normiert mit der sog. Schrankentrias für die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt. Demnach ist die Meinungsfreiheit durch die „allgemeinen Gesetze“, „Bestimmungen zum Schutze der Jugend“ und das „Recht der persönlichen Ehre“ einschränkbar.
1
„Allgemeine Gesetze“
Der Vorbehalt der „allgemeinen Gesetze“ ist der bedeutendste des Art. 5 Abs. 2 GG. Die bereits in Art. 118 Abs. 1 S. 2 WRV enthaltene Formulierung731 umfasst sowohl förmliche als auch materielle abstrakt-generelle Regelungen.732 Welche Voraussetzungen jedoch an die „Allgemeinheit“ zu stellen sind, war schon in der Weimarer Zeit nicht unumstritten. Bei der Klärung dieser Frage bietet es sich an, zwischen der positiven und negativen Meinungsfreiheit zu unterscheiden.
731 Siehe § 6 I 8. 732 Vgl. BVerfGE 72, 183, 186; Hoffman-Riem, in: AK-GG I, Art. 5 Abs. 1, 2 Rn. 47. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Arnold, Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4_10
153
154
a)
§ 10 Rechtfertigung im Allgemeinen
„Allgemeinheit“ von Werberegelungen im Bereich der positiven Gewährleistung
Zunächst gilt es, den Begriff der „Allgemeinheit“ im Bereich der positiven Meinungsfreiheit näher zu umreißen.
aa)
Definition der „Allgemeinheit“
Das BVerfG griff zur Konturierung dieses Terminus die beiden in der Weimarer Republik widerstreitenden Ansichten733 – die sog. Sonderrechtslehre734 und die sog. Abwägungslehre735 – auf und verknüpfte sie salomonisch miteinander. Nach der sog. Kombinationsformel sind mithin solche Normen „allgemein“, „die nicht eine Meinung als solche verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung der Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines schlechthin ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen. Dieses Rechtsgut muss in der Rechtsordnung allgemein und damit unabhängig davon geschützt sein, ob es durch Meinungsäußerungen oder auf andere Weise verletzt werden kann.“736 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Karlsruher Richter in der Vergangenheit mal das eine und mal das andere Element mehr betonten. 737 Im Grundsatz hält das BVerfG zwar bis heute an beiden Teilaspekten fest, verlagerte den Schwerpunkt der Prüfung jüngst jedoch eindeutig zugunsten der Sonderrechtslehre, indem es in seiner „Wunsiedel-Entscheidung“ folgende gestaffelte Prüfung etablierte: „Ausgangspunkt für die Prüfung, ob ein Gesetz ein allgemeines ist, ist zunächst die Frage, ob eine Norm an Meinungsinhalte anknüpft. Erfasst sie das fragliche Verhalten völlig unabhängig von dem Inhalt einer Meinungsäußerung, bestehen hinsichtlich der Allgemeinheit keine Zweifel. Knüpft sie demgegenüber an den Inhalt einer Meinungsäußerung an, kommt es darauf an, ob die Norm dem Schutz eines auch sonst in der Rechtsordnung geschützten Rechtsguts dient. Ist dies der Fall, ist in der Regel zu vermuten, dass das Gesetz nicht gegen eine bestimmte Meinung gerichtet ist, sondern meinungsneutralallgemein auf die Abwehr von Rechtsgutverletzungen zielt. Insoweit nimmt nicht schon jede Anknüpfung an den Inhalt von Meinungen als solche einem Gesetz den Charakter als allgemeines Gesetz. Vielmehr sind auch inhaltsanknüpfende Normen 733 Zusammenfassend Kingreen/Poscher, Staatsrecht II, Rn. 690 ff.; Kloepfer, Verfassungsrecht II, § 61 Rn. 130 f.; Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 50. 734 Anschütz, VVDStRL 4 (1928), 74, 75. 735 Smend, VVDStRL 4 (1928), 44, 51. 736 BVerfGE 124, 300, 321 f.; ebenso BVerfGE 7, 198, 209 f.; 62, 230, 243 f.; 71, 162, 175; 117, 244, 260. 737 Einzig auf Abwägungsüberlegungen abstellend BVerfGE 26, 186, 205; 33, 52, 66; hingegen allein auf die Meinungsneutralität eingehend BVerfGE 59, 231, 263 f.; 74, 297, 343.
I Schranken
155
dann als allgemeine Gesetze zu beurteilen, wenn sie erkennbar auf den Schutz bestimmter Rechtsgüter und nicht gegen eine bestimmte Meinung gerichtet sind.“ 738
bb)
„Allgemeinheit“ von Werberegelungen
Dies zugrunde gelegt erfüllt jede der oben genannten, aktuell geltenden Werbenormen, denen Eingriffsqualität in Bezug auf die positive Meinungsfreiheit des GG zukommt, die Anforderungen an die „Allgemeinheit“. Zur Erläuterung soll folgende – nicht trennscharfe – Kategorisierung dienen: Auf der einen Seite stehen jene Normen, die vornehmlich die Äußerungsmodalitäten, mithin das „Wie“ und „Wo“ der Kundgabe, regeln. Hierzu gehören etwa die Werbevorschriften des Baurechts sowie des Straßen- und Straßenverkehrsrechts, aber auch der in den Landespressegesetzen niedergelegte Trennungsgrundsatz oder die Sachlichkeitserfordernisse in Bezug auf die Form in § 43b BRAO sowie § 57a StBerG. Diese Begrenzungen knüpfen schon gar nicht an Meinungsinhalte an. Auf der anderen Seite existieren Werbedirektiven, die zwar hauptsächlich den Werbeinhalt restringieren, aber meinungsneutral die Abwehr von Rechtsgutsverletzungen bezwecken. Als Beispiele können an dieser Stelle die inhaltlichen Sachlichkeitsgebote des § 43b BRAO739, des § 57a StBerG und des § 27 Abs. 2 MBO-Ärzte740 sowie die allgemeine Generalklausel des § 3 Abs. 1 UWG741 angeführt werden. All diese Paragraphen verbieten eine unbestimmte Vielzahl von Meinungsäußerungen zum Schutze bestimmter Rechtsgüter.
b)
„Allgemeinheit“ von Werberegelungen im Bereich der negativen Gewährleistung
Fraglich ist, ob die oben genannte Definition der „Allgemeinheit“ sich für den Fall von Eingriffen in die negative Meinungsfreiheit einfach spiegeln lässt.
738 BVerfGE 124, 300, 322, in welcher i. Ü. eine nicht verallgemeinerungsfähige Ausnahme von der Voraussetzung der „Allgemeinheit“ für Vorschriften, „die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen“ und somit Sonderrecht darstellen, statuiert wurde. 739 BVerfG NJW 2015, 1438, 1439. 740 Vgl. BVerfGE 71, 162, 175. 741 Vgl. BVerfGE 102, 347, 360; BVerfG NJW 2001, 3403, 3404; 2002, 1187, 1188; Jestaedt, Jura 2002, 552, 554. 155
156
aa)
§ 10 Rechtfertigung im Allgemeinen
Definition der „Allgemeinheit“
Scholz zufolge sei dies unproblematisch möglich. „Allgemeine“, in die negative Meinungsfreiheit eingreifende Gesetze seien demnach nur solche, „die nicht zu einer bestimmten Meinungsäußerung zwingen, die ihrerseits nicht von der freiheitlichen Überzeugung des Meinungsträgers gedeckt ist.“742 Diese Sichtweise ist freilich insofern problematisch, als sie die negative Seite des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG im Vergleich zur positiven Seite grundlos privilegiert. Schließlich werden die von staatlicher Seite oktroyierten Kundgaben i. a. R. eine bestimmte Meinung beinhalten. Überzeugender ist hingegen die Auffassung, welche sich am Zweck der in Rede stehenden Schranke orientiert.743 Danach müssen die Äußerungspflichten wie Sondergesetze gegen bestimmte Meinungen wirken. Gesetze, welche die negative Gewährleistung betreffen, sind folglich immer dann „allgemein“, wenn deren Mitteilungspflichten nicht gegen eine bestimmte Meinung gerichtet sind.744
bb)
„Allgemeine“ Werberegelungen
Aber auch die Frage, wann sich eine Mitteilungspflicht gegen eine bestimmte Meinung richtet und wann nicht, kann zu Kontroversen führen – so etwa hinsichtlich des Zwangs zum Abdruck von Warnhinweisen auf Tabakerzeugnisverpackungen: Merten vertrat hier den Standpunkt, dass „die Pflicht zur Veröffentlichung exakt umschriebener Warnhinweise über die Wirkungen des Rauchens sich gegen eine bestimmte, nämlich die mit dieser Auffassung konträre Meinung richtet.“745 Hatje war dagegen der Auffassung, dass sich die Hinweise „nicht nur gegen Meinungen, die das genaue Gegenteil behaupten, sondern gegen jede Auffassung über Zigaretten, die den Aspekt der Gesundheitsgefährdung unerwähnt läßt“746, richten. Vor dem Hintergrund der zwingenden europarechtlichen Determination durch die TabakRL in Kombination mit der – sich wegen der mittlerweile verbindlichen GRCh auch in der Praxis immer mehr verfestigenden – Erkenntnis, dass bei fehlendem Umsetzungsspielraum die nationalen Grundrechte keine Anwendung finden, ist dieser Streit jedoch nunmehr hinfällig.
742 Scholz, in: Friauf/Scholz, 53, 68 f. 743 Hardach/Ludwigs, DÖV 2007, 288, 292 f.; Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 122 f.; Kloepfer, Produkthinweispflichten als Verfassungsfrage, 34 f.; Merten, DÖV 1990, 761, 768. 744 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 123; Merten, DÖV 1990, 761, 768. 745 Merten, DÖV 1990, 761, 768. 746 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 123.
I Schranken
2
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„Jugendschützende“ Bestimmungen
Die Schranke der „gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend“ ist im Vergleich zur Schranke der „allgemeinen Gesetze“ von deutlich geringerer Relevanz. Auch wenn nach neuester verfassungsgerichtlicher Judikatur das Erfordernis der „Allgemeinheit“ bei dieser Schrankenalternative ebenfalls gelten soll, 747 wird ihr nichtsdestotrotz immer noch ein eigenständiger Anwendungsbereich zugestanden.748
a)
Definition der „jugendschützenden“ Bestimmungen
Die Schranke zum „Schutze der Jugend“ erlaubt es dem Gesetzgeber, Regelungen zur Verhinderung von durch Meinungsäußerungen in den Medien verursachten Fehlentwicklungen bei Kindern und Jugendlichen zu erlassen. Als schädlich gelten in diesem Zusammenhang insbesondere Kundgaben in Wort, Schrift und Bild, welche „Gewalttätigkeiten oder Verbrechen glorifizieren, Rassenhass provozieren, den Krieg verherrlichen oder sexuelle Vorgänge in grob schamverletzender Weise darstellen“749. Es geht also letztlich allein um die Abwehr von Gefahren sittlich-moralischer Natur.750
b)
„Jugendschützende“ Werbebestimmungen
Aufgrund der recht engen Interpretation fallen nur sehr wenige Werberegelungen unter diese Definition; so etwa § 6 Abs. 2 JMStV, der seelische Beeinträchtigungen von Kindern und Jugendlichen durch Werbung im Rundfunk und in den Telemedien generell verbietet. Hingegen nicht „jugendschützend“ i. S. v. Art. 5 Abs. 2 GG ist beispielsweise das in § 21 Abs. 1 Nr. 2 TabakerzG enthaltene Verbot jugendbezogener Tabakwerbung,751 weil das gesetzgeberische Motiv hierbei der Gesundheitsschutz Jugendlicher und Kinder, aber eben nicht die Vermeidung sittlich-moralischer Fehlentwicklungen ist.
747 BVerfGE 124, 300, 327; a. A. Schmidt-Jortzig, in: HStR VII, § 162 Rn. 60. 748 Vgl. Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 190, 195. 749 BVerfGE 30, 336, 347. 750 BVerfGE 30, 336, 347; 77, 436, 356 f. 751 So auch Selmer, in: FS Vogel, 405, 419. 157
158
3
§ 10 Rechtfertigung im Allgemeinen
„Ehrschützende“ Vorschriften
Auch der dritte Vorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG, das „Recht der persönlichen Ehre“, verlangt – entgegen dem Wortlaut – eine spezialgesetzliche Grundlage.752 „Ehrschützende“ Normen müssen die Voraussetzung der „Allgemeinheit“ ebenfalls erfüllen.753
a)
Definition „ehrschützender“ Vorschriften
Der Begriff der „persönlichen Ehre“ ist nur schwer greifbar. Letztlich soll einem gewissen sozialen Geltungsbedürfnis Rechnung getragen werden.754 Der Terminus aus Art. 5 Abs. 2 GG deckt sich insofern mit der Ehrdefinition des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG.755
b)
„Ehrschützende“ Werbevorschriften
Spezielle „ehrschützende“ Werbebestimmungen sind rar gesät. Indem er Mitbewerbern vor herabsetzenden Meinungsäußerungen Schutz bietet, ist es nicht unvertretbar, etwa § 4 Nr. 1 UWG in diese Kategorie einzuordnen.756 Daneben können jedoch auch die allgemeinen Ehrschutzvorschriften, wie die §§ 185 ff. StGB oder die §§ 823, 1004 BGB (analog)757, im Bereich der Werbung eine Rolle spielen.
II Schranken-Schranken II Schranken-Schranken
Jedoch können die genannten Werbebestimmungen sowie die auf diesen beruhenden Einzelakte das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nicht beliebig beschränken. Vielmehr müssen diese gewissen Anforderungen genügen.
752 BVerfGE 33, 1, 16 f. 753 BVerfGE 124, 300, 327. 754 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 197. 755 Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 198. 756 BGH GRUR 2014, 601, 603 gibt zu, dass die Geschäftsehre zumindest auch geschützt ist. 757 Eckhardt, MMR 2014, 213.
II Schranken-Schranken
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1 Verhältnismäßigkeit Nach der Rechtsprechung des BVerfG findet nämlich „eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, daß die allgemeinen Gesetze zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Schranken setzen, ihrerseits aber […] in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.“758 Diese sog. Wechselwirkungslehre ist letztlich Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsprinzips759 und gilt demnach nicht nur für die Meinungsfreiheit, anhand der sie vom BVerfG entwickelt wurde, sondern bei allen Grundrechten.760
a)
Legitimer Zweck
Zunächst ist zu prüfen, ob die werbebeschränkende Maßnahme einen legitimen Zweck verfolgt. Dabei ist zu beachten, dass der Gesetzgeber bei der Wahl seiner Gemeinwohlziele im Grundsatz frei ist. Diese können, müssen jedoch nicht in der Verfassung verankert sein. Das GG enthält insofern keine abschließende Aufstellung.761 Ein vom Gesetzgeber verfolgter Zweck darf lediglich nicht gegen das GG verstoßen. Vor diesem Hintergrund sind sämtliche der genannten Zwecksetzungen762 des Werberegimes – sei es der Jugendschutz (Art. 5 Abs. 2 GG), der Gesundheitsschutz (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) oder etwa der Schutz des Ansehens eines gewissen Berufsstandes – als legitim einzustufen.
b) Geeignetheit Danach gilt es, zu klären, ob die werbebeschränkende Maßnahme auch zur Zielerreichung geeignet ist, den legitimen Zweck also fördert. Nicht vonnöten ist hierbei, dass der Zweck bestmöglich verwirklicht wird. Vielmehr genügt es, dass das Gesetz überhaupt irgendwie zur Zweckerreichung beiträgt.763 Verfassungswidrig sind folglich nur schlechthin ungeeignete Maßnahmen. Bei vielen Sachverhalten kann es jedoch schwer bis unmöglich sein, die Kausalzusammenhänge exakt zu bestimmen mit der Folge, dass sich der Erfolg der gesetzgeberischen Aktivität nicht mit Sicherheit vorhersagen lässt. Klassischerweise
758 BVerfGE 7, 198, 209; so auch beispielsweise BVerfGE 60, 234, 240; 101, 361, 391. 759 Vgl. Hufen, Staatsrecht II, § 25 Rn. 23; Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 5 Rn. 69; Kloepfer; Verfassungsrecht II, § 61 Rn. 153. 760 BVerfGE 69, 315, 348 f.; 77, 240, 253; 81, 278, 294. 761 Huster/Rux, in: BeckOK-GG, Art. 20 Rn. 193.1. 762 Siehe § 9 II. 763 BVerfGE 16, 247, 183; 33, 171, 187; 96, 20, 23 ff. 159
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§ 10 Rechtfertigung im Allgemeinen
zählen hierzu etwa wirtschafts- und verkehrspolitische oder strafrechtlich relevante Konstellationen.764 In solchen Fällen kommt dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu.765 Die verfassungsrechtliche Überprüfbarkeit ist dann insoweit beschränkt, als dass lediglich eine Evidenzkontrolle erfolgen kann.766 Geprüft wird dementsprechend nur, ob die der Prognoseentscheidung zugrundliegenden Tatsachen richtig ermittelt und die Zusammenhänge weitmöglich plausibel dargelegt wurden. Für Werberegelung bedeutet dies Folgendes: Wenn Werberestriktionen nur dann geeignet sind, sofern sie zur Erreichung des mit ihnen verfolgten Zwecks wenigstens in irgendeiner Weise beitragen können, müssen im Umkehrschluss die mit ihnen verhinderten Werbemaßnahmen denklogisch den jeweiligen Zweck aber auch gefährden. Ist der Gefährdungsbeweis etwa bei sondernutzungserlaubnispflichtiger Werbung mit Blick auf die Verletzung des Widmungszwecks von Straßen leicht zu führen, lässt sich eine derartige Gefahr jedoch angesichts der Tatsache, dass der exakte Zusammenhang zwischen Werbung und Konsumverhalten nach wie vor nicht wissenschaftlich erschlossen ist,767 in vielen Fällen nur schwer belegen mit der Folge, dass dem Gesetzgeber dann die geschilderte Einschätzungsprärogative zukommt. Dies gilt auch und gerade für absolute Werbeverbote.768 Hat der Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative, ist es an dieser Stelle aufgrund der extrem niedrigen Hürden noch gleichgültig, welches anthropologische Leitbild769 er seiner Prognoseentscheidung zugrunde legt. Selbst den umstrittensten aktuell bestehenden Werberegelungen wird man unabhängig von der Mündigkeit der Werbeadressaten i. a. R. nicht schlechthin die Eignung absprechen können, ihren Zweck zumindest zu fördern.
c) Erforderlichkeit Werbemaßnahmen müssen überdies auch erforderlich sein. Es darf mithin kein gleich geeignetes und milderes Mittel zur Zweckerreichung existieren.770 Dabei ist zu beachten, dass der Gesetzgeber vor allem hinsichtlich der Frage der gleichen Wirksamkeit wiederum einen Einschätzungsspielraum hat.771 764 BVerfGE 30, 250, 263 f.; 50, 142, 163; vgl. auch Hufen, Staatsrecht II, § 9 Rn. 20. 765 BVerfGE 13, 97, 113; 17, 306, 317; 71, 206, 215 f. 766 BVerfGE 37, 1, 20; 40, 196, 223. 767 Siehe § 2 II. 4. 768 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 107 f. 769 Terminologie von Hufen, in: FS Schmidt, 347, 359. 770 Siehe nur BVerfGE 100, 313, 375. 771 Vgl. Grzeszick, in: Maunz/Dürig III, Art. 20 VII. Rn. 116; Huster/Rux, in: BeckOK-GG, Art. 20 Rn. 196.1.
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aa)
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Mildere Mittel
Als mildere Mittel im Vergleich zu einem Werbeverbot kommen vornehmlich Kennzeichnungs- und Aufklärungspflichten, wie die Verpflichtung zur Steigerung der Genauigkeit von Angaben, zur Erstellung eines Dossiers oder zur Beratung, in Betracht.772 Denn so wird den Herstellern die Möglichkeit belassen, für ihr Produkt zu werben. Damit sind derartige Maßnahmen auch für die anderen Beteiligten, etwa die werbungsverbreitenden Medien, weniger grundrechtsbeschneidend. Dementsprechend hat auch das BVerfG etwa in seinem „JUVE-Handbuch-Beschluss“ festgehalten: „Ein umfassendes Unterlassungsgebot ist nicht erforderlich, wenn klarstellende Zusätze, etwa Hinweise auf die Quellen der Ranglisten, ausreichen“773, um den Zweck zu erreichen. Dies korrespondiert mit der Vorstellung des BVerfG von einem offenen Prozess der Meinungsbildung, welchen die freiheitlich demokratische Grundordnung verlangt.774 Es erkannte hierzu: „Freie, umfassende und wahrheitsgemäße Meinungsbildung lebt davon, daß den an diesem Prozeß Beteiligten nicht Informationen vorenthalten werden und daß Meinungen sich der Auseinandersetzung mit anderen Meinungen zu stellen haben, in der sie sich behaupten oder korrigiert werden müssen; Verbote von Beiträgen zur geistigen Auseinandersetzung haben Meinungsfreiheiten noch niemals sichern, geschweige denn fördern können.“775
bb)
Gleiche Eignung
Bei der Frage der gleichen Eignung von Verboten im Vergleich zu Kennzeichnungsund Aufklärungspflichten kommt es nun maßgeblich darauf an, auf welchem anthropologischen Leitbild die Prognoseentscheidung des Gesetzgebers zu beruhen hat. Aber auch auf der nachgelagerten Ebene der Gesetzesanwendung spielt das Bild vom Werbeadressaten regelmäßig eine gewichtige Rolle. aaa)
Früheres Leitbild des BGH
Der BGH ging früher davon aus, dass für die Ermittlung der Verkehrsauffassung auf das reale Verständnis der Werbeadressaten abzustellen sei, welche Werbung regelmäßig unaufmerksam, unkritisch und flüchtig gegenüberstünden – eine
772 So auch BVerfGE 95, 173, 186 f.; Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 108; Hufen, in: FS Schmidt, 347, 360 f. 773 BVerfG NJW 2003, 277, 279; ebenfalls zur Frage der Erforderlichkeit bei Anpreisungen BVerfGE 71, 162, 182. 774 BVerfGE 20, 56, 97. 775 BVerfG NJW 1987, 2987, 2989; hierzu auch Kloepfer, Produkthinweispflichten bei Tabakwaren als Verfassungsfrage, 37. 161
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§ 10 Rechtfertigung im Allgemeinen
Ansicht, die auf dem Erfahrungssatz fußte, dass Publikumswerbung meist nur oberflächlich und nebenher rezipiert wird.776 bbb)
Leitbild des EuGH
Dieses Leitbild musste der BGH sodann Ende der 1990er Jahre unter dem Einfluss des Unionsrechts und der Rechtsprechung des EuGH korrigieren, dessen Verbraucherleitbild aufgrund des gemeinschaftsrechtlichen Interesses an der ausreichenden Gewährleistung der primär anbieterschützenden Grundfreiheiten und eines funktionierenden Binnenmarktes normativer Natur ist.777 So hielt er in seinen grundlegenden Entscheidungen „Gut-Springenheide“778 aus 1998 und „Lifting-Creme“779 aus 2000 fest, dass auf einen „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher“780 abzustellen sei. Im Folgenden explizierte der EuGH diese Formel, indem er etwa konstatierte, dass es unter Umständen nicht auf die Sicht aller Verbraucher, sondern einzig auf das Verständnis des durch die Werbung angesprochen Adressatenkreises ankommen könne, mithin auf seine sozialen, kulturellen und sprachlichen Eigenheiten.781 Des Weiteren solle auch die Art und Bedeutung der angepriesenen Ware entscheidend sein.782 ccc)
Heutiges Leitbild des BGH
Das Verbraucherleitbild des EuGH hat der BGH nunmehr adaptiert und aus Gründen der Einheitlichkeit auf nicht harmonisierte Bereiche des Werberechts übertragen. So gilt nach der Judikatur des BGH im gesamten Bereich des Lauterkeitsrechts das Leitbild des „durchschnittlich informierten, verständigen und der Situation, in der er mit der Aussage konfrontiert wird, entsprechend aufmerksamen Durchschnittsverbrauchers“783. Es ist also – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH – auf das Informationsniveau, die Vorbildung und Erfahrung des jeweils
776 So z. B. BGH GRUR 1959, 356, 366; 1984, 741, 742; 1992, 459, 452 f. 777 Siehe Lettl, GRUR Int. 2004, 85, 86; Sosnitza, in: Ohly/Sosnitza, § 2 UWG Rn. 116. 778 EuGH GRUR Int. 1998, 795. 779 EuGH GRUR Int. 2000, 354. 780 EuGH GRUR Int. 2000, 354, 356; ebenso etwa EuGH GRUR Int. 1998, 795, 797; 2000, 756, 757; leichte Umformulierung bei EuGH GRUR Int. 2007, 69, 75: Abzustellen sei auf einen „normal informierten, angemessen aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher“; umfassend hierzu Lettl, GRUR Int. 2004, 85, 86 f. 781 EuGH GRUR Int. 2000, 354, 356. 782 EuGH GRUR Int. 2007, 69, 75. 783 BGH GRUR 2003, 247, 248; ebenso BGH GRUR 2000, 619, 621; 820, 821; 2012, 184, 185; 645, 646; vgl. ferner Sosnitza, in: Ohly/Sosnitza, § 2 UWG Rn. 117.
II Schranken-Schranken
163
angesprochenen Werbeadressatenkreises mit der Folge abzustellen, dass der vorauszusetzende Kenntnis- und Erfahrungsstand durchaus divergieren kann.784 Eine an jedermann gerichtete Publikumswerbung trifft auf eine andere Wissens- und Erfahrungsbasis als etwa eine an eine bestimmte Gruppe (z. B. Fachleute, Kinder und Jugendliche) adressierte Werbung. Dementsprechend können Werbehandlungen, die gegenüber einer nicht besonders schutzwürdigen Zielgruppe zulässig sind, gegenüber geschäftlich Unerfahrenen unrechtmäßig sein.785 Zudem – so der BGH dem EuGH abermals Folge leistend – hängen der Kenntnisstand sowie die Aufmerksamkeit auch vom Gegenstand (billige und alltägliche Massenartikel, langlebige und kostspielige Güter) der Werbung ab.786 ddd)
Leitbild des BVerfG
Damit nähert sich der BGH letzten Endes deutlich an das Menschenbild des BVerfG an, nach dessen Überzeugung das GG zwar einen der Gemeinschaft verpflichteten, im Kern jedoch selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Menschen voraussetze.787 Dies ist auch und gerade vor dem Hintergrund zu begrüßen, dass die Kaufentscheidungsmotive – wie gesehen – immer noch nicht exakt wissenschaftlich nachvollziehbar sind und demnach im Grundsatz auf die Eigenverantwortung der Verbraucher gebaut werden muss. Je mehr sie bevormundet werden, desto weniger sind sie fähig, sich im Werbedschungel zu orientieren.788
d) Angemessenheit Die durch das angewandte Mittel verursachte Freiheitsbeeinträchtigung darf schließlich auch nicht außer Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen.789 Die Prüfung der Angemessenheit – auch Verhältnismäßigkeit i. e. S. genannt – setzt mithin eine Abwägung zwischen dem eingeschränkten Grundrecht auf der einen und dem geschützten Gut auf der anderen Seite voraus. Nicht selten ist hierbei das Kriterium der Intensität des Eingriffs bzw. der Beeinträchtigung das Zünglein an der Waage. Die Angemessenheitsprüfung gibt häufig den Ausschlag, ob die Beschränkung der Meinungsfreiheit verfassungsrechtlich zulässig ist oder nicht. Die nachstehenden Ausführungen sollen die eben genannten allgemeingültigen Prämissen 784 Vgl. Sosnitza, in: Ohly/Sosnitza, § 2 UWG Rn. 122. 785 BGH GRUR 2006, 776, 777. 786 BGH GRUR 2015, 698, 700. 787 BVerfGE 4, 7, 15 f.; 12, 45, 55; Herdegen, in: Maunz/Dürig I, Art. 1 Abs. 1 Rn. 28; umfassend Becker, Das „Menschenbild des GG“ in der Rechtsprechung des BVerfG, 35 ff. 788 So auch Hufen, in: FS Schmidt, 347, 360. 789 BVerfGE 30, 292, 316; 48, 396, 402; 67, 157, 178. 163
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§ 10 Rechtfertigung im Allgemeinen
mit Blick auf den Komplex der Wirtschaftswerbung präzisieren, indem sie die wichtigsten bereichsspezifischen Orientierungssätze der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung klarlegen und kritisch hinterfragen sowie darüber hinausgehende Abwägungsleitlinien aufstellen.
aa)
Konkrete oder abstrakte Abwägung?
Vorab gilt es zu klären, ob die Güterabwägung abstrakt oder konkret zu erfolgen hat. Das BVerfG hat diese Frage seit jeher zugunsten einer konkreten Abwägung im Einzelfall entschieden.790 Vereinzelt wird diese Praxis jedoch kritisiert, weil sie zu einem Meinungsrichtertum führe.791 Der Richter dürfe sich aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht für den Inhalt einzelner Meinungen interessieren und schon gar nicht dürfe er diesen bewerten. Dies folge aus dem in Art. 5 Abs. 2 GG aufgestellten Erfordernis der „Allgemeinheit“.792 Diese Ansicht überzeugt nicht. Zum einen vermischt sie in ihrer Begründung zwei zu unterscheidende Kategorien. Das Tatbestandsmerkmal der „Allgemeinheit“ stellt eine formale Hürde auf der Ebene der Schranken auf. Nur „allgemeine Gesetze“ sind überhaupt in der Lage die Meinungsfreiheit zu beschränken. Anders ausgedrückt: Abstrakt-generelle Regelung sollen eine bestimmte Meinung nicht per se verbieten. Davon zu trennen ist die nachgelagerte Ebene der Schranken-Schranken, in welcher die Verhältnismäßigkeitsprüfung beheimatet ist. Hier geht es um die Herstellung der Einzelfallgerechtigkeit. Eine Meinung wird mithin nicht als solche verboten, sondern nur im jeweiligen Fall nach Abwägung mit anderen Gütern. Dabei können die Eingriffsintensität und der Grad der Gefahr für das zu schützende Rechtsgut – zwei unabdingbar wichtige Abwägungskriterien, die eher förmlich gehalten sind und den Richter eben nicht zwingen, Meinungen in die Kategorien „wertvoll“ und „wertlos“ einzuteilen – einzig der konkreten Situation entnommen werden. Zum anderen existieren keine ausreichenden Maßstäbe für eine abstrakte Abwägung. Zwar gibt es vereinzelt gewisse Vorrangstellungen – wie etwa die der Menschenwürde vor allen anderen Grundrechten –, das GG kennt im Grundsatz aber keine Grundrechtshierarchien.793 Eine rein abstrakte Abwägung versagt jedoch immer dann, wenn sich zwei gleichwertige Rechtsgüter gegenüberstehen.794 Zur Herstellung einer praktischen Konkordanz ist eine konkrete Güterabwägung i. d. R. folglich unerlässlich. 790 Stellvertretend BVerfG NJW 1995, 3303, 3304. 791 Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 288. 792 Starck/Paulus, in: von Mangoldt/Klein/Starck I, Art. 5 Rn. 288. 793 Hufen, Staatsrecht II, § 4 Rn. 6; Sachs, Verfassungsrecht II, 10 Rn. 44. 794 So auch Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 103.
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bb)
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Gewicht der sich gegenüberstehenden Rechtsgüter
Am Anfang einer jeden Abwägung ist es notwendig, die Wertigkeit der sich gegenüberstehenden Rechtsgüter zu bestimmen, um ggf. Abstufungen vornehmen zu können. aaa) Verfassungsrang Zwar existiert im Grundsatz keine Grundrechtehierarchie. Güter von Verfassungsrang haben hingegen per se einen höheren Stellenwert als solche, die nicht verfassungsrechtlich geschützt sind. Die Reichweite der verfassungsrechtlichen Dignität des jeweiligen Schutzguts muss dabei genau umrissen werden, um nicht Gefahr zu laufen, bestimmte Zwecke zu überhöhen. Nicht unproblematisch ist es insofern etwa, wenn zur Rechtfertigung von auf das UWG gestützten Eingriffen in die Meinungsfreiheit maßgeblich auf die Beeinträchtigung der Unverfälschtheit des (Leistungs-)Wettbewerbs abgestellt wird. Das BVerfG sah hierin ein die Fallgruppen des § 1 UWG a.F. überwölbendes Prinzip,795 welches nunmehr gemäß § 1 S. 2 UWG n.F. ausdrücklich zum Kanon der Zwecke des UWG zählt. Allerdings ist der Wettbewerb als Institution im GG nicht geschützt.796 Die grundgesetzliche Wirtschaftsverfassung ist offen.797 Das Modell „Wettbewerb“, für das sich der einfache Gesetzgeber entschieden hat, legitimiert sich verfassungsrechtlich lediglich über die individuellen Wirtschaftsfreiheiten der Beteiligten, weil er diese bestmöglich realisiert.798 Die Sicherstellung der Lauterkeit des Leistungswettbewerbs im UWG versteht sich folglich vorrangig als Schutzversprechen für Art. 2 Abs. 1 (Privatautonomie), 12 Abs. 1 und 14 Abs. 1 S. 1 GG, ist hingegen keineswegs verfassungsrechtlich zwingend. Dementsprechend sollte im Rahmen der Abwägung geprüft werden, ob nicht noch weitere, unmittelbar geschützte Rechtsgüter zur Rechtfertigung herangezogen werden können. So dient z. B. § 4 Nr. 1 UWG – wie gesehen – durchaus auch dem Schutz der Ehre des Mitbewerbers aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG. Zur weiteren Veranschaulichung soll in diesem Zusammenhang § 43b BRAO dienen. Denn die Sicherung des Ansehens und der Unabhängigkeit des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege ist kein Selbstzweck. Letztlich geht es um die Verwirklichung des Rechtsstaates, Art. 20 Abs. 2 und 3 GG.799 Nur soweit das 795 BVerfGE 102, 347, 364; BVerfG NJW 2002, 1187, 1188; vgl. hierzu Ahrens, JZ 2004, 763, 771 f. 796 Lerche, Werbung und Verfassung, 70; Scholz, in: Maunz/Dürig II, Art. 12 Rn. 88. 797 BVerfGE 4, 7, 17; 50, 290, 338; 57, 139, 167. 798 Scholz, in: Maunz/Dürig II, Art. 12 Rn. 87. 799 Vgl. Jaeger, NJW 2004, 1, 4. 165
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§ 10 Rechtfertigung im Allgemeinen
Rechtsstaatsprinzip tangiert ist, kann die anwaltliche Werberegelung der Meinungsfreiheit folglich ein Verfassungsgut entgegensetzen. bbb)
Einbezug der Wirtschaftswerbung in die Sonderstellung öffentlich-politischer Meinungsäußerungen?
Für den Abwägungsvorgang postuliert das BVerfG in gefestigter Rechtsprechung „eine Vermutung für die Zulässigkeit der freien Rede“800, sofern Kundgaben Beiträge zum geistigen Meinungskampf mit Öffentlichkeitsbezug darstellen. Es gilt: Je politischer und öffentlichkeitsrelevanter die Meinungsäußerung im konkreten Fall ist, desto schwerer wiegt sie.801 Die Vermutungsregel soll hingegen nicht greifen, wenn Meinungsäußerungen „im Rahmen einer privaten Auseinandersetzung zur Verfolgung von Eigeninteressen“802 stattfinden. Abweichungen von dieser Leitlinie sind – so das BVerfG – nicht ausgeschlossen, bedürfen aber einer gewissenhaften Begründung. Damit setzt sich das BVerfG abermals dem Vorwurf aus, in eine Art Meinungsrichtertum zu verfallen, indem es den objektiv-rechtlichen Gehalt im Vergleich zur subjektiv-rechtlichen Dimension der Meinungsfreiheit hochstilisiert.803 Freilich hat das BVerfG politische Kundgaben nie explizit als wertvoller bezeichnet, letztendlich ist aber aufgrund der Vermutungsregel eine gewisse Besserstellung nicht von der Hand zu weisen. Dass beide Grundrechtsdimensionen in der liberalen Grundrechtstradition jedoch gleichberechtigt nebeneinander stehen, wurde oben bereits ausführlich aufgezeigt.804 Allerdings stützt das BVerfG den Vorrang öffentlich-politischer Meinungsäußerungen nicht nur auf deren Bedeutung für den demokratischen Willensbildungsprozess, sondern zugleich auch auf den Umstand, dass Äußerungen mit großem Verbreitungsgrad latent gefährdet sind, „einschneidenden gerichtlichen Sanktionen ausgesetzt zu werden“805. Der damit einhergehende Hemmungseffekt könnte zu einer Lähmung der Diskussion in der Öffentlichkeit führen, die der Funktion der Meinungsfreiheit zuwiderlaufe.806 Mithin lässt sich die Privilegierung auch mit der
800 BVerfGE 7, 198, 213. 801 BVerfGE 61, 1, 11. 802 BVerfGE 93, 266, 294. 803 Friauf/Höfling, AfP 1984, 249, 255; Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 104. 804 Siehe § 3 I. 805 BVerfG GRUR 1982, 498, 499. 806 BVerfG GRUR 1982, 498, 499.
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Schaffung notwendiger Voraussetzungen für den freien Austausch von Meinungen begründen – ohne eine Werteinteilung vornehmen zu müssen. Unabhängig davon, auf welches Begründungsmuster man maßgeblich abstellen will, muss Wirtschaftswerbung regelmäßig in den Genuss der Vermutungsregel kommen.807 Denn nicht nur gesellschaftskritische Werbemaßnahmen, sondern auch die „Regelfälle“ der Wirtschaftswerbung haben – wie aufgezeigt – zu einem gewissen Grad politische Bezüge und bedienen somit die objektive Dimension der Meinungsfreiheit.808 Zudem will Wirtschaftswerbung naturgemäß eine Vielzahl von Adressaten ansprechen und hat demnach meist einen sehr großen Aktionsradius. Die damit einhergehende Gefahr für die Werbenden, Schadensersatz- oder Unterlassungsforderungen ausgesetzt zu sein, ist – das zeigen die zahlreichen Gerichtsprozesse im Werbebereich – durchaus mit der Gefährdungssituation von Personen vergleichbar, die sich rein öffentlich-politisch äußern. Folgerichtig hat das BVerfG die Anwendbarkeit der Vermutungsregel mit Blick auf politisch-gesellschaftskritische Wirtschaftswerbung bereits ausdrücklich festgestellt.809 Hinsichtlich des (vermeintlich) unpolitischen Regelfalles der Wirt807 Exkurs: Der US-Supreme Court unterscheidet beim 1. Zusatzartikel zur US-amerikanischen Bundesverfassung zwischen im Kernbereich liegenden politischen Aussagen („high-value speech“) und im Randbereich liegenden nicht-politischen Äußerungen („low-value speech“), zu denen wirtschaftswerbliche Kundgaben gehören sollen. In der Folge seien kommerzielle Werbeäußerungen lediglich Meinungsäußerungen zweiter Klasse und genössen von vornherein ein niedrigeres Schutzniveau im Vergleich zu politischen Äußerungen, Virginia State Board of Pharmacy v. Virginia Citizens Consumer Council, 425 U.S. 748, 771 Note 24 (1976): „a different degree of protection is necessary to ensure that the flow of truthful and legitimate commercial information is unimpaired“. Eine ähnliche Abstufung scheint der EGMR vorzunehmen, indem er den Mitgliedstaaten im Bereich der kommerziellen Werbung – anders als bei politischer Propaganda – einen großen Beurteilungsspielraum zugesteht, weil dieser besonders komplex und schnelllebig sei. I.d.S. beschränkt er sich auf die Prüfung, ob die nationalen Gerichte überhaupt eine Abwägung der sich gegenüberstehenden Interessen vorgenommen haben, ohne selbst in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzusteigen, vgl. EGMR ÖJZ 1994, 636; 2004, 397. Gemäß Art. 53 EMRK stellt die EMRK jedoch nur einen Mindeststandard auf, so dass die Verfassungen der Mitgliedstaaten einen weitergehenden Schutz enthalten können. Auch der EuGH nimmt nur eine beschränkte Kontrolle bei Werbeäußerungen vor und belässt den Mitgliedstaaten einen weiten Entscheidungsspielraum, vgl. EuGH GRUR Int. 2004, 626, 629. 808 Siehe § 6 II. 809 BVerfGE 102, 347, 363; 107, 275, 281. In diesem Zusammenhang ist auch ein aktuelles Urteil des BGH zum Ärztebewertungsportal „www.jameda.de“ von Interesse, in dem dieser darlegte, dass sofern der Portalbetreiber seine „Stellung als neutraler Informationsmittler“ – ohne dies hinreichend kenntlich zu machen – durch die Nicht-Anzeige von örtlicher Konkurrenz bei zahlenden sog. Premium-Kunden verlasse, das Recht auf 167
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schaftswerbung lässt sich immerhin eine verfassungsgerichtliche Tendenz erkennen. So haben die Karlsruher Richter im „Kredithai-Beschluss“ konstatiert, dass es zulässig sei, „wenn die Rechtsprechung des BGH die Vermutung für die Zulässigkeit freier Rede auf die Kritik an Waren und Leistungen erstreckt.“810 Zur Begründung führten sie an, „daß die Aufklärung der Verbraucher nicht nur individuellen Interessen dient, sondern auch aus volkswirtschaftlichen Gründen unerläßlich ist.“811 Gilt die Vermutungsregel für die Gewerbekritik, muss dies denklogisch auch bei der Wirtschaftswerbung der Fall sein. Schließlich sind Werbung und Gegenwerbung – wie gesehen – integrale Bestandteile derselben meinungsbildenden Debatte.812 Außerdem dient Werbung unzweifelhaft ebenfalls der Aufklärung der Verbraucherschaft. In seiner Entscheidung „Therapeutische Äquivalenz“ hat das BVerfG dementsprechend den besonderen Gehalt der Meinungsfreiheit auch im Hinblick auf den (vermeintlich) unpolitischen Regeltypus der Wirtschaftswerbung betont.813
cc)
Intensität des Eingriffs bzw. der Beeinträchtigung
Werbereglementierungen können – wie angedeutet – von divergierender Intensität sein. aaa)
Verschiedene Eingriffsarten
Zuerst gilt es, zwischen drei Eingriffsarten verschiedenen Ausmaßes zu differenzieren. Zum einen existieren Vorschriften, welche die Werbemodalitäten, also die Art und Weise, den zeitlichen oder örtlichen Rahmen, beschränken. Hierzu zählen etwa die Verunstaltungsverbote in den Landesbauordnungen oder das in § 43b BRAO
informationelle Selbstbestimmung einer nicht zahlenden Ärztin (sog. Basisprofil), welche wegen negativer Bewertungen die Löschung ihrer personenbezogenen Daten begehrte, „das Grundrecht der Meinungs- und Medienfreiheit“ des Portalbetreibers überwiege, BGH MMR-Aktuell 2018, 402488. Diese Entscheidung ist kritisch zu sehen, weil ein derartiges Geschäftsgebaren zwar gegen den Trennungsgrundsatz verstoßen mag, darin im Vergleich zu einer neutralen Informationsvermittlung jedoch kein intensiverer Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen zu erblicken ist. Ob örtliche Konkurrenz im Einzelfall angezeigt wird oder (aus werblichen Gründen) nicht: Es werden Informationen und Bewertungen im Rahmen einer gesundheitspolitischen Debatte vermittelt. 810 BVerfG GRUR 1982, 498, 499. 811 BVerfG GRUR 1982, 498, 499. 812 Siehe § 6 II. 813 BVerfG NJW 2001, 3403, 3404; so versteht auch Faßbender, GRUR Int. 2006, 965, 971 diesen Beschluss.
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enthaltene Sachlichkeitserfordernis mit Blick auf die Form von Anwaltswerbung.814 Derartige Beschränkungen sind meist nicht sonderlich intensiv, da sie i. d. R. den Meinungsaustausch nicht restlos behindern.815 Des Weiteren gibt es Regelungen, die Werbung inhaltlich restringieren. Dazu zählen z. B. das Sachlichkeitserfordernis hinsichtlich des Inhalts von Anwaltswerbung in § 43b BRAO816 oder die mitbewerberschützenden Tatbestände des § 4 UWG. Diese hemmen die Verbreitung gewisser Meinungen meist durchgängig und unterliegen somit deutlich höheren Rechtfertigungsanforderungen als Normen über die Werbemodalitäten.817 Am intensivsten sind stets totale Werbeverbote, da durch diese jede werbliche Kommunikation mit den Marktbeteiligten vereitelt wird. Die Rechtfertigung solcher Eingriffe ist nur in ganz engen Grenzen möglich. I. Ü. zeigt sich mit Blick auf die inhaltlichen Verbote noch einmal deutlich, dass es einen Unterschied macht, ob man Wirtschaftswerbung allein an Art. 12 Abs. 1 GG oder zusätzlich auch an Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG misst. Bei Werbung geht es nämlich regelmäßig nur um das „Wie“ und nicht um das „Ob“ der beruflichen Tätigkeit. Werbevorschriften stellen in der Dogmatik des BVerfG zur Berufsfreiheit somit lediglich Berufsausübungsregelungen, mithin Eingriffe auf geringster Stufe, dar. Die Anforderungen sind entsprechend niedrig; sachliche Gründe des Allgemeinwohls reichen bereits zur Rechtfertigung aus.818 Dies ist letztlich konsequent: Werbung macht immerhin nur einen Bruchteil der gesamten beruflichen Tätigkeit aus und ist folglich aus dieser Warte von eher randständiger Natur.819 Ein ganz anderes Gewicht kommt jedoch inhaltlichen Werbebeschränkungen aus dem Blickwinkel der Meinungsfreiheit zu. Bei Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG geht es gerade um den Schutz der Äußerung von Gedankeninhalten. Derartige Kundgabeverbote tangieren mithin die Quintessenz der Meinungsfreiheit. Entsprechend gewichtig müssen die gegenüberstehenden Rechtsgüter sein. Der Schutz stagniert also durch 814 Siehe hierzu die zahlreichen Beispiele von Römermann, in: BeckOK-BORA, § 6 BORA Rn. 93 ff. sowie Träger, in: Feuerich/Weyland, § 43b BRAO Rn. 22 ff., welche die Grundrechtsrelevanz dieser Thematik gut beleuchten und die Rechtsprechung teils kritisch hinterfragen. 815 Vgl. BVerfG NJW 1980, 581. 816 Siehe hierzu die zahlreichen Beispiele mit Grundrechtsbezug von Römermann, in: BeckOK-BORA, § 6 BORA Rn. 69 f. sowie Träger, in: Feuerich/Weyland, § 43b BRAO Rn. 27 ff.; verfassungsrechtliche Erwägungen mit Blick auf Werbung um einen Auftrag im Einzelfall zudem bei Römermann, in: BeckOK-BORA, § 43b BRAO Rn. 39 ff. 817 So auch Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 113. 818 Vgl. BVerfGE 7, 377, 402 f.; Faßbender, GRUR Int. 2006, 965, 971. 819 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 113. 169
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die Einbeziehung der Meinungsfreiheit in den Kanon der werbeschützenden Grundrechte entgegen mancher Behauptung keineswegs auf niedrigem Niveau, 820 sondern erhöht sich sogar merklich. bbb)
Mehrdeutige Äußerungen
Werbung ist – wie bereits festgestellt – häufig ironisch, reißerisch und provokant, um aufzufallen. Dementsprechend fallen Werbeinhalte nicht selten auch mehrdeutig aus. Das bekannteste Beispiel hierfür bildet die „H.I.V. Positive“-Anzeige von „Benetton“, welcher das BVerfG mit folgender Begründung eine Amphibolie attestierte: „In diesem Sinne eindeutig ist die Anzeige jedoch nicht. Sie zeigt kommentarlos einen Menschen, der als „H.I.V. POSITIVE“ abgestempelt erscheint. Dass damit der skandalöse, aber nicht realitätsferne Befund einer gesellschaftlichen Diskriminierung und Ausgrenzung H.I.V.-Infizierter bekräftigt, verstärkt oder auch nur verharmlost wird, drängt sich nicht auf. Mindestens ebenso nahe liegend ist die Deutung, dass auf einen kritikwürdigen Zustand – die Ausgrenzung H.I.V.-Infizierter – in anklagender Tendenz hingewiesen werden soll.“821 Nach der Zurückverweisung des BVerfG an den BGH schloss dieser allerdings die Deutungsalternative der „Stigmatisierung“ als fernliegend aus. Liegt hingegen eine Äußerung vor, die mindestens zwei nicht entfernt liegende Auslegungsvarianten zulässt, ist nach der vom BVerfG begründeten sog. Stolpe-Doktrin zu unterscheiden. Geht es um eine Entscheidung über Repressionen wegen einer in der Vergangenheit liegenden Äußerung – etwa um die Forderung von Schadensersatz i. S. v. § 9 UWG –, muss ein Gericht alle weiteren möglichen, nicht zur Verurteilung führenden Deutungen mit schlüssigen Gründen ausschließen.822 Andernfalls drohte die Unterdrückung zulässiger Äußerungen. Hat die Entscheidung hingegen die Frage der Unterlassung zukünftiger Aussagen – z. B. bei auf § 8 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. UWG gestützten Forderungen – zum Gegenstand, ist diejenige Deutungsvariante zugrunde zu legen, die das jeweilige Rechtsgut am schwersten beeinträchtigt.823 Als Begründung führt das BVerfG an, dass es dem Äußernden schließlich zumutbar sei, sich in Zukunft eindeutig zu äußern und klarzustellen, wie er seine Aussage versteht. Zudem verliere der Äußernde bei Unterlassungsansprüchen nicht die Herrschaft über seine Äuße-
820 Oppermann, in: FS Wacke, 393, 400; i. Ü. siehe § 7 I. 2. 821 BVerfGE 102, 347, 368. 822 BVerfGE 82, 43, 52; 93, 266, 295 f.; 114, 339, 349. 823 BVerfGE 114, 339, 350; BVerfG NJW 2010, 3501.
II Schranken-Schranken
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rung, weswegen ihn derartige Ansprüche weit weniger intensiv beeinträchtigen als repressive Ansprüche.824 ccc)
Verwechslung von Tatsachen mit Meinungen
Ein schwerwiegender Eingriff in die Meinungsfreiheit liegt in der gerichtlich fehlerhaften Kategorisierung von Äußerungen als Werturteil oder Tatsache. Diese Unterscheidung spielt auch im Bereich der Wirtschaftswerbung, die sich aus genannten Gründen gerne Wortspielereien bedient, eine wichtige Rolle. So führt das BVerfG in seinem „JUVE-Handbuch-Beschluss“, welcher sich bekanntermaßen um die Rechtmäßigkeit von Anpreisung im Rahmen eines redaktionellen Textes dreht, hierzu aus: „Die Einordnung einer Äußerung als Werturteil oder als Tatsachenbehauptung ist für die rechtliche Beurteilung von Eingriffen in das Grundrecht auf Meinungsfreiheit nach der Rechtsprechung der Fachgerichte und des BVerfG von weichenstellender Bedeutung. Führt eine Tatsachenbehauptung zu einer Rechtsverletzung, hängt das Ergebnis der Abwägung der kollidierenden Rechtsgüter vom Wahrheitsgehalt der Äußerung ab. Bewusst unwahre Tatsachenbehauptungen genießen den Grundrechtsschutz überhaupt nicht. Ist sie Wahrheit nicht erwiesen, wird die Rechtmäßigkeit der Beeinträchtigung eines anderen Rechtsguts davon beeinflusst, ob besondere Anforderungen, etwa an die Sorgfalt der Recherche, beachtet worden sind. Werturteile sind demgegenüber keinem Wahrheitsbeweis zugänglich. Sie sind grundsätzlich frei und können nur unter besonderen Umständen beschränkt werden.“825 Die Verfassungsrichter sahen in der umstrittenen Kanzleien-Rangliste – wie bereits festgehalten – ein Werturteil826 über die Leistungen der aufgeführten Kanzleien und stellten eine Verletzung der Meinungsfreiheit durch das Berufungsgericht fest, weil dieses die Rangliste fälschlicherweise als Tatsachenbehauptung einordete: „Werden die Äußerungen bei erneuter Verhandlung der Sache als Werturteil eingeordnet, besteht die Möglichkeit, dass ein dem Beschwerdeführer günstigeres Ergebnis erzielt wird. Die dahingehende Möglichkeit reicht für die Annahme eines Zusammenhangs zwischen der Grundrechtsverletzung und der angegriffenen Entscheidung aus.“827 Ein weiteres Anschauungsbeispiel in diesem Zusammenhang bildet ein Urteil des BGH aus dem Jahre 2002, in dem es um die Frage der Lauterkeit des Werbeslogans „Die „Steinzeit“ ist vorbei!“ eines Herstellers von Holzhäusern ging. Der BGH erkannte: „Der unbefangene Leser […] wird im Allgemeinen davon 824 Seelmann-Eggebert, NJW 2008, 2551, 2552; vgl. zudem Specht/Müller-Riemenschneider, NJW 2015, 727, 728. 825 BVerfG NJW 2003, 277, 278. 826 Siehe § 4 I. 2. a); vgl. auch BVerfG NJW 1997, 2679, 2680. 827 BVerfG NJW 2003, 277, 278. 171
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§ 10 Rechtfertigung im Allgemeinen
ausgehen, dass die Beklagte ihr Haus in Holzrahmen-Bauweise anpreisen, nicht aber behaupten will, dass Häuser aus Stein […] heute nicht mehr gebaut würden. Für die angesprochenen Verkehrskreise, die wissen, dass die herkömmliche Bauweise nach wie vor die Steinbauweise ist, liegt ein solches Verständnis auch nicht nahe. Der durchschnittlich informierte und verständige Verbraucher, auf dessen Sicht es maßgebend ankommt, erkennt den in dem Werbesatz enthaltenen Sprachwitz und dass es sich um ein humorvolles Wortspiel handelt, mit dem die Aufmerksamkeit der Werbeadressaten geweckt werden soll. Das spricht gegen die Annahme, dass der Verkehr den Slogan überhaupt im Sinne einer Sachaussage ernst nimmt.“828 Das Berufungsgericht hatte in seinem vorangegangenen Urteil noch zu Unrecht angenommen, der werberoutinierte Durchschnittsverbraucher nehme das Wort „vorbei“ für bare Münze und qualifizierte den Slogan als unwahre Tatsachenäußerung, die Steinbauweise sei erledigt.829 Aber auch der umgekehrte Fall führt automatisch zu einer Grundrechtsverletzung: Qualifiziert ein Gericht eine werbliche Kundgabe als Wertung, obwohl sie inhaltlich eine Tatsache ist, wird dem Werbenden nämlich die Möglichkeit abgeschnitten, den Wahrheitsbeweis zu führen, welcher für den Ausgang der Abwägung jedoch maßgeblich ist. ddd)
Wahre Tatsachenäußerungen
Wahre Tatsachenäußerungen in Bezug auf das eigene Produkt bzw. die eigene Dienstleistung können nicht untersagt werden. Keiner kann ein ernsthaftes Interesse daran haben, derartige Äußerungen der Debatte zu entziehen. Für die Verbreitung wahrer Tatsachenäußerungen über Mitbewerber, dessen Produkte bzw. Dienstleistungen oder Dritte gilt im Grundsatz das Gleiche. Wahre Tatsachenbehauptungen genießen regelmäßig den Vorrang vor anderen Verfassungsgütern.830 Diese sind sogar grundsätzlich auch dann hinzunehmen, wenn sie für den Betroffenen nachteilig bzw. geschäftsschädigend sind. Jedenfalls überwiegt das Recht auf freie Meinungsäußerung regelmäßig dann, wenn die Behauptung lediglich die Sozialsphäre des Konkurrenten betrifft.831 828 BGH NJW 2002, 3399, 3340 f. 829 Vgl. BGH NJW 2002, 3399, 3340. 830 BVerfGE 97, 391, 403; Schemmer, in: BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 127; siehe hierzu etwa auch § 4 Nr. 2, 1. Alt. UWG. 831 BGH GRUR 1964, 392, 394; 1966, 633, 635; Jänich, in: MüKo-UWG I, § 4 Nr. 7 UWG Rn. 38; Schemmer, in: BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 127.1. Ob stets ein Anlass zur Äußerung vorliegen muss, ist umstritten. Vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheit ist eine solche Voraussetzung kritisch zu sehen; in diese Richtung Jänich, in: MüKo-UWG I, § 4 Nr. 7 UWG Rn. 39. A. A. OLG Hamm MMR 2008, 757; Köhler, in: Köhler/Bornkamm/
II Schranken-Schranken
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Ausnahmen von diesem Grundsatz sind nur in einem sehr eng begrenzten Umfang möglich. Unzulässig ist etwa die Weitergabe vertraulicher Mitteilungen, ohne dass der Mitteilende und/oder der Adressat hieran ein berechtigtes Interesse haben.832 Auch wenn wahre Tatsachenäußerung schwerwiegende Auswirkungen auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Betroffenen haben, kann dieses im Einzelfall den Vorrang vor der Meinungsfreiheit genießen.833 eee)
Kritik und Beleidigungen
Mitunter sind Werbemaßnahmen inhaltlich derart provokant ausgestaltet, dass sie gar die Qualität einer Beleidigung erreichen. In solchen Fällen muss geprüft werden, wie intensiv die durch die Abwertung verursachte Beeinträchtigung der Rechtsgüter des Betroffenen ist: Die Äußerung eines polemischen, überspitzten oder satirischen Werturteils mit Negativ-Wirkungen kann durchaus gerechtfertigt sein.834 So entschied der BGH im eben genannten „Steinzeit-Fall“: „Für die Beurteilung der Frage, ob eine gemäß § 1 UWG wettbewerbswidrige pauschale Herabsetzung ungenannter Wettbewerber vorliegt, kommt es darauf an, ob die angegriffene Werbeaussage sich noch in den Grenzen einer sachlich gebotenen Erörterung hält oder bereits eine pauschale Abwertung der fremden Erzeugnisse darstellt. Das kann nur angenommen werden, wenn zu den mit jedem Werbevergleich verbundenen (negativen) Wirkungen für die Konkurrenz besondere Umstände hinzutreten, die den Vergleich in unangemessener Weise abfällig, abwertend oder unsachlich erscheinen lassen. Der Auffassung des Berufungsgerichts, dass diese Voraussetzungen im Streitfall erfüllt seien, kann nicht beigetreten werden.“835 Eine ablehnende Aussage ist insbesondere regelmäßig dann hinzunehmen, wenn der Betroffene Anlass zur Kritik gegeben
Feddersen, § 4 UWG Rn. 1.16, die einen Anlass fordern, der im Falle eines Aufklärungsinteresses der Verbraucher gegeben sein soll. 832 Vgl. die Herstellung von praktischer Konkordanz durch den einfachen Gesetzgeber in § 4 Nr. 2, 2. Alt. UWG; bloßer Absatzförderungswille soll für das Vorliegen eines berechtigten Interesses indes nicht ausreichen, Köhler, in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, § 4 UWG Rn. 2.23. 833 BVerfGE 35, 202, 226; BVerfG NJW 2000, 2413, 2414; Schemmer, in: BeckOK-GG, Art. 5 Rn. 127.1: Eine Ausnahme ist etwa dann anzunehmen, wenn eine die Sozialsphäre betreffende wahre Tatsachenäußerung stigmatisierende Wirkung hat. Tangiert eine wahre Tatsachenäußerung hingegen die Privat- oder Intimsphäre und liegt kein berechtigtes Informationsinteresse der Öffentlichkeit vor, überwiegt der Ehrschutz die Meinungsfreiheit stets. Kritik zur Einschränkung von wahren Tatsachenäußerungen in der Werbung insgesamt äußert Hufen, in: FS Schmidt, 347, 361. 834 Köhler, in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, § 4 UWG Rn. 1.18. 835 BGH NJW 2002, 3399, 3340. 173
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§ 10 Rechtfertigung im Allgemeinen
hat (sog. Gegenschlag-These).836 Der dahinter steckende Aphorismus „Wer austeilt, muss auch einstecken können.“ kommt dabei nicht nur zum Tragen, wenn sich der Angriff gegen eine konkrete Person richtet, sondern auch dann, wenn er einer Personenmehrheit gilt.837 Die Grenze ist jedoch überschritten, sobald die werbliche Kundgabe eine sog. Schmähkritik838 enthält. In diesen Fällen wiegt die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts so schwer, dass die Meinungsfreiheit ausnahmslos zurücktreten muss.839 fff) Produkthinweispflichten Auch bei Produkthinweispflichten gilt es, zu differenzieren – und zwar zwischen der Erkennbarkeit und der Nichterkennbarkeit der Urheberschaft des jeweiligen (Warn-) Hinweises. Ist der Urheber des Hinweises nicht ersichtlich, besteht die Gefahr, dass dieser fälschlicherweise dem Urheber des Werbeinhalts zugerechnet wird.840
836 BVerfGE 54, 129, 138; 61, 1, 7 ff.; 82, 272, 280. Beispiel: Die Werbung des Autovermieters „Sixt“, in der ein Umzugs-LKW sowie ein Konterfei Gaulands mit der Unterschrift „Für alle, die einen Gauland in der Nachbarschaft haben“ abgebildet ist, greift die abfällige Äußerung des AFD-Politikers über den Fußballnationalspieler Boateng kritisierend auf. 837 BVerfGE 93, 266, 290. 838 Siehe § 3 IV. 1. 839 BVerfGE 82, 272, 283; 86, 1, 10; Grabenwarter, in: Maunz/Dürig I, Art. 5 Rn. 163. Beispiel: In der Werbung des Autovermieters „Sixt“ mit dem Konterfei von Prinz Charles und der Unterschrift „Ohren anlegen lassen ohne OP (Mieten Sie ein Cabrio!)“ geht es dem Werbenden alleine darum, sich und sein Produkt durch eine bloße Abwertung des Äußeren des Thronfolgers des Vereinigten Königsreichs am Markt zu profilieren. Beachte zudem allgemein die sog. Sphärentheorie des BVerfG, vgl. BVerfGE 27, 344, 351; 89, 69, 82 f. 840 Die früher obligatorische Angabe zur Urheberschaft der Warnhinweise auf Tabakerzeugnisverpackungen („Die EG-Gesundheitsminister“) ist seit der Änderung der (mittlerweile außer Kraft getretenen) TabakprodukteVO Ende 2005 entfallen. Laut Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 124 und Kloepfer, Produkthinweispflichten als Verfassungsfrage, 28 waren die Warnhinweise damit verfassungswidrig. Demgegenüber konnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass allgemein bekannt sei, wer Urheber der Warnungen ist, da die Tabakunternehmen kaum solch geschäftsschädigende Standpunkte so offensiv vertreten würden. Dieses Problem ist mittlerweile jedoch rein theoretischer Natur, da die Vorschriften der TabakerzVO nunmehr auf zwingendem Europarecht beruhen (siehe § 9 II. 4. d)) – früher war es den Mitgliedstaaten noch freigestellt, einen Urheberhinweis vorzuschreiben, vgl. Art. 5 Abs. 8 TabakRL a.F. (RL 2001/37/EG) – und deshalb die deutschen Grundrechte nicht anwendbar sind.
II Schranken-Schranken
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Dies stellt einen schwerwiegenden und nicht rechtfertigbaren Eingriff in die negative Meinungsfreiheit des Werbenden dar.841 Wird hingegen deutlich, wer Urheber des Hinweises ist, liegt zwar dennoch ein nicht ganz unerheblicher Eingriff vor, da die Aufforderung zum Kauf durch diametrale Angaben relativiert wird. Dieser kann jedoch durch den Schutz hochwertiger Güter – wie etwa dem Gesundheitsschutz – gerechtfertigt werden.842 Dass staatliche Warnungen strengen Wahrheitsanforderungen unterliegen, versteht sich von selbst.843 Eine Warnung durch unwahre Tatsachen ist nicht zu rechtfertigen.
2 Zensurverbot Mit dem Zensurverbot hält Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG eine weitere, speziell auf die Meinungsfreiheit (und die Medienfreiheiten) gemünzte Schranken-Schranke bereit. Die hiermit verbundene Inhibition ist jedoch eingeengt. „Zensur“ meint in diesem Zusammenhang nämlich nur die formelle Vorzensur, d. h. Maßnahmen mit Blick auf das Medium, die „das Abhängigmachen von behördlicher Vorprüfung und Genehmigung seines Inhalts (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt)“844 bedeuten. An dieser Stelle wird die Relevanz der oben vorgenommenen Konturierung des Anwendungsbereichs der Meinungsfreiheit des GG besonders deutlich: Ein Vorabregistrierungsverfahren, wie in Art. 10 ff. Health-Claim-VO für bestimmte gesundheitsbezogene Angaben vorgesehen, mag mit Art. 11 GRCh vereinbar sein,845 wäre jedoch gemessen an Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt GG aufgrund des Zensurverbotes verfassungswidrig.
841 Vgl. Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 124; Kloepfer, Produkthinweispflichten als Verfassungsfrage, 28. 842 Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 124. 843 Ausführlich Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 124. 844 BVerfG NJW 1972, 1934, 1937. 845 Vgl. EuGH EuR 2001, 542, 556. 175
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§ 10 Rechtfertigung im Allgemeinen
III Ergebnis III Ergebnis
Die gegenwärtig existierenden Werbevorschriften, welche sich an Art. 5 Abs.1 S. 1, 1. Alt. GG messen lassen müssen, sind allesamt „allgemein“ i. S. v. Art. 5 Abs. 2 GG und können die Meinungsfreiheit somit im Grundsatz beschränken. Auf der Ebene der Schranken-Schranken lassen sich verschiedene Maximen ausmachen, die es im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung von Werbebeschränkungen zu beachten gilt. Hierzu gehören z. B. die Tatsache, dass die Vermutungsregel für die freie Rede grundsätzlich auch auf wirtschaftswerbliche Maßnahmen Anwendung findet, die Regel, dass Kennzeichnungs- und Aufklärungspflichten im Vergleich zu Werbeverboten stets mildere Mittel darstellen, oder etwa das Gebot der Berücksichtigung der abgestuften Intensität der verschiedenen Eingriffsarten im Rahmen der Angemessenheit.
Rechtfertigung von wirtschaftswerbebezogenen Eingriffen in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG im Besonderen – Schlaglichter
§ 11
§ 11 Rechtfertigung im Besonderen
Im Anschluss an die Klarlegung der abstrakten Rechtfertigungskriterien für werbebezogene Eingriffe in die Meinungsfreiheit sollen die herausgestellten Maximen im vorletzten Kapitel der Arbeit anhand von konkreten Beispielen durchexerziert werden. Als Schlaglichter fungieren hierbei die avisierten Verbote von Kino- und Außenwerbung für Tabakerzeugnisse sowie das von verschiedenen Seiten nach wie vor geforderte Verbot sexistischer Werbung.
I
Geplantes Verbot der Außen- und Kinowerbung für Tabakerzeugnisse
I Geplantes Verbot der Außen- und Kinowerbung für Tabakerzeugnisse
Der von der ehemaligen Bundesregierung vorgelegte Gesetzentwurf zur Änderung des TabakerzG846 verstand sich als Ergänzung zu den bereits bestehenden Werbebeschränkungen für Tabakerzeugnisse. Er sah zum einen die Implementierung eines neuen § 20a TabakerzG vor, der ein generelles Verbot von Außenwerbung für Tabakerzeugnisse enthielt. Mit Außenwerbung ist in diesem Zusammenhang jede Werbung außerhalb von Geschäftsräumen des Fachhandels gemeint, die mittels einer ortfesten Einrichtung, die durch direkte Ansprache von Verbraucherinnen und Verbrauchern oder die in sonstiger Weise erfolgt, insbesondere durch Plakate, Beschriftungen, Bemalungen, Luft- und Lichtwerbung (so der geplante § 2 Nr. 9 TabakerzG). Zum anderen sollte der Part des § 11 Abs. 5 JuSchG, der eine zeitliche Begrenzung von Kinowerbung für Tabakwaren (ab 18.00 Uhr) beinhaltet, durch 846 Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des TabakerzG, https://www.bmel. de/SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/Gesundheit/Tabakrichtlinie/EntwurfTabakerzGKabinett.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt besucht am 10. August 2018; siehe § 9 II. 4 c). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Arnold, Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4_11
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§ 11 Rechtfertigung im Besonderen
einen neu eingefügten § 11 Abs. 6 JuSchG substituiert werden, welcher entsprechende Werbung nur bei solchen Filmen zuließ, bei denen keine Jugendfreigabe gemäß § 14 Abs. 6 JuSchG vorliegt. Mit ihrem Vorschlag wollte die damalige Bundesregierung letztlich eine Angleichung an die Rechtslage in den anderen Mitgliedstaaten der EU herbeiführen.
1
Schranke – Verbote der Außen- und Kinowerbung für Tabakerzeugnisse als „allgemeine Gesetze“ i. S. v. Art. 5 Abs. 2 GG
Außen- und Kinowerbeverbote für Tabakerzeugnisse stellen mit Blick auf die Meinungsfreiheit in erster Linie Beschränkungen von Äußerungsmodalitäten dar, indem sie „lediglich“ bestimmen, dass an gewissen Orten Tabakwerbung nicht gestattet ist. Damit sind sie als meinungsneutral einzustufen – zumal die inhaltliche Beschränkung auf Tabakwerbung eine breite Palette an Meinungen erfasst. Jedenfalls zielen derartige Verbote (primär) auf den Schutz des Lebens und der Gesundheit ab, mithin auf die Protektion solcher Rechtsgüter, welche im konkreten Einzelfall die Meinungsfreiheit überwiegen können.
2
Schranken-Schranke – Verhältnismäßigkeit
Fraglich ist jedoch, ob die ankündigten Bestimmungen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen.
a)
Legitime Zwecke
Die ehemalige Bundesregierung wollte mit Ihrem Gesetzentwurf eine (weitere) Senkung der Raucherquote erreichen. Dabei hatte sie nicht nur die Bewahrung der (potentiellen) Raucher vor gesundheitlichen Nachteilen im Sinn, sondern strebte zugleich eine Reduzierung der Gefahren durch das Passivrauchen an.847 Zudem zielten die angekündigten Bestimmungen ausweislich der Gesetzentwurfsbegründung auch
847 S. 9 f. des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Änderung des TabakerzG, https:// www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/Gesundheit/Tabakrichtlinie/EntwurfTabakerzGKabinett.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt besucht am 10. August 2018.
I Geplantes Verbot der Außen- und Kinowerbung für Tabakerzeugnisse
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auf eine Verbesserung des Jugendgesundheitsschutzes ab.848 Der Bundesregierung ging es mithin um die Erfüllung des staatlichen Schutzauftrags aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.849 Dass der Schutz der Rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit einen legitimen Zweck darstellt, wurde bereits hinreichend erläutert.850 Zwangsläufig in einem engen Zusammenhang hiermit steht die Entlastung der Sozialversicherungs- und Beamtenversorgungskassen in Höhe der durch den Tabakkonsum entstehenden Kosten.851 Diesem konkludent mitverfolgten Ziel steht die Verfassung zumindest nicht entgegen. Insofern ist auch ein solches Ansinnen legitim.
b) Geeignetheit Deutlich problematischer ist die Frage der Geeignetheit. So meldet Selmer erhebliche Bedenken an, ob Werbeverbote für Tabakerzeugnisse überhaupt in irgendeiner Weise zum Schutz der Gesundheit von Rauchern und Passivrauchern beitragen können. Zwar leugnet er nicht, dass Raucher durch das Rauchen in ihrer eigenen Gesundheit gefährdet sind. Immerhin sind die gesundheitlichen Negativfolgen des Rauchens seit Langem wissenschaftlich belegt.852 Auch das BVerfG erkannte die Gefahren des Tabakgenusses bereits vor ca. 20 Jahren: „Es ist allgemein bekannt, daß Rauchen gesundheitsschädlich ist. Unter Rauchern und Nichtrauchern gibt es kaum jemanden, dem diese Gefahren gänzlich unbekannt wären. Rauchen tötet mehr Menschen als Verkehrsunfälle, Aids, Alkohol, illegale Drogen, Morde und Selbstmorde zusammen. Zigarettenrauch ist in den Industrieländern die häufigste und wissenschaftlich am deutlichsten belegte Einzelursache für den Krebstod. Im Ergebnis ist nach heutigem medizinischen Kenntnisstand gesichert, daß Rauchen Krebs sowie Herz- und Gefäßkrankheiten verursacht.“853 Allerdings stellt er die Wirksamkeit von Werbeverboten für Tabakerzeugnisse infrage. Schließlich ergäben sich mit Blick „auf den unveränderten Tabakkonsum in den EG-Mitgliedstaaten sowie in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, in denen ein totales Werbeverbot besteht bzw. bestand, 848 S. 10 des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Änderung des TabakerzG, https:// www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/Gesundheit/Tabakrichtlinie/EntwurfTabakerzGKabinett.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt besucht am 10. August 2018. 849 Siehe nur BVerfGE 95, 173, 184; 121, 317, 349. 850 Siehe § 10 II. 1. a). 851 Vgl. BVerfG NJW 1982, 1276; Dehner/Jahn, JuS 1988, 30, 33 f. 852 Siehe nur Doll/Peto/Wheatley/Gray/Sutherland, British Medical Journal 1994, 901; Pötschke-Langer, Zeitschrift ärztliche Fortbildung 1995, 537. 853 BVerfGE 95, 173, 184. 179
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§ 11 Rechtfertigung im Besonderen
[…] erhebliche Bedenken an der Rechtmäßigkeit von Tabakwerbebeschränkungen.“854 Betrachte man diese Konstanz des Tabakkonsums, so werde deutlich, „daß Werbung in erster Linie dem Wettbewerb unter den Zigarettenherstellern um die Verteilung der Marktanteile dient.“855 Einziger gesicherter Effekt eines Werbeverbots sei die „Zementierung bestehender Marktstrukturen […]. Dabei beziehen sich diese Bedenken nicht nur auf ein totales, sondern auch auf ein teilweises Tabakwerbeverbot.“856 Aus Sicht der Bundesregierung stellen die Werbeverbote jedoch wirksame Mittel dar, um die Raucherquote (weiter) zu senken: Außenwerbung sei allgemein präsent, so dass man sich ihr nicht entziehen könne. Kinowerbung befände sich in einem positiven Unterhaltungskontext, der zu einer erhöhten Empfangsbereitschaft für Werbebotschaften führe.857 Würde der Gesetzgeber diesen Standpunkt übernehmen, wäre dieser mit Blick auf seine Einschätzungsprärogative zu respektieren. Derartige Verbote sind jedenfalls nicht schlechthin ungeeignet, zum Gesundheitsschutz der Raucher beizutragen. Dies gilt umso mehr, als eine aktuelle, statistisch repräsentative Studie einen Zusammenhang zwischen dem Kontakt mit Tabakwerbung und der Wahrscheinlichkeit, zu rauchen oder mit dem Rauchen zu beginnen, nahelegt.858 Bestreitet Selmer mit Blick auf den Gesundheitsschutz der Raucher „lediglich“ die Wirksamkeit von Werbeverboten, zieht er hinsichtlich des angestrebten Schutzes der Nichtraucher sogar in Zweifel, ob diese durch das passive Einatmen von Rauch überhaupt Gesundheitsschäden davontragen können.859 Die Annahme, dass die Gefahren des passiven Rauchens wissenschaftlich nicht erwiesen seien, ist jedoch mittlerweile überholt.860 I. d. S. geht auch das BVerfG von einer gesundheitlichen Negativwirkung des Passivrauchens aus und verweist diesbezüglich abermals auf die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers.861 Die Werbeverbote fördern demnach die Gesundheit von Rauchern wie Nichtrauchern. Ob die betreffenden Verbote des Weiteren zu einer Entlastung der Sozial854 Selmer, in: FS Vogel, 405, 423; vgl. zudem Kloss, Werbung, 7. 855 Selmer, in: FS Vogel, 405, 423. 856 Selmer, in: FS Vogel, 405, 423. 857 S. 10 des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Änderung des TabakerzG, https:// www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Ernaehrung/Gesundheit/Tabakrichtlinie/EntwurfTabakerzGKabinett.pdf?__blob=publicationFile, zuletzt besucht am 10. August 2018. 858 Morgenstern/Sargent/Isensee/Hanewinkel, From never to daily smoking in 30 month: the predictive value of tobacco and non-tobacco advertising exposure, http://bmjopen. bmj.com/content/bmjopen/3/6/e002907.full.pdf. 859 Selmer, in: FS Vogel, 405, 428. 860 Öberg/Jaakkola/Woodward/Peruga/Prüss-Ustün, The Lancet 2011, 139. 861 BVerfGE 95, 173, 185; 121, 317, 350 ff.
I Geplantes Verbot der Außen- und Kinowerbung für Tabakerzeugnisse
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versicherungs- und Beamtenversorgungskassen führen können, ist hingegen mehr als fraglich. Saldiert man nämlich die durch die erhöhte Morbidität von Rauchern entstehenden Kosten mit den aus der kürzeren Lebenserwartung erwachsenden Ersparnissen, kommt man wie Steidl und Wigger in ihrer Studie aus dem Jahr 2015 zu dem Ergebnis, dass Rauchen netto sogar zu einer Entlastung der deutschen Sozialversicherten und Steuerzahler führt.862 Kämpft man also gegen die Verbreitung des Tabakgenusses in der Bevölkerung, schadet dies dem besagten Ziel eher.
c) Erforderlichkeit Eine Minderung der Raucherquote kann freilich auch mit milderen Mitteln im Vergleich zu partiellen Tabakwerbeverboten anvisiert werden. Infrage steht lediglich, ob diese Maßnahmen gleich effektiv sind. Zunächst könnte man auf freiwillige Selbstbeschränkungsvereinbarungen der Tabakindustrie – wie etwa das sog. Mild-Abkommen von 1980863 – vertrauen. Solche Abmachungen sind jedoch allein schon aufgrund der fehlenden staatlichen Sanktionsmöglichkeiten nicht gleich geeignet. Zudem können die Tabakhersteller derartige Vereinbarungen jederzeit aufkündigen. Für alle Beteiligten weniger grundrechtsbeschneidend als ein Werbeverbot sind ebenso Antiraucherkampagnen sowie die Verpflichtung zum Abdruck von Warnhinweisen auf Tabakerzeugnisverpackungen.864 Wenn Tabakwerbung absatzfördernd wirkt, müssen diese beiden Formen der Gegenwerbung folgerichtig absatzhemmende Effekte haben865 – zumal sie aufgrund staatlicher Autorität mit besonderer Glaubwürdigkeit aufgeladen sind. Im Gegensatz zu Werbeverboten, die den öffentlichen Diskurs lediglich um eine Facette beschneiden, bieten sie die Chance, die Verbraucher über die Gesundheitsgefahren des Rauchens aufzuklären, diese folglich dezidiert vor dem Tabakgenuss zu warnen und so aktiv auf deren Konsumverhalten einzuwirken. Die im Jahr 1999 geäußerten Bedenken von Hippels, die Warnhinweise seien generell unzulänglich und verharmlosend,866 sind jedenfalls inzwischen durch die Einführung der detaillierten und mit Schockbildern garnierten Warnhinweise ausgeräumt. Wie gesehen hat der Gesetzgeber jedoch hinsichtlich der Entscheidung, ob eine Alternativmaßnahme (mindestens) gleich geeignet bzw. ausreichend ist, eine Einschätzungsprärogative, bei deren Ausübung er maßgeblich auf das Leitbild des 862 Steidl/Wigger, Wirtschaftsdienst 2015, 563. 863 Vgl. hierzu etwa LG Hamburg GRUR-RS 2016, 11420. 864 Siehe § 10 II. 1. c) aa). 865 So auch Selmer, in: FS Vogel, 405, 424. 866 von Hippel, JZ 1999, 781. 181
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§ 11 Rechtfertigung im Besonderen
verständigen, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Durchschnitts-verbrauchers abzustellen hat.867 In diesem Zusammenhang ist ferner in Erinnerung zu rufen, dass je nach angesprochenem Adressatenkreis der Erfahrungs- und Kenntnisstand auch divergieren kann. Dies zugrunde gelegt wird man zu dem Ergebnis kommen müssen, dass verständige Durchschnittserwachsene die Inhalte sowohl von Antiraucherkampagnen als auch von Warnhinweisen verstehen und ernstnehmen, sich also durch diese Maßnahmen den Gefahren ihres (künftigen) Tabakkonsums und der Tatsache bewusst werden, dass den Inhalten von Tabakwerbung mit Vorsicht zu begegnen ist. Insofern wären Antiraucherkampagnen sowie die Verpflichtung zum Abdruck von Warnhinweisen durchaus gleich geeignet. Von Heranwachsenden sind eine solche Einsichtsfähigkeit und ein vergleichbarer Kenntnisstand jedoch nicht zu erwarten. Fraglich ist also, auf welche Gruppe maßgeblich abgestellt werden muss. Für ein Abstellen auf verständige und selbstbestimmte Erwachsene spricht der Umstand, dass Kinder und Jugendliche sowieso gemäß § 10 JuSchG Tabakerzeugnisse weder erwerben, noch in der Öffentlichkeit rauchen dürfen, also bereits umfassend geschützt sind. Dem steht entgegen, dass es dem Gesetzgeber auch und gerade um die Bekämpfung des illegalen Tabakerwerbs sowie -konsums von Heranwachsenden gehen wird. Zudem könnte man argumentieren, dass bei einer deutlichen Gefahr für so gewichtige Rechtsgüter wie der Gesundheit und des Lebens bei der Ausübung der Einschätzungsprärogative ausnahmsweise auf die Gruppe der besonders Schutzwürdigen abgestellt werden muss. Mit Blick auf die Meinungsfreiheit milder wäre gleichfalls die weitere Erhöhung der Tabaksteuer. Auch hier ist bei der Frage der gleichen Eignung auf die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers zu verweisen. Die Frage der Erforderlichkeit kann letztlich offen bleiben, sofern die besagten Tabakwerbeverbote jedenfalls unangemessen sind.
d) Angemessenheit Die Schwere des Eingriffs in die Meinungsfreiheit könnte in einem unangemessenen Verhältnis zu den mit den Außen- und Kinowerbeverboten verfolgten Zwecken liegen.
aa)
Wertigkeit der sich gegenüberstehenden Rechtsgüter
Der beabsichtigte Schutz der Gesundheit und des Lebens ist zweifelsohne von sehr hoher Wichtigkeit. Nichtsdestotrotz überwiegt er die Meinungsfreiheit, die ebenfalls ein gewichtiges Verfassungsgut darstellt, nicht automatisch. Schematische
867 Siehe § 10 II. 1. c) bb).
I Geplantes Verbot der Außen- und Kinowerbung für Tabakerzeugnisse
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Lösungen verbieten sich.868 Um eine Vorrangstellung ausmachen zu können, ist vielmehr zu eruieren, wie die in Rede stehenden Rechtsgüter im konkreten Fall zur Geltung kommen. Gleich zu Beginn der Angemessenheitsprüfung ist daher zu fragen, inwieweit der Gesetzgeber seine Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ins Feld führen kann, wenn sich der mündige Verbraucher durch den Tabakkonsum selbst schädigt. Diese Fallgestaltung, welche von von Münch treffend mit der Überschrift „Grundrechtsschutz gegen sich selbst“869 versehen worden ist, ist zwar situativ anders gelagert als der Grundrechtsverzicht, weil der Verbraucher nicht gegenüber dem Staat, sondern gegenüber sich selbst verzichtet, es also um eine Verengung und nicht um eine Ausweitung der staatlichen Befugnisse geht.870 Dogmatisch sind beide Konstellationen jedoch insofern vergleichbar, als dass sie auf der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts fußen.871 Dementsprechend können die wesentlichen Voraussetzungen, an die ein wirksamer Grundrechtsverzicht geknüpft ist, auf den vorliegenden Fall mit der Folge übertragen werden, dass im Falle der Erfüllung der Voraussetzungen eine Berufung auf die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG zu verwehren wäre. Dazu müssten sich die Raucher zumindest freiwillig und bei voller Einsichtsfähigkeit selbst schädigen.872 Bereits im Hinblick auf die Freiwilligkeit bestehen allerdings erhebliche Bedenken. Jedenfalls sobald eine Nikotinabhängigkeit vorliegt, kann man nicht mehr von einer gänzlich zwangsfreien Handlung ausgehen. Zudem wird man gemäß den obigen Ausführungen auch die Einsichtsfähigkeit Jugendlicher verneinen müssen. Folglich ist es hier durchaus möglich, die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gegenüber Tabakkonsumenten zur Rechtfertigung heranzuziehen. Davon unabhängig kann im Rahmen der Abwägung gewiss auf die staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gegenüber Passivrauchern abgestellt werden. So stützte auch das BVerfG in der Vergangenheit in vergleichbaren Konstellationen – konkret bei den Streitigkeiten um die Schutzhelmpflicht von Motorradfahrern und der Anschnallpflicht von Autoinsassen – die Rechtfertigung von Eingriffen in das einschlägige Grundrecht maßgeblich auf die Gefährdung Dritter.873 Die in diesem Zusammenhang vom BVerfG ebenfalls vorgebrachte Belastung für das 868 Siehe § 10 II. 1. d) aa). 869 von Münch, in: FS Ipsen, 113, 114. 870 von Münch, in: FS Ipsen, 113, 127. 871 Selmer, in: FS Vogel, 405, 427 ff.; vgl. zudem BVerwG NJW 1962, 1532, 1534. 872 Zu den Voraussetzungen eines Grundrechtsverzichts vgl. Fischinger, JuS 2007, 808; Hillgruber, in: BeckOK-GG, Art. 1 Rn. 74. 873 BVerfG NJW 1982, 1276; 1987, 180. 183
184
§ 11 Rechtfertigung im Besonderen
Gesundheitswesen stellt aus den oben genannten Gründen für den vorliegenden Fall hingegen kein taugliches Rechtfertigungskriterium dar.874
bb)
Intensität des Eingriffs
Die Verbote der Außen- und Kinowerbung beträfen – wie gesehen – lediglich die Art und Weise werblicher Meinungsäußerungen: Tabakwerbung soll nicht generell, sondern nur an gewissen Orten untersagt werden. Isoliert betrachtet käme den beiden Werbeverboten folglich keine große Eingriffsintensität zu. Wie oben dargestellt existieren jedoch bereits verschiedene partielle Werbeverbote für Tabakwaren.875 Mit der Realisierung der infrage stehenden Regelungen würden nun die letzten großen Werbebastionen der Tabakwarenhersteller (weitgehend) fallen. Oder drastischer formuliert: Die Verbotsnormen führten zu einem Zustand, der einem totalen Tabakwerbeverbot nahezu gleichkäme; ein ganzer – durch die bestehende Regelungslage sowieso schon in der Existenz bedrohter876 – Industriezweig würde fast mundtot gemacht, obwohl er ein legales Produkt herstellt und vertreibt. Tabakwerbung wäre nur noch in Geschäftsräumen des Fachhandels (so der geplante § 2 Nr. 9 TabakerzG), in denen potentielle Kunden ohnehin regelmäßig zum Erwerb von Tabakwaren entschlossen sind, sowie vor Kinofilmen, für die keine Jugendfreigabe gemäß § 14 Abs. 6 JuSchG erteilt wurde, gestattet (so der geplante § 11 Abs. 6 JuSchG). Die mit den beiden Werbeverboten verbundenen Eingriffe wären im Zusammenhang mit den bereits bestehenden partiellen Verboten folglich sehr intensiv. Auf der anderen Seite ist aber auch die Gefahr, welche vom (Passiv-)Rauchen für Gesundheit und Leben ausgeht, bekanntermaßen sehr groß.
cc) Ergebnis Mit der Meinungsfreiheit sowie dem Gesundheits- und Lebensschutz stehen sich im vorliegenden Fall zwei sehr gewichtige Verfassungsgüter gegenüber. Die geplanten Werbebestimmungen würden im Verbund mit den bestehenden partiellen Verboten eine hohe Eingriffsintensität aufweisen. Allerdings verursacht Rauchen auch eine große Gefahr für die Rechtsgüter des Lebens und der Gesundheit – sowohl für Raucher als auch für Passivraucher.
874 BVerfG NJW 1982, 1276; siehe § 11 I. 2. b). 875 Siehe § 9 II. 4. c). 876 Nicolai, Das Große Zigarettenmarkensterben hat begonnen, https://www.welt.de/wirtschaft/article173786389/Zigarettensterben-Jetzt-verschwinden-auch-Lux-Krone-Peer-100. html.
II Geplantes Verbot sexistischer Werbung
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Diese Pattsituation gilt es durch die Vermutungsregel „im Zweifel für die freie Rede“ aufzulösen, deren Anwendbarkeitsvoraussetzungen877 im konkreten Fall erfüllt sind. Denn Maßnahmen der Außen- und Kinowerbung erreichen zum einen einen großen Adressatenkreis und sind somit latent gefährdet, Schadensersatz und Unterlassungsansprüchen ausgesetzt zu sein. Zum anderen sind Tabakwerbemaßnahmen – wie bereits angedeutet878 – Teil einer gesundheits-politischen Debatte, in welcher der Staat die Gefahren, welche vom Tabakkonsum ausgehen, herauszustellen versucht und die Tabakerzeugnishersteller auf die Vorzüge des Rauchens – etwa den Kommunikationsfaktor oder die Erleichterung für die Sozialversicherungsund Beamtenversorgungskassen – sowie auf die Tatsache, dass bekanntlich „nur die Dosis das Gift macht“, hinweisen. Die geplanten Werbebestimmungen sind folglich unangemessen.
e) Ergebnis Der Gesetzentwurf der ehemaligen Bundesregierung ist damit insgesamt unverhältnismäßig.
3 Ergebnis Die Eingriffe in die Meinungsfreiheit der Tabakwarenhersteller durch Außen- und Kinowerbeverbote wären demzufolge nicht gerechtfertigt.
II
Geplantes Verbot sexistischer Werbung
II Geplantes Verbot sexistischer Werbung
Der aktuell kursierende Entwurf zur Untersagung sexistischer Werbung (§ 7a UWG)879 will der Zementierung von Geschlechtsrollenklischees begegnen. Zu diesem Zweck spricht er zunächst in seinem Abs. 1 ein Verbot für diskriminierende Werbung im Allgemeinen aus, um sodann in Abs. 2 im Speziellen unzulässige geschlechtsdiskriminierende Werbung näher zu definieren. Eine solche soll immer dann vorliegen, „wenn sie Geschlechterrollenstereotypen in Form von Bildern oder Texten wiedergibt oder sich in sonstiger Weise ein geschlechtsbezogenes Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen den Personen in der Werbung oder im Verhältnis zu den 877 Siehe § 10 II. 1. d) bb) bbb). 878 Siehe § 6 II. 879 Siehe § 9 II. 1. a). 185
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§ 11 Rechtfertigung im Besonderen
von der Werbung adressierten Personen ergibt.“880 Zur Präzisierung werden zudem einige Beispiele aufgeführt. Geschlechtsdiskriminierend sei Werbung insbesondere dann, sofern sie etwa „Menschen aufgrund ihres Geschlechts Eigenschaften, Fähigkeiten und soziale Rollen in Familie und Beruf zuordnet oder sexuelle Anziehung als ausschließlichen Wert von Frauen darstellt oder Frauen auf einen Gegenstand zum sexuellen Gebrauch reduziert, insbesondere indem weibliche Körper oder Körperteile ohne Produktbezug als Blickfang eingesetzt werden“881. Wenngleich sich die vorgeschlagene Norm ausweislich der Fallgruppen auf die Herabsetzung von Frauen konzentriert, schließt sie doch auch Diskriminierungen von Männern ein. Das politische Schicksal des vorgenannten Entwurfs ist zurzeit äußerst ungewiss. Unabhängig davon lohnt es sich jedoch mit Blick auf den anhaltenden öffentlichen Diskurs und die große Menge an Werbemaßnahmen mit entsprechenden Bezügen, zu untersuchen, ob dieser einer verfassungsrechtlichen Überprüfung standhält.
1
Schranke – Verbot sexistischer Werbung als „allgemeine Gesetze“ i. S. v. Art. 5 Abs. 2 GG
Das angedachte Verbot sexistischer Werbung knüpft zwar unzweifelhaft an Inhalte an, verbietet jedoch nicht eine ganz bestimmte Meinung als solche, sondern einen bunten Strauß an geschlechtsdiskriminierenden Kundgaben. Zudem stützt es sich auf Art. 3 Abs. 2 (und 3) GG sowie Art. 1 Abs. 1 GG – Rechtsgüter, welche (im Einzelfall) die Meinungsfreiheit überwiegen (können).
2
Schranken-Schranke – Verhältnismäßigkeit
Folglich kommt es wiederum entscheidend darauf an, ob der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt wäre.
a)
Legitimer Zweck
Die Initiatoren des Gesetzentwurfs verfolgen das Gemeinwohlziel der Bekämpfung von geschlechtsbezogener Diskriminierung, welches in Art. 3 Abs. 2 (und 3) GG sowie in Art. 1 Abs. 1 GG angelegt und demnach legitim ist.
880 Pinkstinks, Die Lösung, https://pinkstinks.de/die-loesung/. 881 Pinkstinks, Die Lösung, https://pinkstinks.de/die-loesung/.
II Geplantes Verbot sexistischer Werbung
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b) Geeignetheit Vor dem Hintergrund der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers wäre es nicht zu beanstanden, wenn dieser davon ausginge, dass die oben skizzierte Regelung den Zweck der Bekämpfung von Geschlechtsdiskriminierungen zumindest in irgendeiner Weise fördert.
c) Erforderlichkeit Als mildere, gleich geeignete Alt. im Vergleich zu einem gesetzlichen Verbot von geschlechtsdiskriminierender Werbung kommt eine Sensibilisierung der Gesellschaft über die entsprechende Ausgestaltung von Lehrplänen oder aber auch durch Antidiskriminierungskampagnen in Betracht. Diese Maßnahmen könnten jedoch etwa durch sexistische Werbemaßnahmen selbst verursachte Würdeverstöße nicht ungeschehen machen. Dementsprechend reicht der Fakt, dass sie immerhin argumentativ „dagegenhielten“ und sich so positiv auf die in der Gesellschaft vorherrschenden Einstellungen zur Rolle der Frau auswirkten, nicht zur Annahme der gleichen Eignung aus. Unabhängig davon stellt sich die Frage der Notwendigkeit einer Regelung i. o. S. vor dem Hintergrund, dass bereits Vorschriften existieren, die gewisse Formen der sexistischen Werbung verbieten. So darf Werbung etwa nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 RStV nicht „Diskriminierungen auf Grund von Geschlecht […] beinhalten oder fördern“. Jedenfalls mit Blick auf den Anwendungsbereich dieser Norm (vgl. §§ 1 Abs. 1, 58 Abs. 3 S. 1 RStV) bleibt jedoch eine Regelungslücke für Werbung, die nicht über Rundfunk oder Telemedien verbreitet wird. Daneben hat sich in der Rechtsprechung zu § 3 Abs. 1 UWG die Fallgruppe der menschenwürdeverachtenden sexistischen Werbung herausgebildet.882 Soweit sich der geplante § 7a UWG mithin auf Art. 1 Abs. 1 GG stützt, brächte dies keinen inhaltlichen Gewinn. Soweit sein Regelungsgehalt hingegen hierüber hinausreichen sollte, bedeutete er durchaus einen gewissen Mehrwert zur aktuellen Gesetzeslage.
d) Angemessenheit Zur Beleuchtung der Angemessenheit der diffizilen Regelung des angedachten § 7a UWG empfiehlt sich eine Kategorisierung, die sich an der Systematik der Grundrechte des GG sowie des § 7 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 RStV orientiert.
882 BGH GRUR 1995, 592, 594; 600, 601; Köhler, in: Köhler/Bornkamm/Feddersen, § 3 Rn. 2.33 ff.; vgl. zudem §§ 3 Abs. 1 S. 1, 7 Abs. 1 Nr. 1, 41 Abs. 1 S. 2 RStV. 187
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aa)
§ 11 Rechtfertigung im Besonderen
Menschenwürdeverachtende sexistische Werbung
Der Gesetzentwurf will sich – wie bereits angedeutet – erkennbar auf Art. 1 Abs. 1 GG stützen. Dies wird anhand der Gesamtkonzeption, aber auch anhand von verschiedenen Tatbestandsmerkmalen (insbesondere „geschlechtsbezogenes Über-/ Unterordnungsverhältnis“, „sexuelle Anziehung als ausschließlichen Wert von Frauen darstellt“, „Frauen auf einen Gegenstand zum sexuellen Gebrauch reduziert“) deutlich. Nach der herrschenden sog. Objektformel liegt ein Würdeverstoß immer dann vor, wenn „der Mensch zum bloßen Objekt“883 herabgewürdigt wird. Der Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG ist indes nach einhelliger Auffassung eng auszulegen,884 weil die Menschenwürde nicht abwägungsfähig („unantastbar“) ist, ein Eingriff in den Schutzbereich folglich zwingend ein Verfassungswidrigkeitsurteil nach sich zieht. Die notwendige Konturierung des Schutzbereichs wird u. a. über das Kriterium des „Zwangs“ erreicht,885 dessen Anwendung auch vorliegend zu brauchbaren Ergebnissen führt. So kann man sagen, dass eine Herabwürdigung zu einem bloßen (Sexual-)Objekt stets dann anzunehmen ist, wenn in der Werbung die Sexualität oder die jeweilige gesellschaftliche Rolle unzweideutig nicht als Ausdruck des freien Willens der abgebildeten Person(en), sondern vielmehr als aufgezwungen dargestellt wird.886 Beinhaltet das Werbeszenario also etwa Elemente einer Vergewaltigung, bedeutet dies – jedenfalls bei unkritischer Wiedergabe – stets einen Verstoß gegen die Menschenwürde. Im Gegensatz hierzu ist die bloße Abbildung einer passiven Sexualrolle nicht menschenwürdeverachtend, solange diese keine Fremdbestimmtheit suggeriert.887
883 BVerfGE 45, 187, 228; ebenso BVerfGE 115, 118, 153; BVerfG NJW 2017, 611, 619; vgl. dazu Herdegen, in: Maunz/Dürig I, Art. 1 Abs. 1 Rn. 36. 884 Herdegen, in: Maunz/Dürig I, Art. 1 Abs. 1 Rn. 48; Hillgruber, in: BeckOK-GG, Art. 1 Rn. 11; Ladeur, in: Binder/Vesting, § 7 RStV Rn. 25b. 885 Etwa Herdegen, in: Maunz/Dürig I, Art. 1 Abs. 1 Rn. 85. 886 So wohl auch BGH GRUR 1995, 592, 594, dessen Subsumtion im konkreten Fall jedoch zweifelhaft ist, da auf den streitgegenständlichen Likörflaschenetiketten zwar anzügliche Bild-Schrift-Kombinationen („Busengrapscher“: Mann fasst lächelnder, ihm zugetaner Frau von hinten an die Brüste, „Schlüpferstürmer“: nackte, sich räkelnde Frau mit Unterhose in den Kniekehlen), jedoch eben keine Zwangssituationen zu sehen sind. Kritisch äußert sich hierzu auch Scherer, WRP 2007, 594, 601, die zudem mit der „Dolce&Gabbana“-Plakatwerbung, in der eine auf dem Rücken liegende junge Frau gezeigt wird, welche – beobachtet von mehreren anderen Männern – von einem sich über sie beugenden Mann an den Handgelenken auf den Boden gepresst wird, ein passendes Beispiel für sexuelle Gewalt verherrlichende menschenwürdeverachtende Werbung liefert. Vgl. zudem Völzmann, Geschlechterdiskriminierende Werbung, 157. 887 Scherer, WRP 2007, 594, 601.
II Geplantes Verbot sexistischer Werbung
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Darüber hinaus kann sich ein Menschenwürdeverstoß auch beim Vorliegen einer (sonstigen) besonders schweren Erniedrigung bzw. Schmähung der Frau an sich ergeben. Auch hier sind die Hürden freilich sehr hoch. Nicht jede abfällige Werbeäußerung bedeutet zugleich einen Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG. Die Subjektsqualität von Frauen wäre aber sicherlich z. B. bei einem abschätzigen FrauTier-Vergleich infrage gestellt.888
bb)
Geschlechtsdiskriminierende Werbung i. S. v. Art. 3 Abs. 2 (und 3) GG
Ein Verstoß gegen die Menschenwürde kann, muss aber nicht mit einer Diskriminierung zusammenfallen.889 Neben der menschenwürdeverachtenden sexistischen Werbung gibt es also eine weitere Kategorie: die geschlechtsdiskriminierende Werbung i. S. v. Art. 3 Abs. 2 (und 3) GG. Dementsprechend gilt es, zu prüfen, wie weit das Förderungsgebot des Art. 3 Abs. 2 (und 3) GG reicht. Gemäß Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG darf der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern fördern und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirken. Sowohl das BVerfG als auch die Literatur fordern jedoch klare Belege für einen sich ergebenden Nachteil.890 Im konkreten Fall heißt dies, dass zwischen geschlechtsdiskriminierender Werbung i. S. d. § 7a UWG und tatsächlichen Nachteilen ein hinreichend konkreter Zusammenhang bestehen muss.891 Dabei ist allgemein anerkannt, dass die bloße Bedienung von Geschlechterrollenklischees und die bloße Abbildung „nackter Haut“ nicht unmittelbar mit tatsächlichen Diskriminierungen zusammenhängen.892 Denn derlei Werbung kann zum einen häufig verschieden interpretiert werden: nicht nur als Ausdruck einer unterlegenen, dem Manne dienenden und zur Verfügung stehenden Frau, sondern auch und gerade als Ausdruck des freien Willens von Frauen oder als eine Form der weiblichen Emanzipation.893 Bei der Interpretation des Inhalts muss i. Ü. auch der Charakter der Werbung Beachtung finden. So ist z. B. eine komödienhafte
888 Vgl. BVerfGE 75, 369. 889 BGH GRUR 1995, 592, 594; Ladeur, in: Binder/Vesting, § 7 RStV Rn. 25c. 890 BVerfGE 97, 35, 44; Kischel, in: BeckOK-GG, Art. 3 Rn. 187; Richter, NVwZ 2005, 636, 640 f. 891 Völzmann, Geschlechterdiskriminierende Werbung, 139. 892 Döpkens, in: Spindler/Schuster, § 7 RStV Rn. 18; Kischel, in: BeckOK-GG, Art. 3 Rn. 187; Ladeur, in: Binder/Vesting, § 7 RStV Rn. 25c. 893 Siehe § 3 IV. 3.; so auch: Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Rechtliche Zulässigkeit und Verbotsmöglichkeiten für sexistische Werbung, https://www.bundestag.de/ blob/426952/eab9fe64163c3f2c8db227df2ce63b22/wd-10-028-16-pdf-data.pdf. 189
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§ 11 Rechtfertigung im Besonderen
Darstellung im Gegensatz zu einer ernsten Darbietung nicht für bare Münze zu nehmen.894 Zum anderen ist fraglich, ob die diskriminierenden Reaktionen der Männer auf solchen Werbeinhalten oder nicht vielmehr auf deren Erziehung und/ oder kulturellem Hintergrund fußen. Welche Werbeinhalte – neben solchen, die auch die Menschenwürde tangieren – dann hinreichende Gewähr für einen unmittelbaren Zusammenhang mit einer tatsächlichen Geschlechtsdiskriminierung bieten, bleibt vielfach offen.895 Döpkens wird hingegen konkreter, indem er für § 7 Abs. 1 Nr. 2 RStV, der sich ebenfalls als einfachgesetzliche Konkretisierung von Art. 3 Abs. 2 (und 3) GG versteht, ferner „jedenfalls ein Element der Verächtlichmachung“896 fordert. Dies zugrunde gelegt betrifft der zusätzlich durch Art. 3 Abs. 2 (und 3) GG eröffnete Spielraum des Gesetzgebers einen denkbar schmalen Korridor: Vom Verbot dürfen also auch solche geschlechterrollenbezogene Verächtlichmachungen erfasst sein, die zwar graduell nicht das Ausmaß einer menschenverachtenden Äußerung annehmen, aber dennoch gewichtig genug sind, um einen Unmittelbarkeitszusammenhang zu Nachteilen i. S. v. Art. 3 Abs. 2 (und 3) GG zu begründen. Dies ist letztlich eine Frage des konkreten Einzelfalles.
cc)
Sonstige „geschlechtsdiskriminierende“ Werbung
„Geschlechtsdiskriminierende“ Werbeinhalte, die sich unterhalb dieser Schwelle befinden, mögen teils die Grenzen des guten Geschmacks verletzen, können jedoch nicht verboten werden. Der Gesetzgeber hat diesbezüglich keine verfassungsrechtliche Größe auf seiner Seite, welche den Eingriff in die Meinungsfreiheit zu rechtfertigen vermag. Letztlich ist hier der Markt gefordert, ggf. regulierend einzugreifen.
dd) Ergebnis Der infrage stehende § 7a UWG bedürfte also einer dahingehenden Auslegung, dass zusätzlich zu den niedergelegten Tatbestandsmerkmalen eine Form von Zwang oder ein gewisses Maß an Verächtlichmachung für die Annahme einer Geschlechtsdiskriminierung erforderlich ist. Nur dann wäre die Regelung angemessen.
e) Ergebnis Der Gesetzentwurf kann nur in der eben genannten Lesart als verhältnismäßig eingestuft werden. 894 Ladeur, in: Binder/Vesting, § 7 RStV Rn. 25c. 895 Kischel, in: BeckOK-GG, Art. 3 Rn. 187; Ladeur, in: Binder/Vesting, § 7 RStV Rn. 25c. 896 Döpkens, in: Spindler/Schuster, § 7 RStV Rn. 18.
II Geplantes Verbot sexistischer Werbung
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3 Ergebnis Der seit jeher geltende Werbegrundsatz „Sex sells“ hat – in einem bestimmten Rahmen – weiterhin Bestand. Eine bloße Darstellung von Geschlechterrollenstereotypen in der Werbung, so wie es der Gesetzentwurf zunächst nahe legt („Geschlechtsrollenstereotype in Form von Bildern oder Texten“, „Menschen aufgrund ihres Geschlechts Eigenschaften, Fähigkeiten und soziale Rollen in Familie und Beruf zuordnet“, „weibliche Körper oder Körperteile ohne Produktbezug als Blickfang eingesetzt“), kann vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheit nicht untersagt werden. Der mit einem § 7a UWG verbundene Eingriff wäre daher nur nach einer verfassungskonformen Auslegung gerechtfertigt.
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Vierter Teil Ergebnisse
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Schlussbetrachtung § 12 Schlussbetrachtung
§ 12
I Zusammenfassung I Zusammenfassung
1
Stand in Rechtsprechung und Literatur
• Aktuell ist gesichert, dass nach dem BVerfG zumindest pressetextliche und literarische Anpreisungen sowie Wirtschaftswerbung mit evident gesellschaftskritisch bzw. politisch meinungsbildendem Inhalt in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fallen. Offensichtlich scheint es zudem wahre, produktbzw. dienstleistungsbezogene Tatsachenangaben, wie z. B. die Mitteilung von CO2-Werten eines PKWs oder von Öffnungszeiten oder der bloße Hinweis auf die Existenz eines Unternehmens bzw. Produktes, nicht an Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG zu messen. Hinsichtlich (vermeintlich) unpolitischer, produkt- bzw. dienstleistungsbezogener Wertungen zeigt sich die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung hingegen ambivalent. • Die (heute) herrschende Lehre geht von einer recht weitgehenden Einbeziehung wirtschaftswerblicher Inhalte in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit aus. So bescheinigt die überwiegende Zahl der Autoren auch produkt- bzw. dienstleistungsbezogenen Tatsachenangaben sowie (vermeintlich) unpolitischen Werturteilen die Meinungseigenschaft. Unter den Befürwortern besteht vornehmlich Uneinigkeit über die Schutzwürdigkeit von reinen Markenzeichenangaben und Erinnerungswerbung. Zudem werden Zweifel an der Protektionsdignität von akzidentieller Werbung der Einzelhändler, Schleichwerbung und Product Placement geäußert. • Es gibt jedoch nach wie vor Stimmen, die sich generell gegen eine meinungsfreiheitliche Unterschutzstellung von wirtschaftswerblichen Inhalten aussprechen. Als Begründung führen sie etwa an, die Wirtschaftswerbung evoziere keine „geistige Auseinandersetzung“. Zudem sei diese generell im Bereich des
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Arnold, Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4_12
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§ 12 Schlussbetrachtung
wirtschaftlichen Handelns zu verorten. Auch die historische Auslegung spreche gegen eine Unterschutzstellung.
2
Meinungspotential von Wirtschaftswerbung
• Der werbliche Grundgehalt hat potentielle Meinungsqualität: Der Hinweis auf ein bestimmtes Produkt/eine bestimmte Dienstleistung und/oder den Produzenten/Dienstleister enthält eine wahre Tatsachenbehauptung, welche fernerhin Voraussetzung zur Meinungsbildung ist. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Tatsachenschutz im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 S.1, 1. Alt. GG ernstgenommen kann der werbliche Grundgehalt allein deswegen in den Schutzbereich fallen. Zudem gilt es, Folgendes zu beachten: Indem das werbende Unternehmen zum Erwerb seiner Produkte bzw. zur Inanspruchnahme seiner Dienstleistungen animiert, bewertet es diese zum einen konkludent als „kaufens- bzw. auftragswert“. Zum anderen geht damit zumindest dann, wenn sich die Werbeaussage auf den Grundgehalt beschränkt, unweigerlich – sozusagen als notwendiger Zwischenschritt – auch die Aufforderung, weitere Produktrecherchen anzustellen, einher, die wiederum eine versteckte Bewertung als „nachforschenswert“ enthält. • Die den Grundgehalt flankierenden informativen Zusätze haben ebenso potentiellen Meinungscharakter: Zum einen beherbergen sie eine Fülle an Werturteilen, die ihren Ausdruck regelmäßig in einer direkten oder indirekten positiv-adjektivischen Umschreibung in Wort, Schrift und/oder (Bewegt-)Bild finden. Besonders beliebt ist dabei die Verwendung von Komparativen und Superlativen, so dass auch vergleichender Werbung das Privileg des Schutzes der Meinungsfreiheit zukommen kann. In diesem Zusammenhang spielen auch Abwertungen eine gewichtige Rolle. Unternehmen setzen bisweilen ihre Mitbewerber und deren Produkte herab, um sich und die eigenen Produkte zu erhöhen. Solche werblichen Praktiken fallen selbst dann in den Schutzbereich, wenn sie einen beleidigenden oder gar schmähkritisierenden Anstrich haben. Zugleich lässt sich aber auch eine große Menge an Tatsachenmitteilungen finden, die bestimmte produkt- bzw. produzentenbezogene Eigenschaften i. w. S. enthalten. Dementsprechend wird der Werbeadressat beispielsweise über besondere Inhaltsstoffe, Verwendungsmöglichkeiten, Testergebnisse oder schlicht den Preis und die Öffnungszeiten informiert. Dabei ermöglichen nicht nur die einzelnen Tatsachenbehauptungen für sich genommen eine Wertung – so lassen beispielsweise Preisangaben Vergleiche mit den Angeboten der Mitbewerber sowie Rückschlüsse über die Qualität der Produkte bzw. der Dienstleistungen zu –, sondern wirkt bereits auch deren Auswahl meinungsbildend. Schließlich
I Zusammenfassung
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wird der Werbende i. a. R. nur solche Eigenschaften anführen, die ihn oder sein Produkt in ein positives Licht rücken. Die Werbelüge ist – entsprechend der Dogmatik des BVerfG zum Tatsachenschutz – von der Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Jedoch muss in gewissen Grenzfällen genau analysiert werden, ob der Werbende bewusst wider besseres Wissen gehandelt hat bzw. was er wenigstens hätte wissen müssen. Dabei gelten die allgemeinen Kriterien. Dies hat zur Folge, dass insbesondere an den werbenden Hersteller erhöhte Sorgfaltsanforderungen zu stellen sind, da die Fabrikation des Produkts in seiner Herrschaftssphäre erfolgt und für ihn Nachprüfungen aufgrund dessen im Allgemeinen leichter durchzuführen sind. Insgesamt dürfen aber die Anforderungen auch für den Produzenten nicht so hoch sein, dass der Zweck der Meinungsfreiheit darunter leidet. Dies betrifft vor allem Fragen der wissenschaftlichen Beweisbarkeit. Dagegen kann etwa der werbende Händler grundsätzlich – soweit es keine gegenteiligen Anhaltspunkte gibt – auf die Herstellerangaben vertrauen, da er einen wesentlich erhöhten Nachforschungsaufwand betreiben müsste. Auch die Pflicht zum Abdruck erkennbar staatlicher Warnhinweise kann den Schutzbereich betreffen, da die negative Meinungsfreiheit – spiegelbildlich zur positiven Gewährleistung – vor der Pflicht schützt, eine fremde Meinung als fremde verbreiten zu müssen. Die Gefühlsgerichtetheit suggestiv vermittelter Zusätze darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese gleichfalls als Transportmittel von Werturteilen dienen. So wird etwa das Rauchen bestimmter Zigaretten, das Tragen einer bestimmten Jeans oder das Fahren eines bestimmten Autos durch das Aufladen der Produkte mit einem gewissen Image oder das Kreieren von Leitbildern klandestin als schick, kommunikativ, rebellisch, freiheits- oder charakterstiftend bewertet. In diesem Zusammenhang spielt auch das Instrument des Imagetransfers eine bedeutende Rolle. So wird häufig die Sympathie zu bekannten Persönlichkeiten, wie zu Schauspielern oder Sportlern, genutzt, um deren positive Eigenschaften mittels entsprechender Inszenierung auf das jeweilige Produkt zu projizieren. Die bloße Abbildung von Marken- und Namenszeichen (einfache Plakatfälle) hat im Werbeumfeld einen schutzessentiellen eigenen Aussagegehalt. Dieser wird sich zwar nicht selten auf den (für den Schutz durch Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG vollkommen ausreichenden) werblichen Grundinhalt und dessen Meinungswert beschränken, kann aber aufgrund der kreativen Zeichengestaltung oder aufschlussreicher Namensgebung sogar zusätzlich informative und suggestive Wertungselemente in sich bergen. Für die Möglichkeit der Einbeziehung solcher Darstellungen in den Schutzbereich von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG spricht 197
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§ 12 Schlussbetrachtung
zudem ein Vergleich zu Parteisymbolen oder -kürzeln, denen durchgängig Meinungsqualität bescheinigt wird. Die Platzierung von Markennamen und -zeichen z. B. auf Werbeplakaten im Hintergrund von Filmen, Serien oder Sendungen unterscheidet sich vom Sponsoring hauptsächlich im Grad der Suggestivität. Inhaltlich sind beide Werbeformen weitgehend deckungsgleich. So geht es bei dieser Form des Product Placements ebenfalls um die wertende Unterstützung eines Projekts sowie um die Zurschaustellung von Markenzeichen und -namen und die damit getätigten Imagetransfers. Product Placement durch den dramaturgischen Einbau von Produkten ist hingegen weitestgehend vergleichbar mit stark suggestiven klassischen Werbespots. Auch hier spielen insbesondere Imagetransfers eine gewichtige Rolle – nicht nur wegen der wertenden Unterstützung mit Blick auf das Projekt insgesamt, sondern zugleich hinsichtlich der konkreten das Produkt benutzenden Figur. Indes werden zum Teil aber ebenso informative Inhalte vermittelt – beispielsweise durch das Aufzeigen bestimmter Eigenschaften. Bezüglich der mit dem Product Placement verwandten Schleichwerbung (Auch diese transportiert – trotz des fehlenden Werbeumfeldes – eine Aussage in Form des werblichen Grundgehalts, da in der Lieferung des Kaufgrundes auch immer eine gewisse Empfehlung steckt.) gilt Entsprechendes. Allerdings bleibt die Unterstützung des Projekts mangels Kennzeichnung im Verborgenen. Dementsprechend kommen die hierauf aufbauenden Wertungselemente bei getarnter Werbung nicht zum Tragen. Die Kategorien der Einführungs-, Erhaltungs-, Erinnerungs- und Expansionswerbung stellen lediglich Ausprägungen einer gemeinsamen Zielsetzung dar. Eine inhaltliche Unterscheidungskraft kommt ihnen folglich gar nicht zu. So können zur Einführung und zur Erinnerung auch inhaltlich identische Anzeigen geschaltet werden. Die landläufige Gleichsetzung von Erinnerungswerbung mit der Präsentation bloßer Marken- und Warenzeichen ist also nicht in jedem Fall zutreffend. Davon unabhängig ist auch die daran anknüpfende These, dass derartige Zeichen und Symbole keinen Meinungsgehalt haben, – wie bereits erläutert – nicht haltbar. Darüber hinaus kommt auch der Gesamtheit aller wirtschaftswerblichen Akte ein eigenständiger Meinungswert zu (Markttransparenz). Damit ein bewertbares, aussagekräftiges und vollständiges Gesamtbild gewiss entstehen kann, muss jedes einzelne Puzzleteil als potentiell schützenswert angesehen werden. Auf subjektive Elemente, wie einer inneren Überzeugung, kann es nicht ankommen, weil sie sich jeglicher Überprüfbarkeit entziehen. Eine Abschichtung nach der Wahrhaftigkeit von Meinungskundgaben käme einer unzulässigen Motivforschung gleich. Hinzu kommt, dass der Vorwurf der fehlenden Wahr-
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haftigkeit von Werbeaussagen rein tatsächlich nicht gerechtfertigt ist. Man kann dem Werbenden die Überzeugung von dem beworbenen Produkt/der beworbenen Dienstleistung sowie seiner Botschaft nicht pauschal absprechen. Dies gilt auch für akzidentielle Werbung von Einzelhändlern. • Der mit Wirtschaftswerbung verbundene Manipulationsvorwurf basiert letztendlich auf der Verwechslung von suggestiv geschickt vermittelten Inhalten mit Manipulation und verkennt eindrucksvoll, dass werbungsvorgegebene Bedürfnisse im Verbraucher nie durch die Werbung geweckt, sondern einzig zu einem Bedarf konkretisiert werden können. Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der „geistigen Auseinandersetzung“ führt somit lediglich zum Schutzbereichsausschluss von (total-)subliminaler „Werbung“. Dieser gehirnwäscheähnlicher Auswuchs hat – die Wirksamkeit unterstellt – aufgrund seiner Unterschwelligkeit manipulativen Zwangscharakter, stellt deshalb aber auch keine Werbung i. S. d. Definition dar. • Neben den Werbetreibenden könnten sich auch die beteiligten Werbeagenturen auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen. Presse- und Rundfunkschaffende sind hingegen nach der Rechtsprechung des BVerfG als Werbungsdurchführende allein durch die jeweilige Medienfreiheit geschützt. Für die Werbeadressaten ist lediglich der Schutzbereich der Informationsfreiheit eröffnet.
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Ausschluss der Wirtschaftswerbung aus dem Schutzbereich wegen politischer Attitüde der Meinungsfreiheit
• Die offensichtliche Verwandtschaft zu Art. 118 WRV, welcher nur politische Botschaften i. e. S. erfasste, sowie der Umstand, dass die Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG über einen langen Zeitraum politisch erkämpft wurde, wird zum Anlass genommen, sich gegen die (grundsätzliche) Einbeziehung von („unpolitischer“) Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich auszusprechen. • Eine Bestimmung kann jedoch sowohl in Anlehnung an die historischen Vorbilder als auch (teilweise) in bewusster Abkehr von den (nicht bewährten) Vorgängervorschriften geschaffen worden sein. Entscheidend ist also letztlich der objektivierte Wille der Mütter und Väter des GG, mithin primär die Frage nach dem im Wortlaut manifestierten Sinn und Zweck der Verfassungsbestimmung im Kontext des jeweiligen Zeitgeistes. • Die Aussage, dass mit dem Einbezug (des „unpolitischen“ Regelfalles) der Wirtschaftswerbung ein Verlust an Glaubwürdigkeit für die objektive Funktion der Meinungsfreiheit einherginge, ist unzutreffend. Unter der Fahne der 199
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Demokratie – konträr zum neutralen Wortlaut – die Engführung des Schutzbereichs vorantreiben zu wollen, führt vielmehr unweigerlich ebengerade zum Untergang derselben. Gegen die Verkürzung spricht nämlich nicht nur die subjektive Komponente des Grundrechts, wonach der Grundrechtsträger autonom darüber entscheiden kann, was für ihn relevant ist, sondern auch das Faktum, dass sich ein privates Thema ohne Weiteres zum öffentlichen Thema wandeln kann und umgekehrt. • Politische Propaganda und Wirtschaftswerbung ähneln sich stark. Die Übergänge sind fließend, da zum einen politische Wahlkampfwerbung vielfach eine ökonomische Note aufweist. Zum anderen hat neben der politisch-gesellschaftskritischen Wirtschaftswerbung auch der Regelfall der Wirtschaftswerbung stets eine politische Seite. • Vor dem Hintergrund der „Gegenstandsfreiheit“ und gleichfalls wegen des Differenzierungsverbots zwischen wertvollen und wertlosen Meinungen kann es ferner nicht darauf ankommen, zu welchem Zweck eine Meinungskundgabe erfolgt. So schließen nach dem BVerfG auch privat-kommerzielle Interessen den Grundrechtsschutz durch Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG nicht aus. • Beim Konterpart der Wirtschaftswerbung, mithin bei der Gewerbekritik und den Boykottaufrufen, nimmt das BVerfG seine Dogmatik der „Zweck- und Gegenstandfreiheit“ ernst. Beide Kategorien sind jedoch integrale Bestandteile ein und derselben meinungsbildenden Debatte.
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Systematische Erwägungen zur Einbeziehung von Wirtschaftswerbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit
• Die These, wirtschaftswerbliche Aussagen seien allein den sachnäheren bzw. spezielleren Wirtschaftsgrundrechten der Berufs- und Eigentumsfreiheit zuordnen, verkennt die Wesensverschiedenheit von Wirtschafts- und Kommunikationsgrundrechten. Erstere zielen nämlich im Gegensatz zu letzteren nicht auf den Schutz von menschlichem Meinungsaustausch sowie dessen Modalitäten ab. Deshalb kommen Spezialitätsverhältnisse hinsichtlich bestimmter Meinungen auch nur unter Kommunikationsgrundrechten in Betracht. • Die Behauptung, der erweiterte Schutz der Wirtschaftswerbung durch Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 S. 1 und 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG bringe die Gefahr einer Schrankenkumulierung mit sich, welche eine Einebnung des Grundrechtsschutzes auf niedriger Stufe zur Folge habe, ist schon allein deshalb unzutreffend, weil die Schranken der Art. 12 Abs. 1 S. 2 und 14 Abs. 1 S. 2 GG (einfache Gesetzesvorbe-
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halte) viel weitere Eingriffsmöglichkeiten eröffnen als die der Meinungsfreiheit (qualifizierter Gesetzesvorbehalt des Art. 5 Abs. 2 GG). • Von den Schutzbereichen der Presse- und Rundfunkfreiheit ist auch die Wirtschaftswerbung erfasst. Die vom BVerfG vorgebrachten Erwägungsgründe sind jedoch erkennbar auf das Institut der freien Presse bzw. auf das Institut eines freien Rundfunks zugeschnitten (Finanziersrolle und Kommunikationsaufgabe) und lassen keine inhaltlichen Rückschlüsse auf den Schutz der Wirtschaftswerbung durch die Meinungsfreiheit zu. • Die Einbeziehung der Werbung in den Wirkbereich der Kunstfreiheit wegen ihrer kommunikativen Hilfsfunktion kann ebenso wenig wie die gerade genannten medienspezifischen Aspekte für eine inhaltliche Bewertungen fruchtbar gemacht werden.
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Meinungsfreiheitlicher Schutz der Wirtschaftswerbung in den USA und auf europäischer Ebene
• Der 1. Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika erfasst rein kommerzielle Werbung. Dies hat der US-Supreme Court in Abkehr zu seiner früheren sog. commercial speech-Dokrin in der Rechtssache „Virginia State Board of Pharmacy v. Virginia Citizens Consumer Council“ verbindlich festgehalten. • Wie der EGMR in seinem Leading Case „Casado Coca v. Spanien“ festgestellt hat, schützt auch Art. 10 EMRK Werbeankündigungen – selbst dann, wenn sie lediglich Namen, Beruf, Adresse und Telefonnummer des Werbenden enthalten. Die Abbildung reiner Markenzeichen sei – so der EGMR in späteren Entscheidungen – ebenso schutzwürdig. • Die EMRK hat innerstaatlich lediglich den Rang eines Bundesgesetzes. Das BVerfG betont jedoch, dass zur Vermeidung von Diskrepanzen die deutschen Grundrechte konventionskonform ausgelegt werden sollen. Die EMRK muss angemessen – d. h. nicht schematisch streng – Berücksichtigung finden. • Die Transferklausel des Art. 52 Abs. 3 GRCh bestimmt, dass Rechte der Charta, welche den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite haben und vom Schutzniveau nicht hinter die Konvention zurückfallen dürfen. Die Meinungsfreiheit des Art. 11 GRCh wird demnach weitestgehend so ausgelegt wie die des Art. 10 EMRK. • Das Verhältnis der GRCh zu nationalen Grundrechten ist umstritten. Fraglich ist, wie weit der in Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh geregelte Anwendungsbereich der Charta reicht. EuGH und BVerfG sind sich zwar einig, dass im Fall zwingender 201
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unionsrechtlicher Vorgaben aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts kein Platz für nationale Grundrechte verbleibt. Bestehen jedoch mitgliedstaatliche Umsetzungsspielräume, gehen die Meinungen auseinander: Nach dem BVerfG finden in diesen autonomen Bereichen allein die Grundrechte des GG Anwendung. Laut EuGH-Rechtsprechung ist auch auf diesen Feldern der Anwendungsvorrang der GRCh zu beachten. So oder so: Ein Zwang zu dogmatischer Kohärenz existiert nicht. Nichtsdestotrotz wäre ein Gleichlauf wünschenswert.
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Beschränkungen der Wirtschaftswerbung als Eingriffe in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit
• Jegliche Werbeverbote und mittelbaren Werbebeeinträchtigungen sind geeignet, in die Meinungsfreiheit des GG einzugreifen. Es können jedoch nicht nur Ver- sondern auch Gebote Eingriffe darstellen. Demnach haben Hinweis- und Warnpflichten gleichfalls potentiellen Eingriffscharakter. • Da nicht nur Inhalte, sondern auch Äußerungsmodalitäten den Schutz des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG genießen, können Eingriffe auch vorliegen, wenn sich Beschränkungen allein auf die Form, den Zeitpunkt, die Umstände oder den Ort einer Werbeaussage beziehen. • Trotzdem ist nicht jede Werberestriktion automatisch mit einem Eingriff in Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG gleichzusetzen, weil das Werberegime der EU den Anwendungsbereich der Grundrechte des GG stark einengt. Die Normen des UWG (determiniert durch die UGP-RL, die WerbeRL und die VorratsdatenspeicherungsRL), zur Sicherung der Meinungsvielfalt im Medienbereich (vorbestimmt durch die AVMD-RL) und im Sektor des produktspezifischen Gesundheitsschutzes (unmittelbar geregelt in der Health-Claim-VO, determiniert durch den GK Humanarzneimittel, die TabakRL und die TabakwerbungRL) haben infolgedessen regelmäßig keine entsprechende Eingriffsqualität. Insbesondere auf den Gebieten des Jugendschutzes, der freien Berufe, des Persönlichkeitsrechtsschutzes von Nichtmitbewerbern sowie des Straßen-, Straßenverkehrs- und Baurechts ist die Meinungsfreiheit des GG hingegen nach wie vor von großer Relevanz.
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Rechtfertigung im Allgemeinen
• Jede der oben genannten, aktuell geltenden Werbenormen, denen Eingriffsqualität in Bezug auf die Meinungsfreiheit des GG zukommt, erfüllt die Anforderungen an die „Allgemeinheit“ des Art. 5 Abs. 2 GG.
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• Bei der Frage, ob Wirtschaftswerbevorschriften geeignet sind, ihren Zweck zu erreichen, kommt dem Gesetzgeber i. a. R. eine Einschätzungsprärogative zu, da der exakte Zusammenhang zwischen Werbung und Konsumverhalten nach wie vor nicht wissenschaftlich erschlossen ist. • Als mildere Mittel im Vergleich zu einem Werbeverbot kommen vornehmlich Kennzeichnungs- und Aufklärungspflichten in Betracht. Bei der Einschätzung, ob diese gleich geeignet sind, ist das vom Gesetzgeber zugrunde zu legende anthropologische Leitbild von entscheidender Bedeutung. Der BGH geht in Übereinstimmung mit dem EuGH im Allgemeinen von durchschnittlich informierten und verständigen Durchschnittsverbrauchern aus. Dies entspricht letztlich dem Leitbild des GG, das einen selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Menschen voraussetzt. • Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung ist eine konkrete Abwägung vorzunehmen. Hierbei gilt es, zu beachten, dass die Vermutungsregel „für die freie Rede“ häufig auch für die Wirtschaftswerbung greift. Zudem muss zwischen drei Eingriffsarten verschiedenen Ausmaßes differenziert werden: Zum einen existieren Vorschriften, welche die Werbemodalitäten, also die Art und Weise, den zeitlichen oder örtlichen Rahmen, beschränken. Derartige Beschränkungen sind meist nicht sonderlich intensiv, da sie i. d. R. den Meinungsaustausch nicht restlos behindern. Des Weiteren gibt es Regelungen, die Werbung inhaltlich restringieren. Diese hemmen die Verbreitung gewisser Meinungen meist durchgängig und unterliegen somit deutlich höheren Rechtfertigungs-anforderungen als Normen über die Werbemodalitäten. Am intensivsten sind stets totale Werbeverbote, da durch diese jede werbliche Kommunikation mit den Marktbeteiligten vereitelt wird. Wahre werbliche Tatsachenäußerungen sind i. a. R. hinzunehmen – auch dann, wenn sie für einen eventuell Betroffenen nachteilig bzw. geschäftsschädigend sind. Die Äußerung eines polemischen, überspitzten oder satirischen Werturteils mit Negativ-Wirkungen für andere kann ebenso durchaus gerechtfertigt sein. Die Grenze des Hinnehmbaren ist jedenfalls dann überschritten, sobald eine Werbung schmähkritisierenden Charakter hat.
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Rechtfertigung im Besonderen – Schlaglichter
• Außen- und Kinowerbeverbote für Tabakerzeugnisse würden im Verbund mit den bereits bestehenden partiellen Werbeverboten eine sehr hohe Eingriffsintensität mit Blick auf die Meinungsfreiheit aufweisen. Auf der anderen Seite sind die durch den Tabakkonsum entstehenden erheblichen Gefahren für die Rechtsgüter des Lebens und der Gesundheit nicht von der Hand zu weisen. Diese Pattsituation 203
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gilt es, durch die Vermutungsregel „im Zweifel für die freie Rede“ aufzulösen. Die geplanten Werbebestimmungen stellten letztlich – bildlich gesprochen – die „Tropfen dar, welche das meinungsfreiheitliche Fass zum überlaufen brächten“, und wären folglich nicht mit Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG zu vereinbaren. • Die bloße Darstellung von Geschlechterrollenstereotypen in der Werbung kann vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheit nicht untersagt werden. In Ansehung von Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 2 (und 3) GG können jedoch geschlechtsdiskriminierende Werbemaßnahmen verboten werden, sofern sie eine Zwangssituation oder ein gewisses Maß an Verächtlichmachung beinhalten.
II Fazit II Fazit
Mit Ausnahme erwiesenermaßen oder bewusst unwahrer Werbeäußerungen fällt jede wirtschaftswerbliche Kundgabe in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs.1 S. 1, 1. Alt. GG. Diese Kernaussage der Arbeit fußt zum einen auf dem Umstand, dass Wirtschaftswerbung eine eminent meinungsrelevante Materie ist, sie mit anderen Worten eine Fülle an Werturteilen und meinungsbildenden Tatsachen enthält. Dies gilt, das hat die vorstehende Untersuchung gezeigt, selbst für einfache Plakatwerbung, Product Placement sowie Schleichwerbung. Zum anderen gründet sie sich darauf, dass keines der vorgebrachten Argumente gegen eine Unterschutzstellung Platz greift: So hat sich die Sorge, kommerzielle Anpreisungen seien manipulativ und evozierten deshalb keine „geistige Auseinandersetzung“, bei genauerer Betrachtung als unbegründet verwiesen – mit suggestiv geschickt vermittelten Inhalten ist keinerlei Zwang verbunden. Ferner hat sich gezeigt, dass es auf die Wahrhaftigkeit von Meinungsäußerungen nicht ankommen kann. Davon unabhängig wäre es ohnehin unzutreffend, Produzenten und Dienstleistern die innere Überzeugung von ihren Werbeaussagen bzw. Produkten und Dienstleistungen pauschal abzusprechen. Überdies entspringt die Reduzierung der Meinungsfreiheit auf (unmittelbar) politische Gehalte im Wesentlichen einer Überbetonung der historischen Wurzeln und verstößt gegen die „Zweck- und Gegenstandsfreiheit“ des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG. Die aus der vermeintlich politischen Attitüde gefolgerte Ausklammerung der Wirtschaftswerbung verkennt darüber hinaus deren enge Verwandtschaft zur politischen Propaganda. Aber auch die systematische Erwägung, kommerzielle Werbung sei aufgrund ihrer inhaltlichen Prägung exklusiv den Wirtschaftsgrundrechten zuzuordnen, überzeugt nicht; missachtet sie doch die Wesensverschiedenheit von Kommunikations- und Wirtschaftsgrundrechten. I. d. S. sollte das BVerfG endgültig Farbe bekennen und – in Übereinstimmung mit der
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Dogmatik des US-Supreme-Courts zum First Amendment, des EGMR zu Art. 10 EMRK und des EUGH zu Art. 11 GRCh – sämtliche Formen der Wirtschaftswerbung am Schutz der Meinungsfreiheit des GG teilhaben lassen. Nur so lässt sich eine umfassende meinungsfreiheitliche Rechtfertigungslast für werbebezogene Eingriffe schaffen. Die Karlsruher Verfassungsrichter haben mit der Entscheidung „Therapeutische Äquivalenz“ den Weg geebnet, welchen es nunmehr konsequent zu Ende zu gehen gilt. Obschon sämtliche Werbebeschränkungen geeignet sind, Eingriffe in Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG darzustellen, kommt letztendlich nur einem Bruchteil des bestehenden Werberegimes eine derartige Eingriffsqualität zu. Grund hierfür sind die vielen zwingenden europarechtlichen Werbevorschriften, welche dafür Sorge tragen, dass Art. 11 GRCh auf Kosten von Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG an Bedeutung gewinnt. Die Erosion des meinungsfreiheitlichen Schutzes der Wirtschaftswerbung durch das GG erfolgt mithin nicht durch unsachgemäße Schutzbereichsverengungen, sondern vielmehr durch das stetig expandierende Europarecht. Auch wenn sich diese Erkenntnis in der Praxis immer mehr verfestigt, lassen sich nach wie vor Unsicherheiten und Defizite ausmachen. Dementsprechend versteht sich diese Arbeit nicht nur als Plädoyer für eine vollumfängliche Unterschutzstellung kommerzieller Werbung, sondern auch als Beitrag zur Sensibilisierung für den begrenzten Anwendungsbereich der Meinungsfreiheit des GG im wirtschaftswerblichen Sektor. Diejenigen Werberegelungen, welche mangels europarechtlicher Determinierung Eingriffscharakter in Bezug auf Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG haben, sind indes allesamt „allgemein“ i. S. v. Art. 5 Abs. 2 GG und somit im Grundsatz als taugliche Schranken anzusehen. Im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit ließen sich verschiedene Leitlinien ausfindig machen. Vor allem aber kristallisierte sich heraus, dass die Vermutungsregel „für die freie Rede“ regelmäßig auch bei wirtschaftswerblichen Äußerungen greift. Dieser Umstand führt mitnichten zu einem „Persilschein“ für Werbende. Die Anforderungen an Werbebeschränkungen werden damit zwar erhöht, sind hingegen nicht unüberwindbar. Zudem hat sich offenbart, dass es einen erheblichen Unterschied macht, ob man inhaltliche Werbebeschränkungen allein an Art. 12 Abs. 1 GG oder zusätzlich an Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG misst. Der Hintergrund ist folgender: Wirtschaftswerbung ist gemessen an der gesamten beruflichen Tätigkeit meist nur von randständiger Natur. Inhaltliche Verbote stellen demzufolge mit Blick auf die Berufsfreiheit bloße Berufsausübungsregeln dar, betreffen allerdings ob ihrer Inhaltsgerichtetheit den Kern der Meinungsfreiheit.
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Thesen Thesen Thesen
▶▶ Mit Ausnahme erwiesenermaßen oder bewusst unwahrer Werbeäußerungen ist jede wirtschaftswerbliche Kundgabe geeignet, in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit des Art. 5 Abs.1 S. 1, 1. Alt. GG zu fallen. Dies gilt auch für einfache Plakatfälle, Product Placement, Schleichwerbung und akzidentielle Werbung von Einzelhändlern. Die Verpflichtung zum Abdruck (erkennbar) staatlicher Warnhinweise betrifft die negative Meinungsfreiheit. ▶▶ Die Reduzierung der Meinungsfreiheit auf (unmittelbar) politische Gehalte basiert auf einer Überbetonung der historischen Auslegung und verstößt gegen die „Zweck- und Gegenstandsfreiheit“ des Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG. Der aus dem vermeintlich politischen Einschlag gefolgerte Schutzbereichsausschluss der Wirtschaftswerbung ist obendrein nicht mit deren Bezügen zur Politik in Einklang zu bringen. ▶▶ Es sind keine überzeugenden systematischen Argumente ersichtlich, die gegen einen Schutz der Wirtschaftswerbung durch die Meinungsfreiheit sprechen. Insbesondere verkennen diejenigen, die behaupten, kommerzielle Werbung sei aufgrund ihrer inhaltlichen Prägung exklusiv den Wirtschaftsgrundrechten zuzuordnen, die Wesensverschiedenheit von Kommunikations- und Wirtschaftsgrundrechten. ▶▶ Der Seitenblick auf die Dogmatik des US-Supreme Courts zum First Amendment sowie die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK und die Judikatur des EuGH zu Art. 11 GRCh sprechen tendenziell für einen vollumfänglichen Schutz kommerzieller Werbung durch Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG. ▶▶ Neben den Werbetreibenden können sich auch die beteiligten Werbeagenturen auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen. ▶▶ Sämtliche Werbebeschränkungen sind geeignet, Eingriffe in Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG darzustellen. Aufgrund des sich ausbreitenden zwingenden Europarechts im Werbesektor ist der Anwendungsbereich der Meinungsfreiheit des GG jedoch eingeengt. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Arnold, Wirtschaftswerbung und die Meinungsfreiheit des Grundgesetzes, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24790-4
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Thesen
▶▶ Jede Werbenorm, der Eingriffsqualität in Bezug auf die Meinungsfreiheit des GG zukommt, erfüllt die Anforderungen an die „Allgemeinheit“ des Art. 5 Abs. 2 GG. ▶▶ Als mildere Mittel im Vergleich zu einem Werbeverbot kommen vornehmlich Kennzeichnungs- und Aufklärungspflichten in Betracht. Hinsichtlich der Frage, ob diese gleich geeignet sind, kommt dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative zu, bei deren Ausübung er auf das Leitbild des durchschnittlich informierten, verständigen, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Durchschnittsverbrauchers abzustellen hat. ▶▶ Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung gilt es, zu beachten, dass die Vermutungsregel „für die freie Rede“ häufig auch für die Wirtschaftswerbung greift. Zudem muss zwischen Vorschriften, welche Werbemodalitäten beschränken, Regelungen, die Werbung inhaltlich restringieren, und totalen Werbeverboten aufgrund ihrer unterschiedlichen Eingriffsintensitäten differenziert werden. ▶▶ Die geplanten Außen- und Kinowerbeverbote für Tabakerzeugnisse sind in Kombination mit den bestehenden partiellen Werbeverboten mit Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. GG nicht zu vereinbaren. ▶▶ Die bloße Darstellung von Geschlechterrollenstereotypen in der Werbung kann vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheit des GG nicht untersagt werden.
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