Wahrnehmung – Persönlichkeit – Einstellungen

In den letzten Jahren hat die Verwendung psychologischer Theorien und Methoden in der Wahl- und Einstellungsforschung eine deutliche Verbreitung erfahren. Zentrale Fragen dieses Forschungsbereichs sind: Nutzen unterschiedliche Wählergruppen unterschiedliche Strategien der Informationsverarbeitung? Was kann die Nutzung unterschiedlicher Strategien erklären? Und welchen Einfluss haben unterschiedliche Wege der Informationswahrnehmung und -verarbeitung auf politische Einstellungen und Wahlentscheidungen? Der Band beschäftigt sich in acht Beiträgen unter anderem mit Wahrnehmungen politischer Akteure oder politischer Informationen, dem Einfluss der Persönlichkeit auf politische Einstellungen und politisches Verhalten, Bedrohungswahrnehmungen der Bürgerinnen und Bürger sowie mit Determinanten der Beurteilung politischer Akteure. Die Beiträge durchliefen vor der Annahme zur Publikation ein anonymes Peer Review-Verfahren.

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Wahlen und politische Einstellungen

Evelyn Bytzek · Markus Steinbrecher Ulrich Rosar Hrsg.

Wahrnehmung – Persönlichkeit – Einstellungen Psychologische Theorien und Methoden in der Wahl- und Einstellungsforschung

Wahlen und politische Einstellungen Reihe herausgegeben von E. Bytzek, Abteilung Politikwissenschaft, Universität Koblenz-Landau, Campus Landau, Landau, Deutschland M. Elff, Lehrstuhl für Politische Soziologie, Zeppelin Universität, Friedrichshafen, Deutschland H. Giebler, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin, Deutschland U. Rosar, Institut für Sozialwissenschaften, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland M. Steinbrecher, Forschungsbereich Militärsoziologie, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam, Deutschland

Wahlen sind ein zentrales Element aller Demokratien. Daher hat die Untersuchung des Wahlverhaltens der Bürgerinnen und Bürger und seiner Erklärungsfaktoren eine lange Tradition in der politikwissenschaftlichen Forschung, insbesondere in ihrem quantitativ-empirischen Zweig. Die Buchreihe „Wahlen und politische Einstellungen“, die vom Arbeitskreis „Wahlen und politische Einstellungen“ der DVPW herausgegeben wird, bietet ein Publikationsforum für die deutsche und internationale Wahl- und Einstellungsforschung, in dem unterschiedliche Richtungen gebündelt und aktuelle Forschungsergebnisse vorgestellt werden. Die Reihe steht sowohl „klassischen“ als auch interdisziplinären, vergleichenden sowie methodisch innovativen Arbeiten offen, um die Wahl- und Einstellungsforschung in ihrer gesamten Breite zu erfassen. Thematisch deckt die Reihe klassische Fragen der Politischen Soziologie bzw. der Wahlsoziologie, der Politischen Kommunikationsforschung, der Politischen Psychologie sowie der Politischen Ökonomie ab.

Weitere Bände in der Reihe https://www.springer.com/series/15639

Evelyn Bytzek · Markus Steinbrecher Ulrich Rosar (Hrsg.)

Wahrnehmung – Persönlichkeit – Einstellungen Psychologische Theorien und Methoden in der Wahl- und Einstellungsforschung

Herausgeber Evelyn Bytzek Abteilung Politikwissenschaft Universität Koblenz-Landau Campus Landau Landau, Deutschland

Ulrich Rosar Institut für Sozialwissenschaften Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Düsseldorf, Deutschland

Markus Steinbrecher Forschungsbereich Militärsoziologie Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Potsdam, Deutschland

Wahlen und politische Einstellungen ISBN 978-3-658-21215-5 ISBN 978-3-658-21216-2  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-21216-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

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In den letzten Jahren hat die Verwendung psychologischer Theorien und Methoden in der Wahl- und Einstellungsforschung eine deutliche Verbreitung erfahren. In gewisser Weise kann dies auch als ein „Back to the Roots“ verstanden werden. So wurde beispielsweise bereits in der berühmten Erie County-Studie von Lazarsfeld et al. (1948) die Wirkung des Informationskontexts auf die Wahlentscheidung untersucht. Und im sozialpsychologischen Ansatz von Campbell et al. (1960) spielen psychologische Prozesse wie die individuelle Einstellungsbildung eine wichtige Rolle. Trotz dieser Wurzeln fanden Neuerungen der psychologischen Forschung lange Zeit wenig Eingang in die Wahl- und Einstellungsforschung. In theoretischer Hinsicht dominierten lange aus den drei klassischen Modellen der Wahlentscheidung entliehene Erklärungsfaktoren, deren Kombination zu immer komplexeren Modellen der Wahlentscheidung führte (zum Beispiel in Miller und Shanks 1996, S. 192). Als Datenbasis wurden am häufigsten repräsentative Querschnittsbefragungen genutzt. Dies hat sich jedoch auch in der deutschen Wahlund Einstellungsforschung in den letzten zwei Jahrzehnten geändert. So kommen beispielsweise vermehrt experimentelle Forschungsdesigns, oft in Kombination mit Umfragestudien, zum Einsatz. Im Hinblick auf psychologische Theorien und Konzepte treten Einflüsse von Persönlichkeitsmerkmalen und Emotionen auf die Wahrnehmung und Verarbeitung von Informationen und damit letztlich politischen Einstellungen und Wahlentscheidungen in den Vordergrund. Wesentlich für diesen Cognitive Turn ist die Erkenntnis, dass dieselben Informationen von verschiedenen Wählerinnen und Wählern sehr unterschiedlich wahrgenommen und verarbeitet werden können, was wiederum zu unterschiedlichen Reaktionen auf diese Informationen führt (Steenbergen 2010, S. 14). Zentrale Fragen der Wahlund Einstellungsforschung, die psychologische Erkenntnisse einbezieht, sind daher: Nutzen unterschiedliche Wählergruppen unterschiedliche Strategien der

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Informationsverarbeitung? Und welchen Einfluss haben unterschiedliche Wege der Informationswahrnehmung und -verarbeitung auf politische Einstellungen und Wahlentscheidungen? Die Untersuchung dieser Fragen rückt das Individuum wieder stärker in den Vordergrund und zwar nicht nur mit Blick auf dessen politische Einstellungen, wie es bislang der Fall war, sondern auch hinsichtlich zunächst unpolitischer Persönlichkeitsmerkmale. Neben die bereits in früheren politikwissenschaftlichen Studien verwendeten Big Five sind in den letzten Jahren Konzepte wie Need for Cognition, Need for Affect und Need for Cognitive Closure getreten. Daher werden diese Konzepte zwischenzeitlich vermehrt durch etablierte Umfrageprogramme erfasst, wodurch sich neue Analysemöglichkeiten bieten. Darüber hinaus trägt die Wahl- und Einstellungsforschung inzwischen der Tatsache Rechnung, dass Politik keine rein rationale Angelegenheit ist, sondern auch Emotionen eine Rolle spielen. Selbst wenn nicht immer ganz klar ist, was unter Emotionen verstanden werden soll, stellt dies eine deutliche Erweiterung der Wahl- und Einstellungsforschung dar. Die Rolle von Emotionen in der Politik wird hierbei aus zwei Blickwinkeln untersucht: Erstens, welche Emotionen zeigen Politikerinnen und Politiker? Zweitens, wie wirken diese von den politischen Akteuren gezeigten Emotionen auf die Wählerinnen und Wählern? Darüber hinaus können auch politische Themen und deren Darstellung in den Medien Emotionen auslösen. Dies ist beispielsweise an der Frage des Umgangs mit Geflüchteten seit dem Jahr 2015 zu sehen, bei deren Bewertung Bedrohungswahrnehmungen eine wichtige Rolle zu spielen scheinen (z. B. Jungkunz et al. 2018). Emotionen sind folglich aus der Politik nicht wegzudenken, sodass deren Beachtung in der Wahlund Einstellungsforschung überfällig war. Die genannten psychologischen Faktoren lösen die bekannten und bewährten politischen Einstellungen als Faktoren zur Erklärung von Wahlverhalten allerdings nicht ab, sondern werden in der Regel als vorgelagert angesehen oder gelten als Moderatorvariablen für den Einfluss von Einstellungen. Eine weitere zentrale Frage ist folglich, welche Verbindungen sich zwischen politischen Einstellungen und psychologischen Faktoren konkret feststellen lassen. Aufgrund der raschen Entwicklung des Forschungsfelds der Politischen Psychologie veranstaltete der Arbeitskreis „Wahlen und politische Einstellungen“ der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) bereits 2008 in Duis­ burg eine Tagung zum Thema „Information – Wahrnehmung – Emotion: Die Bedeutung kognitiver und affektiver Prozesse für die Wahl- und Einstellungs­ forschung“. 2016 haben wir diesen Themenkomplex wieder aufgegriffen und eine Tagung zum Thema „Wahrnehmung – Persönlichkeit – Einstellungen: Psycho­ logische Theorien und Methoden in der Wahl- und Einstellungsforschung“ in

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Landau ausgerichtet. Ausgewählte Tagungsbeiträge sind nun in diesem Sammelband abgedruckt. Den Anfang machen Franz Urban Pappi, Anna-Sophie Kurella und Thomas Bräuninger mit ihrem Beitrag zum Grad der Übereinstimmung zwischen den Politikangeboten der Parteien und der Politiknachfrage der Wählerinnen und Wähler. Diese Übereinstimmung bietet den Wählerinnen und Wählern Kriterien für die Wahlentscheidung und gibt den Parteien Anhaltspunkte für ihren Wettbewerb um Wählerstimmen. Jedoch besteht bei den gebräuchlichen Messungen der Übereinstimmung die Gefahr von Urteilsverzerrungen: Befragte neigen dazu, die Position von wertgeschätzten Parteien als näher zur eigenen Position wahrzunehmen als diese ist, und die Distanz zu den anderen Parteien zu überschätzen. Daher wenden die Autorin und Autoren ein bayesianisches faktoranalytisches Messverfahren auf Umfragedaten der German Longitudinal Election Study (GLES) zur Bundestagswahl 2013 an, das aus den Angaben der Befragten zu den Parteipositionen „wahre“ Positionen berechnet. Julia Dupont, Evelyn Bytzek, Melanie C. Steffens und Frank M. Schneider untersuchen ebenfalls Wahrnehmungen von politischen Inhalten, gehen jedoch einen Schritt zurück und betrachten, welche Aussagen von den Wählerinnen und Wählern als Wahlversprechen wahrgenommen werden. Der Grund hierfür ist, dass die Kongruenz von in Wahlprogrammen gegebenen und tatsächlich zu Regierungszeiten umgesetzten Wahlversprechen im Langzeitvergleich und systemunabhängig hoch ausfällt, die Bevölkerung etablierter demokratischer Staaten dagegen mehrheitlich annimmt, dass Wahlversprechen in der Regel gebrochen werden. Diese Lücke wird u.a. darauf zurückgeführt, dass die menschliche Urteilsbildung motivational und kognitiv bedingten Verzerrungen unterliegt. Denkbar ist aber auch, dass die Evaluationen divergieren, weil sie auf unterschiedlichen Definitionen von Wahlversprechen basieren. Diesen unterschiedlichen Erklärungsmöglichkeiten gehen sie anhand einer experimentellen Untersuchung nach. Anja Mays und Steffen Kühnel hingegen verbinden einen bewährten Fak­ tor zur Erklärung der Wahlbeteiligungsabsicht, politische Involvierung, mit einem psychologischen Merkmal der Befragten, der Offenheit für Erfahrungen aus der bereits angesprochenen Big Five-Messung von Persönlichkeitsmerk­ malen. Hiermit erweitern sie die Forschung zur häufig geäußerten These, dass Persönlichkeitsmerkmale den politischen Einstellungen vorgelagert sind. Auf Basis von Daten des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP) 2005, 2009 und 2013 untersuchen sie, ob sich wechselseitige kausale Effekte zwischen politischer Involvierung und Offenheit für Erfahrungen feststellen lassen. Entgegen der oben genannten These stellen sie fest, dass sowohl Offenheit für Erfahrungen als auch

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politische Involvierung stabile Merkmale sind, die sich im Messzeitraum nicht systematisch ändern. Pascal Anstötz und Bettina Westle untersuchen vor dem Hintergrund anhaltender Migrationsbewegungen in die Europäische Union und dem Zulauf zu nationalkonservativen Parteien, welche Effekte relativ stabile Wertvorstellungen auf eher volatile Meinungen und Einstellungen gegenüber Immigration und Immigrationspolitik ausüben. Dabei nehmen sie an, dass internalisierte Wertvorstellungen Einstellungen gegenüber Immigration vorhersagen, aber auch, dass dieser Einfluss über weitere kausal verknüpfte Erklärungsfaktoren moderiert wird. Als Datenbasis für ihre Untersuchung dient die siebte Welle (2014/2015) des European Social Survey (ESS). Toni Alexander Ihme und Markus Tausendpfund gehen der Frage nach, warum Männer laut zahlreicher Studien über ein größeres politisches Wissen als Frauen verfügen. Hierbei testen sie einen neuen Erklärungsansatz, der situative Faktoren der Testsituation als erklärende Größe betont und als Stereotype Threat bezeichnet wird. Auf Basis einer Online-Befragung und eines Online-Experiments mit Studierenden belegen sie erstens die Existenz eines Stereotyps, welcher Frauen ein geringeres politisches Wissen zuschreibt als Männern. Zweitens können sie den Einfluss dieses Stereotyps auf die Leistungsfähigkeit bei einem politischen Wissenstest nachweisen, da bei der experimentellen Aktivierung des Stereotyps Frauen bei einem politischen Wissenstest signifikant schlechter abschneiden als Männer. Astrid de Souza untersucht den Effekt sozialer Kongruenz auf die Bewertung der Kanzler- und Spitzenkandidaten im Vorfeld der Bundestagswahl 2013. Mit sozialer Kongruenz ist die Übereinstimmung zwischen Politikerinnen und Politikern auf der einen Seite und Bürgerinnen und Bürgern auf der anderen Seite hinsichtlich verschiedener soziodemografischer Merkmale gemeint. Die Bewertung von Politikerinnen und Politikern sollte bei hoher sozialer Kongruenz besser ausfallen. Zur Untersuchung dieses Zusammenhangs wurden GLES-Daten zur Bundestagswahl 2013 und Daten aus dem Projekt „Wahlrelevantes politisches Wissen“ genutzt. Es zeigen sich signifikante Effekte sozialer Kongruenz auf die Politikerbewertung, die durch politisches Wissen und politisches Interesse moderiert werden. Sabrina J. Mayer betrachtet die in vielen Modellen der Wahlentscheidung enthaltene Parteiidentifikation und geht davon aus, dass eine Identifikation nicht nur zu einer Partei bestehen muss. Anhand von Umfragedaten der neunten Welle des GESIS-Panels kann sie zeigen, dass sowohl die Art mehrfacher Parteibindungen, d. h. innerhalb oder zwischen politischen Lagern, als auch die Stärkedifferenz der Bindungen die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Wahlintention und die

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Wahlwahrscheinlichkeit beeinflussen. So ist beispielsweise der Anteil derer, die auf die Frage nach der Wahlintention mit „Weiß nicht“ antworten, bei Anhängern mit gleichstarken Parteibindungen zwischen politischen Lagern signifikant höher als bei denjenigen, die nur einer Partei anhängen. Anna Halmburger, Tobias Rothmund, Anna Baumert und Jürgen Maier widmen sich in ihrer Untersuchung einem in der Wahlforschung eher randständigen politischen Faktor – politischem Vertrauen. Bislang wird politisches Vertrauen in der Regel eindimensional gemessen. Die Autorinnen und Autoren argumentieren, dass dies der Komplexität von Vertrauen nicht gerecht wird und schlagen daher eine dreidimensionale Messung von Vertrauen in Politikerinnen und Politiker vor. Die Dimensionen beziehen sich auf das wahrgenommene Wohlwollen, die Integrität und die Kompetenz von Politikerinnen und Politikern im Allgemeinen. Die vorgeschlagene Messung validieren sie anhand eigens dafür erhobener Daten, zusätzlich untersuchen sie den Effekt von politischem Vertrauen auf Wahlentscheidungen. Anhand dieser Kurzübersicht wird deutlich, dass die Beiträge einerseits unterschiedliche Aspekte psychologischer Theorien und Methoden in der Wahl- und Einstellungsforschung in den Fokus stellen, andererseits aber auch Gemeinsamkeiten aufweisen: So spielen Wahrnehmungen in einem Großteil der Beiträge eine zentrale Rolle – entweder in Form der Wahrnehmung politischer Positionen oder Akteure, in Form von Bedrohungswahrnehmungen oder der Wahrnehmung von Stereotypen. Die frühe Annahme, dass politische Informationen bei allen Wählerinnen und Wählern in gleicher Weise ankommen, wird folglich hinterfragt. Dies spiegelt sich auch darin wieder, dass in den meisten Beiträgen Effekte von Moderatorvariablen wie beispielsweise politischem Wissen oder Persönlichkeitsmerkmalen betrachtet werden. Eine weitere Gemeinsamkeit einiger Beiträge ist, dass etablierte Messungen politischer Einstellungen (hier: Nähe zu Parteien hinsichtlich politischer Positionen, Parteiidentifikation, politisches Vertrauen) vor dem Hintergrund psychologischer Erkenntnisse auf den Prüfstand gestellt und neue Messinstrumente vorgeschlagen werden. Als Datenbasis werden in den Beiträgen sowohl Umfragedaten als auch experimentelle Designs genutzt. Auch wenn in etlichen Fällen die Umfragedaten eigens für die vorliegende Untersuchung erhoben werden mussten, wurde auch auf bestehende Daten etablierter Umfrageprogramme wie beispielsweise der German Longitudinal Election Study (GLES), des Sozio-Ökonomischen Panels (SOEP) oder des European Social Survey (ESS) zurückgegriffen. Dies zeigt, dass die Messung psychologischer Konstrukte in Umfragen zwischenzeitlich weit verbreitet ist. Die unterschiedlichen inhaltlichen Foki der Beiträge sowie die Unterschiede in den genutzten Daten und Methoden machen jedoch auch deutlich, dass noch keine

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einheitliche Herangehensweise an die Einbeziehung psychologischer Theorien und Methoden in der Wahl- und Einstellungsforschung vorhanden ist, geschweige denn ein gemeinsames Modell der Wahlbeteiligung und -entscheidung, das psychologische Faktoren einbezieht. Die unterschiedlichen Perspektiven und Erkenntnisse aus der Einbeziehung psychologischer Faktoren wieder zusammenzuführen, stellt somit eine zukünftige Aufgabe der Wahl- und Einstellungsforschung dar. Abschließend gilt es noch, verschiedenen Personen und Institutionen zu danken, ohne deren finanzielle und tatkräftige Unterstützung weder die Tagung noch dieser Sammelband zustande gekommen wären. Für die Jahrestagung des Arbeitskreises 2016 in Landau gilt unser Dank Gloria Grötzschel und dem Mitarbeiterteam der Arbeitseinheit „Politische Kommunikation“ der Universität Koblenz-Landau. Ebenso danken wir dem dort angesiedelten Forschungsschwerpunkt „Kommunikation, Medien und Politik“ für die finanzielle Unterstützung. Hinsichtlich des Sammelbandes bedanken wir uns herzlich bei den Kolleginnen und Kollegen, die die Beiträge begutachtet haben. Für die Hilfe bei der Erstellung des Sammelbandes sowie die Initiative in Hinblick auf die Weiterführung und Modernisierung der Reihe des Arbeitskreises „Wahlen und politische Einstellungen“ danken wir Dr. Jan Treibel von Springer VS. Evelyn Bytzek Markus Steinbrecher Ulrich Rosar

Literatur Campbell, A., Converse, P.E., Miller, W.E. & Stokes, D.E. (1960). The American Vvoter. New York: John Wiley & Sons. Jungkunz, S., Helbling, M. & Schwemmer, C. (2018). Xenophobia before and after the Paris 2015 attacks: Evidence from a natural experiment. Ethnicities. https://doi. org/10.1177/1468796818757264. Lazarsfeld, P.F., Berelson, B.R. & Gaudet, H. (1948). The people’s choice. New York: Columbia University Press. Miller, W.E. & Shanks, J.M. (1996). The new American voter. Cambridge/London: Harvard University Press. Steenbergen, M.R. (2010). The new political psychology of voting. In T. Faas, K. Arzheimer & S. Roßteutscher (Hrsg.), Information – Wahrnehmung – Emotion. Politische Psychologie in der Wahl- und Einstellungsforschung (S. 13–31). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften/Springer Fachmedien.

Inhaltsverzeichnis

Die Politikpräferenzen der Wähler und die Wahrnehmung von Parteipositionen als Bedingungen für den Parteienwettbewerb um Wählerstimmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Franz Urban Pappi, Anna-Sophie Kurella und Thomas Bräuninger Zur Wahrnehmung politischer (Wahlkampf-)Aussagen als Wahlversprechen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Julia Dupont, Evelyn Bytzek, Melanie C. Steffens und Frank M. Schneider Zum Zusammenhang zwischen Offenheit und politischer Involvierung – Eine Analyse mit SOEP – Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Anja Mays und Steffen Kühnel Wertvorstellungen, nationale Identifikation, gruppenbezogene Ausgrenzung und Bedrohungswahrnehmung als Determinanten von Einstellungen zu Immigration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Pascal Anstötz und Bettina Westle Stereotype Threat und Politisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Toni Alexander Ihme und Markus Tausendpfund ‚Ist die Liebe zu sich selbst der Beginn einer politischen Romanze?‘. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Astrid De Souza

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Der Einfluss multipler Parteibindungen auf das Wahlverhalten. . . . . . . . 205 Sabrina Jasmin Mayer Trust in Politicians—Understanding and Measuring the Perceived Trustworthiness of Specific Politicians and Politicians in General as Multidimensional Constructs . . . . . . . . . . . . . . . 235 Anna Halmburger, Tobias Rothmund, Anna Baumert und Jürgen Maier

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Toni Alexander Ihme ist Mitarbeiter im Arbeitsbereich Qualitätsmanagement und Evaluation der FernUniversität in Hagen. Neben dieser Tätigkeit forscht er zu den Auswirkungen von Diversity Cues auf Universitätswebseiten auf Studierendenrekrutierung sowie den Einflüssen von Stereotypen, unter anderem auf Lehramtsstudierende und auf politisches Wissen. Pascal Anstötz ist Doktorand und wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsinteressen bilden Migrationsforschung, Modellierung und Erklärung von Verhalten in sozialen Kontexten sowie Methoden der empirischen Sozialforschung mit dem Schwerpunkt Strukturgleichungsmodellierung. Prof. Dr. Anna Baumert ist Leiterin einer Max-Planck Forschergruppe zum Thema Zivilcourage am Max-Planck Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, Bonn. Außerdem ist sie seit 2017 Professorin für Persönlichkeits- und Sozialpsychologie an der Technischen Universität München, School of Education. Ihre Forschungsthemen liegen im Bereich der Moral- und Gerechtigkeitspsychologie mit einem besonderen Interesse für systematische Unterschiede zwischen Menschen in der Verarbeitung von gerechtigkeitsthematischen Informationen. Prof. Dr. Thomas Bräuninger ist Professor für Political Economy an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim und Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES). Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der Politischen Soziologie, der Vergleichenden Regierungslehre und der internationalen Politik.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dr. Evelyn Bytzek ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung Politikwissenschaft der Universtität Koblenz-Landau und Koordinatorin des Forschungsschwerpunkts „Kommunikation, Medien und Politik“. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Wahl- und Einstellungsforschung, politischer Kommunikation und politischer Psychologie. Diplom-Sozialwissenschaftlerin Julia Dupont ist seit 2014 Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt „Kommunikation, Medien und Politik“ der Universität Koblenz-Landau. In ihrer Promotion setzt sie sich mit der Bewertung und Wirkung von Wahlversprechen auseinander. Dr. Anna Halmburger  hat 2015 zum Thema Vertrauenswürdigkeit von PolitikerInnen an der Universität Koblenz-Landau promoviert. Dabei beforschte sie den Zusammenhang verschiedener politischer Vertrauensagenten sowie den Einfluss politischer Skandale auf das Vertrauen der BürgerInnen. Seit 2016 leitet sie ein Projekt in dem Prozesse und Persönlichkeitsdispositionen untersucht werden, die für Zivilcourageverhalten relevant sind. Prof. Dr. Steffen Kühnel  ist Professor für quantitative Methoden in den Sozialwissenschaften. Seine Arbeitsschwerpunkte sind multivariate statistische Modelle sowie die Einstellungs- und Verhaltensforschung. Dr. Anna-Sophie Kurella ist Research Fellow am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES). Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Wählerverhalten und Parteienwettbewerb, Politische Soziologie und Wirkungen von Wahlsystemen. Prof. Dr. Jürgen Maier  ist Professor für Politische Kommunikation an der Universität Koblenz-Landau. Er forscht u. a. zum Inhalt und zur Wirkung von Wahlkampfkommunikation sowie zu Fragen der Wahl- und Einstellungsforschung. Dr. Sabrina Jasmin Mayer  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Empirische Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Projektmanagerin der Immigrant German Election Study. Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der politischen Psychologie, der Wahl- und Einstellungsforschung sowie der Methoden der empirischen Sozialwissenschaft. Dr. Anja Mays  vertritt die Professur für Grundlagen der Sozialwissenschaften an der Universität Göttingen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind politische Sozialisations- und Einstellungsforschung, Wahl- und Partizipationsforschung sowie Umfrageforschung.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Prof. Dr. Dr. h.c. Franz Urban Pappi ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Mannheim und Projektleiter am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES). Seine Forschungsinteressen umfassen Theorien des Wählerverhaltens, Wirkungen von Wahlsystemen und Policy Voting. Prof. Dr. Tobias Rothmund ist Professor für Medien- und Kommunikationspsychologie am Institut für Kommunikationswissenschaft (IfKW) der Friedrich-Schiller Universität Jena. Er beschäftigt sich inhaltlich mit psychologischen Dispositionen und Rezeptionsprozessen im Kontext medienvermittelter Kommunikation. Zu seinen Forschungsthemen zählen motivierte Wissenschaftsrezeption, politisches Misstrauen und Populismus sowie gerechtigkeitsbezogenen Urteile und politische Einstellungen. Dr. Frank M. Schneider ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim. In seiner Forschung beschäftigt er sich vorwiegend mit der Selektion, Rezeption und Wirkung von Medien sowie mit methodischen Fragestellungen in unterschiedlichen inhaltlichen Bereichen (z. B. politische Kommunikation, Unterhaltungsforschung, Online-Kommunikation). Astrid De Souza ist Doktorandin bei Prof. Dr. Bettina Westle am Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Im Zuge ihrer Dissertation untersucht sie schwerpunktmäßig die Themenfelder Politisches Wissen und Heuristiken auf Basis von quantitativen Repräsentativerhebungen und Experimenten. Prof. Dr. Melanie C. Steffens  leitet an der Universität Koblenz-Landau in Landau die Arbeitseinheit Sozial-, Umwelt- und Wirtschaftspsychologie. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen implizite gruppenbezogene Einstellungen sowie soziale Vielfalt und Diskriminierung. Dr. Markus Tausendpfund  ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften, Arbeitsstelle Quantitative Methoden, an der FernUniversität in Hagen. Seine Arbeitsgebiete umfassen Methoden der empirischen Sozialforschung, Einstellungs- und Verhaltensforschung sowie lokale Politikforschung. Prof. Dr. Bettina Westle ist Professorin für Methoden der Politikwissenschaft und Empirische Sozialforschung an der Philipps-Universität Marburg. Ihre Forschungsinteressen liegen in der Politischen-Kultur-, Kognitions-, Einstellungs-, Wahl- und Partizipationsforschung sowie der politischen Psychologie.

Die Politikpräferenzen der Wähler und die Wahrnehmung von Parteipositionen als Bedingungen für den Parteienwettbewerb um Wählerstimmen Franz Urban Pappi, Anna-Sophie Kurella und Thomas Bräuninger Zusammenfassung

Der Grad der Übereinstimmung zwischen den Politikangeboten der Parteien und der Politiknachfrage der Wählerinnen und Wähler bietet den Wählern Kriterien für die Wahlentscheidung und den Parteien Anhaltspunkte für ihren Wettbewerb um Wählerstimmen. Diese Übereinstimmung wird in der empirischen Wählerforschung mit ideologischen Skalen wie Links-Rechts oder mit Policy-Skalen zu wichtigen Themen der politischen Auseinandersetzung gemessen. Wenn Befragte über die Positionen der einzelnen Parteien auf den vorgegebenen Skalen urteilen und Angaben über ihren eigenen Standpunkt machen, besteht die Gefahr von Urteilsverzerrungen. Befragte neigen dazu, die Position von Parteien, die sie wertschätzen, näher an sich heranzurücken (Assimilationseffekt) und die Distanz zu den anderen Parteien zu überschätzen (Kontrasteffekt). Parteien benötigen für ihre Planung aber Positionsschätzungen, über die in der Wählerschaft große Urteilskonkordanz besteht. Die Mittelwerte sind als Positionsschätzer ungeeignet, da sie von gleichem Skalengebrauch

F. U. Pappi (*) · A.-S. Kurella · T. Bräuninger  Universität Mannheim, Mannheim, Deutschland E-Mail: [email protected] A.-S. Kurella E-Mail: [email protected] T. Bräuninger E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 E. Bytzek et al. (Hrsg.), Wahrnehmung – Persönlichkeit – Einstellungen, Wahlen und politische Einstellungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-21216-2_1

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der Befragten ohne Berücksichtigung des differential item functioning ausgehen. Wir wenden ein bayesianisches faktoranalytisches Messverfahren an, das aus den Befragtenangaben zu den Parteipositionen „wahre“ Positionen berechnet, die für die Befragten als „gleich wahrgenommen“ interpretiert werden. Wir demonstrieren das Verfahren mit den im Vorwahlquerschnitt der GLES abgefragten Skalen: Links-Rechts, sozialstaatliche Leistungen versus Steuern/Abgaben, Einwanderungspolitik und Klimaschutz. Die ursprünglichen Skalenangaben werden unter Annahme eines linearen Zusammenhangs in die „wahren“ Parteiwerte umgerechnet und die eigene Einstellung der Befragten wird mit den bei der Parteienwahrnehmung gewonnenen Koeffizienten an die gemeinsame Parteiskala angepasst. Die Häufigkeitsverteilungen der auf diese Weise erhaltenen Wähleridealpunkte fassen zusammen mit den entsprechenden Parteiwerten die zentralen Informationen zur Charakterisierung und Anwendung räumlicher Modelle des Parteienwettbewerbs zusammen. Schlüsselwörter

Bundestagswahl 2005 · Politikpräferenzen der Wähler · Wählerwahrnehmungen von Parteipositionen · Policy-Skalen für Wähler und Parteien · Skalierungsverfahren  Issue-Wahl

1 Einleitung Soweit Wähler nicht nur retrospektiv die vergangene Leistung einer Regierung bewerten, sondern mit der Wahl einer Partei auch prospektiv eine bestimmte Politik vertreten wissen wollen, benötigen sie eine realistische Vorstellung von den Politikangeboten der Parteien. Diese Vorstellung erwirbt man nicht in einem Akt einfacher sinnlicher Wahrnehmung, sondern als Ergebnis einer Urteilsbildung über Parteien im Hinblick auf einen bestimmten Bewertungsstandard (Granberg 2006; Schwarz und Bless 2007, S. 120). Ein gängiger Bewertungsstandard ist das ideologische Links-Rechts-Schema, das Wählern die politische Orientierung erleichtert, weil sie sowohl die eher linke oder rechte Position von Parteien kennen als auch bestimmte politische Inhalte als eher links oder rechts klassifizieren können (Fuchs und Klingemann 1990). Andere Bewertungsstandards beziehen sich auf bestimmte aktuelle Streitfragen, zu denen Wähler feste Einstellungen haben und zu denen Parteien gegensätzliche Standpunkte beziehen. Möchte man die eigene Position der Wähler und die von ihnen wahrgenommene Position der Parteien auf der ideologischen Links-Rechts-Skala oder konkreten Policy-Dimensionen auf Basis von Umfragedaten messen, etwa um ein räumliches Modell der

Die Politikpräferenzen der Wähler und die Wahrnehmung …

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Parteienkonkurrenz anzuwenden, stößt man jedoch auf Probleme. So wird die Grundannahme fixer Wählerpräferenzen oder realistischer Parteiwahrnehmungen unter Berufung auf Kausalanalysen mit Paneldaten (Evans und Andersen 2004) oder auf Survey-Experimente (Sanders et al. 2008) angezweifelt. Dahinter steckt der alte Vorwurf, Umfragedaten zu Politikpräferenzen der Wähler und den entsprechenden Parteiwahrnehmungen litten unter Persuasions- und Projektionseffekten (Brody und Page 1972; Markus und Converse 1979). Bei ersteren nähern Wähler ihre Einstellung der Partei an, mit der sie sich identifizieren, weil sie selbst keine feste Überzeugung haben. Haben sie dagegen feste Überzeugungen, so machen sie ihre Weltsicht stimmig, indem sie ihre eigene Einstellung auf die ihrer Partei projizieren, was die Parteiwahrnehmung verzerrt. Lassen sich Befragte von solchen Effekten leiten, sind ihre Angaben zu Politikpräferenz und vermutetem Parteistandpunkt verzerrt und somit ungeeignet, um den Einfluss der ideologischen oder Policy-Nähe auf das Wahlverhalten und den Parteienwettbewerb zu untersuchen. Leider findet dieses Thema wenig Beachtung in der Anwendung räumlicher Modelle. Werden die Befragten-Angaben jedoch nicht um mögliche Projektions- und Persuasionseffekte korrigiert, kann dies zu einer Überschätzung des Einflusses der räumlichen Nähe in einem Wahlmodell führen. Nach etwa 60 jähriger empirischer Forschung zum räumlichen Modell der Parteienkonkurrenz gibt es also immer noch Klärungsbedarf bezüglich der Konstruktion eines gemeinsamen Policy-Raums für Parteien und Wähler. Im vorliegenden Beitrag untersuchen wir den Zusammenhang zwischen den Politikpräferenzen der Wähler und deren Parteiwahrnehmung sowohl im Hinblick auf Links-Rechts als auch auf konkretere Politikangebote und schlagen ein Messmodell zur Korrektur von Verzerrungen durch Projektion und Persuasion vor. Um erfolgreich um Wählerstimmen konkurrieren zu können, müssen die Parteien andererseits wissen, wie die Wähler ihre ideologische Position und ihre Politikangebote einschätzen und was sie davon halten. Zur Parteiwahrnehmung durch die Wähler muss also die Kenntnis der Wählerverteilung durch die Parteien im Hinblick auf dieselben Bewertungsstandards kommen. Wie schätzen die Wähler ihre eigene Links-Rechts-Position ein und wie kann man ihre unterschiedlichen Politikpräferenzen auf derselben Skala darstellen, die auch für die Parteien gilt? Im Unterschied zur wählerzentrierten Literatur nähern wir uns dem Thema von der Parteienseite und fragen, wie stark die Wählerinnen und Wähler bei der Wahrnehmung der Standpunkte der einzelnen Parteien übereinstimmen, sodass die Parteien die wahrgenommenen Standpunkte als Basis für ihre Wahlkampfplanungen benutzen können. Wahrnehmungsverzerrungen und Messfehler stehen dieser Übereinstimmung im Wege; deshalb ist nach Wegen zu suchen, sie

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zu korrigieren. Basierend auf Aldrich und McKelvey (1977) schlagen wir zur Korrektur ein Messmodell für Rating-Skalen der Partei- und Selbsteinstufung vor, welches von latenten Parteipositionen ausgeht, die von den Wählern, bis auf Zufallsabweichungen, gleich wahrgenommen werden. Dieses Modell erlaubt ebenso, die Wählerpräferenz auf Basis der Skalierungs-Parameter auf dieselbe Dimension zu übertragen, sodass Messpunkte für Wählerpräferenz und Parteistandpunkte in einem gemeinsamen Raum vorliegen. Wenn sich die korrigierten Daten bei der Voraussage der Wahlabsicht bewähren, werten wir dies als Zeichen ihrer Voraussagevalidität. Diese muss dem Vergleich mit den unkorrigierten Daten standhalten, die wegen der Wahrnehmungsverzerrungen zum „overfitting“ neigen.Wir beginnen unsere Analyse in Abschn. 2 mit einer Diskussion der Ideologie- und Politik-Nähe zwischen Wähler und Partei als Determinante der Wahlentscheidung. In Abschn. 3 beschreiben wir das Messmodell. In Abschn. 4 stellen wir die Ideologie- und Politikskalen der deutschen Wahlstudie 2013 (GLES) vor, gefolgt von einem Abschnitt über die Ergebnisse der Reskalierung bezüglich Parteipositionen und Wählerverteilung. Abschn. 6 ist den laut Literatur wichtigsten Wahrnehmungsverzerrungen gewidmet, nämlich der Neigung, die Distanz zu nahen Parteien zu unterschätzen (Assimilationseffekte) und die Distanz zu ferneren Parteien zu überschätzen (Kontrasteffekte). Abschn. 7 behandelt die Konsequenzen der Reskalierung für die Voraussage der Wahlabsichten. In Abschn. 8 ziehen wir allgemeine Schlussfolgerungen aus unserer Analyse.

2 Ideologie- und Politik-Nähe als Nutzenmaß der Wahlentscheidung Wenn ein Wähler die Standpunkte der Parteien zu politischen Problemen, die er in der nächsten Legislaturperiode gelöst haben will, mit seinen eigenen Standpunkten vergleicht, kann er abschätzen, mit der Wahl welcher Partei er seinen Nutzen maximiert.1 Ende der 1960er Jahre versuchten Vertreter des verhaltenswissenschaftlichen Ansatzes (Shapiro 1969) die Konzepte des „calculus of voting“ (Davis und Hinich 1966; Riker und Ordeshook 1968) empirisch umzusetzen, fanden aber gleichzeitig die Annahme übereinstimmender Parteiwahrnehmungen bei Davis und Hinich als zu weitgehend. Individuelle

1Erwartungen über die Regierungsbildung, die mit seiner Stimme minimal beeinflusst werden, seien hier außer Acht gelassen, genauso wie die Form der Nutzenfunktion oder die Verbindung der Einzelnutzen zu einem Gesamtnutzen.

Die Politikpräferenzen der Wähler und die Wahrnehmung …

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Verlustfunktionen der Parteienwahl könnten schließlich auch mit individuell abweichenden Parteiwahrnehmungen berechnet werden (Brody und Page 1972). Aus der Perspektive der Erklärung der individuellen Wahlentscheidung ist das sicher richtig. Anders ist das zu beurteilen, wenn man die Kenntnis der Wählerfunktionen zur Basis der Wahlkampfstrategien der Parteien bzw. ihrer Kandidaten machen will. Wir gehen davon aus, dass Erfolg versprechende Wahlkampfstrategien der Parteien auf eine realistische Einschätzung der wahrgenommenen Standpunkte der eigenen Partei, der wichtigen Konkurrenten und der dazugehörigen Wählerverteilung angewiesen sind. Brächten die Wähler als Antworten auf die Wahrnehmungsfragen nur Datenrauschen zustande, könnten die Parteien darauf nicht mit gezielten Positionsänderungen reagieren. Dies ist erst möglich, wenn im Elektorat weitgehende Übereinstimmung der Parteiwahrnehmungen besteht. Stellt eine Partei dann z. B. fest, dass sie bei einem bestimmten Problem weitab von den Wählerwünschen platziert wird, kann sie darauf mit einer Positionsänderung reagieren.2 Dies ist unser Ausgangsmodell für den Parteienwettbewerb um Wählerstimmen, welches auf Politikpräferenzen und Parteipositionen beruht. Im Folgenden werden konzeptionelle Annahmen über die Entstehung von Präferenzen und die Verortung der Wähler und Parteien im Politikraum näher erläutert, welche diesem Modell zugrunde liegen. Danach wird auf Wahrnehmungseffekte eingegangen, die bei der empirischen Messung der Standpunkte berücksichtigt werden müssen.

2.1 Einstellung und Parteiwahrnehmung Bei der Bestimmung des ideologischen oder politikspezifischen Nutzens ist immer die Doppelaufgabe der Messung der Parteipositionen und der Wählereinstellungen zu lösen, sodass man beide auf derselben Dimension platzieren kann. Diese Doppelaufgabe verlangt die Verbindung einer Fremd- mit einer Selbstwahrnehmung, von denen eine den Wahrnehmungsanker für die andere bilden kann.

2Ob

die wahrgenommenen Positionen der Parteien deren Politiksignale immer richtig wiedergeben, ist weniger entscheidend, solange im Elektorat Übereinstimmung besteht. Diese von den meisten Wählern gleich wahrgenommenen Standpunkte müssen nur von den Parteien richtig eingeschätzt werden. Wenn alle Wähler den Standpunkt einer Partei in derselben Weise verzerrt wahrnehmen, kann die betroffene Partei dies trotzdem zum Ausgangspunkt ihrer Wahlkampfplanung machen.

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Für die Befragten kann vor allem die eigene Meinung zählen, während für sie die Parteistandpunkte sekundär sind. Oder sie orientieren sich am Parteiendiskurs, sodass der Fremdwahrnehmung Vorrang eingeräumt wird. Hinich und Munger (1994) formulierten ein Modell, das eine primäre Parteiwahrnehmung bei der Ideologie mit originären Policypräferenzen verbindet. Dabei nutzen die Wähler ihre Kenntnis der Links-Rechts-Position der Parteien als Heuristik, um auf deren Standpunkte bei den konkreten Politiken zu schließen. Unterscheidet man allgemein zwischen Ideologie und Politikpräferenz, gehen Hinich und Munger also davon aus, dass bei der Ideologie die Parteipositionen die primäre Information sind und bei konkreten Politiken die eigene Präferenz. Nach dieser Auffassung stellte eine ideologische Selbsteinstufung eine sekundäre Information dar, weil sie erst durch die vorangegangene Parteieinstufung für den Befragten ihren Sinn erhält. Statt als Heuristik könnte eine Ideologie einigen Wählern auch als „belief system“ (Converse 1964) dienen, das sie nach verwandten Parteien suchen lässt und so zu einer sekundären Parteiwahrnehmung führt (vgl. Tab. 1). Die eigenen Einstellungen zu Politiken lassen sich ebenfalls nach primärer und sekundärer Parteiwahrnehmung einteilen. Bei Politikpräferenzen mit primärer Parteiwahrnehmung könnten sich Wähler erst nach Kenntnisnahme der Auseinandersetzung der Parteien untereinander eine Meinung zu dem kontroversen Thema bilden, was natürlich die Gefahr der Persuasion beinhaltet, d. h. die Übernahme der Meinung einer Partei, der man aus anderen Gründen zuneigt. Der Fall, von dem Hinich und Munger (1994) ausgehen, ist die Kombination originärer Politikpräferenzen mit sekundärer Wahrnehmung der Policystandpunkte der Parteien, allerdings abgeleitet von einer primären ideologischen Parteiheuristik. Inwieweit es sich beim Links-Rechts-Schema mehr um eine politische Urteilsheuristik als ein ideologisches Überzeugungssystem handelt, ist abschließend nicht geklärt. Man kann zur Interpretation an eine Art Verankerungsheuristik denken (Scholl und Bless (im Druck)), mit bestimmten Parteien als Anker für die anderen Parteien und einen selbst. Bei konkreten Streitfragen könnte dagegen die Parteiwahrnehmung sekundär sein. Hier besteht die Gefahr der Projektion der

Tab. 1   Mögliche Beziehungen zwischen eigenen Einstellungen und Parteiwahrnehmungen. (Quelle: Eigene Darstellung) Eigene Einstellung Parteiwahrnehmung

zur Ideologie

zu Politiken

Primär

Ideologie als Heuristik

Policy-Wählen/Persuasion

Sekundär

Ideologie als „belief system“

Policy-Wählen/Projektion

Die Politikpräferenzen der Wähler und die Wahrnehmung …

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eigenen Meinung auf die Partei, die man aus anderen Gründen bevorzugt. Dieser Gefahr können die Parteien mit der klaren Präsentation ihrer Politikvorschläge im Wahlkampf begegnen. Wir können im Folgenden mangels Paneldaten nicht zwischen primärer und sekundärer Parteiwahrnehmung unterscheiden. Für die Parteien kommt es jedenfalls vor allem auf eine gewisse Urteilskonkordanz der Wählerschaft über ihre jeweiligen Positionen an. Generell wird auch kontrovers diskutiert, inwieweit man auf Basis der berichteten Politikpräferenz der Befragten auf eine feste Meinung schließen kann. Ein alter Vorwurf gegen räumliche Modelle ist die vermutete Endogenität der Präferenzen, d. h. in erster Linie die mögliche Abhängigkeit von der als dauerhafter angesehenen Parteineigung (Sanders et al. 2008), was die Annahme fixer Präferenzen infrage stelle. In der Tat ist zuzugestehen, dass die Erfassung von Wählerpräferenzen mit Umfragedaten durchaus Schwächen aufweist. Dabei geht es nicht darum, dass die Wähler keine festen Politikpräferenzen hätten, sondern um Messfehler bei ihrer Erhebung (Pappi und Shikano 2007, S. 89–101), die vor allem dann auftreten, wenn man sich mit einer einzigen Frage zur Erfassung einer bestimmten Einstellung begnügen muss. Kann man dagegen zur Erfassung einer Einstellung mehrere Items abfragen, stehen die bewährten Methoden der Skalenbildung zur Verfügung, um den Messfehler zu verringern (Ansolabehere et al. 2008). Leider scheidet dieses Vorgehen aus, wenn man gleichzeitig zu jeder Einstellung auch die Standpunkte der Parteien abfragen will, weil man dann den Zeitaufwand für die Wahrnehmungsfragen vervielfachte. Wenn man also von der Strategie, mit einer Frage die Policypräferenz der Befragten zu messen, nicht abgehen möchte, sind an diese Frage hohe Anforderungen zu stellen, angefangen von der Beschreibung des Politikproblems in der Frageneinleitung bis hin zur Formulierung klarer Alternativen. Dabei sollten Umfrageforscher nicht aus dem Auge verlieren, dass es in Wahlstudien darum geht, aktuelle Streitfragen zu erfassen, die die Parteien tatsächlich kontrovers diskutieren und so eine gewisse Mobilisierung der Wählerschaft erreichen. Ein Zeithistoriker müsste aus den in einer Wahlstudie gestellten Issue-Fragen ohne weiteres erkennen, um welche Wahl es sich handelt. Diesen Test bestehen allerdings manche Wahlstudien nicht, weil man statt konkreter Streitfragen eher allgemeinere Prädispositionen abfragt, die angeblich den Einstellungen zu konkreten Politikfragen zugrunde liegen. Nach den Ergebnissen von Ansolabehere et al. (2008, S. 224) sind mit derartigen Items erfasste Einstellungen aber weniger stabil als die sich auf konkretere Probleme beziehenden Skalen. Die Vorliebe der Survey-Forschung für die Abfrage von Prädispositionen anstelle konkreter Issues hängt mit ihrer Verwendbarkeit in Langzeitstudien zusammen, weil man darauf achtet, dieselbe Frage auch noch

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in vier bis fünf Jahren stellen zu können (vgl. z. B. die „Issue“-Fragen in dem fünfwelligen Panel 1997–2001 der British Election Panel Study bei Evans und Andersen 2004). Und mit solchen Rating-Skalen wird dann die Frage beantwortet: „Do issues [sic!] decide?“.

2.2 Wahrnehmungseffekte Zur Messung der eigenen wie auch der Parteistandpunkte wird üblicherweise auf das erstmals in der amerikanischen Nachwahlstudie 1968 (ANES Time Series) angewandte Frageformat zurückgegriffen. Dem Probanden wird eine Skala mit 7 (später auch 11) Kästchen vorgelegt, bei der nur die beiden Endpunkte mit einer bestimmten Politik beschrieben werden, 1968 z. B. mit den beiden Extremzielen für die Beendigung des Kriegs in Vietnam: (1) „vollständiger Rückzug“ und (7) „vollständiger militärischer Sieg“ (Page und Brody 1972). Die Kästchen zwischen den Endpunkten sollen als unterschiedlich starke Eskalations- oder DeEskalations-Politiken verstanden werden und nicht als unterschiedliche Grade der Intensität, mit der man das eine oder andere Ziel verfolgen kann. Die Befragten wurden gebeten, sowohl ihr Urteil über die Position der Präsidentschaftskandidaten als auch ihre eigene Einstellung auf dieser Skala anzugeben. Wahrnehmungsverzerrungen stören Urteile über Parteipositionen im Rahmen eines Modells des Parteienwettbewerbs, wenn verschiedene Gruppen von Wählern zu unterschiedlichen Verzerrungen neigen. Eine Verzerrungsursache ist Parteianhängerschaft. Sie kann dazu führen, dass man die Position seiner Partei nah am eigenen Standpunkt wahrnimmt. Ein derartiger Assimilationseffekt wurde oft nachgewiesen (Brody und Page 1972; Markus und Converse 1979; Adams et al. 2005; Hare et al. 2015; Achen und Bartels 2016) und wird in der Regel, im Anschluss an die sozialpsychologische Literatur (Sherif und Hovland 1961; Schwarz und Bless 1992), durch einen Kontrasteffekt ergänzt: Parteien, die man ablehnt, werden vom eigenen Standpunkt weggerückt. Eine Beobachtung beim Vergleich der Position der Parteien mit der ihrer Unterstützer wird häufig berichtet: Die Parteien werden als extremer wahrgenommen als es der Selbsteinstufung ihrer Wähler entspricht (für den europäischen Vergleich Warwick 2004, Warwick 2009, für Deutschland Niedermayer 2009, für die USA Hare et al. 2015). Dieser Befund wird auch bestätigt, wenn man die Einstellungen der Parteiwähler mit direkt erhobenen Einstellungen von Parteitagsdelegierten (Iversen 1994) oder von Abgeordneten dieser Partei (Holmberg 1989) konfrontiert. In den europäischen Mehrparteiensystemen betrifft dieser Trend die auf der jeweiligen Dimension extremeren Parteien, im amerikanischen Zwei-Parteiensystem

Die Politikpräferenzen der Wähler und die Wahrnehmung …

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ist er an der größeren Polarisierung der Parteien im Vergleich zur Wählerschaft zu erkennen. Für die Parteien sind verschiedene Hypothesen über Anreize zur Abweichung von den „Ideologie“ ihrer Wähler entwickelt worden (Iversen 1994; Warwick 2009). Uns interessieren hier die Wählerebene und der Zusammenhang zwischen Wahrnehmungsverzerrungen und Parteinähe der Befragten. Sollten die Wahrnehmungsverzerrungen einem bestimmten Muster folgen, besteht die Möglichkeit, sie aus den Rohdaten zu eliminieren und so zu einer zwischen den Individuen vergleichbaren Skala zu kommen. Hare et al. (2015) weisen für die amerikanische Liberalismus-Konservativismus-Skala zwei Verzerrungstrends nach: 1. den auch von anderen gefundenen Assimilations- und Kontrasteffekt (Granberg 2006; Adams et al. 2005), nach dem nahe Parteien an den eigenen Standpunkt angeglichen und ferne Parteien weggerückt werden, und 2. die Neigung der Wähler, sich bei ideologischen Skalen selbst als moderat einzustufen. Diese Verzerrungstrends sind explizit im Hinblick auf ideologische Dimensionen beobachtet worden. Sie müssen nicht unbedingt auf konkrete politische Streitfragen zutreffen. So können Wähler durchaus bei bestimmten Fragen extremere Standpunkte als die in den Parlamenten zu einem bestimmten Zeitpunkt vertretenen Parteien einnehmen, was Wettbewerbsvorteile für populistische Parteien verspricht. In der Befragungssituation hängt die Neigung, eine Partei oder sich selbst nahe an einem der beiden benannten Endpunkte der Skala einzustufen, natürlich auch mit der Formulierung der Alternativen zusammen. Wenn bei einer konkreten Streitfrage keine Partei hinter den Status quo zurückgehen will, wäre der „konservative“ Endpunkt mit diesem Status quo gleichzusetzen und der andere Endpunkt mit dem weitestgehenden Vorschlag in die „progressive“ Richtung. Ideologische Skalen kennen dagegen keinen Status quo, sondern verlaufen von einem abstrakten Extrem zum anderen, also z. B. von links im impliziten Sinn von linksextrem bis nach rechts im impliziten Sinn von rechtsextrem. Ist dann die Wählerverteilung zwischen links und rechts einigermaßen ausgeglichen mit dem häufigsten Wert genau in der Mitte, erklären Assimilations- und Kontrasteffekte, dass die Befragten im Durchschnitt die Parteien extremer einstufen als sich selbst. Der Durchschnitt aus der moderaten Einstufung linker Parteien durch linke Wähler und der extremer linken Einstufung dieser Parteien durch rechte Wähler wird dieses Ergebnis zeitigen.

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Hare et al. (2015) erklären so die größere Polarisierung der amerikanischen Parteien im Vergleich zur Wählerschaft. Mithilfe des von Aldrich und McKelvey (1977) entwickelten Messmodells beseitigen sie durch Reskalierung die systematischen Wahrnehmungsverzerrungen. Das Modell postuliert die Abhängigkeit der berichteten Wahrnehmungen von den „wahren“, aber latenten Parteiwerten (Modellerläuterung im nächsten Abschnitt). Kennt man die Transformationskoeffizienten, die die latenten Werte in die berichteten Parteiwahrnehmungen transformieren, kann man umgekehrt die Selbsteinstufung der Wähler auf die Skala der „wahren“ Werte umrechnen. Für die amerikanische Ideologieskala zeigt sich dann ebenfalls eine größere Polarisierung der Wählerschaft als man sie mit den Rohwerten der Selbsteinstufung vermutet hätte, weil sich hier viele Befragte genau in die Mitte einordnen. Je nachdem, ob sie die Republikaner näher zur Mitte rücken oder die Demokraten und die jeweils andere Partei stärker an den Rand der ideologischen Skala, kann man darauf schließen, ob sie selbst eher konservativ oder liberal sind. Auf diesem Messmodell beruht unser Untersuchungsplan. Wir stellen es im nächsten Abschnitt vor, bevor in Abschn. 5 und 6 geprüft wird, ob die von Hare et al. (2015) genannten Voraussetzungen auch für deutsche Parteien erfüllt sind.

3 Das Messmodell von Aldrich/McKelvey und seine bayesianische Schätzung Parteiwahrnehmungen werden in Umfragen im Block abgefragt: Nach einer Einleitung zum Verständnis der Ideologie- oder Politik-Skala sollen die Befragten die Parteien der Reihe nach auf der vorgegebenen Skala platzieren. Ein Messmodell muss diese gleichzeitige Abfrage im Block berücksichtigen und eine gemeinsame Lösung für alle Parteien bieten. Wir greifen auf das ursprünglich von Aldrich und McKelvey (1977) entwickelte Messmodell zurück, das gerade in jüngster Zweit mehrfach erfolgreich angewendet wurde (Lo et al. 2013; Saiegh 2015; Hare et al. 2015). Ein bekanntes Problem für die Analyse von Ideologie- und Politikskalen ist, dass die Antworten der Befragten nicht intersubjektiv vergleichbar sind (differential item functioning, vgl. z. B. King et al. 2004, S. 192). So bedeutet die Einstufung einer Partei bei 9 auf der von 1 bis 11 laufenden Links-Rechts-Skala durch einen Befragten, der die anderen Parteien bei 10 und 11 einstuft, nicht dasselbe, wie dieselbe Einstufung bei 9 durch einen anderen Befragten, der aber die anderen Parteien bei 3 bis 5 platziert. Worauf sollen sich also die Parteien verlassen, wenn sie sich ein Bild von der Wählerwahrnehmung ihrer ideologischen

Die Politikpräferenzen der Wähler und die Wahrnehmung …

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Position im Vergleich zu der der anderen Parteien machen wollen? Hier setzen wir bei unserem Validitätskriterium der übereinstimmenden Wahrnehmungen an. Die Parteien werden sich auf die Durchschnittswahrnehmungen verlassen, von denen sie annehmen, dass das Elektorat in diesem Urteil im Wesentlichen übereinstimmt. Das ist unsere Annahme für eine realistische Theorie des Parteienwettbewerbs. Dieser latente oder „wahre“ Wert einer Partei j = 1,…,J sei mit yj bezeichnet. Er ist zunächst unbekannt, nur die Antworten zij der Befragten i = 1,…,N über die Parteien j sind bekannt. Aldrich und McKelvey gehen ebenso wie wir davon aus, dass es wahre Parteipositionen gibt, aber dass diese fehlerhaft wahrgenommen werden. Diese Fehler haben zwei Ursachen: echte Wahrnehmungsfehler (Aldrich und McKelvey 1977, S. 112), welche durch Ambiguität der Parteien oder unvollständiges Wissen des Befragten zustande kommen, und selektive Wahrnehmung (1977, S. 113), verursacht zum Beispiel durch Assimilations- und Kontrasteffekte. Zudem berichten die Befragten ihre ohnehin schon fehlerhafte Wahrnehmung als eine „willkürliche lineare Transformation der Wahrnehmung des Raums“ (1977, S. 113, eigene Übersetzung), welche dadurch zustande kommt, dass eine gemeinsame Metrik fehlt. Befragte setzen unterschiedliche Ankerpunkte in ihrer Benutzung der Skala und strecken oder stauchen die Skalenpunkte nach individuellem Belieben. Die Grundannahme des Messmodells ist also:

zij = ai + bi · · · yj + uij

(1)

Die uij bezeichnen individuelle Zufallsschwankungen der Urteile über die einzelnen Parteien, welche durch die echten Wahrnehmungsfehler zustande kommen. Die Regressionsparameter a und b geben an, inwieweit ein Befragter seine Wahrnehmungsberichte gegenüber den latenten Parteiwerten verzerrt. Die Kons­ tante ai gibt an, welchen Skalenbereich er nutzt und sein bi gibt Auskunft über die Streckung oder Schrumpfung der Skala. Wie diese Parameter Assimilationsund Kontrastverzerrungen widerspiegeln können, sei an einem einfachen Beispiel erläutert, bei dem für die beiden Befragten dasselbe b angenommen wird. Gegeben seien die Angaben zweier Befragter l und r über die Parteien L und R auf einer zentrierten von −5 bis +5 reichenden Skala:

ZIL = −1 und ZIR = +4 des Befragten I, ZrL = −4 und ZrR = +1 des Befragten r. Befragter l rückt die linke Partei L nahe an den mittleren Skalenwert, während er R weit davon wegrückt. Befragter r geht genau umgekehrt vor. Welche „wahren“

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Werte in diesem aus zwei Wählern bestehenden Elektorat sollen wir den Parteien zuordnen? Im vorliegenden Fall spricht nichts gegen die Mittelwerte, also yL = −2,5 und yR = + 2,5. Da sich l und r über den Abstand zwischen L und R einig sind, können wir bl = br = 1 setzen, sodass bei uij = 0 nur die Achsabstände a verschieden sein müssen, um die Wahrnehmungen von l und r auf je eine Gerade für l bzw. r zu zwingen (al = 1,5 und ar = −1,5). Wie kann man jetzt die eigene Links-Rechts-Einstufung von l und r (zlo und zro) ebenfalls auf die y-Achsen mit den „wahren“ Parteiwerten transformieren? Auch diese Frage beantwortet Formel (1), nur mit dem Unterschied, dass wir jetzt a und b kennen:

yio = (zio − ai )/bi

(2)

Die Selbsteinstufung wird also an die Skala mit den „wahren“ Parteiwerten angepasst, indem man die individuellen Verzerrungsparameter herausrechnet. Nehmen wir an, l und r hätten sich beide bei 0 eingestuft, gleich weit vom linken und rechten Extrem entfernt. Dann wird aus der Tatsache, dass l L assimiliert und R von sich weg rückt, geschlossen, dass es sich um einen linken Wähler handelt, also ylo = −1,5 und entsprechend yir = + 1,5. Damit sind in unserem Beispiel die Abstände von l und r auf der y-Achse von den „wahren“ Werten von L und R dieselben wie diejenigen auf der z-Achse. Die Übereinstimmung zwischen l und r besteht darin, dass wir „wahre“ Werte identifiziert haben, die beiden gemeinsam sind und trotzdem den individuellen Wahrnehmungsmustern gerecht werden. Wir interpretieren die y-Achse als die um individuelle Wahrnehmungsverzerrungen korrigierte Links-Rechts-Dimension (vgl. Abb. 1). Die „wahren“ Parteipositionen werden qua Annahme von allen Befragten mit bestimmten Zufallsschwankungen gleich wahrgenommen und können deshalb „als Anker für die Anpassung sowohl der Kandidatenpositionen als auch der Präferenzen der Wähler verwendet werden“ (King et al. 2004, S. 192, eigene Übersetzung). Wie kann man diese latenten Werte identifizieren? Hare et al. (2015, S. 762) greifen auf ein bayesianisches Faktormodell zurück (Quinn 2004; Jackman 2009, Kap. 9) und schätzen auch die Zufallsstreuung um die latenten Werte. Wir greifen ebenfalls auf die bayesianische Version der Aldrich-McKelvey Reskalierung zurück, da sie zudem erlaubt, Befragte mit fehlenden Angaben bezüglich einzelner Parteien in die Analyse einzuschließen. Wir werden als Maß der Übereinstimmung der Befragten über die Parteiwerte den Anteil der Befragten verwenden, deren bi das richtige Vorzeichen hat. Wenn die rechte Partei nach unserem Vorverständnis, das von der Mehrheit der

Die Politikpräferenzen der Wähler und die Wahrnehmung …

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Abb. 1   Angaben der Befragten l und r über die Parteien L und R (auf der z-Achse) und ihre Voraussage mit den „wahren“ Parteiwerten YL und YR (auf der y-Achse). (Quelle: Eigene Darstellung)

Befragten geteilt wird, von einigen links, also im niedrigen Wertebereich, platziert wird und die linke Partei rechts, gelingt eine Anpassung an die y-Achse nur mit einem negativem b. Solche Befragte mit nicht übereinstimmender Polung der Achse werden wir aus der weiteren Analyse ausschließen. Wird der Anteil dieser Befragten zu groß, kann die ganze Skala nicht verwendet werden, weil das zentrale Kriterium der Übereinstimmung verfehlt wird. Positiv gewendet heißt Übereinstimmung bei positivem b, dass sich die Befragten zumindest über die Reihenfolge der Parteien auf der Skala im Sinne einer schwachen Ordnung weitgehend einig sind. Deshalb wäre auch ein Abgehen von dem linearen Zusammenhang zwischen den zij und yij im Falle einer größeren Zahl von Parteien denkbar. Es sei jedoch angemerkt, dass im Mehrparteiensystem nicht zu garantieren ist, dass Befragte mit einem positiven bi alle Parteien in der richtigen Reihenfolge wahrnehmen. Durch den Ausschluss der Befragten mit negativem bi stellen wir lediglich sicher, dass diejenigen mit einem völlig konträren Verständnis des Politikraums nicht nachträglich hineinskaliert werden, um unseren Modellannahmen zu entsprechen.

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4 Ideologie- und Politik-Skalen in der deutschen Wahlstudie 2013 Die Primärforscher der deutschen Wahlstudie 2013 (Rattinger et al. 2013) haben in den Vorwahlquerschnitt, welchen wir für unsere Analysen verwenden, eine Links-Rechts-Frage und drei Issue-Fragen aufgenommen. Bei Links-Rechts erhoben sie Wahrnehmungen zu (in dieser Reihenfolge): „CDU, CSU, SPD, FDP, Die Linke, Grüne, Piraten, AfD (Alternative für Deutschland)“, bei den weiteren Fragen wurden nur die sechs Bundestagsparteien abgefragt. Die Weiß-nicht-Antworten geben Auskunft über die Eignung einer Partei als allgemein bekanntes nationales Beurteilungsobjekt. Wir gehen im Folgenden von der Wählerverteilung für die jeweiligen Selbsteinstufungen aus und geben dazu die Mittelwerte der wahrgenommenen Parteipositionen an. Diese Ergebnisse beschreiben die Angaben der Befragten, die wir lediglich von 1 bis 11 auf −5 bis +5 so umcodiert haben, dass inhaltlich ein negativer Wert eine linke und ein positiver Wert eine rechte Position angibt. Da uns interessiert, inwieweit eine Partei ein nationales Einstellungsobjekt darstellt, das die Wähler kennen und über das sie sich ein Urteil zutrauen, gehen wir im Text auf Besonderheiten bei den fehlenden Angaben ein. Allgemein gilt, dass die Befragten bei den Sachthemen eher Angaben zur Selbsteinstufung machen als bei der Links-Rechts-Skala. Die Links-Rechts-Verteilung der Befragten (Abb.  2a) entspricht den Erwartungen über den häufigsten Wert (0). Überraschend ist die schiefe Verteilung zulasten rechter Selbst-Einstufungen. Viele Befragte vermeiden es offensichtlich, sich selbst rechts einzustufen, eine Tendenz, die sich bei den Sachthemen nicht wiederholt. Die Piratenpartei war im Bundestagswahlkampf 2013 bekannter als die erst kurz vorher gegründete Alternative für Deutschland (AfD), knapp 30 % der Befragten konnten beide Parteien aber ideologisch nicht einordnen. Dazu kommt bei der AfD noch einmal ein knappes Fünftel, die die Partei gar nicht kannten. Rechnet man dann noch die hohe Unsicherheit bei der ideologischen Einstufung der Befragten hinzu, die sich ein Urteil zutrauten, qualifizierten sich beide Parteien 2013 nicht als nationale Einstellungsobjekte für das gesamte Elektorat. Diese Bedingung wurde dagegen von allen Parteien, die bereits im Bundestag vertreten waren, erfüllt und zwar einschließlich der CSU. Im Durchschnitt wussten 6 bis 7 % der Befragten CDU, CSU, SPD und Linke ideologisch nicht einzuordnen, bei FDP und Grünen knapp 8 %. Die Durchschnittswahrnehmung der etablierten Parteien entspricht den Erwartungen eines politisch informierten Zeitgenossen, mit der Linken am linksextremen Ende, gefolgt mit großem Abstand

Die Politikpräferenzen der Wähler und die Wahrnehmung …

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Abb. 2   Die Selbst-Einstufung der Befragten auf vier Skalen und die im Durchschnitt wahrgenommenen Parteipositionen. (Quelle: Eigene Darstellung)

von Grünen und SPD als gemäßigt linken Parteien und FDP, CDU und CSU, in dieser Reihenfolge, als gemäßigt rechten Parteien. Als sozio-ökonomisches Sachthema wählten die Primärforscher kein Wahlkampf-Issue, sondern eine schwierige trade-off-Frage mit den Aussagen „weniger Steuern und Abgaben, auch wenn das weniger sozialstaatliche Leistungen bedeutet“ am rechten Pol und „mehr sozialstaatliche Leistungen, auch wenn das mehr Steuern und Abgaben bedeutet“ am linken Pol. Unseres Wissens geht eine derartige Frage auf die Expertenbefragung von Laver und Hunt (1992, S. 124) zurück. 9 (SPD) bis 14 % (Grüne und Linke) der Befragten antworteten bei der Parteieinstufung mit „weiß nicht“. Die durchschnittlich wahrgenommenen Parteipositionen entsprechen der Links-Rechts-Skala, nur wird jetzt die Linke näher an Grüne und SPD herangerückt (Abb. 2b).

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Es folgt eine Sachfrage zu Zuzugsmöglichkeiten für Ausländer (Abb. 2c). Hier übernehmen die Grünen die Position links außen, wonach Zuzugsmöglichkeiten für Ausländer erleichtert werden sollen, und auf der rechten Seite wird die CSU mit deutlichem Abstand zu CDU und FDP als die Partei wahrgenommen, die von den etablierten Parteien am ehesten für eine Einschränkung der Zuzugsmöglichkeiten ist. Die „weiß nicht“-Antworten liegen bei CDU, CSU und SPD bei knapp 10 %, die Grünen kommen auf 13, die Linke auf 16 und die FDP auf 17 %. Von den Befragten stufen sich 95 % selbst auf dieser Skala ein; das ist der höchste Prozentsatz im Vergleich zu 89 % bei Links-Rechts und 92 % bei der sozio-ökonomischen Skala. Die Meinungsbildung bei der Klimaschutzfrage ist ebenfalls stark ausgeprägt. 93 % der Befragten können sich auf der Skala verorten, die durch die Alternativen „Bekämpfung des Klimawandels, auch wenn es dem Wirtschaftswachstum schadet“ sowie „Vorrang des Wirtschaftswachstums, auch wenn es die Bekämpfung des Klimawandels erschwert“ aufgespannt wird (Abb. 2d). Ähnlich wie bei der sozio-ökonomischen Frage wird auch hier kein aktuelles Wahlkampf-Issue aufgegriffen. Die größten Wahrnehmungslücken tun sich bei der Linken mit 19 % „weiß nicht“ auf, gefolgt von der FDP mit 13 und etwa 9 % bei CDU, CSU und SPD. Nur 6 % der Befragten geben an, sie wüssten nicht, wie sie die Grünen platzieren sollen. Die Grünen nehmen die linke Polposition ein, während CDU, CSU und FDP mit moderater Bevorzugung des Wirtschaftswachstums relativ nahe zusammen liegen. Ähnlich wie bei Links-Rechts neigen die Wähler mehr zu linken als zu rechten Positionen. Bei der Zuwanderungsfrage ist es genau umgekehrt, während sich sozio-ökonomisch Linke und Rechte eher die Waage halten bei klarstem Herausragen der Mittelposition. Generell stufen sich bei allen vier Skalen die relativ meisten genau in der Mitte ein. Im Prinzip enthalten die in Abb. 2 dargestellten Wählerverteilungen zusammen mit den Parteiwerten alle Angaben, die man für das räumliche Modell der Wahlentscheidung benötigt. Man muss nur noch die Distanzen zwischen eigener Einstellung und den Parteimittelwerten berechnen. Wir werden im Folgenden zeigen, welche Vorteile eine Reskalierung der Daten nach dem Messmodell von Aldrich und McKelvey (1977) bringt.

5 Die Reskalierung der Originaldaten Wir wenden das bayesianische Verfahren wie in Hare et al. (2015) beschrieben getrennt auf die Wahrnehmungs- und Präferenzangaben zu Links-Rechts und zu den konkreten Streitfragen an. Als Priorverteilung der Parteiwerte wählen wir

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eine Standardnormalverteilung. Für die a- und b-Werte werden uninformative Priorverteilungen gewählt. Wir erzeugen zwei MCMC-Ketten mit jeweils 50.000 Iterationen nach einem Burn-in von ebenfalls 50.000 Iterationen. Zur Erzeugung der Startwerte der Parteiwerte greifen wir auf die Ergebnisse einer Maximum-Likelihood-Schätzung des Modells zurück. Konkret werden die Startwerte aus einer Normalverteilung mit den Punktschätzern als Mittelwert und der Standardabweichung von 0,3 gezogen. Beide Ketten konvergieren problemlos und resultieren in sehr schmalen Posterior-Verteilungen für die Parteipositionen, wie beispielhaft in Abb. 3 für die Links-Rechts Skala dargestellt. Die geschätzten Parteipositionen und transformierten Selbsteinstufungen sind in Abb. 4 für alle vier Skalen separat dargestellt. Unser zentrales Kriterium für die Brauchbarkeit einer Wahrnehmungsskala ist die Übereinstimmung der Befragten über die Positionen der einzelnen Parteien,

Abb. 3   Verlauf der MCMC-Ketten und Posteriorverteilung für CDU (1), CSU (2) und SPD (2) auf der Links-Rechts-Skala. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Abb. 4   Reskalierte Selbst-Einstufungen im Vergleich zu den Erwartungswerten der Parteipostitionen. (Quelle: Eigene Darstellung)

kurz gesagt: die Urteilskonkordanz. Sie bezieht sich auf die latente Skala mit den „wahren“ Parteiwerten und wird durch die richtige Polung der Skala indiziert. Wenn hohe Werte die Positionen rechter Parteien und niedrige Werte die Positionen linker Parteien angeben, muss der individuelle Regressionsparameter b eines Befragten, der zusammen mit der Konstante die Angaben dieses Befragten mit den „wahren“ Werten der Parteien voraussagt, positiv sein. Betrachten wir die „wahren“ Parteipositionen, d. h. die Erwartungswerte der bayesianischen Schätzung, dann zeigen sich in der ordinalen Anordnung von links nach rechts bei den vier Skalen keine Abweichungen von den Mittelwerten der Originalskalen (vgl. Tab. 2 mit Abb. 2). Die Erwartungswerte summieren sich jetzt, als Bedingung für ihre Identifizierbarkeit, auf null, drei linken Parteien mit negativen Vorzeichen stehen drei rechte mit positiven Vorzeichen gegenüber. Aufschlussreich ist die Streuung der Erwartungswerte, also die individuellen Wahrnehmungsfehler uij aus Gl. (1). Diese können wir mit den Punktschätzern der

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Tab. 2   Die reskalierten Parteienwahrnehmungen: Erwartungswerte, Standardabweichungen und Prozentsatz der Befragten mit Angaben zu mehr als drei Parteien und richtiger Skalenpolung. (Quelle: Eigene Darstellung) 1. Links-Rechts-Skala Erwartungswerte

Linke

Grüne

SPD

FDP

CDU

CSU

−1,48

−0,64

−0,40

0,63

0,78

1,11

Linke

Grüne

SPD

CDU

CSU

FDP

−1,25

−0,86

−0,52

0,70

0,83

1,11

Grüne

Linke

SPD

FDP

CDU

CSU

−1,19

−1,02

−0,38

0,59

0,83

1,17

Grüne

Linke

SPD

CDU

CSU

FDP

−1,50

−0,73

−0,27

0,71

0,89

0,90

0,45

0,30

1,16

Streuung 0,70 0,71 0,62 0,77 0,36 0,25 Berechnung für 1773 Befragte mit gültigen Angaben zu mehr als drei Parteien, davon 98 % mit b > 0 2. Trade-off zwischen sozialstaatlichen Leistungen und Steuern/Abgaben Erwartungswerte

Streuung 0,70 0,86 0,97 0,40 0,37 1,38 Berechnung für 1736 Befragte mit gültigen Angaben zu mehr als drei Parteien, davon 77 % mit b > 0 3. Zuzugsmöglichkeiten für Ausländer Erwartungswerte

Streuung 0,68 1,33 0,83 1,11 0,64 0,37 Berechnung für 1738 Befragte mit gültigen Angaben zu mehr als drei Parteien, davon 82 % mit b > 0 4. Trade-off zwischen Bekämpfung des Klimawandels und Wirtschaftswachstum Erwartungswerte Streuung

1,22

0,74

0,72

Berechnung für 1783 Befragte mit gültigen Angaben zu mehr als drei Parteien, davon 88 % mit b > 0

ai und bi bei gleichzeitiger Kenntnis der wahren Parteipositionen rekonstruieren und daraus die durch Wahrnehmungsfehler begründete Standardabweichung der Parteipositionen schätzen. Am genauesten wird bei allen vier Skalen die Position der CSU geschätzt, gefolgt von der CDU. Dagegen ist bei allen drei Sachfragen die Schätzung der FDP-Position relativ ungenau, eine noch höhere Streuung weisen die Positionsschätzungen für die Linke bei der Immigrationsfrage auf und für die Grünen ausgerechnet beim Klimaschutz. Wahrscheinlich sind die Befragten bezüglich der Grünen unsicher, wie weit diese Partei ihren Gegensatz zu allen

20

F. U. Pappi et al.

anderen Parteien bei ihrem „Markenkern-Issue“ treiben würde, während die hohe Sicherheit bezüglich der CSU wohl Einigkeit darüber ausdrückt, dass die CSU rechts von der CDU stehe, mal weniger wie bei der Sozialstaatsfrage und mal mehr wie bei der Einwanderungspolitik. Was das zentrale Kriterium der Urteilskonkordanz der Befragten angeht, gewinnt die Links-Rechts-Skala um Längen vor den drei Sachfragen. 98 % der Befragten mit skalierbaren Wahrnehmungswerten, d. h. mit Angaben zu mindestens vier Parteien, stimmen in der Skalenpolung überein. Diese im internationalen Vergleich hohe Übereinstimmung (vgl. Hare et al. 2015) hängt sicher auch damit zusammen, dass sich die linkeste Partei auch selbst als Die Linke bezeichnet. Am schlechtesten schneidet die sozioökonomische Links-Rechts-Frage ab, bei der nur 77 % die Skala richtig polen. Dies dürfte zum größten Teil der schwierigen Frageformulierung geschuldet sein. Der Unterschied zwischen den Original- und den reskalierten Daten zeigt sich am deutlichsten bei der Wählerverteilung (vgl. Abb. 4). Dadurch dass die Parteiwahrnehmung als Anker für die eigene Einstellung verwendet wird, wird die Neigung der Befragten, sich in der Mitte einzustufen, durch je nach ihrem Wahrnehmungsmuster stärkere Links- oder Rechts-Verschiebung konterkariert. Dies hat die auch von Hare et al. (2015) für die amerikanische Wählerschaft diagnostizierte größere Polarisierung im Vergleich zu den Originaldaten zur Folge. Für die Links-Rechts-Skala bedeutet dies einen Ausgleich der Linkslastigkeit der ursprünglichen Selbst-Einstufungen. Der Mittelwert liegt jetzt mit −0,01 fast genau in der Mitte zwischen linken und rechten Parteien. Bei der sozioökonomischen Links-Rechts-Skala liegt der Mittelwert der reskalierten Einstellungen genau bei Null. Anders ist die Situation bei der Zuwanderungsfrage mit einem Mittelwert von 0,42 und beim Klimaschutz mit −0,21. Abschließend seien die Vorteile der Reskalierung mit einem traditionellen Maß der Urteilskonkordanz illustriert: der Intraklassenkorrelation. Ausgehend von einem Verständnis der Befragten als „Experten“ wird geprüft, inwieweit die Gesamtvarianz der Urteile über alle sechs Parteien auf die Varianz zwischen den sechs Parteien und nicht auf die Fehlervarianz innerhalb der Urteile über die einzelnen Parteien zurückgeführt werden kann (Shrout und Fleiss 1979; McGraw und Wong 1996; Wirtz und Caspar 2002). Wir vergleichen die Intraklassenkorrelationen des gestapelten Datensatzes der Originalurteile mit den reskalierten Urteilen und schließlich mit den zusätzlich um Urteile von Befragten mit falscher Skalenpolung bereinigten Urteilen (vgl. Tab. 3). Die Intraklassen-Korrelationen bestätigen die Vorteile der Reskalierung und der zusätzlichen Korrektur eindrucksvoll. Die Urteilskonkordanz wird bei allen vier Skalen stufenweise verbessert. Gleichzeitig sind sich die Befragten auf jeder

Die Politikpräferenzen der Wähler und die Wahrnehmung …

21

Tab. 3   Die Urteilskonkordanz der Befragten bezüglich der Wahrnehmung der Positionen der sechs Parteien bei den vier Skalen: Originalwerte (I), reskalierte Werte (II) sowie reskalierte und korrigierte Wertea (III). (Quelle: Eigene Darstellung) I

II

III

Links-Rechts-Skala

0,67

0,74

0,76

Sozialstaatliche Leistungen

0,31

0,51

0,62

Immigration

0,29

0,46

0,54

Klimaschutz

0,47

0,54

0,68

aKorrektur:

nur Befragte mit richtiger Skalenpolung (b > 0)

Stufe am meisten über die Parteipositionen auf der Links-Rechts-Skala einig. Der größte Unterschied zwischen Orginalwerten (Stufe I) und reskalierten und korrigierten Werten (Stufe III) ist bei der Sozialstaatspolitik zu verzeichnen. Ist man schließlich bei den Befragten angelangt, die die Frage offensichtlich genauso verstehen, wie sie gemeint ist, ist die Urteilskonkordanz fast so gut wie beim Klimaschutz. Dass die Immigrationsfrage trotz der Tatsache, dass hier die meisten Befragten eine eigene Meinung äußern, auf jeder Stufe am schlechtesten abschneidet, hängt höchstwahrscheinlich damit zusammen, dass die etablierten Parteien diese Sachfrage im Wahlkampf 2013 wenig thematisierten. Es bleibt jetzt zu klären, inwieweit die Reskalierung die Wahrnehmungsverzerrungen in Form von Assimilations- und Kontrast-Effekten beseitigt. Dazu verwenden wir denselben gestapelten Datensatz, den wir zur Berechnung der Intraklassenkorrelationen verwendet haben.

6 Assimilations- und Kontrasteffekte bei Parteiwahrnehmungen Der Assimilationseffekt besagt, dass Befragte ihnen nahestehende Parteien näher an ihrem eigenen Standpunkt wahrnehmen als es der Wirklichkeit entspricht und dass sie dafür ihre Distanz zu ihnen fernstehenden Parteien überschätzen. Das naheliegende Kriterium für nahe und ferne Parteien ist zunächst die Skala, für die sowohl Parteiwahrnehmungen als auch die eigene Einstellung der Befragten erhoben wurden. Wir wissen bereits, dass die Befragten sich selbst im Durchschnitt moderater einstufen als die Parteien (Hare et al. 2015). Wir können also erwarten, dass rechte Befragte bei der jeweiligen Skala die hohen positiven Werte rechter Parteien verkleinern und die negativen Werte linker Parteien vergrößern werden.

22

F. U. Pappi et al.

Das Umgekehrte gilt für linke Befragte. Wir wählen den Mittelwert der Parteipositionen als Skalennullpunkt, wodurch Wähler, deren reskalierter Idealpunkt links des Skalenmittelwerts liegt, einen negativen Selbsteinstufungswert erhalten, wohingegen Befragte rechts des Skalenmittelpunkts einen positiven Selbsteinstufungswert erhalten. Wenn wir nun ein einfaches Regressionsmodell zur Vorhersage der individuell fehlerhaft wahrgenommenen Parteiposition (zij) in Abhängigkeit der reskalierten Selbsteinstufung schätzen, so berücksichtigt ein negativer Effektparameter alle vier Möglichkeiten gleichzeitig: er bedeutet inhaltlich für rechte Befragte einen Assimilationseffekt für rechte Parteien (sie werden näher an den Nullpunkt gerückt) und einen Kontrasteffekt für linke Parteien (sie werden weiter in den negativen Bereich gerückt) und – wegen der Multiplikation mit einer negativen Selbsteinstufung – für linke Befragte das genau Umgekehrte: linke Parteien werden näher an den Skalennullpunkt gerückt, rechte Parteien weiter in den positiven Bereich. Als weiteres Distanzkriterium zwischen Befragtem und den sechs Parteien ziehen wir die Parteiskalometer heran, bei denen die Befragten angaben, was sie von den Parteien halten, von „überhaupt nichts“, hier codiert mit 1, bis „sehr viel“, hier codiert mit 11. Die Skalometer unterteilen wir in die für rechte Parteien (CDU, CSU und FDP) und die für linke (SPD, Grüne, Linke). Hier erwarten wir einen negativen Effekt für rechte und einen positiven für linke Parteien: je positiver eine Befragte rechte Parteien einstuft, desto näher wird sie rechte Parteien an den Skalennullpunkt und linke Parteien stärker in den negativen Bereich rücken (kleinere Werte für alle Parteien), und umgekehrt wird sie linke Parteien näher an den Skalennullpunkt und rechte Parteien stärker in den positiven Bereich rücken (höhere Werte für alle Parteien), wenn sie linke Parteien positiver auf dem Skalometer einstuft. In ein einfaches lineares Mehrebenen-Regressionsmodell nehmen wir darüber hinaus fixe Konstanten für jede der sechs Parteien auf. Diese Konstanten sind Platzhalter für Eigenschaften der Parteistimuli, bei denen wir davon ausgehen, dass sie den Befragten aus der öffentlichen Diskussion weitgehend bekannt sind. Ansonsten könnte die Urteilskonkordanz, die wir mit der Interklassenkorrelation erfasst haben, nicht so hoch sein (vgl. Tab. 3). Wir berechnen jeweils ein Basismodell, das nur die Konstanten enthält, sodass wir dessen Erklärungskraft mit der zusätzlichen Erklärungskraft der Parameter für die Wahrnehmungsverzerrungen vergleichen können. Die berechneten Effekte für Selbsteinstufung und Skalometer entsprechen den Erwartungen (vgl. Tab. 4). Die Selbsteinstufung wirkt sich negativ auf die Parteiwahrnehmungen aus, genauso wie die Skalometer für rechte Parteien. Je mehr man von FDP, CDU oder CSU hält, desto näher rückt man die entsprechende Partei an die moderate Mitte der jeweiligen Skala heran und entsprechend die linken

−0,32 −0,07

0,03 −16.902,9

Einstellung Skalometer:

…Rechte Parteien

…Linke Parteien

Log Likelihood

9852 1666

Beobachtungen

Zahl Befragte

0,06

0,01

0,01

0,02

0,05

0,06

0,05

0,06

1283

7499

14.734,8

0,02 −14.551,8

−0,08

−0,31

−2,84

−1,99

2,95

2,33 −1,26

Std. F.

0,01

0,01

0,02

0,07

0,08

0,07

0,09

0,08

0,09

1390

8052

−16.557,3

0,03

−16.389,8

−0,06

−0,25

−1,78

1,34 −2,79

−1,06

2,79

1,86

Koeff.

Immigration Std. F.

0,01

0,01

0,01

0,08

0,09

0,08

0,09

0,08

0,09

−0,01 n. s.

1522

8816

17.109,8

16.830,3

−0,15

−0,28

−1,69

2,26

−3,73

−0,82

2,39

1,99

Koeff.

Klimaschutz Std. F.

0,01

0,01

0,02

0,07

0,07

0,06

0,08

0,07

0,08

Varianzen der Zufallseffekte werden nicht gezeigt. Die fixen Effekte sind alle signifikant mit p 

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