Sozialpsychologie und Sozialtheorie

Der erste Band dieser Einführung stellt die wichtigsten Sozialpsychologien und Sozialtheorien vor. Er soll dabei informativ und leicht verständlich u.a. in die Kritische Theorie, die Gouvernementalitätstudien, die Feministische Theorie und die System Theorie einführen, aber auch die Soziale Kognition, symbolischen Interaktionismus, Kritischen Psychologie sowie die psychoanalytische Sozialpsychologie vorstellen. Damit werden die sonst nur getrennt zugänglichen Sozialpsychologien und Sozialtheorien in einem Band versammelt. Ein klarer Aufbau der Kapitel führt Leserinnen und Leser in die Fragestellungen der jeweiligen Themen ein und liefert Hinweise zu weitergehender Literatur. Eine ideale Einführung für Studierende der Soziologie und Psychologie, die einen schnellen und kompakten Einstieg wünschen. Der Inhalt• Theoretische Zugänge: Kritische Theorie, Gouvernementalität, Systemtheorie, Rational Choice, Feministische Wissenschaft• Sozialpsychologien: Symbolischer Interaktionismus, Kritische Psychologie, Psychoanalytische Sozialpsychologie, Sozialkonstruktivistische Sozialpsychologie, Lerntheorie, Soziale Kognition, Neurowissenschaftliche Sozialpsychologie• Empirische Zugänge: Qualitative Forschung, Quantitative Forschung Der HerausgeberPD Dr. Oliver Decker ist Leiter des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung und des Forschungsbereichs „Gesellschaftlicher und Medizinischer Wandel“ an der Universität Leipzig.

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Oliver Decker Hrsg.

Sozialpsychologie und Sozialtheorie Band 2: Forschungs- und Praxisfelder

Sozialpsychologie und Sozialtheorie

Oliver Decker (Hrsg.)

Sozialpsychologie und Sozialtheorie Band 2: Forschungs- und Praxisfelder

Herausgeber Oliver Decker Universität Leipzig Leipzig, Deutschland

ISBN 978-3-531-19582-7  (eBook) ISBN 978-3-531-19581-0 https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Redaktion: Barbara Handke, Leipzig, www.centralbuero.de Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Oliver Decker Sozialpsychologie des Alters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Meinolf Peters Sozialpsychologie des Körpers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Robert Gugutzer Intra- und Intergruppenprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Katharina Rothe Umweltpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Heidi Ittner, Gundula Hübner und Elisabeth Kals Von der Beziehungskiste zum sozialen Netzwerk. Computer und Internet als Forschungsgegenstand der Sozialpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Elfriede Löchel Religion in Soziologie und Sozialpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Gert Pickel Sozialpsychologische Friedens- und Konfliktforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Miriam Schroer-Hippel, J. Christopher Cohrs und Johanna Ray Vollhardt Generation und Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Jan Lohl V

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Inhalt

Pädagogik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Edgar Weiß Supervision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Heidi Möller Organisationspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Ralph Sichler Migration und Migrationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Kathrin Hörter, Angela Kühner und Minna-Kristina Ruokonen-Engler Kommunikation und Sozialpsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Mario Paul Gemeindepsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Jarg B. Bergold und Olaf Neumann Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Einleitung Oliver Decker

Das Lehrbuch für Sozialpsychologie und Sozialtheorie: eine Gebrauchsanweisung Dieses Lehrbuch richtet sich an Studierende, die sich einen ersten Überblick über die Theorien und empirischen Methoden der Sozialpsychologie verschaffen wollen. Als Zielgruppe sind Studierende angesprochen, die im Hauptfach Psychologie studieren, sowohl in Bachelor- als auch Masterstudiengängen. Angesprochen sind aber auch jene, die sich in anderen Studiengängen mit der Sozialpsychologie beschäftigen. Das Lehrbuch will einen Einstieg in einzelne Theorien geben und gleichzeitig den Zugang zur Breite des Faches ermöglichen. Sozialpsychologie kann nämlich – je nach Perspektive – entweder als sehr fruchtbares oder sehr unübersichtliches Fach erscheinen. Das spiegelte sich lange Zeit in den Lehrbüchern zur Sozialpsychologie wider. Das ist heute anders, viele der Theorien finden nur noch selten Erwähnung – wenn überhaupt. Nun dienen Lehrbücher nicht nur der Einführung, in ihnen bilden sich auch Veränderungen im Fach ab. In den neueren Lehrbüchern findet sich die Vielfalt der sozialpsychologischen Zugänge nicht mehr wieder, weil deren Verfasser dem Ziel folgen, einen bündigen Einstieg zu gewährleisten, wozu sie die Darstellung widerstreitender Theorien außen vor lassen. Das geht nicht nur auf Kosten vieler Theorien oder Methoden, die dadurch kaum Erwähnung finden und auch im Studium nicht mehr vertreten sind, es geht auch auf Kosten der Forschung, die von der kritischen Prüfung ihrer Ergebnisse lebt. Seit der Aufklärung ist Kritik ein Erkennungsmerkmal der modernen Wissenschaft. Die eigene Arbeit mit der notwendigen Distanz zu prüfen, ist allerdings für die Forschenden schwierig, denn wissenschaftliche Kritik ist selten Selbstkritik. Doch eine solche Prüfung ist auch für jene Kolleg/innen kaum zu leisten, die von denselben Annahmen ausgehen und sich derselben Methoden bedienen. Kritik kann am fruchtbarsten aus anderer © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_1

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wissenschaftlicher Perspektive vorgebracht werden. Deshalb will dieses Lehrbuch möglichst viele der immer noch präsenten Ansätze aufnehmen und ihnen damit wieder einen Raum im Studium geben. Und es besteht sogar die leise Hoffnung, dass auch die mit den Hauptlinien des Faches vertrauten Sozialpsychologinnen und Sozialpsychologen in diesem Lehrbuch noch Material finden können. Lehrbücher geben auch Auskunft darüber, welche Theorien sich zwischen den Forschenden und Lehrenden gerade durchsetzen und welche keinen Eingang mehr in die Lehre finden. Das mag gerechtfertigt erscheinen: Theorien, die sich in der Wissenschaft nicht bewähren, werden aussortiert. Tatsächlich aber wird allzu oft aussortiert, was aus ganz anderen Gründen nicht mehr gefragt ist. So wichtig es ist, dass Wissenschaft ihre Eigenständigkeit gegenüber außerwissenschaftlichen Einflüssen behauptet, so falsch ist es zu glauben, dieser behauptete Idealfall wäre immer der Regelfall. Wissenschaft und universitäre Lehre sind vielmehr mit zahlreichen Fäden in die Gesellschaft eingebunden. Eine Disziplin wie die Sozialpsychologie ist auf das Engste mit der Gesellschaft und ihrer Geschichte verwoben, welche die Bedingungen von Forschung und Lehre stärker bestimmen, als es im Hochschulalltag sichtbar wird. Zum Beispiel entscheidet die Vergabe von Forschungsmitteln darüber, welche Fragen mit welchen empirischen und theoretischen Mitteln gerade beforscht werden sollen. Studienordnungen entscheiden darüber, welche Kompetenzen von den Studierenden am Ende ihres Studiums erwartet werden. Und neben der Studienordnung gibt es auch noch einen „hidden curriculum“, wie es der US-amerikanische Bildungsforscher Philipp Jackson nannte (Jackson 1975): die Art und Weise, wie studiert wird, beeinflusst durchaus die inhaltliche Auseinandersetzung. Die Veränderungen im Universitäts- und Hochschulstudium haben in den letzten Jahren eine deutliche Tendenz zur Verschulung der Studiengänge erkennen lassen. War das Studium früher bis zu den Abschlussprüfungen kaum reglementiert, ist es seit Einführung der Master- und Bachelorstudiengänge von regelmäßigen Klausuren und Zwischenprüfungen durchzogen. Die Prüfungen sind eng getaktet. Dadurch müssen Studierende das Wissen in relativ kurzer Zeit aufnehmen und präsentieren. Unabhängig von den Ursachen für diese Veränderungen kann man einige der Folgen konkret beobachten; dazu gehört auch der gestiegene Bedarf an komprimierten Zusammenfassungen und Überblicksarbeiten. Doch kurzfristig auf Wissenspräsentation zu lernen, hat Nebeneffekte, unter anderem den, dass es schwieriger wird, sich die Eigenlogik von Theorien selbst zu erschließen, denn das braucht Zeit und Geduld. Ein Lehrbuch kann beides nicht ersetzen; es kann nur neugierig machen. Deshalb ist es wichtig, gerade bei einer Sammlung einführender Texte ihre Besonderheit im Bewusstsein zu haben. Was können sie leisten und was nicht? Wie ein Fremdenführer, der auf zentrale Orte

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einer Stadt hinweist, können sie auf grundlegende Texte aufmerksam machen und für ihre Lektüre eine erste Hilfestellung geben. Die ist auch notwendig. Wer „Klassiker“ liest, merkt schnell, dass diese Grundlagentexte oft Patina angesetzt haben. Sie haben einen Zeitkern, sind weder in Stil noch Inhalt ganz von der Epoche abzulösen, in der sie entstanden sind. Das macht es den Lesenden oft so schwer, einen Zugang zu ihnen zu finden. Jeder Text richtet sich – egal wann er entstanden ist – an einen Kreis von Adressatinnen und Adressaten, den sich die Autorin oder der Autor beim Verfassen vorstellte. Darin ist ein Hinweis für Leserinnen und Leser enthalten, die selbst im Laufe ihres Studiums Referate, Hausarbeiten oder Abschlussarbeiten verfassen: Wer ein konkretes Gegenüber vor Augen hat, findet leichter Worte. Es ist aber auch ein Hinweis auf die Aufgabe der Lesenden: Ein Text – sei es nun ein Buch, ein wissenschaftlicher Aufsatz oder ein Essay – liefert nie alle Informationen mit, die es zu seinem Verständnis braucht. Er kann es nicht, denn dann würde er nie fertig. Wer schreibt, muss auslassen und verdichten, vieles bei den Lesenden voraussetzen, an geteiltes Wissen anknüpfen. Deshalb bereitet es oft so große Mühe, sich ein neues Wissensfeld zu erschließen oder – schlimmer noch – einen „Klassiker“ zu lesen. Man macht die Erfahrung, eigentlich nicht gemeint zu sein. Entweder noch nicht, weil man sich das Wissen erst erarbeiten muss, das doch zum Verständnis des Textes zwingend ist; oder nicht mehr, weil der vor Jahrzehnten geschriebene Text buchstäblich aus der Zeit gefallen ist. Beide Bedingungen, die ersten Erkundungen und der Zeitkern, sorgen dafür, dass die Lektüre vor allen Dingen Arbeit ist und gerade zu Anfang selten lustvolle. Die Aufsätze in diesem Lehrbuch sollen diesen Einstieg erleichtern, das Spannende der jeweiligen Zugänge schnell erschließen helfen und – wenn das gelingt – Lust machen auf mehr. Denn obwohl die Wurzeln fast aller Sozialpsychologien und Sozialtheorien lange zurückreichen, sind die wichtigsten Schriften als Reaktion auf gesellschaftliche Herausforderungen entstanden, die oft brandaktuell sind. Und selbst da, wo die Klassiker eng umrissene Fragen als Ausgangspunkt für eine Untersuchung oder Erörterung wählten, werden sie heute noch gelesen, weil sie einen Blick auf die Gesellschaft gestatten, der weit über den eigenen Fokus hinausreicht. Max Weber etwa wollte den Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus verstehen, Sigmund Freud die Neurosen. Und dann taten beide mehr, als sie wollten, und liefern so bis heute Ansatzpunkte für die Analyse der Gesellschaft und der Individuen. Dieses Lehrbuch will erlebbar und nachvollziehbar machen, wie sich die Wissensgebiete entwickelt haben. Die Autorinnen und Autoren der Beiträge berichten dabei aus erster Hand von ihren Gegenständen, denn als Forschende und Lehrende wenden sie die Methoden und Theorien selbst an. Das ist die beste Voraussetzung,

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um deren Bedeutung zu vermitteln. Die Kapitel sind alle ähnlich aufgebaut und orientieren sich an folgender Gliederung: 1. Zusammenfassung: Was wird in diesem Kapitel thematisiert? 2. Ausarbeitung des Themas 3. Zu wichtigen Personen und/oder Schlüsselwerken werden kurze Exkurse in einem „Kasten“ hervorgehoben 4. Am Ende steht eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse 5. Einige Verständnisfragen beschließen die Kapitel; sie fordern zur Entwicklung eigener Fragestellungen aus dem Gelesenen auf 6. Literaturverzeichnis 7. Weiterführende Literatur für die vertiefende Lektüre Bestimmt wird auch bei diesen Texten die Geduld der Leserinnen und Leser manchmal auf die Probe gestellt. Obwohl sich das Lehrbuch die Aufgabe gestellt hat, einen leichten Einstieg in die aufgezeigten Themenfelder zu bieten, muss hier etwas vorausgesetzt oder dort auf eine vertiefende Lektüre vertröstet werden. Das Ziel des Lehrbuches ist erreicht, wenn es gelingt, den jeweiligen Inhalt zu vermitteln und zur weiteren Beschäftigung anzuregen.

Ist es Sozialpsychologie und wenn ja: wie viele? Eines ist bereits deutlich geworden: Streng genommen existiert die „eine“ Sozialpsychologie nicht, der Singular führt schnell in die Irre. Folgt man dem Wissenschaftstheoretiker Thomas S. Kuhn, ist die Sozialpsychologie eine „vorparadigmatische“ Wissenschaft (Kuhn 1962, S. 32): Statt eines gemeinsamen Paradigmas (d. h. einer gemeinsamen Grundauffassung) existieren viele konkurrierende Theorien. Dieses Schicksal einer Protowissenschaft, einer Disziplin also, die sich noch nicht auf einen gemeinsamen Kanon verständigen konnte (Kuhn 1974), teilt die Sozialpsychologie mit der Psychologie wie mit den Sozialwissenschaften generell. Das muss kein Makel sein. Wo der Gegenstand einer Wissenschaft in so unterschiedlichen Phänomenen erscheint wie in der Sozialpsychologie – sie beforscht zum Beispiel physiologische und soziale, individuelle und Intergruppenphänomene –, ist es auch eine Stärke, die Methoden und Theorien an die jeweiligen Phänomene anpassen zu können. Nur gibt es innerhalb des Faches keine Einigkeit darüber, welche Theorie und welche Methode zu welchem Phänomen passt. Um diese Vielgestaltigkeit zu erfassen, ist eine möglichst weite und integrative Definition der Sozialpsychologie notwendig.

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Definition Sozialpsychologie Sozialpsychologie ist die wissenschaftliche Disziplin, die mit empirischen Mitteln versucht, menschliches Erleben und Verhalten in sozialen Kontexten zu erklären und zu verstehen. Dabei geht es sowohl um die soziale Entstehung von individuellen Phänomenen als auch um deren Rückwirkung auf die soziale Umwelt. Die zur Verfügung stehenden empirischen Methoden sind vielschichtig und reichen vom Experiment und fragebogengestützten Erhebungen über teilnehmende Beobachtung und Forschungsinterviews bis hin zu Montage und Kompilation. Unabhängig von der gewählten Methode lässt sich die Sozialpsychologie unterteilen entlang von erklärenden, verstehenden und emanzipativen Erkenntniszielen. Erklärende Zugänge versuchen, allgemeine Funktionsweisen des psychischen Geschehens in sozialen Kontexten zu erfassen. Sie beschäftigen sich mit Individuen mit dem Fokus auf allgemeine Funktionsprinzipien des Psychischen. Die verstehenden Sozialpsychologien versuchen dagegen, den individuellen Sinn und die soziale Bedeutung gesellschaftlicher Ereignisse nachzuvollziehen. Die so gewonnenen Erkenntnisse gelten für bestimmte historische Momente. Mit dem emanzipativen Erkenntnisziel sind Sozialpsychologien verbunden, deren Forschung auf die Veränderung von Gesellschaften ausgerichtet ist. Durch Forschung soll die individuelle und allgemein menschliche Handlungsfähigkeit erweitert werden. Diese Vielfältigkeit führt dazu, dass Diskussionen zwischen Sozialpsychologen manchmal eher wie ein misstönendes Stimmengewirr klingen und nicht wie ein vielstimmiger Chor – wenn es denn überhaupt zum Gespräch kommt. Das liegt nicht nur am „Narzissmus der kleinen Differenzen“, wie der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud es einmal nannte (Freud 1930, S. 474). Die gegenseitige Abgrenzung der theoretischen und empirischen Zugänge erfolgt nicht etwa in eifersüchtiger Abschottung der einen Wissenschaftlerin vom anderen Forscher. Vielmehr resultiert die Vielstimmigkeit der Sozialpsychologie daraus, dass ihre Gegenstände – das Individuum und die Gesellschaft – in sich mehrschichtig, sogar widersprüchlich sind. Jeder und jede von uns erlebt alltäglich, wie schwer es ist, das Verhalten unserer Freunde, Mitstudierenden oder Verwandten mit einfachen, in sich schlüssigen Erklärungen nachzuvollziehen. Selbst unsere eigenen Wünsche, Reaktionen und Empfindungen sind uns oft undurchschaubar, stecken zu unserem Leidwesen sogar manchmal voller Gegensätze. Auch die Gesellschaft ist von unterschiedlichen Vorstellungen bestimmt, was wichtig und wünschenswert ist. Das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse ist von den Interessen, die in der Gesellschaft herrschen, nicht

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einfach zu trennen: In den widersprüchlichen Theorien der Sozialwissenschaften spiegeln sich also die widersprüchlichen Interessen der Gesellschaft wider. Noch komplizierter wird es, wenn man bedenkt, dass auch das Verhältnis von Individuum zur Gesellschaft strittig ist: Ist der Mensch zum Beispiel das Produkt der Gesellschaft oder das seiner Anlagen? Wissensbildung ist dabei kein linearer Prozess, sondern von Brüchen, Verwerfungen und manchmal – erfreulicherweise – von plötzlichen Erfolgen geprägt. Doch lassen sich, wie in der eben gegebenen Definition, die unterschiedlichen Ansätze zumindest einigen Grundlinien zuordnen. Oft wird zwischen psychologischen und soziologischen Sozialpsychologien unterschieden. Psychologische Sozialpsychologie und soziologische Sozialpsychologie – das wirkt wie eine Wortklauberei. Doch ist die Unterscheidung berechtigt, weil sich die Sozialpsychologie in zwei unterschiedlichen Fächern entwickelt hat und diese Traditionslinien bis heute erkennbar sind. Die soziologische Sozialpsychologie bringt aus ihrem Herkunftsfach das theoretische Handwerkszeug zur Auseinandersetzung mit der Sozialstruktur und Funktion der Gesellschaft mit. Sie entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts beispielsweise aus den Theorien und Untersuchungen von Karl Marx, Émile Durkheim, Georg Simmel oder Max Weber. Damit lässt sich das Forschungsfeld der soziologischen Sozialpsychologie abstecken zwischen dem Interesse am Einfluss von Strukturen, Funktionen und sozialen Positionen auf das individuelle Verhalten und Erleben auf der einen Seite und der Rückwirkung des individuellen oder Gruppenverhaltens auf diese gesellschaftlichen Prozesse auf der anderen Seite. Mit den Worten Max Webers versucht die soziologische Sozialpsychologie ein „historisches Individuum“ idealtypisch aus der Fülle der geschichtlichen Wirklichkeit „zu komponieren“ (Weber 1920, S. 25). Dagegen betreibt die psychologische Sozialpsychologie ihr Geschäft aus ihrem psychologischen Erbteil, etwa von Wilhelm Wundt, Jean Piaget, Ivan Pavlov und Sigmund Freud. Die Gegenstände der psychologischen Sozialpsychologie sind die Motivation und das Denken, Fühlen und Verhalten von Individuen, aber auch der Einfluss anderer auf diese psychischen Phänomene. Bemühungen, das Trennende zwischen den beiden Sozialpsychologien zu überbrücken, gab und gibt es immer wieder (Stephan, Stephan & Pettigrew 1991), doch ist ihnen wahrscheinlich auch deshalb kein Erfolg beschieden, weil die Ausgangslage noch unübersichtlicher ist. In den 1970er-Jahren begann man nämlich, die Sache noch genauer zu nehmen, und formulierte den Verdacht, dass es sogar mehr als zwei Sozialpsychologien geben könnte (House 1977). Weil schon die Herkunftsfächer Soziologie und Psychologie keinesfalls einheitlich sind, sind es die aus ihr hervorgehenden Sozialpsycholo­ gien auch nicht. Das in ihnen verwendete methodische Handwerkszeug und ihre Erkenntnisziele unterscheiden sich zum Teil so fundamental, dass man nochmals unterscheiden müsse zwischen hermeneutisch-verstehenden, analytisch-erklärenden

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und emanzipativ-kritischen Ansätzen: „In den Ansatz der empirisch-analytischen Wissenschaften geht ein technisches, in den Ansatz der historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein praktisches Interesse und in den Ansatz kritisch-orientierter Wissenschaften [ein] emanzipatorische[s] Erkenntnisinteresse ein“ (Habermas 1968, S. 155). So gibt es auch in der Sozialpsychologie große Differenzen, sowohl im Ziel der Forschung als auch in ihren Methoden. Die Differenzierung zwischen qualitativen und quantitativen Methoden ist mittlerweile auch für die Psychologie grundlegend geworden. Qualitativ ist ein Forschungsdesign zum Beispiel, wenn teilnehmende Beobachtung oder Interviews eingesetzt werden, unter quantitative Designs dagegen fallen das Experiment oder Fragebogenuntersuchungen. Das sind aber nicht nur Unterschiede in der Wahl der Methoden; im Hintergrund stehen unterschiedliche Erkenntnisinteressen. Qualitative Methoden zielen darauf ab, die Bedeutung und Funktion beobachteter Phänomene zu verstehen, weshalb diese Methode auch hermeneutisch (auslegend) genannt wird. Sie wollen konkrete sozial­ psychologische Erscheinungen in bestimmten historischen Momenten verstehen. Werden dagegen quantitative Methoden gewählt, ist das analytische und an den Naturwissenschaften orientierte Ziel, allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Psyche und der Gesellschaft zu erklären. Die Bedingungen des Verhaltens oder Erlebens von Individuen sollen in ihrer Besonderheit erfasst werden (Dilthey 1894). Die kritisch-emanzipativen Sozialpsychologien schließlich zielen mit ihrer Forschung auf die Kritik der Gesellschaft und die Emanzipation der Individuen. Sie bauen auf qualitativ und quantitativ gewonnenen Erkenntnissen auf, um Machtverhältnisse und Ideologie zu kritisieren und die Gesellschaft zu verändern. Obwohl Karl Marx einer ihrer Gründerväter ist, lässt sie sich nicht umstandslos der soziologischen Sozialpsychologie zuschlagen, denn zu ihrem Wissensbestand gehören spätestens seit dem 20. Jahrhundert auch die Theorien des Psychoanalytikers Sigmund Freuds und des Kognitionspsychologen Jean Piaget. Wissenschaften existieren nicht im luftleeren Raum, sind von der Gesellschaft und ihrer Geschichte nicht zu trennen. Jede Wissenschaft entwickelt sich an den Herausforderungen und Problemen, vor der die Gesellschaft im jeweiligen Moment steht, und wirkt ihrerseits auf ihren Forschungsgegenstand zurück. Auch die Sozialpsychologie verändert die Gesellschaft und die in ihr lebenden Menschen, zum Beispiel durch die Forschung zu autoritären Reaktionen oder Vorurteilen, die nicht ohne Wirkung auf die Gesellschaftsmitglieder bleibt. Auch die Befragungen oder Experimente selbst sind Teil der sozialen Realität. Durch sie lernen die Menschen etwas darüber, wer sie sind und nach welchen Kategorien sie ihre Ansichten formulieren. Forschung ist auch in diesem Sinne ein sozialer Prozess. Welche Wissensbestände veralten und welche weiterhin Gültigkeit besitzen, das hängt in der Sozialpsychologie stark von deren Relevanz für die Gesellschaft ab.

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Dieses Lehrbuch ist weder die summarische Darstellung eines in sich geschlossenen Kanons noch ein kritischer Überblick, der die unterschiedlichen Ansätze der Sozialpsychologie miteinander verbindet. Auch soll hier nicht der Versuch einer widerspruchsfreien Darstellung der Sozialpsychologie unternommen werden. Dieses Lehrbuch erhebt vielmehr den Anspruch, die Fragen der Sozialpsychologie durch die jeweiligen Vertreterinnen und Vertreter selbst stellen zu lassen und ihnen den Raum für ihre Antworten zu geben. Geboten wird ein Panorama. Ziel ist es, eine Übersicht des in sich oft widersprüchlichen Faches zu bieten, ohne Vollständigkeit anzustreben. Im Schwerpunkt stellt der erste Band des Lehrbuches die Grundlagen der erklärenden, verstehenden und kritischen Sozialpsychologien vor. Er enthält deshalb auch eine Auswahl an Sozialtheorien, auf welche sich Sozialpsychologien mal ausdrücklich, mal stillschweigend beziehen. Darüber hinaus führt er in die methodischen Grundlagen der qualitativen und quantitativen Methoden ein. Im zweiten Band werden anwendungsorientierte Forschungsfelder vorgestellt, indem die Autorinnen und Autoren aus ihrer Perspektive zum Stand der sozialpsychologischen und soziologischen Forschung berichten. Erkenntnisziel nomothetisch-erklärend

sinnrekonstruktivverstehend kritisch-emanzipativ

Sozialpsychologien Lerntheorie, Soziale Kognition, neurowissenschaftliche Sozialpsychologie Sozialkonstruktivistische Sozialpsychologie, Symbolischer Interaktionismus Kritische Psychologie, psychoanalytische Sozialpsychologie

Sozialtheorien Rational Choice

Systemtheorie Kritische Theorie, Gouvernementalitätsstudien, Feministische Theorie

(modifizierte Darstellung nach Rock, Irle & Frey 1993)

Mein Dank gilt den Autorinnen und Autoren, deren Arbeit und Geduld das Entstehen dieses Lehrbuches erst ermöglicht haben. Für die kontinuierliche strukturierte wie inhaltliche Begleitung, für Lektorat und Redaktion bin ich auch Barbara Handke mit großem Dank verbunden. Ute Rosner danke ich für das sorgfältige Korrektorat.

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Literatur Dilthey, W. (1894). Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie. In ders. (Hrsg.), Gesammelte Schriften, Bd. 5 (S. 139–175). Frankfurt am Main: Klostermann. Freud, S. (1930). Das Unbehagen in der Kultur. In A. Freud (Hrsg.), Sigmund Freud – Gesammelte Werke Bd. XIV (S. 419–506). Frankfurt am Main: Fischer. Habermas, J. (1968). Erkenntnis und Interesse. In ders. (Hrsg.), Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt am Main: Suhrkamp. House, J. S. (1977). The Three Faces of Social Psychology. Sociometry, 40, 161–177. Jackson, P. W. (1975). Einübung in eine bürokratische Gesellschaft. Zur Funktion der sozialen Verkehrsform im Klassenzimmer. In J. Zinnecker (Hrsg.), Der heimliche Lehrplan (S. 19–34). Weinheim: Beltz. Kuhn, T. S. (1962). Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main: Suhrkamp (1973). Kuhn, T. S. (1974). Reflections on my critics. In I. Lakatos & A. Musgrave (Hrsg.), Criticism and the Growth of Knowledge (S. 231–278). London: Cambridge University Press. Rook, M., Irle, M. & Frey, D. (1993). Wissenschaftstheoretische Grundlagen sozialpsychologischer Theorien. In D. Frey & M. Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie. Bd. I: Kognitive Theorien (S. 13–47). Bern: Hans Huber. Stephan, C. W., Stephan, W. G. & Pettigrew, T. F. (Hrsg.) (1991). The Future of Social Psychology. Wiesbaden: Springer. Weber, M. (1920). Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In ders. (Hrsg.), Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: Mohr.

Sozialpsychologie des Alters Meinolf Peters

Zusammenfassung

In den einleitenden Abschnitten werden die gegenwärtigen Veränderungen des Alters sowie der kohortenspezifische Wandel beschrieben. Trotz zu beobachtender Verbesserungen wird das Alter aufgrund der existenziellen Dimension aber weiterhin ambivalent erlebt. Im zweiten Teil des Beitrages werden einzelne sozialpsychologisch relevante Themen wie die Bedeutung des Altersbildes und der Altersstereotypen, des Selbstkonzeptes und der Identität, der sozialen Beziehungen und der Kognitionen, der intergenerativen Beziehungen sowie der Kommunikation und Interaktion behandelt.

Zum gegenwärtigen Altersdiskurs Der gegenwärtige öffentliche Altersdiskurs ist ambivalent. Auf der einen Seite wird die Alterung der Gesellschaft als Last beklagt und der Pflegenotstand ausgerufen, auf der anderen Seite werden Potenziale benannt und das Alter als „späte Freiheit“ gepriesen. Auch wenn diese Argumentationsstränge auf verschiedene Ebenen abzielen – ersterer auf die gesellschaftliche, letzterer auf die des Einzelnen –, so muss es in der sozialpsychologischen Analyse darum gehen, das Schnittfeld beider zu ermessen. Dann aber wird deutlich, dass die doppelte Argumentation etwas mit der Ambivalenz gegenüber dem Alter zu tun hat, die sich durch die gesamte westliche Kulturgeschichte zieht. Schon bei den alten Griechen sind sowohl Alterslob als auch Altersschelte zu finden (Göckenjan 2000). Diese Polarität findet sich auch in der gerontologischen Forschung in den Paradigmen des Defizitmodells, das bis in die 1970er-Jahre hinein im Vordergrund stand und Abbauprozesse und Defizite © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_2

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im Vordergrund sah, und dem Kompetenzmodell des Alters, das eine positivere Sicht nahelegt (Lehr 2000).

Rahmenbedingungen heutigen Alterns Demografischer und struktureller Wandel des Alters Mit dem Begriff des demografischen Wandels werden die Veränderungen des Altersaufbaus der Gesellschaft beschrieben. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt dem Statistischen Bundesamt zufolge für Frauen heute bei nahezu 83, für Männer bei 78 Jahren und ist damit fast doppelt so hoch wie vor einhundert Jahren. Der Anteil der über 60-Jährigen an der Bevölkerung beträgt inzwischen 25 %, von denen etwa die Hälfte 60 bis 69 Jahre alt und zum Teil noch berufstätig ist. Für die Zukunft ist in der Gruppe der jungen Senioren (60–69 Jahre) mit einem vorübergehenden Anstieg von ca. 9 Mio. auf 12,7 Mio. im Jahr 2030 zu rechnen, d. h. mit einem Anstieg von 28 %, der danach wieder abflachen wird. In der Gruppe der mittleren Senioren (70–79 Jahre) wird eine ähnliche Tendenz vorausgesagt, allerdings um 10 Jahre zeitversetzt. Ein wesentlich steilerer Anstieg wird für die Gruppe der älteren Senioren (ab 80) prognostiziert, nämlich kontinuierlich bis 2050 um 276 % (Engels 2008).

Die Hundertjährigen-Studie Eine besondere Gruppe Langlebiger ist die der Hundertjährigen, die 2012 in der Heidelberger Hundertjährigen-Studie untersucht wurde. Die Ergebnisse machten die großen Einschränkungen, die das Alter mit sich bringt, deutlich: 40 % bis 60 % der Probanden waren dement, wohingegen nur 27 % keine kognitiven Defizite aufwiesen und lediglich 9 % zu einer selbständigen Lebensführung in der Lage waren. Etwa die Hälfte von ihnen lebte in einer Einrichtung der Altenhilfe. Dennoch scheint es sich um eine besonders robuste Gruppe zu handeln. In der Lebenszufriedenheit wiesen die Befragten erstaunlich hohe Werte auf, legten eine besondere psychologische Stärke an den Tag, verfügten über ein erstaunliches Maß an Kontrollüberzeugung, Optimismus und ungebrochenem Lebenswillen. Folgt man diesen Ergebnissen, scheinen es diese Eigenschaften zu sein, die mit zunehmendem Alter ein größeres Gewicht als Ressourcen bekommen und einen erheblichen Beitrag zum Überleben leisten (Rott & Jopp 2012).

Sozialpsychologie des Alters

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Durch die steigende Lebenserwartung wird sich der Anteil Älterer an der Gesamtgesellschaft erhöhen. Der derzeitige einseitige Belastungsdiskurs, der die öffentliche Debatte beherrscht, übersieht, dass sich die Zusammensetzung der Gesellschaft nicht allein durch die Zunahme der Lebensdauer, sondern auch durch die abnehmende Fertilität verändert. Eine Gesellschaft muss auch für die Jungen aufkommen, und der Anteil der unter 20-Jährigen hat sich zwischen 1980 und 2000 von 28 % auf 21 % verringert. Erst wenn man diese beiden Gruppen zusammenzählt, ergibt sich ein realistisches Bild von der Gesamtbelastung der Gesellschaft, die mit dem sogenannten Gesamtlastquotienten berechnet wird. Dieser liegt heute – und vo­ raussichtlich noch bis 2030 – unter dem von 1970 (Kiestler 2006). Eng verbunden mit dem demografischen ist der strukturelle Wandel des Alters, den Hans Peter Tews (1993) in fünf Punkten beschrieben hat: 1. Verjüngung: Der positive Trend der Verjüngung (Ältere schätzen sich jünger ein) steht dem negativen Trend (frühes, meist unfreiwilliges Ausscheiden aus dem Beruf) gegenüber. 2. Entberuflichung: Nur ein sehr kleiner Teil der über 65-Jährigen ist berufstätig. Allerdings fühlen sich 65-Jährige keineswegs alt, sodass sich der Zusammenhang von Altersselbsteinschätzung und Berufsaufgabe entkoppelt hat (siehe 1.). 3. Feminisierung: Von den über 75-Jährigen sind nur 25 % männlich – das hohe Alter ist weiblich. 4. Singularisierung: Der Anteil Alleinlebender nimmt stetig zu; in der Gruppe der über 60-Jährigen leben 17 % der Männer und 41 % der Frauen allein. 5. Hochaltrigkeit: Insbesondere diese Gruppe wird weiter wachsen. Dabei verbindet sich Hochaltrigkeit oft mit Feminisierung und Singularisierung (siehe 3. und 4.).

Soziokultureller Wandel und die Identitätskrise des Alters Das Alter wird heute nicht mehr als „Restlebenszeit“ angesehen, sondern ist eine sozial abgesicherte Lebensphase, die in soziologischen Arbeiten zunächst unter dem Blickwinkel des Rollenverlustes und der Rollenlosigkeit beschrieben wurde. Später sah Leopold Rosenmayr (1996) gerade darin die Chance zur „späten Freiheit“. Dieser Perspektivenwechsel geht mit dem erwähnten Paradigmenwechsel in der Gerontologie hin zu einer positiven Bewertung des Alters einher. Er beruht zweifellos auch darauf, dass heutige Ältere über mehr Ressourcen verfügen, diese späte Freiheit zu gestalten, ja sie gewissermaßen für sich zu beanspruchen. In der postmodernen Gesellschaft verstärkt sich der Prozess der Individualisierung und Pluralisierung des Alters weiter. Indem sich soziale Milieus auflösen und

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Traditionen lockern, sind auch ältere Menschen aufgefordert, ihr Leben stärker zu gestalten. Dieser Trend konkretisiert sich etwa darin, dass der Anteil der Haushalte, in denen fünf oder mehr Personen leben, zwischen 1900 und 1990 von 44 % auf 5 % gesunken ist. Diese Veränderung birgt einerseits Risiken, insbesondere im Falle von Hilfs- oder Pflegebedürftigkeit, andererseits entspricht sie den veränderten Bedürfnissen und Erwartungen der Älteren selbst. Frühere Kohorten waren nicht nur in stärkerem Maße durch Traditionen bestimmt und weniger mobil, sondern auch durch eine restriktive Sozialisation geprägt. Die nachrückenden, durch die Liberalisierung der 1960er-Jahre geprägten Kohorten betonen dagegen ihre Individualität. Dieser Wandel kommt in Habitus, Kleidung und Accessoires zum Ausdruck, aber auch in Einstellungen und Erwartungen. Otten (2009) hat in einer Befragung folgende Subgruppen klassifiziert (befragt wurden 50- bis 70-Jährige, die Gruppen überschneiden sich): • ca. 24 % seien demnach traditionsverwurzelte, konservative Senioren, • 18 % seien benachteiligte Modernisierungsverlierer, die meist der unteren Mittelschicht oder der Unterschicht angehören, • knapp 30 % gehören dem Milieu der Mitte an, verfügen über ein gutes Einkommen und genießen ihren „wohlverdienten Ruhestand“, • ca. 40 % rechnet Otten zum progressiven (nach) 68er-Milieu mit liberaler Grundhaltung, postmateriellen Werten und intellektuellen Interessen; sie verfügen über ein gutes Einkommen, verstehen ihr Alter als Zeit des selbstkritischen Bilanzierens der eigenen Biografie und der Verwirklichung bisher unerfüllter Lebenspläne und -träume. Insbesondere die beiden letzten Gruppen lassen die Ressourcen heutiger Älterer erkennen: Gesundheit, Bildung und finanzielle Ressourcen sind im Vergleich zur Vorgängerkohorte gestiegen; hinzu kommen Mobilitätserfahrungen, die im Alter genutzt werden können (Höpflinger 2008). Dagegen haben sie weniger Erfahrungen im Umgang mit Leid, Grenzen und Verlusten, weshalb es ihnen möglicherweise schwerer fällt, die Grenzen des Alters zu akzeptieren und mit ihnen zu leben. Einen Hinweis in diese Richtung gibt die Erhebung von Eichhorn, Spanenberg, Henrich & Brähler (2012), in der zwei Kohorten von über 60-jährigen Männern verglichen wurden. Die jüngere Kohorte zeigte sich mit der eigenen Gesundheit unzufriedener als die ältere, obwohl sich im Zeitraum zwischen den beiden Erhebungszeitpunkten 1991 und 2010 die objektive Gesundheit nachweislich verbessert hat (Wurm, Schöllgen & Tesch-Römer 2010). Die jetzige Kohorte Älterer ist möglicherweise weniger als ihre Vorgängerkohorten darauf vorbereitet, sich mit altersbedingten Einschränkungen auseinanderzusetzen und sich eine Altersidentität anzueignen,

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die auch ein Bewusstsein von Grenzen umfasst. Sie tendiert zu einem „jüngeren Verhalten“ und orientiert sich an den Normen des mittleren Lebensalters, wodurch Leistungs-, Autonomie- und Aktivitätserwartungen fortbestehen. Sie will sich nicht mit konventionellen Vorstellungen vom Alter identifizieren, sondern grenzt sich von den betagten Alten ab, auf die sie ihre Altersängste projiziert. Diese in der kritischen Gerontologie geführte Diskussion (van Dyk & Lessenich 2010) macht auf die ambivalente Entwicklung der heutigen Altersgesellschaft aufmerksam. Als besonders problematisch erscheint dabei die Unterscheidung vom jungen, noch aktiven und betagten, eingeschränkten Alter. Indem sich die Hochaltrigen mit der ihnen angetragenen Projektion identifizieren, mündet ihr Leben im Rückzug. Zwar nehmen Einschränkungen im vierten Alter tatsächlich zu, aber empirische Untersuchungen weisen wachsende interindividuelle Differenzen nach, sodass Phaseneinteilungen per se problematisch erscheinen müssen. Im gesellschaftlichen Prozess etablieren sich neue Zuschreibungen und Stereotypisierungen, die die betagten Älteren marginalisieren und zu Verlierern machen (Peters 2011).

Folgen der Kriegskindheit Der Generationenwandel hat dazu geführt, dass nunmehr diejenigen in ein höheres Lebensalter eingetreten sind, die Kriegshandlungen, Flucht und Vertreibung als Kinder oder Jugendliche erlebt haben. Über die Folgen dieser frühen Erfahrungen hat eine lebhafte öffentliche Debatte begonnen, und in den Medien werden die Ereignisse noch einmal aufgearbeitet. Inzwischen liegen auch Studien darüber vor, in welch großem Ausmaß die Folgen traumatischer Erlebnisse in Form von körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen nachweisbar bleiben. Viele ältere Menschen leiden an Symptomen, die auf ihre damaligen Erfahrungen zurückgehen und die jetzt noch einmal aufbrechen – ein Vorgang, der als Trauma-Reaktivierung bezeichnet wird (Radebold 2005).

Zur Ambivalenz des Alters Die Ambivalenz gegenüber dem Alter zeigt sich auf unterschiedlichen Ebenen. Nicht nur die Polaritäten in den Altersbildern weisen darauf hin, sondern auch die gegenwärtige Entwicklung hin zu einer Zweiteilung des Alters selbst. Während der Diskurs um die Potenziale des Alters auf das dritte Alter fokussiert wird, werden die betagten Alten im Rahmen der Pflege- und Belastungsthematik stigmatisiert.

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Wie lässt sich die Ambivalenzstruktur des Alters begründen, die sich im gesellschaftlichen Prozess und im subjektiven Erleben manifestiert? Eine Antwort auf diese Frage ist nur möglich, wenn die existenzielle Dimension des Alters mitberücksichtigt, d. h. das Alter auch als ein Sein zum Tode verstanden wird (Auer 1995). Dieser Gedanke ruft in den Menschen ein Unbehagen hervor, mit dem sie in unterschiedlichen Epochen einen je spezifischen Umgang gesucht haben. Die Tatsache des eigenen Todes lassen die Menschen allenfalls als etwas Abstraktes gelten, das mit ihnen persönlich wenig zu tun hat. Daher, so Sigmund Freud (1856–1939) in seiner Arbeit Zeitgemäßes über Krieg und Tod, flüchten Menschen in eine Phantasie der Unsterblichkeit (Freud 1915). Freud ging davon aus, dass es im Unbewussten nichts gibt, was der Zeitvorstellung entspricht. Der Tod sei deshalb allenfalls eine sekundärprozesshafte, also dem Bewusstsein zugängliche Vorstellung, die im von der Psychoanalyse als primärprozesshaft bezeichneten Unbewussten nicht möglich ist. Soziologen und Philosophen sehen in der unbewussten Phantasie der Unsterblichkeit eine entscheidende Triebkraft für die zivilisatorische Entwicklung. Kultur und Zivilisation beruhen auf dem Versprechen, den Tod zu überwinden, und dienen dem Schutz gegen die Angst vor dem Tod (Überblick bei Cave 2012). Doch das Alter unterläuft dieses Versprechen. Die Unvollständigkeit der „Architektur der menschlichen Ontogenese“, so Paul Baltes (1991), zeigt sich im Alter immer unabweisbarer, führt zu Einschränkungen, Gebrechen und schließlich zum Tod. Daraus aber resultiert der existenzielle Konflikt des Alters, in dem sich Unsterblichkeit und Sterblichkeit dem Verstand mit gleicher Macht aufdrängen, so der Soziologe Zygmunt Baumann (1994). Es sind die „dringlichen Erfahrungen“, von denen Martin Heidegger (1889–1976) sprach, die das Bewusstsein des Todes in der zweiten Lebenshälfte von einer abstrakten zu einer konkreten Vorstellung werden lassen. Dem Psychoanalytiker Elliot Jaques (1965) zufolge ist die erste Lebenshälfte von der manischen Abwehr des Todes geprägt, während es in der zweiten Lebenshälfte darum gehe, die Abwehr abzubauen und einen reiferen Umgang mit der Begrenztheit des Lebens zu entwickeln. Gelingt das, kann der Mensch die Tatsache des Todes aushalten, ja konstruktiv nutzen und einen tieferen Zugang zum Leben finden. Somit kann die Akzeptanz des Todes zu einem Entwicklungsschritt führen, ohne dass das Sterblichkeitsparadoxon, das darin besteht, dass der Tod zugleich unausweichlich und unmöglich ist (Cave 2012), aufzulösen wäre. In der globalisierten, beschleunigten Welt wird der Tod immer weniger als natürlicher Teil des Lebens akzeptiert – der aktuelle, positive Altersdiskurs ist unter anderem durch diesen Verdrängungsprozess geprägt. Auch deshalb wird das hohe Alter, in dem der Tod näher rückt, mehr denn je marginalisiert.

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Ausgewählte Themen der Sozialpsychologie des Alters Altersbilder und Altersstereotype Mit dem Aufstieg des Kapitalismus am Ende des 19. Jahrhunderts hat ein jugendzentriertes Leitbild von Aufbruch, Neuerung und Entwicklung die Oberhand gewonnen, während den Älteren überwiegend negative Eigenschaften zugeschrieben wurden. Zahlreiche Untersuchungen haben gezeigt, dass Jüngere und Ältere ein eher negatives Bild vom Alter haben (Lehr 2000). In den letzten Jahrzehnten hat sich dieses Bild gewandelt und differenziert, sodass heute – so stellt der Altenbericht der Bundesregierung 2010 fest – das Bild vom Alter positiver geworden ist. Damit ist eine wichtige Voraussetzung für die bessere Integration Älterer in die Gesellschaft gegeben, haben Altersbilder bzw. Altersstereotypen doch einen wesentlichen Einfluss darauf, wie ältere Menschen wahrgenommen und beurteilt werden. Insgesamt ist die Einschätzung des Alters heute aber heterogen. Das offenbart sich in Studien mit verschiedenen Methoden: Werden Fragebögen verwendet, finden sich vorrangig positive Altersbilder, werden weniger leicht durchschaubare Methoden eingesetzt, fallen die Ergebnisse negativer aus. Eine häufig angewandte Methode ist der sogenannte Implizite Assoziationstest (IAT). Darin werden die Begriffe alt oder jung vorgegeben und zusammen mit positiven oder negativen Eigenschaften kurz dargeboten; gemessen wird die Zeit, die die Versuchsperson braucht, das Begriffspaar zu erkennen. Dabei ist die Reaktionszeit bei der Verbindung jung mit positiven und alt mit negativen Eigenschaften kürzer als bei den anderen Kombinationen. Während Fragebögen explizite Einstellungen erfassen, ermittelt der IAT implizite Einstellungen. Die negativen Einstellungen zum Alter schwächen sich im Laufe der Lebensjahre nicht ab (Levy & Banaji 2002), ja mehr noch: Sie sind größer als bei anderen stereotypen Einstellungen, etwa bezogen auf das Geschlecht (Übersicht bei Hess 2006). Dieser Befund ist in vielerlei Hinsicht von Bedeutung. Der soziokulturelle Wandel des Alters führt offensichtlich zu einem Wandel des expliziten, bewusst geäußerten Altersbildes. Manchmal nimmt es positive Züge an und wirkt wie das Gegenteil des Defizitbildes. Hier scheint eine Überkompensation stattzufinden, die aus der sozialpsychologischen Forschung bekannt ist und dann auftritt, wenn ein Negativstereotyp vermieden werden soll, weil es sozial nicht erwünscht ist. Auf der unbewussten, impliziten Ebene bleibt das Altersbild aber so negativ getönt wie zuvor. Hierfür können zwei Gründe angenommen werden: Zum einen wirken unbewusste frühere Erfahrungen mit Älteren nach, die ein noch negativeres Bild vom Alter hatten, zum anderen ist das Alter mit einer gewissermaßen archetypischen Angst vor Zeitlichkeit, Endlichkeit und Tod verbunden.

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Selbstkonzept und Identität im Alter Das Selbstkonzept ist eines der zentralen Forschungsfelder der Gerontologie. Lange wurde angenommen, dass Selbstkonzept und Selbstwertgefühl im Alter großen Belastungen ausgesetzt seien, insbesondere in der psychoanalytischen Tradition, in der das Alter als narzisstische Kränkung, ja narzisstisches Trauma gedeutet wurde (Zusammenfassung bei Peters 2004). Diese Annahme ist plausibel: Soziale Verluste (Rollenverluste oder Todesfälle) und körperliche wie kognitive Einbußen lassen eine erhebliche Belastung des Selbstwertgefühls erwarten. Umso erstaunlicher sind die zahlreichen empirischen Befunde, die eine hohe Konstanz des Selbstwertgefühls und des persönlichen Wohlbefindens nachweisen (Übersicht bei Pinquart 1998). Dieses erwartungswidrige Ergebnis wird in der gerontologischen Literatur als Paradoxon des Alters diskutiert. Das Phänomen wird mit der weitreichenden inneren Umstrukturierung des Selbst im Alter erklärt, wie die Studie von Freya Dittmann-Kohli (1990) veranschaulicht. Mithilfe eines Satzergänzungstests wurden darin jüngere und ältere Menschen miteinander verglichen, wobei sich eine Verschiebung von Zielen, Werten und Bedeutungszuschreibungen bei den Älteren fand. Bei jüngeren Menschen waren Ängste und Selbstzweifel im Hinblick darauf zu beobachten, ob die eigenen Wünsche, Träume und Ziele auch realisierbar und sie den Anforderungen der äußeren Welt gewachsen wären. Die Älteren sahen ihre Ziele als erreicht oder nicht mehr relevant an, die meisten hatten daher keine großen, auf die Zukunft bezogenen Pläne mehr. Durch die Abwertung bzw. die Aufgabe bisheriger Ideale und Standards erreichen Ältere eine größere Übereinstimmung von Real- und Ideal­selbst (Ryff 1991) und dadurch eine hohe psychische Stabilität. Ziele sind immer auf die Zukunft ausgerichtet, die für Ältere keine positive Orientierungsfunktion mehr hat. Die Umstrukturierung kann auch durch die Umkehrung der affektiven Bewertungen vonstatten gehen, zum Beispiel indem die Angst vor negativen Ereignissen in der Zukunft in die Hoffnung verkehrt wird, das Bestehende erhalten zu können. Ihren gegenwärtigen Stolz und ihr Selbstwertgefühl begründeten Ältere mit positiven Selbstattributen, die ihnen geblieben waren, beispielsweise mit noch guter Gesundheit, Aktivität und Vitalität. Dabei spielten Abwärtsvergleiche eine große Rolle, zum Beispiel jünger zu wirken als Gleichaltrige. Die Umstrukturierung des Selbst rückt Erhaltungsziele in den Vordergrund, während Entwicklung und Erweiterung an Bedeutung verlieren. Infolgedessen konzentrieren sich Ältere auf ihr momentanes Befinden in der Gegenwart, auf das Erhalten des Status quo. Dieser gegenwartsbezogene Fokus schützt das Selbstwertgefühl und schafft eine solide Grundlage für das Wohlbefinden, wobei Selbstkritik durch Selbstakzeptanz abgelöst wird. Dittman-Kohli zufolge entsteht ein Zustand,

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den Erik H. Erikson (1902–1994) als Ich-Integrität beschrieb (1973). Scheitert der Prozess, fühlen sich Ältere weiterhin ihren bisherigen Idealen verhaftet und folgen obsolet gewordenen Standards und zukunftsbezogenen Plänen, droht eine innere Kluft zu den tatsächlichen Erfahrungen zu entstehen. Die Folgen sind Schamgefühle, Minderung des Selbstwertgefühls und Depressionen bis hin zu suizidalen Krisen (Peters 1998; 2004).

Soziale Beziehungen und Kognitionen im Alter Der nachgewiesene Rückgang an sozialen Beziehungen im Alter findet auch unabhängig von Todesfällen statt. In der Vergangenheit hatte die Disengagementtheorie erheblichen Einfluss bei der Erklärung dieses Sachverhaltes: Sie nahm an, dass ein Rückzug älterer Menschen aus der Gesellschaft unumgänglich sei und im Interesse der Älteren und der Gesellschaft liege (Zusammenfassung bei Tesch-Römer 2010). Dieses defizit-orientierte Modell ist umstritten. Ferring und Filipp (1999) zeigten etwa, dass sich die Anzahl weniger vertrauter Personen im Beziehungsnetz mit zunehmendem Alter reduziert, während die Anzahl sehr vertrauter Personen relativ konstant bleibt. Dieser Befund nun wird heute mit der Theorie der sozioemotionalen Selektivität erklärt (Carstensen 2007; Carstensen, Isaacowitz & Charles 1999), für die nicht mehr das kalendarische Alter, sondern die Wahrnehmung von Zeit und Vergänglichkeit ausschlaggebend ist. Im Laufe des Älterwerdens werde das Vergehen der Zeit immer deutlicher wahrgenommen, das Ticken der „inneren Uhr“ immer lauter. Ferner postuliert sie einen „time shift“: nicht die gelebte, sondern die verbleibende Lebenszeit rückt ins Bewusstsein, wodurch sich die primäre Motivationslage ändere. Da jüngere Menschen die Zukunft als unbegrenzt wahrnehmen, sind sie eher bereit, neue Beziehungen einzugehen. Sie bevorzugen solche Beziehungen, die der Informationsgewinnung dienen, die den Horizont erweitern und dazu beitragen, sich auf die Zukunft vorzubereiten. Wird Zeit hingegen als begrenzt wahrgenommen, gewinnt die emotionale Befriedigung im Hier und Jetzt, d. h. das Gefühl von Wertschätzung, Verbundenheit und Sicherheit, an Bedeutung. Ältere Menschen gestalten ihre sozialen Kontakte so um, dass die Beziehungen, die im Hinblick auf diese Bedürfnislage als besonders bedeutsam eingeschätzt werden, mehr Raum erhalten (Lang & Carstensen 1994). Damit wird die defizit-orientierte Erklärung der Disengagementtheorie durch die Annahme ersetzt, dass dieser Prozess durch die Älteren selbst gesteuert wird, dass sie also Gestalter ihrer Entwicklung sind. Offenbar gelingt es älteren Menschen, die Kontrolle über das eigene Leben zu behalten, Wohlbefinden sicherzustellen und emotionale Stabilität aufrechtzuerhalten (Lawton 2001).

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Die veränderte motivationale Ausrichtung im Alter beeinflusst auch kognitive Prozesse und führt zur bevorzugten Wahrnehmung und Speicherung emotionaler Informationen. Stehen positive und negative Informationen zur Verfügung, werden im Alter eher die positiven wahrgenommen. Anders als bei Jüngeren, ist bei Älteren die Reaktionsintensität der Amygdala bei positiven Emotionen größer als bei negativen. Das Arbeitsgedächtnis erleidet im Alter zwar Einbußen, in geringerem Maße allerdings bei emotionalen Informationen. Die veränderte motivationale Ausrichtung lässt also die kognitiven Prozesse nicht unbeeinflusst. Der postulierte Positivitätseffekt (Reed & Carstensen 2012) trägt dazu bei, die Welt und das eigene Leben in einem positiven Licht zu sehen, und stellt somit gewissermaßen einen narzisstischen Schutz dar. So konnte etwa gezeigt werden, dass ältere Menschen zur positiven Umdeutung der eigenen Biografie neigen und in interpersonellen Situationen Konflikte eher zu vermeiden suchen (Carstensen 2007). Das Ausblenden negativer Affekte hat allerdings eine Kehrseite, die beispielsweise zum Tragen kommt, wenn negative gesundheitliche Veränderungen geleugnet bzw. entsprechende Informationen vermieden werden. Labouvie-Vief, Grühn & Studer (2010) gehen noch einen Schritt weiter und interpretieren den Positivitätseffekt als Ausdruck einer Regression auf ein hedonistisches Muster, das als Versuch der Kompensation für eine reduzierte kognitiv-affektive Komplexität zu verstehen sei (vgl. auch Peters 2014).

Einsamkeit Zum negativen Altersstereotyp gehört die Annahme, dass ältere Menschen vereinsamen. Einsamkeit ist mehr als soziale Isolation, nämlich ein schmerzliches Gefühl, das aus der Diskrepanz zwischen den ersehnten und den aktuell vorhandenen Beziehungen des Individuums entsteht (Cacioppo & Patrick 2011). Die Prävalenzraten hängen davon ab, wie Einsamkeit operationalisiert wird. Bei alten Menschen liegen die Raten im Durchschnitt zwischen 5 % und 16 % (manchmal oder häufig einsam). Da auch in anderen Lebensphasen Einsamkeit auftritt, besonders in der Adoleszenz, wird heute von einem U-förmigen Verlauf ausgegangen. Einsamkeitsgefühle sind eng mit Trauer verbunden, häufiger bei Unverheirateten, bei Männern und jenseits des 75. Lebensjahres anzutreffen. Neben der äußeren Lebenssituation hat auch die innere Beziehung, die ein Älterer zu sich selbst hat, Einfluss darauf, ob Einsamkeitsgefühle auftreten. Donald Winnicott (1896–1971) hat das die Fähigkeit, allein sein zu können, genannt – über eine innere Objektwelt zu verfügen, sei Voraussetzung dafür, sich allein nicht einsam zu fühlen (1958). Diese Fähigkeit gewinnt im Alter an Bedeutung.

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Intergenerative Beziehungen im Alter Von den vertrauten Beziehungen, die bis ins hohe Alter bestehen, nehmen die zu den eigenen Nachkommen einen besonderen Stellenwert ein. Der gesellschaftliche und demografische Wandel wirkt sich auch hier aus: Die abnehmende Kinderzahl reduziert das soziale Netz und wird es zukünftig noch stärker ausdünnen. Eine wesentliche soziale Altersrolle, nämlich die der Großeltern, steht Älteren heute weniger zur Verfügung. Darüber hinaus wirkt sich die wachsende Mobilität in der Gesellschaft auf die Kontakthäufigkeit negativ aus, was im Hilfs- oder Pflegefall zum besonderen Problem wird. Dennoch beschreiben sowohl alte Menschen als auch ihre erwachsenen Kinder die Eltern-Kind-Beziehung als höchst bedeutsam. Rosenmayr (1996) hat schon vor Jahren die Formel der „Intimität auf Abstand“ gefunden und meinte damit, dass sich zwar der äußere Abstand im Zuge des Ablösungsprozesses vergrößere, aber die innere Verbindung und eine Form der Intimität erhalten bleibe. Dennoch deutet diese Formel auch auf die Ambivalenz hin, die in vertikalen familiären Beziehungen größer ist als in horizontalen. Peters, Hooker & Zvonkovic (2006) befragten eine Gruppe Mütter und Väter über ihre Beziehungen zu den erwachsenen Kindern. Dabei wurde bei nahezu allen Interviewten eine Ambivalenz in zwei Bereichen deutlich: Zum einen wurden die Kinder als besonders beschäftigt wahrgenommen, was die Eltern mit Stolz erfüllte, weil sie dies als Nachweis für die Bedeutung der Kinder interpretierten. Die Mehrzahl der Eltern wünschte sich aber auch, die Kinder häufiger zu sehen, wollten ihnen gegenüber aber diesen Wunsch nicht zum Ausdruck bringen. Zum anderen wurden die Themenbereiche konflikthaft erlebt, bei denen es die Eltern vermieden, Grenzen zu überschreiten (Norm der Nichteinmischung), nämlich Beziehungsfragen und Fragen der Kindererziehung. Auch zukunftsbezogene Fragen, wie die Versorgung der Eltern im Pflegefall, wurden kaum thematisiert. Eltern bevorzugen demnach unkomplizierte Themen und Aktivitäten, was die Autoren der Studie als ritualisierte Nichtkommunikation bezeichnen. Gemäß der sozioemotionalen Selektivitätstheorie sind es die Älteren, die an familiärer Harmonie interessiert und dabei in der Lage sind, auch ambivalente Gefühle zu kontrollieren, allerdings oftmals zulasten einer offenen Kommunikation.

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Generativität Der Begriff der Generativität wurde von Erikson (1973) eingeführt und meint im biologischen Sinne die Reproduktion, den Schutz und die Erziehung der eigenen Kinder, im Alter dann die Weitergabe von Kompetenzen, Erfahrungen und Werten an Mitglieder der jüngeren Generationen. Dieses Konzept hat zahlreiche Arbeiten angeregt, wobei denen von McAdams & St. Aubin (1998) besondere Bedeutung zukommt. Sie unterscheiden zwei Formen der Generativität: Erstens die emotionale Form, die eine narzisstische Komponente aufweist, indem symbolische Unsterblichkeit angestrebt wird – Eltern wollen dann etwas hinterlassen, das über ihr eigenes Selbst hinaus Bestand hat –, und zweitens die kommunale Form, die sich in einer Haltung der Fürsorge, Solidarität und Offenheit gegenüber der jungen Generation manifestiert.

Kommunikation und Interaktion Die Kommunikation und Interaktion zwischen jüngeren und älteren Menschen außerhalb der Familie ist Gegenstand der sozialpsychologischen und linguistischen Forschung und hat eine hohe Anwendungsrelevanz. Alltägliche Kommunikationsnetze sind überwiegend altershomogen, nur ca. 5 % dieser Netze umfassen Mitglieder mehrerer Generationen (Filipp & Mayer 1999). Coupland, Coupland & Giles (1991) sprechen demzufolge davon, dass sich in der Begegnung Jüngerer und Älterer zwei Fremde begegnen. Zur Untersuchung der Kommunikationsmuster zwischen den Generationen werden häufig zwei Personen – eine jüngere, eine ältere – in einem Labor zusammengebracht und aufgefordert, sich eine Weile zu unterhalten. Die aufgezeichneten Gespräche werden dann im Detail analysiert, wobei die Befunde erstaunlich konsistent sind (Thimm 2000). In ungleichen Dyaden geht es in der Kommunikation, vor allem in der Erstbegegnung, um Identitätsdarstellung und -schutz, und dies scheint auch in Gesprächen zwischen Jüngeren und Älteren der Fall zu sein, und zwar auf beiden Seiten. Meist dominieren die Älteren das Gespräch: Sie geben das Thema vor und beanspruchen den deutlich größeren Redeanteil für sich. Das Kommunikationsverhalten älterer Menschen gegenüber Jüngeren ist in nicht unerheblichem Maß von einer gewissen Egozentrik geprägt, was allerdings als Interaktionsphänomen, nicht als Eigenschaft der Älteren zu interpretieren ist. Die Jüngeren vermeiden es, eine aktive Gesprächshaltung einzunehmen, auch weil ihnen die Höflichkeit Zurückhaltung gegenüber Älteren gebietet. Die Jüngeren befördern die Dominanz der Älteren sogar, indem sie nachfragen und die Älteren nonverbal bzw. paraverbal zum Weitersprechen

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ermuntern. Die submissive Rolle, die Jüngere zumeist einnehmen, hat zur Folge, dass sie das Gespräch möglichst schnell zu beenden suchen. In Befragungen wird deutlich, dass Jüngere mit diesen Gesprächen unzufrieden sind, wenn sie etwa den Eindruck wiedergeben, der Ältere habe sich nicht für sie interessiert (Überblick bei Filipp & Mayer 1999). Die Jüngeren greifen in solchen Situationen häufig zum Patronisieren, besonders dann, wenn ihnen der institutionelle Kontext eine solche Rolle zugesteht, wie beispielsweise im medizinischen oder pflegerischen Bereich. Patronisierende Kommunikation zeichnet sich durch vereinfachtes Vokabular, Häufung von Diminutiva, vereinfachte Grammatik, besondere Anredeformen sowie häufige Verwendung kindlicher Ausdrücke aus. Auch bleibt die Themenwahl eng begrenzt, das Gespräch verläuft oberflächlich und ist durch übertriebene Positivbewertungen geprägt. Auslöser ist ein negatives Altersbild, das rasch durch einige Altersmerkmale wie graue Haare und verlangsamte Bewegungen aktiviert und mit Einschränkungen assoziiert wird. Den Jüngeren verschafft das Patronisieren Sicherheit und Überlegenheit, ja in gewisser Weise scheint sich die Eltern-Kind-Beziehung umzukehren. Der Ältere selbst fühlt sich in seinem Selbstwertgefühl herabgesetzt, indem er sich mit dem ihm angetragenen Defizitbild identifiziert. Durch sein abhängiges Verhalten bestätigt er zudem das beim Jüngeren zugrunde liegende negative Altersstereotyp.

Ausblick Der Wandel des Alters schlägt sich auch in einer Veränderung der gesellschaftlichen Partizipation nieder. Die Erwerbspartizipation älterer Arbeitnehmer steigt allmählich wieder an, die Bildungspartizipation nimmt stetig zu. So nahm 2008 jeder Dritte der 55- bis 69-Jährigen mindestens einmal jährlich an einer Bildungsveranstaltung teil, unter den 70- bis 85-Jährigen jeder Fünfte. Auch die ehrenamtliche Beteiligung der Älteren ist angestiegen (Naumann & Gordo 2010). Dadurch leisten sie heute einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenleben; hinzu kommen die Beteiligung an der Betreuung der Enkelkinder sowie hohe materielle Transfers innerhalb der Familie auf die jüngere Generation. Die Diskussion um die gesellschaftliche Belastung durch die Alten rückt so in ein anderes Licht. Während die soziale Anerkennung und gesellschaftliche Integration der jungen Alten zusehends steigt, erscheint die Situation der betagten Älteren in einem völlig anderen Licht. Der Diskurs über diese Altersgruppe wird nicht vom Leitbild über die Potenziale des Alters, sondern vom Szenario des Pflegenotstandes und dem Schreckensbild der Demenz geprägt. Ihr Erfahrungswissen ist in der globalisierten

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Welt kaum gefragt. Zukünftig sollten sich sowohl die Gesellschaft als auch die gerontologische Forschung dieser Gruppe mehr zuwenden. Die Verengung des Diskurses über das hohe Alter auf die Pflegedimension, die überholt geglaubte Defizitbilder vom Alter neu belebt hat, sollte durchbrochen werden, um auch dieser Gruppe die Chance auf gesellschaftliche Teilhabe und ein würdevolles Alter zu ermöglichen. Indem sich die Gesellschaft auch für die Eigenarten dieses Lebensabschnittes öffnet, könnte sie ein verändertes Verhältnis zu Endlichkeit, Tod und Sterben entwickeln.

Verständnisfragen

▶ Beschreiben Sie einige Entwicklungstrends heutigen Alterns. Worauf sind diese Entwicklungen zurückzuführen?

▶ Ist es sinnvoll, von der Ambivalenz des Alters zu sprechen? Auf welchen Ebenen ist eine solche Ambivalenz auszumachen?

▶ Wie wirkt sich die Erfahrung von Zeit im Leben älterer Menschen aus? ▶ Was ist mit Paradoxon des Alters gemeint? Wie ist es zu erklären?

Literatur Auer, A. (1995). Geglücktes Alter: Eine theologisch-ethische Ermutigung. Freiburg: Herder. Baltes, P.B. (1991). The many faces of human ageing: toward a psychological culture of old age. Psychological Medicine, 21, 837–854. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2011). Altersbilder in der Gesellschaft: Sechster Bericht zur Lage der älteren Generation in der Bundesrepublik Deutschland. http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Pressestelle/Pdf-Anlagen/sechster-altenbericht,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf [17.07.2013]. Cacioppo, J.T. & Patrick, W. (2011). Einsamkeit: Woher kommt sie, was sie bewirkt, wie man ihr entrinnt. Heidelberg: Spektrum. Carstensen, L., Isaacowitz, D.M. & Charles, S.T. (1999). Taking Time Seriously. American Psychologist, 54, 165–181. Cave, St. (2012). Unsterblichkeit: Die Sehnsucht nach dem ewigen Leben als Triebkraft unserer Zivilisation. Frankfurt am Main: Fischer. Dyk van, S. & Lessenich, St. (2010). Die „Aufwertung“ des Alters: Eine gesellschaftliche Farce. Mittelweg, 36, 19, 15–33. Erikson, E.H. (1973). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Filipp, S.-H. & Mayer A.-K. (1999). Bilder des Alters. Stuttgart: Kohlhammer.

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Sozialpsychologie des Körpers Robert Gugutzer

Zusammenfassung

Die Sozialpsychologie des Körpers beschäftigt sich mit dem Wechselverhältnis von Körper, Psyche und Gesellschaft. Eine soziologische Sozialpsychologie des Körpers, wie sie hier umrissen wird, richtet ihren Fokus primär auf die sozialen Kontextbedingungen, die für das leibliche Wahrnehmen und Empfinden sowie für das körperliche Handeln und Interagieren von Individuen und Gruppen bedeutsam sind. Dieses Kapitel präsentiert wichtige Vorläufer einer soziologischen Sozialpsychologie des Körpers, liefert einen systematischen Überblick über deren zentrale Themengebiete und skizziert zukünftige Forschungsfelder.

Einleitung Die Sozialpsychologie beschäftigt sich mit der sozialen Formung und den sozialen Auswirkungen des Denkens, Fühlens und Verhaltens menschlicher Individuen. Da menschliche Individuen körperliche Wesen sind, liegt es auf der Hand, dass sich die Sozialpsychologie auch mit dem menschlichen Körper auseinanderzusetzen hat. Schließlich ist schwer vorstellbar, wie Denken, Fühlen und Verhalten ohne Körper vonstattengehen sollen. Um denken zu können, bedarf es einer materiellen Basis, des Gehirns, und um wahrzunehmen, der Sinnesorgane; Gefühle spürt man am eigenen Leib, und jedes Handeln und Interagieren wird mittels körperlicher Bewegungen ausgeführt. Auch das Selbstbild korreliert mit dem eigenen Körper, etwa mit der Körperzufriedenheit, die wiederum mit gesellschaftlich vorgegebenen Körperbildern in Zusammenhang steht. Ebenso haben Einstellungen und Vorurteile, zum Beispiel gegenüber ausländischen Bevölkerungsgruppen, Symbolisierungen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_3

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der Zugehörigkeit zu einer Subkultur oder der Umgang mit jungen bzw. alten Menschen häufig mit deren körperlichem Erscheinungsbild und Verhalten zu tun. Obwohl die lebensweltliche Bedeutung des Körpers offenkundig ist, wenden sich die Sozialwissenschaften dem „Körper“ erst seit gut drei Jahrzehnten zu, seitdem allerdings in einem Ausmaß, dass von einem regelrechten „body turn“ (Gugutzer 2006) gesprochen werden kann. Eine Sozialpsychologie des Körpers ist dennoch erst ansatzweise ausgearbeitet, auch wenn Paul Schilder (1886–1940) bereits 1933 auf deren Wichtigkeit hingewiesen hatte. Das grundlegende Thema der Sozialpsychologie des Körpers ist das Verhältnis von Körper, Psyche und Gesellschaft. Konkret interessiert sie sich für die soziale Formung und die sozialen Effekte von psychisch relevanten Aspekten des Körpers. Die im Folgenden eingenommene soziologisch-sozialpsychologische Perspektive richtet den Fokus primär auf die sozialen Kontextbedingungen, die für das subjektive Wahrnehmen, Empfinden und Handeln des Körpers bedeutsam sind. Es werden zunächst wichtige Vorläufer einer soziologischen Sozialpsychologie des Körpers vorgestellt, dem folgen ein systematischer Überblick über typische Themen- und Forschungsfelder sowie ein Ausblick auf relevante zukünftige Forschungsthemen.

Vorläufer einer soziologischen Sozialpsychologie des Körpers Einer der frühesten Ansätze, in denen das Verhältnis von Körper, Psyche und Gesellschaft zur Sprache kam, ist die psychoanalytische Kulturtheorie Sigmund Freuds (1856–1939). Freud hatte ein biologisches Verständnis vom Körper und setzte Körper mit Trieb gleich, wobei er zwischen Sexualtrieb (Eros) und Todestrieb (Thanatos) unterschied. Beide Triebe gehören nach Freud zur Natur des Menschen und stehen im Kontrast zur menschlichen Kultur. Für die Kulturentwicklung betrachtete Freud den „Gegensatz von Kultur und Sexualität“ (1930/1994, S. 72) als entscheidend: Kultur sei überhaupt nur möglich, weil Menschen „Triebverzicht“ übten, ihre sexuellen Bedürfnisse also unterdrückten oder verdrängten (ebd., S. 63). Dieser Triebverzicht ist aber auch für die psychische Entwicklung von Menschen bedeutsam. Das wird Freud zufolge insbesondere an Neurotikerinnen und Neurotikern deutlich, die unter den kulturell auferlegten Beschränkungen des Sexuallebens, also dem Konflikt zwischen sexuellen Wünschen und kultureller Zwangsmoral, litten und nach Ersatzbefriedigungen suchten (vgl. ebd., S. 101). Neben den Versagungen, die die Kultur dem Menschen im Ausleben seiner sexuellen Bedürfnisse auferlegt, unterdrücke sie auch dessen – aus dem Todestrieb

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abgeleiteten – Aggressionstrieb. Ein friedliches soziales Zusammenleben wäre nicht möglich, wenn der menschlichen Neigung zur Aggression keine kulturellen Schranken (Normen, Gebote, Gesetze) auferlegt würden. Die Menschen ließen dann wohl ihren Aggressionen anderen Menschen gegenüber freien Lauf. Freud zufolge zeichnet sich der Kulturmensch dadurch aus, dass er diese kulturellen Schranken internalisiert und daher selbst dafür sorgen muss, seine Aggressionsneigung zu beherrschen. Freud nennt die entsprechende psychische Instanz Über-Ich, die als „Gewissen“ die individuelle Aggressionsbereitschaft gegen das eigene Ich (anstatt gegen andere Menschen) richtet. Es sind die Schuldgefühle, die aus der Verinnerlichung des Aggressionstriebs und der Entwicklung des Über-Ichs resultieren, die für die Menschen das von Freud so bezeichnete „Unbehagen in der Kultur“ ausmachen. Für die Sozialpsychologie des Körpers ist Freud deshalb ein wichtiger Autor, weil er deutlich gemacht hat, dass sich die Entwicklung der psychischen Struktur des Menschen entlang sozial vermittelter körperlicher Erfahrungen vollzieht. „Das Ich ist vor allem ein körperliches“, heißt es prägnant in Das Ich und das Es (1923/1992, S. 266), und weil der Körper mit seinen Trieben immer auch ein sozialer Körper ist, ist das „Ich“ gleichermaßen ein soziales Ich. Im psychosozialen Modell der Identitätsentwicklung von Erik H. Erikson (1902–1994), das die Psychoanalyse Freuds mit kulturanthropologischen Ansätzen verknüpft, findet sich diese Verschränkung der Genese von Körper, Psyche und Gesellschaft identitätstheoretisch ausgearbeitet (Erikson 1973). In eine ähnliche Richtung zielt die Zivilisationstheorie von Norbert Elias (1897– 1990; Elias 1939/1976). Anknüpfend an Freud, zeichnete Elias den historischen Prozess nach, in dem es in Westeuropa zwischen dem 13. und 18. Jahrhundert zu einer zunehmenden Zivilisierung des Körpers kam. Elias prägte dafür die Begriffe „Soziogenese“ und „Psychogenese“: Die Soziogenese, die durch sozialstrukturelle Entwicklungen wie Urbanisierung, Herausbildung eines staatlichen Gewaltmonopols oder Entwicklung einer funktionalen Arbeitsteilung gekennzeichnet ist, habe zu einem grundlegenden Wandel der Persönlichkeitsstruktur geführt, der Psychogenese, deren sichtbarster Ausdruck die Zivilisierung des körperlichen Verhaltens sei. Zentrales Merkmal dafür sei die zunehmende Selbstkontrolle der Affekte und Triebe: Im Zuge des Zivilisationsprozesses wird der körperliche Ausdruck zunehmend durch Selbstzwänge kontrolliert, während (von außen auferlegte) Fremdzwänge wie Ge- und Verbote an Bedeutung verlieren. Elias folgt hier Freud und spricht von der Ausbildung einer „Selbstzwangapparatur“, dem „Über-Ich“, das als historisch gewachsene und sozialisatorisch erworbene Instanz das Verhalten der Menschen auf die gesellschaftlich gültigen Verhaltensstandards hin „konditioniert“ (Elias 1939/1976, Bd. I, S. 329). Besonders deutlich werde das in einer gesteigerten Trieb- und Affektbeherrschung, vor allem

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der Beherrschung aggressiver und gewalttätiger Neigungen. Mit der unbewussten Selbst- und Affektkontrolle sei, so Elias, des Weiteren eine Rationalisierung des Körpers verbunden, das heißt, ein zunehmend vernunftgeleiteter, reflektierter, weniger spontaner Umgang mit dem Körper (z. B. Diäthalten, Sport aus Gesundheitsgründen). Schließlich sei eines der Hauptmerkmale der Zivilisierung des Körpers der Anstieg der Scham- und Peinlichkeitsschwellen (vgl. ebd., Bd. II, S. 397). Diesen Anstieg kann man sich leicht daran vergegenwärtigen, dass wir „zivilisierten“ Menschen uns heute schneller und öfter schämen und ekeln als Menschen zu früheren Zeiten, etwa wenn am Esstisch gerülpst oder gefurzt wird. Ähnlich wie in den Studien von Elias liefern auch die historisch-soziologischen Arbeiten Michel Foucaults (1926–1984) Hinweise auf eine zunehmende Intensivierung der Kontrolle gegenüber körperlichen Praktiken. Foucault hat insbesondere in seiner Studie über die Geburt des Gefängnisses herausgearbeitet, wie sich in der Moderne eine spezifische Machttechnik durchsetzen konnte, deren Zielscheibe der individuelle Körper ist: die Disziplin (Foucault 1975/1976). Soziale Institutionen und Organisationen – wie das Gefängnis, das Militär oder Krankenhäuser, aber auch der Sport, die Universität oder die Schule – nutzen körperlich disziplinierende Techniken, mit denen die in ihnen agierenden Individuen zu „fügsamen“ und „nützlichen“ Gesellschaftsmitgliedern geformt werden (vgl. ebd., S. 177). Foucault nannte das die „Mikrophysik der Macht“ (ebd., S. 178). Diese institutionalisierten Disziplinierungen wirken zum Teil bis ins Innerste des menschlichen Körpers hinein (daher „Mikrophysik“) und bringen auf diese Weise effektive Körper hervor, die den Fortbestand der Institution gewährleisten. Foucault zufolge finden sich in modernen Gesellschaften drei Hauptmechanismen zur körperlichen Disziplinierung, deren Einfachheit den Erfolg der Diszi­ plinarmacht erklärt: „hierarchische Überwachung“, „normierende Sanktion“ und „Prüfung“ (vgl. Gugutzer 2004, S. 64f.). Das Kernstück der disziplinierenden Macht ist die hierarchische Überwachung. „Die Durchsetzung der Disziplin erfordert die Einrichtung des zwingenden Blicks: eine Anlage, in der die Techniken des Sehens Machteffekte herbeiführen und in der umgekehrt die Zwangsmittel die Gezwungenen deutlich sichtbar machen“ (Foucault 1975/1976, S. 221). Blicke sind Machtmittel, die die Körper anderer zu kontrollieren und zu disziplinieren vermögen. Formen des „zwingenden Blicks“ finden sich in allen sozialen Institutionen, wobei deren Bandbreite von technischen Überwachungsanlagen (z. B. Videoüberwachungen auf öffentlichen Plätzen) bis zur face-to-face-Kontrolle (z. B. der strafende Blick des Lehrers) reicht. Besonders wirkmächtig sind die Blicke der „signifikanten Anderen“ (Mead 1988), wenn der Einzelne sie internalisiert hat. Schließlich sind die interaktionstheoretischen Arbeiten von Erving Goffman (1922–1982) ein weiterer Vorläufer einer soziologischen Sozialpsychologie des Kör-

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pers. Goffmans grundlegendes Thema war die Frage, wie Menschen in Situationen, in denen sie sich von Angesicht zu Angesicht begegnen, eine Interaktionsordnung herstellen. Seiner Auffassung nach spielt dafür die Tatsache, dass die Interaktionspartner körperlich ko-präsent sind und dadurch wechselseitig aufeinander reagieren (können), eine entscheidende Rolle. Wenn Menschen einander begegnen, begegnen sich zuallererst menschliche Körper, die mit ihren wechselseitig aufeinander bezogenen Handlungen soziale Ordnung herstellen. Goffman hat in seinen Studien immer wieder darauf hingewiesen, dass es in Interaktionen mit anderen Menschen vor allem darum gehe, den richtigen „Eindruck“ zu hinterlassen (statt authentisch zu sein). Dafür seien bestimmte „Techniken der Imagepflege“ (Goffman 1967/1971) wichtig, allen voran Techniken der körperlichen Selbstdarstellung. Ähnlich wie Schauspieler auf der Theaterbühne seien wir Alltagsschauspieler darum bemüht, so Goffman (1959/1983), unsere Rollen möglichst gut und überzeugend zu spielen, nicht aus der jeweils eingenommenen Rolle zu fallen und als ein bestimmtes Selbst zu erscheinen. Und für dieses Identitätsmanagement nutzen wir das dramaturgische Potenzial unseres Körpers, indem wir uns beispielsweise schminken und frisieren, bewusst dieses oder jenes Kleidungsstück anziehen, laut sprechen oder zärtlich flüstern, dominant oder schüchtern auftreten. Solche körperlichen Praktiken des Selbstmanagements haben Goffman zufolge vor allem den Sinn, soziale Anerkennung zu erhalten und auf diese Weise eine positive Identitätsarbeit zu leisten. Dafür sei es ratsam, sich an die gesellschaftlich herrschenden „Identitätsnormen“ (Goffman 1963/1975, S. 160f.) zu halten und die mit der eingenommenen Rolle verbundenen Erwartungen nicht zu enttäuschen. Dieser kursorische Überblick über die Vorläufer einer soziologischen Sozialpsychologie des Körpers lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die psychische Relevanz des Körpers insbesondere in der sozial geforderten und vermittelten Selbstkontrolle körperlichen Verhaltens und Empfindens, der situationsspezifischen interaktiven körperlichen Selbstdarstellung und der normativ gerahmten körperlichen Identitätsarbeit besteht.

Themen- und Forschungsfelder Anknüpfend an die allgemeine Aufgabenstellung der Sozialpsychologie, die sozialen Bedingungen und Folgen individuellen Denkens und Wahrnehmens, Fühlens und Verhaltens zu analysieren, zeichnet sich das Forschungsfeld einer Sozialpsychologie des Körpers durch drei thematische Schwerpunkte aus: die Körperlichkeit von Kognition (Denken und Wahrnehmen), Emotion (Fühlen) und Aktion (Verhalten).

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Körper, Kognition und Soziales Wie hängt der Körper als materielle Basis und „Zielscheibe“ von Kognitionen mit dem gesellschaftlichen Kontext, in dem Menschen denken und wahrnehmen, zusammen? Eine grundlegende Antwort auf diese Frage hat die britische Sozialanthropologin Mary Douglas (1921–2007) gegeben. Douglas hat dafür die Formel von den „zwei Körpern“ geprägt, dem „sozialen“ und dem „physischem Körper“ (Douglas 1970/1974, S. 99). Mit dem sozialen Körper sind die Ideen, Ideologien, Glaubenssätze, Weltbilder, Wert- und Moralmaßstäbe, Deutungs- und Interpretationsmuster gemeint, die in einer Gesellschaft kursieren. Sie prägen die Wahrnehmung und Bewertung des eigenen Körpers wie auch der Körper anderer Menschen. Eine natürliche Auffassung und Einstellung zum Körper gibt es aufgrund des Eingebundenseins des Menschen in kulturspezifische Wissens- und Wertesysteme nicht. Umgekehrt kommt in der „physischen Wahrnehmung des Körpers“ (ebd.) die Wahrnehmung der Gesellschaft zum Ausdruck. Wie wir unseren Körper erleben und den Körper anderer Menschen wahrnehmen, korrespondiert mit gesellschaftlichen Kategorien. So spiegeln sich in der Wahrnehmung des eigenen Körpers als leistungsstark, fit und jugendlich oder in der Bewertung anderer Körper als sportlich, dick oder faltig gesellschaftliche Konzepte und Alltagstheorien über Leistung, Aussehen und Alter. Betrachtet man den Zusammenhang von Wahrnehmung und Gesellschaft von der anderen Seite, also im Hinblick darauf, wie die Wahrnehmung die Gesellschaft formt, lässt sich mit dem deutschen Philosophen und Soziologen Georg Simmel (1858–1918) sagen, dass ohne sinnliche Wahrnehmung bzw. ohne die Sinnesorgane als materielle Basis der Wahrnehmung Gesellschaft gar nicht möglich wäre. Unter Gesellschaft versteht Simmel die „Wechselbeziehung“ oder „Wechselwirkung“ von Individuen (Simmel 1908/1992), und da für diese Art von Vergesellschaftung die wechselseitige sinnliche Wahrnehmung Grundvoraussetzung ist, seien die Sinne das materielle Fundament von Gesellschaft. Eine herausragende Bedeutung kommt nach Simmel dabei dem Auge zu. Im „gegenseitigen Sich-Anblicken“ sieht er „die unmittelbarste und reinste Wechselbeziehung“ zwischen Menschen (ebd., S. 723). Vielleicht ist das der Grund dafür, dass in der modernen Gesellschaft das „Sehen und Gesehenwerden“ (Bublitz 2006) eine so bedeutende Rolle spielt. Betont die Kulturphilosophie Simmels vor allem die Bedeutung sinnlicher Wahrnehmung für die Herstellung von Sozialität, so kommt in einer phänomenologischen Perspektive primär die körperliche Selbstwahrnehmung in den Blick. In phänomenologischer Tradition ist hier vom Leib die Rede, womit konkret das Sich-selbst-Spüren gemeint ist (vgl. Schmitz 2011; Gugutzer 2002). Phänomenologisch orientierte sozialpsychologische Arbeiten haben gezeigt, dass die Art und Intensität eigenleiblicher Erfahrungen sowie der Umgang mit dem Sich-Spüren

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von sozialen Kontextbedingungen wie zum Beispiel dem gesellschaftlichen Wissensvorrat abhängen. Dass Frauen, wenn sie nachts allein durch einen Park gehen, Angst verspüren, liegt nicht in der Natur der Frau, ihrer Biologie, sondern an dem in Sozialisationsprozessen erworbenen Wissen, dass Frauen nachts in Parks Opfer männlicher Gewalt werden können (vgl. Lindemann 1993). Verallgemeinert heißt das: Wie wir uns spüren – durch Muskelschmerz, Hunger, Nervosität oder Lust –, wann wir uns spüren – beim Sport oder Flirten, bei einer Prüfung oder Fastenkur – und wie wir mit unserem leiblichen Selbsterleben umgehen – Schmerztablette nehmen, etwas essen, Maskottchen in der Hand drücken, Einladung nach Hause vorschlagen –, ist durch kulturelle Wissensbestände, Deutungs- und Handlungsmuster geprägt. Hunger empfindet, bewertet und begegnet man anders, je nachdem, ob man sich einer fünftägigen Fastenkur unterzieht, seit Jahren an Magersucht leidet, sich aus politischen Gründen in einem Hungerstreik befindet oder in einer Gegend mit extremer Nahrungsmittelknappheit lebt. Wie der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) gezeigt hat, sind die individuellen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster im Umgang mit Leib und Körper durch und durch sozial geformt. Nach Bourdieu ist die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse die entscheidende Variable für die (nicht nur) „feinen Unterschiede“ – so der Titel eines seiner Hauptwerke – in der Wahrnehmung und Interpretation von leiblichen und körperlichen Phänomenen (vgl. Bourdieu 1979/1982). Bourdieu nennt das den „klassenspezifischen Habitus“, der sich beispielsweise darin äußere, dass Angehörige höherer sozialer Klassen Sportarten präferieren, die ohne Körperkontakt ausgetragen werden (z. B. Golf, Segeln, Polo), während Angehörige unterer Klassen Sportarten bevorzugen, in denen Kraft und Kampf zentral sind (z. B. Ringen, Boxen, Gewichtheben). Selbst der Geschmackssinn ist Bourdieu zufolge nichts Natürliches, sondern sozial erworben. Sozialstrukturell oder kulturell bedingte Differenzierungen lassen sich schließlich auch hinsichtlich körperbezogener Vorurteile, Stereotype und Diskriminierungen feststellen. So haben Deutsche vielleicht das vorgefertigte Urteil, dass alle Brasilianer begnadete Tänzer seien, und diese womöglich das Bild, alle Deutsche seien fleißige Arbeiter. Und wahrscheinlich gibt es tatsächlich Männer, die glauben, Frauen können nicht einparken, und Frauen, die meinen, Männer können nicht zuhören.

Körper, Emotion und Soziales Abgesehen davon, dass der Körper durch physiologische Prozesse die Grundlage für Emotionen bietet, bleiben zwei Ebenen, auf denen das Verhältnis von Körper und

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Emotion lokalisierbar ist: Die leibliche Empfindung und der körperliche Ausdruck von Gefühlen. Beide Ebenen sind mit sozialen und kulturellen Bedingungen verflochten. Der Kieler Philosoph Hermann Schmitz hat darauf hingewiesen, dass es Gefühle gibt, von denen man „leiblich-affektiv betroffen sein“ kann, die man also spürt, und andere, die man bloß wahrnimmt, ohne von ihnen ergriffen zu sein (Schmitz 1993, S. 47f.). Typischerweise sind Gefühle, von denen man spürbar betroffen ist, subjektiv bedeutsamer als solche, die man „nur“ wahrnimmt (z. B. panische Angst versus diffuse ängstliche Unruhe). Die leibliche Qualität eines Gefühls hat dabei neben individuellen Gründen und Auswirkungen auch soziale Ursachen und Folgen, ist also kontextabhängig. Der Hass eines muslimischen oder christlichen Fundamentalisten auf Anders- oder Nichtgläubige beispielsweise ist ein in der jeweiligen Religionsgemeinschaft erworbenes Gefühl, dessen Zielscheibe eine bestimmte andere Gruppe oder Gesellschaft ist. Gefühle haben darüber hinaus einen körperlichen Ausdruck oder streben danach. Wer sich freut, zeigt das je nach leiblicher Intensität durch ein Lächeln, Lachen, einen Luftsprung oder in die Höhe geworfene Arme. Die zivilisatorisch auferlegten Selbstkontrollmechanismen verhindern es oft genug, dass wir den eigenen Gefühlen freien Lauf lassen. Wir haben die situativ gültigen Gefühlsregeln verinnerlicht und wissen uns entsprechend zu benehmen. Körperlich ausagierte Gefühle, die den normativen Erwartungen widersprechen, werden dann typischerweise von anderen Interaktionsteilnehmern sanktioniert. Auf solche Gefühlsregeln und der damit verbundenen Gefühlsarbeit haben insbesondere Vertreter des Symbolischen Interaktionismus aufmerksam gemacht (vgl. Gerhards 1988, S. 166ff.). Sie haben gezeigt, dass der körperliche Ausdruck von Gefühlen in mindestens zweifacher Hinsicht sozial gerahmt ist: Menschen interpretieren auf der Grundlage erworbener Deutungsmuster den sichtbaren körperlichen Ausdruck von anderen Menschen als ein bestimmtes Gefühl, und Menschen gehen typischerweise mit dem körperlichen Ausdruck ihrer Gefühle gemäß der situativen Gegebenheiten um. Einen eindrucksvollen Beleg dafür, wie diese Gefühlsarbeit sozial gelernt und praktiziert wird, liefert die Studie von Arlie Hochschild (1990) über das Gefühlsmanagement von Flugbegleiterinnen.

Körper, Aktion und Soziales Hinsichtlich des körperlichen Verhaltens von Menschen interessiert sich die Sozialpsychologie für die grundlegende Frage, welche Rolle der Körper als nicht-sprachliches Kommunikationsmedium für psychosoziale Prozesse spielt. Und mit Blick auf die für die Sozialpsychologie besonders relevanten Gruppenprozesse lautet eine

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weitere zentrale Frage, wie über körperliche Darstellungen und Inszenierungen soziale Prozesse in und zwischen Gruppen gestaltet werden. Aus der Binnenperspektive des Individuums ist der Körper als Leib ein zentrales Kommunikationsmittel im zwischenmenschlichen Umgang. Schmitz hat dafür den Ausdruck „leibliche Kommunikation“ eingeführt (Schmitz 2011, S. 29–53). Gemeint ist damit das Phänomen, dass die leibliche Selbstwahrnehmung von einer leiblichen Fremdwahrnehmung abhängt – man spürt den, die oder das andere (z. B. das Wetter) am eigenen Leib. Ein paradigmatisches Beispiel für eine alltägliche Form leiblicher Kommunikation ist der Blickkontakt. Blicke spürt man. Blickkontakte sind dabei in zweifacher Hinsicht sozial gerahmt. Zum einen legt der soziale Kontext fest, welche Art von Blick gestattet bzw. erwartbar ist. So dürfen kleine Kinder Erwachsene anstarren, Erwachsene dürfen das untereinander aber nicht; und während man sich beim Flirten lang und innig in die Augen schaut, wirft man sich in einem Streit vielleicht „eiskalte“ Blicke zu, mit denen man das Gegenüber ‚töten‘ möchte. Zum anderen hat die leibliche Kommunikation (nicht nur) im Blickkontakt typischerweise Folgen für den Verlauf einer Interaktion. Wer seiner Gesprächspartnerin intensiv in die Augen blickt, obwohl die soziale Rahmung „Vorstellungsgespräch“ statt „Flirten“ heißt, wird mit einer negativen Sanktion rechnen müssen und zum Beispiel den Job nicht bekommen. In face-to-face-Situationen – genauer müsste man sagen: Leib-zu-Leib-Situationen – nimmt man den oder die anderen Anwesenden immer irgendwie wahr, auch ohne Blickkontakt oder verbale Kommunikation. Daher lässt sich sagen, dass die leibliche Kommunikation die grundlegende Form von Sozialität darstellt. Ihre psychosoziale Funktion wird besonders in sozialen Verständigungsprozessen deutlich, die wortlos vonstattengehen. Beispiele hierfür sind das ‚blinde‘ Verstehen – aber auch das Missverstehen – der Interaktionspartner in Sport und Tanz (vgl. Gugutzer 2012), Musik (Orchester) oder Sexualität. Aus einer Beobachterperspektive gerät anstelle der leiblichen Kommunikation das körperliche Handeln und Interagieren von Menschen in den Fokus. Da soziales Handeln immer ein körperliches Handeln ist, sind soziale Begegnungen ebenfalls körperliche Prozesse. So spielen biologische Kriterien wie Geschlecht, Alter oder Ethnie eine bedeutende Rolle in sozialen Situationen. In vielen Fällen verläuft die Interaktion mit Frauen, Kindern oder Schwarzen anders als mit Männern, Alten oder Weißen, weil mit jeder dieser sozialen Kategorien andere Attribuierungen verbunden sind. Umgekehrt werden für die einzelne Person aufgrund ihres biologischen Körpers nicht selten situationsspezifische psychische Anpassungsprozesse erforderlich (z. B. das Unterdrücken von Wut angesichts rassistischer Äußerungen). Besonders augenfällig wird die psychosoziale Dimension des Körpers in Gruppenkontexten. Das gilt sowohl für Interaktionen innerhalb einer Gruppe als auch

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zwischen zwei oder mehreren Gruppen. In beiden Fällen fungiert der Körper als physisches Kapital, das in „symbolisches Kapitel“ (Bourdieu 1980/1987, S. 205–221) wie Ansehen, sozialer Status oder Macht konvertiert werden kann. Über sein körperliches Auftreten und Erscheinungsbild in einer Gruppe kann man sich „in Szene setzen“ und Einfluss auf sie nehmen (z. B. Arbeitsbesprechung, Familienfeier, Fußballspiel). Unabhängig davon, ob solche körperlichen Selbstinszenierungen aus subjektiver Sicht ge- oder misslingen, ist offenkundig, dass sie sozial wirksam sind, da die Gruppenmitglieder sich irgendwie dazu verhalten müssen. Selbst wenn die körperliche performance – in der doppelten Wortbedeutung von Darstellung und Leistung – des Gruppenmitglieds vom Rest der Gruppe ignoriert wird (indem etwa das Machogehabe des Kollegen einfach übergangen wird), handelt es sich dabei um eine soziale Antwort, die womöglich gerade wegen des Ignorierenwollens mit besonderer psychischer Anstrengung verbunden ist. Die Sozialpsychologie hat die Aufgabe, die psychosozialen Bedingungen, Verläufe und Folgen solcher körperlichen Selbstdarstellungen und Selbstinszenierungen innerhalb sozialer Gruppen zu analysieren. Dasselbe gilt im Hinblick auf Intergruppenbeziehungen. Hier wird der Körper vor allem als Symbol der Gruppenzugehörigkeit sozial bedeutsam. Die Bindung an eine bestimmte Gruppe wird über körperliche Zeichen, Gesten, Praktiken und Rituale zum Ausdruck gebracht, einerlei ob es sich um die Zugehörigkeit zu einer Clique, Subkultur, Region oder Nation handelt. Die absichtsvoll zur Schau gestellte Selbstidentifikation durch eine entsprechende Frisur, Tätowierung oder Tracht korrespondiert dabei häufig mit einer bewussten Distinktion gegenüber anderen Gruppierungen (z. B. Punks versus Skinheads). Umgekehrt resultiert aus der Abgrenzung und insbesondere der Ablehnung anderer Gruppen, die über deren sichtbare Verkörperungen vorgenommen wird, die Gewissheit der eigenen Gruppenzugehörigkeit. So trägt die Körperarbeit der Gruppenmitglieder zur Selbst- und Fremdkonstruktion von Gruppenidentitäten bei.

Ausblick Vor dem skizzierten Hintergrund lassen sich für die Sozialpsychologie des Körpers einige aktuelle Forschungsfelder identifizieren, die es empirisch weiter zu bearbeiten gilt: Dazu zählen psychosomatische Erkrankungen wie Essstörungen oder Sportsucht, Altern als psychosomatischer Prozess zwischen Lebensstil und Lebensschicksal, die vielfältigen Praktiken des Körper- und Schönheitskults, body enhancement wie Doping im Sport oder Gehirndoping, Ursachen und Bewältigung körperlicher Gewalterfahrungen, vor allem sexuellen Missbrauchs,

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sowie körperbezogene Diskriminierungen und Stigmatisierungen etwa aufgrund körperlicher Behinderung. Aufgabe der Sozialpsychologie des Körpers ist es, die sozialstrukturellen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Gründe, Unterschiede, Auswirkungen und Bewältigungsmaßnahmen dieser individuellen und kollektiven Selbstverkörperungen zu untersuchen.

Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es einer soziologischen Sozialpsychologie des Körpers um die psychosozialen Bedingungen und Folgen leiblich-körperlichen Denkens und Wahrnehmens, Empfindens und Verhaltens geht. Je nach wissenschaftlicher Fragestellung stehen stärker die psychosozialen Verkörperungen des Individuums oder die individuellen Verkörperungen des Sozialen im Mittelpunkt. Unabhängig von der jeweiligen Schwerpunktsetzung zeichnet sich Identität als das grundlegende Thema einer sozialpsychologischen Auseinandersetzung mit dem Körper ab. Ob es um einzelne Menschen oder um Gruppen und große Kollektive geht, wann immer Fragen zum Körper auftauchen, werden zugleich Fragen der individuellen oder kollektiven Identität berührt. Weil der Körper Grundlage, Medium und Ausdruck des Selbst ist, ist jede individuelle oder kollektive Art der Körperthematisierung immer auch eine Form der Selbstthematisierung (vgl. Gugutzer 2002).

Verständnisfragen

▶ Inwiefern prägen gesellschaftlich vorherrschende Körperbilder die eigene

Körperwahrnehmung und Körperpraxis? Wie lässt sich das an den Beispielen „Attraktivität“ oder „Gesundheit“ zeigen?

▶ Durch welche gesellschaftlichen Entwicklungen ist der individuelle Umgang

mit Trieben, Affekten und Gefühlen zivilisierter und disziplinierter geworden? Wie lassen sich vor diesem Hintergrund die Phänomene Hooliganismus, Pornographie oder „Komasaufen“ erklären?

▶ Wie kann durch das körperliche Erscheinungsbild und Verhalten Einfluss auf soziale Prozesse innerhalb einer Gruppe genommen werden? Inwiefern ist der Körper ein geeignetes Medium, Bindung an und Abgrenzung von Gruppen zu symbolisieren?

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Robert Gugutzer

Literatur Bourdieu, P. (1979/1982). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bourdieu, P. (1980/1987). Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bublitz, H. (2006). Sehen und Gesehenwerden – Auf dem Laufsteg der Gesellschaft. Sozialund Selbsttechnologien des Körpers. In R. Gugutzer (Hrsg.), body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports (S. 341–361). Bielefeld: transcript. Douglas, M. (1970/1974). Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Frankfurt am Main: Fischer. Elias, N. (1939/1976). Über den Prozess der Zivilisation. Band I und II. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Erikson, E. H. (1973). Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Foucault, M. (1975/1976). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Freud, S. (1923/1992). Das Ich und das Es. In ders. (Hrsg.), Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften (S. 251–295). Frankfurt am Main: Fischer. Freud, S. (1930/1994). Das Unbehagen in der Kultur. In ders. (Hrsg.), Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften (S. 29–108). Frankfurt am Main: Fischer. Gerhards, J. (1988). Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik und Perspektiven. Weinheim/München: Juventa. Goffman, E. (1967/1971). Techniken der Imagepflege. In ders. (Hrsg.), Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation (S. 10–53). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Goffman, E. (1963/1975). Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Goffman, E. (1959/1983). Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München/ Zürich: Piper. Gugutzer, R. (2002). Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologisch-soziologische Untersuchung personaler Identität. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Gugutzer, R. (2004). Soziologie des Körpers. Bielefeld: transcript. Gugutzer, R. (Hrsg.) (2006). body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Bielefeld: transcript. Gugutzer, R. (2012). Verkörperungen des Sozialen. Neophänomenologische Grundlagen und soziologische Analysen. Bielefeld: transcript. Hochschild, A. (1983/1990). Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung der Gefühle. Frankfurt am Main/New York: Campus. Lindemann, G. (1993). Das paradoxe Geschlecht. Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl. Frankfurt am Main: Fischer. Mead, G.H. (1988). Geist, Identität und Gesellschaft. Aus der Sicht des Sozialbehaviorismus (7. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Schilder, P. (1933). Das Körperbild und die Sozialpsychologie. Imago. Zeitschrift für psychoanalytische Psychologie, ihre Grenzgebiete und Anwendung, XIX/3, 367–376.

Sozialpsychologie des Körpers

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Weiterführende Literatur Abraham, A. & Müller, B. (Hrsg.) (2010). Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld. Bielefeld: transcript. Orbach, S. (2010). Bodies. London: Profil. Posch, W. (2009). Projekt Körper. Wie der Kult um die Schönheit unser Leben prägt. Frankfurt am Main/New York: Campus. Radley, A. (1991). The Body and Social Psychology. New York et al.: Springer. Steins, G. (2007). Sozialpsychologie des Körpers. Wie wir unseren Körper erleben. Stuttgart: Kohlhammer.

Intra- und Intergruppenprozesse Katharina Rothe

Zusammenfassung

Schwerpunkte sozialpsychologischer Forschung zu Intra- und Intergruppenprozessen liegen in der Vorurteils- und Konfliktforschung. Der Hauptteil beginnt mit Klassikern und ist in zwei übergeordnete Abschnitte gegliedert. Beide verzweigen sich sodann in mehrere verschiedene Forschungslinien und führen teilweise in aktueller Forschung wieder zusammen. Sozialpsychologische Intra- und Intergruppenforschung konzentriert sich überwiegend auf das destruktive Potenzial von Gruppen, was sich im Fokus der Forschung auf Ein- und Ausschlussprozesse und gruppenbasierte Einstellungen zeigt, die auf die Abwertung von jeweils konstruierten „Anderen“ zielen. Zur Forschung zu Kooperation und Zusammenarbeit in Gruppen wird auf die Arbeits- und Organisationspsychologie verwiesen.

Definitionen Grundlegend lassen sich zwei Perspektiven auf Gruppen unterscheiden – solche, die von der Gruppe als Entität ausgehen, und solche, die am Individuum in der Gruppe ansetzen. Eine minimale, vom Individuum ausgehende psychologische Definition ist die von Rupert Brown, der unter einer Gruppe mindestens zwei Individuen versteht, die sich als Angehörige einer Gruppe definieren, die von mindestens einer anderen Person als solche anerkannt wird (Brown 1999, S. 2f.). Deutlich liegt hier der Fokus auf einzelnen Individuen und geteilten Kognitionen. Mit dem Grundsatz der Gestaltpsychologie „Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile“ (Metzger 1975, S. 6) fasst Lewin die Dynamik einer Gruppe als eigene Entität (Lewin 1949) und betont die Interdependenz ihrer Mitglieder. Nach ihm ist die Gruppe ein „dyadische[s] Ganze[s], das sich durch starke gegenseitige Abhängigkeit seiner Mitglieder auszeichnet“ (ebd., S. 356f.). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_4

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Hauptwerke Psychoanalyse Sigmund Freud (1856–1939) wird selten als Begründer der Gruppenpsychologie genannt, denn er differenziert nicht zwischen Kleingruppen, Großgruppen, organisierten Menschenmengen und der gesamten Gesellschaft. Doch mit seiner Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) hat er ein Grundlagenwerk für die Analyse von Gruppen geschaffen. Darin erhellt er vor allem destruktive Massenbewegungen, für die der nahende Nationalsozialismus ein Beispiel werden sollte. Er grenzt sich von den Massen- und Rassentheoretikern seiner Zeit entschieden ab, indem er sich gegen Biologisierungen im Sinne eines „Herdentriebes“ und gegen die Annahme einer „Massenseele“ wendet. Freud versucht die Dynamik der Masse zu verstehen, indem er sie auf Prozesse im Individuum zurückführt: Identifizierung und Idealbildung. Um zur „psychologische[n] Masse“ zu werden, bedarf es eines von den Gruppenmitgliedern geteilten Ideals – eine idealisierte „Führer“-Figur oder eine abstrakte Idee. „Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben“ (ebd., S. 108). Über den Mechanismus der Identifizierung kann das Massenindividuum an der Macht des Ideals narziss­ tisch teilhaben. Die Identifizierung ist zugleich „die ursprünglichste Form der Gefühlsbindung an ein Objekt“ (ebd., S. 99). Das heißt, die Mechanismen, die bei der Kleingruppen- bis zur Großgruppenbildung wirksam werden, sind nach Freud dieselben, unter denen sich das Subjekt konstituiert.

Gestalttheorie, Gruppendynamik, Gruppenexperiment Zeitgleich zur Psychoanalyse entwickelte sich im Deutschland der 1920er-Jahre die Gestalttheorie. Als einer ihrer Gründer gilt Kurt Lewin (1890–1947). Mit Beginn des Nationalsozialismus 1933 und der Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen unde Juden in Europa emigrierte Lewin in die USA. Dort wurde er vor allem für seine experimentelle Gruppenpsychologie und Aktionsforschung bekannt. Lewin gilt auch als Pionier des Gruppenexperiments, mit dem er insbesondere die Variationen aggressiven Verhaltens untersuchte. In einer über mehrere Monate andauernden Beobachtungsstudie erforschte er die Effekte von Führungsstilen (autoritär, demokratisch und laissez-faire) in und zwischen Gruppen von Jungen, indem er sie experimentell variierte (Lewin 1939/1999). Damit konnte er das de­ struktive Potenzial autoritärer Führung und eines autoritären Klimas nachweisen.

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Auch der Begriff des Sündenbocks („scapegoat“), der in der Vorurteilsforschung (Allport 1954) eine zentrale Rolle spielt, stammt von Lewin. Er beobachtete, dass das aggressive Verhalten von Gruppen gegenüber einzelnen Gruppenmitgliedern zunahm, wenn der autoritäre Leiter den Raum verließ. Er verstand das als Resultat der Frustrationen, die unter Einfluss des Autoritären erfahren wurden (Lewin 1939, S. 249).

Wesentliche Erweiterungen Kritische Theorie: Autoritarismus, Faschismus, Rechtsextremismus Hat Freud mit seiner Massenpsychologie den aufkommenden Nationalsozialismus antizipiert, so ist die Entwicklungslinie der Kritischen Theorie und der hieran anschließenden Autoritarismusforschung unter dem traumatischen Eindruck der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden entstanden. Die Arbeiten des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt bildeten die Grundlage für die Studien zum autoritären Charakter (Adorno et al. 1950). Darin wird untersucht, wie sich gesellschaftliche Gewalt ins Individuum vermittelt. Zugleich werden gesellschaftstheoretische mit entwicklungspsychoanalytischen Überlegungen verknüpft und so der Zusammenhang zwischen autoritären Erziehungserfahrungen und einem „Gesellschaftscharakter“ (Fromm 1980/1936) offengelegt. Menschen mit autoritärer Orientierung („autoritäre Charaktere“) tendieren demnach dazu, sich unterwürfig gegenüber Starken und Mächtigen und aggressiv gegenüber Schwachen und Minderheiten zu zeigen. So entstand das Bild der „Radfahrernaturen: nach oben buckeln, nach unten treten“ (Adorno 1950, S. 421, Fn 25), und zwar „in der Straßenbahnschiene […] immer in den eingefahrenen Wegen der Konvention“ (Decker et al. 2012, S. 37). Vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus in Deutschland entwickelt die Frankfurter Schule im US-amerikanischen Exil gemeinsam mit dortigen Kollegen Verfahren zur Einschätzung des „faschistischen Potenzials“ in der US-amerikanischen Gesellschaft. Paradoxerweise werden Adorno et al. in der Sozialpsychologie als Vertreter eines persönlichkeitspsychologischen Ansatzes kritisiert (Tajfel & Turner 1979, S. 33), der den sozialen Kontext vernachlässige. Die Verknüpfung von psychoanalytischer Theorie und Sozialwissenschaft lässt sich aber nicht losgelöst von umfassender kritischer Gesellschaftstheorie verstehen. So formulieren die Autoren zu Beginn der Studien zum autoritären Charakter die Perspektive kritischer Theorie,

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das Individuum immer in seiner gesellschaftlichen Vermitteltheit zu denken und nicht losgelöst vom „gesellschaftlichen Ganzen“ (Adorno et al. 1950, S. 7). Methodisch verknüpfen sie sowohl qualitativ psychoanalytische Verfahren (Einzelinterviews und projektive Verfahren) als auch quantitative Methoden, die schließlich in eine Typenbildung zwischen den „Vorurteilsvollen“ und den „Vorurteilsfreien“ sowie die Konstruktion der F-Skala mündeten. Das vielfach revidierte Instrument erfasst schließlich neun Dimensionen, die allesamt hoch mit den zuvor eingesetzten Skalen zum Antisemitismus und zum politisch-ökonomischen Konservatismus korrelieren. In der Rezeption wurde die F-Skala vielfach kritisiert; sie begründet aber gleichwohl die Forschungslinie des Autoritarismus, der sozialen Dominanzorientierung und des Ethnozentrismus. Mit Ausnahme weniger Ansätze wurde die Erfassung von solchen Orientierungen oder „generalisierten Einstellungen“ (Zick et al. 2011) vom gesellschaftstheoretischen wie auch vom psychoanalytischen Hintergrund abgelöst.

Wir und die Anderen: Eigen- und Fremdgruppe Ein weiterer Klassiker der Gruppen- und Vorurteilsforschung, Gordon W. Allport (1897–1967), grenzt sich explizit von der Psychoanalyse ab. Dennoch ist sein hochkomplexes Werk The Nature of Prejudice (Allport 1954; 1979; dt. 1971: „Die Natur des Vorurteils“) stark von psychoanalytischen Konzepten geprägt. Als Autor der 1940er- und 1950er-Jahre ging er aber auch zum Behaviorismus auf Distanz, der die Psychologie damals dominierte. Viele seiner Konzepte sind im Kern psychodynamisch, wie zum Beispiel die Sündenbock-Theorie (1979, S. 243–259): Unter bestimmten sozialen Bedingungen kann die Frustration eines Individuums zu Aggression führen, die es auf sogenannte Sündenböcke projiziert und dann sein Vorurteil rationalisiert (ebd., S. 350–352). Allport geht von der Universalität von Gruppenbildungen und gruppenbasierten Vorurteilen aus. Das Vorausurteil („prejudgement“; ebd., S. 20) basiert auf der Kategorisierung, die wir stets vornehmen und die unsere Wahrnehmung vorstrukturiert. Erst wenn das gefühlsbetonte, vorschnelle und unbegründete Urteil nicht aufgegeben wird, wenn gegenteilige Erfahrungen mit vorbeurteilten Gruppenangehörigen gemacht werden, spricht Allport vom Vorurteil. Dies kann positiv oder negativ sein und zeichnet sich durch eine starke affektive Komponente aus. Sein Hauptgegenstand ist allerdings das negative und insbesondere das „ethnische Vorurteil“ als

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Antipathie, die sich auf eine fehlerhafte und starre Verallgemeinerung gründet. Sie kann ausgedrückt oder auch nur gefühlt werden. Sie kann sich gegen eine Gruppe als ganze richten oder gegen ein Individuum, weil es Mitglied einer solchen Gruppe ist (Allport 1971, S. 23).

Die ersten Gruppenbildungen (in-groups) beginnen für Allport in der Familie und engsten Umgebung eines Kindes, die es unwillkürlich positiv besetzt. Dies geht jedoch unweigerlich mit der Konstruktion von Fremdgruppen (out-groups) einher, denn: „Jede Linie, jede Grenze, jeder Schutzwall trennt eine Innenseite von einer Außenseite. Deshalb müsste nach strenger Logik jeder Wir-Gruppe auch eine Fremdgruppe entsprechen“ (ebd., S. 54). Doch betont Allport das Primat der Wir-Gruppen und die Ablehnung von Fremdgruppen als sekundär: „Wir leben in ihnen, durch sie und manchmal für sie. Feindseligkeit gegen Fremdgruppen hilft, unser Zugehörigkeitsgefühl zu bestärken, ist aber nicht notwendig“ (ebd.). Nach der Kontakthypothese (Allport 1979, S. 261–281) kann Kontakt zwischen Gruppen unter bestimmten Bedingungen zum Abbau von Vorurteilen führen. Als solche benennt Allport gleichen Status, gemeinsame Ziele und institutionelle Unterstützung (ebd., S. 280–281). 50 Jahre später führten Pettigrew & Tropp (2005) eine Metaanalyse durch, mit der sie die Kontakthypothese verfeinerten. Sie verschieben den Fokus von positiven Bedingungen, unter denen Kontakt zwischen Gruppen zur Reduktion von Vorurteilen führt, zu negativen Bedingungen, unter denen Kontakt zwischen Gruppen Vorurteile erhöht (ebd., S. 271f.).

Vom Gruppenexperiment zur Gruppendiskussion und psychoanalytischer Sozialforschung Parallel zu den Studien zum autoritären Charakter führte das Frankfurter Institut für Sozialforschung das Gruppenexperiment durch (Pollock 1955, S. 34), das die öffentliche Meinung im postnationalsozialistischen Deutschland erfassen sollte. Die Studie legte offen, wie weit verbreitet antidemokratische, antisemitische und den Nationalsozialismus entschuldigende Tendenzen in der deutschen Bevölkerung noch immer waren. Mangold entwickelte in der Folge das Forschungsinstrument der Gruppendiskussion, um die sozialisatorisch von den Gruppenmitgliedern geteilten Bedingungen zu evozieren (Mangold 1960). Die Gruppendiskussion schafft Bedingungen, unter denen die Einstellungen der Teilnehmenden und der gesellschaftliche Hintergrund aktualisiert werden. An diese frühen Arbeiten zur Gruppendiskussion schlossen in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Untersuchungen an, wenn auch teilweise mit weitreichenden Neuformulierungen des theoretischen Konzepts, wie etwa von Bohnsack, der mit einem „Modell kollektiver Orientierungsmuster“

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operierte und „konjunktive Erfahrungsräume“ erfasste (Bohnsack 1997, S. 495). Auch die Leipziger Studie zur Genese rechtsextremer Einstellungen (Decker et al. 2008) zielte auf „kollektive“ Bedingungen. Dem Verfahren der themenzentrierten Gruppendiskussion (Leithäuser & Volmerg 1988) folgend, orientiert sie sich an einer psychoanalytischen Sozialforschung und greift damit die Tradition der Frankfurter Schule auf.

Psychoanalytische Soziologie Obgleich er selbst kein Sozialforscher im engeren Sinne war, hat der britische Psychoanalytiker Wilfried Bion wie kaum ein anderer das psychoanalytische Denken über Gruppenprozesse geprägt. Nach Bion (1961, dt. 1971) hat jede Gruppe, so strukturiert und funktional sie auch sein mag, immer auch das Potenzial der gemeinsamen Regression in den Modus sogenannter Grundeinstellungen („basic assumptions“). Der Arbeitsmodus und die Grundeinstellung laufen parallel in verschiedenen Ausprägungen von Produktivität versus Dysfunktionalität der Gruppe. Bion unterscheidet die drei Grundannahmen „Abhängigkeit“ (dependency), „KampfFlucht“ (fight-flight) und Paarbildung (pairing). Im Modus der Abhängigkeit wird die leitende Person als omnipotent phantasiert. Der Modus Kampf-Flucht herrscht vor, wenn sich Enttäuschung und Wut auf die leitende Person richten und/oder Homogenität innerhalb der Gruppe (wieder) herbeiphantasiert wird, indem ein äußerer Feind gefunden wird. Mit den beiden ersten Grundeinstellungen lässt sich an die Freudsche Massenpsychologie anknüpfen, da sie die regressiven Aspekte und damit das destruktive Potenzial von Gruppen betont, die sich um eine Person oder eine zentrale Idee ranken und sich potenziell gegen eine „Fremdgruppe“ oder einen äußeren „Feind“ richten. Im Modus der Paarbildung dominiert in der Gruppe die unbewusste Phantasie, aus der Verbindung zweier Mitglieder, symbolisch gesprochen Elternfiguren, möge ein Erlöser geboren werden, ein Messias (Bion 1971, S. 110). Parallel zu Bion wirkte der Soziologe und spätere Gruppenpsychoanalytiker Norbert Elias. In seinen Arbeiten kritisiert er die Isolierung des Individuums vom gesellschaftlichen Kontext oder vom „sozialen Gebilde“ (Elias 1970) in der Psychologie. Im Gegensatz zu Allport und Bion betrachtet er soziale Gruppen als dem Individuum vorgängig. Der Mensch ist von Geburt an von anderen abhängig, um zu überleben. Elias sieht hierin begründet, dass die Interdependenz des Individuums mit anderen in einer sozialen „Figuration“ grundlegend ist – nicht das Individuum als Einheit (ebd., S. 127). In der Studie Etablierte und Außenseiter (The Established and the Outsiders; 1965) untersuchen Elias & Scotson die Gruppenprozesse in einer britischen Arbei-

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tersiedlung, anhand derer sie ein Modell für universale Prozesse entwickeln. Im Kontrast zu den in der Psychologie dominierenden experimentellen und quantitativen Methoden setzen sie auf teilnehmende Beobachtung und phänomenologisch dichte Beschreibung. Sie arbeiten Strukturmerkmale von Ausgrenzungs- und Diskriminierungsprozessen heraus, die sie als „Soziodynamik der Stigmatisierung“ fassen (Elias & Scotson 1965/1990, S. 13). Den psychologischen Begriff des Vorurteils kritisiert Elias, da dieser etwas ins Individuum verlegt, das soziale Ursachen habe (Elias 1990). In diesem Sinne erweitert Elias auch Freuds Strukturtheorie und spricht vom „Wir-Ideal“ und Gruppenphantasien (ebd., S. 43) sowie der Verwobenheit von individueller und kollektiver Identität (ebd., S. 44). Mit seinem zentralen Begriff der Figuration charakterisiert Elias das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum als Prozess, wie auch das Individuum selbst als Prozess begriffen wird (Elias 1970, S. 127).

Kognitive Wende: Gruppenbildungen und soziale Identitäten Bereits die Gestaltpsychologie und die Arbeiten von Lewin und Allport hatten sich gegen das behavioristische Paradigma in der Psychologie und die Psychoanalyse gewandt. In den 1960er- und 1970er-Jahren entwickelte sich nun der Fokus auf kognitive Vorgänge in der Psychologie (westlicher Industrienationen) vollends zum Mainstream. In der Gruppenpsychologie und damit auch in der Vorurteils- und Konfliktforschung zeigt sich dies in maßgeblichen Theoremen wie dem realistischen Gruppenkonflikt („realistic group conflict“; Sherif et al. 1961). Es besagt, dass Gruppen um knappe Güter konkurrieren, woraus Konflikte zwischen Gruppen entstehen. Tajfel & Turner (1979), die Gründer der Theorie sozialer Identität, kritisieren den Fokus auf die Realität eines sozialen Konflikts und heben die Identifikation mit der Eigengruppe („identification with the in-group“) als grundlegend hervor. Mit ihren bekannt gewordenen Experimenten („minimal group paradigm“) zeigten sie, dass bloße Kategorisierung („mere categorization“) ausreicht, um Gruppen zu kreieren, die in der Folge dazu tendieren, die Eigengruppe („in-group“) zu favo­ risieren und die Fremdgruppe („out-group“) abzuwerten. Zum Verständnis dieses Zusammenhangs wird angenommen, dass die Gruppenidentität dem Individuum dazu verhilft, den Selbstwert zu erhöhen. In den letzten Jahrzehnten wird die Theorie sozialer Identität mit der Terror-Management-Theorie (TMT) nach Solomon, Greenberg & Pyszczynski (1991) verknüpft. Diese beruht auf dem Gedanken, dass soziale Zugehörigkeit dazu dient, Todesangst und der Erfahrung individueller Bedeutungslosigkeit entgegenzuwirken (Greenberg et al. 1997).

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Eagly (2004), eine Vertreterin der sozialen Rollentheorie, verlegt den Fokus von der Beziehung zwischen Mehrheiten und Minderheiten auf Geschlechterbeziehungen. Auch stellt sie den negativen Affekt als das „Vorurteil“ bestimmend infrage. Vielmehr gehe eine stereotype Einstellung – zum Beispiel gegenüber der Gruppe „der Frauen“ – erst mit einem negativen Affekt einher, wenn sich Mitglieder einer Gruppe nicht rollenkonform verhalten (ebd., S. 51). Eines der wichtigsten Anwendungsfelder der Theorie sozialer Identitäten oder Gruppenidentitäten liegt in der Konflikt- und Friedensforschung (Kelman 2010; Volkan 2001). Mit der Methode interaktiven Problemlösens („Interactive ­Problem-Solving“; Kelman 2010) werden nationale oder internationale Konfliktparteien zusammengebracht, damit sie gemeinsam Mediationen erarbeiten. Obgleich nationale Identitäten das Problem in „ethnischen“ Konflikten darstellen, de- und rekonstruiert Kelman sie in seiner Gruppenarbeit mit Vertretern der Konfliktparteien. Kelman mediierte unter anderem in Sri Lanka, Israel-Palästina, Zypern und Nordirland (ebd.). Intergenerationell vermittelte Traumata stehen im Blickfeld der Arbeiten von Volkan (2001), der aus psychoanalytischer Perspektive Großgruppenidentitäten („large group identities“) in den Mittelpunkt rückt und ebenfalls international in der Friedens- und Konfliktforschung wirkt. Ihm zufolge neigen „ethnische“ Großgruppen dazu, massive Traumata ihrer Vorfahren im Kontext aktueller Konflikte zu aktivieren. Ein solch gewähltes Trauma („chosen trauma“) ist demnach eine bedeutende Komponente einer Großgruppenidentität, geht mit gemeinsamer Regression einher und hilft, eine subjektiv als bedroht empfundene Identität zu stützen (ebd.).

Gegenwärtige Auseinandersetzungen und Fragestellungen Autoritarismus-, Rechtsextremismus-, Rassismus- und Antisemitismusforschung Die F-Skala und das Konzept des Autoritären wurden international breit rezipiert. In der Sozialpsychologie wurde es jedoch weitgehend losgelöst vom gesellschaftstheoretischen Kontext und psychoanalytischer Theorie aufgegriffen. So werden Autoritarismus oder eine soziale Dominanzorientierung als „generalisierte Einstellungsmuster“ behandelt (Zick 2011). Altemeyer überarbeitete die F-Skala, um „rechtsgerichteten Autoritarismus“ („right-wing-authoritarianism“/RWA) als Einstellungsmuster zu untersuchen (Altemeyer 1996). Korrelationsstudien, unter anderem in Süd-Afrika, Russland,

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Kanada und den USA, bestätigten, dass Individuen, die den Items der RWA-Skala zustimmen, auch dazu tendieren, gruppenbezogenen Vorurteilen beizupflichten (ebd.). In Anlehnung an diese Forschungstradition entwarfen Sidanius & Pratto (2001) die Skala der sozialen Dominanzorientierung, welche unabhängig von politischer Kategorisierung auf die gesellschaftliche Dominanz einer etablierten bzw. machtvollen Gruppe abzielt. Sie korreliert hoch mit der Ausprägung von Vorurteilen und erfasst, in welchem Ausmaß Individuen dazu neigen, Intergruppenhierarchien zu festigen, anstatt sie infrage zu stellen (ebd.). In Deutschland untersucht die Forschungsgruppe um Heitmeyer & Zick seit 2002 das Ausmaß „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (GMF) im Längsschnitt. Ihr sozialpsychologischer Ansatz bezieht sich weitgehend auf die Theorien der Sozialen Identität und der Sozialen Dominanz (Zick & Küpper 2006). Der methodische Ansatz ähnelt der F-Skala, insofern das GMF-Konstrukt miteinander korrelierte Dimensionen gruppenbezogener Ressentiments erfasst: Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Homophobie, Etabliertenvorrechte und Sexismus. In einer Vergleichsstudie wurden 2011 sechs der Dimensionen in Verknüpfung mit Autoritarismus und sozialer Dominanzorientierung in acht europäischen Staaten erfasst. Die Ergebnisse sind alarmierend im Hinblick auf die europaweit mehrheitliche Zustimmung zu fremdenfeindlichen (gegen Migranten und Migrantinnen gerichteten), islamfeindlichen und sexistischen (eine untergeordnete Rolle der Frauen fordernden) Aussagen (Zick et al. 2011). Wegen der nationalsozialistischen Judenvernichtung hatte anfangs der Antisemitismus im Fokus der Forschung gestanden (Adorno et al. 1950; Simmel 1946). Nach 1945 unterschieden einige Autoren zwischen primärem und sekundärem Antisemitismus (Bergmann & Erb 1991, S. 123). Aus psychoanalytischer Perspektive wird Antisemitismus als „Schuldabwehrantisemitismus“ (Bodek 1991, S. 335) bezeichnet – ein Begriff, der auch Eingang in die Studien zur GMF gefunden hat. Der Antisemitismus variiert stark zwischen den Ländern: Der Studie von 2011 zufolge lag der primäre Antisemitismus in den Niederlanden bei 6 % und in Ungarn bei 69 %; der sekundäre Antisemitismus kam teilweise auf noch höhere Werte (in den Niederlanden 17 %, in Deutschland 49 %, in Polen über 70 %; Zick et al. 2011, S. 65f). Seit den Terroranschlägen am 11. September 2001 in New York und dem vom damaligen US-Präsidenten G. W. Bush proklamierten „War on Terror“ liegt ein Schwerpunkt weltweiter gruppenbasierter Konfliktforschung auf sogenanntem Islamismus auf der einen und Islamfeindlichkeit sowie rechtspopulistischem Anti-Islamismus auf der anderen Seite. Damit ist Religiosität wieder in den Fokus der Gruppen- und Vorurteilsforschung gerückt. Atran wurde mit seinen Studien

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zu Selbstmordattentaten (2003) und dem Zusammenhang von Religiosität bzw. sakralen Werten und Intergruppenkonflikten bekannt (Atran & Ginges 2012). Seit 2002 analysiert die Forschungsgruppe um Decker in den Leipziger „Mitte“-Studien die Genese und Verbreitung des „Extremismus der Mitte“ (Lipset 1959) in Deutschland (Decker et al. 2012). Die „Mitte“-Studien basieren auf repräsentativen Surveys zur rechtsextremen Einstellung und zum Autoritarismus in Verknüpfung mit sozioökonomischen Daten und Persönlichkeitsmerkmalen (ebd.). In den Jahren 2007 und 2008 wurde zudem eine bundesweite Gruppendiskussionsstudie in der Tradition psychoanalytischer Sozialforschung durchgeführt (Decker et al. 2008). Die Studien weisen regelmäßig darauf hin, dass antidemokratische und rechtsextreme Tendenzen in der „Mitte“ der Gesellschaft weit verbreitet sind. Kongruent mit den Ergebnissen der Bielefelder Studien zur GMF ist die Verbreitung islamfeindlicher Tendenzen in Deutschland besonders alarmierend (Decker et al. 2012). Aktuell verknüpft die Forschungsgruppe um Decker Ergebnisse der empirischen Forschung zum Zusammenhang zwischen wahrgenommener kollektiv-ökonomischer Deprivation und der Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen mit psychoanalytisch orientierten Thesen und der Terror-Management-Theorie (Decker et al. 2013). Ihren Ergebnissen zufolge erscheint die Wahrnehmung eines Verlustes des Wohlstandes auf nationaler Ebene relevanter zu sein als Deprivationserfahrungen auf individueller Ebene (ebd.). Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen der Analyse der Einflussfaktoren ethnozentrischer Einstellungen von Rippl & Baier (2005), denen zufolge „Gefühle der Deprivation auf der Gruppenebene, […] unabhängig von individueller Deprivation […] von dominanter Bedeutung“ sind (ebd., S. 662). In Verknüpfung mit der Theorie sozialer Identität erhöht die Gruppenzugehörigkeit und die damit einhergehende Aufwertung der Eigengruppe das Selbstwertgefühl der Individuen. Wie die Vertreter der TMT in zahlreichen Studien experimentell zeigten, neigen Personen, die an ihre Sterblichkeit erinnert werden (unter Mortalitätssalienz), eher dazu, die (in der Gruppensituation jeweils relevante) soziale Identität aufzuwerten.

Zusammenfassung der Ergebnisse Historisch gehen die Wurzeln der sozialpsychologischen Gruppenforschung zurück auf die Gestalttheorie und die experimentelle Gruppenforschung nach Kurt Lewin auf der einen Seite und die Freudsche Psychoanalyse und die daran anknüpfende Kritische Theorie auf der anderen Seite. An diese zwei Strömungen schließen sich zahlreiche Entwicklungslinien an, die sich teils abzweigen und kreuzen, teils

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wieder zusammenführen. Zentrale Unterschiede bestehen im Hinblick darauf, ob eine Verknüpfung von Gesellschaftstheorie bzw. Soziologie und Psychologie angestrebt wird oder ob Gruppenprozesse abgelöst vom gesellschaftlichen Kontext erforscht werden. Mit der kognitiven Wende in der Psychologie lag der Schwerpunkt der Forschung seit den 1960er-Jahren auf experimentellen und quantitativen Methoden. In jüngerer Zeit wird verstärkt versucht, die Forschungstradition der Verknüpfung von qualitativen und quantitativen Methoden sowie die Integration von soziologischer und psychologischer Perspektive fortzusetzen.

Verständnisfragen

▶ Welche grundlegenden Perspektiven auf Gruppen wurden vorgestellt? ▶ Beschreiben Sie die Prozesse der Freudschen Massenpsychologie und Ich-Analyse.

▶ Beschreiben Sie den Grundgedanken der Studien zum autoritären Charakter. ▶ Zeichnen Sie die Entwicklungslinie der Autoritarismusforschung nach.

Literatur Adorno, T.W. (1950/2001). Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Allport, G.W. (1954/1971). Die Natur des Vorurteils. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Altemeyer, B. (1996). The Authoritarian Specter. Cambridge, MA: Harvard University Press. Atran, S. (2003). Genesis of suicide terrorism. Science, 299, 1534–1539. Atran, S. & Ginges, J. (2012). Religious and Sacred Imperatives in Human Conflict, Science, 336, 855–857. Bergmann, W. & Erb, R. (1991). Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland: Ergebnisse der empirischen Forschung von 1946–1989. Opladen: Leske + Budrich. Bion, W.R. (1971). Erfahrungen in Gruppen und andere Schriften. Stuttgart: Klett-Cotta. Bodek, J. (1991). Die Fassbinder-Kontroversen: Entstehung und Wirkung literarischen Textes. Frankfurt am Main, Bern, New York, Paris: Peter Lang. Bohnsack, R. (1997). Gruppendiskussionsverfahren und Milieuforschung. In B. Fiebertshäuser & A. Prengel (Hrsg.), Handbuch qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (S. 492–502). Weinheim/München: Juventa. Brown, R. (1999). Group processes: Dynamics within and between groups. (2. Auflage). Oxford: Wiley-Blackwell.

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Umweltpsychologie Heidi Ittner, Gundula Hübner und Elisabeth Kals

Zusammenfassung

Im vorliegenden Kapitel wird die anwendungsorientierte Teildisziplin der Umweltpsychologie vorgestellt. Dazu werden Gegenstandsbereich sowie grundlegende Methoden und Ansätze skizziert und ihr umfangreiches Themen­ spektrum anhand von drei Blickwinkeln systematisiert: (1) naturwissenschaftlich-technisch geprägte Ansätze, die analysieren, inwiefern Umwelten auf den Menschen wirken; (2) sozialwissenschaftliche Perspektiven, die die Relevanz von Handlungsentscheidungen für die Umwelt betonen, und (3) menschliche Interaktionen mit der Umwelt, die häufig mit Interessens- und Nutzungskonflikten verbunden sind. Abschließend werden die interdisziplinäre Ausrichtung der Umweltpsychologie und ihre Relevanz für aktuelle gesellschaftspolitische Herausforderungen erläutert.

Geschichte der Disziplin Der Begriff einer „Psychologie der Umwelt“ wurde bereits in den 1920er-Jahren von Willy Hellpach (1877–1955; 1924) verwendet, doch wurde die Teildisziplin erst in den 1970er-Jahren verstärkt wahrgenommen (vgl. Graumann & Kruse 2008; Homburg & Matthies 1998). Im englischsprachigen Raum erschien zu dieser Zeit ein erstes Überblickswerk von Proshansky, Ittelson und Rivlin (1970), doch erst 1994 wurde die „Fachgruppe Umweltpsychologie“ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie gegründet. Auch heute ist die Umweltpsychologie in der universitären Ausbildung noch nicht etabliert. In den letzten Jahren erfuhr sie aber durch die drängenden gesellschaftspolitischen Fragen – wie Klimawandel, Notwendigkeit © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_5

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zum Energiesparen, Akzeptanz erneuerbarer Energien, Umgang mit Nutzungskonflikten, Gestaltung altersgerechter Umwelten – gesteigerte Aufmerksamkeit.

Gegenstand und Definition Gegenstand der Umweltpsychologie sind die Wechselwirkungen zwischen Menschen und ihren Umwelten als natürliche Umgebung des Menschen. Als anwendungsorientierte psychologische Teildisziplin integriert sie die Ansätze verschiedener anderer psychologischer Teildisziplinen, zum Beispiel der Sozialpsychologie, der Klinischen Psychologie und der Allgemeinen Psychologie. Darüber hinaus weist sie Schnittstellen mit anderen Anwendungsfächern auf, zum Beispiel mit der Architektur- oder Verkehrspsychologie. Hellpachs (1924) klassische Differenzierung von drei Umwelten ist noch immer aktuell: Ihm zufolge wirkt die natürliche Umwelt beispielsweise über Klimabedingungen oder das wahrgenommene Landschaftsbild auf die Stimmung und das Verhalten des Menschen. Die räumlich-soziale Umwelt hingegen bezieht Hellpach auf strukturierte Räume, die gemeinsam genutzt werden und in denen Menschen ihre sozialen Beziehungen leben, wie zum Beispiel Wohn- und Arbeitsräume oder öffentliche Plätze. Die kulturell-zivilisatorische Umwelt schließlich meint laut Hellpach die Lebensgrundlagen und Begleiterscheinungen des modernen Lebens, das durch wissenschaftlich-technische und kulturelle Errungenschaften geprägt ist, wie zum Beispiel steigende Belästigungen durch Fluglärm. Auf der Basis der differenzierten Umwelten entwickelten sich naturwissenschaftlich-technische oder eher sozialwissenschaftliche Forschungsansätze, die im Laufe der Zeit zunehmend kombiniert wurden. Innerhalb der sozialwissenschaftlichen Perspektiven etablierte sich, ausgelöst durch die Energiekrise in den 1970er-Jahren, das Themenfeld der Umweltschutzpsychologie. So haben sich die ersten umwelt(schutz)psychologischen Arbeiten überwiegend mit der Zuschreibung von Verursachung und Verantwortung für die Energiekrise, aber auch mit möglichen Wegen aus dieser beschäftigt. Aus diesen ursprünglichen Themen entwickelte sich ein breites Spektrum an umweltpsychologischen Fragestellungen (Kals & Baier, 2017). Seit einem guten Jahrzehnt berücksichtigt sie zudem explizit das Nachhaltigkeitsparadigma sowie ökologische, wirtschaftliche und soziale Belange (Cervinka & Schmuck 2010). Darüber hinaus gewinnen Themen wie Mensch-Technik- und Mensch-Computer-Interaktionen, die sich mit dem Zusammenspiel psychischer und technischer Faktoren beschäftigen, zunehmend an Bedeutung.

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Methoden und Ansätze Als grundlegendes Paradigma der Umweltpsychologie betont der Transaktionalismus die Einheit von Mensch und Umwelt, die Teile eines ganzheitlichen Systems sind und sich in einem komplexen Beziehungsgeflecht gegenseitig bedingen. Viele Ansätze der Umweltpsychologie gründen auf diesem Systemgedanken. Bei der Modellbildung zur Erklärung umweltrelevanter Handlungsentscheidungen haben sich mehrere Stränge herauskristallisiert, die jedoch nicht isoliert voneinander sind und sich wie folgt systematisieren lassen (z. B. Hellbrück & Kals 2012). Rational-Choice-Modelle, die ihren Ursprung in der ökonomischen Verhaltenstheorie haben, betrachten Handlungsentscheidungen vorrangig unter Kosten-Nutzen-Abwägungen und durch individuelle Nutzenmaximierung motiviert. Auf die Umweltpsychologie angewandt, kann das beispielsweise heißen: Personen verhalten sich vor allem dann umweltschonend, wenn sie darin einen Nutzen für sich sehen. Zu den wichtigsten allgemeinen sozialpsychologischen Handlungsmodellen zählt die Theorie geplanten Verhaltens (Ajzen 1991): Spezifisches Verhalten wird demnach direkt durch die Verhaltensintention bestimmt, die wiederum durch dreierlei Faktoren beeinflusst wird; erstens die Einstellung gegenüber dem Verhalten, zweitens die auf das Verhalten bezogene subjektive Norm und drittens die zugeschriebene Kontrolle über dieses Verhalten. Ein weiteres Beispiel ist das Norm-Aktivationsmodell (Schwartz 1977), das umweltschützendes Handeln als prosozial versteht, motiviert durch Verantwortungsübernahme sowie die angenommenen Handlungskonsequenzen. Schließlich wurden spezifische Umweltmodelle entwickelt. Hierzu zählen beispielsweise die Normative Werttheorie (Value-Belief-Model; Stern, Dietz & Kalof 1993) oder das Modell verantwortlichen Umwelthandelns (Hellbrück & Kals, 2012), die beide explizite Bezüge zu allgemeinen Handlungsmodellen herstellen. Letzteres betont insbesondere den Einfluss von verantwortungs- und gerechtigkeitsbezogenen Kognitionen und Emotionen sowie von Naturverbundenheit auf die Bereitschaft, sich umweltschützend zu verhalten. Zur Überprüfung dieser Modelle bedient sich die Umweltpsychologie der gesamten Bandbreite etablierter psychologischer Forschungsmethoden (Lantermann & Linneweber 2008, Teil IV), wie etwa Beobachtungen, Befragungen per Interview oder Fragebogen, Simulations- und Interventionsstudien. Noch bis in die 1970er-Jahre hinein überwog in der deutschsprachigen Umweltpsychologie die Feldforschung. Laborexperimente kamen aufgrund einer kritischen Haltung gegenüber den Inhalten und Methoden der Mainstream-Psychologie nur eingeschränkt zum Einsatz, und wenn, dann überwiegend in der Analyse physikalisch-räumlicher Umweltwirkungen

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auf den Menschen (Fritsche 2008). Heute prägen dagegen sowohl Feld- als auch Experimentalstudien die umweltpsychologische Methodik.

Themenvielfalt der Umweltpsychologie Für die Vielfalt umweltpsychologischer Forschungsfelder und -themen ist bislang noch keine erschöpfende Systematisierung verfügbar. Um dennoch einen knappen Überblick zu geben, werden im Folgenden drei unterschiedliche Perspektiven eingenommen und exemplarisch illustriert: erstens, wie Umwelten den Menschen beeinflussen, zweitens, wie Menschen die Umwelt beeinflussen, und drittens Interaktionen von Menschen in spezifischen Umwelten. Diese Perspektiven sind – im Sinne des transaktionalen Paradigmas – eng miteinander verwoben und werden daher „künstlich“ separiert.

Umwelten beeinflussen den Menschen Der Fokus auf die Einflüsse der physisch-materiellen Umwelt ist naturwissenschaftlich-technisch geprägt. Die Grundlage für die Betrachtung dieser Einflussfaktoren bilden unsere umweltbezogenen Wahrnehmungen und Kognitionen. Während die Psychophysik unter Laborbedingungen den Zusammenhang von einfachen energetischen Veränderungen in der Umwelt und den dadurch ausgelösten sensorischen Empfindungen untersucht, setzt sich die „Ökologische Optik“ mit komplexen Wahrnehmungsphänomenen im Feld auseinander, die von direkter Relevanz für die Bewegungen und das Handeln in dieser Umwelt sind. Im Hinblick auf mentale Prozesse sticht auf kognitionspsychologischer Ebene besonders die Forschung zu kognitiven (Land)Karten hervor – ein Ansatz zur mentalen Repräsentation der räumlichen Umwelt, der sich über die Psychologie hinaus etabliert hat (ausführlich in Hellbrück & Fischer 1999). Der Mensch ist täglich verschiedensten materiellen Umwelteinflüssen ausgesetzt. Ein besonderes Augenmerk hat die umweltpsychologische Forschung auf jene, die beeinträchtigend oder toxisch auf den Menschen wirken. Damit ergeben sich Überschneidungen zur Gesundheitspsychologie und Umweltmedizin. Zahlreiche Forschungsarbeiten beschäftigen sich dementsprechend mit Schadstoffen, die der Mensch selbst in Luft, Wasser, Erde, Raum oder Nahrung einbringt. Unter anderem über das zentrale Nervensystem (z. B. chemische Lösungsmittel) und über das Hormonsystem (z. B. Phtalate, PCB in Weichmachern) wirken sich diese Umweltgifte

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negativ auf das menschliche Erleben und Verhalten aus (vgl. Dott, Merk, Neuser & Osieka 2002). Eine besondere Stellung nehmen dabei Geruchsimmissionen ein, die die kognitive Leistung und das Wohlbefinden beeinträchtigen (vgl. Dott et al. 2002). Auch energetische Umwelteinflüsse wirken auf den menschlichen Organismus. Umweltpsychologische Studien konzentrieren sich allerdings auf Beeinträchtigungen und Schädigungen, insbesondere auf Lärmwirkungen, d. h. unerwünschte, belästigende oder störende Geräusche (vgl. Hellbrück, Guski & Schick 2010). Deren akute (z. B. Schreckreaktionen, Kommunikationsstörungen) und chronische Effekte (z. B. erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen) sind mittlerweile sehr gut belegt – ebenso wie die kumulativen Effekte, die bei anhaltender Exposition auftreten. Die Folgen sind weitreichend und umfassen beispielsweise physiologische und somatische Schädigungen (z. B. Hörschädigung, Stresserleben), kognitive Beeinträchtigungen und emotionale Reaktionen (z. B. Ärger, Wut), Belästigungsempfinden (z. B. Anspannung, Erschöpfung) und Befindlichkeitsstörungen (z. B. Ermüdung). Eine weitere, inzwischen aufgrund der Technikdichte allgegenwärtige und unvermeidliche Belastung stellen elektromagnetische Felder dar. Zahlreiche Studien haben sich bereits mit Elektrosensitivität beschäftigt, doch nach wie vor liegen keine empirisch gesicherten Belege für dieses Phänomen vor. Einflüsse natürlichen Ursprungs entstehen darüber hinaus durch das Klima, das Wetter sowie die saisonale Sonnenlicht- und Hitzeexposition. Hinsichtlich der Wirkungen des Klimas auf den Menschen unterscheidet man in Abhängigkeit von geografischen Bedingungen zwischen Regionen mit Reizklima (Küsten, Hochgebirge), Schonklima (Mittelgebirge) und Belastungsklima (Tallagen) – im Gegensatz zum Reiz- und Schonklima hat das Belastungsklima einen eher ungünstigen Einfluss auf den menschlichen Organismus. Einen nachgewiesenen und alltäglich spürbaren Einfluss auf Stimmung und Wohlbefinden hat das Wetter. Beispielsweise war der Winter 2012/13 der sonnenscheinärmste seit Beginn der flächendeckenden Aufzeichnungen mit entsprechend negativen Wirkungen auf das menschliche Wohlbefinden. Zudem unterliegen wir einem komplexen Mix aus materiellen und energetischen Umwelteinflüssen. Dazu gehören Naturgefahren (z. B. Wirbelsturm, Erdbeben) sowie technische Umweltgefahren (z. B. Gefahrstoffe). Allerdings verliert diese Kategorisierung zunehmend an Trennschärfe, da im Zuge der technischen Entwicklung beide Kategorien immer enger ineinandergreifen. Ein dramatisches Beispiel hierfür ist die Erdbeben-, Tsunami- und Nuklearkatastrophe in Japan im März 2011 (vgl. Sirrenberg & Kals 2013). Sowohl Natur- als auch technische Gefahren sind eng mit der Risikoforschung verbunden, die sich dem risikorelevanten Erleben, Urteilen und Entscheiden bei Ungewissheit widmet, was insbesondere im Vorfeld solcher Gefahren von hoher Relevanz ist (vgl. Wiedemann & Schütz 2010).

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Außerdem sind wir nahezu kontinuierlich den Einflüssen der von uns gebauten und gestalteten Umwelt ausgesetzt. Meist spezifiziert nach unterschiedlichen Nutzungsbereichen, wie etwa Wohn-, Arbeits-, Lern-, Freizeitumwelten, untersuchen umweltpsychologische Studien deren Wirkungen auf bestimmte Gruppen (z. B. Kinder, ältere Menschen) und erarbeiten Gestaltungsempfehlungen. Elementar ist hierbei das Konzept des „Crowding“, d. h. des subjektiven Erlebens von Enge aufgrund von räumlicher bzw. sozialer Dichte, das Belastung und Stress auslöst. Die Architekturpsychologie beschäftigt sich intensiv mit der Wirkung und Gestaltung gebauter Umwelt, insbesondere von Innen- und Außenräumen (z. B. Flade 2008). Ein weiteres Feld umweltpsychologischer Analysen beschäftigt sich mit dem Einfluss von Landschaften, mit Landschaftspräferenzen und mit regenerativ wirkenden Naturkontakten (z. B. in der Freizeit oder in Form von Gesundheitsgärten). So lassen zahlreiche empirische Studien keinen Zweifel daran, dass Naturerleben körperliches und geistiges Wohlbefinden steigert, wobei die psychische Erholung der entscheidende Wirkmechanismus ist (z. B. Hartig et al. 2011). Ebenso gewinnen psychologische Konstrukte wie eine starke emotionale Verbundenheit mit der Natur an Bedeutung, die sich außerdem als wichtiger Einflussfaktor für umweltschützendes Handeln etabliert hat (Kals 2013).

Menschen beeinflussen die Umwelt(en) Die Spannbreite der umweltpsychologischen Anwendungsfelder ist groß. Dazu gehören beispielsweise Mobilität (z. B. Verkehrsmittelwahl), Ressourcennutzung (z. B. Energiesparen, Abfallverhalten), Konsum- und Freizeitverhalten (z. B. nachhaltiger Tourismus) und Investitionen (z. B. Nutzung erneuerbarer Energien). Als der wichtigste Schlüssel zur Erklärung umweltfreundlichen Handelns galt anfänglich das Umweltbewusstsein. Die empirische Befundlage zeigt allerdings nur einen schwachen Zusammenhang zwischen den Variablen Umweltbewusstsein und ‚umweltschonendes Handeln‘. Trotzdem oder gerade deswegen widmen sich nach wie vor viele umweltpsychologische Forschungsarbeiten der konzeptionellen Schärfung und adäquaten Messung des Umweltbewusstseins sowie seiner Rolle im komplexen Variablengeflecht. Während konzeptionell zunächst entweder ein eindimensionales (allgemeine umweltbezogene Werthaltung) oder ein mehrdimensionales Verständnis (umweltbezogener Einstellungskomplex) verfolgt wurde, begreifen neuere Arbeiten Umweltbewusstsein als ein mehrdimensionales Konstrukt mit hierarchischer Struktur (z. B. Kaiser, Oerke & Bogner 2007; Milfont & Duckitt 2010). Ein weiterer Schwerpunkt bei der Erklärung umweltrelevanten Handelns liegt auf dem Einfluss von subjektiven Kosten-Nutzen-Abwägungen vor dem Hintergrund

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der Rational-Choice-Modelle. Demnach ist umweltschützendes Verhalten nur zu erwarten, wenn es persönlichen Nutzen bringt oder im Sinne der sogenannten Low-cost-Hypothese mit nur geringen persönlichen Kosten verbunden ist. Ausbleibender persönlicher Nutzen erklärt entsprechend, warum sich Menschen umweltschädigend verhalten. Gleichzeitig jedoch entscheiden sich viele Menschen – „trotz“ der auf den ersten Blick ungünstigen Kosten-Nutzen-Bilanzen – gezielt für umweltschonende Verhaltensweisen. Diesen Entscheidungen liegen in verschiedenen Gruppen bzw. Milieus unterschiedliche Motive zugrunde. Während beispielsweise die Unterstützung erneuerbarer Energien bei „Umweltbewussten“ in erster Linie durch verantwortungs- und normbezogene Kognitionen sowie Emotionen motiviert ist, sind es in anderen Gruppen die Faszination innovativer Technologien oder der Wunsch, von endlichen Ressourcen unabhängig zu werden (vgl. Hübner 2010). Insgesamt erweisen sich sowohl eigennutz- als auch moralbezogene Variablen als zentrale Einflussfaktoren für umweltrelevantes Handeln und sind weniger konträr als vielmehr komplementär zu denken (z. B. Kals, Müller & Baier, 2016; Steg & Vlek 2009). Die umweltpsychologische Interventionsforschung überprüft die postulierten Verhaltensmodelle empirisch und wendet das gewonnene Wissen zur Lösung praktischer Probleme an (vgl. z. B. Matthies 2013). Beispielhaft ist eine Laborstudie von Griskevicius, Tybur und Van den Bergh (2010), die belegt, wie Statusdenken den Kauf „grüner Produkte“ motiviert: Erhöhtes Statusdenken fördert die Wahl grüner Produkte – verstärkt dann, wenn der Kauf öffentlich stattfindet und die grünen Produkte teurer als die konventionellen sind. In der Konsequenz lassen sich Statusmotive gezielt nutzen, um umweltschonendes Verhalten zu fördern. Umweltpsychologische Interventionen lassen sich nach individuums- und gruppenbezogenen Methoden unterteilen. Deutlich wird diese Differenzierung an einem Beispiel zu Feedbackstrategien: Zum einen kann Individuen eine persönliche Rückmeldung zu ihrem Verhalten gegeben werden (z. B. Stromverbrauch im eigenen Haushalt); zum anderen kann das Verhalten der Individuen mit dem einer Bezugsgruppe verglichen werden (z. B. Vergleich mit dem Verbrauch der Nachbarn). Stromsparen wird so durch die Aktivierung von sozialen Normen gefördert. Ansätze wie das Partizipative Soziale Marketing, das Community Based Social Marketing oder das Behavior Setting motivieren Individuen zusätzlich, zum Beispiel für das Energiesparen im eigenen Umfeld aktiv zu werden, um so eine breitere Wirkung der Interventionen zu erzielen (im Überblick Hübner 2010). Die Ergebnisse umweltpsychologischer Interventionsstudien fließen unter anderem in die Umweltbildung ein und werden gleichzeitig durch Fragen dieser oder der Architekturpsychologie stimuliert.

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Interaktionen von Menschen in spezifischen Umwelten Das dynamische Beziehungsgeflecht von Mensch und Umwelt ist von intra- und interindividuellen Interessenskonflikten durchzogen. Entsprechend rückten in den vergangenen Jahren vielschichtige umweltbezogene Interessens- bzw. Nutzungskonflikte und damit gesellschaftspolitisch brisante Akzeptanzfragen in den Fokus umweltpsychologischer Arbeiten (z. B. Ittner & Montada 2009). Das zentrale Konzept ist das sozial-ökologische Dilemma bzw. die Allmende-Klemme (z. B. Ernst 2008). In einem intra-individuellen Interessenskonflikt, der in ein sozial-ökologisches Gesamtsystem mit begrenzten Ressourcen eingebunden ist, muss sich das Individuum zwischen Handlungsoptionen entscheiden: entweder für jene, die dem individuellen Vorteil dienen (sogenannte Nicht-Kooperation bzw. defektieren; zum Beispiel so viele Fische wie möglich fischen), oder für jene, die der Allgemeinheit nutzen (sogenannte Kooperation; zum Beispiel Fangquoten akzeptieren). Für die unmittelbare Maximierung des eigenen Nutzens ist – unabhängig davon, wie sich andere entscheiden – die Nicht-Kooperation die „beste Wahl“. Entscheiden sich aber alle Individuen so, schadet dies in der Summe und mittel- oder langfristig der Allgemeinheit, indem es die genutzte Ressource zerstört (z. B. Überfischung der Meere). Die Allgemeinheit, d. h. die Gesamtheit aller Individuen, hat vielmehr langfristig den größten Nutzen, wenn die Einzelnen kooperieren. Aus zahlreichen Experimental- und Feldstudien kristallisierte van Vugt (2009) vier wesentliche Strategien heraus, die die Kooperation fördern: (1) Informieren und miteinander kommunizieren als Antwort auf das Bedürfnis, die umgebende soziale und ökologische Welt verstehen zu wollen; (2) Identität schaffen, um dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und positiver sozialer Identität zu entsprechen; (3) Institutionen und Regeln schaffen, um dem Bedürfnis nach Vertrauen zu begegnen; (4) Anreize schaffen als Reaktion auf das Bedürfnis, sich weiterzuentwickeln und die eigenen Ressourcen zu mehren. Auf lokaler und globaler Ebene verschärfen sich die Umweltprobleme kontinuierlich, wie beispielsweise die Flächenversiegelung oder Abnahme an Biodiversität. Angesichts der Wertepluralität steht der Umweltschutz jedoch in Konkurrenz zu anderen, ebenfalls sozial akzeptierten Werten, wie zum Wirtschaftswachstum oder zur persönlichen Freiheit. Als Antwort darauf hat sich die Umweltmediation und die Akzeptanzforschung als fester Bestandteil umweltpsychologischer Forschung und Praxis etabliert (vgl. Hübner 2012; Pohl, Gabriel & Hübner 2018 sowie Kasten).

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Beispiel zur Akzeptanzforschung (Pohl, Hübner & Mohs, 2012) Problemstellung: Moderne Windenergieanlagen (WEA) haben in der Regel eine Gesamthöhe von über 100 m und sind als Luftfahrthindernis zu kennzeichnen; in der Nacht durch rot blinkende Lichter, am Tag durch weiße Lichter oder farbige Markierungen der Flügel. Diese Kennzeichnung führt zu Anwohnerbeschwerden. Das Ausmaß und die Art auftretender Beschwerden sowie Problemlösungen zu ermitteln, war das Ziel einer umweltpsychologischen Studie, gefördert vom Bundesumweltministerium und dem Land Schleswig-Holstein. Methode: Untersucht wurde die Wirkung der Nacht- sowie von drei Tageskennzeichnungen (weiße Xenon- und LED-Lichter, farbliche Flügelkennzeichnung). Mittels Fragebogen wurden 420 Anwohner und Anwohnerinnen von 13 Windparks befragt, die direkte Sicht auf WEA hatten. Der Fragebogen enthielt 590 Fragen zu Stresswirkungen und zur Akzeptanz. Ergebnisse: Die Einstellung zur Windenergie wie zu den lokalen WEA war durchschnittlich positiv. Im Mittel zeigten sich nur geringe Stresseffekte, keine erhebliche Belästigung durch die Kennzeichnung. Eine differenzierte Analyse wies jedoch Handlungsbedarf auf. So belästigte beispielsweise die Nachtkennzeichnung bei bestimmten Wetterlagen, wie zum Beispiel wolkenloser Nacht, stark, und Xenon-Lichter führten zu deutlicheren Stresseffekten als LED oder farblich gekennzeichnete Flügel. Bemerkenswert: Belastungen während der Planungs- und Bauphase erhöhten die spätere Belästigung durch die Kennzeichnung. Obwohl insgesamt keine erhebliche Belästigung bestand, waren 16 % der Gesamtstichprobe stark belästigt. Diese Personen waren häufiger als andere gesundheitlich vorbelastet; ihre Beschwerden sind ernst zu nehmen. Empfehlungen: Zur Verringerung der Belastungen für die Anwohner wurden Maßnahmen empfohlen wie der Verzicht auf Xenon-Befeuerung, ein synchroner Blink-Rhythmus aller Lichter eines Windparks, an die Sichtweite angepasste Helligkeit der Lichter und eine belastungsreduzierte Gestaltung der Planungsund Bauphase. Auch wenn Umweltkonflikte nur schwer zu kategorisieren sind, lassen sich Schwerpunktsetzungen in ihrem phänotypischen Erscheinungsbild ausmachen: So basieren Ressourcenkonflikte vorrangig auf der konkurrierenden Nutzung und ungerechten Verteilung knapper Umweltressourcen wie etwa trinkbares Wasser, fruchtbares Land oder saubere Luft. Darüber hinaus gibt es Konflikte zwischen unterschiedlichen Anliegen und Interessen, zum Beispiel bei umweltbezogenen Entscheidungen, die den Charakter sozialer Konflikte haben und sich am Schutz oder der Gefährdung

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der natürlichen Umwelt entfachen. Gemeinsam ist allen Umweltkonflikten ihre Komplexität. Erstens sind auf ökologischer Ebene die betreffenden Zusammenhänge in ihrer Tragweite kaum zu erfassen; zweitens sind auf sozialer Ebene in der Regel mehrere Parteien bis hin zu vielschichtigen Akteursgruppen über Repräsentanten involviert; drittens sind Umweltkonflikte stets gleichzeitig lokal und global zu denken, da jeder lokale Konflikt auf das ökologisch-soziale Gesamtsystem wirkt und umgekehrt (vgl. z. B. Ittner & Ohl 2012; Müller 2012). Entsprechend herausfordernd gestaltet sich die Regelung solcher Konflikte, und nur die wenigsten Fälle sind nachhaltig mithilfe des kodifizierten Rechts zu handhaben. Daher werden häufig außergerichtliche Ansätze wie Schlichtung, Schiedsverfahren und Mediation eingesetzt. Erstere bemühen sich um einen Interessensausgleich, bei dem die Entscheidungsmacht bei den Schlichtern bzw. den Schiedsleuten liegt. In einer Mediation hingegen suchen Mediatoren gemeinsam mit den eigenverantwortlich handelnden Konfliktparteien eine einvernehmliche Regelung. Trotz ihrer zahlreichen bereichsübergreifenden Vorteile werden Umweltmediationen in Deutschland bislang fast nur bei Standortfragen und baulichen Entscheidungen praktiziert. Doch auch wenn es derzeit noch an Evaluationsdaten mangelt, die die Chancen des Verfahrens ausloten könnten, sprechen die verfügbaren Daten dafür, die Investition in mehr Bürgerpartizipation und eine neue Konfliktkultur zu wagen (vgl. Montada & Kals 2010).

Umweltpsychologie im interdisziplinären Kontext Eine ganze Reihe von natur- und verhaltenswissenschaftlichen Disziplinen setzt sich mit der Mensch-Umwelt-Beziehung auseinander. Hierzu gehören neben der Umweltpsychologie beispielsweise die Umweltbildung, -soziologie, -politik und -technologie oder die Geografie. Das Verhältnis von Umweltpsychologie und Umweltbildung ist konzeptionell besonders eng. Die Umweltbildung beschäftigt sich mit Fragen der Gestaltung und Veränderung, wobei die Ansätze mittlerweile über die reine Vermittlung von Umweltwissen hinausgehen und zum Beispiel auch praktische Erfahrungen mit einschließen. Dennoch werden auch innerhalb des Faches Grenzen und Defizite wahrgenommen, welche die Gestaltung, Inhalte und Evaluation der Bildungsprogramme betreffen (Bolscho 2002). Diese könnten durch eine engere Vernetzung mit der Umweltpsychologie überwunden werden. Hinsichtlich der relativen Bedeutung technologiegestützter oder verhaltenswissenschaftlicher Ansätze zur Überwindung der ökologischen Krise dominiert innerhalb der Umweltwissenschaften nach wie vor die naturwissenschaftlich-technische Sicht,

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und entsprechend viele Umweltexperten kommen in der Praxis aus natur-, ingenieur- oder wirtschaftswissenschaftlichen Studiengängen (Mieg 2010). Auch hier ist ein interdisziplinärer Ansatz zu empfehlen, denn jeglicher Wandel, der sich auf die natürliche Umwelt bezieht, ist auf eine Änderung menschlichen Verhaltens bzw. auf die Akzeptanz in der Bevölkerung angewiesen: So müssen umwelttechnologische Produkte gekauft und zielführend angewendet werden; Entscheidungsträger müssen bereit sein, in Umweltschutz und in neue Technologien zu investieren; und Politikerinnen und Politiker werden letztlich nur jene Maßnahmen umsetzen, die in der Bevölkerung akzeptiert werden. Die Bedeutung der Umweltpsychologie wird in Wissenschaft und Praxis zunehmend anerkannt – es lässt sich eine stetige, dynamische Weiterentwicklung des Faches beobachten. Ohne zu übersehen, dass es nach wie vor nur wenige explizite umweltpsychologische Studienschwerpunkte gibt, gehören umweltpsychologische Veranstaltungen zum festen Bestandteil der Curricula einiger Bachelor- und Masterstudiengänge. Darüber hinaus wird umweltpsychologische Expertise in Förder- und Forschungsprogrammen der Ministerien und Behörden vermehrt eingeholt, und die Verbindungen zur Politikberatung werden vor allem im klimapolitischen Bereich zunehmend enger (z. B. Ittner & Ohl 2012). Zwar arbeiten Umweltpsychologinnen und Umweltpsychologen nach wie vor überwiegend forschungsnah, doch gibt es einen steigenden Bedarf, die Erkenntnisse praktisch umzusetzen (Schweizer-Ries 2008). Dies liegt nicht zuletzt an dem profunden Inventar an Methoden, das dem Fach zur Verfügung steht und mit dessen Hilfe sich zeigen lässt, dass sich verhaltenswissenschaftliche Ansätze in der Umweltpraxis „rechnen“.

Verständnisfragen

▶ Welche Fragen stehen im Zentrum der Umweltschutzpsychologie, und welche weiteren Themen werden durch die Umweltpsychologie behandelt?

▶ Was sind die Vorteile des transaktionalen Paradigmas der Mensch-Umwelt-Beziehungen, welche Forschungsansätze ergeben sich hieraus?

▶ Welche umweltpsychologischen Ansätze zur Verhaltensänderung bzw. Lösung von Umweltkonflikten kennen Sie aus Ihrem eigenen Umfeld oder aus den Medien, welche Chancen und Herausforderungen liegen diesen zugrunde?

▶ Mittels welcher Argumente könnten Sie jemanden von der Bedeutung der

Umweltpsychologie überzeugen, der die Auffassung vertritt, dass sich die Umweltprobleme durch rein technische Lösungen beheben lassen?

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Von der Beziehungskiste zum sozialen Netzwerk Computer und Internet als Forschungsgegenstand der Sozialpsychologie Elfriede Löchel

Zusammenfassung

In diesem Kapitel wird eine relativ junge Forschungsrichtung der Sozialpsychologie vorgestellt: die Sozialpsychologie des Computers bzw. des Internets. Die Wurzeln und Vorläufer dieses Forschungsgebietes liegen in der Untersuchung der sozialen Wahrnehmung von Dingen. Dazu gehört auch die Wahrnehmung von technischen Dingen, Technologien und Medien. Während die Sozialpsychologie der Dinge und speziell der technischen Objekte lange Zeit ein Schattendasein führte, ist seit den 1980er-Jahren mit der Einführung des Personal Computers in Alltag und Arbeitswelt eine rege Forschungstätigkeit entstanden, die mit der Entwicklung des Internets einen weiteren Aufschwung nahm. Dieser Forschungszweig, der sich technischem, sozialem und psychologischem Neuland zuwendet, zeichnet sich durch Unkonventionalität, Interdisziplinarität und Pluralismus der Forschungsansätze und -methoden aus. Die bisher vorliegenden Studien sind stärker als in anderen Feldern durch qualitative, interpretative und häufig auch psychodynamisch-psychoanalytische Methoden gekennzeichnet.

Begriffe und Geschichte des Forschungsfeldes Die Sozialpsychologie des Computers und des Internets erforscht die Art und Weise, wie Individuen und soziale Gruppen dieses technische Medium wahrnehmen und erleben, welche Bedeutungen und Phantasien sie damit verbinden und wie sie – in ihrem beobachtbaren Verhalten, in ihren Gedanken, emotionalen Reaktionen und Wertungen – damit umgehen. Während die experimentalpsychologische Forschung das beobachtbare Verhalten und die bewussten Selbstauskünfte der Nutzer und © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_6

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Elfriede Löchel

Nutzerinnen untersucht (umfassender Überblick: Döring 2003), richtet sich das spezielle Erkenntnisinteresse psychoanalytisch-orientierter sozialpsychologischer Forschung auch auf die unbewussten Wünsche, Ängste und Konflikte und erschließt sie indirekt durch spezielle Forschungsmethoden (Turkle 1986; Krafft & Ortmann 1988; Leithäuser et al. 1995; Löchel 1997). Beide Forschungsrichtungen untersuchen die Beziehungen von Menschen zu technisch-medialen Objekten, die Beziehungen zwischen Menschen, die durch diese Technologien vermittelt sind, und die daraus folgende Beziehung zum eigenen Selbst und zur weiteren Welt. Bereits 1936 befasste sich der Sozialphilosoph Walter Benjamin (1892–1940) in seiner Schrift Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit mit den „tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates“ (Benjamin 1936, S. 67, Fn 29), die mit der damals neuen Technik des Filmes und Kinos einhergingen. Im Film (anders als im Theater oder beim Betrachten eines Gemäldes) wechselten die „Schauplätze und Einstellungen […], welche stoßweise auf den Betrachter einwirken“ ständig, sodass dessen eigener Gedankenablauf immer wieder unterbrochen werde (ebd., S. 66). Benjamin sprach von einer „Schockwirkung“, ging aber davon aus, dass diese „wie jede Schockwirkung durch gesteigerte Geistesgegenwart aufgefangen“ werde (ebd., S. 67), und sah darin durchaus auch eine Bereicherung der Wahrnehmung, die den gesellschaftlichen Prozessen der Moderne entspreche und diese erkennbar werden lasse. Der späteren Technik- und Medienforschung gelang es nicht immer, diese dialektische Sichtweise aufrechtzuerhalten. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich, etwas vereinfacht dargestellt, zwei Richtungen der philosophischen und sozialwissenschaftlichen Bewertung technischer Neuentwicklungen beobachten: einerseits eine technikkritische und kulturpessimistische Sicht, die Gefahren für die menschliche „Natur“ und das menschliche Zusammenleben befürchtet, andererseits eine affirmative Sicht, die die Erleichterungen und Annehmlichkeiten für die Menschen in den Vordergrund stellt. Ein Beispiel dafür ist die in der Öffentlichkeit geführte Diskussion über Schaden und Nutzen des Fernsehens, insbesondere seiner Auswirkungen auf das aggressive Verhalten von Kindern, die sich auch in medienpsychologischen Untersuchungen spiegelte (Vorderer, Mangold & Bente 2004).

Der Paradigmenwechsel: Vom Technikdeterminismus zu den subjektiven Bedeutungen Ein deutlicher Wendepunkt auch für die sozialpsychologische Forschung lässt sich mit dem Jahr 1986 ausmachen, als – zunächst von Techniksoziologen – erstmals öffentlich die Auffassung vertreten wurde, dass die „technikdeterministische“ Sicht

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in eine Sackgasse geraten war (Lutz 1987). Mit Technikdeterminismus sind Sichtweisen gemeint, die von einem einseitigen Einfluss der Technik auf den Menschen ausgehen, wie zum Beispiel der Forschungsansatz der „Technikfolgenabschätzung“ in der Soziologie oder das Forschungsparadigma der Medienpsychologie, die anfangs von einer „Beeinflussung“ des Erlebens und Verhaltens von Individuen durch die Medien ausgingen. Seit den 1990er-Jahren untersuchen sie zunehmend die Rezeption und Selektion von Medien auf der Seite der Nutzer und Nutzerinnen und beziehen ihr Denken und Fühlen stärker mit ein (vgl. Vorderer & Trepte 2000). Wohl nicht zufällig fand dieser Paradigmenwechsel gleichzeitig mit der Einführung des Personal Computers, ihrer öffentlichen Diskussion und ihrer ersten wissenschaftlichen Begleituntersuchungen statt. Bereits als bloße Textverarbeitungsmaschine und noch vor Einführung des Internets funktionierte der Computer aufgrund seiner technischen und operativen Merkmale als ein interaktives Objekt (Geser 1989), das gerade in der Anfangszeit mit heftigen, aber individuell verschiedenen Emotionen und Bedeutungszuschreibungen aufgenommen wurde (Becker-Schmidt 1988; Schachtner 1993; Löchel 1997). Kurz vor der allgemeinen Verbreitung des Personal Computers hatte eine Reihe von Veröffentlichungen verheerende gesellschaftliche Auswirkungen der neuen Technik vorhergesagt. Abgesehen von den arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen der Rationalisierung und der Verschärfung von Überwachungs- und Kontrolltechniken wurden als psychosoziale Gefahren Kommunikationsverlust, Zerstörung der zwischenmenschlichen Beziehungen, Entsinnlichung, Wirklichkeitsverlust und die Abnahme der Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten, mit dem Computer verbunden (s. z. B. Schurz & Pflüger 1987; Krafft & Ortmann 1988). Diese pessimistische Sicht wich differenzierteren und optimistischeren Einschätzungen, sobald die ersten empirischen Untersuchungen vorlagen. Einerseits sind solche Prozesse der Dramatisierung und Entdramatisierung eine regelmäßige Begleiterscheinung bei der Einführung neuer Technologien (Pfaffenberger 1992; Leithäuser et al. 1995). Sie zeigen, dass Technik niemals nur etwas Rationales, Funktionales und Instrumentelles ist, sondern dass sie immer auch Ängste, Wünsche und Konflikte evoziert (Becker-Schmidt 1988). Andererseits stand die Entdramatisierung im engen Zusammenhang mit dem oben genannten Paradigmenwechsel. Dieser hatte dazu geführt, dass die ersten explorativen empirischen Untersuchungen aus der Perspektive der Nutzerinnen und Nutzer durchgeführt wurden. Daraus ergab sich, dass die vermeintlichen „Auswirkungen“ der Computertechnologie stark davon abhingen, wie die individuellen Nutzer und Nutzerinnen den Computer wahrnahmen, erlebten und welche Bedeutungen sie ihm aufgrund ihrer eigenen Lebensgeschichte und Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen zuschrieben. Statt auf die objektiven Auswirkungen wurde nun der Blick auf die

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Elfriede Löchel

subjektiven Aneignungsstrategien der Nutzerinnen und Nutzer gelenkt (Hörning 1985; Rammert et al. 1991). Die leitende Fragestellung war nicht mehr: Was macht der Computer mit den Menschen?, sondern: Was machen die Menschen mit dem Computer? Welche Bedeutungen geben sie ihm? Die subjektiven Bedeutungen des neuen technischen Objekts wurden so zum Forschungsgegenstand. Dieser lässt sich folgendermaßen charakterisieren: In dem Maße, wie die Perspektive der Subjekte und ihre Deutungsmuster ins Blickfeld rücken, ändert sich auch der Technikbegriff. Technik erscheint nicht mehr nur als Instrument in einem funktionalen Mittel-Zweck-Zusammenhang, sondern auch als Träger von Bedeutungen, als Ausdrucks- und Darstellungsmittel individueller und gruppenspezifischer Vorlieben und Abneigungen, Wertorientierungen und Lebensstile. Während Sozialwissenschaftler dabei die kollektiven Symbolsysteme und Bedeutungszusammenhänge im Auge haben, besteht der Beitrag der Sozialpsychologie darin, das Erleben und Verhalten von Individuen mit ihren Wünschen, Ängsten und Konflikten zu untersuchen. Insofern kann der sozialpsychologische Beitrag auch als ein Mosaikstein einer umfassenderen Technik- bzw. Computer- und Internetforschung aufgefasst werden, die daneben soziologische, anthropologische, technikwissenschaftliche, politische und historische Dimensionen einbezieht (Löchel 1997, S. 17–39; Döring 2003, S. 553f.). Diese Perspektive geht einher mit der Einsicht, dass sich die Multidimensionalität des Forschungsgegenstandes nicht durch einfache Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge abbilden lässt. Der beschriebene Paradigmenwechsel beflügelte in der zweiten Hälfte der 1980er- bis in die Mitte der 1990er-Jahre die sozialpsychologische Computerforschung. Wegweisend war die Untersuchung der amerikanischen Soziologin und Klinischen Psychologin Sherry Turkle, die den Begriff des evokatorischen Objekts einführte (Turkle 1986, S. 11ff., S. 399–407), um die besondere Art der Beziehung zum Computer zu bezeichnen: Einige Objekte, unter denen der Computer heute an erster Stelle steht, provozieren die Reflexion über fundamentale Dinge. Kinder, die mit Spielzeug spielen, von dem sie sich vorstellen, dass es lebendig sei, und Erwachsene, die mit der Vorstellung spielen, das Denken sei ein Programm, werden jeweils durch die Fähigkeit des Computers verführt, Selbstreflexion zu provozieren und zu beeinflussen. (ebd., S. 13)

Dieser Begriff wurde später von Löchel & Tietel (1990) sowie Leithäuser et al. (1996) weiter ausdifferenziert und durch die Methode der Gruppendiskussion der empirischen sozialpsychologischen Forschung zugänglich gemacht. Löchel & Tietel verstehen das Konzept des evokatorischen Objektes

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in Abgrenzung zum Begriff des „instrumentellen Objektes“ oder des „Werkzeugs“. Es bezieht sich auf die subjektive Seite des Werkzeuggebrauchs, d. h. auf diejenigen subjektiven Bedeutungen und Bewertungen, Phantasien und Wünsche, aber auch Konflikte, die das Verhältnis zwischen Mensch und technischem Gegenstand prägen und in die Arbeit einfließen. (1990, S. 92)

In der Folge entstanden – noch vor der Einführung des Internets – in der Sozialpsychologie und der interpretativen Soziologie zahlreiche Untersuchungen, die sich mit den subjektiven Bedeutungszuschreibungen (Psychologie) und den symbolisch-kulturellen Bedeutungen des Computers (Soziologie, Kulturwissenschaften) befassten. Methodisch standen unstrukturierte themenzentrierte Interviews (Löchel 1997), narrative Interviews (Rammert 1991) und Gruppendiskussionen (Leithäuser et al. 1995) als Erhebungsverfahren im Vordergrund. Als Auswertungsverfahren wurden häufig die Grounded Theory (Schachtner 1993) und tiefenhermeneutische Verfahren gewählt (Leithäuser et al. 1995; Löchel 1997), da es auf die Nähe zur Sprache der Befragten und deren subjektive Relevanzen ankam, um davon ausgehend Theorien mittlerer Reichweite zu entwickeln. Ein solches Vorgehen ist angemessen, wenn es sich um einen neuen Forschungsgegenstand handelt. Die Ergebnisse lassen sich in Kürze so zusammenfassen: Schon vor dem Internet, als der Personal Computer lediglich eine erweiterte Schreibmaschine, ein Gerät zur Textverarbeitung war, erwies er sich als von seinen Nutzern emotional hoch besetzte „Beziehungskiste“, als „Interaktionspartner“ (Geser 1989), als Objekt, mit dem sie sich in alle möglichen Arten von Objektbeziehungen verwickelten (Löchel 1997) und das sie nicht selten personifizierten und mit einem Namen versahen (Tietel 1995; Schachtner 1993). So verstrickten sich manche Nutzer in Machtkämpfe mit dem Computer („Der hat mit mir gemacht, was er wollte“ oder „Das ist ein lebendes Ausrufungszeichen, so ein Computer“), andere erlebten ihn als „Verbündeten“ und „Kumpel“, oder sie hatten Angst, an ihm etwas kaputtzumachen. Zur Konzeptualisierung solcher interaktiven Verwicklungen bedarf es einer Beziehungstheorie, die die Beziehung zu belebten, menschlichen „Objekten“ und zu unbelebten Dingen gleichermaßen erfassen kann. Die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie ist eine Theorie interpersonaler Beziehungen, die diese Bedingung erfüllt. Sie geht davon aus, dass sich die Konflikterfahrungen, die Befriedigungs- und Versagungserlebnisse, die ein Individuum im Rahmen seiner Primärbeziehungen gemacht hat, in unbewussten Beziehungsmustern niederschlagen. Diese können sich auch im Umgang mit dem Computer realisieren. Von dieser theoretischen Grundlage ausgehend, hat Sherry Turkle (1986) gezeigt, dass der Umgang mit dem Computer in Verbindung zu individuellen Erlebensund Verhaltenstendenzen steht. Doch während Turkle sich mit einer recht groben Typologie, zum Beispiel der Unterscheidung eines „weichen“ („hysterischen“) und

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eines „harten“ („zwanghaften“) Programmierstils, begnügt, ließ sich später zeigen, dass die Vielfalt von Beziehungsmustern im Umgang mit dem Computer wesentlich größer ist (Löchel 1997). Die Notwendigkeit, kritisch gegenüber Typologien zu sein, spielt auch in Bezug auf die Untersuchung geschlechtsspezifischer Unterschiede im Umgang mit dem Computer eine Rolle. Diese Frage wurde während der Einführung des Personal Computers viel diskutiert. Vor dem Hintergrund sozialwissenschaftlich-pädagogischer Begleituntersuchungen zu Computerkursen wurde vorübergehend ein sogenannter frauenspezifischer Zugang zum Computer behauptet und – um ihn von dem traditionellen Vorurteil eines problematischen Verhältnisses zwischen „Frau“ und „Technik“ abzugrenzen – ausdrücklich als Stärke und besondere Kompetenz gewertet. Im Rahmen pädagogischer und bildungspolitischer Maßnahmen hatte sich gezeigt, dass Frauen bzw. Mädchen, sofern sie durch entsprechende Gestaltung der Unterrichtssituation die Gelegenheit dazu erhielten, hartnäckiger und skeptischer nach dem Nutzen des Computereinsatzes und seinen sozialen Voraussetzungen und Folgen fragten und beim Erwerb technischer Fähigkeiten nüchterner und reflektierter vorgingen (vgl. z. B. Faulstich-Wieland 1987). Diese „Kritikkompetenz“ wurde der traditionell als männlich geltenden „Technikkompetenz“ an die Seite gestellt. Solche typologischen Ansätze wirken heute im Lichte der fortgeschrittenen Genderdiskussion antiquiert. Sie wurden auch sehr schnell durch differenziertere Ansätze und Forschungsergebnisse widerlegt (ausführliche Literaturangaben dazu in Löchel 1997). Dennoch bleiben die Fragerichtung und die Berücksichtigung von genderbezogenen Differenzen in der sozialpsychologischen Technik- und Medienforschung bis heute wichtig.

Weiterentwicklungen War schon der Computer ein evokatorisches und interaktives Objekt, so haben sich seit der Einführung des Internets die Beziehungsoptionen, die den individuellen Nutzerinnen und Nutzern offenstehen, potenziert: E-Mail, Chats, Skype, Foren, interaktive Spiele sind nur einige Beispiele, ganz abgesehen vom Online-Shopping, der Online-Partnersuche und vielen anderen Online-Diensten. Sie ermöglichen eine immense Steigerung der Anzahl computervermittelter Kontakte mit bekannten oder unbekannten Menschen (Döring 2003). Sie ermöglichen aber auch Beziehungen zu nicht-menschlichen Objekten – Zeichen, Bildern, Informationen –, die zum Beispiel beim Surfen oder Spielen in Erscheinung treten. Die derzeit populärste Entwicklung sind die sogenannten sozialen Netzwerke wie Facebook, die verschiedene Softwarefunktionen zusammenführen und die Datenaustauschmöglichkeiten für Millionen

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„vernetzter“ Mitglieder vereinfachen (Leistert & Röhle 2011). Insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene gehört Facebook zum Alltag. Sie präsentieren sich auf dieser Plattform mit Texten, Bildern, Videos und Musik und begegnen einer Vielzahl von „Freunden“. Verlässliche sozialpsychologische Erkenntnisse über die Bedeutung dieser relativ neuen sozialen Praktik liegen noch nicht vor.1 Neben den sozialen Netzwerken und in Verbindung mit ihnen sind die miniaturisierten mobilen Endgeräte (i-Phones, Smartphones, Tablets) eine bedeutsame Entwicklung. Sie ermöglichen durch ihre Ortsunabhängigkeit den räumlich und zeitlich unbegrenzten Zugang zum Netzwerk. „Mobile Medien verweben digitale Datenräume und lebendige Realräume und führen damit zu einer steigenden Präsenz von Virtualität“ (Völker 2010, S. 9). Hier stellt sich als Desiderat sozialpsychologischer Forschung die Frage nach möglichen Veränderungen des Raum- und Zeiterlebens und generell des Umgangs mit Grenzen und Begrenztheit. Insgesamt lassen sich folgende methodische Zugänge zum Forschungsfeld Computer/Internet und folgende Schnittstellen mit benachbarten Wissenschaften ausmachen: 1. Klassische sozialpsychologische Forschung: Die Felder, Begriffe, Theorien und Forschungsmethoden der Sozialpsychologie werden auf den neuen Gegenstand Computer/Internet übertragen. „Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen“ (Döring 2003) wird experimentalpsychologisch untersucht. Hier lag bereits 2003 eine Fülle von Forschungsergebnissen vor, die von der Tendenz her „entdramatisierend“ zu sein scheinen. Weder eine eskapistische Flucht in virtuelle Scheinidentitäten noch eine Abnahme sozialer Kompetenzen zeichnet sich als typisch ab: „[S]chließlich erfordern auch Online-Gruppen soziale Kompetenz, behandeln oft realweltliche Themen und integrieren Offline-Kontakte und -Aktionen“ (ebd., S. 552). Eine interessante Entwicklung besteht darin, dass sich die klassische Erforschung sozialpsychologischer Phänomene im Bereich des Internets mit der klassischen Medienpsychologie berührt, was beiden Disziplinen neue Impulse gibt. 2. Psychoanalytisch-sozialpsychologische Forschung: Dieser Ansatz zeichnet sich durch Berührungen mit der klinischen Praxis aus und nimmt Impulse aus klinischen Einzelfallstudien auf, ist aber von klinischer Forschung durch die sozialwissenschaftliche Methodik der qualitativen empirisch-hermeneutischen Forschung zu unterscheiden (Leithäuser et al. 1995; Löchel 1997). Sie weist ebenfalls eine Nähe zur interpretativen sozialwissenschaftlichen Technikforschung auf (Schachtner 1993; Rammert 1991). 1 Der Beitrag wurde Anfang des Jahres 2013 verfasst.

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3. Die Sozial- und Medienpsychologie bedarf der Kooperation mit philosophischen und kulturwissenschaftlichen medientheoretischen Ansätzen (s. Krämer 2000; Hörisch 2001; Mersch 2006). So wird in der Literatur immer wieder darauf hingewiesen, dass der Begriff der Virtualität bisher kaum geklärt ist (Eposito 1998; Löchel 2002; Völker 2010).

Desiderate künftiger sozialpsychologischer Forschung Sozialpsychologische Untersuchungen hinken der rapiden Technikentwicklung immer hinterher und wirken schnell veraltet. Bevor ein aufwendiges Forschungsprojekt abgeschlossen ist und seine Ergebnisse publiziert sind, ist oft schon wieder ein neues Medium „in“. Dennoch sind auch ältere Untersuchungen, zum Beispiel über den Computer als Einzelgerät, noch heute von Interesse, insbesondere hinsichtlich ihrer Forschungsmethoden und -ansätze. 2003 wurde von Döring der sozialpsychologische Forschungsbedarf folgendermaßen zusammengefasst: erstens die Nutzung der einzelnen Dienste und Anwendungen des Internets und zweitens die computervermittelte interpersonale Kommunikation, darunter spezielle Phänomene wie virtuelle Identitäten, Cyberbeziehungen und Online-Gemeinschaften. Als Forschungsfragestellung schlug sie vor: „Wie verändern sich bestehende soziale Gruppen, wenn Online-Kommunikation zu den bisherigen Kommunikationsformen hinzutritt? Und wie entwickeln sich neue soziale Gruppen, wenn Personen sich erstmals auf einer Online-Plattform begegnen?“ (Döring 2003, S. 554ff.). Forschungsimpulse für die sozialpsychologisch-psychoanalytische Forschung kommen gegenwärtig aus der therapeutischen Behandlung von Kindern und Jugendlichen, in der zunehmend die Beziehung zu medialen Objekten ins Blickfeld gerät (Günther 2010; Gätjen-Rund 2013). Dort werden zum Beispiel folgende Forschungsfragen formuliert: Was bedeutet die Entgrenzung des Raum- und Zeiterlebens für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen? In welcher Beziehung steht die „Omnipräsenz“ mobiler Medien und Online-Verbindungen zur Angst vor dem Alleinsein (Gätjen-Rund 2013)? Eine weitere Forschungsfrage bezieht sich auf das Erleben und Äußern von aggressiven Impulsen in internetvermittelten Kontakten im Unterschied zur face-to-face-Kommunikation (Löchel 2002). „Das Soziale und das Technische sind keine Gegensätze: Soziale Prozesse sind die Basis für Technikentwicklung und umgekehrt strukturiert die Medientechnik die sozialen Austauschmöglichkeiten. Um diese Wechselwirkungen zu betonen, wird das Internet […] als sozio-technisches System interpretiert. […] Ebensowenig wie das

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Technische und das Soziale Gegensätze darstellen, sind ‚virtual life‘ und ‚real life‘ Gegenwelten: Gerade die permanenten Kontrastierungen von so genannten Online- und Offline-Phänomenen haben letztlich viele Gemeinsamkeiten und Überschneidungen offenbart. Das so genannte ‚virtual life‘ hat nicht per se den Status des Irrealen, Fiktiven und Unechten, vielmehr wird computervermittelte Kommunikation in vielen Konstellationen durchaus als bedeutungsvoller zwischenmenschlicher Kontakt erlebt.“ (Döring 2003, S. 553–254)

Fazit Die Sozialpsychologie von Computer und Internet ist ein junger, in Entwicklung begriffener Zweig der Sozialpsychologie, der künftig an Bedeutung gewinnen wird. Forschungsgegenstand sind zum einen klassische sozialpsychologische Themen wie Identität, Interaktion, Kommunikation, Gruppenprozesse und Selbstkonzepte, die auch im Bereich internetvermittelter Beziehungen untersucht werden können (Döring 2003, S. 325–552; vgl. auch Steinhardt 2002; Köhler 2003). Zum anderen untersucht die psychoanalytisch- sozialpsychologische Forschung, welche unbewussten Objektbeziehungen und Phantasien (Wünsche, Ängste, Konflikte) bei den genannten Prozessen im Spiel sind (Löchel 1997). Darüber hinaus lässt sich die Frage aufwerfen, ob auf der Grundlage der internetvermittelten Beziehungen neue sozialpsychologische Phänomene entstehen, und wenn ja, wie und mit welchen Forschungsmethoden man das feststellen könnte. Generell hat sich mit der Erforschung des Computers und des Internets die Einsicht durchgesetzt, dass man ein technisches Objekt oder Medium nicht unabhängig von den soziokulturellen, diskursiven und symbolischen Bedeutungszusammenhängen betrachten kann, in die es eingewoben ist. Die sozialpsychologische Erforschung des Umgangs mit dem Computer bzw. dem Internet ist in erster Linie Grundlagenforschung. Daher wurden in diesem Kapitel Themen wie Internetabhängigkeit, Computerspielsucht, Cyberbullying nicht behandelt (s. Weiterführende Literatur).

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Verständnisfragen

▶ Inwiefern können unbelebte technische Dinge, Geräte, Technologien und Medien ein Thema der Sozialpsychologie sein, die sich doch ihrem Selbstverständnis nach mit den Auswirkungen der tatsächlichen oder vorgestellten Gegenwart anderer Menschen auf das Erleben und Verhalten des Individuums befasst? ▶ Was versteht man unter einem evokatorischen Objekt? ▶ Was ist an einfachen Kausalerklärungen und Formulierungen wie „Technikfolgen“ oder „Auswirkungen des Internets“ problematisch? Mit welchem Forschungsansatz versucht man, diese Problematik zu überwinden?

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Von der Beziehungskiste zum sozialen Netzwerk

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Religion in Soziologie und Sozialpsychologie Gert Pickel

Zusammenfassung

In diesem Kapitel wird die sozialwissenschaftliche und sozialpsychologische Beschäftigung mit den Themen Religion und Religiosität vorgestellt. Zunächst werden Definition und Definitionsprobleme von Religion und Religiosität sowie grundsätzliche Überlegungen zur Mehrdimensionalität von Religiosität dargestellt. Ausgehend von Überlegungen der Klassiker, werden sodann die aktuellen Debatten der Beschäftigung mit Religion und Religiosität als gesellschaftlichem Phänomen diskutiert. Im Zentrum des Beitrags steht die Gegenüberstellung dreier Erklärungsmodelle der Religiositätsentwicklung (Säkularisierungstheorie, Individualisierungsthese des Religiösen, Marktmodell des Religiösen). Der abschließende Abschnitt behandelt exemplarisch einige spezifische aktuelle Theorien („Kampf der Kulturen“ und Spirituelle Revolution) sowie deren gesellschaftliche Wirkung.

Definition(en) und Dimensionen Wird von Religion gesprochen, handelt es sich in der Regel um die Beschreibung eines Systems von Glaubensbeziehungen, das sich institutionell und organisatorisch in Gesellschaften manifestiert, aber auch individuelle und kollektive Praktiken und Überzeugungen beinhaltet. Davon unterschieden werden gemeinhin Sekten1, die als 1 Gerade der Begriff der Sekte hat in der Gegenwart eine enorme normative Aufladung bzw. negative Konnotation erfahren. Mit ihm werden z. B. Scientology oder die MunSekte in Verbindung gebracht. In der wissenschaftlichen Diskussion wird er dagegen © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_7

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Abspaltungen von etablierten Kirchen entstehen, und Kulte, die aus Gruppenbildungsprozessen von Menschen mit einem neuen Glauben resultieren (Pollack 2001, S. 345). Ein gerade für die neueren Sozialwissenschaften und die Sozialpsychologie bedeutender Bestandteil dieses Systems ist die Religiosität, also die am Individuum angelagerten Einstellungen und Handlungsweisen mit religiösem Bezug. Religiosität findet sich in unterschiedlichen Formen und Konstellationen bei Menschen. Sie kann stark oder schwach ausgeprägt, handlungsleitend für den Lebensalltag oder nicht, rein privat oder öffentlich ausgerichtet, rituell oder innerlich spirituell orientiert sein. Gleichzeitig gibt die repräsentativ zusammengefasste Religiosität von Individuen Auskunft über einen wichtigen Bestandteil der Kultur eines Kollektivs.

Religionsdefinition: Religion als System von Glaubensbeschreibungen und Praktiken enthält sowohl die gesellschaftlichen Organisationsformen als auch verschiedene Dimensionen von an das Individuum angelagerter Religiosität. Speziell letztere wird bei der Unterscheidung in eine substanzielle und funktionale Definition von Religion angesprochen. Die Diskussion der Definition von Religion ist lang und kontrovers. Sie konzentriert sich auf den Bestandteil von Religion, der individuell gebunden ist: die Religiosität. Dabei werden die entsprechenden Definitionen oft von der Religiosität auf die Religion, also das Sinnsystem allgemein, übertragen. Probleme entstehen aufgrund der begrenzten direkten Zugänglichkeit des Phänomens der Religiosität, da die Transzendenz und individuelle Religiositätsvorstellungen für die Forschung nicht verfügbar sind (Pickel 2011, S. 16–24). Allerdings ist es weder das Ziel der Religionspsychologie noch der Religionssoziologie, die Transzendenz oder das Wesen von Religionen zu erforschen. Interesse besteht allein daran, religiöse Phänomene im Diesseits zu ergründen. Doch selbst bei der Bestimmung, was im Diesseits religiös ist, existieren in der Forschergemeinde erhebliche Differenzen. Sie führten sogar zu der Empfehlung einzelner Wissenschaftler, auf eine Definition gänzlich zu verzichten. Aufgrund der Unmöglichkeit einer empirischen Erforschung des Phänomens Religiosität ohne eine Definition wurde dieser Vorschlag aber berechtigterweise zurückgewiesen. Für die sozialpsychologische Betrachtung ist dabei weniger das soziale und organisatorische System der Religion als insbesondere die individuelle Religiosität und ihre kollektive Einbindung von Interesse. vollkommen wertneutral als Gegensatz zu bürokratisch organisierten, größeren Kirchen verwendet. Zur Definition von Sekte siehe auch Troeltsch (1922).

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Die substanzielle und die funktionale Definition von Religion Für die Gegenwartsbetrachtungen von Religiosität haben sich über die Zeit zwei unterschiedliche Definitionsrichtungen etabliert: So wird Religiosität einerseits substanziell definiert. Dabei wird zwischen Immanenz (Diesseits) und Transzendenz (Jenseits) unterschieden. In diesem Fall ist das religiös, was im Diesseits mit einem Transzendenzbezug oder Bezug auf eine höhere (geistige) Macht verbunden ist. Religiös sind somit nur Erfahrungen, Handlungen und Einstellungen mit Bezug auf eine der direkten Erfahrung des Menschen entzogenen höheren Macht oder etwas „Heiligem“ (Otto 1917; z. B. Gottesdienstbesuch, Gebet, Glaube an Engel oder Gottesglaube). Der Nachteil dieser Begriffsbestimmung liegt nach Ansicht ihrer Kritiker in der verengten Definition von Religion. Sie unterliege der Bindung an eine westliche (christliche) Vorstellung von Religion (eben einer spezifischen Substanz) und sei daher für universale Vergleiche der Religiosität nur bedingt geeignet. Befürworter der substanziellen Definition verweisen demgegenüber auf die empirische Bestimmbarkeit substanzieller Religiosität und die Möglichkeit, durch stetige Verbesserungen in den Instrumentarien der Ermittlung der subjektiven Religiosität (Fragebogenfragen, Kombination unterschiedlicher Erhebungsmethoden) die Definition schärfen und die Kritik entkräften zu können (Huber 2008). Die zweite Definition bewegt sich in der Tradition Émile Durkheims (1858–1917) und fasst Religion funktional (1922). In diesem Fall wird Religion über ihre Leistung, die sie für die Gesellschaft erbringt, definiert. Funktionen können Integration, Kompensation, Kontingenzbewältigung oder Sozialisation sein. Durch den diesseitigen Bezug erfolgt eine Lösung von dem traditionalen Begriffsverständnis christlicher Religiosität. Als Vorteil dieser Definition wird ihre Offenheit für vielfältige Phänomene des Religiösen angesehen, welche der Realität der Moderne angemessen ist. Beispielsweise werden so die persönliche Spiritualität und reli­ giöse Erfahrungen jenseits eines konventionellen Religionsverständnisses greifbar. Auch öffnet sich die Chance für synkretistische (mehrere religiöse Vorstellungen kombinierende) Religionsmuster. Kritiker dieses Zugangs verweisen auf die Weite dieses Religions­begriffs und die daraus oftmals nicht mehr mögliche empirische Bestimmung religiöser Phänomene (Luhmann 2000). So verbindet sich die funktionale Definition häufig mit der Grundannahme einer anthropologischen Konstante prinzipiell und immer schon bestehender Religiosität (Luckmann 1967). Gleichzeitig verengt sie aufgrund der Konzentration auf eine ausgewählte Funktion wiederum den Bereich des Religiösen. Eine Variante der Integration sowohl funktionaler als auch substanzieller Definitionsbestandteile versucht Detlef Pollack (1995). In Anlehnung an Niklas Luhmann (2000) kombiniert er die funktionale Frage nach Kontingenzbewältigung mit den

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angebotenen Antworten im Diesseits. So soll beiden Richtungen Rechnung getragen werden. Eine stärker auf den theoretischen Pfad des Pragmatismus angelegte Definition legt Martin Riesebrodt (2001) vor, der Religiosität rückwirkend aus den durchgeführten Praktiken rekonstruiert. In der gegenwärtigen Forschung zu Religion haben sich allerdings sowohl der substanzielle als auch der funktionale Zugang hartnäckig als eigenständige Alternativen gehalten. Mittlerweile wird dies akzeptiert, sofern die verwendete Religionsdefinition zu Beginn der Forschungsarbeit offengelegt wird.

Dimensionen der Religiosität nach Charles Glock Jenseits der unentschiedenen Definitionsproblematik kann Religiosität auch dimensional, entlang einzelner ihrer (empirisch bestimmbaren) Bestandteile verstanden werden. Bereits bei Durkheim (1912) findet sich ein Dreiklang von religiösen Überzeugungen, religiösen Praktiken und dem Bestehen einer moralischen Gemeinschaft (Pollack 2001, S. 337). In der neueren Betrachtung hat sich das Modell von Charles Glock (1954) etabliert, das fünf eigenständige Dimensionen der Religiosität unterscheidet: die religiöse Praxis, das religiöse Wissen, die religiöse Erfahrung, die religiöse Ideologie (der Glaube) und die Konsequenzen der Religiosität für den Alltag. Alle diese Dimensionen sind zwar eigenständig, aber durch wechselseitige Beziehungen miteinander verbunden. Sie konstituieren die persönliche Religiosität. In seiner Weiterentwicklung des Modells entfernte Glock die Dimension der religiösen Konsequenzen, unterschied aber nun die kollektive und die individuelle religiöse Praxis. Das so entstandene Instrumentarium wird für die empirische Forschung heute häufig eingesetzt, zum Beispiel in der Konzeption des Religionsmonitors von Bertelsmann (Huber 2009).

Klassische Auffassung und Entwicklung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Religion Die Auseinandersetzung mit Religion zählt, was heute etwas aus dem Blick geraten ist, zu den Gründungsfragen der Soziologie. Nahezu alle Klassiker der Soziologie beschäftigten sich in der einen oder anderen Weise mit diesem Thema. Dabei lagen die Schwerpunkte des Interesses auf der Frage nach der Prägekraft von Religion für die Gesellschaft sowie den Beobachtungen eines Formenwandels von Religion in modernen Gesellschaften. Als Ausgangspunkt können die religionskritischen

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Überlegungen der Aufklärung verstanden werden, an die eine ergebnisoffene Debatte um die Wirkungsmächtigkeit von Religion in modernen Gesellschaften anschloss. Im Mittelpunkt stand die (klassisch soziologische) Frage, inwieweit Religion zur Ordnung einer Gesellschaft beitrage. Damit befand sich die Bedeutung von Religion als kulturellem Merkmal von Anfang an im Zentrum der Überlegungen.

Ziel der Beschäftigung mit Religion: Das Ziel der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Religion ist die Ermittlung ihrer Bedeutung für die Gesellschaft (Religionssoziologie, Religionswissenschaft) oder das Individuum (Religionspsychologie). Auch in der Nachbardisziplin der Religionswissenschaft gewann die systematische Religionswissenschaft seither an Bedeutung. Sie trat neben die historische Religionswissenschaft (Hock 2006, S. 7–10) und richtete die Konzentration verstärkt auf den Religionsbegriff und Religionstypologien, aber auch komparative Ansätze (Wach 1962). Die Religionspsychologie fokussiert dagegen vornehmlich auf die Aspekte des individuellen Erlebens und der individuellen Erfahrung. Dabei lassen sich grob eine experimentelle und eine verstehende Richtung unterscheiden (Hock 2006, S. 132). Erstere versucht, die Psyche mit Blick auf religiöses Erleben zu entschlüsseln, letztere dagegen, Religiosität unter dem Aspekt von Rückwirkungen auf das individuelle Befinden zu untersuchen. Diese sozialpsychologisch anschlussfähige Richtung hat sich in Deutschland in der Folge stark an die Religionssoziologie angenähert und eine vornehmlich empirische Ausrichtung angenommen (Grom 2007; Henning, Murken & Nestler 2003).

William James’ individualistischer Ansatz Eine religionspsychologische Perspektive verfolgte bereits William James (1842–1910), der sich auf den Begriff der religiösen Erfahrung konzentrierte (1901). Für ihn stand die Kirche in klarem Gegensatz zur „reinen“ Religiosität, welche sich durch ihren Transzendenzbezug von anderen Erfahrungen unterscheidet. Damit interessierten ihn nicht die sozialen Institutionen der Religion, sondern eher Formen der Expression, in denen sich religiöse Erfahrung äußert oder ausbildet (z. B. Konversion oder Ekstase). Religiöse Institutionen waren aus seiner Sicht verzichtbar, wenn nicht sogar schädlich. Entsprechend war das religiöse Verhalten von Menschen für ihn einzig aus den inneren Überzeugungen im Anschluss an diese Erfahrungen ab-

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zuleiten. Auch Rudolf Otto (1869–1937) argumentierte in diese Richtung und sah „das Heilige“ als etwas „Numinoses“ und nicht Greifbares (1917). Religiosität sei dementsprechend eine Empfindung „sui generis“ und allen anderen Formen des Religiösen zwingend vorgelagert. Damit näherte er sich einer wichtigen Differenzierung an, welche seitens des Soziologen Émile Durkheim konkretisiert wurde und bis heute eine tragende Bedeutung für die Auseinandersetzung mit Religion besitzt.

Émile Durkheim: Das Profane und das Heilige Émile Durkheim unterschied zwischen heiligen und profanen Handlungen, die beide in der Gegenwart zu finden seien. Das Heilige könne durch gesonderte Zeiten und Orte identifiziert werden. Noch wichtiger für Durkheim war aber Folgendes: Er sah eine funktionale Komponente der Religion als entscheidend für ihre Existenz in den Gesellschaften an – sie dient der Integration der Gesellschaft. Damit wich er vom eher individualistischen Verständnis religiöser Erfahrung im Sinne James’ und Ottos ab und sah religiöse Erfahrung einzig in kollektiven Begegnungen begründet. Nur in der Gemeinschaft würden religiöse Erfahrungen gemacht. Dies sei auch der Grund für die Durchsetzung kollektiver Riten und der speziellen heiligen Orte und Zeiten sowie religiöser Symbole. So steht doch die Integration der Mitglieder einer Gemeinschaft im Zentrum der Ausprägung von Religion im Diesseits. Die Manifestierung von Religion sei entsprechend durch die Konstruktion eines höheren Ziels oder der Vorstellung einer idealen Gesellschaft geprägt. Im Prinzip verehre sich die Gesellschaft in den Ritualen selbst – mit Blick auf ein erstrebenswertes Ideal von ihr. Diese funktionale Betrachtungsweise erwies sich für die spätere Beschäftigung mit Religion als genauso bedeutsam wie die Differenzierung zwischen profan und heilig.

Max Weber: Der kollektive Ansatz Eine andere Richtung zur Erklärung der gesellschaftlichen Ausprägung von Religion schlug Max Weber (1864–1920) ein. Mit seinen Studien zum Zusammenhang zwischen Religion und Wirtschaftsverhalten sowie zwischen spezifischen Religionsausprägungen und sozialen Gruppen rückte er einen handlungstheoretischen Zugang ins Zentrum der Religionsanalyse. Besonders prägnant sind seine Studien zur protestantischen Ethik. In ihnen rekonstruierte er einen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Ethik und Protestantismus. Weber identifizierte dabei eine Beziehung zwischen der sozioökonomischen Lage und einer religiös motivierten

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Moral. Sie führe zur Etablierung einer spezifischen Ethik in der Moderne, welche von einer Vielzahl von Werten gerahmt wird (z. B. Sparsamkeit, Leistungsbereitschaft und Arbeitsethos). Entscheidend an Webers Ansatz ist die Umkehrung der Deutung von Karl Marx (1818–1883), der sich ebenfalls mit der Verbindung von Ökonomie und Religion auseinandersetzte. Nach Weber ist es die Kultur, in der Form der allgemein und übergreifend akzeptierten Ethik, welche die Struktur verändert und nicht umgekehrt. Diese – mittlerweile sehr moderne kulturwissenschaftliche – Feststellung mündet bei Weber in einer Entkoppelung der kapitalistischen Ethik von der Religion, und damit in einem Prozess, den man heute als Säkularisierung bezeichnet.

Protestantische Ethik: Mit der protestantischen Ethik bezeichnet Max Weber die Ausbildung von bestimmten Wertemustern, welche eine kapitalistische Wirtschaftsordnung forcieren und in der Gesellschaft verankern. Er sieht diese Wertemuster als Konsequenz des Protestantismus, vor allem des Calvinismus an. Gerade im Vergleich von Weber und Durkheim wird deutlich, dass eine zentrale Unterscheidung der Erklärung und Bestimmung von Religion existiert: Die Ansätze argumentieren entweder stärker von der kollektiven oder der individualistischen Seite aus. Im Umfeld dieser Überlegungen lassen sich eine größere Anzahl weiterer Klassiker verorten. Zu erwähnen sind hier nur Georg Simmel (1858–1918), der die Bezüge zwischen Gruppenbildungsprozessen und Religion sowie die Unterscheidung zwischen „religiös“ und „religioid“ einführte, und Ernst Troeltsch (1865–1923), der sich den religiösen Sozialgruppen widmete und darauf bezogen eine Unterscheidung zwischen den Formen Kirche, Sekte und Mystik herausarbeitete (1922). Ebenfalls zu erwähnen ist die systemtheoretische Ausarbeitung im Anschluss an Talcott Parsons (1902–1979), welche insbesondere Niklas Luhmann (1927–1998; 2000) und Robert Bellah (1967) fortführten; der erste mit Blick auf die Ausdifferenzierung eines Subsystems Religion mit dessen Ausrichtung auf Kontingenzbewältigung (also die Bewältigung der nicht zu beantwortenden Frage, warum etwas ist, wie es ist, auch wenn es ja anders sein könnte), der andere unter Bezug auf die Ausprägung einer Zivilreligion, wie sie sich idealtypisch in den USA entwickelte (Übersicht Pickel 2011).

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Wesentliche Erweiterungen Nach den Diskussionen der Klassiker kam eine relativ ruhige Zeit der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Religion und ihrer Bedeutung für die Gesellschaft. Dies ist darauf zurückzuführen, dass das Paradigma der unausweichlichen Säkularisierung dominierte. Entsprechend schien eine Beschäftigung mit Religion kaum mehr lohnenswert. Diese Haltung wandelte sich in den letzten Jahrzehnten maßgeblich. Zum einen wurde mit Bezug auf die Überlegungen Thomas Luckmanns (1967) eine Wiederkehr des Religiösen konstatiert. Jenseits der weiter abnehmenden Bindungen der Individuen an die Kirche rückte im Zuge der Pluralisierung und Individualisierung moderner Gesellschaften die Ausbildung von „Bastelreligiositäten“ und Ausformungen populärer Religiosität in den Fokus des Interesses (Knoblauch 2009). Auch auf der Ebene der organisierten Religionen veränderte sich die Diskussionslage. So wurde, angelehnt an Überlegungen zu einem „Kampf der Kulturen“ (Huntington 1996), eine Rückkehr der Religionen (Riesebrodt 2001) oder zumindest ein Wiedererstarken an ihrer öffentlichen Bedeutung (Casanova 1994) debattiert. Letzteres wurde gerne um den Hinweis auf die Überstrapazierung der Verbindung von Modernisierung und Säkularisierung ergänzt (Marktmodell des Religiösen, Stark & Bainbridge 1987). Allen Interpretationen stand allerdings entgegen, dass weder die Verbindung zwischen Modernisierung und Säkularisierung noch der daraus folgende soziale Bedeutungsverlust des Religiösen zu leugnen war (Bruce 2002; Norris & Inglehart 2004). Folglich richtet sich das Gros der aktuellen Diskussionen auf drei wesentliche Theoriezugänge, in denen die eben erwähnten Aussagen prototypisch ihren Ausdruck finden.

Die Säkularisierungstheorie Zuerst zu nennen ist die Säkularisierungstheorie. Sie postuliert im Anschluss an die Überlegungen Max Webers ein grundsätzliches Spannungsverhältnis zwischen Religion und Moderne, welches langfristig zu einem sozialen Bedeutungsverlust der Religion in den Gesellschaften führt. Für diesen Verlustprozess machen Säkularisierungstheoretiker ein ganzes Bündel an Faktoren verantwortlich. Einer ist die Rationalisierung, die sich seit der Aufklärung ausbreitet, ein anderer die mit der Moderne verbundene funktionale Differenzierung von Lebensbereichen. Aber auch Prozesse der Industrialisierung, Bürokratisierung, Demokratisierung (mit der zunehmenden Distanz zu Vorgaben religiöser Autoritäten) oder die zunehmende Migration werden angeführt (Bruce 2002; Pickel 2011, S. 141). Dabei kommt es kaum zu Einbrüchen der Religiosität im Lebensverlauf, höchstens zu temporären

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biografischen Schwankungen. Entscheidend aber ist die Erosion der generationalen Weitergabe religiösen Wissens und religiöser Traditionen. Säkularisierung ist folglich die Konsequenz abnehmender religiöser Sozialisation. Wichtig ist dabei, dass Säkularisierung immer ein mit den sozialen Rahmenbedingungen verbundener Prozess ist, der nicht völlig autark oder ungebunden ist. So kann auch die Einstellung oder das Gefühl, dass in einer modernen Gesellschaft Religiöses in den Privatbereich gehört, zu einem Rückgang religiöser Praktiken führen.

Säkularisierung: Säkularisierung ist der Prozess des Verlustes der sozialen Bedeutung von Religion in sich modernisierenden Gesellschaften. Ausdrucksformen sind der Rückgang religiöser Praktiken in der Bevölkerung, ein Abbruch der Bindekraft religiöser Normen und/oder der Rückzug des Religiösen ins Private. Ein Rückgang persönlicher Religiosität wird zwar nicht postuliert, gilt aber in Folge der genannten Entwicklungen als relativ plausible Konsequenz. Diese Vorstellungen zogen in der Folge verstärkt Kritik auf sich. Bemängelt wurde insbesondere die postulierte Universalität des Säkularisierungsprozesses. Darüber hinaus wurden verschiedene Realitätsbeobachtungen ins Feld geführt, die gegen die Säkularisierungstheorie sprachen. Tatsächlich finden sich immer wieder Länder, in denen allen Modernisierungsprozessen zum Trotz hohe Ausprägungen an Religiosität bestehen. Das Paradebeispiel gegen die Gültigkeit der Annahmen der Säkularisierungstheorie sind die USA, in denen seit Jahrzehnten eine hohe Religiosität zu beobachten ist. Auch die implizite Verbindung zwischen subjektiver Religiosität und (christlich verstandener) Kirchlichkeit wurde als christlich-westlicher Ethnozentrismus kritisiert, obwohl sie nicht zwingend sei.

Die Individualisierungsthese Die Individualisierungsthese des Religiösen, welche in der Tradition Luckmanns (1967) steht, sieht dagegen keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Kirchlichkeit bzw. Konfessionsmitgliedschaft und subjektiver Religiosität. Sie geht im Gegenteil davon aus, dass die individuelle Religiosität eine anthropologische Konstante des Menschen darstellt: Sie gehört zum Menschsein zwingend dazu und konstruiert dieses erst. Folglich kommt es vielleicht zu einem Verschwinden spezifischer Sozialformen des Religiösen in der Realität, wie etwa des Christentums, aber zu keinem Verschwinden der subjektiven Religiosität. Letztere wandelt nur ihre Formen und findet sich in der

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Gegenwart in „Bastelreligiosität“ oder unsichtbaren Formen wieder. Entscheidend ist die Bindung der Religiosität an das Individuum. Es nutzt eigene Kompositionen von Religiosität als Ersatz für die an Relevanz verlierenden Deutungsangebote der großen Religionen. Diese können dabei recht unstet und im Fluss (fluide Religiosität) sein. Beispiele für die religiösen Ersatzformen sind Zen-Mediation, Horoskope, Bachblütentherapie, aber auch Bodybuilding oder gar Fußball (Knoblauch 2009).

Das Marktmodell des Religiösen Eine andere Kritikrichtung schlägt das vornehmlich in den USA verbreitete Marktmodell des Religiösen ein. Ausgehend vom amerikanischen Fall, legt es eine handlungstheoretische Erklärung für die Ausbreitung oder Nichtausbreitung religiöser Vitalität vor.2 Dabei bleibt auch das Marktmodell einem anthropologischen Verständnis von Religiosität verhaftet: Die subjektive Suche nach religiösen Antworten wird als konstant und bei jedem Menschen als gegeben vorausgesetzt. Die Nachfrage nach religiösen Angeboten bleibt so durchgehend immer vorhanden, während die religiöse Vitalität einzig aufgrund der Qualität der religiösen Angebote variiert. Nur wenn diese exklusiv und für den Nachfrager passend sind, wird ein Mensch sich religiös betätigen (Stark & Bainbridge 1987). Die beste Rahmenkonstellation für eine religiöse Vitalität ist ein religiöser Pluralismus, der sich als Folge eines von staatlichen Eingriffen befreiten religiösen Marktes entwickelt. Gelegentlich kann diese produktive Konkurrenzwirkung durch Konflikte kompensiert werden. Das zugrunde gelegte Verständnis des Individuums ist die Haltung eines individualistischen Nutzenmaximierers. Sein zentraler Nutzen besteht dabei in der Gewährung eines Lebens nach dem Tod durch eine höhere Macht. Aufgrund der beschriebenen Angebotsabhängigkeit religiöser Vitalität liegt die Säkularisierungstheorie mit ihren universalistischen Annahmen auch aus Sicht der Anhänger des Marktmodells falsch.

Modifikationen der Säkularisierungstheorie In Reaktion auf diese Kritik kommt es auch in der Säkularisierungstheorie zu Veränderungen. So wurde die Kritik des Marktmodells, auch gestützt durch em2 Unter religiöser Vitalität werden die religiösen Handlungen der Menschen verstanden, welche im Marktmodell des Religiösen (wie auch in der Säkularisierungstheorie) zusammengefasst für die beobachteten Kollektive analysiert und interpretiert werden.

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pirische Ergebnisse, weitgehend zurückgewiesen und die USA (und nicht Europa) als Sonderfall identifiziert (Bruce 2002). Gleichzeitig werden nun kulturell bedingte Pfadabhängigkeiten berücksichtigt (Norris & Inglehart 2004; Pickel 2010). Historisch gewachsene Unterschiede können zu Variationen religiöser Vitalität führen, ohne dass deswegen die Säkularisierungstheorie infrage gestellt werden muss. Auch wurde der Versuch unternommen, Elemente der verschiedenen Ansätze zu kombinieren, wobei man an der zentralen (universalen) Argumentationslinie der Säkularisierungstheorie festhielt – oder sich diese als dominant herauskristallisierte (Stolz 2009). Argumente gegen die Individualisierungstheorie des Religiösen sind der Hinweis auf das primäre Erkenntnisinteresse der Säkularisierungstheorie an der „sozialen Bedeutung“ sowie die Plausibilität einer Diffusion des Glaubens bei einem Einbruch von religiösem Wissen und Praktiken. Speziell wird auf die hohe Konsistenz der generationalen Abbrüche in fast allen religiösen Indikatoren verwiesen.

Empirische Erkenntnisse Um die Tragfähigkeit der verschiedenen theoretischen Modelle prüfen zu können, wird in der Forschung zu Religion auf empirische Analysen zurückgegriffen. Dabei besteht bei Anhängern der Individualisierungsthese des Religiösen eine Präferenz für qualitative Methoden (rekonstruktiv-deutend, ethnografisch, interpretativ-verstehend). Anhänger der Säkularisierungstheorie, aber auch des Marktmodells des Religiösen bevorzugen dagegen quantitative Methoden (statistisch-erklärend), wobei in den letzten Jahren insbesondere ländervergleichende Umfragen ins Zentrum rückten. Diese eher gesellschaftswissenschaftlichen Vorgehen werden von historischen Analysen eingerahmt. In den letzten Jahren kam es vermehrt zu Versuchen, verschiedene Zugänge zur Thematik Religion zu verbinden. Die Ergebnisse sind zumeist hinsichtlich der Besonderheiten entweder Europas oder der USA umstritten, haben aber die empirischen Kenntnisse zur Konfiguration und Entwicklung von Religiosität erheblich erweitert. Im Kern bestätigen sie Differenzen in der religiösen Vitalität zwischen Staaten mit unterschiedlichem sozioökonomischen Modernisierungsstand, aber auch Bezüge zu religiös-kulturellen und politischen Prägungen (Norris & Inglehart 2004; Pickel 2010). Doch auch Effekte der Angebotsseite auf die religiöse Vitalität sowie eine stärkere Pluralität religiöser Vorstellungen sind nicht zu übersehen. Insgesamt dominieren bei den verallgemeinerbaren Ergebnissen Hinweise auf eine stärkere, wenn auch nicht deterministische Bedeutung der säkularisierungstheoretischen Annahmen.

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Gegenwärtige Auseinandersetzungen Samuel Huntington: „Kampf der Kulturen“ Neben der breiten Debatte zwischen den drei genannten Theoriemodellen liegen sichtbare Schwerpunkte der Diskussion auf spezifischen gesellschaftlichen Phänomenen. Hier ist noch einmal die These vom „Kampf der Kulturen“ (Huntington 1996) aufzunehmen. Sie kann als Startschuss einer Debatte um die strukturelle Friedfertigkeit oder Konflikthaftigkeit von Religionen – aber auch ganz allgemein um das Verhältnis von Religion und Politik – betrachtet werden. Sie hat ihre Bedeutung hauptsächlich in den internationalen Beziehungen und der Politikwissenschaft entfaltet. Die zentrale – und viel kritisierte – These Samuel Huntingtons (1927–2008) ist, dass nach dem Zusammenbruch des Ost-West-Antagonismus eine neue weltweite Konfliktlinie entstanden ist. Diese sei vor allem kultureller Natur und historisch sowie in ihrer Existenz tief in der Identität der Bevölkerungen verankert. Den religiösen Kulturen komme dabei eine besondere Bedeutung zu. Speziell die Differenzierung zwischen Christentum und Islam wird dabei als konfliktträchtig angesehen. Die Folge sei eine Zuspitzung oder gar die Entstehung politischer Konflikte zwischen Staaten und „Kulturen“. Infolge zunehmender religiöser Pluralisierung finden diese Konflikte auch Eingang in die Auseinandersetzungen innerhalb der Länder. Die Überlegungen Huntingtons wurden immer wieder – und teils scharf – zurückgewiesen. Trotzdem hat der Verweis auf Religionen als potenzielle Unruhestifter seinen Platz in medialen und öffentlichen Debatten gefunden. Ein Grund hierfür ist die öffentliche Wahrnehmung von einer Aggressivität des Islam infolge der Terroranschläge des 11. September 2001. Ausdruck hierfür sind zum Beispiel die Verbindung von Fragen der Integration mit religiösen Merkmalen und die Islamophobie in Teilen der westeuropäischen Bevölkerungen, wie sie in den Integrationsdiskussionen in Deutschland oder den Niederlanden geführt werden. Dabei werden Verständnisdefizite für fremde Religionen, die große Bedeutung von Religion für die Identitätssicherung und das erhebliche Diskreditierungspotenzial deutlich, welches religiösen Gemeinschaften innewohnt. Die Identitätsfrage steht auch im Zentrum der Diskussion über Fundamentalismus.3

3 Riesebrodt (2001) definiert Fundamentalismus allgemein als eine Festlegung auf ein wortwörtliches Verständnis der Ursprungsschriften einer Religion und eine patriarchale Wertestruktur. Aus seiner Sicht kann Fundamentalismus nur religiös sein, ist aber weder auf den Islam noch andere Religionen beschränkt.

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Kampf der Kulturen: Als Kampf der Kulturen bezeichnet Samuel Huntington (1996) die auf kulturellen und auch religiösen Differenzen (z. B. Islam versus Christentum) beruhenden politischen Konflikte innerhalb einzelner Länder, aber auch zwischen verschiedenen Ländern bzw. Kulturen.

Spirituelle Revolution Eine andere Diskussionslinie liegt auf der Auseinandersetzung zwischen Säkularisierungstheorie und Überlegungen, die, in der Tradition der Individualisierungsthese des Religiösen stehend, eine spirituelle Revolution (Healas & Woodhead 2005) prognostizieren. Anknüpfend an die Überlegungen zu religiöser Erfahrung, wird eine eigenständige und konsistente, wenn nicht sogar steigende Bedeutung von Spiritualität für die Menschen prophezeit. Abgesehen von der fast noch schwierigeren Identifikation von Spiritualität in der gesellschaftlichen Realität gegenüber Religiosität erweisen sich die empirischen Belegstrukturen für eine solche „Revolution“ bislang allerdings als eher schwach. Zwar kann nicht abgestritten werden, dass gerade in der Jugendphase zumindest temporäre Rückgriffe auf Spiritualität als Lebenshilfe oder Konstruktionen eines „Religiositätspatchworks“ vorkommen (Streib & Gennerich 2011). Jedoch ebenso wie ihre biografische Stabilität fraglich ist, ist es deren Wertigkeit fürs Alltagsleben.

Fazit Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Religion zählt zu den ersten Fragen der modernen Gesellschafts- und Geisteswissenschaften seit Beginn der Aufklärung. Bereits die Gründerväter der Soziologie setzten sich zu großen Teilen mit der Existenz von Religion, ihrer Erklärung und ihren Folgen auseinander. Dabei können zwei Zugangsrichtungen unterschieden werden: das Verständnis von Religiosität als kollektiv-kulturellem Phänomen und Religiosität als individualistische Ausprägung. In beiden Fällen stehen die Wirkungen auf die Gesellschaft und die Bedingungen in der Gesellschaft als Erklärungsfaktoren im Vordergrund. Diese grundsätzlichen Differenzierungen drücken sich in den derzeit dominierenden konzeptionellen Erklärungsmodellen von Religiosität bzw. religiöser Vitalität – Säkularisierungstheorie, Individualisierungsthese des Religiösen und Marktmodell des Religiösen – aus. Alle drei Konzeptionen haben trotz teilweise einander widersprechender Ergebnisse auch Bestätigungen gefunden und verfügen über in sich geschlossene

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und voneinander abgrenzbare Konzeptionen und Aussagen. Damit ergibt sich auch eine – allerdings empirisch noch nicht entschiedene – Prognosefähigkeit für die zukünftige Entwicklung des Religiösen. Die Bedeutung von Religion und auch Religiosität ist in der wissenschaftlichen Diskussion in den letzten Jahrzehnten wieder deutlich angestiegen, was im Gegensatz zur Erosion der sozialen Bedeutung von Religion zu stehen scheint. Teilweise dürfte dies daran liegen, dass zeitweilig die Bedeutung von Religion und ihrer Normen für das Gemeinwesen unterschätzt wurden, teilweise aber auch am enormen Bedeutungszuwachs der Kultur und der Kulturwissenschaften. Heute setzt sich nicht mehr nur die Theologie und Religionswissenschaft mit Religion auseinander, sondern zusehends auch eine Vielzahl von geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen. Ihr Interesse ist die Konstruktion von Erklärungstheorien eines wichtigen gesellschaftlichen und individuellen Phänomens, aber auch dessen gezielte und systematische Erforschung.

Verständnisfragen

▶ Welche theoretischen Modelle der Erklärung des Religiösen in der Moderne gibt es und wodurch unterscheiden sie sich voneinander?

▶ Was unterscheidet den substanziellen vom funktionalen Religionsbegriff? ▶ Welche Dimensionen von Religiosität gibt es nach den Überlegungen von Charles Glock?

▶ Was besagt die provokante These vom „Kampf der Kulturen“?

Literatur Bellah, R. N. (1967). Civil Religion in America. Daedalus, 96, 1–21. Bruce, S. (2002). God is Dead. Secularization in the West. Oxford: Oxford UP. Casanova, J. (1994). Public Religions in the Modern World. Chicago: Chicago UP. Durkheim, E. (1912/1981). Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Grom, B. (2007). Religionspsychologie. München: Kösel (3. Aufl.). Heelas, P. & Woodhead, L. (2005). The Spiritual Revolution. Why Religion is Giving Way to Spirituality. Oxford: Blackwell. Henning, C., Murken, S. & Nestler, E. (2003). Einführung in die Religionspsychologie. Paderborn: Schöningh.

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Sozialpsychologische Friedens- und Konfliktforschung Miriam Schroer-Hippel, J. Christopher Cohrs und Johanna Ray Vollhardt

Zusammenfassung

Das folgende Kapitel gibt einen Überblick über die sozialpsychologische Friedens- und Konfliktforschung. Es stellt zunächst den Gegenstandsbereich und einige ausgewählte historische Meilensteile vor. Anschließend berichtet es über jüngere integrierende Rahmenmodelle auf der Grundlage eher positivistischer Forschung. Es folgen drei konstruktivistische bzw. kritisch-psychologische Ansätze, und zwar diskurspsychologische, gendertheoretische und befreiungspsychologische. Schließlich geht es in Bezug auf drei beispielhaft ausgewählte Themenbereiche stärker ins Detail: psychologische Aspekte der Unterstützung von Krieg und militärischen Interventionen, die Konstruktion gewaltfreier Männlichkeitsvorstellungen im Nachkrieg und radiobasierte Interventionen in Ostafrika. Das Kapitel endet mit einem Ausblick auf mögliche Schwerpunktsetzungen zukünftiger sozialpsychologischer Friedens- und Konfliktforschung.

Definitionen des Gegenstandsbereiches Sozialpsychologische Friedens- und Konfliktforschung1 befasst sich mit psychologischen Aspekten der Entstehung, der Eskalation und der Bearbeitung von Konflikten zwischen sozialen Gruppen sowie mit den Bedingungen nachhaltigen Friedens. 1 Der Gegenstandsbereich der sozialpsychologischen Friedens- und Konfliktforschung überschneidet sich weitgehend mit dem der Friedenspsychologie. Die Friedenspsychologie umfasst jedoch zusätzlich Ansätze, die sich zum Beispiel eher der Persönlichkeits- oder der Entwicklungspsychologie als der Sozialpsychologie zuordnen lassen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_8

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Konflikte bezeichnen dabei Situationen, in denen zwischen mindestens zwei Akteuren unvereinbare Handlungstendenzen (z. B. Erwartungen, Interessen, Ziele) bestehen (Baros 2004). Sozialpsychologische Friedens- und Konfliktforschung ist normativ ausgerichtet. Sie verfolgt das Ziel, Theorien und Praktiken zu entwickeln, welche direkte und strukturelle Gewalt vermindern und zur (möglichst) gewaltfreien Konfliktbearbeitung und der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit beitragen (Christie, Wagner & Winter 2001, S. 7). Diese breite Definition bezieht sich auf das Gewaltverständnis Johan Galtungs (1969). Direkte Gewalt wird demzufolge von klar benennbaren Akteuren wie Personen oder Armeen ausgeübt und bezeichnet akute, intentionale Angriffe auf das physische und/oder psychische Wohlbefinden. Strukturelle Gewalt umfasst hingegen die ungleiche Verteilung von Macht und Ressourcen mit der Konsequenz ungleich verteilter Lebenschancen. Galtung berief sich dabei auf Überlegungen zu individuellem und institutionellem Rassismus. Er bezog zudem Geschlecht, Klasse und weltweite Ungleichheit als Kategorien struktureller Gewalt ein. Die Abwesenheit direkter Gewalt bezeichnet er als negativen Frieden, die Abwesenheit struktureller Gewalt als positiven Frieden. Mit dem später ergänzten Begriff der kulturellen Gewalt bezeichnete er die Aspekte einer Kultur, die der Rechtfertigung direkter und/oder struktureller Gewalt dienen und diese damit „normal“ oder gar „richtig“ erscheinen lassen (Galtung 1990). Ein Beispiel ist etwa die kulturell weit geteilte Überzeugung, dass moderne Kriegstechnologien weiterentwickelt werden müssten, damit sich Staaten vor Terrorismus schützen können. Zu den Themenbereichen friedenspsychologischer Forschung und Praxis zählen nach einer Matrix von Christie, Wagner & Winter (2001) direkte und strukturelle Gewalt im Kontext gewaltsamer Konflikte, die Verminderung direkter Gewalt (Peace­making) und die Überwindung struktureller Gewalt (Peacebuilding). Je nach Position in einem Gewaltzyklus sind unterschiedliche Strategien zur Verminderung direkter Gewalt nötig (Christie, Tint, Wagner & Winter 2008): (1) gewaltfreies Konfliktmanagement, wenn ein Konflikt besteht, der noch nicht gewaltsam eskaliert ist; (2) Gewaltdeeskalation nach Ausbruch organisierter Gewalt; (3) Versöhnung2 und sozialer, politischer und wirtschaftlicher Wiederaufbau nach dem Abflauen der Gewalt, um einen erneuten Ausbruch zu verhindern. In allen Phasen muss auch strukturelle Gewalt berücksichtigt werden, und längerfristig spielt die Transformation von kultureller Gewalt in eine Kultur des Friedens eine wichtige Rolle. Die Ansätze und Fragestellungen der sozialpsychologischen Friedens- und Konfliktforschung hängen stark vom jeweiligen geohistorischen Kontext ab. Einige 2 Der christlich geprägte Begriff der Versöhnung wird jedoch nicht in allen Kontexten geteilt, sodass je nach Konfliktparteien nach geteilten Vorstellungen der Wiederannäherung gesucht werden muss.

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„Klassiker“ aus dem westlichen Kontext, der durch den Kalten Krieg, aber auch durch das Problem des Rassismus und ethnopolitische Konflikte (z. B. Nordirland, ehemaliges Jugoslawien) bestimmt wurde, sind im Kasten dargestellt. Weitere Impulse kamen aus anderen Weltregionen, oft mit einem stärkeren Fokus auf den Kampf gegen den Kolonialismus und dessen Folgen sowie auf das Streben nach sozialer Gerechtigkeit. Ein Bereich der friedenspsychologischen Forschung und Praxis in Südostasien bezieht sich etwa auf die psychosozialen Folgen und Strategien zur Überwindung autoritärer Regimes (Montiel & Noor 2009).

Einige historische Schlaglichter der westlich geprägten sozialpsychologischen Friedens- und Konfliktforschung • William James (1910) veröffentlichte den Aufsatz „The Moral Equivalent of War“, in dem er analysierte, wie die psychologisch attraktiven Aspekte des Krieges durch andere, friedliche Aktivitäten substituiert werden können. • Im Zuge der ersten Arbeiten zur Einstellungsmessung entwickelte Droba (1931) eine Skala zur Erfassung von Einstellungen zum Krieg und untersuchte einige soziodemografische und psychologische Einflussfaktoren. • Allports (1954) Monografie The Nature of Prejudice nahm vielfache Erkenntnisse der späteren sozialpsychologischen Forschung zu Vorurteilen und Diskriminierung vorweg. Unter anderem seine „Kontakthypothese“ liefert die Basis für zahlreiche Interventionsansätze zur Verbesserung konflikthafter Beziehungen zwischen sozialen Gruppen. • Im Kontext des Kalten Krieges veröffentlichte Bronfenbrenner (1961) eine Arbeit, die die spiegelbildlichen Inhalte der US-amerikanischen und sowjetischen Feindbilder identifizierte. • Osgood (1962) schlug mit dem Modell der graduellen reziproken Initiativen der Spannungsreduktion (GRIT) eine Methode vor, wie das Wettrüsten zwischen den Supermächten in ein Abrüsten umgekehrt werden könnte. • Der Band International Behavior, herausgegeben von Herbert Kelman (1965), stellte wichtige Erkenntnisse und Überlegungen zur Rolle sozialpsychologischer Faktoren in internationalen Beziehungen zusammen, insbesondere zu Selbstund Fremdbildern sowie Möglichkeiten der internationalen Verständigung. • Milgram (1974) untersuchte in einer experimentellen Studie die Rolle des Gehorsams bei der Ausübung von Gewalt. Er entwickelte seine Fragestellung unter dem Eindruck der Eichmann-Prozesse und des Themas des autoritären Gehorsams im Nationalsozialismus.

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• Tajfel & Turner (1979) entwickelten die Theorie der sozialen Identität, die durch ihren Fokus auf das Verhalten von Menschen als Gruppenmitglieder der Analyse sozialer (insbesondere ethnopolitischer) Konflikte bis heute einen wichtigen theoretischen Rahmen gibt.

Methodologische und epistemologische Ansätze Inzwischen ist die sozialpsychologische Friedens- und Konfliktforschung ein breites Feld, das durch eine Vielfalt theoretischer und methodischer Ansätze an der Schnittstelle von Psychologie und Sozialwissenschaften gekennzeichnet ist. Diese Ansätze beziehen sich auf unterschiedliche Traditionen der Psychologie: (post)positivistische ebenso wie konstruktivistische und kritisch-psychologische. So werden Ergebnisse und Methoden der eher positivistisch ausgerichteten Sozialpsychologie für friedensund konfliktwissenschaftliche Fragestellungen genutzt und weiterentwickelt. In Anlehnung an Christie, Wagner & Winter (2001) stellten Cohrs & Boehnke (2008) verschiedene Konzepte aus der Sozialpsychologie zusammen, die als Hinderungsoder Begünstigungsfaktoren für negativen oder positiven Frieden wirken können. So sehen sie beispielsweise die Konzepte der legitimierenden Mythen bzw. ideologischen Überzeugungssysteme und der sozialen Dominanzorientierung (Sidanius & Pratto 1999) als Hinderungsfaktoren für positiven Frieden. Vollhardt & Bilali (2008) unterscheiden darüber hinaus zwischen sozialpsychologischen Konzepten, die indirekt relevant (z. B. Einstellungen), direkt relevant (z. B. Stereotypisierung) oder zentral (z. B. Dehumanisierung) für die Friedens- und Konfliktforschung sind. Der überwiegende Teil der Forschung zu diesen Konzepten lässt sich als positivistisch oder postpositivistisch bezeichnen. Das Ziel der Forschung besteht bei diesen Ansätzen darin, gesetzmäßige kausale Zusammenhänge zwischen objektiv messbaren, von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen definierten Konstrukten bzw. Variablen nachzuweisen. Oft geschieht dies in quantitativen, experimentellen Studien. Verbreitet sind jedoch auch korrelativ oder quasi-experimentell angelegte Quer- oder Längsschnittstudien. Die Funktion qualitativer Forschung ist in (post) positivistischen Ansätzen meist auf die Generierung von Hypothesen beschränkt. In teilweiser Abgrenzung zur Mainstream-Sozialpsychologie spezifizieren Vollhardt & Bilali (2008) einige metatheoretische und methodologische Kriterien, die sozialpsychologische Friedens- und Konfliktforschung ausmachen: (1) eine normative Orientierung; (2) eine praktische, über reinen Erkenntnisgewinn hinausgehende Orientierung; (3) Kontextualisierung; (4) die Berücksichtigung multipler Analyseebenen. Die normative Orientierung an der Reduktion von

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Gewalt und der Förderung von Frieden hängt mit dem Streben zusammen, dass Forschung die Welt nicht nur verstehen, sondern möglichst auch verbessern sollte (Martín-Baró 1994). Interventionsstudien, die etwa auf der Kontakthypothese oder Annahmen zu Medieneffekten aufbauen (ebd., S. 105), sind direkte Beispiele hierfür. Bezüglich der Kontextualisierung wird angenommen, dass sozialpsychologische Konzepte nicht bloß grundlegenden mentalen Gesetzmäßigkeiten unterliegen und daher nicht direkt auf verschiedene Kontexte übertragbar sind. Wie zum Beispiel legitimierende Mythen bzw. Ideologien konkret inhaltlich ausgestaltet sind, kann von Kontext zu Kontext verschieden sein. Damit hängt die Forderung zusammen, multiple Analyseebenen sowohl in der Theoriebildung als auch in der empirischen Untersuchung zu berücksichtigen: sozialpsychologische Konzepte haben intrapsychische Dimensionen, aber werden zugleich situativ oder durch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe bestimmt, was wiederum vom weiteren soziopolitischen Kontext abhängt. Beispielsweise ergab ein Vergleich von Umfrageergebnissen in Israel zwischen Zeiten relativen (negativen) Friedens und erhöhter direkter Gewalt, dass die Auswirkungen von Terroranschlägen auf die Einstellungen zum Frieden je nach Konfliktphase und für links- und rechtsorientierte Israelis unterschiedlich waren (Sharvit, Bar-Tal, Raviv, Raviv & Gurevich 2010). Dies verdeutlicht, dass Zusammenhänge fehlinterpretiert werden können, wenn nur eine Analyseebene berücksichtigt wird. Neben den eher (post)positivistisch geprägten Ansätzen bilden psychologische Traditionen, die sich mit sozialer Gerechtigkeit befassen und in den letzten Dekaden positivistische epistemologische Grundannahmen infrage stellten, wichtige Ansatzpunkte für sozialpsychologische Friedens- und Konfliktforschung, die bei Weitem noch nicht ausgeschöpft sind. Sie wiesen früh auf die inzwischen breit akzeptierte hohe Relevanz kontextbezogener Analysen hin. Der Begriff „soziale Gruppe“ wurde aus konstruktivistischer Perspektive kritisch diskutiert (z. B. Gibson 2011). In vielen (post)positivistischen Untersuchungsdesigns werden demnach „soziale Gruppen“ zwar als sozial konstruiert definiert, die Prozesse der Konstruktion sowie Machtbeziehungen zwischen den Gruppen bleiben jedoch oft ausgeblendet, was dazu beitragen kann, dass konfliktrelevante Trennungslinien verfestigt statt infrage gestellt werden (zusammenfassend Schroer 2010). Auch wurde problematisiert, dass individualistische Grundannahmen Bestandteil der Gewaltrechtfertigungen liberaler Demokratien seien (Gibson 2011). Im Folgenden werden beispielhaft drei kritische Ansätze der sozialpsychologischen Friedens- und Konfliktforschung näher dargestellt.

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1. Diskurspsychologische Forschung stellt die Konstruktion von (psychologischer) Wirklichkeit durch Sprache in den Mittelpunkt und richtet die empirische Untersuchung daher auf sprachliches Material (vgl. Gibson 2011). Demnach können „Einstellungen“ nicht losgelöst vom Gegenstand ihrer Bewertung und vom Kontext ihrer Verwendung betrachtet werden. Vielmehr enthalte die Konstruktion des Gegenstandes bereits Bewertungen und Handlungsoptionen. Gibson zeigt unter anderem am Beispiel britischer TV-Debatten über ein militärisches Eingreifen im Irak 2003, wie in der Verwendung des Begriffs „Frieden“ bereits Begründungen für ein militärisches Eingreifen eingebaut sein können und wie insbesondere die Befürworterinnen und Befürworter in ein „Identitätsmanagement“ investierten, mit dem sie sich von einer generellen Befürwortung von Krieg distanzierten (Gibson 2011a, b). 2. Gendertheoretische Analysen nehmen die Geschlechterdimension direkter und struktureller Gewalt in den Blick. Sie betonen, dass der normative Friedensbegriff die gleiche Verwirklichung von Lebenschancen für Menschen aller Geschlechtszugehörigkeiten einschließt. Methodisch werden sowohl qualitative als auch quantitative Verfahren eingesetzt. Zu den zentralen Diskussionslinien (vgl. Schroer 2010) zählen Studien über Erfahrungen von Frauen und Mädchen vor, während und nach Kriegen, zum Beispiel als Opfer, als Friedensaktivistinnen oder als Täterinnen. Kritisch diskutiert wurde dabei der Begriff „Nachkrieg“ mit der Begründung, dass auch nach dem offiziellen Ende eines Krieges direkte und strukturelle Gewalt an Frauen und Männern andauerten. Ein weiteres Feld bildet die feministische Kritik und Erweiterung praktischer Methoden der Konfliktbearbeitung. Diese sollen dazu beitragen, die in vielen Studien nachgewiesene Marginalisierung von Frauen bei Friedensverhandlungen, der militärischen Friedenssicherung und dem Friedensaufbau zu überwinden und einen inklusiven Frieden fördern. Zu den wichtigsten theoretischen Beiträgen gehört die Dekonstruktion essenzialistischer Zusammenhangsannahmen zwischen Gewalt und Geschlecht auf der Grundlage der Debatten der 1990er-Jahre zur sozialen Konstruktion von Geschlecht. Einen weiteren Meilenstein bildet das Paradigma der Intersektionalität, d. h. die Verschränkung und wechselseitige Aufrechterhaltung sozialer Kategorien wie Geschlecht, Ethnizität und Klasse (z. B. Magnusson 2011). Dabei wurde Geschlecht zu einer Analysekategorie für die Erforschung gewaltsamer Konflikte. Untersucht wurden zum Beispiel geschlechtlich aufgeladene Prozesse des ethnischen „Othering“ sowie Wege von Männern und Frauen in bewaffnete oder militante Gruppen (zusammenfassend Schroer 2010). 3. Die Befreiungspsychologie hat ihren Ursprung vor allem – aber nicht nur – in Lateinamerika, wo sie von dem Sozialpsychologen und Jesuiten-Priester

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Ignacio Martín-Baró (1942–1989) begründet wurde (Montero & Sonn 2009). Sie ist durch Parallelen zu den Anliegen der Kritischen Psychologie und der Gemeindepsychologie gekennzeichnet. Befreiungspsychologie zielt hauptsächlich auf die Entwicklung kritischen Bewusstseins (conscientization) sowie das Empowerment der Menschen ab, damit diese sich von Unterdrückung und sozial ungerechten Strukturen befreien können – mit anderen Worten, auf positiven Frieden. Die normative Ausrichtung impliziert klare politische und moralische Zielvorstellungen (Burton & Kagan 2005). Sie ist außerdem zentral mit dem sozialen Kontext des Individuums sowie mit der Interaktion zwischen der individuellen und der strukturellen Ebene befasst: Martín-Baró zufolge führt die Beschränkung auf die individuelle Ebene dazu, bestehende soziale Probleme zu vertiefen und zu individuellen Problemen zu machen, statt sie zu lösen (1994, S. 19, 22). Epistemologisch geht die Befreiungspsychologie davon aus, dass Menschen soziale Akteure sind, die aktiv Bedeutung konstruieren, anstatt bloß passiv auf Fragen der Forschenden zu reagieren (Montero & Sonn 2009). Methodologisch folgt daraus, dass qualitative, reflexive und aktionsorientierte Methoden verwendet werden, die die Menschen selbst zu Wort kommen lassen. Die Befreiungspsychologie beschränkt sich aber nicht auf diese Methoden, sondern greift pragmatisch auf eine Vielzahl qualitativer sowie quantitativer Methoden zurück (Burton & Kagan 2005).

Gegenwärtige Fragestellungen Im Folgenden stellen wir drei konkrete Beispiele aus unserer eigenen Forschung vor, die einige aktuelle Fragestellungen illustrieren sowie die thematische und methodologische Spannbreite sozialpsychologischer Friedens- und Konfliktforschung aufzeigen und ihren Anwendungsbezug demonstrieren.

Psychologische Aspekte der Unterstützung von Krieg und militärischen Interventionen In mehreren Fragebogenstudien wurde in Deutschland untersucht, mit welchen Überzeugungen und allgemeineren Werthaltungen unterstützende Einstellungen gegenüber militärischen Interventionen einhergehen. So zeigte sich in einer Studie zur Unterstützung der militärischen Intervention der NATO im Frühjahr 1999 im ehemaligen Jugoslawien (Kosovo-Krieg) im Einklang mit Banduras (1999) Konzept

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des moralischen Disengagements, dass die Einstellungen zur Intervention umso positiver waren, (a) je stärker die Befragten glaubten, die NATO habe keine andere Wahl gehabt und könne nicht für den Militäreinsatz verantwortlich gemacht werden, (b) je stärker sie an humanitäre Motive als Interventionsursache glaubten und (c) je stärker sie negative Konsequenzen des Militäreinsatzes herunterspielten (Cohrs & Moschner 2002). Auf der Ebene allgemeinerer Überzeugungen hing die Unterstützung der Militärintervention mit militaristischen Einstellungen, einer Tendenz zur Unterstützung des politischen Systems Deutschlands und autoritären Einstellungen zusammen. Neben der Unterstützung konkreter militärischer Einsätze wurde auch untersucht, wodurch generelle militaristische Einstellungen gekennzeichnet sind. Angesichts der immensen Militärausgaben weltweit, die zu massiver Zerstörung und Unterfinanzierung anderer Aufgaben beitragen, kann man weitverbreitete militaristische Einstellungen als Aspekt kultureller Gewalt sehen. Aufbauend auf einem früheren Überblick, konnten Cohrs, Göritz & Brähler (2009) ein Modell militaristischer Einstellungen aufstellen und mittels konfirmatorischer Faktorenanalyse belegen, das fünf Dimensionen umfasst: Überzeugungen, dass (1) Krieg aufgrund der Natur des Menschen unvermeidbar ist; (2) militärische Gewalt zweckmäßig sein kann (z. B. zur Aufrechterhaltung von Sicherheit, zur Lösung internationaler Konflikte); (3) militärische Gewalt moralisch legitim sein kann (z. B. im Verteidigungsfall oder zur Durchsetzung der Menschenrechte); (4) positive emotionale Reaktionen gegenüber dem Militärischen (z. B. Stolz, Bewunderung); (5) konkrete sicherheitspolitische Präferenzen (z. B. Befürwortung von Aufrüstung). Wichtige Aufgaben für weiterführende Forschung wären, kausale Beziehungen zwischen diesen Dimensionen und Möglichkeiten der Reduktion militaristischer sowie Förderung antimilitaristischer Einstellungen zu untersuchen.

Konstruktion gewaltfreier Männlichkeitsvorstellungen im Nachkrieg Am Beispiel einer kroatischen Friedensinitiative, an der Mitglieder von Veteranenund Friedensorganisationen beteiligt waren, wurde untersucht, wie ehemalige Soldaten militarisierte Männlichkeitsvorstellungen transformierten (Schroer-Hippel 2011, 2017). Die Fragestellung lautete, wie in einem konkreten Nachkriegskontext gewaltfreie oder weniger militarisierte Männlichkeitsvorstellungen konstruiert wurden. Die Datenerhebung und -analyse basierte auf der Grounded-Theory-Methodologie. Das 2007 und 2008 erhobene Material umfasst 15 problemzentrierte Interviews mit Mitgliedern der Initiative in drei kroatischen und zwei serbischen

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Städten, Interviews mit weiteren Expertinnen und Experten, Dokumentenanalysen sowie die teilnehmende Beobachtung von Aktivitäten in einer kriegsbetroffenen kroatischen Kleinstadt. Die Veteranen positionierten sich als Mitglieder der Friedensinitiative und zugleich als erfahrene Kämpfer, die nun für Gewaltfreiheit und Dialog eintraten, da sie wüssten, was Krieg bedeute, und sie ihn der zukünftigen Generation ersparen wollten. Indem sie in öffentlichen Diskussionen immer zunächst ihren militärischen Rang und ihre Kampferfahrung erwähnten, nutzten sie hegemoniale, militarisierte Männlichkeitsvorstellungen, um bei Menschen, die Friedensgruppen fernstanden, Glaubwürdigkeit zu erlangen. Durch ihr Eintreten für Gewaltfreiheit und Dialog transformierten sie militarisierte Ideale. Zugleich bezeichneten sie sich weiterhin als „Verteidiger“ (branitelji). Damit behielten sie die in Kroatien hegemoniale, militarisierte Männlichkeitsvorstellung bei, die mit dem Diskurs des Verteidigungskrieges gegen „den serbischen Aggressor“ verknüpft ist und häufig als moralische Rechtfertigung aller Kriegshandlungen verwendet wurde. Diese Positionierung war aus Sicht der Veteranen notwendig, um sich die Loyalität ihrer Kameraden und Kameradinnen in den Veteranenverbänden zu sichern.

Radiobasierte Interventionen in Ostafrika In einem langjährigen Projekt in Ruanda, Burundi und der Demokratischen Republik Kongo entwickelten sozial- und klinisch-psychologische Experten und Expertinnen zusammen mit einer NGO3 ein Radioprogramm, das die Bevölkerung über die Entstehung kollektiver Gewalt, ihre Reduktion und nachhaltigen Frieden informierte. Dafür wurden, im Sinne eines „Edutainment“, aus entsprechenden sozialpsychologischen Theorien abgeleitete Elemente in eine „Soap Opera“ eingebettet. In feldexperimentellen Evaluationsstudien zeigten sich in den Nachkriegsgesellschaften in Ruanda und Burundi positive Wirkungen der Radiointervention auf wahrgenommene Normen (z. B. bezüglich Toleranz, Empathie, Kooperation und Vertrauen) und dementsprechendes Verhalten (Paluck 2009) sowie auf die Bereitschaft, die Perspektiven der Fremdgruppe auf den historischen Konflikt nachzuvollziehen (Bilali & Vollhardt 2013). Im Kongo hingegen, wo der gewalttätige Konflikt andauert, war die Intervention weniger erfolgreich (Bilali, Vollhardt & Rarick, 2017). Dies verdeutlicht wieder die Notwendigkeit, in der sozialpsychologischen Friedens- und Konfliktforschung den Kontext und die gesellschaftliche Ebene theoretisch, methodologisch sowie in der Praxis mitzuberücksichtigen. 3 Radio La Benevolencija Humanitarian Tools Foundation, http://www.labenevolencija. org/ (20.02.2014)

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Miriam Schroer-Hippel, J. Christopher Cohrs und Johanna Ray Vollhardt

Ausblick auf die zukünftige sozialpsychologische Friedens- und Konfliktforschung In diesem Kapitel haben wir einige metatheoretische Perspektiven und Rahmenmodelle sowie konkrete Beispiele aus unserer eigenen Forschungspraxis dargestellt. Andere aktuelle Studien beziehen sich zum Beispiel auf die Rolle von sozial geteilten Erinnerungen, Viktimisierungserfahrungen und gruppenbasierten Emotionen (z. B. Stolz, Ärger, aber auch Schuld und Scham) bei der Konflikteskalation und -bearbeitung, die Rolle von Kontakt zwischen sozialen Gruppen in verschiedenen Konfliktphasen, Bedingungen sozioemotionaler Versöhnung (Tropp 2012) sowie die mediale Konstruktion und individuelle Interpretation von Terrorismus. Kontinuierliche Publikationen, kürzlich veröffentlichte Werke (z. B. Bar-Tal 2013; Christie 2012; Tropp 2012) und friedenspsychologische Vereinigungen wie das „Forum Friedenspsychologie“ in Deutschland4 geben Hoffnung, dass psychologische Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung sowohl innerhalb der Psychologie als auch in der politikwissenschaftlich dominierten Friedens- und Konfliktforschung einen größeren Stellenwert einnehmen werden. Problematisch bleibt die ungenügende universitäre Institutionalisierung und Finanzierung der psychologischen Friedens- und Konfliktforschung. Eine Folge ihres Nischendaseins ist, dass die hier skizzierten unterschiedlichen Forschungsstränge weitgehend nebeneinander bestehen und inhärente epistemologische Widersprüche sowie Möglichkeiten der gegenseitigen Ergänzung zu wenig diskutiert werden. Wichtige Potenziale für zukünftige Forschung bieten kritisch-psychologische Ansätze, die Themen der sozialen Gerechtigkeit aufgreifen, Definitionen von Kultur und Nation aus den Kulturwissenschaften sowie aktuelle sozialpsychologische Trends wie gruppenbasierte Emotionen, Versöhnung und Vergebung. Verstärkte Interdisziplinarität, Methodenvielfalt, Forschungsaktivitäten in Konflikt- und Postkonfliktgesellschaften außerhalb Europas und Nordamerikas sowie Kooperationen mit NGOs und Forschenden dieser Gesellschaften können außerdem dazu beitragen, die globale soziale Relevanz der sozialpsychologischen Friedens- und Konfliktforschung weiter zu erhöhen.

4 Forum Friedenspsychologie, http://www.friedenspsychologie.de (01.03.2018)

Sozialpsychologische Friedens- und Konfliktforschung

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Verständnisfragen

▶ Welche Beispiele struktureller Gewalt gibt es heutzutage in Deutschland, Europa und weltweit?

▶ Welche psychologischen Interventionen könnte man entwickeln, um auf positiven Frieden hinzuarbeiten?

▶ Formulieren Sie eine aktuelle Forschungsfrage in der sozialpsychologischen

Friedens- und Konfliktforschung, die in Deutschland (oder einer anderen Gesellschaft) besonders wichtig und herausfordernd wäre!

▶ Welche methodologischen und epistemologischen Kriterien kennzeichnet so-

zialpsychologische Friedens- und Konfliktforschung häufig, und warum sind diese für den Gegenstandsbereich wichtig und sinnvoll?

Literatur Allport, G.A. (1954). The nature of prejudice. Reading, MA: Addison-Wesley. Bandura, A. (1999). Moral disengagement in the perpetration of inhumanities. Personality and Social Psychology Review, 3, 193–209. Baros, W. (2004). Konfliktbegriff, Konfliktkomponenten und Konfliktstrategien. In G. Sommer & A. Fuchs (Hrsg.), Krieg und Frieden: Handbuch der Konflikt- und Friedenspsychologie (S. 208–221). Weinheim: Beltz. Bilali, R. & Vollhardt, J.R. (2013). Priming effects of a reconciliation radio drama on historical perspective taking in the aftermath of mass violence in Rwanda. Journal of Experimental Social Psychology, 49, 144–151. Bilali, R., Vollhardt, J.R., & Rarick, J.R.D. (2017). Modeling collective action through media to promote social change and positive intergroup relations in violent conflicts. Journal of Experimental Social Psychology, 68, 200–211. Bronfenbrenner, U. (1961). The mirror image in Soviet-American relations: A social psychologist’s report. Journal of Social Issues, 16 (3), 45–56. Burton, M. & Kagan, C. (2005). Liberation social psychology: Learning from Latin America. Journal of Community and Applied Social Psychology, 15, 63–78. Christie, D.J., Wagner, R. & Winter, D.D. (eds.) (2001). Peace, conflict, and violence. Peace psychology for the 21st century. Upper Saddle River, NJ: Prentice-Hall. Christie, D.J., Tint, B.S., Wagner, R.V. & Winter, D.D. (2008). Peace psychology for a peaceful world. American Psychologist, 63, 540–552. Cohrs, J.C. & Boehnke, K. (2008). Social psychology and peace: An introductory overview. Social Psychology, 39, 4–11.

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Miriam Schroer-Hippel, J. Christopher Cohrs und Johanna Ray Vollhardt

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Sozialpsychologische Friedens- und Konfliktforschung

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Generation und Familie Jan Lohl

Zusammenfassung

In diesem Kapitel wird das Forschungsfeld „Generation und Familie“ vorgestellt. Hierbei steht zunächst das klassische soziologische Generationenmodell im Mittelpunkt, das den Generationenbegriff differenziert, aber der Familie kaum Aufmerksamkeit schenkt. Anschließend wird die mit den Begriffen „Transgenerationalität“ und „Gefühlserbschaft“ bezeichnete Forschungsperspektive entfaltet. Dieser Ansatz thematisiert, wie Geschichtsbilder, unbearbeitete Traumata, Emotionen und Konflikte von älteren an jüngere Familienmitglieder weitergegeben werden.

Definition Der Begriff Generation bezieht sich auf unterschiedliche Phänomene, die sich nicht klar voneinander abgrenzen lassen: So bezeichnet der Begriff erstens die Selbstthematisierung einer Alterskohorte (generation building, Generation als identitätsstiftende Vergemeinschaftung, z. B. 68er-Generation). Er erfasst zweitens die zeitgenössischen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Einflüsse bestimmter Angehöriger verwandter Geburtsjahrgänge (Generation als Erlebnisgemeinschaft, z. B. NS-Funktionsgeneration). Drittens wird der Begriff im Kontext der Weitergabe von Erfahrungen älterer Familienangehöriger an jüngere verwendet (familiales Generationenmodell und Transgenerationalität, z. B. Zweite Generation von Shoah-Überlebenden). In jedem Fall aber ist Generation ein Begriff, der hilft, soziale und psychische Prozesse von Wandel und Kontinuitäten in einem lebensgeschichtlich überschaubaren Zeitraum zu ordnen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_9

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Aspekte der Geschichte des Forschungsfeldes „Generation und Familie“ Das gegenwärtige Verständnis von Generation lässt sich zurückverfolgen bis zu einer Definition durch Wilhelm Dilthey (1833–1911) aus dem Jahr 1875: Generation ist […] eine Bezeichnung für ein Verhältnis der Gleichzeitigkeit von Individuen; diejenigen, welche gewissermaßen nebeneinander emporwuchsen, d. h. ein gemeinsames Kindesalter hatten, ein gemeinsames Jünglingsalter […], bezeichnen wir als Generation. Hieraus ergibt sich dann die Verknüpfung solcher Personen durch ein tieferes Verhältnis. […] So gefasst, bildet eine Generation einen engeren Kreis von Individuen, welche durch Abhängigkeit von denselben großen Tatsachen und Veränderungen […] zu einem homogenen Ganzen verbunden sind. (Dilthey 1875/1964, S. 37)

Ähnlich wie Karl Mannheim (1893–1947) nach ihm (siehe unten) bestimmt Dilthey den Begriff Generation aus einer sozialstrukturellen Perspektive. Er macht darauf aufmerksam, dass Menschen historische Wesen sind. Sie unterliegen dem Einfluss jenes besonderen gesellschaftlichen und kulturellen Kontextes, in den sie hineingeboren und in dem sie erwachsen werden. Da Menschen diesen Kontext während ihrer Sozialisation immer mit anderen teilen, machen sie vergleichbare Erfahrungen und partizipieren an denselben historischen Ereignissen. Nach Dilthey speist sich daraus nicht nur ein „tieferes Verhältnis“ der Menschen zueinander. Ohne dass sie einander kennen, bildet sich auch durch die Gleichzeitigkeit ihres Aufwachsens in einem Kontext jenes „homogene Ganze“ heraus, das Dilthey Generation nennt. Die Idee, dass es Generationen gibt, gewinnt mit den Entwicklungen der europäischen Moderne eine spezifische Bedeutung (18. und 19. Jahrhundert). In dieser Zeit kommt es zu Umbrüchen in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Traditionelle soziale und kulturelle Formen verschwinden oder ändern sich gravierend. Neben vielen anderen Veränderungen verliert in der Moderne die Großfamilie sukzessive ihre soziale Funktion und differenziert sich zu dem Model der bürgerlichen Kleinfamilie aus. Hiermit kommt nicht nur der Familie eine neue gesellschaftliche Bedeutung zu, sondern auch den Phänomenen der „Kindheit“ und vor allem der „Jugend“ (vgl. King 2002). Letztere wird erst in der Moderne als Entwicklungskategorie entdeckt. Mit dieser Entdeckung ging der Gedanke einher, dass die kulturelle und gesellschaftliche (Weiter-)Entwicklung mit der Abfolge von Generationen zusammenhängt. In der Moderne wird das Heranwachsen der jeweils neuen Generation mit Innovation und dem geschichtlichen Fortgang von Kultur und Gesellschaft in Verbindung gebracht. Generationen – insbesondere die nachwachsende jüngere Generation – werden so zunehmend als soziale Akteure historischen Wandels verstanden.

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Dass das Generationenverhältnis und auch Generationenkonflikte also soziokulturelle Erscheinungen sind, die selbst dem geschichtlichen Wandel unterliegen, hat Margaret Mead in dem kulturanthropologischen Klassiker Der Konflikt der Generationen (1971) modellhaft skizziert. In traditionalen, an der Vergangenheit orientierten Kulturen ist das Verhältnis zwischen den Generationen so gestaltet, dass eine wandlungsfreie kulturelle Kontinuität und eine Identität der Jüngeren, die ihr Vorbild in der Vergangenheit der Älteren sucht, sichergestellt scheint. Mead nennt dies postfigurative Kultur. Zu Generationenkonflikten kommt es dort, wo die Jüngeren die Tradition brechen und auf kulturellen Wandel drängen. Mit dem Übergang in modernere Kulturen ist das Generationenverhältnis bestimmt durch die Erwartung der älteren Generation, dass die jüngere gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen in eine bestimmte Richtung vorantreibt und eine unabhängige eigene Identität ausbildet (kofigurative Kultur). Dieses Verhältnis wird dann konfliktreich, wenn die Erwartungen der Älteren durch die Jüngeren enttäuscht werden. In der Zeit, in der Mead an ihrem Buch arbeitete, befanden sich viele westliche Gesellschaften ihres Erachtens im Übergang in eine sogenannte präfigurative Kultur. Diese ist durch raschen kulturellen Wandel charakterisiert, sodass die Angehörigen der älteren Generation keine Erwartung mehr darüber ausbilden, in welche Richtung sich Kultur und Gesellschaft zukünftig verändern werden. Vor diesem Hintergrund nimmt Mead an, dass das Generationenverhältnis dadurch bestimmt sein könnte, dass die Älteren den Jüngeren Methoden vermitteln, wie sie mit kulturellem Wandel umgehen und ihn gestalten können, jedoch keine Erwartungen mehr über diesen Wandel selbst hegen. Die Idee, dass der kulturelle Wandel mit der jeweils jüngeren Generation zusammenhängen kann, stammt jedoch nicht von Mead. Ausgearbeitet wird sie bereits 1928 in dem soziologischen Klassiker Das Problem der Generationen, den Karl Mannheim vor dem Hintergrund der Erfahrung des Ersten Weltkrieges vorgelegt hat.

Der soziologische Klassiker der Generationenforschung: Karl Mannheim Der Erste Weltkrieg (1914–1918) und seine Folgen haben vielen europäischen Intellektuellen Rätsel aufgegeben. Das Neue dieses Krieges bestand nicht nur im Ausmaß seiner Destruktivität oder im Einsatz von bis dahin unbekannten Waffen. Es bestand darin, dass sich einerseits riesige Menschenmassen, Soldaten sowie Zivilistinnen und Zivilisten für dubiose nationale Ideen, für „Volk und Vaterland“, für die „totale Mobilmachung“ begeistert instrumentalisieren ließen, aber ande-

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rerseits auch in der massenhaften Erfahrung von Hunger, Tod, dem Verlust und der Verstümmelung von Familienangehörigen. Dies sowie der Zusammenbruch politischer und sozialer Systeme erzeugten eine gravierende Erschütterung vieler europäischer Gesellschaften, von der kaum ein Mensch verschont blieb. Der Versuch vieler Zeitgenossen, den Ersten Weltkrieg als Erfahrung einer Generation zu verstehen, schien daher vor allem im Zwischenkriegsdeutschland naheliegend. Verband sich mit diesem Begriff doch das Versprechen eines Neubeginns, der nicht nur die Schrecken des Krieges, sondern auch den als nationale Demütigung empfundenen Versailler Vertrag überwinden sollte. So richtete sich die Erwartung vieler auf die jüngere Generation, von der man annahm, dass sie die deutsche Gesellschaft in eine bessere Zukunft führen würde. In diesem gesellschaftlichen Kontext der Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen schrieb der Soziologe Karl Mannheim seinen Aufsatz Das Problem der Generationen (1928). Dieser soziologische Klassiker beeinflusst bis heute die soziologische und historische Generationenforschung nachhaltig. Mannheim wollte verstehen, wie es zu kulturellem Wandel und gesellschaftlichem Fortschritt kommt. Seine Antwort auf diese Frage fand er in der Abfolge von Generationen: Das „stete Neueinsetzen neuer Kulturträger“ aus der jüngeren Generation stellt für ihn eine Unterbrechung gesellschaftlicher Traditionen und Kontinuitäten dar (Mannheim 1928, S. 530). Den Begriff der Generation verwendet Mannheim ähnlich wie Dilthey, differenziert ihn jedoch aus. Er spricht zunächst von einer Generationenlagerung, der jeder Mensch angehört und die er nicht wie eine Gruppe oder eine Vereinigung verlassen kann. Mit diesem Begriff hebt er hervor, dass Generationen keine biologischen, sondern gesellschaftliche Phänomene sind: Ähnlich wie Dilthey betont Mannheim, dass Menschen nicht deshalb einer gemeinsamen Generationenlagerung angehören, weil sie in einem bestimmten Zeitraum geboren werden, sondern weil viele Einzelne gleichzeitig einen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext gemeinsam haben (Mannheim denkt hierbei vor allem an Adoleszente). Dies können der Erste Weltkrieg, die Zwischenkriegsjahre, aber auch die 68er-Protestbewegung sein. Aufgrund dieser Gleichzeitigkeit und Gemeinsamkeit entwickelt sich nach Mannheim die (passive) Möglichkeit, dass Menschen benachbarter Geburtsjahrgänge kulturelle, soziale und politische Ereignisse auf miteinander verwandte Weisen wahrnehmen. Dies ist keineswegs zwingend, sondern setzt einen gesellschaftlichen Veränderungsdruck voraus (vgl. ebd., S. 550). Geschieht dies jedoch, dann bildet sich ein Generationenzusammenhang aus. Mit diesem Begriff bezeichnet Mannheim die (aktive) „Partizipation der derselben Generationenlagerung angehörenden Individuen am gemeinsamen Schicksal und an den dazugehörenden, irgendwie zusammenhängenden Gehalten. Innerhalb dieser Schicksalsgemeinschaft können

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dann die besonderen Generationeneinheiten entstehen“ (ebd., S. 547). Generationen­ einheiten bilden nach Mannheim im Unterschied zu einem Generationenzusammenhang konkretere soziale Einheiten, wie zum Beispiel politische Strömungen. Der Historiker Michael Wildt kann in diesem Sinne überzeugend nachweisen, dass die jungen Männer, die ihre Adoleszenz in den „prekären und instabilen“ Jahren nach dem Ersten Weltkrieg erlebten (Generationenlagerung), bestimmte politische Ideen teilten und – wie man mit Mannheim ergänzen kann – über diese zu einer Generationeneinheit vergemeinschaftet wurden (Wildt 2005, S. 172): Ihr politisches Denken kreiste um eine „Kritik am bürgerlichen Mummenschanz“ und der parlamentarischen Demokratie (ebd.). Stattdessen präferierten sie die Idee der Führerschaft und der Tat: Sich selbst sahen sie vielmehr als Angehörige einer zukünftigen Führungselite. Nicht Bürger wollten sie sein, sondern Führer, nicht gewählte, sondern erwählte, natürliche Elite des Volkes. Führerschaft, Tat, Idee – das sind die Elemente, um die das politische Denken dieser jungen Männer kreiste. (Wildt 2005, S. 173)

Diese „Generation der Unbedingten“ (Wildt 2003) wollte einen kompromisslosen Zukunftsentwurf realisieren, was allerdings in den Nationalsozialismus (1933–1945), die industrielle Massenvernichtung von Millionen von Menschen und den Zweiten Weltkrieg (1939–1945) mündete.

Das familiale Generationenmodell: Gefühlserbschaft und Tradierung Auch wenn ein Einfluss von generationenspezifischen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und seiner Folgen auf die Dynamik der nationalsozialistischen Gesellschaft mit Mannheims Generationenmodell durchaus überzeugend beschrieben werden kann, zeigte sich spätestens nach 1945 realhistorisch seine Begrenztheit. Hierbei ist es „keine geringe Ironie, dass erst über die der Psychoanalyse eigene Orientierung an Einzelfällen die Konturen eines Generationenkonzepts deutlich wurden, das über das alte soziologische Schema hinausweist“ (Schneider, Stillke & Leinweber 2000, S. 31). Der psychoanalytische Ansatz in der Generationenforschung betont nicht den kulturellen Wandel, sondern ganz im Gegenteil die Kontinuität und die Bedeutung von „Gefühlserbschaften“ (Freud), die den „Urgrund kultureller Tradierung“ bilden (Moré 2007, S. 215). Das psychoanalytische Generationenmodell setzt im Unterschied zum soziologischen Ansatz Generationen als letztlich biologische Tatsache voraus (Großeltern, Eltern, Kinder, Enkel). Aus der Perspektive dieses Modells interessiert sich die Generationenforschung dafür, ob und wie trauma-

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tische Erfahrungen, psychische Konflikte, unbearbeitete Inhalte und Themen der Großeltern und Eltern unbewusst an die Nachkommen aus der Kinder- und Enkelgeneration weitergegeben werden.

Klinische Perspektive: Kinder der Opfer Entstanden ist diese Forschungsperspektive in einem klinisch-psychoanalytischen Kontext in den 1960er- und 1970er-Jahren, der im Folgenden referiert wird. Zu dieser Zeit kamen Kinder von Überlebenden des Holocaust – die Zweite Generation – in psychoanalytische Behandlungen. „Sie lebte in einer doppelten Realität“, fasst Judith Kestenberg in dem Klassiker der psychoanalytischen Generationenforschung Kinder der Opfer. Kinder der Täter das Leiden einer ihrer Patientinnen zusammen (Kestenberg 1982/1998, S. 202; Bergmann, Jucovy & Kestenberg 1982/1998). Mit der Bezeichnung doppelte Realität meint Kestenberg, dass Kinder von Überlebenden nicht nur in ihrer eigenen Gegenwart leben. Sie leben gleichzeitig in der traumatischen Geschichte ihrer Vorfahren und agieren in ihrem Selbstverhältnis und der eigenen Emotionalität, in ihren Beziehungen und ihren Wünschen unbewusst ein „Drehbuch“ (Gampel) aus, das sie nicht kennen und das der Geschichte der Familienangehörigen entstammt, die die Shoah überlebten. Eindrücklich ist dies in mehreren klinischen Einzelfallstudien von Ilany Kogan (1995/1998) beschrieben worden. Diesem transgenerationalen Fortwirken der Vergangenheit liegt ein besonderer Typus von Identifizierung mit den vergangenen traumatischen Erfahrungen der Eltern zugrunde, den Kestenberg mit einer Reise durch einen Zeittunnel vergleicht: Dieser Transpositionsmechanismus geht insofern über eine Identifizierung hinaus, als sich das Individuum, das in den Zeittunnel der Geschichte hinabsteigt, nicht nur mit einer einzelnen Person, zum Beispiel mit einem Elternteil oder einem toten Angehörigen, identifiziert, sondern mit den Unterdrückten ebenso wie mit den Unterdrückern, die in jener Zeit lebten. (Kestenberg 1982, S. 202)

Diese „Reise durch den Zeittunnel“ hat theoretisch am exaktesten die französische Psychoanalytikerin Haydée Faimberg (1987; 2005/2009) beschrieben, die ihren Ansatz allerdings nicht nur auf Kinder von Überlebenden bezieht. Sie spricht von einem „Telescoping der Generationen“ und meint damit, dass die Generationen hinsichtlich ihrer psychischen Dynamik teleskopartig ineinanderrücken: Die Eltern projizieren all das in ihre Kinder hinein, was sie an ihrer Geschichte zurückweisen und nicht durcharbeiten (können). Gleichzeitig neigen sie „dazu, das Kind dessen zu berauben, was ihnen Lust verursacht“ (Faimberg 1987, S. 138) – womit zum Beispiel Ziele, Pläne und Hoffnungen, die Beziehungen und die Identität der Kinder gemeint

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sind. So entsteht einerseits bei den Kindern eine psychische Leere, weil die Eltern sich deren positiv erlebte Qualitäten aneignen. Andererseits existiert aufgrund des Eindringens der elterlichen Geschichte in die Kinder „ein Zuviel: ein Objekt das immer anwesend ist“ (ebd., S. 121). Dadurch wird die Autonomieentwicklung der Kinder beeinträchtigt, da sie ihre Identität nicht frei von der Geschichte der Eltern entwickeln können. So entsteht bei vielen Angehörigen der Zweiten Generation das Gefühl, dass die Gegenwart mit der Vergangenheit der Eltern vermischt ist und sie keine eigene Geschichte und keine klar abgegrenzte eigene Identität haben.

Klinische Perspektive: Kinder der Täterinnen und Täter Seit Ende der 1970er-Jahre erschienen klinische Publikationen, die spezifische generationenübergreifende Folgewirkungen des Nationalsozialismus auch bei Kindern und Enkeln von Tätern, Mitläufern und Zuschauern der NS-Verbrechen untersuchten. Viele Eltern in nicht-jüdischen deutschen Familien wehrten eine verantwortungszentrierte Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ab, um ihre Identifizierung mit nationalsozialistischen Idealen und Phantasmen unbewusst aufrechterhalten zu können. „Die Kinder wurden benutzt, um sich der Gültigkeit der alten Ideale und Identifizierungen zu versichern“ (Bohleber 1998, S. 261). Untersucht wurde der Einfluss eines Hörigkeitsverhältnisses gegenüber Hitler als nationalsozialistischem Massenführer auf die Ich-Ideal- und Über-Ich-Bildung in der Generationenfolge. Lutz Rosenkötter zeigt, dass das Verleugnen der eigenen Begeisterung für das „Dritte Reich“ und das gleichzeitige unbewusste Fortwirken nationalsozialistischer Identifizierungen in einer demokratisch verfassten Gesellschaft für Kinder von Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten verwirrend ist. Die „Bildung eines integren Über-Ich-Ich-Ideal-Systems“ ist dadurch beeinträchtigt, was aggressive Triebdurchbrüche erleichtert, zumal im Unbewussten der Kinder „eine aus der Identifikation mit den Eltern herrührende Entwertungs- und Vernichtungstendenz“ wirkt (Rosenkötter 1979, S. 1034). Zeitgleich erkennt Erich Simenauer in seinen Arbeiten etwas Ähnliches, spricht aber deutlicher von einer „Wiederkehr der Verfolgermentalität“ in der Psyche der Nachkommen (Simenauer 1982, S. 499).

Sozialwissenschaftliche Forschung Ab Mitte der 1980er-Jahre etablierte sich ein breiterer Forschungszusammenhang, in dem sukzessive Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler empirische Studien zur Generationengeschichte des Nationalsozialismus vorgelegten. Die erste

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sozialwissenschaftliche Studie über die Kinder der Täter war Die Last des Schweigens des israelischen Psychologen Dan Bar-On (1989/1993). Er führte Interviews mit Söhnen und Töchtern von zum Teil hochrangigen Nazi-Führern und erkennt, dass in vielen Familien eine Art „doppelte Mauer“ zwischen den Generationen besteht: „Die Eltern erzählen nicht, und die Kinder fragen nicht“ (ebd., S. 21). So stehen viele Enkel und Urenkel noch demselben Schweigen über die Familiengeschichte gegenüber, dem schon ihre Eltern bzw. Großeltern in ihrer Kindheit begegneten. Auch die Soziologin Gabriele Rosenthal untersucht in ihrer Studie Der Holocaust im Leben von drei Generationen (1997) den familiären Umgang mit der NS-Zeit. Sie vergleicht den historischen Dialog in den Familien von Nazi-Tätern und Mitläufern einerseits und von Familien der Verfolgten andererseits. Sie erkennt zunächst ähnliche Phänomene im intergenerationellen Dialog beider Gruppen: Schweigen, Familienmythen und -geheimnisse, Ängste, Schuldgefühle und ein Agieren der Vergangenheit in Phantasien, psychosozialen und psychosomatischen Reaktionen. Hinter diesen Erscheinungen verbergen sich jedoch unterschiedliche Tiefenstrukturen. So bedeutet zum Beispiel das Schweigen von Überlebenden in ihren Familien nicht, dass sie ihre Vergangenheit als Verfolgte leugnen, während das Schweigen von Täterinnen und Tätern sowie Mitläuferinnen und Mitläufern gerade der Verleugnung der eigenen Beteiligung an der Verfolgung dient. Indem ihre Nachkommen ebenfalls über die Familiengeschichte schweigen, schützen sie sich davor, die Grausamkeit, die mangelnden Schuldgefühle und den Antisemitismus ihrer nächsten Bezugspersonen wahrzunehmen. Kinder und Enkel von Überlebenden hingegen teilen das Schweigen ihrer Vorfahren, um sich diese nicht in demütigenden und hilflosen Situationen vorzustellen. Obwohl in den Familien über bestimmte Aspekte der Vergangenheit nicht gesprochen wird, ahnen die Kinder und Enkel unbewusst dennoch, was das Schweigen verbirgt (Rosenthal 1997, S. 23). So sind die Nachkommen von Überlebenden mit entsetzlichen Phantasien darüber beschäftigt, was ihren Vorfahren angetan wurde und wie diese überlebten. Nachkommen von Tätern und Mitläufern hingegen sind mit der Täterschaft, Grausamkeit und Gewalt ihrer Vorfahren beschäftigt und leugnen den Realitätsgehalt dieser Phantasien, was sie von Kindern der Opfer unterscheidet. Hierbei kommt es immer wieder zu (antisemitischen) Projektionen von Täterschaftsphantasien und Schuldgefühlen auf Jüdinnen und Juden und auf den Staat Israel. Auf eine ähnliche Weise wie Rosenthal untersuchen auch die Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler Welzer, Moller & Tschugnall in ihrer bekannten Studie Opa war kein Nazi (2001), wie in nicht-jüdischen deutschen Familien die NS-Vergangenheit im intergenerationellen Gespräch erinnert wird. Als Ergebnis halten sie fest, dass sich die von den Großeltern erzählten Geschichten

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auf ihrem Weg durch die Generationen verändern, weil die Kinder und Enkel diese Geschichten auf zum Teil haarsträubende Weise umdichten. Dort, wo es in den Erzählungen der Großeltern Hinweise auf eine persönliche „Verstrickung“ in Schuld und Täterschaft gibt, werden diese von den Kindern und Enkeln beharrlich nicht gehört: Die Enkel konstruieren ein Geschichtsbild von ihren Großeltern, in dem diese von Verbrechen, Ausgrenzung und Vernichtung ausgenommen sind. Auch wenn die Großeltern explizit davon erzählen, werden sie von ihren Kindern und Enkeln nicht als überzeugte Nationalsozialisten, mordende Wehrmachtssoldaten oder Antisemiten angesehen. Zudem nutzen vor allem die Enkel jede entlegene Andeutung, dass die Großeltern etwas „Gutes“ taten: Sie verstehen ihre Großeltern als Heldinnen und Helden des alltäglichen Widerstandes gegen ein übermächtiges System. Welzer, Moller & Tschugnall weisen in ihrer Studie nach, dass die Großeltern selbst diese Geschichten überhaupt nicht erzählen, sondern dass es sich bei diesen um eigenständige Interpretationen durch die Enkel handelt. Diese Umdichtung der Familiengeschichten gelingt aufgrund der „familialen Loyalitätsverpflichtungen und der persönlichen Bindung an den geliebten Großvater und die geliebte Großmutter“. Für die Enkel sind sie „gar nicht mit dem Schreckensbild der ‚Naziherrschaft‘ und der maßstabslosen Verbrechen in Deckung zu bringen“ (Welzer 2004, S. 51). Es sind die positiven emotionalen Erfahrungen, welche die Kinder und Enkel in der Gegenwart mit ihren Vorfahren machen, die nachträglich auf deren gesamte Biografie ausgedehnt werden. So führen die emotionalen Beziehungen zwischen der Großelterngeneration und ihren Kindern und Enkeln zu einer harmonisierenden und heroisierenden Erinnerung des Nationalsozialismus. Der Psychologe und Psychoanalytiker Kurt Grünberg untersucht in seiner Studie Liebe nach Auschwitz (2000) die nachhaltigen Folgen der Verfolgung in der Zweiten Generation von Überlebenden. Grünberg arbeitet mit einem differenzierten methodischen Instrumentarium, dass qualitative und quantitative Verfahren trianguliert und der Untersuchungsgruppe eine nicht-jüdische deutsche Vergleichsgruppe gegenüberstellt. Die Ergebnisse zeigen, dass Angehörige der Zweiten Generation von Juden und Jüdinnen in Deutschland eine stärkere Bindung an ihre Eltern haben, was mit Gefühlen der Trennungsschuld und einer beeinträchtigten Separation-Individuation einhergeht. Familien „erscheinen gewissermaßen als ‚Trostgemeinschaften‘, die ihre Funktion nur aufrechterhalten können, solange keiner ausfällt“ (ebd., S. 285). Zudem weisen die Ergebnisse darauf hin, dass jüdischen Deutschen die wesentlichen NS-Erfahrungen ihrer Eltern und Großeltern präsenter sind als nicht-jüdischen Deutschen, denen ein entsprechendes Wissen überwiegend fehlt. Eine besondere Bedeutung der Arbeit Grünbergs besteht darin, dass sie zeigt, wie unterschiedlich die Lebensrealität der Zweiten Generation von Juden und Jüdinnen in Deutschland im Vergleich zu nicht-jüdischen Deutschen ist. Dies erhält

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seine besondere Brisanz dadurch, dass in der deutschen Gesellschaft, „die aktive wie passive Beteiligung der Deutschen an den nationalsozialistischen Verbrechen nach wie vor zumeist verschwiegen und verleugnet wird“ (ebd., S. 286). Jüdinnen und Juden in Deutschland leben daher mit der Angst vor neuerlicher Verfolgung, wobei das Feindbild der nicht-jüdischen Deutschen auch die Funktion hat, die familiäre Trostgemeinschaft zu stabilisieren.

Zusammenfassung und gegenwärtige Auseinandersetzungen Das soziologische Generationenmodell in der Tradition Mannheims betont die Gleichzeitigkeit des kulturellen und gesellschaftlichen Kontextes, in dem Menschen einer Alterskohorte aufwachsen, und verbindet Generationen mit kulturellem Wandel. Demgegenüber verweist der psychoanalytische Ansatz auf die psychische Kontinuität zwischen den Generationen und auf das generationenübergreifende Nachwirken von kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Einflüssen. Bedeutsam für die Entwicklung des Forschungsfeldes Generation und Familie könnte es sein, diese beiden Perspektiven stärker zusammenzubinden. Interessant sind diesbezüglich zum Beispiel Arbeiten, in denen ein transgenerationaler Einfluss des Nationalsozialismus auf die Protestbewegung von 1968 in Westdeutschland untersucht und als Aspekt des generation building verstanden wird (Lohl & Brunner 2011; Schneider, Stillke & Leineweber 2000). Thematisiert werden aus der Perspektive der Generationenforschung seit einiger Zeit zudem aktuelle Migrationserfahrungen, die Effekte aktueller politischer Verfolgung und anderer Gewalterfahrungen. So führen Migrationserfahrungen zu generationellen Vergemeinschaftungen, die sich um die Schwierigkeiten des Spracherwerbs, kulturelle Differenzen, Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen herum bilden. Diese Erfahrungen und der oftmals traumatische Migrationsprozess selbst führen zu generationenübergreifenden Effekten auf die Kinder von Einwanderern und Flüchtlingen. Seit etwa 15 Jahren haben sich die Überlegungen zur generationsstiftenden Rolle des deutschen Sozialstaates zu einem gesellschaftlich bedeutsamen Feld der Generationenforschung entwickelt. Sie greifen auf das Mannheimsche Modell zurück: Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich in der Bundesrepublik ein Sozialstaat, der bis in die 1980er-Jahre hinein das Leben der Menschen gegen Risiken wie Arbeitslosigkeit oder Krankheit verlässlich absicherte. Durch das

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Rentensystem transformierte er das Alter in eine Lebensphase, in der Menschen nicht mehr erwerbstätig sein müssen. Die Lebenslage benachbarter Geburtsjahrgänge ist in der Zeit des langen Friedens nach 1945 – jedenfalls wenn man auf Europa, Australien und Neuseeland blickt – durch den Auf- und Abbau wohlfahrtstaatlicher Sicherungs-, Versorgungs- und Förderungsleistungen bestimmt. Weniger der Einschnitt von Kriegs-, Revolutions- und Inflationsereignissen als die Prozessierung durch Renten-, Bildungs- und Sozialhilfereformen ist für die Sozialstaatsgenerationen der Nachkriegszeit charakteristisch. (Bude 2005, S. 42)

Menschen, deren Leben weitgehend sozialstaatlich abgesichert ist, bilden einen anderen Lebensentwurf aus als Menschen ohne diese Absicherung. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Leisering in seiner grundlegenden Arbeit vier wohlfahrtsstaatliche Generationen und periodisiert die Geschichte der Bundesrepublik entlang dieser Unterscheidung (1992): Auf die Generation des Wirtschaftswunders, die Wachstum und sozialstaatliche Versorgung in den 1950er- und 1960er-Jahren als selbstverständlich erlebte, folgt die klassische sozialstaatliche Generation, die den Anspruch auf soziale Leistungen erhöhte und diesen als grundlegend für die Planung des eigenen Lebensentwurfs verstand. In den 1980er-Jahren entwickelte sich dann eine Generation von Menschen, die ihre Existenz aufgrund des Umbaus des Sozialstaates zunehmend von Arbeitslosigkeit und Sozialkürzungen bedroht erlebte. In den 1990er-Jahren schließlich formierte sich nach Leisering eine postsozialstaatliche Generation, deren Angehörige ihr Leben wenig an Leistungen des Sozialstaates ausrichten und stattdessen auf private Vorsorge setzen. Begleitet sind diese Wandlungen des Sozialstaates von öffentlichen Debatten, die den Begriff der Generation doppelt im Munde führen: als Generationenvertrag und als Generationengerechtigkeit. Mit dem Begriff Generationenvertrag wird die Finanzierung der Rente bezeichnet, was jedoch irreführend ist. Handelt es sich beim Rentensystem doch nicht um einen Vertrag zwischen älterer und jüngerer Generation, sondern um ein Solidaritätsmodell, für das ein sozialversicherungspflichtiges Lohnarbeitsverhältnis und nicht die Zugehörigkeit zu einer Alterskohorte ausschlaggebend ist. Als wichtig erscheint es daher zu überlegen, inwieweit der Generationenbegriff hier – gerade dann, wenn er mit dem Begriff Gerechtigkeit verbunden wird – zu einem politischen Tarnbegriff wird: Geht es doch in den Debatten vor allem um Verteilungskonflikte, die generationell aufgeladen werden. Dies verweist auf einen wichtigen Gedanken von Orhan Parnes, Ulrike Vedder & Stefan Willer, nach dem für die Generationenforschung grundsätzlich nicht primär die Frage interessant ist, „ob es so etwas wie Generation gibt“ und welchen kulturellen,

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sozialen, historischen und politischen Einflüssen sie unterliegt. Untersucht werden sollte viel eher, „in welcher Weise und mit welchem Interesse ihr Vorhandensein jeweils deklariert oder konstruiert wird“ (2008, S. 20).

Verständnisfragen

▶ Wie unterscheiden sich Generationenlage, Generationenzusammenhang und Generationeneinheit voneinander? ▶ Überlegen Sie, wie transgenerationale Spätfolgen der Shoah in Familien von Überlebenden und in Familien von Nationalsozialistinnen und Nationalsozia­ listen in der deutschen Gesellschaft aufeinander einwirken! ▶ Denken Sie darüber nach, wie sich das soziologische und das familiale Generationenmodell verbinden lassen!

Literatur Bar-On, D. (1989/1993). Die Last des Schweigens. Gespräche mit Kindern von Nazi-Tätern. Reinbek: Rowohlt. Bergmann, M.S., Jucovy, M.E. & Kestenberg, J. S. (1982/1998). Kinder der Täter. Kinder der Opfer. Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt am Main: Fischer. Bohleber, W. (1998). Transgenerationelles Trauma, Identifizierung und Geschichtsbewusstsein. In J. Rüsen & J. Straub (Hrsg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein. Erinnerung, Geschichte, Identität 2 (S. 256–275). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bude, H. (2005). Generation im Kontext. Von der Kriegs- zu den Wohlfahrtsstaatsgenerationen. In U. Jureit & M. Wildt (Hrsg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs (S. 28–44). Hamburg: Hamburger Edition. Dilthey, W. (1875/1964). Über das Studium der Wissenschaft vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat. Stuttgart/Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht . Faimberg, H. (1987). Die Ineinanderrückung (Telescoping) der Generationen. Zur Genealogie gewisser Identifizierungen. Jahrbuch der Psychoanalyse (20), 114–142. Faimberg, H. (2005/2009). Telescoping. Die intergenerationelle Weitergabe narzisstischer Bindungen. Frankfurt am Main: Brandes und Apsel. Grünberg, K. (2000). Liebe nach Auschwitz. Die Zweite Generation. Tübingen: edition diskord. Kestenberg, J. (1982/1998). Die Analyse des Kindes eines Überlebenden: Eine metapsychologische Beurteilung. In M. S. Bergmann, M. E. Jucovy & J. Kestenberg (Hrsg.), Kinder

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der Täter. Kinder der Opfer. Psychoanalyse und Holocaust (S. 173–209). Frankfurt am Main: Fischer. Kestenberg, J. (1989). Neue Gedanken zur Transposition. Klinische, therapeutische und entwicklungsbedingte Betrachtungen. Jahrbuch der Psychoanalyse (24), 163–189. King, V. (2002). Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz. Indivudation, Generativität und Geschlecht in modernisierten Gesellschaften. Opladen: Leske und Budrich. Kogan, I. (1995/1998). Der stumme Schrei der Kinder. Die zweite Generation der Holocaust-Opfer. Frankfurt am Main: Fischer. Leisering, L. (1992). Sozialstaat und demographischer Wandel. Wechselwirkungen, Generationenverhältnisse, politisch-institutionelle Steuerung. Frankfurt am Main: Campus. Lohl, J. (2010). Gefühlserbschaft und Rechtsextremismus. Eine sozialpsychologische Studie zur Generationengeschichte des Nationalsozialismus. Gießen: Psychosozial. Lohl, J. & Brunner, M. (Hrsg.) (2011). Unheimliche Wiedergänger? Zur Politischen Psychologie des NS-Erbes in der 68er-Generation. Schwerpunktheft der Psychosozial, Jg. 34, Nr. 124. Mannheim, K. (1928). Das Problem der Generationen. In Mannheim, K. (Hrsg.) (1964), Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk (S. 509–565). Berlin: Luchterhand. Mead, M. (1971). Der Konflikt der Generationen. Jugend ohne Vorbild. Magdeburg: Klotz. Moré, A. (2007). Gefühlserbschaften und „kulturelles Gedächtnis“. Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LXI/ 110, 209–220. Parnes, O., Vedder, U. & Willer, S. (Hrsg.) (2008). Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rosenkötter, L. (1979). Schatten der Zeitgeschichte auf psychoanalytischen Behandlungen. Psyche 33 (11), 1024–1038. Rosenthal, G. (Hrsg.) (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial. Schneider, C., Stillke, C. & Leineweber, B. (2000). Trauma und Kritik. Zur Generationengeschichte der Kritischen Theorie. Münster: Westfälisches Dampfboot. Simenauer, E. (1982). Die zweite Generation – danach. Die Wiederkehr der Verfolgermentalität in Psychoanalysen. In E. Simenauer (Hrsg.) (1993), Wanderung zwischen den Kontinenten. Gesammelte Schriften zur Psychoanalyse (S. 490–502). Stuttgart: Frommann-Holzboog. Welzer, H., Moller, S. & Tschugnall, K. (2002). „Opa war kein Nazi.“ Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer. Welzer, H. (2004). „Ach Opa!“ Einige Bemerkungen zum Verhältnis von Tradierung und Aufklärung. In W. Meseth, M. Proske & F.-O. Radke (Hrsg.), Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichtes (S. 49–64). Frankfurt am Main: Campus. Wildt, M. (2003). Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes. Hamburg: Hamburger Edition. Wildt, M. (2005). Generation als Anfang und Beschleunigung. In U. Jureit & M. Wildt (Hrsg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs (S. 160–179). Hamburg: Hamburger Edition.

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Pädagogik Edgar Weiß

Zusammenfassung

Der Beitrag bietet nach einer Erläuterung der wichtigsten pädagogischen Begriffe wie Erziehung, Bildung und Sozialisation einen Abriss über den Gegenstand der Pädagogik als Wissenschaft. Weiterhin enthält er kurze Darstellungen der Geschichte der pädagogischen Praxis sowie der Geschichte der pädagogischen Theorie. Den Abschluss bildet ein Ausblick auf die aktuellen Entwicklungen des Faches.

Begriffserklärung Der Begriff Pädagogik (von gr. παις = Kind, αγωγός = Führer) ist seit seiner Heraufkunft im 18. Jahrhundert unscharf geblieben und wird bis in die Gegenwart sehr unterschiedlich – aber kaum je auf seine ursprüngliche Bedeutung („Kinderführung“) verengt – verwendet. In einem umfassenden Sinne bezeichnet er alles, was mit Erziehung und Bildung zu tun hat, ohne dass er damit eindeutig wäre, denn auch Erziehung und Bildung sind – wie überhaupt zahlreiche „Grundbegriffe der pädagogischen Fachsprache“ (Ipfling 1974) – ihrerseits uneinheitlich gebrauchte Termini, die mithin häufig mehr oder weniger einheitliche Wirkungsprozesse suggerieren, von denen nicht umstandslos ausgegangen werden kann. Deshalb wird der Begriff Pädagogik bevorzugt als Klammer für (faktisch allemal je partikulare) Lernhilfen schlechthin verstanden. Im engeren Sinn steht er für die Erziehungs- und Bildungstheorie bzw. Erziehungs- und Bildungswissenschaft und dient innerhalb dieser auch zur Benennung © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_10

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• einzelner Bereiche der Disziplin (Allgemeine Pädagogik, differenzielle Pädagogiken), • historischer Epochen (z. B. Aufklärungspädagogik, neuhumanistische Pädagogik, Reformpädagogik), • theoretischer Paradigmata (z. B. Geisteswissenschaftliche Pädagogik, Empirisch-erfahrungswissenschaftliche Pädagogik, Kritische Pädagogik) und • miteinander konkurrierender Praxiskonzepte (z. B. Montessori-, Jena-Plan-, Freinet-, Waldorf-Pädagogik). Erziehung kann generell als die „Einführung der jeweils jüngeren Generation in den Produktionsprozeß, der Gesamtreproduktionsprozeß der Gesellschaft ist“ (Gröll 1975, S. 62), verstanden werden, von der die entsprechende „Entwicklung relativ stabiler Verhaltensdispositionen“ erwartet wird (Kob 1976, S. 9). Teilt Erziehung dies mit Sozialisation, wird sie im Unterschied zu dieser als zielgerichtete, bewusst und intentional gesteuerte Praxis definiert, was – je nach Sozialisationsverständnis – partiell zur strikten Entgegensetzung beider Begriffe, partiell aber auch zur Subsumtion des Erziehungsbegriffs unter den Sozialisationsbegriff (Erziehung als intentionaler Teil der Sozialisation) geführt hat (Kob 1976). Da erzieherische Ambitionen nicht auf eine Anpassung an den jeweiligen gesellschaftlichen status quo reduziert sein müssen, erfordert die Subsumtion des Begriffs Erziehung unter den der Sozialisation dessen weites Verständnis: Sozialisation sollte also nicht funktionalistisch auf „the internalization of the culture of the society into which the child is born“ (Parsons 1955, S. 17) beschränkt sein, sondern – im Anschluss an den Symbolischen Interaktionismus – als die aktive Auseinandersetzung mit sozialen Erwartungen schlechthin verstanden werden, womit der Begriff auch den Erwerb einer postkonventionellen Identität einzuschließen vermag (Habermas 1968). Häufig wird Erziehung von vornherein positiv besetzt bzw. explizit oder implizit als subjektfreundliche Praxis betrachtet und als solche gegen „Fehlformen der Erziehung“ oder „Pseudo-Erziehung“ (wie Verziehung, Dressur, Manipulation oder Indoktrination) abgegrenzt. Daraus resultieren allerdings – zumeist wenig bedachte und selten gezogene – Konsequenzen: Den üblicherweise erziehungsgeschichtlich verstandenen Darstellungen, die zeigen, dass gängige Erziehungsvorstellungen oft mit Gewaltausübung, autoritärer Unterwerfung oder Manipulation usw. verbunden waren (Rutschky 1982), müsste das Attribut „erzieherisch“ letztlich aberkannt werden; auch die Rede von miteinander konkurrierenden und verschieden zu bewertenden „Erziehungs“-Stilen, -formen und -methoden wäre dann kaum mehr zu legitimieren, da Erziehung bereits definitorisch den (vermeintlich) angemessenen Umgang mit Zu-Erziehenden festschriebe. Adäquater dürfte es demgegenüber sein, Erziehung – was normative Ansprüche an sie und wertende Urteile über ihren

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Zuschnitt nicht ausschließt – definitorisch zunächst nur als deskriptive Kategorie zu verwenden und etwa als „die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“ (Bernfeld 1967, S. 51) zu fassen. Nicht eindeutiger als der Erziehungs- ist der Bildungsbegriff, der mitunter synonym mit ersterem gebraucht wird. Werden sie aber – mehr oder weniger akzentuiert – voneinander abgegrenzt, wird der Erziehungsbegriff meist für die Bezeichnung der Vermittlung grundlegender Kulturtechniken, elementarer Kenntnisse und sozial erwünschter Verhaltensformen reserviert bzw. Erziehung mit planmäßiger Enkulturation identifiziert. Bildung bezeichnet dann die Lernprozesse der auf Erziehung aufbauenden, höhere Ansprüche stellenden eigenständigen Wissens­ aneignung und Persönlichkeitsformung sowie den Erwerb kritischer Reflexion (einschließlich des reflektierten Umgangs mit der eigenen Erziehungsgeschichte; vgl. Hentig 1996). Während Erziehung Außeneinflüsse benennt, steht Bildung für die individuelle Verarbeitung dieser Außeneinflüsse und damit für die subjektive, potenziell verschiedenartige Reaktion auf die erfahrene Erziehung. Jenseits solcher Begriffsverständnisse ist heute die Identifikation von Bildung mit Sets gesellschaftlich erwünschter und marktfähiger „skills“ bzw. mit schulischem Wissen und dem Erwerb entsprechender Abschlüsse und Zertifikate weitverbreitet. Dieses Verständnis liegt diversen Begriffsprägungen zugrunde, die in bildungspolitischen Diskussionen eine maßgebliche Rolle spielen (z. B. Bildungssysteme, Bildungsinstitutionen, Bildungsinvestitionen, Bildungsniveaus, Bildungsstandards, vergleichende Bildungsforschung oder Bildungskrise). Was dabei als Bildung firmiert, hält einer kritischen Analyse allerdings nicht stand. Vielmehr erweist sie sich als gesellschaftlich erzeugte und auf den „Konformismus vereidigte“, im Spätkapitalismus nahezu omnipräsent gewordene „Halbbildung“, die Adorno zufolge „nicht die Vorstufe der Bildung“ ist, „sondern ihr Todfeind“ (Adorno 1959/2003, S. 49, 42). Bildung, die ihren Namen verdiente, wäre aus Sicht einer solchen kritischen Bildungstheorie indes das Ringen um menschliche Selbstverwirklichung bzw. um „fortschreitende Befreiung des Menschen zu sich selber, als Weg ins Freie“ (Heydorn 1972, S. 121). Bildung überlebt aus dieser Perspektive nur „als die kritische Selbstreflexion auf die Halbbildung, zu der sie notwendig wurde“ (Adorno 1959/2003, S. 61).

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Gegenstand der Pädagogik Allemal hat der Gegenstand der Pädagogik – und damit kommt sie unmittelbar mit der Sozialpsychologie in Berührung – mit den sozialen Bedingungen und Konsequenzen menschlichen Verhaltens und zwischenmenschlicher Beziehungen zu tun: Erziehung, wie immer sie konkret verstanden wird, gibt es „überall dort, wo Kindheit in Gesellschaft abläuft“ (Bernfeld 1967, S. 50). Nicht immer wird Pädagogik im beschriebenen weiten Sinne gebraucht. Im wissenschaftlichen Kontext wird der Begriff häufig enger, nämlich synonym mit Erziehungs- und Bildungswissenschaft verwendet, doch gegen dieses Begriffsverständnis hat eine „kritisch-rationalistische“ Richtung opponiert, die als Erziehungswissenschaft nur eine strikt empirisch verstandene Disziplin gelten lassen will, die sie gegenüber der Pädagogik (als vermeintlich nicht „wissenschaftlich“ verfahrender Metatheorie der Erziehung) scharf abgrenzen möchte (Brezinka 1971). Allgemein durchgesetzt haben sich die definitorischen Vorschläge dieser Strömung jedoch nicht. Gewöhnlich meint Erziehungswissenschaft (bzw. Pädagogik im Sinne einer wissenschaftlichen Disziplin) die systematische theoretische Befassung mit Erziehungs- und Bildungsfragen sowie die methodisch regelgeleitete Erforschung betreffender Zusammenhänge, wobei je nach konkretem Forschungsgegenstand und erkenntnisleitendem Interesse hermeneutische wie empirische bzw. qualitative wie quantitative Forschungsmethoden zur Anwendung kommen. Als eine mit der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung von Individuen befasste Wissenschaft ist Pädagogik – wie Psychologie, Soziologie oder Politologie – immer auch Sozialwissenschaft. Zudem gilt sie traditionell sowohl als Handlungsals auch als Reflexionswissenschaft. Inzwischen lässt sich ein allgemeiner Trend zur Problematisierung der unmittelbaren Herleitbarkeit konkreter Handlungsanleitungen aus erziehungswissenschaftlicher Theorie und damit zur Reduktion der Erziehungs- auf eine reine Reflexionswissenschaft erkennen (vgl. Winkler 2006), ein Trend, der allerdings nicht auf ungeteilten Zuspruch stößt. Nach herkömmlichem Verständnis gehören zum Gegenstandsbereich der Pädagogik als Wissenschaft daher noch immer • die Begründung von Erziehungs- und Bildungszielen (Pädagogische Ethik) und die Thematisierung von „Erziehungsfähigkeit“, „Erziehungsbedürftigkeit“ oder „Bildsamkeit“ vor dem Hintergrund gattungsspezifischer Eigentümlichkeiten (Pädagogische Anthropologie); in diesen Bereichen bleibt Pädagogik untrennbar mit philosophischer Reflexion verbunden,

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• die Erörterung „einheimischer Begriffe“ (Herbart 1806/1982, S. 21) und der Systematik des Faches sowie die Rezeption nachbarwissenschaftlicher Befunde (Mollenhauer 1974), • die Erörterung von Erziehungsstilen, -methoden und -fehlern vor dem Hintergrund ethischer, anthropologischer und sozialtheoretischer Grundlagen, • die Erforschung von Lehr- und Lernprozessen, Entwicklungs- und Lernbedingungen, -behinderungen und -begünstigungen vor dem Hintergrund institu­ tioneller Gegebenheiten im Interesse der Optimierung pädagogischen Handelns (Klafki et al. 1970/71) und • die Erschließung der Geschichte pädagogischer Theorie und Praxis (Reble 1989; Tenorth 1988). Neben diesen traditionellen Sujets der Allgemeinen Pädagogik (Gamm 1979; Bernhard 2011) befassen sich die differenziellen Pädagogiken, die sich nach und nach als eigene Bereichspädagogiken etabliert haben und fortwährend weiter ausdifferenzieren (z. B. Familien-, Schul-, Sozial-, Heil-, Medien-, Freizeit-, Friedens-, Umwelt-, Interkulturelle Pädagogik, Erwachsenenbildung), mit spezifischeren Fragestellungen. So beschäftigt sich die Familienpädagogik mit biografisch bedingten, klassen- und schichtspezifischen Mustern elterlichen Erziehungsverhaltens, dem Vergleich familialer Lebenswelten und Fragen entwicklungsgünstiger Familiensettings und -interaktionen. Die Schulpädagogik befasst sich dagegen mit verschiedenen Schulkonzeptionen und Fragen schulischer Organisation, Leistungsstandards und Leistungsmessungsprozeduren, der Effizienz verschiedener Lehr- und Lernmethoden, empirischer Unterrichtsforschung und allgemein- wie fachdidaktischen Problemen. Die Sozialpädagogik schließlich beschäftigt sich mit Fragen des kompensatorischen außerfamilialen und außerschulischen Förderungsbedarfs von Kindern und Jugendlichen, der Heim-, Krippen- und Kindergartenpädagogik sowie der Jugendhilfe (Dollinger 2006).

Geschichte der pädagogischen Praxis Als Praxis (d. h. als Erziehung im bereits erwähnten, von Bernfeld gekennzeichneten allgemeinen Sinne der „Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“) ist Pädagogik so alt wie die Menschheit: Entsprechend prominenten Erziehungsverständnissen, denen zufolge Erziehung mit Verpflegung beginnt (z. B. Kant 1803/1968, S. 714), kann pädagogische Praxis als existenziell notwendige und gleichzeitig konkret-sozial vermittelte Reaktion auf das anthropologische Faktum

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der ursprünglichen menschlichen Hilflosigkeit begriffen werden. Seit jeher versuchen Gesellschaften, diese Reaktionen im Interesse ihrer Bestandssicherung vermittels normativer Vorgaben und institutionell geregelter Prozesse zu organisieren und zu kontrollieren. Dabei blieb die elementare Erziehung bei allem historischen Wandel zumeist den Familien überantwortet, sieht man von den Versuchen des Aufbaus einer umfassenden Staatserziehung (z. B. Sparta, totalitäre Regimes) ab. Zur Organisation der weiteren Erziehungs- und Bildungsprozesse haben sich historisch expandierende Scolarisationstendenzen durchgesetzt, deren Anfänge sich bis in die Zeit der frühen Hochkulturen zurückverfolgen lassen. Mit zunehmender gesellschaftlicher Komplexität und dem Anwachsen der Wissensbestände wuchs auch der jeweilige gesellschaftliche Bedarf an schulischer Kenntnisvermittlung und entsprechenden Ausdifferenzierungen des Schulsystems. Bereits in der Antike, die schon Schule im Sinne organisierter Lehrveranstaltungen kannte, bildete sich ein Allgemeinbildungskanon heraus, der noch lange die Basis für den „Lehrplan des Abendlandes“ bildete (Dolch 1965). Neben dem kirchlichen Bildungswesen des Mittelalters entstanden Anfang des 13. Jahrhunderts erste Stadt- und Privatschulen, die den Bedürfnissen der aufstrebenden Handwerkerschichten dienten. Im Zuge der Reformation (16. Jahrhundert) bildete sich ein allgemeines Volksschulwesen heraus, wobei das höhere Schulwesen weiterhin konfessionell gebunden blieb. Im 18. Jahrhundert wurde das gesamte Schulsystem schließlich im Kontext der Einführung der allgemeinen Unterrichtspflicht dem Staat unterstellt und seither systematisch den jeweiligen gesellschaftlichen Bedarfslagen angepasst und ausdifferenziert, wobei auch gesellschaftliche Klassen-, Schichten- und Geschlechtsrollendifferenzen reproduziert wurden und – wie bis in die Gegenwart empirisch zu belegen ist – werden (Geißler 2011, S. 275ff.). Trotz der Diversifizierung sozialisatorischer Einflüsse und des progredierenden Funktionsverlustes der bürgerlichen Familie werden elementare Anpassungsleistungen bis heute familial über primär-sozialisatorische Prozesse vermittelt (Horkheimer 1936; Mitscherlich 1963/1976). Der Schule als weiterem maßgeblichen „Disziplinierungsinstrument“ (Ballauff 1984, S. 6) sind dagegen die relevanten sekundären Sozialisations-, Erziehungs- und Bildungsfunktionen übertragen (Fend 1975; Ballauff 1984): die Reproduktion von Arbeitsvermögen (Qualifikationsfunktion), die Reproduktion der Sozialstruktur (Selektions- bzw. Allokationsfunktion) und die Legitimation politischer Herrschaftsverhältnisse durch die Generierung von Massenloyalität vermittels der Internalisierung normativer Strukturen (Legitimationsfunktion; Fend 1975, S. 28). Solange das Schulsystem unter diesen normativen Vorgaben steht, sind den Schulreformen, die es immer wieder, zeitweise nachgerade flutartig (Epoche der „Reformpädagogik“), gegeben hat und die zweifellos zur Humanisierung schulischer Realität (z. B. Verbot entwürdigender Strafen, offene

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Unterrichtsformen) geführt haben, letztlich enge Grenzen gesetzt. Auch die in vielen Ländern einschließlich der Bundesrepublik prinzipiell mögliche Gründung von Schulen in freier Trägerschaft, die sehr unterschiedliche Schultypen hervorgebracht hat (vgl. Goldschmidt & Roeder 1979), offeriert nur ein begrenztes Alternativpotenzial gegenüber dem regulären Schulwesen (Inselcharakter, hohe Schulgelder, staatliche Abschlussprüfungen). Insbesondere seit der Ära der Industrialisierung wurde deutlich, dass die Systemintegration der heranwachsenden Generation durch Familien- und Schulpädagogik allein nicht garantiert werden konnte, zumindest nicht in dem Maße, das für die gesellschaftliche Struktursicherung erforderlich gewesen wäre. Als „Krisen-Reaktion“ auf die Industrialisierungsfolgen entstand die Sozialpädagogik, die – oft religiös motiviert und kirchlich unterstützt (Gründung des Rauhen Hauses durch Johann Hinrich Wichern in Hamburg als Muster einer familienorientierten Anstaltserziehung) – Maßnahmen der Armen- und Waisenfürsorge ergriff, die aber letztlich gegen befürchtete sozialistische Initiativen pauperisierter Massen gerichtet waren (Dollinger 2006, S. 123ff.). Karl Wilhelm Eduard Mager (1810–1858) und Adolph Diesterweg (1790–1866) verwendeten in diesem Sinne um die Mitte des 19. Jahrhunderts als erste den Begriff Sozialpädagogik, der dann mit anderer – kritischerer – Akzentuierung im Kontext des Engagements für eine genossenschaftssozialistische Gesellschaft von Paul Natorp (1854–1924) aufgegriffen wurde (Natorp 1920), ehe er im Rahmen der Reformpädagogischen Bewegung in der Weimarer Republik Hochkonjunktur hatte. In dieser Zeit kam es zur Institutionalisierung der Sozialpädagogik, die sich auf öffentliche wie private Träger stützen konnte: Kindergärten und -horte, Erziehungsheime, Jugendämter und Beratungsstellen wurden gegründet, gezielte Maßnahmen der Jugendarbeit und die Reform von Jugendstrafanstalten in die Wege geleitet (z. B. Alice Salomon, Gertrud Bäumer, Siegfried Bernfeld, Carl Mennicke, Karl Wilker, Walter Herrmann, Max Bondy). Die einzelnen Initiativen waren politisch durchaus unterschiedlich motiviert und hatten (wie Bernfelds Kinderheim Baumgarten in Wien oder Wilkers Jugendgefängnis Lindenhof in Berlin) teilweise nur kurz Bestand. Insgesamt aber etablierte sich ein Verständnis sozialpädagogisch notwendiger Ergänzungsmaßnahmen zur Verhinderung sozialer Anomie. Aus ähnlichen Motiven speiste sich die Entwicklung der Erwachsenenbildung, die dem Bedarf an „lebenslangem Lernen“ in einer komplexen Gesellschaft integrationsfördernd Rechnung tragen sollte. Sie war von der „Volksbildung“ des 19. Jahrhunderts ausgegangen und wurde um die Wende zum 20. Jahrhundert systematisch aufgebaut. Seit den 1970er-Jahren hat sie sich mit einer Vielfalt von Einrichtungen und Angeboten zur allgemeinen, beruflichen und zertifikations­

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orientierten Bildung, aber auch zur Weiterbildung ohne ökonomische Interessen als eigener, privat und öffentlich finanzierter Bildungsbereich etabliert.

Geschichte der pädagogischen Theorie Auch im Sinne theoretischer Anstrengungen hat Pädagogik eine lange Geschichte (Reble 1989). Sie begann in der Antike („Paideia“ als Ideal, das musische, gymnastische und politische Erziehung umfasst), deren Vorstellungen neben maßgeblichen Einflüssen des Christentums noch in die pädagogischen Ansätze des Mittelalters und der Reformationszeit hineinwirkten. Große pädagogische System­entwürfe gab es bereits in der Barockzeit (Wolfgang Ratke, 1571-1630, Johann Amos Comenius, 1592-1670), aber erst in den Epochen der Aufklärung und der „klassisch-idealistischen“ Zeit (Reble 1989, S. 135ff., 174ff.) kamen die Sensibilität für die entwicklungspsychologischen Besonderheiten von Kindheit und Jugend (vgl. Ariès 1960/1982; Mause 1982) und erziehungswissenschaftliche Ansprüche zum Durchbruch. In die Aufklärungsepoche fallen die seinerzeit einflussreichen Schulgründungen der „Philanthropisten“ (Johann Bernhard Basedow, Christian Gotthilf Salzmann, Joachim Heinrich Campe, Ernst Christian Trapp, Friedrich Eberhard von Rochow). Nun erst lässt sich – Émile von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) gilt hier als Schlüsseltext (Rousseau 1762/1978) – ein zunehmendes Bewusstsein für die Eigentümlichkeiten der frühen Lebensstadien konstatieren, das ambivalente Folgen hatte, denn es führte nicht nur zum besseren Verständnis kindlicher Bedürfnisse und entwicklungsförderlicher Lernhilfen, sondern auch zur verstärkten Kolonialisierung von Kindheit einschließlich durchgängiger Diszi­ plinierungs- und Reglementierungsversuche (vgl. Rutschky 1982; Gstettner 1981). Als wissenschaftliche Disziplin entstand Pädagogik – durch die Aufklärungszeit in vielerlei Hinsicht vorbereitet – in der klassisch-idealistischen Epoche. 1779 erhielt der Aufklärungspädagoge und Philanthropist Ernst Christian Trapp (1745–1818) den ersten universitären Lehrstuhl für Pädagogik in Halle. Sein Versuch einer Pädagogik, Immanuel Kants und Friedrich Schleiermachers pädagogische Vorlesungen sowie Johann Friedrich Herbarts Allgemeine Pädagogik (Trapp 1780/1977; Kant 1803/1968; Schleiermacher 1826/1983; Herbart 1806/1982) zählen zu den „Geburtsurkunden“ der wissenschaftlichen Pädagogik, deren Entstehung somit in eine der pädagogisch fruchtbarsten Epochen überhaupt fiel. In ihr wurde das auf Humanität, individuelle Selbstentwicklung und harmonische Kräfteentfaltung zielende Bildungsdenken Immanuel Kants (1724–1804), Johann Gottfried Herders (1744–1803), Wilhelm von Humboldts (1767–1835), Johann Wolfgang von Goethes

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(1749–1832), Friedrich Schillers (1759–1805), Johann Gottlieb Fichtes (1762–1814), Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) und Johann Heinrich Pestalozzis (1746–1827) entwickelt. Im Kontext der Stein-Hardenbergschen Reformen unter der Leitung Wilhelm von Humboldts wurde es auch bildungspolitisch und schul­ organisatorisch zur Geltung gebracht. Blieb das Bildungsverständnis der klassisch-idealistischen Epoche, das in der Pädagogik der Romantik (Friedrich Fröbel, Jean Paul) und der beginnenden Industrialisierung nachwirkte (Adolph Diesterweg), im Wesentlichen individualistisch fokussiert und mit aristokratischen Elementen behaftet, wohnt ihm gleichwohl ein deutlich emanzipatorisches Prinzip inne, an das auch spätere kritische Bildungskonzeptionen anzuschließen vermochten (Heydorn 1970; 1972). Karl Marx (1818–1883) beerbte es im Zeitalter der „großen Industrie“ im Kontext des Engagements für „menschliche Emanzipation“ – d. h. für die im Interesse umfassender individueller Emanzipation unabdingbare Überwindung sozialer Antagonismen schlechthin. Im Übrigen aber blieb die Pädagogik der Industrialisierungsära über weite Strecken paternalistisch und hinsichtlich ihrer politisch-sozialen Perspektive strukturkonservativ und obrigkeitsstaatlich orientiert. Wilhelm Diltheys (1833–1911) methodologische Grundlegung der Geisteswissenschaften schuf im späteren 19. Jahrhundert die Basis für die Ausdifferenzierung einer Geisteswissenschaftlichen Pädagogik (z. B. Herman Nohl, Eduard Spranger, Theodor Litt, Wilhelm Flitner, Erich Weniger). Sie dominierte den erziehungswissenschaftlichen Diskurs für Jahrzehnte mit ihrer historisch-relativistischen Position, ihrer Fokussierung hermeneutischer Methoden sowie ihrer Betonung „relativer pädagogischer Autonomie“ zugunsten des konkreten „pädagogischen Bezugs“ (Nohl 1949, S. 124ff.). Auf vielfältige Weise war sie der reformpädagogischen Bewegung verbunden, die im Kontext von Kulturkritik sowie Jugend- und Lebensreformbewegung seit dem späten 19. Jahrhundert mit einer Fülle neuer pädagogischer Konzepte, Schulgründungen, schulreformerischen Entwürfen, sozialpädagogischen und erwachsenenbildnerischen Initiativen auf die Folgen der Industrialisierung reagierte (Röhrs 1980; Scheibe 1982). Die reformpädagogische Bewegung wollte mit der Kritik an der traditionellen „Pauk- und Drillschule“ zugunsten alternativer Unterrichtsformen (z. B. Gruppen-, Freiarbeit, Projektmethode, Gesamtunterricht, Berichtszeugnisse, innere Differenzierung) eine „Pädagogik vom Kinde aus“ repräsentieren (z. B. Berthold Otto, Maria Montessori) sowie vermittels der Gründung von Arbeits- (z. B. John Dewey, Georg Kerschensteiner, Hugo Gaudig, Célestin Freinet, Pavel Petrowitsch Blonskij), Lebensgemeinschafts- (z. B. Fritz Karsen, Peter Petersen) und Waldorfschulen (Rudolf Steiner), von Landerziehungsheimen (z. B. Hermann Lietz, Gustav Wyneken, Paul Geheeb, Kurt Hahn, Alexander Sutherland Neill) und durch andere Initiativen neue Gemeinschaftserfahrungen

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und Entwicklungsbedingungen ermöglichen. Pädagogisch wie politisch waren die Zielsetzungen dabei überaus heterogen (Oelkers 1989): Neben freiheitlich und sozialistisch ambitionierten Konzepten standen bürgerlich-konservativ und nationalistisch-völkisch motivierte Vorstöße, deren Protagonistinnen sich sogar zum Teil – wie etwa Montessori und Petersen – dem Faschismus anschlossen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Erziehungswissenschaft bis in die 1960er-Jahre von der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik dominiert, die sich ihrerseits – ohne den nationalsozialistischen Machthabern dadurch je als ganz „zuverlässig“ zu gelten – weitgehend an das NS-System angepasst hatte, nach dessen Zerschlagung jedoch abermals reüssieren konnte. Für die 1960er-Jahre lässt sich die Hinwendung der Erziehungswissenschaft zu empirischen Forschungen konstatieren (Heinrich Roth, Wolfgang Brezinka), während zum Ende des Jahrzehnts – etwa zeitgleich mit der Studentenbewegung – verstärkt Konzepte einer Kritischen bzw. Emanzipatorischen Pädagogik zur Geltung kamen. Sie schlossen an die Kritische Theorie der Frankfurter Schule (z. B. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse, Jürgen Habermas), an Intentionen einer radikalisierten Aufklärung, an die „pädagogische Dimension im Werke von Karl Marx“ (Groth 1978) und an Impulse der pädagogisch überaus relevanten Psychoanalyse (vgl. Füchtner 1979) an. Im Engagement für soziale und individuelle Emanzipationen sahen sie das konstitutive Prinzip ihres Pädagogikverständnisses (Adorno 1971/1981; Heydorn 1970; 1972; Klafki et al. 1970/71; Mollenhauer 1974; 1977). Diese im Detail durchaus variantenreiche Richtung (vertreten z. B. durch Heinz-Joachim Heydorn, Gernot Koneffke, Hans-Jochen Gamm, Klaus Mollenhauer, Wolfgang Klafki, Herwig Blankertz und Wolfgang Lempert) prägte, allerdings ohne dass sie ihre Aktualität eingebüßt hätte, das allgemeine erziehungswissenschaftliche Selbstverständnis nur für kurze Zeit.

Aktuelle Entwicklungen Schon für die 1970er-Jahre lässt sich in der Erziehungswissenschaft eine konservative Tendenzwende feststellen (Fend 1984), die bald in die bis heute andauernde Phase einmündete, die von einer Diversifizierung von Forschungsansätzen und theoretischen Referenztheorien (z. B. postmodernistische, systemtheoretische, konstruktivistische Konzepte) beherrscht ist. Nicht zuletzt bezeugt sie auch die Anfälligkeit des (über kein nur ihm eigenes Forschungsfeld verfügenden und daher in hohem Maße auf Nachbarschaftsdisziplinen angewiesenen) Faches für „Theoriemoden“.

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Zur Zeit ringt die Erziehungswissenschaft – unter gleichzeitigem Druck gesellschaftlicher und politischer Erwartungen – um professionelle Selbstverständigung, wobei die Frage nach einem „pädagogischen Proprium“ bzw. nach einer gemeinsamen, alle pädagogischen Teilbereiche und Aufgaben umfassenden Klammer kontrovers diskutiert wird. Die Expansion pädagogischer Berufsprofile und Handlungsfelder fällt zusammen mit dem Bedeutungsverlust der Allgemeinen Pädagogik als traditionell maßgeblicher Reflexionsinstanz der Disziplin, mit Tendenzen zur Selbstauflösung des Faches zugunsten einer marktfähigen, auf verbindliche Leitprinzipien verzichtenden generellen Lernhilfe-, Lebensbegleit- und Beratungsagentur und einem Trend zur bloßen strukturkonservativen Funktionalisierung pädagogischer Dienstleitungen (Winkler 2006). Im Zentrum steht heute ein Bildungsverständnis, das auf die Qualifizierung von Arbeitskraft und entsprechende Selektion reduziert ist; eine Schulpädagogik, die auf Anpassungsleistungen im Dienste standardisierter Vorgaben zugeschnitten ist, die sich auf Kontrolluntersuchungen nach dem Muster des Programme for International Student Assessment (PISA) stützen; und eine auf das Management faktischer und potenzieller Konflikte ausgerichtete Sozialpädagogik, die sich bereits großenteils – zugunsten der Eigenetikettierung als Sozialarbeit – nicht mehr als pädagogische Teildisziplin versteht.

Fazit Die zuletzt angesprochenen Entwicklungen bezeugen durchaus eine Krise der Pädagogik, in der das kritisch-emanzipatorische Potenzial der Disziplin, deren Wirkungsmacht allerdings nicht überschätzt werden sollte, zunehmend verschüttet zu werden droht. In diesem Sinne dürfte der warnenden Feststellung Siegfried Bernfelds unverminderte Aktualität zukommen: „Die Möglichkeit zeigt sich an: die Pädagogik verhindert vielleicht die Zukunft, die sie verspricht“ (Bernfeld 1967, S. 11). Dem entgegenzuwirken bleibt die Aufgabe einer kritischen Pädagogik, die nicht zuletzt auch die problematischen Entwicklungen der eigenen Disziplin konsequent zu reflektieren hätte. Sie hätte – mit fortwährendem Blick auf die Sozial- und Ideengeschichte von Erziehung und Bildung – zu analysieren, in welchem Maße pädagogische Theorie und Praxis zu Herrschaftsverhältnissen und individuellen Beschädigungen beigetragen haben; sie hätte im Gegenzug aber auch aufzuzeigen, dass und in welcher Weise Erziehung und Bildung allemal unverzichtbar bleiben, wenn menschliches Leben gelingen soll.

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Verständnisfragen

▶ Was umfasst der Begriff „Pädagogik“? ▶ Wie unterscheiden sich Bildung, Erziehung und Sozialisation? ▶ Wie haben sich verschiedene Praxisfelder ausdifferenziert? ▶ Welche Epochen und Strömungen lassen sich im Hinblick auf die pädagogische Theoriebildung unterscheiden?

Literatur Adorno, Th. W. (1971/1981). Erziehung zur Mündigkeit (7. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Adorno, Th. W. (1959/2003). Theorie der Halbbildung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Ariès, Ph. (1960/1982). Geschichte der Kindheit (5. Aufl.). München: dtv. Ballauff, Th. (1984). Funktionen der Schule. Historisch-systematische Analysen zur Scolarisation (2. Aufl.). Köln/Wien: Böhlau. Bernfeld, S. (1967). Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Fend, H. (1975). Gesellschaftliche Bedingungen schulischer Sozialisation. Soziologie der Schule I (2. Aufl.). Weinheim/Basel: Beltz. Habermas, J. (1968). Stichworte zu einer Theorie der Sozialisation. In ders., Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze (2. Aufl.; S. 118–194). Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977. Hentig, H. v. (1996). Bildung. Ein Essay. München/Wien: Beltz. Herbart, J. F. (1806). Allgemeine Pädagogik. In: ders., Pädagogische Schriften, Stuttgart: Klett-Cotta 1982 (ed. W. Asmus). Bd. 2, 9–155. Heydorn, H.-J. (1970). Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt. Heydorn, H.-J. (1972). Zu einer Neufassung des Bildungsbegriffs. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Horkheimer, M. (Hrsg.) (1936). Studien über Autorität und Familie. Paris: Alcan. Ipfling, H.-J. (Hrsg.) (1974). Grundbegriffe der pädagogischen Fachsprache (2. Aufl.). München: Ehrenwirth. Kant, I. (1803). Über Pädagogik. In: Ders., Werke. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968 (ed. W. Weischedel). Bd. XII, 693–761. Klafki, W./Rückriem, G. M./Wolf, W./Freudenstein, R./Beckmann, H. K./Lingelbach, K.-C./ Iben, G./Dietrich, J. (1970/71). Funk-Kolleg: Erziehungswissenschaft. 3 Bde. Frankfurt am Main: Fischer. Kob, J. (1976). Soziologische Theorie der Erziehung. Stuttgart: Kohlhammer. Mause, L. de (Hrsg.) (1982). Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit (2. Aufl.). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Mitscherlich, A. (1963/1976). Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie (11. Aufl.). München: Piper.

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Weiterführende Literatur Brezinka, W. (1971). Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft. Weinheim/Berlin/ Basel: Beltz. Dolch, J. (1965). Lehrplan des Abendlandes. Zweieinhalb Jahrtausende seiner Geschichte (2. Aufl.). Ratingen: Henn. Dollinger, B. (2006). Die Pädagogik der Sozialen Frage. (Sozial-)Pädagogische Theorie vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Ende der Weimarer Republik. Wiesbaden: VS. Fend, H. (1984). Die Pädagogik des Neokonservatismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Füchtner, H. (1979). Einführung in die psychoanalytische Pädagogik. Frankfurt am Main/ New York: Campus. Gamm, H.-J. (1979). Allgemeine Pädagogik. Die Grundlagen von Erziehung und Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft. Reinbek: Rowohlt. Geißler, R. (2011). Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz der Vereinigung (6. Aufl.). Wiesbaden: VS. Goldschmidt, D. & Roeder, P. M. (1979). Alternative Schulen? Gestalt und Funktion nichtstaatlicher Schulen im Rahmen öffentlicher Bildungssysteme. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Gröll, J. (1975). Erziehung im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß. Vorüberlegungen zur Erziehungstheorie in praktischer Absicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Groth, G. (1978). Die pädagogische Dimension im Werke von Karl Marx. Neuwied/Darmstadt: Luchterhand. Gstettner, P. (1981). Die Eroberung des Kindes durch die Wissenschaft. Aus der Geschichte der Disziplinierung. Reinbek: Rowohlt. Winkler, M. (2006). Kritik der Pädagogik. Der Sinn der Erziehung. Stuttgart: Kohlhammer.

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Zusammenfassung

Der Supervision kommt als spezifische Beratungsform beruflicher Zusammenhänge zunehmende Bedeutung zu. „Supervision ist ein wissenschaftlich fundiertes, praxisorientiertes und ethisch gebundenes Konzept für personen- und organisationsbezogene Beratungstätigkeiten in der Arbeitswelt“ (DGSv 2012, S. 5). Einzelne, Gruppen, Teams und Organisationen im Profit- und Non-Profit-Bereich, in Verwaltung, Wirtschaft und im psychosozialen Feld nutzen die junge Disziplin, um die Effizienz ihrer Arbeit zu erhöhen, um Personal- und Teamentwicklung zu betreiben, um ihre Organisationsstrukturen zu optimieren und die fachliche und persönliche Entwicklung der Mitarbeiter zu fördern (vgl. Möller 2012). Im Zuge der Diskussion um die Qualitätssicherung von Arbeitsprozessen und -produkten kommt der Supervision eine zentrale Rolle zu.

Organisationen im Wandel Die Supervision bietet einen geschützten Reflexionsraum für die Beratung in Organisationen, wie zum Beispiel in Wirtschaftsunternehmen, in der öffentlichen Verwaltung, in sozialen Dienstleistungsunternehmen, in Bildungseinrichtungen und im Gesundheitswesen. Die Nachfrage hierfür ist in den letzten Jahren gestiegen – vor dem Hintergrund der „üblichen Verdächtigen“, wie Kühl (2008) die Determinanten des erhöhten Beratungsbedarfs nennt: die immense Komplexität der Organisationen, die kaum noch zu bewältigenden Entscheidungsanforderungen, die Tempoverschärfung, der technologische Fortschritt, die Entgrenzung der Arbeitswelt und schließlich die Globalisierung mit ihren Anforderungen und Krisen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_11

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All diese strukturellen Veränderungen haben zur Folge, dass sich das Verhältnis von Erwerbstätigkeit und Privatsphäre verschiebt. Den Arbeitskraftunternehmern (auch Angestellte verstehen sich als Unternehmerinnen ihrer eigenen Arbeitskraft) wird immer mehr Flexibilität und Mobilität abverlangt. Die zeitliche und räumliche Entgrenzung der Arbeit hat zur Folge, dass über neue Arbeitszeitmodelle nachgedacht wird und die Arbeit nicht mehr an einen festen Ort gekoppelt ist. Das birgt einerseits Chancen wie zum Beispiel Telearbeit für junge Eltern, andererseits Gefahren wie Überforderung durch ständige Erreichbarkeit. Viele junge Menschen befinden sich in prekären Arbeitsverhältnissen, befristeten Verträgen oder Projekten, was dazu führt, dass eine zusammenhängende Lebensgeschichte kaum noch geschrieben werden kann (vgl. Möller, 2010). Die Supervision greift diese Spannungsverhältnisse auf.

Zu Geschichte, Zielen und Wissensbeständen der Supervision Erste Versuche zur Supervision gab es bereits Ende des 19. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten (vgl. Belardi 1994). Ehrenamtliche Mitarbeiterinnen der Wohlfahrtsverbände wurden in ihrer Arbeit mit Hilfsbedürftigen beraten und begleitet, aber auch kontrolliert. In den USA und in den deutschsprachigen Ländern kam in den 1920er-Jahren die Kontrollanalyse oder Kontrollsupervision hinzu, eine Form der Ausbildungssupervision, die sich bis heute erhalten hat: Erfahrene Praktiker führen junge Kollegen in ihre berufliche Tätigkeit als zukünftige Psychoanalytiker ein. In den 1940er-Jahren entwickelte Michael Balint (1957) in Seminaren für Haus­ ärzte einen weiteren Ansatz, der die heutige Supervision mitgeprägt hat. Sein Ziel war es, eine ganzheitliche Medizin zu entwickeln, um auch Ärzten Grundkenntnisse in der Psychotherapie zu vermitteln. Er zeigte ihnen, wie sie ihre Person und ihre Gefühle als Instrument der Patientenbehandlung einsetzen konnten. Nachdem die Supervision zunächst im dyadischen Setting (Lehrer–Schüler, Administrator–Ehrenamtliche) stattgefunden hatte, entwickelte Balint die erste Form der Gruppensupervision und damit die Möglichkeit, die Gruppe als Instrument zur Beziehungsdiagnostik zu nutzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Vorteil der Mehrperspektivität in der Gruppe durch Formen der Anwendung gruppendynamischer Prinzipien in der Arbeitswelt angereichert. In den 1960er- und frühen 1970er-Jahren arbeiteten Supervisoren in den damals entstehenden Teams mit gruppendynamischen Methoden (vgl. Rappe-Giesecke 2003). Diesem Vorgehen lag die These zugrunde, dass

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sich die Kooperationsfähigkeit und Arbeitseffizienz eines Teams, das sich in einen gruppendynamischen Prozess der Beziehungsklärung begibt, verbessert. Erst in den 1980er-Jahren öffnete sich die Supervision den institutionellen Strukturen. Die Perspektiven Individuum–Gruppe–institutionelle Rahmenbedingungen gerieten gleichermaßen in den Blick, und damit auch die Notwendigkeit organisatorischer Umstrukturierungsmaßnahmen aus dem Bereich der Organisationsentwicklung. Die Supervision, der in diesem Setting eine begleitende Funktion zukommt, hat das Ziel, „dem ratsuchenden System zu adäquaten Selbstbeschreibungen zu verhelfen, mit der Organisation oder einem Subsystem deren Identität zu klären“. Die Leitfragen dafür lauten: Wofür gibt es uns? Welchen einmaligen Nutzen stiften wir? Was unterscheidet uns von anderen? (Giesecke & Rappe-Giesecke 1997, S. 664). Somit ist Supervision „eine Form beruflicher Beratung, deren Aufgabe es ist, Einzelne, Gruppen und Teams in Organisationen zu sozialer Selbstreflexion zu befähigen“ (Rappe-Giesecke 2003). Ihre Ziele sind: • Verbesserung der Handlungskompetenz • Steigerung der Arbeitszufriedenheit • Überprüfung der Wirksamkeit des eigenen professionellen Handelns Mit der Veränderung des Profils der Supervision ging einher, dass die professionellen Supervisoren ihre Wissensbestände anreichern mussten. Unbestritten ist, dass die Supervision ein interdisziplinärer Ansatz ist, der auf unterschiedliche Referenztheorien zurückgreift. Für Supervisoren und Supervisorinnen ist sowohl psychologisches als auch soziologisches Wissen unabdingbar: Das sind zum einen Grundkenntnisse in Allgemeiner und Klinischer Psychologie sowie in Sozial- und Persönlichkeitspsychologie. Zum anderen ist systemisch-organisationssoziologisches Wissen entscheidend, um ein Supervisionssetting bereitzustellen, das über reine Beziehungsanalyse und Beziehungsberatung hinausgeht. Für die Supervision bedarf es heute etlicher sozialwissenschaftlicher Kenntnisse: • Wissensbausteine über traditionelle Organisationskonzepte, Organisationstypen, Entwicklungsphasen von Organisationen und organisatorische Veränderungsprozesse • spezifische Wissensstrukturen zur Analyse formaler Phänomene und Binnenstrukturen von Organisationen • Diagnoseschemata zur Relation Umwelt–Organisationsstruktur, zum Konfliktmanagement, zur Effizienz von Entscheidungsprozessen, der Entwicklung von „lernenden Organisationen“ und zur Klärung von Fragen nach der Vermeidung

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von Ressourcenvergeudung, der Steigerung des Engagements der Mitarbeiter und der Entwicklung ihrer Kreativität Zentrale Aufgabe von Supervision ist, was Petzold als „Konnektierung“ fasst: „das Vernetzen unterschiedlicher Wissensbestände in der Absicht, wechselseitige Erhellung und vielschichtige Interpretation von Kontingenz zu ermöglichen und Korrekturmöglichkeiten von Einseitigkeiten und Dogmatismen zu gewährleisten“ (1997, S. 22). Supervision kann somit als Bestandteil der noch recht jungen Beratungswissenschaft angesehen werden, einer projektförmigen Wissenschaft, die sich aus Referenztheorien unterschiedlicher Disziplinen speist (vgl. Möller & Hausinger 2009).

Unterschiedliche supervisorische Settings Mit Setting ist die Konstitution der Rahmenbedingungen gemeint, in der unterschiedliche Angebote der Supervision stattfinden. Nach wie vor suchen Menschen die Einzelsupervision auf, um berufliche Fragestellungen zu klären. Ein häufiges Format ist die rollenbezogene Supervision: Jemand tritt neu in eine Organisation ein und sucht nach Unterstützung. Dann gilt es, die zentralen Aufgaben zu klären, die Fähigkeiten und Möglichkeiten zur Ausgestaltung der neuen Rolle auszuloten und die Rolle mit der Person und der Organisation in Einklang zu bringen. Während die Institution ein Interesse daran hat, die richtige Person in die richtige Position zu setzten, möchte der Einzelne die seinen fachlichen und personalen Kompetenzen gemäße Position finden. Typische Anlässe, eine Beratung aufzusuchen, sind Konflikte am Arbeitsplatz mit Vorgesetzten oder Kollegen und Fragen des angemessenen Selbstmanagements. Einzelsupervision kann aber auch der Karriereberatung (Rappe-Giesecke 2008; Lang von Wins & Triebel 2012) dienen, wie zum Beispiel bei Fragen nach dem Ausscheiden aus der Organisation oder den Möglichkeiten des Verbleibs, der Neuorientierung auf dem Arbeitsmarkt und des Weiterbildungsbedarfs, oder sie kann den Schritt in die Selbständigkeit begleiten. Wenn eine Führungskraft um Beratung anfragt, wird dieses Setting Führungs- oder Leitungssupervision bzw. Coaching genannt. In der Gruppensupervision treffen sich homogene oder heterogene Gruppen von Berufstätigen, die in regelmäßigen Abständen unter der Leitung eines externen Supervisors ihre Alltagspraxis betrachten. Eine Gruppensupervision wird dadurch definiert, dass die Supervisanden keine berufliche Beziehung zueinander haben, sich zunächst nicht kennen, aus unterschiedlichen Praxisfeldern stammen können und

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sich freiwillig in einer Gruppe zusammenfinden, um sich in Bezug auf ihre Rolle und ihr professionelles Handeln einem Reflexions- und Qualifizierungsprozess zu unterziehen. Ein Prototyp klientenbezogener Supervision sind die Balintgruppen, die dazu dienen, die Fachkompetenz der Teilnehmenden zu erhöhen, ihre professionelle Identität zu entwickeln und die Kontrolle der Arbeit zu gewährleisten. Die psychotherapeutische Gruppensupervision befasst sich mit Themen wie beispielsweise der Angemessenheit des Therapieziels, der Therapiemotivation der Patienten und Patientinnen, der Beziehungsdiagnostik, dem Verstehen der eigenen Berufsbiografie oder der persönlichen Psychohygiene. Psychotherapeuten sind täglich in Kontakt mit Leid und Schmerz und mit schweren Krankheiten, die nicht immer heilbar sind. Als Zeugen von Negativität, Suizidalität, Pessimismus und Selbstzerstörung sind sie in Gefahr der Emotionsansteckung. Die Psychotherapie ist eine Dienstleistung, die im Setting seelischer Intimität erbracht wird, was Freundlichkeit, Verständnis, Höflichkeit und Toleranz zu jeder Zeit notwendig macht. Psychotherapeutinnen sind Emotionsarbeiter in Dauerexposition. Der Patient muss sich „gefühlt fühlen“. Nicht immer können Therapeutinnen und Therapeuten erfolgreich sein, müssen also mit Enttäuschung, Infragestellung und Kränkung zurechtkommen. Ihre déformation professionelle: Daueranspannung, Erschöpfung und vegetative Störungen. Ungünstige kognitive Schemata wie Perfektionsdenken, zu viel Selbstzweifel und Bedürfnis nach Anerkennung lassen sich in einer Gruppensupervision besprechen. Die Gruppensupervision wird auch für andere Berufsgruppen wie Lehrer, Richter, Professoren oder Sozialarbeiter für ihre jeweiligen feldspezifischen Anliegen angeboten. Treffen sich Kollegen ohne einen externen Supervisor, spricht man von kollegialer Supervision oder Intervision. Menschen aus einem ähnlichen Berufsfeld stellen einander ihre beruflichen Fragen vor und suchen gemeinsam nach Lösungen für konkrete Probleme. Die Themen sind so breit gefächert wie die der Gruppensupervision: die eigene Persönlichkeit, Werte und Normen, der Kontakt zum Klienten, der Klient selbst oder das Klientensystem, ihr methodisches Handeln, die Gruppendynamik, die Zusammenarbeit im Team, der Einfluss des Umfeldes und vieles mehr. Die Teamsupervision definiert sich dadurch, dass sich Menschen, die an einem gemeinsamen Ziel arbeiten (z. B. das Team einer Wohngruppe für Behinderte), mithilfe eines externen Beraters um die Effektivierung ihrer Kooperation bemühen und gemeinsam eine höhere Arbeitszufriedenheit und -qualität schaffen wollen. Teamsupervision ist heute vermutlich in Deutschland die häufigste Form der Supervision. Die kooperationsbezogene Supervision unterstützt die Aufgabenorientierung des Teams, dessen Klientenbezogenheit und Identität: So geht es in einer psychosomatischen Station eines Krankenhauses immer wieder um die Frage, welches

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psychosomatische Verständnis vorherrscht und wie sich die Handlungspraxis daraus ableitet. Mögliche Spaltungen der Berufsgruppen (im Strafvollzug werden die Sozialarbeiter und Psychologen von den Gefangenen gern gegen die Mitarbeiter aus dem allgemeinen Vollzugsdienst ausgespielt) und Über- und Unterordnungsverhältnisse wie beispielsweise zwischen den Ärzten und dem Pflegepersonal einer Station werden reflektiert und dysfunktionale Muster in tragfähige Kooperationen umgewandelt. Darüber hinaus werden Normen und Leitbilder der gemeinsamen Arbeit betrachtet, Einstellungen fokussiert, Kommunikationsstörungen beseitigt, ein wertschätzendes Klima aufgebaut und Dialoge zur Selbst- und Fremdwahrnehmung stimuliert. Die Hauptaufgabe der Teamsupervision ist die Auffächerung der Komplexität des beruflichen Alltags und die Arbeit an Paradoxien und Ambivalenzen. Neben der Selbstthematisierung des Teams und der Fallarbeit findet in der modernen Konzeption von Teamsupervision immer auch die Institutionsanalyse ihren Platz. Damit werden Teamkonflikte an die organisationalen Dynamiken zurückgebunden, Changedynamiken benannt und berufliche Belastungen entindividualisiert und entpersonifiziert. Dabei enthält Teamsupervision immer auch Aspekte der Erwachsenenbildung, wenn über den Einzelfall hinaus Lernen ermöglicht wird. Themen der Teamsupervision sind beispielsweise: • • • •

Was ist die zentrale Aufgabe des Teams? Wozu gibt es dieses Team und wodurch unterscheidet es sich von anderen? Wo will das Team hin? Was sind die Werte und Normen des Teams, die die Arbeit mit Klienten oder Kunden und die Kooperation untereinander lenken? (vgl. Rappe-Giesecke 2003)

Die Ausbildungssupervision kann im Sinne einer Praxisanleitung verstanden werden. So ist die Supervision integraler Bestandteil der Ausbildung zum Psychotherapeuten oder zur Psychotherapeutin und des Anerkennungsjahres von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern. Die Fortbildungssupervision ist dadurch gekennzeichnet, „dass die Supervisanden ihre Berufsausbildung abgeschlossen haben und in ihrem Praxisfeld arbeiten“ (Pühl 2009, S. 16). Dabei geht es um „die Integration des Gelernten in das Spezifische des konkreten Berufsalltags und die Weiterentwicklung der institutionellen Strukturen entsprechend ihrer spezifischen Arbeitsaufgabe“ (ebd.). Von Lehrsupervision sprechen wir, wenn Weiterbildungskandidaten und -kandidatinnen im Bereich Supervision ihre ersten Beratungsaufträge durch einen anerkannten, erfahrenen Fachmann supervidieren lassen. Neben den genannten Supervisionssettings existiert noch die Projektsupervision, bei der der Supervisor das Projektmanagement selbst und bei allen projektbezogenen Kooperationsfragen berät.

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Interne und externe Supervision: Supervision kann durch interne und externe Berater angeboten werden. Viele Organisationen bilden mittlerweile eigene Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen aus, um die Supervision intern anzubieten. Beide Ansätze haben ihre Vor- und Nachteile. Internen Beratern ist die Nomenklatur vertraut, sie kennen die formalen und informellen Strukturen der Organisation und brauchen dementsprechend keine Feldkompetenzen zu entwickeln. Die Vorteile des internen Beraters sind zugleich seine Nachteile und umgekehrt. Er oder sie trifft auf zu viel Vertrautes, kann keine „dummen“ Fragen stellen, teilt schnell die blinden Flecke seiner Kollegen und muss stärker um Allparteilichkeit ringen.

Beispiel: Psychoanalytische Supervision In der Supervision kommen unterschiedliche Verfahren zur Anwendung: So lassen sich systemische, klientenzentrierte, psychodramatische, gruppendynamische und integrative Supervisionskonzepte finden. Diese Verfahren setzen unterschiedliche Methoden ein (siehe Weiterführende Literatur). Beinahe jede etablierte psychotherapeutische Ausrichtung hat ihren eigenen Supervisionsansatz entwickelt. Beispielhaft soll hier der psychoanalytische Supervisionsansatz vorgestellt werden.

Die systematische Nutzung von Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen als Diagnostikum in der Supervision Die subjektive Verfasstheit der Supervisoren gilt als Königsweg der Erkenntnis in der psychodynamischen Beratung. Das bedeutet, dass der Supervisor oder die Supervisorin aufmerksam verfolgt, wie er oder sie sich bei der Kontaktaufnahme zu einem zu beratenden System fühlt und wie die Beziehung speziell gestaltet wird. Die Reaktion des Beratenden auf die Ratsuchenden bietet wichtige Anhaltspunkte zur Klärung der Fragen: Was ist los mit diesem Klienten? Was ist los mit diesem Team? Was ist los in dieser Organisation? Gerade zu Beginn eines Supervisionsprozesses kann vieles noch nicht artikuliert werden, was sich aber dennoch in der Beziehungsgestaltung zwischen Supervisor und Supervisand vorbewusst äußert. Die psychoanalytische Theorie unterscheidet die konkordante und die komplementäre Gegenübertragung (Racker 2002). Im konkordanten Gegenübertragungsmodus identifiziert sich der Supervisor mit dem Supervisanden selbst. Im komplementären Gegenübertragungsmodus hingegen identifiziert er sich mit den signifikanten

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Interaktionspartnern der Supervisanden in Biografie und aktueller Lebenswelt. Die Gegenübertragungsanalyse ist zunächst einmal ein diagnostischer Zugang. Das szenische Verstehen (Lorenzer 2006) hilft uns bei der Erkenntnisgewinnung: Es bedeutet, Interaktionsprozesse zu verstehen. Menschen setzen in alltäglichen Kommunikationssituationen unbewusstes Material nonverbal in Szene. Sie übertragen zurückliegende Beziehungserfahrungen aus ihrer Biographie und aus ihrer Sozialisation in Organisationen in aktuelle Interaktionen. […] Der Berater wird in diese Szenen einbezogen, er kann dabei eine Zeitlang mitspielen und anschließend reflektieren, welche Rolle ihm zugedacht wird und wie er sie ausgefüllt hat; er kann dann gleichsam ein Drehbuch rekonstruieren, nach dem sich der Klient – v. a. in Stresssituationen – verhält, seine Rolle spielt und anderen unbewusst Rollen zuweist. (Giernalczyk, Lohmer & Albrecht 2013, S. 19)

Eine besondere Bedeutung hat in diesem Zusammenhang die Initialszene, also die erste Begegnung von Supervisor und dem zu beratenden System. Sie ist deshalb oft besonders aussagefähig, weil die Interaktionspartner noch keine Gelegenheit hatten, sich im persönlichen Kontakt aufeinander einzustellen und die Beteiligten somit eher ihren inneren Vorstellungen als den ausgetauschten Erwartungen des Gegenübers folgen (Schmidbauer 2002). Dabei steht der Supervisor nicht in Distanz zur Szene, sondern muss sich auf das „Spiel“ der Klienten einlassen. Die Supervisanden bringen abgewehrte Erlebnisse in die Szene ein. Aufgabe der Supervisoren ist es nun, die ursprüngliche Szene bewusst zu machen und zu rekonstruieren.

Das Modell des „Container-Contained“ nach Bion Ross A. Lazar (1994) hat das Modell des Container-Contained als psychoanalytische Leitidee in der Praxis der Supervision bezeichnet. Wilfred Bion (1897–1979) hat es in seinem Hauptwerk Lernen durch Erfahrung (1900) entworfen. Mit Container meint er den Prozess des Aufnehmens schwer erträglicher seelischer Inhalte durch den Psychoanalytiker, mit Contained das Verwandeln und in verträglichen Dosierungen Zurückspeisen dieser Affekte. Bezogen auf die Supervision bedeutet das, dass die Supervisanden mit Unverstandenem, Ängsten, Rollenunsicherheiten und ihrer Erschöpfung ankommen und zunächst Entlastung beim Supervisor suchen. Dessen negative capability (in Anlehnung an den literaturtheoretischen Begriff von John Keats) ist gefragt, um „aufzunehmen, ohne zu beurteilen, ohne zu erklären, ein mit dem Erlebten einfach Sein-können, indem man das Ungewisse, das Mysteriöse

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und das Zweifelhafte tolerieren kann, ohne dem ‚irritierten Greifen nach Tatsache und Begründung‘“ (Lazar 1994, S. 381; Übersetzung d.V.). Die aufnehmende Psyche der Supervisorin oder des Supervisors lässt sich durch das Nichtverstehbare, Frustrierende, Hineinprojizierte, Zweifelnde, Schmerzhafte und Bedürftige berühren. Sie kaut es gleichsam durch, um es in verdaulichen Portionen dosiert an die Supervisanden zurückzufüttern. Der Supervisor macht sich auf diese Weise zum „Nistplatz“ der unbewussten Phantasien der Institution, des Teams und des einzelnen Mitarbeiters. Mittels gleichschwebender Aufmerksamkeit transformiert er oder sie mit viel Geduld das Abgewehrte in einen Zustand der Sicherheit, wenn das Contained verstanden und zurückgegeben ist.

Die Analyse kollektiver Abwehrmechanismen Kollektive (oder psychosoziale) Abwehrmechanismen in Organisationen (vgl. Mentzos 1990) müssen zunächst wahrgenommen werden. Dazu gehören unter anderem die Externalisierung, die Dramatisierung, die Verschiebung, die Idealisierung, die Intellektualisierung, die Reaktionsbildung, die Verdrängung.

Externalisierung Zur Entlastung von Schuldgefühlen oder Verantwortung werden Ärgernisse auf andere Personen und/oder Situationen geschoben (die Patienten, die Politik, …).

Dramatisierung Durch Überemotionalisierung und Affektualisierung wird kognitive Einsicht verhindert. Sachliche Fragen werden zum Beispiel immer wieder durch Beziehungsfragen überlagert.

Verschiebung Wünsche, Erwartungen und Befürchtungen werden von einem Menschen auf den anderen verschoben. So erwarte ich zum Beispiel Fürsorge von meinem Chef, klage sie aber bei den Kollegen ein.

Idealisierung Das Selbst wird durch die Beziehung zu etwas Großartigem (z. B. eine tolle Supervisorin) aufgewertet. Dahinter verstecken sich oft destruktive Impulse der Entwertung.

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Intellektualisierung Emotionales wird formal, affektlos und kognitiv behandelt. Impulse und Affekte werden aus dem Kontext gelöscht.

Reaktionsbildung Impulse und Affekte werden in ihr Gegenteil verkehrt (Hass in Mitleid, Verschwendung in Geiz, Egozentrik in Altruismus).

Verdrängung Erinnerungen, Teile der Realität und Fantasien werden unbewusst gemacht. Sie sind weder sprachlich fassbar noch emotional zugänglich. Dennoch entfalten sie in der Organisation ihre Dynamik (z. B. drohende Insolvenz). In der Supervision gilt es, die spezifischen Abwehrkonstellationen zusammen mit dem zu beratenden System auf ihre Funktionalität hin zu überprüfen. So ist zum Beispiel die Affektisolierung einer Chirurgin bei der Operation einer Patientin sinnvoll, bei der Überbringung einer todbringenden Diagnose dagegen nicht. Die Supervision hat zum Ziel, Abwehrmechanismen abzumildern und rigide Formen aufzuweichen, um den Organisationsmitgliedern ein situativ angemessenes Verhalten zu ermöglichen. So kann es in manchen Situationen (z. B. in Krisen) sinnvoll sein, die Abwehr zu stabilisieren, in anderen aber, die Abwehr zu senken, um der Organisation eine Weitung ihrer Deutungs- und Handlungsmuster zu ermöglichen.

Widerstandsphänomene als Kommunikationsangebot Zu den Widerstandsphänomenen in Organisationen gehören zum Beispiel die hohe Fluktuation der Mitarbeiter, ein hoher Krankenstand, die innere Kündigung und ein Klima der Verweigerung. Sie können als Herausforderung angesehen werden, mit dem zu beratenden System den dahinterliegenden Ängsten auf den Grund zu gehen. Im Supervisionsprozess werden die Widerstandsphänomene für die Klienten erlebbar und können in Sprache übersetzt werden. Die beraterische Haltung sollte dabei die der Gelassenheit und Selbstverständlichkeit sein, da es keine Veränderung ohne Widerstand gibt. Changeprozesse ohne Widerstandsphänomene wären viel eher Anlass zur Beunruhigung, denn Veränderungen, die abgenickt und hingenommen werden, können keine Schubkraft entwickeln. Die Supervisoren und Supervisorinnen versuchen, die im Widerstand enthaltene Botschaft zu entschlüsseln und

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das hilflose „Nein“ in einen konstruktiven Dialog zu überführen. Bedenken und Ängste können wertvolle Korrekturen der Entwicklungsrichtung einer Organisation anzeigen und sollten daher als wertvolle Beiträge erachtet werden.

Der wertegetriebene Standpunkt der Supervisoren Psychodynamische Supervisorinnen und Supervisoren beziehen einen eigenen Standpunkt und verweigern sich beraterischer Beliebigkeit. Zu ihrer Arbeit gehört es, auch „unmoderne“ Themen aufzuwerfen, wie zum Beispiel die Humanisierung der Arbeitswelt, Leitbilder wie die reine Wettbewerbsorientierung zu hinterfragen und den emanzipatorischen Prozess aller Beteiligten anzustreben. Auch arbeitspolitische Fragen werden nicht außer Acht gelassen: untertarifliche Bezahlung, Überlastung der Mitarbeiter oder zu wenig Partizipation werden benannt und bearbeitet. Supervisorinnen und Supervisoren orientieren sich dabei an der Triangulierung, d. h., sie gehen weder mit den Vorgesetzten und Auftraggebern noch mit der Belegschaft ein Bündnis ein. Vielmehr gestalten sie einen Dialograum, in dem die Werte, die dem Handeln der Beteiligten unterliegen, ergebnisoffen diskutiert werden. Die unterschiedlichen Standpunkte der Akteure werden im Supervisionsprozess sichtbar gemacht, um Entscheidungen der Supervisanden vorzubereiten und ihr Handeln zu unterstützen.

Selbsterfahrungsprozesse psychodynamischer Supervisoren Um gut beraten zu können, braucht die Supervisorin die Reflexion ihrer eigenen organisationalen Sozialisation. Wie sieht ihr Verhältnis zu Macht und Einflussnahme aus? Was sind ihre vorbewussten Motive zur Berufswahl Supervisorin/Supervisor? (Stippler & Möller 2010) Oft sind es die eigenen Wünsche nach Partizipation an der Macht der Ratsuchenden, die Supervisoren auf der unbewussten Ebene zur Wahl ihres Berufes motivieren. Bei Verweigerung einer eigenen Führungsrolle entlehnen sie sich Dominanz über den Status ihrer Klienten (je höher in der Hierarchie, desto besser). Es geht nicht darum, diese Motive zu denunzieren, sondern darum, dass sie von den Supervisoren reflektiert werden müssen. Ebenso sieht es mit dem Verhältnis zur Organisation aus. Folgen wir Arnold Gehlen (2009), so ist eine Organisation in ihrer psychischen Funktion ein janusgesichtiges Geschöpf: Sie gibt Sicherheit und ist zugleich Bedrängnis. Oft besteht die Motivation, Supervisor zu werden, darin, der Bedrängnis zu entkommen. Wenn sie nicht bewusstseinsfähig gemacht wird, kann sich das auf die Supervisionsprozesse

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ungünstig auswirken. Um supervisorische Allparteilichkeit zu erreichen, muss der Supervisor seine eigene „Organisationsgeschichte“ mit allen Ambivalenzen ausreichend reflektiert haben. Er wäre sonst in der Gefahr, sich entweder mit den Mitarbeiterinnen oder den Führungskräften zu verbünden, und würde damit seine Wirkmächtigkeit verlieren. Damit Supervisoren beziehungsfähig sein und Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene nutzen können, müssen sie ihr Erleben und ihre automatisierte Reaktionsbereitschaft kennengelernt und ihre blinden Flecke minimiert haben.

Die Zukunft der Supervision Die Supervision hat sich als arbeitsweltbezogenes Beratungsformat etabliert. Seit 1989 gibt es mit der Deutschen Gesellschaft für Supervision (DGSv) einen eigenen Berufsverband, in dem mehr als 20 Ausbildungsinstitute organisiert sind. Die DGSv hat zudem Qualitätskriterien für die Ausbildung und die berufliche Praxis von Supervisorinnen und Supervisoren entwickelt. Auch aus den Feldern der psychosozialen Dienstleistungsunternehmen und dem Gesundheitswesen ist die Supervision nicht mehr wegzudenken. Weitere Felder sind zum Beispiel Seelsorge, Arbeitsämter, Schulen und andere Bildungseinrichtungen. In Wirtschaftsunternehmen ist Supervision noch nicht so stark verbreitet. Das könnte daran liegen, dass der Begriff vielen Entscheidungsträgern nichts sagt oder für sie eine „klinische“ Note hat. Coaching ist in diesem Feld der Begriff der Wahl, wenngleich oftmals supervisorische Arbeit geleistet wird.

Fazit Nach einem Abriss der Geschichte der Supervision wurde entwickelt, welche Referenztheorien heute notwendig sind, um Supervision gegenstandsangemessen anbieten zu können. Die typischen Themen und unterschiedlichen Settings der Supervision wurden skizziert und die berufspolitischen Bemühungen gezeigt, diesen am weitesten verbreiteten Beratungsansatz stärker zu etablieren. Neben den allgemeinen Ausführungen zur Supervision wurden die Wurzeln eines speziellen methodischen Vorgehens der psychoanalytischen Supervision, die Balintarbeit und das Modell des Container-Contained erläutert. Die Methodik der psychodynamischen Supervision und das technische Vorgehen wurden beschrieben. Moderne

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Supervisionskonzeptionen, die das Individuum, das Team und die Organisation gleichermaßen im Blick haben, wurden dargestellt.

Verständnisfragen

▶ Was sind wichtige Referenztheorien der Supervision? ▶ Was unterscheidet Supervision von psychotherapeutischer Intervention? ▶ Was ist der Unterschied zwischen Gruppen- und Teamsupervision? ▶ Was ist das Spezifikum psychoanalytischer Supervision? Was macht sie besonders und grenzt sie von anderen Ansätzen ab?

Literatur Balint, M. (1957). Der Arzt, sein Patient und die Krankheit. Stuttgart: Klett-Cotta. Belardi, N. (1994). Supervision. Von der Praxisberatung zur Organisationsentwicklung. Paderborn: Junfermann. Bion, W.R. (1990). Lernen durch Erfahrung. Frankfurt am Main: Suhrkamp DGSv (Hrsg.) (2012). Supervision ein Beitrag zur Qualifizierung beruflicher Arbeit. Köln: Selbstverlag. Fürstenau, P. (2007). Psychoanalytisch verstehen – Systemisch denken – Suggestiv intervenieren. München: Pfeiffer. Gehlen, A. (2009). Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Wiebelsheim: Aula. Giernalczyk, Th., Lohmer, M. & Albrecht, C. (2013). Psychodynamische Zugänge zur Coachingdiagnostik. In H. Möller & S. Kotte (Hrsg.), Diagnostik im Coaching (S. 18–31). Berlin: Springer. Giesecke, M. & Rappe-Giesecke, K. (1997). Supervision als Medium kommunikativer Sozialforschung. Die Integration von Selbsterfahrung und distanzierter Beobachtung in Beratung und Wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Lang von Wins, T. & Triebel, C. (2012). Karriereberatung. Berlin: Springer. Lazar, R.A. (1994). W.R. Bions Modell „Container-Contained“ als eine (psychoanalytische) Leitidee in der Supervision. In H. Pühl (Hrsg.), Handbuch der Supervision II (S. 380–402). Berlin: Edition Marhold. Lorenzer, A., Prokop, U. & Görlich, B. (Hrsg.) (2006). Szenisches Verstehen. Zur Erkenntnis des Unbewussten. Marburg: Tectum. Mentzos, St. (1990). Interpersonale und institutionelle Abwehr. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Möller, H. & Hausinger, B. (Hrsg.) (2009). Quo vadis Beratungswissenschaft? Wiesbaden: VS. Möller, H. (2010). Beratung in der ratlosen Arbeitswelt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Möller, H. (2012). Was ist gute Supervision? Kassel: Kassel UP.

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Petzold, H., Rodriguez-Petzold, F. & Sieper, J. (1997). Supervisorische Kultur und Transversalität. Grundkonzepte Integrativer Supervision Teil II. Integrative Therapie (4), 472–511. Pühl, H. (Hrsg.) (2009). Handbuch Supervision und Organisationsentwicklung. Wiesbaden: VS. Racker, H. (2002). Übertragung und Gegenübertragung. Studien zur psychoanalytischen Technik. München: Reinhardt. Rappe-Giesecke, K. (2003). Supervision. Gruppen- und Teamsupervision in Theorie und Praxis. Berlin: Springer. Rappe-Giesecke, K. (2008). Triadische Karriereberatung. Die Begleitung von Professionals, Führungskräften und Selbständigen. Bergisch-Gladbach:
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Weiterführende Literatur Berlardi, N. (2002). Supervision. Grundlagen, Techniken, Perspektiven. München: Beck. Brandau, H. & Schüers, W. (2009). Spiel- und Übungsbuch zur Supervision. Salzburg: Müller. Buer, F. (Hrsg.) (2004). Praxis der Psychodramatischen Supervision: Ein Handbuch. Wiesbaden: VS. Fatzer, G. (Hrsg.) (2003). Supervision und Beratung: Ein Handbuch. Bergisch-Gladbach: Edition Humanistische Psychologie. Neumann-Wirsig, H. (Hrsg.) (2009). Supervisions-Tools: Die Methodenvielfalt der Supervision in 55 Beiträgen renommierter Supervisorinnen und Supervisoren. Bonn: managerSeminare. Nestmann, F. (2004). Handbuch der Beratung, Bd. I & II. Tübingen: DGVT. Edding, K. & Schattenhofer, K. (2012). Einführung in die Teamarbeit. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme. Schlippe, A. von & Schweitzer, J. (2007). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung (10. Aufl). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Weigand, W. (2012). Philosophie und Handwerk der Supervision. Gießen: Psychosozial.

Organisationspsychologie Ralph Sichler

Zusammenfassung

Im Beitrag wird ein Überblick über den Gegenstand und Inhalte der Organisationspsychologie als Anwendungsfach der Sozialpsychologie gegeben. Gegenüber in letzter Zeit vorgenommenen Erweiterungen wird hier ein Verständnis der Organisationspsychologie entwickelt, welches in erster Linie an der Interaktion der Akteure in Organisationen ansetzt. Nach der Klärung des Begriffs der Organisation aus unterschiedlichen theoretischen Blickwinkeln werden wesentliche Etappen der Geschichte und damit im Zusammenhang stehende Paradigmen der Organisationspsychologie sowie die gegenwärtig bearbeiteten Forschungsund Praxisfelder vorgestellt. Etwas mehr Aufmerksamkeit wird der Kultur und dem Unbewussten in Organisationen geschenkt. Mit einem Ausblick auf gegenwärtig sich entwickelnde Arbeitsbereiche der Organisationspsychologie und einem Fazit schließt der Beitrag.

Gegenstand der Organisationspsychologie Die Organisationspsychologie wird als „Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen in Organisationen“ (Rosenstiel & Nerdinger 2011, S. 5) definiert. Damit wird der anerkannte Gegenstand psychologischer Theoriebildung, Forschung und Praxis – nämlich menschliches Verhalten (oder Handeln) und Erleben – auf den Bereich der Organisationen in Wirtschaft, Verwaltung und Politik bezogen. Die Organisationspsychologie beschäftigt sich daher mit Kognitionen und Emotionen von Menschen in Organisationen, persönlichen Einstellungen und Motivationslagen als Teil des sozialen Handelns in Organisationen, individuellen Unterschieden © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_12

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und der Entwicklung von Menschen in Organisationen sowie dem Verhalten und Interaktionen in sozialen Verbänden (Gruppen, Teams, Projekte) innerhalb von Organisationen. Die Bezeichnung Organisationspsychologie hat sich in Deutschland in den 1970er-Jahren durchgesetzt. Nachdem der Terminus „organizational psychology“ in den USA schon in den 1960er-Jahren eingeführt worden war (z. B. Schein 1965), erschien 1972 das erste deutschsprachige Lehrbuch mit dem Titel Organisationspsychologie von Rosenstiel, Molt und Rüttinger (1972/2005). Die neue Bezeichnung löste den bis dahin üblichen Terminus „Betriebspsychologie“ ab. Die Abgrenzung zu verwandten Disziplinen innerhalb der Psychologie (z. B. zur Arbeits- oder Personalpsychologie, vgl. Kals & Gallenmüller-Roschmann 2011, S. 15f.) fällt meist schwer und wird nicht einheitlich gehandhabt. Für die Zwecke dieses Beitrages soll der Fokus auf der Organisationspsychologie im engeren Sinn liegen. Während die Arbeits- und Personalpsychologie die individuelle Beziehung des Menschen zur Arbeit und seine berufliche Kompetenz ins Zentrum stellen, ist die Organisationspsychologie als Sozialpsychologie der Organisation in erster Linie auf die Interaktion zwischen Menschen im Kontext von organisierter Arbeit gerichtet.

Der Begriff der Organisation Organisation ist ein abstrakter Begriff. Er bezieht sich nicht auf ein unmittelbar wahrnehmbares Phänomen, sondern auf ein Netz von verschiedenen relevanten Begriffen wie beispielsweise Ziel, Aufgabe, Handeln, Interaktion, Struktur oder Prozess. Die Bestimmung dessen, was Organisation genannt wird, fällt in der Literatur sehr unterschiedlich aus. Morgan (1997) hat verschiedene Vorstellungen von Organisationen mit bestimmten Bildern („Metaphern“) in Verbindung gebracht und acht Organisationsbilder herausgearbeitet, von denen die Maschinen-, die Organismus-, die Kultur- und die Gefängnismetapher (Organisationen als psychisches Gefängnis) am bekanntesten sind. Von Wiendieck (1994) stammt der Versuch, das Verständnis von Organisationen nach formalen Kriterien zu differenzieren. Ihm zufolge können Organisationen als Institution, als Instrument oder als Interaktion verstanden werden. Im Sinne von Institution werden sie als sozial und materiell konstruierte Gebilde betrachtet. Mit dem institutionellen Organisationsbegriff wird das Greif- und Sichtbare an Organisationen (z. B. Gebäude, Maschinen, Untergliederungen in Abteilungen), aber auch ihr korporativer Charakter (Organisationen als soziale Akteure) zum Ausdruck gebracht.

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Der instrumentelle Charakter von Organisationen wird vor allem an den Mitteln erkennbar, mit denen versucht wird, das Verhalten der Organisationsmitglieder auf die Ziele der Organisation auszurichten, beispielsweise an Plänen, Verträgen, Anweisungen, Vorschriften, Ge- und Verboten. Eine weitverbreitete Definition von Organisation gehört in diesen Kontext: Danach wird eine Organisation als ein überdauerndes, der Umwelt gegenüber offenes System verstanden, das spezifische Ziele verfolgt. Es setzt sich als soziales Gebilde aus Individuen bzw. Gruppen zusammen und weist eine bestimmte Struktur auf (z. B. Verteilung von Arbeit und Verantwortung; Rosenstiel, Molt & Rüttinger 1972/2005, S. 25). Bei der Interaktion schließlich stehen weniger die Ergebnisse, Zwecke und Mittel organisationalen Handelns, sondern stärker die zugrunde liegenden Prozesse des Organisierens im Zentrum der Betrachtung. Wenn etwas organisiert wird, werden Handlungsabläufe so miteinander verknüpft, dass ein vernünftiges, sozial verständliches und akzeptables Ergebnis erzielt wird (vgl. Weick 1985). Ein wesentlicher Aspekt ist die damit verbundene Herstellung von Sinn („sensemaking“, vgl. Weick 1995). Dabei wird erst in der Organisation entschieden, was als real anerkannt wird und was nicht. Der im Alltag gewöhnlich für selbstverständlich gehaltene Satz „Ich werde es glauben, wenn ich es sehe“ wird so auf den Kopf gestellt: „Ich werde es sehen, wenn ich es glaube.“ Eine weitere Variante, Organisationen als Interaktionsgeschehen zu verstehen, ergibt sich aus der systemtheoretischen Perspektive. Danach sind Organisationen soziale Systeme (Luhmann 1984), die sich durch Kommunikation konstituieren. Die Mitglieder der Organisation tragen zwar dazu bei, dass sich Organisationen bilden können, sind aber selbst kein Teil von ihnen. Vielmehr entsteht eine Organisation dann, wenn durch Kommunikation über Zwecke, Mitglieder und Hierarchien der Organisation autonom entschieden wird (vgl. Kühl 2011). Organisationen bilden und reproduzieren sich also durch autopoietische Prozesse der Kommunikation über Entscheidungen. Aus dieser (unvollständigen) Übersicht wird bereits ersichtlich, dass alle definitorischen Bestimmungen des Organisationsbegriffs theoretisch vorgeprägt sind. Das Interaktionsparadigma erscheint für sozialpsychologische Fragestellungen besonders aufschlussreich. Doch auch die Sichtweise, eine Organisation als Instrument zur Bedürfnisbefriedigung zu begreifen, besitzt eine psychologische Dimension. Die psychologische Bedeutung des institutionellen Charakters von Organisationen und der damit verbundenen materiellen Kultur erschließt sich vor allem im Rahmen tiefenpsychologischer Analysen (siehe S. 164 in diesem Band).

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Die Geschichte der Organisationspsychologie Die Geschichte der Organisationspsychologie ist eng mit der gesellschaftlichen, teils auch politischen Entwicklung der Industrieländer verbunden. Lässt man die Vorläufer der im weiten Sinn methodischen Auseinandersetzung mit (politischen) Organisationen außer Acht (z. B. Platon: Der Staat, Hobbes: Leviathan), liegt der Ursprung der heutigen Organisationspsychologie am Beginn des 20. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit hatte sich die Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung in Europa und in den USA so weit entwickelt, dass eine sozialwissenschaftliche und psychologische Auseinandersetzung mit Rationalisierungsbestrebungen einerseits, aber auch mit den vielfältigen Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft andererseits unumgänglich erschien. Seit Schein (1965) gliedern etliche Autoren die Geschichte der Organisationspsychologie in vier Phasen, die durch unterschiedliche Annahmen über den Gegenstand „Organisation“, aber auch durch unterschiedliche Menschenbilder gekennzeichnet sind (z. B. Kirchler 2011; vgl. Tab. 1). Aus der Beschäftigung mit der historischen Entwicklung des organisationspsychologischen Denkens und Forschens werden das Selbstverständnis und die großen, oft bis auf den heutigen Tag bestimmenden Traditionen des Faches erkennbar. Hier kann nur kurz auf die bedeutendsten Strömungen dieser Entwicklung eingegangen werden. Tab. 1

Entwicklungsphasen der Organisationspsychologie

Menschenbild economic man (ca. 1900–1920)

Grundkonzepte Taylorismus, Fordismus, Bürokratiemodell, Psychotechnik

human social relations, man (ca. 1920–1950) Organisation als offenes System

Organisationsverständnis technisches System (Maschinenmodell)

soziales System (Organismusmodell)

Gestaltungsansätze rationale Arbeitsanalyse, Trennung von Kopfund Handarbeit

Basiswerke

Taylor (1911): Principles of Scientific Management Münsterberg (1912): Psychologie und Wirtschaftsleben Weber (1922): Wirtschaft und Gesellschaft Betriebsklima, Mayo (1933): The Human Problems of Industrial Teamarbeit, mitarbeiter­ Civilisation Roethlisberger/Dickson bezogene (1939): Management Führung and the Worker

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self-actualizing man (ca. 1950–1980)

human resources, soziotechnischer Systemansatz

soziotechnisches System (Primär- und Sekundäraufgaben)

Humanisierung der Arbeit, Job­ enrichment, Organisationsentwicklung

complex man (ca. 1980– heute)

Kontingenztheorien, Individua­ lisierung, Arbeitskraftunternehmer

individualisiertes soziotechnisches System (KulturModell)

Organisa­ tionskultur, Organisa­ tionales Lernen, Individua­ lisierung

Herzberg/Mausner/ Snyderman (1959): The Motivation to Work McGregor (1960): The Human Side of Enterprise Trist/Higgin/Murray/ Pollock (1963): Organizational Choice Argyris/Schön (1978): Organizational Learning Schein (1985): Organizational Culture and Leadership

Die erste Phase ist vor allem durch Rationalisierungsbestrebungen in der Führung und Steuerung von Organisationen gekennzeichnet. Von großer Bedeutung sind die Arbeiten von Frederick W. Taylor (1856–1915), dessen Zeit- und Bewegungsstudien zu einer wissenschaftlichen Betriebsführung das Management und die Organisationsgestaltung bis auf den heutigen Tag maßgeblich prägen (Taylorismus). Durch die Zergliederung der in einer Organisation anfallenden Arbeitsaufgaben in einzelne, elementare Arbeitsschritte soll der betriebliche Aufwand minimiert und der ökonomische Ertrag maximiert werden. Dazu bedarf es einer strikten Trennung zwischen Kopf- (Management: Planungs- und Überwachungstätigkeiten) und Handarbeit (Belegschaft: ausführende Tätigkeiten). Wie Taylor verfolgte auch Max Weber (1864–1920) ein Rationalisierungsziel, als er das Modell bürokratischen Handelns entwickelte. Und Hugo Münsterberg (1863–1916), einer der Gründerväter der Angewandten Psychologie, beabsichtigte, das damalige psychologische Wissen und die darin begründete Methodologie (Psychotechnik) für Fragestellungen insbesondere der Wirtschaft nutzbar zu machen (z. B. Personalauswahlverfahren). Die genannten Ansätze teilen im Wesentlichen dasselbe Organisationsverständnis und das damit einhergehende Menschenbild. Organisationen werden als Maschinen verstanden. Sie erfüllen ihren Zweck umso besser, je mehr die Maschinenteile aufeinander abgestimmt sind und mit je weniger Fehlern sie funktionieren. Die Menschen der Organisation müssen in dieses Gefüge optimal eingepasst werden. Dabei ging man davon aus, dass der Mensch als träges, Aufwand minimierendes und Nutzen maximierendes Wesen (homo oeconomicus) am besten durch materielle Anreize zu motivieren sei. Eigeninitiative und soziale Unterstützung in der Belegschaft werden nicht erkannt oder, falls sie sich in der Praxis zeigen sollten, im Keim erstickt.

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Die zweite Phase ist als eine Reaktion auf die verengte Perspektive des Taylorismus zu bewerten. Das neue Verständnis des Menschen in Organisationen wurde durch die Hawthorne-Studien mitausgelöst, die von 1927 bis 1932 in den Hawthorne-Werken der Western Electric Company (Chicago, USA) durchgeführt wurden (vgl. Gillespie 1993). Ziel der Studien war es, den Einfluss von Umweltbedingungen auf das Arbeitsverhalten der (vorwiegend weiblichen) Belegschaft zu ermitteln. Die Ergebnisse irritierten zunächst, denn die Leistung verbesserte sich bei fast jeder Veränderung der Arbeitsbedingungen (z. B. Intensivierung, aber auch deutliche Reduzierung der Beleuchtung). Erstmals erklärte man die Resultate durch soziale Größen, etwa durch die Gespräche zwischen den Versuchsleitern und den Arbeiterinnen oder durch die Anerkennung der gezeigten Leistung schlicht durch Anwesenheit und Interesse. So wurde erkannt, welch große Bedeutung (informalen) sozialen Beziehungen in Arbeitsorganisationen zukommt. Allerdings wird auch scharfe Kritik an diesen Studien geübt. Man konnte zeigen (vgl. McIlvaine Parsons 1974), dass die methodische Durchführung nicht den heute anerkannten Standards entsprach und ein großer Teil der Ergebnisse mit manipulativen Taktiken gewonnen wurde. Gleichwohl leiteten sie eine paradigmatische Wende in der Geschichte der Organisationspsychologie ein. Die Zeit war reif für die Einsicht, dass der Mensch ein soziales Wesen (social man) ist. Damit rückten Arbeitsgruppen sowie das Verhältnis der Organisationsmitglieder zu den Vorgesetzten ins Zentrum der Betrachtung. Zwischenmenschliche Beziehungen wurden als wichtiger Faktor für die Erhöhung der Arbeitsleistung erkannt. Im Rahmen der daraus hervorgegangenen Human-Relations-Bewegung ging es um die Verbesserung des Klimas und des sozialen Zusammenhalts in Organisationen, was wiederum zur Überwindung des Maschinenmodells führte. Die leitende Metapher für das Verständnis von Organisationen wird nun der Organismus (Organisationen als lebende Gebilde). In der dritten Phase steht der Mensch in seiner Beziehung zur Arbeit im Zentrum. Die tayloristische Arbeitsorganisation war aufgrund der Entdeckung des social man noch nicht überwunden, doch die Unternehmen erkannten ab Mitte des 20. Jahrhunderts, dass die Arbeitsmotivation einer der entscheidenden Schlüssel zum wirtschaftlichen Erfolg ist. Zeitgleich entwickelte die psychologische Forschung ein neues Verständnis der menschlichen Motivation. Vor allem in den USA setzte sich die Humanistische Psychologie kritisch mit den bis dahin bestimmenden Paradigmen der Psychoanalyse und des Behaviorismus auseinander und entwickelte daraus ein neues Menschenbild. Danach wird der Mensch als aktives, zielorientiertes, Verantwortung übernehmendes und nach Selbstverwirklichung strebendes Wesen verstanden (self-actualizing man). Dieses Menschenbild fand rasch Eingang in organisationspsychologische Konzepte. Bis heute haben die Studien von Frederick Herzberg (1923–2000) und Mitarbeitern zur Arbeitszufriedenheit große Bedeu-

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tung (vgl. Stello 2011). Aus einer Befragung zu Arbeitsbedingungen entwickelte die Forschungsgruppe ein Zwei-Faktoren-Modell, das zwischen Unzufriedenheit vermeidenden Hygienefaktoren (z. B. Arbeitsklima) und Zufriedenheit auslösenden Motivatoren (z. B. Erfolg) unterscheidet. Der von Douglas McGregor (1906–1964) erarbeitete Ansatz differenziert zwischen zwei grundlegend verschiedenen Menschenbildern, die das Handeln insbesondere der Führungskräfte in Organisationen nachhaltig beeinflussen (McGregor 1960). Das eine Menschenbild (Theorie X) geht davon aus, dass der Mensch von Natur aus eine Abneigung gegen Arbeit hat und ihr möglichst aus dem Weg geht; vielmehr strebt er nach Sicherheit und scheut die Verantwortung. Nach dem gegenläufigen Bild (Theorie Y) besitzt Arbeit für den Menschen einen hohen intrinsischen Wert; er sucht seine Potenziale zu realisieren und erlebt Befriedigung, wenn Ziele erreicht werden; ferner übernimmt er gern Verantwortung und strebt in der Arbeit nach Selbstverwirklichung. McGregor zeigt, dass in Abhängigkeit vom Menschenbild, das beim Management einer Organisation vorherrscht, unterschiedliche Praktiken verfolgt werden, die es im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung noch verstärken. Innerhalb dieses Paradigmas entsteht der neue Human-Resources-Ansatz, welcher über den Human-Relations-Ansatz hinausgeht: In Organisationen arbeitet der Mensch an einer Primäraufgabe, die sich aus den Zielen der Organisation ableitet; zusätzlich sind technische und soziale Rahmenbedingungen für die Erledigung der Arbeitsaufgabe entscheidend. Diese Aspekte fließen im sogenannten soziotechnischen System zusammen. Dabei wird der Mensch als soziales Wesen gesehen, das in der Arbeit auch das Gefühl sucht, etwas Sinnvolles zu schaffen. Durch Kommunikation und Partizipation können Vorgesetzte den Handlungs- und Entscheidungsspielraum ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erweitern, was wiederum deren intrinsische Motivation erhöht. Viele der bis heute praktizierten Gestaltungskonzepte (Jobrotation, Jobenlargement, vor allem aber Jobenrichment, das mit stärkerer Delegation von Autonomie und Verantwortung einhergeht) entsprechen dem Human-Resources- oder soziotechnischen Systemansatz. Auch die in den 1970er-Jahren in Deutschland in die Wege geleitete „Humanisierung der Arbeitswelt“ gründet in der Idee, Arbeit in Organisationen menschengerecht zu gestalten. Die bislang vorgestellten Phasen der Entwicklung der Organisationspsychologie haben gemeinsam, dass sie jeweils von einem klar akzentuierten Menschenbild ausgehen. Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft hat jedoch gezeigt, dass solche einheitlich gedachten Menschenbilder sehr starke Vereinfachungen sind. Sie vernachlässigen die Besonderheit des Individuums, dessen Bedeutung in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen ist, was vor allem an der Karriere des Begriffs „Individualisierung“ abgelesen werden kann. Auch die Welt der Arbeitsorganisationen ist eine Arena der Individualisierung geworden. Wir finden dort

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vielfältige, intra- und interindividuell variierte Bedürfnislagen und Motive, welche sich zu verschiedenartigen, in ihrer Diversität kaum mehr überschaubaren Orientierungen und Work-Life-Konstellationen verdichten. Durch die Komplexität von Arbeits- und Lebenssituationen, Organisationen und psychologisch bestimmbaren individuellen Merkmalen wird das Menschenbild, welches der vierten, gegenwärtig noch andauernden Phase der Entwicklung der Organisationspsychologie zugrunde liegt, complex man genannt: Es will die verschiedenen Aspekte des economic, social und self-actualizing man integrieren. Im Zentrum der aktuellen Entwicklung der Organisationspsychologie stehen Konzepte, welche der Besonderheit und Diversität von Organisationen und den dort arbeitenden Menschen gerecht zu werden versuchen. In Organisationstheorien wird der Anspruch, den „one best way“ des Organisierens von Arbeit zu kennen und zu legitimieren, aufgegeben. Beispielsweise werden in den Kontingenztheorien der Organisation vielfältige Einflussgrößen aus der Umwelt und der Organisation selbst berücksichtigt, um den Zusammenhang zwischen Organisationsmerkmalen und der Organisationsleistung besser zu verstehen (vgl. Kirchler, Meier-Pesti & Hofmann 2011, S. 129ff.). Dem entspricht auf der Seite des Individuums das Bild vom Menschen, der immer stärker als unternehmerisch tätig gesehen wird. Die Autonomie, die ja ursprünglich ein Regulativ für die Arbeitsgestaltung und Organisationsentwicklung sein sollte, wird zur basalen Anforderung für erfolgreiches Selbst-Management in Arbeit und Leben (vgl. Sichler 2006). Die im Idealfall durch die Organisation zugesicherte Beschäftigungsgarantie weicht der Beschäftigungsfähigkeit (employability) der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in zunehmend prekären Beschäftigungsverhältnissen zu Unternehmern ihrer Arbeitskraft werden (vgl. Voß & Pongratz 1998) oder zu Unternehmern im Unternehmen (Intrapreneurship). Die skizzierten Entwicklungen sind also ambivalent: Einerseits stellen sie die Menschen in Arbeitsorganisationen vor große Herausforderungen, bieten andererseits aber auch neue Chancen zur Gestaltung der Zusammenarbeit in zunehmend netzwerkartigen Organisationsstrukturen (siehe S. 165 in diesem Band).

Felder der Organisationspsychologie Die gegenwärtigen Forschungs- und Praxisfelder der Organisationspsychologie lassen sich – sieht man vom arbeitspsychologischen Themenkomplex Arbeit ab (siehe S. 154 in diesem Band) – drei Ebenen zuordnen (vgl. z. B. Rosenstiel & Nerdinger 2011): Individuum, Interaktion und Organisation.

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Auf der Ebene des Individuums werden vor allem Fragestellungen des Personalmanagements (z. B. Personalmarketing, -auswahl und -entwicklung, Leistungsbeurteilung, berufliche und organisationale Sozialisation) aus psychologischer Sicht bearbeitet. Manchmal wird zu dieser Ebene auch das Themenfeld Arbeit hinzugerechnet (vgl. Kals & Gallenmüller-Roschmann 2011). Die Ebene der Interaktion umfasst alle Beziehungsformen in Organisationen. Beziehungen zwischen Organisationsmitgliedern auf gleicher Hierarchieebene umfassen die Zusammenarbeit sowie die Gruppen- oder Teamarbeit. Beziehungen, die mindestens zwei Hierarchieebenen betreffen, sind in der Regel Führungsdyaden. Im Rahmen der genannten Beziehungen zwischen den Rollenträgern in Organisationen werden außerdem verschiedene Aspekte näher beleuchtet. Dazu zählen etwa die Kommunikation, einschließlich der interkulturellen Kommunikation, extraproduktives Gruppenverhalten (z. B. organizational citizenship behavior), das Treffen von Entscheidungen und die Handhabung von Konflikten. Auf der Ebene der Organisation werden das Individuum und die Interaktion übergreifende Phänomene wie das Organisationsklima, die Organisationskultur (siehe S. 161 in diesem Band) und das organisationale Lernen thematisiert. In methodischer Hinsicht ist die Organisationsanalyse (oder Organisationsdiagnostik, vgl. Felfe & Liepmann 2008) eine besondere Herausforderung, da aus individuellen qualitativen Aussagen aus Interviews oder quantitativen Daten aus Frage- oder Beobachtungsbögen ein Schluss auf wesentliche Inhalte und Dimensionen der Organisation als Ganzes oder wesentlicher Organisationsbereiche gezogen werden muss. In der Praxis, vor allem in der Organisationsberatung, spielt die Organisationsentwicklung eine entscheidende Rolle (vgl. Schiersmann & Thiel 2011).

Organisationskultur Analysen von Unternehmensberatern (z. B. Peters & Waterman 1982) führten Anfang der 1980er-Jahre zu einem neuen Organisationsverständnis. Ausgangs­ situation war, dass Unternehmen mit vergleichbaren Strategien und Strukturen sehr unterschiedliche Erfolge erzielten. Das führte man auf verschiedenartige Denkstile, Werte und soziale Praktiken zurück, die im Begriff der Unternehmens- oder Organisationskultur verdichtet wurden. Trotz erster Erkenntnisse und neuer Praktiken im Management (etwa das 7-S-Modell von Peters & Waterman 1982) gab es erst mit den Arbeiten von Edgar Schein einen Ansatz, welcher der Tragweite und Tiefe der neuen Sicht auf Organisationen gerecht wurde. Seine Definition der Organisationskultur greift wesentliche Inhalte und Dimensionen der Kulturanthropologie auf

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(z . B . geteilte Werte, Muster erfolgreichen Handelns, Spielregeln, Gruppennormen) und bezieht sie auf Organisationen . So nennt Schein eine Organisationskultur ein Muster gemeinsam geteilter, grundlegender Annahmen, die von einer Gruppe bei der Lösung von Problemen der Anpassung an die Umwelt sowie der Integration ihrer Mitglieder gelernt wurden, die sich als hinreichend erfolgreich bei der Lösung dieser Probleme erwiesen haben und neuen Mitgliedern als die richtige Art und Weise des Wahrnehmens, Denkens und Fühlens bei der Bearbeitung solcher Probleme gelehrt wird . (Schein 2004, S . 17, Ü . v . A .)

Zum besseren Verständnis und zur Analyse von Organisationskulturen entwickelte Schein ein Modell des Aufbaus der Kultur einer Organisation . Er geht dabei von drei sich wechselseitig beeinflussenden Ebenen aus (vgl . Abb . 1) .

Artefakte

öffentlich propagierte Werte grundlegende unausgesprochene Annahmen

Abb. 1

Symbolsysteme,  Handlungsergebnisse,   Organisationsstrukturen  und  -­‐prozesse   (schwer  zu  entschlüsseln)

Strategien,  Ziele,  Philosophien   (propagierte  Rechtfertigungen)

unbewusste,  selbstverständlich  geteilte   Überzeugungen,  Wahrnehmungen,   Gedanken  und  Gefühle  (Quelle  der  Werte   und  des  Handelns)

Die Ebenen der Organisationskultur nach Schein (2004, S . 26)

Den Kern einer Organisationskultur bilden die sogenannten Grundannahmen . Sie sind den Organisationsmitgliedern in der Regel nicht bewusst, wirken sich aber auf die darüberliegenden Ebenen sowie auf das konkrete Denken, Fühlen und Handeln der Organisationsmitglieder maßgeblich aus . Grundannahmen sind unhinterfragte Selbstverständlichkeiten . Sie entfalten eine verhaltenskanalisierende Wirkung, welche die gesamte Organisation durchzieht . In Anlehnung an Schein (2004) können sechs elementare Kategorien von Grundannahmen unterschieden werden (vgl . Behrends 2003, S . 253):

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1. Vorstellungen über das Wesen von Wirklichkeit und Wahrheit 2. Vorstellungen über das Wesen der Zeit 3. Vorstellungen über das Wesen der Umwelt 4. Vorstellungen über das Wesen des Menschen 5. Vorstellungen über das Wesen menschlicher Handlungen 6. Vorstellungen über das Wesen menschlicher Beziehungen Die ersten drei Kategorien betreffen vor allem Grundannahmen, die sich auf den Umgang der Organisation mit ihrer Umwelt beziehen: Welches Bild von der Realität entwickelt die Organisation? Was wird aufgrund von Autorität, Expertise oder Methode als wahr anerkannt? Welchen Stellenwert hat die Ressource Zeit? Wird die Umwelt als bedrohlich angesehen? Die zweite Hälfte der Kategorien betrifft dagegen das Innenleben der Organisation, somit deren Fähigkeit zur Integration ihrer Mitglieder: Welches Menschenbild bestimmt die Wahrnehmung der Organisationsmitglieder (Theorie X, Theorie Y, siehe S. 159 in diesem Band)? Wird menschliches Handeln als aktiv und internal oder als passiv und external kontrolliert verstanden? Sind menschliche Beziehungen vor allem auf Kooperation oder auf Konkurrenz angelegt? Auf der mittleren Ebene finden sich die öffentlich propagierten Werte, Ziele und Strategien der Organisation. Sie sind den Mitgliedern der Organisation nur zum Teil bewusst. Denn hinter proklamierten Überzeugungen (z. B. eine mitarbeiter­ orientierte Führungsphilosophie auf der Homepage) verbergen sich oft Denkmuster, Normen und Regeln, die faktisch das Leben in der Organisation prägen (z. B. ein autoritärer, hierarchischer Führungsstil). Werte, Ziele und Strategien schlagen sich nieder in konkreten Symbolen, Handlungen und Artefakten, der oberen Ebene des Modells. Dort finden sich solche sichtbaren Phänomene wie Kleidung, Gestaltung der Büroräume, Regelungen zur Arbeitszeit (z. B. Präsentismus), Grußregeln, Praxis der Gestaltung von Meetings (Wer leitet sie wie häufig und wer kann sich in welcher Form beteiligen?), Rituale (z. B. Betriebsweihnachtsfeier), Witze oder Anekdoten. Wichtig dabei ist, dass die sichtbare Seite der Organisationskultur zwar leicht zugänglich, aber in hohem Maße interpretationsbedürftig ist. Ein strenges Zeitmanagement bei Meetings kann durch einen autoritären Führungsstil bedingt sein, aber genauso durch eine von allen Organisationsmitgliedern geteilte Philosophie („Zeit ist Geld“). Unternehmen mit einer starken Organisationskultur, welche durch prägnante, breit geteilte und tief verankerte Grundwerte gekennzeichnet ist, besitzen ein höheres Erfolgspotenzial. Sie geben Orientierung, vereinfachen Kontrolle, erleichtern Kommunikation und Entscheidungen und fördern Motivation und Teamgeist. Dennoch können sie dazu tendieren, sich auf traditionelle Erfolgsmuster zu fixieren

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und sich Innovationen zu verschließen. Einen Wandel ihrer Kultur einzuleiten und umzusetzen, fällt ihnen oft schwer (vgl. Schreyögg 2008, S. 376ff.). Solche nachteiligen Effekte können verringert werden, wenn sich Unternehmen als lernende Organisationen verstehen und eine entsprechende Lern- und Veränderungskultur entwickeln (Argyris & Schön 2008; Senge 2011).

Das Unbewusste in Organisationen Menschen nehmen in Organisationen Aufgaben wahr, deren Erfüllung zur Erreichung der Organisationsziele beiträgt. Diese Anforderung ist in der Regel mit der Übernahme einer Rolle verbunden – Organisationsmitglieder sind also Rollenträger. Rollen sind wiederum an Erwartungen geknüpft, die das Umfeld (z. B. Vorgesetzte, Kollegen, Kunden) an den Rolleninhaber oder die Rolleninhaberin heranträgt. Solche Erwartungen sowie die damit einhergehenden Kognitionen und Emotionen sind den Beteiligten oft nicht bewusst, beispielsweise wenn Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von ihren Vorgesetzten (unbewusst) erwarten, dass sie für alle Probleme Lösungen bieten. Aus dem Netz dieser Erwartungen, die die Organisationsmitglieder wechselseitig an sich herantragen, sowie den daraus entstandenen unbewussten kollektiven Frustrationen und Ängsten entsteht das Unbewusste einer Organisation (vgl. Obholzer & Roberts 1994). Organisationen entwickeln so ähnlich wie Individuen einen Charakter. Am Beispiel der Metapher des psychischen Gefängnisses (siehe S. 154 in diesem Band) lassen unbewusste, von allen geteilte Grundwerte, aber auch Strukturen und Prozesse der Organisation den Mitgliedern nur einen geringen Denk-, Handlungs- und Entscheidungsspielraum. Die Organisationsmitglieder fühlen sich wie in einem Gefängnis und agieren entsprechend. Gezielte Forschung und Beratung zu den unbewussten Prozessen in Organisationen ging vom 1947 gegründeten Tavistock Institute of Human Relations in London aus (vgl. Trist & Murray 1990). Auf Basis des Human-Relations-Ansatzes (siehe S. 158 in diesem Band) beschäftigten sich die Mitarbeiter des Instituts mit den zwischenmenschlichen Beziehungen in Organisationen, aber auch mit der Beziehung der Organisation und des Organisationsmitglieds zur Arbeitstätigkeit. Mithilfe der soziotechnischen Systemanalyse (siehe S. 159 in diesem Band) kam man zu der Einsicht, dass die mit den Zielen und Aufgaben verbundenen Herausforderungen oft Ängste auslösen. Wenn es den Individuen und Gruppen in der Organisation nicht gelingt, einen offenen Umgang mit diesen Ängsten zu etablieren, entstehen psychosoziale Abwehrmechanismen

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(z. B. Verleugnung, Verschiebung, Regression). Dies wiederum bindet Energien, die bei der rationalen und effektiven Ausführung der primären Arbeitsaufgabe fehlen. Soziale Abwehr in Organisationen wird häufig in Strukturen gegossen. Das bedeutet, dass Organisationen als soziale Abwehrsysteme von Ängsten, aber auch von Schuld verstanden werden können. Beispielsweise werden die Organisationsmitglieder in Kliniken in hohem Maß mit menschlichem Leid konfrontiert. Die auf Effizienz und Kanalisierung der Ängste ausgerichtete Kultur sowie die stark hierarchischen Strukturen dienen der kollektiven Angstabwehr (z. B. durch die Depersonalisierung von Patienten; vgl. Menzies Lyth 1988). Ähnlich, wie beim Individuum psychopathologische Störungen diagnostiziert werden können, kann es bei Organisationen zu Systempathologien kommen. Auf der Grundlage von unbewussten Leitmaximen, die nicht selten ihren Ursprung im Management haben, kann die Kultur einer Organisation paranoide, zwanghafte, dramatische, depressive oder schizoide Züge annehmen (vgl. Kets de Vries & Miller 1986). Allerdings bedarf es nicht zwingend einer pathologisch auffälligen Führungsfigur, um eine Organisation handlungsunfähig zu machen. Oft genügen organisationale Veränderungsprozesse, sogar solche, die zur Humanisierung der Arbeitswelt beitragen können, um bei der Belegschaft Ängste (beispielsweise vor Kompetenzoder Kontrollverlust) zu wecken. Sie führen zu psychosozialer Abwehr und zu Widerstand gegenüber jeglicher Veränderung in der Organisation, wenn nicht durch offene Kommunikation in der betrieblichen Lebenswelt Möglichkeiten zur Verarbeitung der Ängste und entsprechende Handlungsspielräume geschaffen werden (vgl. Volmerg, Senghaas-Knobloch & Leithäuser 1986).

Aktuelle Entwicklungen Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Technik führen dazu, dass Organisationen immer stärker durch das strategische Management externer und interner Netzwerke aufgebaut und weiterentwickelt werden. Das bringt neue Herausforderungen mit sich. Vor diesem Hintergrund wird die Organisationspsychologie in Zukunft solche Fragen wie Gesundheit in Organisationen und Work-Life-Balance stärker beachten. Auch die Beschäftigung mit interkultureller Kooperation und Diversity in Organisationen wird noch mehr ins Zentrum rücken. Ferner wird sich der Stellenwert der Frage nach der Gerechtigkeit in Organisationen weiter erhöhen. Die Bedeutung moralischer und ethischer Fragestellungen in Wirtschaft und Politik nimmt zu. Dies wird nicht zuletzt auch die organisationspsychologische Forschung zunehmend beschäftigen.

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Diese Trends hängen unter anderem mit der Tendenz zur Demokratisierung von Unternehmen und Verwaltungsorganisationen zusammen. Sie findet vor dem bekannten Hintergrund der Humanisierung von Arbeitsbedingungen in Organisationen statt, doch auch in der Managementlehre wird diskutiert, inwieweit netzwerkartige und demokratische Strukturen zu höherer Effektivität in der Unternehmensführung beitragen (vgl. Hamel & Breen 2008). Bewährte Themen wie Teamarbeit und Führung erfahren dadurch eine neue Ausrichtung. Insbesondere die Frage der Selbstorganisation von Teams und die Möglichkeit von lateraler und geteilter Führung müssen neu ausgelotet werden.

Fazit Betrachtet man die Geschichte und die Problemstellungen der Organisationspsychologie im Zusammenhang, so fällt auf, dass ihr Anliegen fast durchgängig in das Spannungsfeld von Rationalisierung und Humanisierung fällt. Zum einen geht es darum, dass Organisationen ihre Ziele auf möglichst effektive Weise erreichen. Gleichzeitig ist dafür Sorge zu tragen, dass die Organisationsmitglieder ihrem Bestreben nach Beeinträchtigungsfreiheit und Selbstverwirklichung nachkommen können. Wissenschaft und Praxis werden auch in Zukunft versuchen, beiden Intentionen gerecht zu werden. Denn gerade die Organisationspsychologie zeichnet sich dadurch aus, dass viele ihrer Forschungs- und Praxisresultate zeigen, wie diese normativen Ansprüche miteinander verbunden werden können.

Verständnisfragen

▶ In welchem Zusammenhang steht die Entwicklung der Organisationspsychologie mit gesellschaftlichen, politischen und technischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts? ▶ Was sind Beispiele für grundlegende Annahmen der Organisationskultur? An welchen Artefakten lassen sie sich erkennen? ▶ Inwieweit kann die Organisationspsychologie in Forschung und Praxis zur Vermeidung von Organisationspathologien beitragen?

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Literatur Behrends, T. (2003). Organisationskultur. In A. Martin (Hrsg.), Organizational Behaviour – Verhalten in Organisationen (S. 241–261). Stuttgart: Kohlhammer. Felfe, J. & Liepmann, D. (2008). Organisationsdiagnostik. Göttingen: Hogrefe. Gillespie, R. (1993). Manufacturing Knowledge: A History of the Hawthorne Experiments. Cambridge: Cambridge University Press. Kals, E. & Gallenmüller-Roschmann, J. (2011). Arbeits- und Organisationspsychologie (2. Aufl.). Weinheim: Beltz. Kets de Vries, M. & Miller, D. (1986). Personality, culture and organization. Academy of Management Review, 11, 266–279. Kirchler, E. (Hrsg.) (2011). Arbeits- und Organisationspsychologie (3. Aufl.). Wien: facultas wuv. Kirchler, E., Meier-Pesti, K. & Hofmann, E. (2011). Menschenbilder. In E. Kirchler (Hrsg.), Arbeits- und Organisationspsychologie (3. Aufl.; S. 15–195). Wien: facultas wuv. Kühl, S. (2011). Organisation. Eine sehr kurze Einführung. Wiesbaden: VS. Luhmann, N. (1984). Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. McIlvaine Parsons, H. (1974). What happened at Hawthorne? Science, 183, 922–932. Menzies Lyth, I. (1988). Containing Anxiety in Institutions. Selected Essays, Volume I. London: Free Association Books. Morgan, G. (1997). Images of Organization. Thousand Oaks: Sage. Obholzer, A. & Roberts, V. Z. (eds.) (1994). The Unconscious at Work. Individual at Organizational Stress in the Human Services. London: Routledge. Peters, T. & Waterman, R. (1982). In Search of Excellence. New York, London: Harper & Row. Rosenstiel, L. v., Molt, W. & Rüttinger, B. (1972/2005). Organisationspsychologie. Stuttgart: Kohlhammer. Rosenstiel, L. v. & Nerdinger, F. (2011). Grundlagen der Organisationspsychologie. Basiswissen und Anwendungshinweise (7. Aufl.). Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Schein, E. H. (1965). Organizational Psychology. Englewood Cliffs: Prentice-Hall. Schein, E. H. (1985/2004). Organizational Culture and Leadership. San Francisco: Josey-Bass. Schreyögg, G. (2008). Organisation. Grundlagen moderner Organisationsgestaltung (5. Aufl.). Wiesbaden: Gabler. Schiersmann, C. & Thiel, H.-U. (2011). Organisationsentwicklung. Prinzipien und Strategien von Veränderungsprozessen (3. Aufl.). Wiesbaden: VS. Stello, C. M. (2011). Herzberg’s Two-Factor Theory of Job Satisfaction: An Integrative Literature Review. Minnesota: Department of Organizational Leadership, Policy, and Development. Trist, E. & Murray, H. (eds.) (1990). Social Engagement of Social Science: A Tavistock Anthology. Volume 1: The Socio-Psychological Perspective. Philadelphia: University of Philadelphia Press. Volmerg, B., Senghaas-Knobloch, E. & Leithäuser, T. (1986). Betriebliche Lebenswelt. Eine Sozialpsychologie industrieller Arbeitsverhältnisse. Opladen: Westdeutscher Verlag. Voß, G.-G. & Pongratz, H. J. (1998). Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 50, 131–158. Weick, K. E. (1985). Der Prozeß des Organisierens. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Weick, K. E. (1995). Sensemaking in Organizations. Thousand Oaks: Sage. Wiendieck, G. (1994). Arbeits- und Organisationspsychologie. München: Quintessenz.

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Weiterführende Literatur Argyris, C. & Schön, D. A. (1978). Organizational Learning. Reading: Addison-Wesley. Hamel, G. & Breen, B. (2008). Das Ende des Managements. Unternehmensführung im 21. Jahrhundert. Berlin: Econ. Herzberg, F.; Mausner, B. & Snyderman, B. B. (1959). The Motivation to Work. New York: Wiley. Mayo, E. (1933). The Human Problems of Industrial Civilization. New York: Macmillan. McGregor, D. (1960). The Human Side of Enterprise. New York: McGraw-Hill. Münsterberg, H. (1912). Psychologie und Wirtschaftsleben. Leipzig: Barth. Roethlisberger, F. J. & Dickson, W. J. (1939). Management and the Worker. Chicago: Harvard University Press. Senge, P. M. (2011). Die fünfte Disziplin: Kunst und Praxis der lernenden Organisation (11. Aufl.). Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Sichler, R. (2006). Autonomie in der Arbeitswelt. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Taylor, F. W. (1911). Principles of Scientific Management. London: Harper & Brothers. Trist, E.; Higgin, G.; Murray, H. & Pollock, A. (1963). Organizational Choice. London: Tavistock. Weber, M. (1922). Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: Mohr.

Migration und Migrationsforschung Kathrin Hörter, Angela Kühner und Minna-Kristina Ruokonen-Engler

Zusammenfassung

In diesem Kapitel werden klassische und neuere sozialwissenschaftliche sowie psychoanalytische Perspektiven auf das Phänomen der Migration vorgestellt. Aktuell wird Migration nicht mehr – wie in klassischen Ansätzen und häufig noch im alltäglichen Diskurs – als endgültiger Wechsel eines Lebensmittelpunktes aus einem nationalstaatlichen „Container“ in einen anderen, sondern als dynamischer, vielfältiger und komplexer Wanderungsprozess gesehen. Dementsprechend öffnen Ansätze der Cultural Studies, Postcolonial Studies sowie die der Transnationalität neue Möglichkeiten, das „Soziokulturelle“ und die Migrationsprozesse über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus zu analysieren. Die psychoanalytische Perspektive betont auf individualpsychologischer Ebene, wie der Migrationsprozess von Trauerverarbeitung und psychischen Transformationsanforderungen begleitet ist. Die Biografieforschung setzt dem eine eher ressourcenorientierte Sicht entgegen und betont, dass die Transformationsanforderung durch eine Migration nicht per se dramatischer sein muss als andere Transformationsanforderungen, die den Lebenslauf stets begleiten. Die Gender- und Intersektionalitätsperspektive schließlich machen deutlich, wie das Phänomen der Migration von gesellschaftlichen Macht- und Hierarchieverhältnissen durchdrungen ist und dass Migration somit auch immer im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit zu denken ist.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_13

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Definition Der Begriff Migration kommt vom lateinischen migrare bzw. migratio (wandern, wegziehen, Wanderung; Han 2000, S. 7) und hat sich in den letzten Jahren nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als alltägliche Bezeichnung für unterschiedliche Wanderungsbewegungen etabliert. Zudem markiert diese neue Begrifflichkeit (statt ein- und auswandern) eine Verschiebung der Sichtweise auf das Phänomen der Migration als Mobilität. Die klassische Definition von Migration geht davon aus, dass Migrantinnen und Migranten „ihren Lebensmittelpunkt über einen längeren Zeitraum hinweg verlagern“ (Treibel 2008, S. 295; Hervorhebung i. O.). Dementsprechend wurden und werden die Folgen der Migration häufig als ein Integrations­problem gedeutet und verschiedene Politiken als Strategien zur Überwindung der angeblichen kulturellen Differenzen und der damit einhergehenden Integrationsprobleme eingesetzt. Bis heute ist insbesondere im psychologischen Diskurs die Vorstellung zentral, dass es in der Auseinandersetzung mit Migration vor allem um ein Aufeinandertreffen verschiedener „Kulturen“ geht, und erst langsam setzen sich Perspektiven wie Migrationssensibilität oder interkulturelle Pädagogik durch. Die neuere und erweiterte Definition dagegen versteht Migration nicht nur als eine unidirektionale Wanderung im Sinne einer „Verlagerung“ oder „endgültigen“ Immigration und Emigration. Vielmehr wird Migration als prozesshafte Wanderungsbewegung verstanden, die (eventuelle) Mehrfachverortung und vielfältige Zugehörigkeiten der wandernden Subjekte – über die Immigration und Emigration hinaus – zur Folge hat. Demzufolge wird von Migration gesprochen, „wenn Menschen ihren Lebensmittelpunkt verlagern oder zum alten Lebensmittelpunkt ein neuer hinzukommt“ (ebd.; Hervorhebung i. O.). Außerdem sind je nach Migrationsanlass und Regulation der Migrationen verschiedene Migrationsformen zu unterscheiden, zum Beispiel Aus- und Übersiedlung, Binnenmigration, Arbeitsmigration, Flucht, irreguläre Migration, Diaspora und transnationale Migration. Historisch gesehen stellt Migration kein neues Phänomen, sondern eine universelle Praxis und menschliche Handlungsform dar (Castro Varela & Mecheril 2011, S. 154), die als „Normalfall“ (Bade & Oltmer 2004) angesehen werden kann. Sie beeinflusst nicht nur die Menschen, die migrieren, sondern auch die, die davon betroffen sind, sowie die Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften. Denn das Wissen, die Erfahrungen, Sprachen, Netzwerke und Perspektiven der Migrantinnen und Migranten tragen zur Gestaltung des Gesellschaftlichen in den jeweiligen Ländern bei (vgl. Castro Varela & Mecheril 2011, S. 154). Daher ist Migration sowohl Ausdruck von als auch Motor gesellschaftlicher Veränderungsprozesse in den jeweiligen Migrationsländern.

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Die klassische Auffassung von Migration Dieses Verständnis von Migration als Prozess und Motor gesellschaftlicher Veränderungen markiert jedoch, wie der Begriff Migration selbst, bereits eine zentrale Veränderung der Sicht auf Migration: Klassische Migrationstheorien sind meist aus der Perspektive von Aufnahme- bzw. Einwanderungsländern formuliert und entwickelt worden. Sie suchten typischerweise Antworten auf folgende Fragen: Warum kommen Menschen „zu uns“, was „treibt“ sie aus ihren Herkunftsländern „weg“ und was zieht sie „zu uns“ (Push-/Pull-Faktoren)? Wie passen sich die gerade Eingewanderten an ihre neue Umgebung an, passen sie sich „uns“ an oder bleiben sie unter sich? Für die unterschiedlichen Varianten der (implizit immer als wünschenswert gedachten) Anpassung nutzte die klassische Migrationsforschung Konzepte wie Akkulturation, Integration, Assimilation, Segregation und Marginalisierung. Um Migrationen und mit Migration assoziierte Phänomene beschreiben zu können, sind verschiedene theoretische Ansätze entwickelt worden, die versuchen, die soziokulturellen, ökonomischen, politischen und rechtlichen Ursachen, die verschiedenen Formen sowie die Folgen der Migrationen zu erklären (z. B. im deutschsprachigen Raum Esser 1980).

Migrationstheorien als Migrationsdiskurse Die Migrationstheorien können als Diskurse verstanden werden – also als eine spezifische Art des Sprechens über das Phänomen, das jeweils vom soziohistorischen, migrationspolitischen und wissenschaftlichen Kontext abhängt. Wie der Philosoph und Psychologe Michel Foucault (1926–1984) am Beispiel der historischen Entwicklung von (wissenschaftlichen) Diskursen über Krankheit oder Sexualität (1978) zeigt, ist unser Denken, unser Handlungsspielraum und unser Fühlen entscheidend davon bestimmt, wie zu einem bestimmten Zeitpunkt über etwas „gedacht werden kann“. Wissenschaftliche Diskurse sind in diesem Verständnis eng mit den jeweiligen gesellschaftlichen (medialen, politischen) Diskursen verwoben: So fällt beim Thema Migration auf, dass ein im Grunde alltägliches und das menschliche Zusammenleben immer schon prägendes Phänomen immer wieder als etwas Neues, Unbekanntes erscheint. Die von Benedict Anderson als „Erfindung der Nation“ (Anderson 1988) bezeichnete Tendenz, dass Nationen eine gemeinsame homogene Herkunft stilisieren, führt dazu, dass Migrationserfahrungen „kollektiv vergessen“ werden. Migration stellt die verbreitete Phantasie einer homogenen Gemeinschaft infrage. Vor diesem Hintergrund kommt es zu einer Dramatisierung

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und Exotisierung der Migration. Paradigmatisches Beispiel hierfür ist die These des Politikwissenschaftlers Samuel Huntington (1927–2008), der von einem „Clash of Civilizations“ spricht. Diese These findet sich in Migrationsdiskursen wieder, wenn vor allem die Einwanderung aus sogenannten nichtwestlichen Kulturen problematisiert wird, die zu unlösbaren „Integrationsproblemen“ führe.

Eine sozialpsychologische Perspektive auf Migration Migration ist jedoch als ein Prozess zu verstehen, an dem sich nicht Migranten und Einheimische bzw. Bürgerinnen und Bürger mit und ohne Migrationshintergrund als vermeintlich homogene Gruppen gegenüberstehen, sondern an dem insgesamt verschiedene Akteure beteiligt sind. Durch diese Sicht kommt eine ganze Bandbreite von Phänomenen in den Blick. Sozialpsychologisch relevant sind davon vor allem: 1. Die (individuelle/kollektive) Migrationsentscheidung: Menschen stehen im Laufe ihres Lebens immer wieder vor der Möglichkeit, ihren Lebensmittelpunkt zu verändern. Die Möglichkeit zur Migration wird in der Regel erst dann zu einer echten Option, wenn eine realistische Chance auf bessere Lebensbedingungen gesehen wird. Viele Migrationstheorien betonen dabei den Stellenwert ökonomischer Migrationsanreize, was jedoch zunehmend kritisiert wird (vgl. Tabelle). 2. Der soziale bzw. soziohistorische Kontext der Migrationsentscheidung: Soziale Faktoren im Herkunfts- und im Zielland beeinflussen die Migrationsentscheidung. So schuf zum Beispiel das Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und der BRD Anreize zur Migration; daraus entstand auch in der Türkei ein soziales Klima, in dem die Migration nach Deutschland zu einer naheliegenden Option wurde. Die Migrationsentscheidung wird nicht nur individuell gefällt, sondern der soziale Kontext spielt in diesem Prozess eine wichtige Rolle, wie beispielsweise der Familienpsychologe Carlos Sluzki ausführt (Sluzki 2010). 3. Der Migrationsprozess selbst: Der Migrationsprozess selbst kann sehr unterschiedlich erlebt werden. Hierbei ist es wichtig, sich die große Bandbreite von Migrationsformen vor Augen zu führen (z. B. Flucht und illegal(isiert)e Einwanderung auf der einen Seite und Anwerbung hochqualifizierter Akademikerinnen und Akademiker auf der anderen Seite). Für eine sozialpsychologische Sicht auf diesen Prozess sind vor allem die Perspektiven der Psychoanalyse und der Biografieforschung interessant, wie sie weiter unten ausführlich dargestellt werden. Die Psychoanalyse sieht Migration als potenziell traumatischen Verlust, der verarbeitet werden muss, während die biografische Migrationsforschung den Blick auf die Ressourcen sowie Bearbeitungs- und Bewältigungsstrategien richtet.

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4. Die Steuerung der Migration durch politische Akteure: Dafür wird in jüngerer Zeit von politischen Aktivisten und kritischen Migrationsforschern der Begriff Grenzregime verwendet, der beschreibt, durch welche Maßnahmen versucht wird, Migration zu kontrollieren und zu verhindern (z. B. www.kritnet.org). Untersucht wird dabei beispielsweise, mit welchen Praktiken und Folgen Migranten und Migrantinnen an den EU-Außengrenzen von der Einwanderung abgehalten werden (Hess & Kasparek 2010), welche Diskurse damit einhergehen und diese stützen. 5. Soziale und sozialhistorische Faktoren im Aufnahmeland: Dazu zählen neben der politischen Steuerung der Migration (und damit jeweils verwoben) weitere zentrale Faktoren wie die gesellschaftlichen Institutionen und das gesellschaftliche Klima bzw. der öffentliche Diskurs im Hinblick auf Einwanderung im Allgemeinen und auf unterschiedliche Zuwanderergruppen. So haben traditionelle Einwanderungsländer wie Kanada oder Israel Institutionen entwickelt, die die Ankunft im neuen Land explizit erleichtern sollen (z. B. Informationen und Angebote in unterschiedlichen Einwanderersprachen). Umgekehrt wirken sich rassistische Diskurse und Praktiken wesentlich auf die Einwanderung aus (siehe unten: psychische Verarbeitung). Tab. 1

Überblick über die klassische und die neuere Auffassung von Migration

Klassische Auffassung Migration als unidirektionale, endgültige Verlagerung des Lebensmittelpunktes (Emigration/Immigration) → Betonung der Verlagerung Migration als Wechsel des nationalstaat­ lichen Containers Migrationsentscheidung als „Rational Choice“, durch Push- und Pull-Faktoren erklärbar Migranten sind von einer Herkunfts‚Kultur‘ geprägt und müssen sich dementsprechend an die neue Kultur anpassen, um dazugehören zu können (Akkulturation) eher statischer Kulturbegriff (daher auch kulturelle „Prägung“ und Kulturschock)

Erweiterte bzw. neuere Auffassung Migration als prozesshafte, vielfältige Wanderungsbewegung mit möglicher Mehrfachverortung → Betonung des Prozesscharakters Transnationale Migration und Mobilität (z. B. EU) Migration als Ergebnis eines komplexen, vielfach (auch unbewusst) determinierten Entscheidungsprozesses Kultur wird als Diskurs verstanden, Migranten sind wie alle Menschen Subjekte unterschiedlicher Diskurse; Kulturen stehen sich nicht als homogene Blöcke gegenüber, sondern sind in sich heterogen und widersprüchlich; dynamischer Kulturbegriff (s. Cultural Studies)

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Klassische Auffassung Integration oder Assimilation der Migranten: Wie können Migrantinnen und Migranten möglichst so im Aufnahmeland leben, dass sie nicht „stören“?

Erweiterte bzw. neuere Auffassung Migration als Motor einer gesellschaftlichen Transformation: Veränderung der Gesellschaft durch Migration wird anerkannt und als erwünscht angesehen

Wesentliche Erweiterungen und Differenzierungen: Cultural und Postcolonial Studies Die Beschäftigung mit Migration hängt eng mit Fragen nach kultureller Zugehörigkeit und kultureller und nationaler Identität zusammen. Häufig wird dabei Kultur als etwas Essenzielles verstanden, das Menschen unverrückbar besitzen und das innerhalb einer spezifischen Gruppe und insbesondere innerhalb einer Nation geteilt wird. So gibt es spezifische Vorstellungen von den Eigenschaften der eigenen Kultur in Abgrenzung von der anderen, und mit diesen Vorstellungen sind angenehme oder unangenehme Gefühle, Bilder oder Haltungen verbunden. Werden die jeweiligen Kulturen als sehr disparat angenommen, erscheint es unausweichlich, dass die Angehörigen dieser „Kulturen“ in Konflikt geraten müssen. Daraus entstehen Forderungen nach Ein- und Unterordnung einer Kultur unter die andere. Diesen essenzialistischen Vorstellungen von Kultur versuchen die Cultural Studies und die Postcolonial Studies einen Kulturbegriff gegenüberzustellen, der eine Reflexion der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Prozesse und Strukturen ermöglicht. Seit sich die Cultural Studies (CS) in Großbritannien Mitte der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre formierten, haben sie sich zu einer weltweiten Bewegung entwickelt. Kultur wird hier nicht vorrangig im Sinne von Hochkultur verstanden, also als Kunst oder Musik, sondern als etwas, das Allgemeingut ist und nicht nur von einer bürgerlichen Elite, entsprechend ihrer Werte und Normen, definiert wird. So wird es möglich, dass Kultur zum Gegenstand eines Demokratisierungsprozesses werden kann, bei dem auch die Teilhabe von Minorisierten möglich wird. Wenn die konkreten gesellschaftlichen Praktiken ins Zentrum der Betrachtung rücken, können auch die individuellen Erfahrungen im gesellschaftlichen bzw. historischen Kontext als Referenzebene eingeführt werden (Kulturalismus). Die CS sehen den Menschen darüber hinaus als in überindividuelle, sprachliche Strukturen eingebunden, durch die sein Sprechen, Denken und Handeln bestimmt wird (Strukturalismus). Diese Strukturen werden als etwas Konstruiertes, Veränderbares verstanden, was die Möglichkeit einer kritischen Auseinandersetzung mit Ideologie(n) eröffnet. Stuart Hall (1932–2014), einer der zentralen und im deutschsprachigen Raum am meisten

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rezipierten Vertreter der CS, wendet diese Grundannahmen auf die Analyse des Konzeptes der Nation an. In seinem Werk Rassismus und kulturelle Identität (1994) stellt er die verschiedenen narrativen Strategien dar, mittels derer das Bild einer homogenen nationalen „Einheitskultur“ diskursiv hergestellt wird. Dabei versteht er die Nation als zentrale Quelle kultureller Identität, als „ein System kultureller Repräsentationen“ (Hall 1994, S. 200), wobei der Diskurs der nationalen Kultur das Denken, Handeln und Verständnis von „uns“ und den „Anderen“ in spezifischer Weise formt. Hall problematisiert die Narration einer homogenen Nationalkultur und stellt dar, dass nicht zuletzt aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte und der notwendigen Differenzierung innerhalb einer Nation (z. B. bezüglich Geschlecht oder Klasse) „[a]lle modernen Nationen kulturell hybrid“ sind (ebd.). In engem Zusammenhang und wechselseitigem Austausch mit den CS stehen die Postcolonial Studies, die sich im Kern mit „der Form der Repräsentation der Andersheit“ (Bhabha 2000, S. 200) beschäftigen. Das bedeutet konkret, dass die diskursive Herstellung vom „Eigenen“ und „Anderen“ (z. B. dem „Vertrauten“ vs. dem „Fremden“) in einem von Macht und Herrschaft durchdrungenen Raum im Zentrum der Betrachtung steht. Anhand des Kolonialismus wird dargelegt, wie die Vorstellungen und Bilder über die Kolonisierten in Abgrenzung von denen der Kolonisatoren konstruiert werden. So wird der Kolonisierte zu dem gemacht, was der Kolonisator nicht zu sein scheint. Durch Machtstrukturen können diese Konstrukte von den Mächtigeren als „Wahrheiten“ durchgesetzt werden (z. B. „Orient“ und „Okzident“). Postkolonialismus wird in diesem Zusammenhang nicht nur als Bezeichnung für eine bestimmten Epoche verstanden, sondern als kritische Perspektive auf die vielfältigen Auswirkungen der Kolonisation auf gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge. Anders ausgedrückt, umfasst Kolonisation auch die Mechanismen und Strukturen von Dominanz, Unterdrückung und Aneignung. Die Art und Weise, wie der kolonisierte (also der machtvoll als „anderer“ hergestellte) Raum vor dem Hintergrund rassistischer und kolonialer Diskurse zu einem definierten Teil der „Welt“ gemacht wurde und wird, nennt Gayatri Chakravorty Spivak worlding. Mit ihrer zentralen Frage: „Can the subaltern speak?“ (Spivak 1988) weist sie darauf hin, dass denjenigen, die strukturell nicht mit entsprechender Macht ausgestattet sind, eine Teilhabe an diesen wahrheitsproduzierenden Diskursen verwehrt bleibt. Die diskursive Herstellung von „Wir“ und die „Anderen“ (z. B. „die Deutschen“ und „die Migranten“) enthält eine gewisse Ambivalenz, da der/die „Andere“ zwar vom „Wir“ abgegrenzt wird, gleichzeitig aber auch für die Herstellung des „Wir“ notwendig ist. Durch ihren theoretischen Zugang ermöglichen die Cultural wie die Postcolonial Studies einen differenzierteren Blick auf die aktuelle Diskursivierung der Migration. So werden kulturelle und nationale Identitäten, die immer wieder ins Feld geführt

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werden, um vor (potenziellen) kulturellen Konflikten oder „Integrationsproblemen“ zu warnen, als Konstruktionen erkennbar. Ihre vermeintliche Homogenität wird grundlegend infrage gestellt und dekonstruiert. Des Weiteren wird es möglich, Debatten wie die um die sogenannte Leitkultur ideologiekritisch zu untersuchen, da der Blick auf die Herstellung und die Repräsentation des „Eigenen“ und des „Anderen“ und die dahinterliegenden Machtstrukturen gelenkt werden kann.

Migration als psychischer Prozess – Die psychoanalytische Perspektive Die im engeren Sinne sozialpsychologischen oder psychologischen Theorien zur Migration fokussieren meist auf die Frage, wie die äußeren Ereignisse der Migration und die damit verbundenen Erfahrungen von der/dem Einzelnen innerpsychisch erlebt und verarbeitet werden. Auch in diesen meist klinisch-psychologischen Theorien wird diskursiv ein spezifischer Blick auf Migration bzw. Migranten hergestellt. Da sich die Klinische Psychologie gemäß ihres Gegenstandes schwerpunktmäßig für psychische Schwierigkeiten und deren Ursachen und Verläufe interessiert, nehmen diese Theorien meist Migrationserfahrungen zum Ausgang, die „weniger gut geglückt“ oder mit Problemen verbunden sind. Dennoch enthalten auch sie Annahmen über eine gelingende Verarbeitung. Es kann nicht per se davon ausgegangen werden, dass die Erfahrungen, die im Prozess einer Migration gemacht werden, zu psychischen Problemen führen. Léon und Rebeca Grinberg gehen in ihrem Werk Psychoanalyse der Migration und des Exils (1984) davon aus, dass „Migration eine potenziell traumatische Erfahrung ist, die durch eine Reihe von partiellen traumatischen Ereignissen gekennzeichnet ist und die zugleich eine Krisensituation bildet“ (1984/1990, S. 14; Hervorhebung d. V.). Je nachdem, ob ein Migrant über ausreichende Möglichkeiten verfüge, diese Erfahrungen psychisch zu verarbeiten, könne er nach einer Phase der Verunsicherung seine psychische Stabilität wiedererlangen – oder auch nicht. Die Fähigkeit zur psychischen Verarbeitung hänge maßgeblich von inneren/individuellen, aber auch von äußeren/sozialen bzw. gesellschaftlichen Faktoren ab. Salman Akhtar (1990) nimmt die Grundgedanken von Grinberg & Grinberg auf und führt sie weiter. Er spitzt ihre Grundthese dahingehend zu, „dass Immigration selbst unter den besten Bedingungen ein traumatisches Ereignis ist“ (Akhtar 1990/2007, S. 20). Akhtar verwendet hier den Traumabegriff (ebenso wie Grinberg & Grinberg), um die mit Migration einhergehenden Verlusterfahrungen zu bezeichnen, die unter bestimmten Bedingungen die psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten

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überfordern und eine langfristige Beschädigung verursachen können. Unter den spezifischen Verlusten, die eine Migrantin oder ein Migrant erleidet, versteht Akhtar beispielsweise den erschwerten Zugang zu vertrauten Menschen oder bekannten Orten. Infolgedessen müssten diese Verlusterfahrungen, wie andere Verlusterfahrungen auch, einen „Trauerprozess in Gang“ setzen (ebd.). Durch den Vorgang der „Trauerarbeit“ (Freud 1917/1975, S. 199) können diese Verluste im günstigen Falle psychisch verarbeitet werden. Die Fähigkeit, in einen Trauerprozess einzutreten und diesen zu bewältigen, hängt von verschiedenen Bedingungen ab: zum einen äußeren (wie z. B. der rechtliche Status, strukturelle Diskriminierung und Rassismus), zum anderen innerpsychischen (z. B. biografische Erfahrungen, die vor der Migration gemacht wurden, oder spezifische Lebens- und Entwicklungsphasen). Zudem, so Akhtar weiter, könne die Migrationserfahrung das Erleben von Kontinuität (kulturelle Zugehörigkeit, Geschlechtsrolle) ins Wanken bringen und „zu einem schwerwiegenden Aufruhr in der Identität des Individuums“ führen (ebd., S. 95). Bevor es wieder Stabilität finden könne, werde die psychische Instanz, die für die (affektive) Regulation, die Realitätsprüfung und -bewältigung und die Anpassung zuständig sei (das Ich), aufgrund der „drastische[n] Veränderung seiner äußeren Umgebung“ vorübergehenden Belastungen ausgesetzt (ebd., S. 97). So kommen in dieser Phase teilweise innerpsychische Mechanismen zum Tragen, die durch einen Rückgriff auf frühere psychische Entwicklungsstufen und Vorgänge gekennzeichnet seien (Regression). „Früheres“ psychisches Erleben sei durch die Aufteilung der inneren und äußeren Welt zum Beispiel in „absolut gut“ (Liebe) und „absolut böse“ (Hass) gekennzeichnet (Spaltung). Auf die Migrantin oder den Migrant bezogen, bedeute dies beispielsweise, „[d]as Herkunftsland wird idealisiert, die neue Kultur abgewertet“ oder umgekehrt (ebd., S. 98). Im Laufe der psychischen Verarbeitung der Migrationserfahrung sei es notwendig, diese extremen Aufteilungen zu integrieren. Resultat dieses Vorgangs sei dann das Erleben von Ambivalenz als zentrale Fähigkeit, gegenteilige und eventuell widersprüchliche Aspekte und Empfindungen nebeneinander zu erleben (z. B. das „Herkunftsland“ hat sowohl gute als auch weniger gute Seiten). Nicht nur im Spannungsfeld zwischen Liebe und Hass müsse neue Stabilität erreicht werden, sondern auch in anderen Bereichen, die aufgrund der Verunsicherung erschüttert worden sind. Misslinge das dauerhaft, können, so der Autor, psychische Probleme die Folge sein. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass Einrichtungen der psychosozialen bzw. der Gesundheitsversorgung in den meisten Einwanderungsländern erst langsam auf die veränderte Zusammensetzung der Bevölkerung reagieren, beispielsweise durch mehrsprachige Angebote. Eine Ausnahme bildet hier die Entwicklung in Großbritannien, wo relativ früh spezifische Angebote konzipiert wurden (z. B. http://nafsiyat.org.uk). In diesem Zusammenhang hat sich

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ein eigener Diskurs zur „interkulturellen Öffnung“ psychosozialer Einrichtungen entwickelt, der neuerdings durch weitere Konzepte wie die „diversitätsorientierte Integrationspolitik“ oder das interkulturelle Qualitätsmanagement ergänzt wird.

Gegenwärtige Auseinandersetzungen und Fragestellungen Migration als Transformationsprozess – Die Perspektive der Biografieforschung Migrationsprozesse werden in der BRD seit den 1990er-Jahren auch durch die interdisziplinäre biografische Migrationsforschung untersucht (vgl. z. B. Apitzsch 1990). Während sich die klassische Migrationsforschung dafür interessiert, ob und wie die Integration gelingt, stehen in der biografischen Migrationsforschung die subjektiven Deutungen, Verarbeitungs- und Bewältigungsstrategien des Migrationsprozesses aus gesamtbiografischer Perspektive im Vordergrund. Migration wird also nicht von vornherein als dramatisches Ereignis, das zwangsläufig zu einem individuellen Veränderungsprozess führt, gedeutet. Vielmehr ermöglicht die Biografieforschung eine differenzierte, erfahrungsnahe und selbstreflexive Perspektive auf Migration im Zusammenhang mit anderen lebensgeschichtlichen Phasen, Ereignissen und Transformationsprozessen. Denn Migration kann mit anderen biografischen Transformationsprozessen wie zum Beispiel der Adoleszenz zusammenfallen, was die Betroffenen vor eine „verdoppelte Transformationsanforderung“ stellt (King & Koller 2006). Neben den lebensgeschichtlichen Phasen, biografischen Erfahrungen und Wissen sind die gesellschaftlichen Strukturen und Zuschreibungen bei der Bewältigung des Migrationsprozesses entscheidend. Deshalb reicht es nicht aus, biografische Lebensereignisse wie die der Migration eindimensional als individuelles Leiden zu betrachten (Verlaufskurve) – vielmehr muss sie gesamtgesellschaftlich kontextualisiert werden. Genauso bedeutsam sind die Ressourcen, Bearbeitungs- und Bewältigungsstragien der Migranten, mit denen sie eventuell drohende oder akute Verlaufskurven zu überwinden versuchen. Aus dieser Perspektive rückt Migration als ein Transformationsprozess – im Sinne eines Umwandlungs- und Neubildungsprozesses – in den Mittelpunkt der Untersuchung und ermöglicht es, die Migrationsbiografien als „Modell der gesellschaftlichen Transformation“ (Apitzsch 1993a/b) zu betrachten. Durch die biografische Rekonstruktion und Sichtbarmachung von subjektiven Handlungsmöglichkeiten, Transformationsprozessen und

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ihre strukturelle Einbettung kann kurzschlüssigen kulturalistischen Deutungen und einem defizitären Diskurs über Migranten entgegengewirkt werden.

Migration und Transnationalisierung Während die Globalisierung vor allem im Zusammenhang mit politischen und ökonomischen Prozessen diskutiert wird, hat das Konzept der Transnationalität (Hannerz 1996) in die kultur- und sozialwissenschaftliche Migrationsforschung Eingang gefunden, um den Einfluss der Globalisierung auf der Ebene des Sozialen und Kulturellen zu untersuchen. So lassen sich, theoretisch wie methodisch, gesellschaftliche und kulturelle Phänomene erforschen, die nationalstaatliche Bewegungs- und Deutungsräume überwinden und Beziehungen, Bindungen, Praktiken und Vernetzungen über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus aus einer handlungs- und subjektorientierten Perspektive betrachten (Pries 1997). In Transnationalisierungsprozessen wird der soziale Raum vom geografischen Flächenraum entkoppelt. Das vollzieht sich beispielsweise durch global operierende Konzerne, internationale Migrationsprozesse, verbesserte Kommunikations- und Transportmöglichkeiten oder den Ferntourismus. Dabei findet neben der „Aufstapelung“ unterschiedlicher sozialer Räume im selben Flächenraum eine „Ausdehnung“ sozialer Räume über mehrere Flächenräume statt (Pries 1997, S. 17). Diese können als „transnationale Erfahrungshorizonte“ bezeichnet werden. Geografisch delokalisiert, d. h. räumlich vielschichtig, bestimmen sie auch Lebensentwürfe, die alltägliche Lebenspraxis sowie individuelle und kollektive Identifikationsmomente (Pries 1997; 1998). Dabei entstehen transnationale soziale Räume und Lebenswirklichkeiten, die geografisch-räumlich diffus bzw. „de-lokalisiert“ sind (Pries 1998, S. 74f.). Somit seien, nach Ludger Pries (ebd.), transnationale soziale Räume eine wichtige Referenzstruktur sozialer Positionen, die über den Sozialzusammenhang von Nationalgesellschaften hinausweisen. Sie bestimmen über die alltagsweltliche Lebenspraxis, (erwerbs-)biografische Projekte und Identitäten der Menschen. In diesem Kontext ist auch der neue Migrationstypus der Transmigration entstanden. Als Transmigration definiert Pries „grenzüberschreitende Wanderungsprozesse als einen mehr oder weniger dauerhaften Zustand, als einen nicht nur einmaligen, unidirektionalen Ortswechsel, sondern als eine neue soziale Lebenswirklichkeit für eine wachsende Anzahl von Menschen“ (Pries 1997, S. 32). Transmigration kann als Oszillation zwischen Regionen und Kulturen gekennzeichnet werden (Cyrus 2000, S. 95). Sie bringt die klassische Vorstellung von im territorialen Rahmen des Nationalstaates in sich geschlossenen Kulturen und damit einhergehenden Identitätskonstruktionen und Vergesellschaftungsprozessen ins Wanken. Die

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Transnationalitätsperspektive stellt einen „überfälligen ,Normalisierungsdiskurs‘ mehrortiger, uneindeutiger migrantischer Praktiken dar“ (Hess 2005, S. 31), die die Perspektive auf das „transnationale Kontinuum migrantischer Lebensstrategien“ (ebd.) eröffnet. Damit wird Migration nicht nur als Akkulturation oder Integration an einem Ort wie zum Beispiel in einem Nationalstaat betrachtet, sondern mit verschiedenen Arten von Zugehörigkeiten, nationale Grenzen überspannenden Netzwerken, Aktivitäten und Erfahrungshorizonten in Verbindung gebracht (vgl. z. B. Siouti 2013).

Migration als ein vergeschlechtlichtes Phänomen Das Verständnis von Migrationsprozessen wird durch die Geschlechterforschung wesentlich erweitert. Migrationen sind demnach innerstaatliche, internationale und transnationale Wanderungsprozesse, die in ihren Ursachen und Folgen vergeschlechtlicht (Anthias 2000, S. 15) und mit weiteren gesellschaftlichen Hierarchien, Ungleichheiten und Differenzierungen sowohl in der Herkunfts- als auch in der Aufnahmegesellschaft verbunden sind. Es kann heute mit Castles & Miller (1993) sogar von einer Feminisierung der weltweiten Migrationen gesprochen werden. Während die sozialwissenschaftlichen feministischen Debatten der 1990er-Jahre das Geschlecht als „Geschlechterdifferenz“ zu einer primären Strukturkategorie avanciert hatten, stellte die aus der interkulturellen Frauenforschung und der feministischen Migrationsforschung kommende Kritik die Kategorie Geschlecht als primäre Unterdrückungs- und Ungleichheitsform aller Frauen infrage (Gümen 1998). Soziale Ungleichheiten können demnach nicht nur in Bezug auf das Geschlecht gedacht werden, sondern auch auf andere Differenzen, Macht- und Herrschaftsverhältnisse (Lenz 1995). Eine sozialkonstruktivistische Perspektive, die sich an die Ethnomethodologie (siehe Band 1, S. 207) anlehnt, hat wichtige theoretische Grundlagen geboten, Differenzierung und vergeschlechtlichte Migrationsformen zu untersuchen. Geschlecht wird demnach nicht als individuelle Eigenschaft, sondern als sozial hergestellte und in Machtbeziehungen konstruierte Differenz betrachtet. Sie wird im Kontext von situativem Handeln und sozialen Strukturen (re)produziert, wobei auch die früheren Erfahrungen, Praktiken und normativen Erwartungen in die interaktive Konstruktion von Geschlecht einfließen (siehe Fenstermaker & West 2001, S. 241f.). Die Intersektionalitätsperspektive weist dagegen darauf hin, dass Differenzen, Ungleichheiten und Macht- und Herrschaftsverhältnisse in ihrer Verschränkung – und nicht additiv – analysiert werden müssen. Denn mit der Einführung des Begriffs der Intersektionalität wollte Kimberlé Crenshaw (1989) auf die Gleich-

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zeitigkeit und Wechselwirkung der Differenzkategorien aufmerksam machen, wodurch „Menschen […] im Schnittpunkt oder auf der Kreuzung (intersection) dieser Kategorien positioniert sind […] und ihre Identitäten, ihre Loyalitäten und Präferenzen entwickeln“ (Crenshaw 1993, zit. n. Lutz & Davis 2005, S. 231). Die Betonung der Verschränkung von Differenzen deutet Helma Lutz (2004; 2005) einerseits als eine Subjekt- und Identitätstheorie, andererseits als ein Instrument, das der Analyse der sozialen Positionierung dient. Identitäten seien, so Lutz, „auf Kreuzungen und Differenzierungslinien lokalisiert; gleichzeitig werden soziale Positionierungen untersucht, die nicht eindimensional, sondern das Produkt von simultanen, sich kreuzenden Mustern von Verhältnissen und Merkmalen sind“ (Lutz 2004, S. 482). Demzufolge werde „Gender […] immer durch Klasse ergänzt; Ethnizität ist bereits ‚gendered‘ und mit Klassenmerkmalen versehen“ (ebd.). Die Dezentrierung des Geschlechts als zentrale Differenzierungs- und Analysekategorie wird aus der Sicht der Queer Studies noch vertieft. Sie stellt die dichotome Geschlechterdifferenz infrage, weist der Sexualität als Analysekategorie eine zentrale Rolle zu und kritisiert gesellschaftliche Normierungen, insbesondere die der Heteronormativität des Gesellschaftlichen. Daher hinterfragt die queer-theoretische Forschungsperspektive auf Migration die gesellschaftlichen Normalisierungsprozesse und die heteronormative Strukturierung und untersucht, in welcher Beziehung Sexualität, Gender und Migration zueinander stehen (Castro Varela & Dhawan 2009).

Verständnisfragen

▶ Inwiefern kann behauptet werden, dass Migration ein normales Phänomen ▶ ▶ ▶ ▶ ▶

ist, und warum wird Migration dennoch häufig als etwas Ungewöhnliches, Exotisches behandelt? Wie kann Migration aus einer sozialpsychologischen Sicht in den Blick genommen werden? Worin unterscheiden sich klassische von neueren Theorien in Bezug auf den Gegenstand der Migration? Wie unterscheiden sich die Perspektiven der Biografieforschung und der Psycho­ analyse auf Migration? Wie ist Migration aus einer Transnationalitätsperspektive zu verstehen? Was bedeutet es, dass Migration ein vergeschlechtlichtes Phänomen sei?

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Kommunikation und Sozialpsychologie Mario Paul

Zusammenfassung

Mit Kommunikation ist eine besondere sozialwissenschaftliche Perspektive eingenommen, die nach den Wechsel- und Bedingungsverhältnissen zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. Kultur fragt. Sie vollzieht sich auf unterschiedlichen Ebenen (verbal, para- und nonverbal) und in mehreren Dimensionen (Selbstoffenbarung, Inhalt, Appell, Beziehung). Kommunikation ist ein zeitlich und räumlich situiertes Geschehen, das auf geteilter Intentionalität, einer kooperativen Infrastruktur und auf Konventionen beruht. Als ein Teilbereich der Kommunikationsforschung unterscheidet die Medienwirkungsforschung zwischen instrumenteller, ritueller und habitueller Mediennutzung sowie einer peripheren und einer zentralen Route der Informationsverarbeitung. In interkultureller Kommunikation kommen unterschiedliche kulturell geprägte Symbolsysteme zum Einsatz. Dies kann zu Missverständnissen führen, die als problematisch erlebt werden. Bei interkultureller Kommunikation wird besonders deutlich, dass Kommunikation unentwegt zwischen Eigenem und Fremdem vermittelt.

Begriffliche Ein- und Abgrenzung Welcher Stellenwert dem Phänomen der menschlichen Kommunikation im Rahmen sozialwissenschaftlicher Betrachtungen zuteilwerden soll, ist umstritten. Einige Autorinnen und Autoren begreifen Kommunikation als ein den Menschen zutiefst prägendes, alle sozialen und kulturellen Verhältnisse durchdringendes Phänomen. Zu ihnen gehört Paul Watzlawick mit seinem populären Diktum, man © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_14

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könne „nicht nicht kommunizieren“ (Watzlawick et al. 1969). Anderen hingegen dient Kommunikation als relativ eng umrissenes Konzept, das die Veränderung individueller Einstellungen erklären soll, etwa im Rahmen der quantitativ-empirischen Sozialpsychologie (vgl. z. B. Hovland et al. 1953). Für die heutige Begriffsverwendung waren die Arbeiten von Karl Jaspers (1883– 1963) prägend. Er erhob Kommunikation zum philosophischen Begriff, der durch ein dialektisches Spannungsverhältnis charakterisiert ist: Ein sich gegenseitiges Verständlichmachen durch Mitteilungen bringt eine Gemeinschaft hervor, womit zugleich ein Prozess wechselseitigen Offenbarwerdens verbunden ist, in dem die Einzelnen einer Gemeinschaft für sich und füreinander erst zu dem werden, was sie sind (vgl. Jaspers 1956, S. 69f.). Ein solches Verständnis von Kommunikation legte den Grundstock für eine neue sozialwissenschaftliche Perspektive auf bekannte Phänomene wie zum Beispiel Handeln, Sozialisation, Gruppendynamik, Persuasion oder Aggression. Diese Sichtweise zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass sie einer für die Sozialwissenschaften „gefährlichen Polarisierung“ zwischen Individuum und Gesellschaft entgegenwirkt (vgl. Graumann 1972, S. 1110f).

Der deutsche Psychiater und Philosoph Karl Jaspers, am 23. Februar 1883 in Oldenburg geboren und am 26. Februar 1969 in Basel verstorben, ist unter anderem wegen seiner herausragenden Arbeiten zur Existenzphilosophie, die von Søren Kierkegaard, Baruch de Spinoza, Friedrich Nietzsche, Edmund Husserl und Immanuel Kant beeinflusst sind, international bekannt und angesehen. Bereits als Dreißigjähriger habilitierte Jaspers mit einem Lehrbuch zur Allgemeinen Psychopathologie, ehe er sich der Philosophie zuwandte. Seine Lehrtätigkeit als Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg musste er im nationalsozialistischen Deutschland aufgrund seiner Ehe mit der Jüdin Gertrud Mayer von 1937 bis 1945 unterbrechen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er zunächst am Neuaufbau der Heidelberger Universität beteiligt. Von den politischen Entwicklungen im Nachkriegsdeutschland enttäuscht, folgte er 1948 einem Ruf an die Universität Basel. Ein zentraler Ausgangspunkt seiner Philosophie ist es, die menschliche Existenz als eine stets auf den Anderen gerichtete zu denken. In diesem Aufeinandergerichtetsein, das Jaspers als Kommunikation fasst, kommen sich die Menschen einander nahe, um dadurch zu sich selbst zu finden: Der Dialog mit dem Anderen wird immer in Bezug zur eigenen Existenz geführt. Jaspers pflegte zeitlebens eine intensive Freundschaft mit Hannah Arendt, die auch bei ihm promoviert hat. .

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Vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum die Abgrenzung zu anderen Begriffen oftmals schwierig ist. So kann beispielsweise das Handeln zum Leitbegriff einer humanistischen Psychologie erhoben werden, in der Kommunikation allenfalls eine nachgeordnete Rolle spielt (vgl. Straub 1999). Andersherum kann die Kommunikation aber auch zum Grundbegriff einer Sozialtheorie stilisiert werden, in der das Handeln zu einem Randphänomen der Kommunikation verkommt (vgl. Luhmann 1984). Nicht weniger schwierig gestaltet sich die Abgrenzung zwischen den verwandten Begriffen Interaktion und Kommunikation. Beide benennen ein wechselseitiges Aufeinanderwirken von zwei oder mehr Personen. An der Frage, in welcher Hinsicht dies geschieht, eröffnen sich Differenzierungsmöglichkeiten: Kommunikation zielt unter Verwendung von Symbolsystemen (etwa Sprache, Schrift) auf einen Informationsaustausch, der zum gegenseitigen Verstehen führen soll. In Interaktion werden ohne Anspruch auf Verstehen auch Gefühle, Blicke oder Güter getauscht. Empirisch sind solche Unterscheidungen natürlich nicht ohne Weiteres zu treffen, zeigt sich doch, dass Kommunikation nicht bloß über Symbolsysteme erfolgt (z. B. auf para- und nonverbaler Ebene) oder dass der Austausch von Gütern auch einen Informationswert besitzt (z. B. dahingehend, ob eine Ware geliefert oder nicht geliefert wurde). Daher spielen solche definitorischen Ein- und Abgrenzungsversuche für die empirische Forschung eine nachgeordnete Rolle. Im Vordergrund steht vielmehr, dass Kommunikation faktisch beobachtbar, beschreibbar, verstehbar und erklärbar ist. Gleichwohl beeinflussen Kommunikationstheorien empirische Arbeiten; umgekehrt bilden empirische Befunde häufig die Grundlage für Kommunikationsmodelle.

Modelle und Theorien der Kommunikation Das Shannon-Weaver-Modell Modellvorstellungen abstrahieren notwendigerweise von den empirischen Verhältnissen. Nicht immer findet das in der Arbeit mit ihnen Berücksichtigung. Exemplarisch steht hierfür die mitunter unreflektierte Übertragung nachrichtentechnischer Modelle, wie etwa des Shannon-Weaver-Modells (vgl. Shannon & Weaver 1949). Ursprünglich als mathematisches Modell der Nachrichtenübertragung konzipiert, gewann es auch in den Sozialwissenschaften enormen Einfluss. Demnach codiert ein Sender eine Information (z. B. durch Sprechen, also der stimmlichen Veränderung des Luftdrucks durch Schallwellen), die einen Empfänger über einen

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Übertragungskanal (z. B. Luft) erreicht, der die Nachricht wiederum decodieren, also wahrnehmen und kognitiv verarbeiten muss. Damit die Nachrichtenübermittlung erfolgreich sein kann, müssen Sender und Empfänger auf ein gemeinsames Codesystem (z. B. Sprache) zurückgreifen, und die Decodierbarkeit des Signals muss auch bei Störungen (z. B. Lärm) gewährleistet sein. Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive sind vor allem zwei Implikationen des Modells problematisch: Erstens wird suggeriert, Kommunikation sei ein linear-sequenzielles Geschehen, das nicht durch ein hohes Maß an Gleichzeitigkeit und Wechselseitigkeit von Sender und Empfänger gekennzeichnet wäre. Zweitens wird Kommunikation im Sinne einer Informationsverarbeitung des De-/Codierens und Übertragens als rein technisches Problem dargestellt. Dabei bleibt völlig außer Acht, dass Informationen im Rahmen menschlicher Kommunikation nicht einfach zu übertragende Signale sind, deren Bedeutung dem Signal inhärent wäre. Kommunikation beruht vielmehr auf einer stark sozial und kulturell geprägten Verwendung von Zeichen und Symbolen, deren Bedeutung in einem kooperativen Prozess durch die Beteiligten situativ immer wieder hergestellt wird. Insbesondere an diesem Punkt verbergen allzu einfach gestrickte Modelle menschlicher Kommunikation mitunter mehr, als sie aufdecken.

Kommunikation als bedeutsames Geschehen Wie lässt sich Kommunikation als bedeutungsvolles Geschehen angemessener konzipieren (vgl. hierzu ausführlich Paul 2013, S. 49–139)? Eine erste Antwort findet sich in den Arbeiten des Symbolischen Interaktionismus. Einer der wichtigsten Vertreter, George H. Mead (1863–1931; 1934), argumentierte: Die Bedeutung von Symbolen erschließt sich den Beteiligten durch deren Verwendung in Interaktionen qua Interpretation. Die Artikulation der sprachlichen Lautfolge „Stuhl“ etwa bringt als Symbol die gemeinsame Idee eines Stuhls zum Ausdruck, wenn die Aussage „Stuhl“ von den Beteiligten ähnlich interpretiert wird. Genau darin liegt eine wesentliche Leistung menschlicher Kommunikation. Sie schafft für die miteinander Kommunizierenden eine geteilte Intentionalität und erlaubt es ihnen, eine kooperative Infrastruktur zu entwickeln und kommunikative Konventionen auszubilden (vgl. Tomasello 2011). Eine solche Grammatik der Kommunikation beruht nach Überlegungen der Semiotik (Morris 1979) auf drei eng miteinander verwobenen Sinndimensionen: (1) Syntaktik als die Relationen der Zeichen zueinander im Rahmen eines Zeichensystems (etwa die Lautfolge „Stuhl“ und nicht „Tisch“), (2) Pragmatik als die Verwendung der Zeichen (die Artikulation von „Stuhl“) und (3) Semantik als die Beziehung der Zeichen zu dem, was durch sie bezeichnet wird

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(der durch die Lautfolge „Stuhl“ evozierte Verweis auf die allgemeine Vorstellung eines Stuhls).1 Auf diesen Grundlagen sind Symbole hinsichtlich ihrer sozialen und kulturellen Bedeutung erkenn- und verstehbar.

Weitere Ausdrucksformen der Kommunikation Bedeutung ist aber nicht der einzige Aspekt, der in und durch Kommunikation zum Ausdruck gebracht wird. Viele weitere Aspekte finden sich in der vom Kommunikationswissenschaftler Harold Lasswell (1902–1978; 1948) griffig formulierten Frage: Wer sagt was zu wem, womit, durch welches Medium, mit welchem Effekt? Der erste Teil der Frage („Wer sagt was zu wem?“) verweist auf die Sach- und Sozialdimension der Kommunikation, die auch Gegenstand des Organon-Modells von Karl Bühler (1879–1963) sind. Der Psychologe Bühler benennt drei fundamentale Funktionen der Sprache: Ausdruck, Darstellung und Appell. Im Sprechen benutzen die Sprechenden bestimmte Zeichen in bestimmter Hinsicht, womit sie nicht nur Sachverhalte darstellen, sondern auch persönliche Aspekte ausdrücken (z. B. Stimmungen, Einstellungen oder Motive). Mit jeder Aussage ist außerdem ein Appell an die potenziellen Zuhörer verbunden, etwa aufmerksam zu sein. Der Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun (1981) hat Bühlers Modell auf Grundlage einer qualitativen Studie um einen Beziehungsaspekt erweitert: Neben Selbstoffenbarung (bei Bühler „Ausdruck“ genannt), Inhalt („Darstellung“) und Appell tritt in Kommunikation die Beziehungsebene zwischen den Beteiligten hervor, also etwa soziale Hierarchien, Sympathien und Antipathien oder Gruppenzugehörigkeit.

Die Leibgebundenheit der Kommunikation Menschliche Kommunikation ist stets leibgebunden. Für die direkte Kommunikation „face-to-face“ ist die körperliche Ko-Präsenz von mindestens zwei Menschen notwendig, aber selbst Produkte der Massenkommunikation müssen unter (wenigstens 1

Es wäre nicht grundlegend falsch, die Begriffe Symbol und Zeichen synonym zu verwenden, doch sicherlich ungenau. Symbol und Zeichen verweisen auf zwei unterschiedliche Seiten einer „Sache“. Während sich Zeichen auf eine Art Innenseite beziehen, die Relationen der in einem System angeordneten Zeichen zueinander (syntaktische Dimension), ist mit „Symbol“ stärker ein Bezug nach außen gemeint, auf etwas, das durch ein Zeichen bezeichnet wird (semantische Dimension). Durch die konkrete Zeichenverwendung (Pragmatik) werden Innen- und Außenseite zueinandergebracht.

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geringem) körperlichem Einsatz produziert und konsumiert werden: Auch Telefon und Internet-Chat wären ohne Verwendung von Stimme oder tippenden Fingern unmöglich. Die direkte Kommunikation war das Forschungsfeld des amerikanischen Soziologen Erving Goffman (1922–1982). Er rückte die Interaktionssituation ins Zentrum seiner Betrachtungen: Sobald sich wenigstens zwei Menschen nahe genug kommen, um sich einander wahrzunehmen, befinden sie sich in einer gemeinsamen Situation. Durch das nun aufeinander bezogene Handeln entsteht eine symbolisch vermittelte Interaktionsordnung, die die beteiligten Personen in unterschiedlichem Ausmaß an die Situation bindet (Goffman spricht hier von „involvement“) und in der auch der Körper im Sinne nonverbaler Kommunikation unentwegt ein Kommunikationsmittel darstellt (Goffman 1966).

Ebenen und Dimensionen der Kommunikation Der Verweis auf die Körpersprache führt zum zweiten Teil der Lasswell’schen Frage: „Womit, durch welches Medium“ wird kommuniziert? Gemeinhin werden drei Ebenen der kommunikativen Vermittlung unterschieden: verbale, paraverbale und nonverbale Kommunikation. Erstere, das Sprechen (parole) auf Grundlage einer Sprache (langue) – eine Differenzierung des einflussreichen Sprachwissenschaftlers Ferdinand de Saussure (1857–1913; vgl. 2001), – begründet zusammen mit der Schrift das wichtigste Symbolsystem menschlicher Kommunikation. Das hohe Reflexionspotenzial der Sprache (etwa zum Thematisieren von Missverständnissen durch Metakommunikation) macht sie zu einer herausragenden Zeichenordnung, die freilich ohne Zutun, beispielsweise durch stimmliche Artikulation (paraverbale Kommunikation), nicht hervorgebracht werden könnte. Es zeigt sich, dass die obige Dreiteilung analytische Zwecke verfolgt, denn erst im Zusammenspiel von Sprechen, Stimme (mit ihrer je eigenen Prosodie wie Akzentuierung, Intonation, Tempo und Rhythmus) und nonverbalen Ausdrucksformen (z. B. Mimik, Gestik und Körperhaltung) wird der Kommunikation die Ereignisqualität verliehen, die sie empirisch besitzt. Es ließen sich noch viele weitere formale Differenzierungsmöglichkeiten der Kommunikation aufzählen. So werden beispielsweise ein- und mehrkanalige Kommunikation unterschieden, wobei schriftliche Kommunikation einkanalig, face-to-face-Kommunikation mehrkanalig ist. Daneben gibt es die Unterscheidung von ein- und mehrstufiger Kommunikation: Mehrstufig ist sie zum Beispiel im Rahmen einer Befehlskette, die eine Mitteilung „von oben nach unten“ durch mehrere Instanzen weiterreicht. Außerdem lassen sich ein-, zwei- und mehrseitige Kommunikation differenzieren. Einseitig wäre das Lesen einer Zeitung, zweiseitig

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der Dialog und mehrseitig eine Gruppendiskussion. Schließlich lassen sich auch die direkte und indirekte Kommunikation getrennt voneinander betrachten (vgl. Graumann 1972, S. 1181–1194). Letztere Unterscheidung ist eng mit der Frage verknüpft, durch welches Medium kommuniziert wird, wobei zwischen einem engen und einem weiten Medienbegriff unterschieden wird.

Zum Medienbegriff Im weiten Verständnis sind Medien die Summe lose gekoppelter Formen, wobei Medium und Form sich wechselseitig bedingen: In verbaler Kommunikation ist etwa die Luft Medium für die Übertragung bestimmter, nicht beliebiger stimmlicher Formen. Sie bilden einen begrenzten „Pool“ möglicher, in Teilen frei kombinierbarer (loser gekoppelter) sprachlicher Laute. Dadurch wird eine beliebige Lautartikulation ausgeschlossen, sodass Sprechen von Lärm unterschieden werden kann, ohne dass der notwendige Variationsreichtum der Sprache eingeschränkt werden würde (vgl. Heider 2005). Das enge Verständnis setzt an einem technischen Medienbegriff an und nimmt indirekte Kommunikationsformen in den Blick, bei denen die Beteiligten räumlich und/oder zeitlich unabhängig voneinander kommunizieren. Medien sind hier vor allem technische Mittel zur Kodierung, Übermittlung, gegebenenfalls Speicherung und Ausgabe von Informationen.2 Der enge Medienbegriff führt zum letzten Teil der Lasswell’schen Frage: „Mit welcher Absicht, mit welchem Effekt“ wird kommuniziert? Antworten darauf finden sich vor allem in der Medien- und Kommunikationspsychologie.

2 Der Medienbegriff ist vielschichtig, was eine Systematisierung notwendig macht, zum Beispiel hinsichtlich materieller (Luft, Papier), kommunikativer (Sprache, Bilder), technischer (Radio, Fernsehen) und institutioneller Medien (Fernsehanstalten, Verlage; vgl. Bentele & Beck 1994, S. 40).

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Befunde und Ergebnisse der Medien- und Kommunikationspsychologie Kommunikation ist an die Möglichkeiten gebunden, die ein Medium wie Telefon, E-Mail, Fernsehen oder Internet-Chat eröffnet und verschließt. Ein zentrales Anliegen der Kommunikationsforschung ist es daher zu studieren, auf welchen Grundlagen Medien genutzt werden und welche Konsequenzen sich daraus für die Kommunikation ergeben.

Erklärungsansätze zur Medienwahl Als Erklärungsansätze zur individuellen Medienwahl dominieren gratifikationstheoretische Modelle. Sie nehmen an, dass Medienangebote dann genutzt werden, wenn sie eine „Belohnung“ versprechen. Das kann eine Information sein, aber auch Ablenkung, Zeitvertreib, Geselligkeit, persönliche Identifikation, Spannung oder Entspannung. Das Diskrepanzmodell von Philip Palmgreen (vgl. 1984) erklärt die Wahl eines bestimmten Medienangebots durch Unterschiede zwischen der aktuell gesuchten und der zu erwartenden Gratifikation, die verschiedene Medienangebote vermutlich besitzen. Das Angebot mit der geringsten Diskrepanz zwischen Gesuchtem und Erwartetem wird gewählt, wobei die tatsächlich erhaltene Belohnung die künftigen Erwartungen beeinflusst. Solche idealisierten Modelle beruhen auf rationalen Erwägungen eines jederzeit gut informierten Akteurs. Medienangebote werden jedoch auch aus einer nicht weiter begründbaren Gewohnheit genutzt. Deshalb sollte also die instrumentelle von der ritualisierten oder habituellen Mediennutzung unterschieden werden (vgl. Rubin 1984). Während eine instrumentell orientierte Wahl auf mehr oder weniger komplexen Kosten-Nutzen-Kalkülen beruht, ist eine habitualisierte Wahl viel stärker von einem gewohnheitsmäßigen, inkorporierten Verhalten geprägt, das sich vor dem Hintergrund einer individuellen sozialen Position und in Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlich und kulturell vorgeprägten Raum strukturell verfestigt, ohne auf Dauer festgelegt zu sein. Ferner existieren pathologische Formen der Mediennutzung, die durch eine dysfunktionale, mitunter suchtförmige Exzessivnutzung gekennzeichnet sind. Erklärungsansätze gehen von einer wechselseitigen Beeinflussung und Verstärkung von Persönlichkeitsmerkmalen und individuellen Variablen (z. B. depressive Veranlagung, schwach ausgebildetes soziales Netzwerk) einerseits und dem Ausmaß und der Qualität der Mediennutzung andererseits aus (vgl. Six 2007).

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Medieneffekte Im Vergleich zur face-to-face-Kommunikation bedingt die Nutzung technischer Medien eine verringerte Anzahl und eine verminderte Kapazität möglicher Übertragungskanäle. Das bleibt nicht ohne Folgen. Im E-Mail-Verkehr oder Internet-Chat entfallen etwa aktuelle visuelle Eindrücke der Kommunikationspartner, und das Kommunikationsgeschehen verläuft stark seriell. Zum einen gilt die computervermittelte Kommunikation daher als egalitärer, da personenbezogene Statusinformationen und Zugangshürden zu möglichen Kommunikationspartnern an Bedeutung verlieren. Zum anderen gehen durch die fehlende räumliche Nähe wichtige interaktive Verhaltenskontrollen verloren („Interaktionsordnung“), wodurch eine stärker egozentrierte, impulsivere und weniger differenzierte Kommunikation wahrscheinlicher wird (vgl. Sproull & Kiesler 1992). Die Medienwahl ist auch in organisatorischen Kontexten wie der Unternehmenskommunikation Gegenstand der Forschung. So werden etwa im Rahmen der Media-Richness-Theorie „schlankere“ (einkanalige) von „reicheren“ (mehrkanaligen) Medien unterschieden. Demnach empfinden Menschen die Kommunikation über reichere Medien insgesamt als zufriedenstellender. Dagegen haben die schlankeren Medien den Vorteil, den Informationsaustausch auf das Notwendige zu begrenzen, wodurch sich stark strukturierte Aufgaben effizienter erledigen lassen (vgl. Daft & Lengel 1984). Neben der Medienwahl steht die Medienwirkung ganz oben auf der kommunikationspsychologischen Forschungsagenda, wobei zwischen langfristigen und kurzfristigen Wirkungen, direkten und indirekten Einflüssen (z. B. durch Multiplikatoren), emotionalen und kognitiven Effekten oder Auswirkungen auf Mikro- und Makroebene (z. B. thematische Mobilisierung der Öffentlichkeit) unterschieden wird. Die Medienwirkung lässt sich ferner im Hinblick auf Merkmale des Senders, der Mitteilung und des Empfängers weiter differenzieren (vgl. Fischer & Wiswede 2009, S. 360). Der Einfluss von Mitteilungen steigt mit der wahrgenommenen und attribuierten Glaubwürdigkeit des Senders, die wiederum durch die ihm zugeschriebene Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit bedingt ist (vgl. Hovland et al. 1953). Ob dem Sender vertraut werden kann oder nicht, hängt davon ab, wie interessensgebunden seine oder ihre Aussage eingeschätzt wird: Sender und Botschaft werden vom Empfänger auf mögliche Absichten geprüft. Erscheint die Mitteilung als eigennützig (z. B. um etwas zu verkaufen), gilt sie als interessensgebunden und weniger glaubwürdig, steht die Botschaft jedoch im Widerspruch zu den vermuteten Interessen des Senders, wirkt sie besonders glaubhaft. Einfluss auf die Wirkungen von Mitteilungen besitzen ferner die Attraktivität des Senders, die wahrgenommene

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Ähnlichkeit zwischen Sender und Empfänger und die Frage, wie sympathisch der Sender dem Empfänger ist. Je attraktiver und sympathischer der Sender und je größer die Ähnlichkeit zwischen den an der Kommunikation beteiligten Personen (z. B. hinsichtlich Alter, Status oder Lebensstil), desto wahrscheinlicher ist es, dass eine Mitteilung eine Einstellungsänderung beim Empfänger bewirken kann. Die bislang genannten Einflussfaktoren entfalten vor allem dann eine Wirkung, wenn der Mitteilungsinhalt für den Empfänger von vergleichsweise geringer Bedeutung ist. Dann erfolgt die Informationsverarbeitung über die sogenannte periphere Route, in der keine größeren kognitiven Anstrengungen unternommen werden. Sind die kommunizierten Sachverhalte dagegen von persönlicher Relevanz und ist der Empfänger motiviert und fähig, sich damit intensiver auseinanderzusetzen, werden die Kommunikationsinhalte stärker kognitiv elaboriert. Die auf dieser zentralen Route der Informationsverarbeitung gewonnenen Einstellungen sind gemeinhin stabiler und besitzen im Hinblick auf das Verhalten eine höhere Prognosefähigkeit. Diese Systematisierung verschiedener Aspekte der Medienwirkung ist als Elaboration-Likelihood-Model bekannt (vgl. Petty & Cacioppo 1986). Die zuletzt genannten Theorien und Modelle der Medienwirkung gehen mehr oder weniger stillschweigend davon aus, dass es unproblematisch sei, die mitgeteilten Informationen und andere Aspekte der Kommunikation richtig, also im Sinne der Intentionen des Senders, zu erkennen und zu verstehen. Dass es sich dabei um eine durchaus voraussetzungsvolle Annahme handelt, zeigt sich deutlich im Kontext interkultureller Kommunikation.

Interkulturelle Kommunikation Interkulturelle Kommunikation ist Kommunikation, die sich unter Einsatz unterschiedlicher kulturell geprägter Symbolsysteme vollzieht. Diese Definition schließt die folgenden vier Punkte mit ein: (1) Nur wenn die beteiligten Personen Kommunikation tatsächlich mithilfe von kulturell unterschiedlichen Orientierungssystemen zu verstehen suchen, sollte von interkultureller Kommunikation die Rede sein. Ein Gespräch zwischen zwei Personen unterschiedlicher nationaler Herkunft ist also nicht per se interkulturell, sondern kann sich zum Beispiel im professionalisierten Kontext stark strukturierter Unternehmensabläufe vor dem Hintergrund gemeinsamer, für ein Unternehmen typischer Orientierungen vollziehen. (2) Interkulturelle Kommunikation ist nicht auf Nationalkulturen beschränkt, sondern erfasst auch innergesellschaftliche kulturelle Unterschiede, sofern sie in der Kommunikation zutage treten (s. Punkt 1). (3) Interkulturelle Kommunikation wird häufig als (potenziell) problembehaftet thematisiert und einer weitgehend unproblematisch

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verlaufenden intrakulturellen Kommunikation gegenübergestellt. Eine solche Perspektive verkennt leicht, dass es im Austausch zwischen Personen gleicher kultureller Herkunft ebenfalls problematisches (Miss-)Verstehen geben kann und dass nicht jede störanfällige Kommunikationssituation mit einer (möglicherweise) problembeladenen interkulturellen Kommunikation zu tun hat. (4) Interkulturelle Kommunikation umfasst alle bislang dargelegten Aspekte der Kommunikation. Insbesondere können sämtliche Ebenen (verbal, para- und nonverbal) und Dimensionen (Ausdruck, Darstellung, Appell, Beziehung) der Kommunikation berührt sein, wie sie sich zum Beispiel in unterschiedlichen Vorstellungen über eine angemessene räumliche Distanz im Gespräch oder durch verschiedene kulturell übliche Formen des Selbstausdrucks und der Selbstpräsentation zeigen. Ein solches Verständnis von interkultureller Kommunikation beruht auf einem hinreichend komplexen Kulturbegriff: „Kultur“ verweist stets auf eine variable Mehrzahl von Personen, die in ein Bedeutungsgewebe aus Wirklichkeitsdefinitionen, Welt- und Selbstauffassungen, Deutungsund Orientierungsmustern sowie – vor allem und zuerst – in kollektive symbolische, insbesondere sprachliche Praktiken eingebunden sind. Eine Kultur kann abstrakt als Zeichen-, Wissens-, und Orientierungssystem aufgefasst werden, das die Praxis, mithin das Handeln (Denken, Fühlen, Wollen und Wünschen) aller daran teilhabenden Personen strukturiert und ordnet, ermöglicht und begrenzt. (Straub 2007, S. 15)

Kultur als ein abstrakter, analytischer Verweisungsbegriff ist also an Handlungspraxen gebunden, die durch grundlegende kollektive Orientierungen strukturiert sind und diese Orientierungsmuster zugleich immer wieder in zumindest ähnlicher Weise hervorbringen. Empirisch lässt sich fraglos zeigen, dass Kommunikation zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen für sie ein manches Mal unbefriedigend, verwirrend oder gar verstörend verläuft. Es kommt zu mehr oder weniger schwerwiegenden interkulturellen Missverständnissen, sogenannten „critical incidents“. Diese dienen in vielen interkulturellen Trainingsmaßnahmen als Ausgangspunkte, um Lernprozesse anzustoßen, die das persönliche Handlungspotenzial zu vergrößern helfen. Damit lassen sich interkulturelle Kommunikationssituationen besser bewältigen, was zu einer gesteigerten interkulturellen Kompetenz führt (vgl. Leenen 2007). Hierzu zählen insbesondere: (1) die kulturelle Bedingtheit des eigenen und fremden Denkens, Handelns und Fühlens erfassen und reflektieren zu können, (2) kulturelle Unterschiede anzuerkennen und sich ihnen gegenüber tolerant zu zeigen (Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz) und (3) die Fähigkeit, das Wissen um und über interkulturelle Unterschiede in actu umsetzen zu können (vgl. ausführlich und für eine kritische Diskussion des Kompetenzbegriffs Alexander 2003).

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Die Bearbeitung von critical incidents ermöglicht es den Lernenden, im Rahmen von Trainingsprogrammen Strukturähnlichkeiten zwischen konkreten Handlungsproblemen und der Lernsituation herzustellen sowie das Lerngeschehen an ihre Erfahrungen anzubinden. Es geht mit anderen Worten darum, eine situierte Lernumgebung zu schaffen, in der die Lernenden das Kommunikationsgeschehen anhand von critical incidents zunächst selbst interpretieren und dann mithilfe wissenschaftlicher Perspektiven und Wissensbeständen reflektieren. Auf dieser Grundlage kann das Kommunikationsproblem oftmals besser verstanden und das Gelernte auf andere Handlungskontexte übertragen werden (Kammhuber 2000). An critical incidents wird in besonderem Maße deutlich, was interkulturelle Kommunikation im Allgemeinen charakterisiert: Eigenes und Fremdes geraten unter den Prämissen des kommunikativen Austauschs in einer Weise zueinander in Beziehung, in der sie füreinander „nicht neutral dargestellt, sondern diskursiv konstruiert und relationiert werden“ (Renn, Straub & Shimada 2002, S. 9). Sie gehen eine Art Übersetzungsverhältnis ein, bei dem die im Hintergrund tätigen kulturellen Orientierungen unentwegt in Bewegung geraten und eine gelungene Kommunikation „an praktische, politische und moralische Fragen der Gestaltung sozialer Beziehungen gekoppelt“ ist (Renn et al. 2002, S. 9). Kommunikation in interkulturellen Kontexten offenbart in besonderer Weise, dass in Kommunikation unentwegt zwischen Eigenem und Fremdem vermittelt wird.

Fazit Die sozial- und kulturpsychologische Forschung widmet sich dem vielschichtigen Phänomen menschlicher Kommunikation aus unterschiedlichen Perspektiven. Thematisiert werden zum Beispiel eng umrissene Fragen der Medienwirkungsforschung, grundlegende Arbeiten zur Bedeutungskonstitution oder auch spezifische Bereiche der interkulturellen Kommunikation. Gemeinsam ist all diesen Betrachtungsweisen, dass Kommunikation eine Perspektive auf Individuum und Gesellschaft bietet, die dieser Dualität ein Drittes zur Seite stellt. Mittels eines differenzierten Kommunikationsbegriffs können der Mensch und das Soziale in einem komplexen, wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis gedacht und eine erkenntnistheoretisch problematische Gegenüberstellung vermieden werden. In Vergessenheit darf freilich nicht geraten, dass Kommunikation als ein wissenschaftliches Konzept notwendigerweise eine Wirklichkeit begrifflich-theoretisch zu fassen sucht, die uns mittels wissenschaftlicher Kategorien niemals in Gänze zugänglich sein wird.

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Verständnisfragen

▶ Welche Möglichkeiten und etwaigen Schwierigkeiten kennen Sie, „Kommunikation“ gegenüber anderen zentralen sozialwissenschaftlichen Begriffen (z. B. Handeln, Interaktion) abzugrenzen? ▶ Auf welcher Grundlage können die beteiligten Personen in Kommunikation eine gemeinsame Deutung der sozialen Wirklichkeit vornehmen? ▶ Welche Zusammenhänge zwischen Kommunikation und Kommunikationsmedien kennen Sie? ▶ Welche Anforderungen müssen erfüllt sein, damit es sinnvoll ist, von interkultureller Kommunikation als eigenständigem Phänomen zu sprechen?

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Gemeindepsychologie Jarg B. Bergold und Olaf Neumann

Zusammenfassung

Im folgenden Kapitel wird die Gemeindepsychologie (GP) dargestellt, deren zentrale Analyseeinheit die „Person im Kontext“ ist. Damit unterscheidet sie sich grundlegend von der klassischen Psychologie, welche auf das Individuum als Analyseeinheit fokussiert. Die menschliche Entwicklung wird von der GP immer als Entwicklung dieser Einheit von Person und sozialem und materiellem Kontext – der menschlichen Gemeinschaft (community) – gesehen. Das können zum Beispiel eine Familie, eine Schule, eine Firma, aber auch ein Dorf, eine ethnische Gruppe oder eine spezifische Kultur sein. Die GP hat theoretische Konzepte zum Verständnis sozialer Verhältnisse entwickelt, die von Werten wie Gleichheit, Gerechtigkeit und Anerkennung des Mitmenschen in seiner Andersartigkeit geprägt sind. Durch die Analyse der gesellschaftlichen Machtverhältnisse auf unterschiedlichen Ebenen wird versucht, kritisch diejenigen Formen der Machtausübung zu identifizieren, welche zur Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer und psychischer Probleme beitragen. Auf dieser Grundlage entstanden Praxismethoden, die Menschen aus marginalisierten Gruppen dabei unterstützen, sich zu ermächtigen, Unterdrückung zu überwinden und ihre Ressourcen zu entdecken und zu entwickeln; die Methoden tragen so dazu bei, individuelle und kollektive Gesundheit und allgemeines Wohlbefinden zu fördern. Der Schwerpunkt gemeindepsychologischer Arbeit liegt auf Prävention, Empowerment und Veränderung der Lebensbedingungen. Auch in der Forschung ist die GP bestrebt, Gleichberechtigung zwischen allen Beteiligten herzustellen und das hierarchische Verhältnis von „Forschenden“ und „Beforschten“ aufzulösen.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7_15

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Geschichte Der Beginn der Community Psychology wird in den USA üblicherweise auf die „Conference on the Education of Psychologists in Community Mental Health“ (abgekürzt „Swampscott Conference“) von 1965 zurückgeführt. Auf dieser Konferenz wurden neue Arbeitsmöglichkeiten für Psychologen im Tätigkeitsfeld des Community Mental Health Centers diskutiert, das durch John F. Kennedys Community Mental Health Act (1963) entstanden war. Experimentelle und Klinische Psychologie mit ihrem individualisierenden Ansatz boten für diese neue Praxis keine ausreichenden Arbeitswerkzeuge. Weitere Entwicklungsimpulse gingen von den Rassenauseinandersetzungen in den 1950er-Jahren, der Civil Rights Movement von Martin Luther King, den Protesten gegen den Vietnamkrieg und den Lesben- und Schwulenbewegungen aus. Die Teilnehmenden der Swampscott Konferenz forderten daher grundlegende soziale Veränderungen und kritisierten die Enge des Community-Mental-Health-Ansatzes, der die gesellschaftliche Herkunft der Probleme nicht ausreichend thematisiere. Die zunehmende Etablierung lässt sich an der Gründung der eigenständigen Society for Community Research and Action (SCRA) und der Entstehung verschiedener gemeindepsychologischer Zeitschriften ablesen. Das anfängliche Dilemma, einerseits durch die staatliche Finanzierung von Mental-Health-Programmen gefördert zu werden und damit von der spezifischen Ausrichtung dieser Programme abhängig zu sein, andererseits politischen Wandel zu fordern, begleitet die US-amerikanische Community Psychology bis heute (Kelly & Chang 2008). Im deutschsprachigen Raum begann die Entwicklung der Gemeindepsychologie verzögert im Zusammenhang mit der Studentenbewegung von 1968 und, damit eng verbunden, mit der kritischen Auseinandersetzung mit der Psychiatrie aus soziologischer und sozialpsychiatrischer Perspektive. Sowohl der psychopathologische Krankheitsbegriff (Keupp 1972) als auch „die gesellschaftliche Organisierung psychischen Leidens“ (Keupp & Zaumseil 1978) wurden infrage gestellt. Parallel dazu begann die Rezeption US-amerikanischer gemeindepsychologischer Analysen und Konzepte (Sommer & Ernst 1977). Kennzeichnend für die deutsche GP war zunächst, dass sie sich in enger Verbindung mit einer Auffassung von Verhaltenstherapie entwickelte, die durch die politischen Diskurse der Studentenbewegung geprägt war. Ihre Selbstständigkeit erlangte sie dann durch die Gründung der Gesellschaft für gemeindepsychologische Forschung und Praxis (GGFP) und die Zeitschrift „Forum Gemeindepsychologie“ (www.gemeindepsychologie.de; Überblick bei Bergold & Seckinger 2007).

Gemeindepsychologie

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Klassische Auffassung Die GP ist grundsätzlich ein interdisziplinärer Ansatz. Zur Durchdringung ihres Gegenstandes macht sie sich also Erkenntnisse anderer Disziplinen zu eigen, zum Beispiel der Verhaltenstherapie, Sozialpsychologie, Soziologie, Ethnografie, Public Health, Sozialphilosophie, Politikwissenschaft und Befreiungstheologie. Diese Interdisziplinarität ist der Hintergrund für ihr kreatives Potenzial, doch sie ist auch für die Schwierigkeiten bei der Etablierung der GP als eigenständiges Fach der Psychologie verantwortlich. Auch in der Praxis ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Berufsgruppen und den unmittelbar betroffenen Menschen, die als Experten ihrer Lebenswelt betrachtet werden, selbstverständlich. Themenbereiche und Zielsetzungen der GP waren anfänglich Theorien psychischer Krankheit und Gesundheit, Probleme der psychosozialen Versorgung und die Entwicklung von gesundheitsfördernden Institutionen. Statt die Defizite psychisch Kranker zu thematisieren, richtete sich die Aufmerksamkeit auf die Ressourcen der Menschen und auf die Umgestaltung der unmittelbaren Lebenskontexte, wobei Kontext und Person sowohl im analytischen Denken als auch im praktischen Vorgehen als untrennbare Einheit verstanden werden. Diese Orientierung ließ neue Themenfelder wie zum Beispiel Prävention, Gesundheitsförderung, Gemeinwesenentwicklung und Empowerment hervortreten. Ein weiterer Fokus liegt heute auf dem Kampf gegen Unterdrückung und für soziale Gerechtigkeit und Befreiung von Armut, Ausgrenzung, Marginalisierung und Diskriminierung. Damit geht der Anspruch einher, einen sozialen Wandel herbeizuführen, der zur Verbesserung der Lebensbedingungen von unterprivilegierten Teilen der Bevölkerung führt. Die Theorieschwerpunkte sind von der Entscheidung geprägt, als grundlegende Analyseeinheit die „Person im Kontext“ (Orford 2008) zu setzen, d. h. sowohl in der Analyse als auch bei Interventionen nicht auf das vereinzelte Individuum, sondern auf diese Einheit zu fokussieren. Diese sozial-ökologische Konzeption wurde von James Kelly (1968) in die GP eingeführt. Damit beschrieb er psychologische Anpassung transaktional, d. h. als Passung von Individuum und Umwelt. Mit dieser theoretischen Perspektive wird auf die Interdependenz zwischen Individuen und sozialen Strukturen und Prozessen in Gruppen, Organisationen und Gemeinschaften verwiesen. Seymour Sarason entwickelte 1972 das Konzept des sozialen Settings. Damit bezeichnete er ein System von Beziehungen zwischen Menschen, das über eine bestimmte Zeit zur Erreichung gemeinsamer Ziele aufrechterhalten wird. Heute wird das System durch drei Aspekte gekennzeichnet: (a) soziale Prozesse, die als Regelmäßigkeiten in der Transaktion zwischen den Settingmitgliedern zu beobachten sind, (b) menschliche, materielle und zeitliche Ressourcen und (c) Zusammenset-

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zung, Organisation und Verteilung dieser Ressourcen (Seidman 2011). Ein soziales Setting kann zum Beispiel eine Familie, eine Schulklasse oder eine Institution sein. Um die kleinen, alltäglichen Settings sind sphärisch größere angeordnet. Durch Veränderung der sozialen Prozesse (z. B. von Normen und alltäglichen Praktiken) in einem Setting oder durch Aktivierung oder Neuentwicklung von Ressourcen werden Interventionen möglich, die präventiv und therapeutisch auf Individuen wirken. Das konkrete gemeindepsychologische Vorgehen ist gekennzeichnet durch eine Orientierung an den Ressourcen und damit an der Entdeckung von Chancen und Möglichkeiten der Menschen in ihren Lebenskontexten. Die Gruppe um Sarason entwickelte auch das Konzept des psychological sense of community (PSoC), das zu den am häufigsten untersuchten gemeindepsychologischen Ansätzen zählt. Sarason verstand darunter „the sense that one was part of a readily available mutually supportive network of relationships upon which one could depend, and as a result of which one did not experience sustained feelings of lonelinessy“ (1974, S. 1). Studien haben ergeben, dass ein positiver PSoC ein protektiver Faktor bei vielen Belastungen ist und dass er soziales und bürgerschaftliches Engagement fördern kann. Kritisch ist anzumerken, dass der PSoC häufig als Persönlichkeitsmerkmal – also individualpsychologisch – verstanden wird, was der Grundidee der GP zuwiderläuft. Der PSoC ist eng mit der jeweiligen Umwelt des Individuums verbunden, mit ihren materiellen, personalen und sozialen Ressourcen und der Unterstützung, die das Individuum von dort erfährt (Überblick bei Nowell & Boyd 2010). Das Konzept der sozialen Netzwerke ist dagegen primär auf den Kontext bezogen. Die Begriffsmetapher stammt ursprünglich aus einer anthropologischen Untersuchung der sozialen Beziehungen in einem norwegischen Bauerndorf. Die Knoten stellen Personen oder andere soziale Einheiten dar, die Verbindungsstränge symbolisieren Formen des Austausches zwischen Personen. Etliche Untersuchungen haben ergeben, dass soziale Netzwerke eine integrative und schützende Wirkung bei der Bewältigung individueller Krisen, aber auch in gesamtgesellschaftlichen Umbruchsituationen entfalten können (Röhrle 1994). Beim Bemühen um gesellschaftliche Veränderungen sind Partizipation und Empowerment die grundlegenden Konzepte in der GP. Ziel gemeindepsychologischer Praxis ist es, die Menschen an der Ausgestaltung ihrer Lebensbedingungen und damit ihrer Entwicklungsmöglichkeiten unmittelbar zu beteiligen. Das für die GP zentrale Konzept des Empowerment stammt aus der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA, ist seinem Ursprung nach also politisch. 1981 wurde es durch Julian Rappaport in den gemeindepsychologischen Diskurs eingeführt: „Empowerment is viewed as a process: the mechanism by which people, organizations, and communities gain mastery over their lives“ (Rappaport 1981, S. 2). Für Rappaport

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sind Widersprüche das zentrale Element gemeindepsychologischen Denkens. Daher entwirft er Empowerment als Denkrahmen, der diese Widersprüche in den Blick nimmt, und als Handlungsrahmen, der die Suche nach Möglichkeitsräumen in den Vordergrund stellt, in denen sich der Eigen-Sinn der Menschen hin zu mehr Partizipation und einer selbstbestimmten Zukunft entfalten kann. Das Empowerment-Konzept versucht, die Brücke zwischen der sozialpolitischen Einfluss- und der konkreten Interventionsebene zu schlagen. Heute unterscheidet man zwischen psychologischem und organisationalem Empowerment. Mit dem ersten ist die Selbstbefähigung des Individuums gemeint, mit dem zweiten die Ermächtigung von Organisationen, die bei ihren Mitgliedern psychologisches Empowerment hervorrufen können. Ermächtigte Organisationen beeinflussen den übergeordneten Systemzusammenhang (Peterson & Zimmerman 2004). Im deutschen Diskurs wird das Rollenverständnis der professionellen Helfer und die notwendige Veränderung der Machtverhältnisse hin zu einer „neue Kultur des Helfens“ thematisiert. Darüber hinaus wird die Suche nach Möglichkeitsräumen – anstelle von professionellen Routinen und „psychosozialen Fertigprodukten“ – gefordert. Durch die breite Verwendung des Empowerments in der Psychiatrie, der Sozialarbeit, bei Selbsthilfegruppen und Managementkonzepten ist es zu einem relativ bedeutungslosen Modebegriff geworden: Individualisierend interpretiert, verliert es seine strukturverändernde und damit politische Potenz. Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Empowerment die Beteiligten überfordern oder ihrem kulturellen Selbstverständnis nicht angemessen sein kann, da es die westliche Ideologie des autonomen Subjekts reproduziert.

Wesentliche Erweiterungen Als positives Zielkonzept entwickelte die GP zunächst die Ressourcenorientierung, doch damit war noch kein erwünschter positiver Zustand definiert. Daher wird in jüngster Zeit das Konzept des Wohlbefindens (well-being) diskutiert, das Isaac Prilleltensky definiert als „a positive state of affairs, brought about by the simultaneous and balanced satisfaction of diverse objective and subjective needs of individuals, relationships, organizations, and communities“ (Prilleltensky 2012, S. 3). Wohlbefinden ist allerdings kein universalistisches Ideal, denn die objektiven und subjektiven Bedürfnisse variieren zwischen Menschen in einer Kultur und zwischen den Kulturen. Daher ist Wohlbefinden auch eine empirische Fragestellung. Das Konstrukt der Diversität war ebenfalls nicht von Anfang an Teil der GP. Auf der Swampscott Konferenz wurde die GP vor allem von weißen, männlichen

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Akademikern formuliert, und es dauerte etwa 20 Jahre, bis Themen wie Gender oder Rassismus größere Beachtung fanden (Trickett, Watts & Birman 1993). Heute ist Diversität ein integraler Teil der GP: Gemeint ist damit die Anerkennung und Berücksichtigung von Unterschieden, zum Beispiel hinsichtlich sexueller Orientierung, Alter, Herkunft, Milieu, Religion, geistiger oder körperlicher Befähigung.

Praxismethoden Das praktische Vorgehen konzentriert sich in der GP auf Settings, die Kompetenz und Wohlbefinden der Menschen im Rahmen von Prävention, von Interventionen in die Gemeinde oder von politischen Veränderungen fördern. Es handelt sich hier um Veränderungen zweiter Ordnung. Die Interventionen zielen auf den Kontext, der zwar schwerer als individuelles Verhalten zu verändern ist, aber effektivere und nachhaltigere Ergebnisse ermöglicht (Nestmann 2005). Sehr deutlich lässt sich der Perspektivenwechsel von der Sicht auf das Individuum auf die Sicht der Einheit von Individuum und Lebenswelt in der Klinischen Psychologie erkennen.

Ein Beispiel für die gemeindepsychologische Intervention im Kontext Familientherapeuten arbeiten traditionellerweise mit der Familie in ihren Praxisräumen bzw. in der Erziehungsberatung. Familien mit vielfachen, auch sozio­ ökonomischen Problemen kommen aber häufig nicht in die Erziehungsberatung, obwohl sie dringend therapeutische Unterstützung benötigen. Seit einiger Zeit hat sich aufgrund von gemeindepsychologischen Überlegungen die Aufsuchende Familientherapie (AFT) entwickelt. Hier arbeitet ein Therapeutenteam „vor Ort“, d. h., es geht dorthin, wo die Probleme be- bzw. entstehen, also in die Wohnung, die Schule oder den Jugendtreff. Zusammen mit der Familie und den anderen Beteiligten werden die Probleme analysiert. Dann wird versucht, Ressourcen und Möglichkeiten der Veränderung zu finden, sodass es zu neuen Entwicklungen in der Familie und bei dem/den möglicherweise problematischen Familienmitglied(ern) kommen kann. Bei einem aggressiven Jugendlichen kann das zum Beispiel eine Hausarbeitenhilfe, ein Schulwechsel oder der Eintritt in einen Sportverein sein. Gleichzeitig finden in den jeweiligen Situationen familientherapeutische Interventionen statt, sodass sich die Einheit von Familie und ihrem Kontext neu entwickeln kann (Überblick bei Heekerens 2012).

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In größerem Rahmen wird bei Gemeindeinterventionen versucht, sozial-politische Systeme wie Institutionen, Stadtteile oder Städte planvoll zu verändern, d. h., die nahen und weiteren Umwelten der Menschen so zu gestalten, dass sie die Ermächtigung und Entwicklung der Menschen fördern (Aber, Maton & Sidman 2011). Ein Beispiel hierfür ist das Quartiersmanagement (Trojan & Legewie 2001), das auf die Schaffung eines organisatorischen Rahmens zielt, durch den die Bewohnerinnen und Bewohner von „Problemvierteln“ angeregt werden, die Lebensqualität ihres städtischen Lebensraums selbst zu verbessern. Auch die Prävention ist eine Veränderung zweiter Ordnung. In gemeindepsychologischen Diskursen wird sie meist im Zusammenhang mit Gesundheitsförderung genannt. Durch diese Verbindung will man der Einseitigkeit des störungsspezifischen Blicks auf die Vermeidung von Krankheiten bzw. deren Folgen entkommen. Die Münchner Erklärung zur Gesundheitsförderung (GGFP 2009) nimmt Prävention als Teil einer umfassenderen gesundheitsförderlichen Strategie wahr. Solche Strategien richten sich im gemeindepsychologischen Denken an den Prinzipien des Empowerments und der Partizipation aus. Insgesamt setzt die GP stärker auf Beratung als auf Therapie. An den gängigen Beratungsmodellen kritisiert sie allerdings die Expertendominanz und das Fehlen partizipatorischer Elemente (Gemeindepsychologische Beiträge in Nestmann, Engel & Sickendieck 2004). Dem tradierten, pathologiezentrierten Blick wird eine Ressourcenorientierung im Sinne des salutogenetischen Ansatzes (Lenz 2011) gegenübergestellt: Er untersucht die Faktoren für die Entstehung von Gesundheit und will Gesundheit fördern.

Forschungsmethodik Grundsätzlich werden in der GP alle methodologischen und methodischen Ansätze genutzt. Die Auswahl des konkreten methodischen Vorgehens hängt von der jeweiligen Gegenstandsauffassung und der Fragestellung ab. Zwei Grundannahmen sollen besonders herausgehoben werden. Aus der Analyseeinheit „Person im Kontext“ ergibt sich das Konzept der Perspektivität, d. h. der Achtung der Sichtweise jeder und jedes Einzelnen. Damit verbunden ist die Wertschätzung von lokalem Wissen, das aus dem Handeln in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten entsteht. In den USA wurde ein großer Teil der Untersuchungen mit quantitativen Methoden durchgeführt, was wichtige Ergebnisse erbracht hat. Vor allem in neuerer Zeit wird nun ein Ansatz gesucht, der es auch mit quantitativen Methoden erlaubt, personenorientierte Untersuchungen durchzuführen, um unterschiedliche Perspek-

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tiven sichtbar zu machen. Eine grundsätzliche methodische Offenheit wird mit der Diskussion um „Mixed Methods“ (Kelle 2001) angestrebt, d. h. eine Kombination von qualitativen und quantitativen Methoden. Trotz dieser Offenheit für verschiedene methodische Ansätze gibt es eine konzeptuelle Nähe von GP und qualitativen Verfahren (Bergold 2000). Qualitative Methoden bieten sich an, wenn unterschiedliche Perspektiven und individuelles bzw. lokales Wissen erforscht werden sollen. Dabei werden die Erhebungsmethoden ständig erweitert. Zum Beispiel sind neben den üblichen Interviews und Gruppendiskussionen Verfahren wie Rollenspiel, lautes Denken und visuelle (z. B. Foto, Video) sowie performative Methoden (z. B. Dichtung, Theater) hinzugekommen. Unmittelbar aus dem gemeindepsychologischen Diskurs stammt der narrative Ansatz von Rappaport (1995). Erzählungen über das Alltagsleben aus unterschiedlichen Kontexten (z. B. Gemeinden, Organisationen, Kulturen) erlauben es, soziale Prozesse und Ressourcen zu erfassen und zu beschreiben. Ein ähnlicher Schwerpunkt im qualitativen Methodenbereich findet sich bei den Auswertungsmethoden, für die in den letzten Jahren etliche neue Verfahren entwickelt wurden (siehe Mey & Ruppel in diesem Lehrbuch; Mey & Mruck 2010). Partizipative Forschungsstrategien sind besonders eng mit gemeindepsychologischen Konzepten verbunden. Professionell Forschende und betroffene Menschen untersuchen gemeinsam einen bestimmten Lebensbereich, wobei die einen als Experten für Forschungsmethoden und die anderen als Experten für die jeweilige Praxis fungieren. Die Beteiligten begeben sich gemeinsam in einen möglichst transparenten Prozess, in dessen Verlauf Datenerhebung, Datenauswertung und Handlungskonsequenzen so lange durchlaufen werden, bis ein befriedigendes Ergebnis erreicht ist. Ziele des Prozesses sind Analyse und Veränderung (Bergold & Thomas 2010). Eine Verbindung zwischen GP und Evaluationsforschung hat David Fetterman (2002) mit der Empowerment-Evaluation vorgelegt.

Gegenwärtige Auseinandersetzungen und Fragestellungen Die gegenwärtigen Diskussionen lassen sich mit dem Schlagwort Rückkehr des Politischen bezeichnen (Holly & Culley 2007). Heute gehen neue Impulse vor allem von der Critical Community Psychology in Großbritannien, Australien, Südafrika, Lateinamerika und den USA aus, die ihre Grundsätze mit der „Monterey declaration of critical community psychology“ (Holly & Kyle 2001) formuliert hat. Es handelt sich jedoch nicht um eine homogene Gruppe. Ihre Gemeinsamkeiten umfassen die Kritik an den sozialen Verhältnissen und die ethische Verpflichtung, gegen

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soziale Ungerechtigkeit und Unterdrückung anzugehen, die Ausrichtung auf unterdrückte Gemeinschaften als soziale Akteure, die Förderung von kritischem Denken und Bewusstseinsentwicklung (Conscientizacão im Sinne Paolo Freires), die Einbeziehung des indigenen Wissens, die Bereitschaft, Psychologie nicht als Expertenwissen zu monopolisieren, die Heranziehung der kritischen Theorie und marxistischer Positionen bei der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und methodischen Pluralismus (Kagan, Burton, Duckett, Lawthom & Asiya 2011). Die Rückkehr des Politischen findet vor dem Hintergrund statt, dass bei der Umsetzung gemeindepsychologischer Konzepte in Ländern mit großen marginalisierten Bevölkerungsanteilen Politik als Makrokontext in die gemeindepsychologische Theoriebildung und Praxis einbezogen werden muss. In Lateinamerika hat Maritza Montero gefordert, dass die gemeindepsychologische Praxis drei grundlegende Ziele zu beachten habe, nämlich „soziale Veränderung“, „Wohlergehen“ und „Befreiung“ (Montero 2008). Die GP müsse es unterdrückten Menschen ermöglichen, ihre Stimme hören zu lassen. Es müsse sichtbar werden, was öffentlich und was privat sei und vor allem, was ins Private abgedrängt werde, wie zum Beispiel die evidente Unsichtbarkeit von Straßenkindern, unterbezahlter Arbeit oder Ausbeutung in Lateinamerika. Gemeindepsychologinnen und -psychologen müssten sich daher mit den stakeholdern, d. h. mit den in unterschiedlicher Weise von den Problemen Betroffenen, der Gemeinde, verbünden, ihren Expertenstatus aufgeben und als „change agents“ fungieren, die Wissen vermitteln und auf gleicher Augenhöhe mit den Betroffenen zusammenarbeiten. Die Notwendigkeit, sich mit anderen gesellschaftlichen Kräften zu verbünden, wird von europäischen Gemeindepsychologen allerdings schon länger thematisiert. Beispielsweise hat Heiner Keupp den Diskurs über bürgerschaftliches Engagement immer wieder mit den Diskursen über Gemeinwohl und Demokratie verbunden (Überblick bei Straus 2010) und die Einmischung der Bürger in öffentliche Angelegenheiten gefordert. Auch weltweite ideologische Veränderungen haben zur Rückkehr des Politischen beigetragen. Mit der Durchsetzung der neo-kapitalistischen Ökonomie, der Globalisierung und der Ideologie von freiem Markt, Konsumismus und Individualität werden wohlfahrtsstaatliche Modelle mehr und mehr infrage gestellt, die auf Solidarität, sozialer Gleichheit und gegenseitiger Verpflichtung beruhen. Nafstad, Blakar, Carlquist, Phelps & Rand-Hendriksen (2009) beispielsweise haben ausgehend von einer Langzeitanalyse des Sprachgebrauchs in norwegischen Zeitungen eine Ablösung des traditionellen wohlfahrtsstaatlichen Grundkonsenses zugunsten einer neo-liberalen Ideologie beobachtet, in welcher soziale und materielle Ungleichheiten in der Versorgung akzeptiert und alle Aspekte des Lebens als marktförmig betrachtet werden.

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Die Ökonomisierung macht auch vor der psychosozialen Versorgung nicht halt. In der Sozialarbeit fällt zum Beispiel auf, dass zunehmend (Aufbau-)Studiengänge in Sozialmanagement angeboten und absolviert werden. Auch in der Psychotherapie finden sich mehr und mehr Kontrollanforderungen und Managementprozeduren. Als Antwort auf die steigende soziale und ökonomische Ungleichheit hat die Kategorie Gerechtigkeit in den theoretischen und praktischen Überlegungen der GP an Bedeutung gewonnen. Vor allem Prilleltensky (2012) hat das Verhältnis von Wohlbefinden und Gerechtigkeit thematisiert. Er argumentiert, dass ein medizinisches oder psychologisches Verständnis von Gesundheit zur Individualisierung führe, während die Kontextbedingungen unsichtbar blieben. Wohlbefinden sei aber nur unter Bedingungen von sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit zu erreichen, wobei Prilleltensky zwischen distributiver (d. h. faire und gleiche Verteilung der Lasten und Privilegien) und prozeduraler (d. h. faire, transparente und partizipative Entscheidungsprozesse) Gerechtigkeit unterscheidet. Prozess und Ergebnis von Gerechtigkeit erzeugen demnach sowohl objektive Veränderungen in der Verteilung der Güter als auch subjektive Güter wie Respekt, Würde und Anerkennung kultureller Diversität. Durch die Einbeziehung von Kultur gewinnt die GP einen umfassenden Kontextbegriff und setzt sich vom monokulturellen, ethnozentristischen Ansatz der augenblicklich dominierenden Psychologie ab. Kultur wird dabei als historisch übermitteltes Muster von Bedeutungen bestimmt, die in symbolischer Form präsent sind. Mit ihrer Hilfe machen sich Menschen die Welt verständlich (Kral, Ramirez Garcia, Aber, Masood, Dutta & Todd 2011). Manfred Zaumseil (2006) hat beispielsweise die Produktivität eines solchen kulturpsychologischen Ansatzes für das Verständnis von psychischer Gesundheit und Krankheit aufgezeigt.

Relevanz Die Gemeindepsychologie hat als Fach internationale Bedeutung gewonnen (Reich, Riemer, Prilleltensky & Montero 2001), vor allem in Ländern mit großen sozialen Problemen und indigenen Populationen (z. B. Lateinamerika, Afrika und Asien-Pazifik-Raum). An den deutschensprachigen Universitäten wird sie jedoch kaum noch gelehrt. An Fachhochschulen für Soziale Arbeit ist die gemeindepsychologische Orientierung dagegen stärker verankert, da gemeindepsychologische Ansätze die Möglichkeit zu einer theoretischen Präzisierung der vorhandenen Konzepte bieten und Verbindungen zwischen getrennt geführten Diskursen schaffen (z. B. Einzelfallhilfe, Gruppenarbeit, Gemeinwesenarbeit).

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In der Praxis vieler Institutionen werden heute gemeindepsychologische Konzepte genutzt: zum Beispiel in Erziehungsberatungsstellen, in der stationären und ambulanten psychiatrischen Versorgung und im Stadtteilmanagement. Grundideen wie das Empowerment oder die Netzwerkanalyse sind auch in die professionelle Praxis verschiedener Berufsgruppen eingesickert – ohne dass allerdings die Verbindung zur GP sichtbar wird. Das ist insofern problematisch, da die Verbindung zu dem zugrunde liegenden Theoriegerüst ebenfalls unsichtbar wird und die Konzepte enttheoretisiert und, damit einhergehend, häufig (wieder) individualisiert werden.

Verständnisfragen

▶ Was kennzeichnet die spezielle deutsche Geschichte der GP im Gegensatz zur US-amerikanischen?

▶ Wie kann der Unterschied zwischen traditioneller Psychologie und GP gekennzeichnet werden? Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich daraus?

▶ Warum gewinnen politische Aspekte in der Gemeindepsychologie neuerlich an Bedeutung?

▶ Versuchen Sie, eine gemeindepsychologische Interventionsstrategie für Aggression in der Schule zu konzipieren. Welche gemeindepsychologischen Grundprinzipien würden Sie nutzen?

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Index Index

A Abwehr 164f. Abwehrmechanismus 147f., 164f. Affekt 29 Affektbeherrschung 29 Affektkontrolle 30 Aggression 29, 44, 186 Aggressionsneigung 29 Aggressionstrieb 29 Aktion 31 Allmende-Klemme 62 Allport, Gordon W. 43ff., 99 analytisch-erklärend 6 Aneignungsstrategie, subjektive 72 Anerkennung 23, 31, 143, 158, 201, 206, 210 Arbeit 73, 139ff., 154ff., 209 Argyris, Chris 157, 164 Artefakt 162f. Autoritarismus 43ff. B Balint, Michael 140ff. Bar-On, Dan 118 Bedeutung, subjektive 70ff. Befreiungspsychologie 97, 102f. Benjamin, Walter 70

Bildung 14, 125ff. Bion, Wilfred 46, 146 Bourdieu, Pierre 33, 36 Bühler, Karl 189 C Container-Contained 146ff. critical incidents 195f. D Denken 6, 27ff., 162, 171ff., 195, 208f. Differenzierung, funktionale 88 Dilemma, sozial-ökologisches 62 Dilthey, Wilhelm 7, 112ff., 133 Disengagement, moralisches 103 Diskriminierung 33, 37, 47, 99, 120, 177, 203 Distinktion 36 Disziplin 30, 132 Disziplinarmacht 30 Disziplinierung 30, 130 Douglas, Mary 32 Dramatisierung 71, 147, 171 Dramatisierung und Entdrama­ tisierung 71 dramaturgisch 31 Durkheim, Émile 6, 83ff.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7

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E Eindruck 31 Einstellung 14, 17, 27, 32, 41ff., 57, 60, 63, 70, 82f., 89, 99ff., 144, 153, 186, 189, 194 Einstellung, militaristische 104 ekeln 30 Elaboration-Likelihood-Model 194 Elias, Norbert 29f., 46f. Emanzipation 7, 133f. emanzipativ 5, 7f. emanzipatorisch 7, 133, 135, 149 Emotion 19ff., 31ff., 57ff., 69ff., 106, 111, 116, 119, 143, 147f., 132, 164, 193 Erfahrung, religiöse 83ff. Erikson, Erik H. 19, 22, 29 Erwachsenenbildung 129, 131, 144 Erziehung 21f., 43, 125ff., 206, 211 Erziehungswissenschaft 128, 132ff. Externalisierung 147 Exzessivnutzung 192 F Faimberg, Haydée 116 Familie 22f., 45, 111ff., 129ff., 172, 201, 204, 206 Familienpädagogik 129 Forschung, diskurspsychologische 97, 102 Foucault, Michel 30, 171 Frankfurter Schule 43, 46, 134 Fremdzwang 29 Freud, Sigmund 3ff., 16, 28f., 42f., 46f., 50f., 115, 177 Frieden 48, 97ff., 121, 129 fühlen 6, 13, 19f., 27, 31, 34, 118f., 143, 147, 162, 164, 171, 195

Index

G Galtung, Johan 98 Gefühl 18ff., 27, 29, 34, 37, 42, 44f., 50, 89, 111, 115, 117ff., 140, 159, 162, 174, 187 Gefühlsarbeit 34 Gefühlserbschaft 111, 115 Gefühlsregel 34 Gehlen, Arnold 149 Gemeindepsychologie 103, 201ff. Gender 74, 97, 102, 169, 181, 206 Generation 15, 22ff., 89, 91, 105, 111ff., 126, 131 generation building 111, 120 Generationeneinheit 115 Generationenvertrag 121 Generationenzusammenhang 114f. Gerechtigkeit, soziale 98f., 101, 106, 203, 209f. Gesamtlastquotient 13 Geschmackssinn 33 Gestalttheorie 42 Gewalt 33, 43, 98f., 101f., 104f. 118 Gewaltmonopol 29 Gewissen 29 Glock, Charles 84 Goffman, Erving 30, 190 Grounded Theory 73, 104 Grünberg, Kurt 119 Grundannahme 46, 83, 101, 162f., 175, 207 Gruppendiskussion 45f., 50, 72f., 191, 208 Gruppenexperiment 42, 45 Gruppensupervision 140, 142f. H Halbbildung 127 Handlungswissenschaft 128

Index

Hellpach, Willy 55f. hermeneutisch-verstehend 6f., 128, 133 Herzberg, Frederick 157f. Hochschild, Arlie 34 Humanisierung 100, 130, 149, 157, 159, 165f. I Ich-Integrität 19 Idealisierung 147 Identität 11, 13f., 18, 22, 29, 31, 36f., 47ff., 62, 75ff., 92, 100, 111, 113, 117, 126, 141, 143, 174ff. Identitätsarbeit 31 Identitätsmanagement 31, 102 Identitätsnorm 31 Imagepflege 31 Individualisierung 13, 81, 88ff., 157, 159, 210 Instrument 44f., 72, 83f., 119, 130, 140, 154f., 181 Integration 17, 23, 51, 83, 86, 92, 131, 144, 162, 170ff. Intellektualisierung 147f. Interaktion 11, 22, 30f., 34f., 55f., 58, 62, 73, 77, 103, 129, 146, 135ff., 187f., 190, 193 Interaktionismus, Symbolischer 8, 34, 126, 188 Interaktionsordnung 31, 190, 193 Intersektionalität 102, 169, 180 Intersektionalitätsperspektive 169, 180 J Jaspers, Karl 186

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K Kestenberg, Judith 116 Kets de Vries, Manfred 165 Klasse 33, 98, 102, 129f., 175, 181 Kogan, Ilany 116 Kognition 8, 11, 19, 31f., 41, 57f., 61, 153, 164 Kommunikation 11, 21ff., 34f., 59, 71, 75ff., 144, 146, 148, 155, 159, 161, 163, 165, 179, 185ff. Kommunikation, interkulturelle 161, 185, 194ff. Kommunikationspsychologie 191f. Kompetenz, interkulturelle 195 Konflikt 16, 20f., 28, 41, 47ff., 55f., 62ff., 70ff., 90ff., 97ff., 111, 113, 121, 135, 141ff., 161, 174, 176 Konnektierung 142 Konstante, anthropologische 83, 89 Kontrolle 19, 30, 57, 143, 163, 193 Körper 27ff., 190 Körperbild 27 körperlich 15, 18, 27ff., 60, 189f., 206 Körperlichkeit 31 Körpersprache 190 Körperzufriedenheit 27 Körper, zwei 32 Krieg 15f., 70, 97ff., 113ff., 120f., 134, 140, 186, 202 Kritik 7, 18, 74, 83, 89ff., 102, 115, 133, 158, 180, 205, 208 Kultur 16, 28f., 64, 81f., 87f., 92ff., 98, 106, 112f., 130, 153ff., 170ff., 185, 195, 201, 205, 208, 210 kulturell 28f., 33f., 37, 56, 73, 85, 91ff., 98, 104, 111ff., 170, 173ff., 185, 188f., 192, 194ff., 205, 207, 210 Kultur, kofigurative 113 Kultur, postfigurative 113

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Kultur, präfigurative 113 L Lasswell, Harold 189ff. Lazar, Ross A. 146 Leib 27, 32ff., 189 Lewin, Kurt 41ff. Luhmann, Niklas 83, 87, 155, 187 M Machttechnik 30 Martín-Baró, Ignacio 101ff. Mausner, Bernard 157 Mayo, Elton 156 McGregor, Douglas 157, 159 Mead, George H. 30, 188 Mead, Margaret 113 Media-Richness-Theorie 193 Mediennutzung 185, 192 Medienpsychologie 71, 75f., 191 Medienwahl 192f. Medienwirkung 185, 193f., 196 Medium 34, 37, 69, 76f., 189ff. Menschenbild 156ff. Metapher 154, 158, 164, 204 Migration 88, 120, 169ff. Migrationsforschung, 169ff. Mikrophysik der Macht 30 Modell verantwortlichen Umwelt­ handelns 57 Moderne 30, 70, 83, 87f., 112 Morgan, Gareth 154 Münsterberg, Hugo 156f. N Nachhaltigkeitsparadigma 56 Natur 28, 33, 44, 57, 59f., 70, 92, 99, 104, 159 negative capability 146

Index

Netzwerke, soziale 69ff., 192, 204 Norm-Aktivationsmodell 57 O Objektbeziehung 73, 77 Objektbeziehungstheorie 73 Objekt, evokatorisches 72, 74 Objekt, interaktives 71, 73f. Ordnung, soziale 31 Organisation 30, 82, 129f., 139ff., 153ff., 203ff. Organon-Modell 189 Othering 102 P Pädagogik 125ff., 170 Pädagogik, Emanzipatorische 134 Pädagogik, Geisteswissenschaftliche 133 Pädagogik, Kritische 134 Paradoxon des Alters 18 Partizipation 23, 64, 114, 149, 159, 204f., 207 Patronisieren 23 Peinlichkeitsschwelle 30 personifizieren 73 Persönlichkeitsstruktur 29 phänomenologisch 32, 47 Platon 156 Pluralismus, religiöser 90 psychoanalytische Kulturtheorie Sigmund Freuds 28 Psychogenese 29 psychological sense of community 204 R Rassismus 48f., 98f., 175, 177, 206 Rational Choice 8, 57, 61, 173

Index

Rationalisierung 30, 71, 88, 156f., 166 Reaktionsbildung 147f. Reflexionswissenschaft 128 Religion 81ff., 206 Religionsdefinition 82, 84 Religiosität 49ff., 81ff. Ressource 12ff., 60ff., 98, 142, 163, 169, 173, 178, 201, 203ff. Ritual 21, 36, 86, 163, 192 Roethlisberger, F. J. 156 Rolle 13, 18, 21, 23, 31, 48f., 130, 142f., 146, 149, 161, 164, 177, 205, 208 Rollentheorie, soziale 48 Rosenkötter, Lutz 117 Rosenstiel, Lutz von 153ff. Rosenthal, Gabriele 118 S Säkularisierung 81, 87ff. Saussure, Ferdinand de 190 Scham 19, 30, 106 Schamschwelle 30 Schein, Edgar 154, 156f., 161f. Schilder, Paul 28 Schmitz, Hermann 32, 34f. Schrift 187, 190 Schuldgefühl 29, 118, 147 Schulpädagogik 129, 131, 135 Schulreform 130, 133 Schulsystem 130 Schulwesen 130f. Schulz von Thun, Friedemann 189 Selbstdarstellung, körperliche 31, 36 Selbstidentifikation 36 Selbstkontrolle 29, 31 Selbstzwangapparatur 29 Semiotik 188 Separation-Individuation 119 Setting 61, 129, 140ff., 203f., 206

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Sexualität 28, 35, 171, 181 Simenauer, Erich 117 Simmel, Georg 6, 32, 49, 87 Sinnesorgan 27, 32 Skala der sozialen Dominanz­ orientierung 49 Snyderman, Barbara B. 157 Sozialisation 14, 33, 83, 89, 112, 125f., 130, 146, 149, 161, 168 Sozialisation, religiöse 89 Sozialpädagogik 129, 131, 135 Sozialpsychologie des Computers und des Internets 69 Sozialpsychologie des Körpers 27ff. Sozialpsychologie, psychologische 6 Sozialpsychologie, soziologische 6, 27 Sozialwissenschaft 4, 6, 28, 43, 55f., 70, 75, 82, 100, 117, 128, 186f. Soziogenese 29 Sport 30, 33, 35f., 206 Sprache 73, 102, 120, 125, 148, 170, 173, 187ff. sprechen 73, 102, 120, 125, 148, 170, 173, 187ff. Stereotyp 11, 15, 17, 20, 23, 33, 48, 100 Subkultur 28, 36 Sündenbock 43f. Supervision 139ff. Symbol 36, 72, 86, 162f., 185, 187ff. System 32, 57f., 62, 64, 72, 77, 81f., 87, 100, 104, 114, 117, 119, 121, 127, 130ff., 141, 143, 145f., 148, 155ff., 175, 185, 187ff., 203, 205, 207 T Taylor, Frederick W. 156ff. Taylorismus 156 Technikdeterminismus 70f. Terror-Management-Theorie 47, 50

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Theorie der sozioemotionalen Selektivität 19, 21 Theorie geplanten Verhaltens 57 Theorie, Kritische 8, 43, 50, 134 Theorie sozialer Identität 47f., 50 Todestrieb 28 Tomasello, Michael 188 Transaktionalismus 57 Transmigration 179 Transnationalität 169, 179f. Transzendenz 82f., 85 Traumareaktivierung 15 Triangulierung 149 Trieb 28f., 42, 117 Triebbeherrschung 29 Triebverzicht 28 Troeltsch, Ernst 82, 87 Typologie 73f., 85 U Über-Ich 29, 117 Umweltbewusstsein 60f. Umweltbildung 61, 64 Umwelten, drei 56 Unbewusste, das 16, 153, 164 unbewusst 16f., 30, 46, 70, 73, 77, 116ff., 146ff., 162, 164f., 173

Index

V Verdrängung 16, 147f. Vergesellschaftung 32, 128, 179 Verhalten 5ff., 15, 22f., 27ff., 42f., 56ff., 65, 69ff., 85f., 100, 105, 126ff., 148, 153ff., 158, 161, 192ff., 202f., 206 Verschiebung 18, 147, 164, 170 Virtualität 75f. Vorurteil 7, 27, 33, 41, 43ff., 74, 99 W wahrnehmen 27f., 31f., 37, 162 Wandel, demografischer 12 Weber, Max 3, 6, 86ff., 156f. Weick, Karl E. 155 Werttheorie, Normative 57 Widerstand 148, 165 Z Zeichen 36, 74, 188ff., 195 Zivilisationsprozess 29 Zivilisationstheorie 29 Zivilisierung des Körpers 29f. Zugang, frauenspezifischer 74

Die Autorinnen und Autoren Die Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Jarg B. Bergold, geb. 1939, ging 1967 nach dem Studium der Psychologie an der Universität Freiburg für einen Forschungsaufenthalt an das Psychological Department of the Institute of Psychiatry und das Middelsex Hospital nach London. Ab 1968 arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Psychologischen Institut in den Bereichen Klinische Psychologie, Verhaltenstherapie und Psychotherapieforschung. Nach der Promotion an der Philosophischen Fakultät der Universität München (1971) arbeitete er als Verhaltenstherapeut und Dozent für medizinische Psychologie an der psychiatrischen Poliklinik der Universität Bern. 1974 erfolgte die Berufung auf eine C4-Professur am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin. Im Weiteren folgten vielfältige Tätigkeiten in Forschung und Lehre in den Bereichen Klinische Psychologie, Gemeindepsychologie und Forschungs- und Evaluationsmethoden sowie Herausgebertätigkeiten. Seit 2004 ist er emeritiert. Prof. Dr. J. Christopher Cohrs, Dipl.-Psych., Dr. phil. (2004, Universität Bielefeld), ist Professor für Sozialpsychologie an der Philipps-Universität Marburg und Vorsitzender des Forums Friedenspsychologie (FFP) e.V. Seine Forschung bezieht sich u. a. auf Wahrnehmungen von Intergruppenkonflikten, politisch-ideologische Einstellungen und Vorurteile gegenüber Immigrantinnen und Immigranten. PD Dr. Oliver Decker, Studium an der Freien Universität Berlin, seit 1997 wissenschaftlicher Angestellter an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig, wo er den Forschungsbereich „Gesellschaftlicher und Medizinischer Wandel“ in der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie leitet. 2003 Promotion an der Universität Kassel, 2010 Habilitation und Privatdozent (venia legendi Sozialpsychologie) am Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover. Seit 2013 Vorstandssprecher des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Universität Leipzig. Auf Einladung der © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 O. Decker, Sozialpsychologie und Sozialtheorie, https://doi.org/10.1007/978-3-531-19582-7

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Die Autorinnen und Autoren

School of Visual Arts, New York, ging er 2015 als Visiting Professor an das dortige Department for Critical Theory. Prof. Dr. Robert Gugutzer, geb. 1967, Studium der Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaft an den Universitäten Tübingen und LMU München, Promotion an der Universität Halle-Wittenberg, Habilitation an der Universität Augsburg, Leiter der Abteilung Sozialwissenschaften des Sports am Institut für Sportwissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Seine Arbeitsfelder sind Leib- und Körpersoziologie, Sportsoziologie, Religions- und Filmsoziologie, Identitätsforschung und Phänomenologie. Aktuelle Forschungsfelder: Soziologie der Sportsucht, Essstörungen im Spitzensport, Sport im Film und Körperkult als Religionsersatz. Dr. Kathrin Hörter, studierte Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2011 Promotion zum Verhältnis von Psychoanalyse und Interkulturalität (Die Frage der Kultur. Interkulturalität in Theorie und Praxis der Psychoanalyse). Psychoanalytikerin i. A.; Tätigkeiten als Lehrbeauftragte, im psychosozialen Bereich und in eigener Praxis. PD Dr. Gundula Hübner, Studium der Psychologie an den Universitäten Kiel und Wien, Promotion an der Universität Kiel. Nach der Promotion folgten ein Post Doc an der Technischen Universität Eindhoven, NL, und die Habilitation an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU); heute Professorin für Sozialpsychologie an der MSH Medical School Hamburg sowie apl. Prof. an der MLU, wo sie am Institut für Psychologie die Arbeitsgruppe Gesundheits- und Umweltpsychologie leitet. Im Fokus ihrer wissenschaftlichen Arbeit stehen die Akzeptanz technischer Assistenzsysteme und Erneuerbarer Energien, die Wirkungen von Windenergieanlagen auf deren Anwohner sowie Interventionen zur Förderung nachhaltigen Verhaltens; zahlreiche inter- und transdisziplinäre Forschungsprojekte. Dr. Heidi Ittner, Studium der Psychologie und Promotion an der Universität Trier. Bis 2011 wissenschaftliche Assistentin an der Otto-von-Guericke-Universiät Magdeburg, Forschungsaufenthalte an der Université de la Méditerranée, Marseille, Frankreich, und der Katholischen Universität Leuven, Belgien. Wissenschaftliche und freiberufliche Arbeitsschwerpunkte in der Umweltpsychologie und Gerechtigkeitspsychologie, ihrer interdisziplinären Verknüpfung und Anwendung in Mediation und Verhandlung in verschiedenen Konfliktfeldern. Mitherausgeberin der Fachzeitschrift Umweltpsychologie. Seit 2011 ausschließlich freiberuflich tätig als Mediatorin, Trainerin und Dozentin und seit 2013 Vorsitzende des Zertifizierungsausschuss Psychologischer Mediator des BDP.

Die Autorinnen und Autoren

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Prof. Dr. Elisabeth Kals, studierte Psychologie in Trier und Reading (England), Promotionsstipendium der Studienstiftung des Deutschen Volkes und Habilitation an der Universität Trier. Anschließend Lehrstuhlvertretung an der Universität der Bundeswehr München. Seit 2003 Professur für Sozial- und Organisationspsychologie an der Katholischen Universität Eichstatt-Ingolstadt. Forschungsschwerpunkte: Konfliktforschung, Mediation, Gerechtigkeits-, Emotions- und Motivforschung in verschiedenen angewandten Forschungskontexten und Disziplinen. Hierzu zählen die Umweltpsychologie sowie die Organisations- und Wirtschaftspsychologie. Dr. Angela Kühner studierte 1990er-Jahren an der LMU München Psychologie – und lernte die Reflexive Sozialpsychologie damals als ein Fach kennen, das um Erklärungsmuster für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und die psychischen Folgen von Nationalsozialismus und Holocaust rang. Im Rahmen ihrer praktischen Berufstätigkeit in der Sozialpsychiatrie und feministischen Beratung entwickelte sie einen Schwerpunkt in Migrationssensibilität und Interkultureller Öffnung, parallel dazu folgte eine erste Forschungstätigkeit für das Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung zum Thema Trauma. Von 2005 bis 2016 war sie an den Universitäten München und Frankfurt im Arbeitsbereich (reflexive bzw. psychoanalytische) Sozialpsychologie tätig, 2007 Promotion zu „Trauma und kollektives Gedächtnis“ (Kühner 2017, 2008), 2011 Vertretungsprofessorin für Methoden der qualitativen empirischen Sozialforschung. Von 2015 bis 2017 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Jugendinsitut, Abteilung Familie, Arbeitsbereich „Frühe Hilfen“. Seit 2017 hat sie eine Professur für Soziale Arbeit an der Internationalen Hochschule IUBH. Arbeitsschwerpunkte: Trauma, Migration, kollektives Erinnern, qualitative Forschungsmethoden, Ethnopsychoanalyse. Prof. Dr. Elfriede Löchel, ist Professorin für Theoretische Psychoanalyse und Subjekttheorie an der International Psychoanalytic University (IPU) Berlin. Sie ist Psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin/Lehranalytikerin der Deutschen und Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung sowie Herausgeberin des Jahrbuchs der Psychoanalyse. Einer ihrer Arbeitsschwerpunkte ist die Sozialpsychologie und Psychoanalyse der Neuen Medien. Weitere Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: psychoanalytische Konzeptforschung, psychoanalytische Erkenntnis- und Forschungsmethoden, Freud-(Re-)lektüren, Theorien der Symbolisierung, Gendertheorie. Dr. Jan Lohl, Dipl. Sozialwiss. und Supervisor (DGSv),wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sigmund-Freud-Institut und Lehrbeauftragter an der Goethe-Universität Frankfurt. Jan Lohl ist Gründungsmitglied der Gesellschaft für psychoanalytische

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Die Autorinnen und Autoren

Sozialpsychologie. Schwerpunkte: Psychoanalytische Sozialpsychologie; Rechtsextremismus-, Nationalismus- und Antisemitismusforschung; Psychoanalyse und qualitative Sozialforschung; Organisationsanalyse und Beratungsforschung. Prof. Dr. Heidi Möller, Promotion zur Psychotherapie in totalen Institutionen, Habilitation zu Gütekriterien der Supervision, TU Berlin, Psychoanalytikerin, Lehrtherapeutin für Tiefenpsychologie und Gestalttherapie, Lehrsupervisorin, Organisationsberaterin und Coach. 2002 Lehrstuhl für Kommunikationspsychologie und Psychotherapie, 2004 Gründungsdekanin der Fakultät für Bildungswissenschaften der Universität Innsbruck. Prof. Dr. Olaf Neumann, war 1987 Gründungsmitglied des Krisenhauses in Ost-Berlin, das er ab 1994 leitete. Ende der 1990er-Jahre Mitentwickler des Berliner Krisendienstes (BKD) und geschäftsführende Leitung des BKD Ost. 2011 bis 2013 Aufbau und Leitung des Referats „Psychiatrie/Krisenhilfe“ im Kompetenzzentrum des Caritasverbandes Berlin. 2013 bis 2015 Gastprofessur für Sozialmedizin und gesundheitsorientierte Soziale Arbeit an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. Seit 2015 Professor für methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin. Vorstandsmitglied der Gesellschaft für gemeindepsychologische Forschung und Praxis (GGFP) und Vorstandsmitglied des St. Hedwig-Krankenhauses Berlin, Anstalt des öffentlichen Rechts. Forschungsschwerpunkte sind: (Krisen-)Intervention, Sozialpsychiatrie, Gemeindepsychologie, Organisationsentwicklung und Qualitätsmanagement. Dr. Mario Paul ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie der Ruhr-Universität Bochum. Er promovierte zum Thema Räume der Angst und Gewalt in der demokratischen Gesellschaft. Zur praktischen und diskursiven Konstitution sogenannter “No-Go-Areas”. Zu seinen Forschungsgebieten zählen: interpretative Sozialforschung, Sozialtheorie, Raum- und Stadtsoziologie sowie Kulturpsychologie. Prof. Dr. Meinolf Peters, geb. 1952, Diplom-Psychologe, psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker, Honorarprofessor an der Universität Marburg, Mitinhaber und Geschäftsführer des Instituts für Alterspsychotherapie und Angewandte Gerontologie, leitender Psychologe in der Abteilung Gerontopsychotherapie und -psychosomatik in der Klinik am Hainberg in Bad Hersfeld, niedergelassen in eigener Praxis.

Die Autorinnen und Autoren

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Prof. Dr. Gert Pickel, geb. 1963, Professor für Religions- und Kirchensoziologie am Institut für Praktische Theologie, Theologische Fakultät der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Religionssoziologie, politische Kulturforschung, Demokratieforschung und vergleichende Methoden der Sozialwissenschaften. Dr. Katharina Rothe, Studium der Psychologie und Promotion an der Universität Bremen (2008) zu den Folgen des Nationalsozialismus. Rechtsextremismus-, Antisemitismus- sowie Genderforschung an der Universität Leipzig von 2008 bis 2012. Absolvierung der psychoanalytischen Ausbildung am William Alanson White Institute in New York im Jahre 2015. Psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin (Amerikanische und Internationale Psychoanalytische Vereinigung) in eigener Praxis. Seit 2016 Lehre am W. A. White Institute. Veröffentlichungen in psychoanalytischer Sozialforschung sowie zu klinischer Psychoanalyse. Derzeitiges Projekt: Übersetzung der Tiefenhermeneutischen Kulturanalyse von Alfred Lorenzer ins Englische (mit Dr. Steffen Krüger & Dr. Daniel Rosengart). Dr. Minna-Kristiina Ruokonen-Engler, Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung und Postdoc am Institut für Soziologie/Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie war Promotionsstipendiatin des interdisziplinären DFG-Graduiertenkollegs „Öffentlichkeiten und Geschlechterverhältnisse. Dimensionen von Erfahrung“ (Goethe-Universität/Universität Kassel) und studierte Kultur- und Gesellschaftswissenschaften an der Internationalen Frauenuniversität, Hannover, University of Kent at Canterbury, UK, und an der Universität Jyväskylä, Finnland. Lehr- und Forschungsschwerpunkte: (transnatio­ nale) Migration, Bildung, soziale Ungleichheit, Gender und Intersektionalität, Inter-/Transkulturelle Prozesse, kritische Diversitätsforschung, Rassismus- und institutionelle Diskriminierung sowie qualitative Methoden. Dr. Miriam Schroer-Hippel, Diplom-Psychologin und Sozialwissenschaftlerin, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsstelle Jugendgewaltprävention in Berlin. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte sind das Berliner Monitoring Jugendgewaltdelinquenz, Evaluationen im Bereich der Gewaltprävention und der politisch bzw. religiös begründeten Radikalisierung. Sie promovierte über gewaltfreie Männlichkeitsideale als Mittel zivilgesellschaftlicher Friedensarbeit. Dr. Ralph Sichler, Univ. Doz., studierte Psychologie und Philosophie an der Universität Erlangen und war wissenschaftlicher Assistent an der Technischen Universität Berlin und an der Universität Bremen; derzeit Leiter des Instituts für

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Die Autorinnen und Autoren

Management und Leadership Development an der FH Wiener Neustadt in Österreich und Hochschullehrer an der Sigmund Freud PrivatUniversität in Wien. Arbeitsschwerpunkte: Arbeits- und Organisationspsychologie, Personalpsychologie, Kulturpsychologie, Grundlagen der Beratung, Autonomie, Führung, philosophische Grundlagen der Psychologie. Dr. Johanna Ray Vollhardt, Dipl.-Psych., Ph.D. (2009, University of Massachusetts Amherst, USA), ist Associate Professor of Psychology an der Clark University, USA, wo sie die Arbeitseinheit Sozialpsychologie leitet und mit dem Strassler Center for Holocaust and Genocide Studies affiliiert ist. Ihre Forschung konzentriert sich auf ethnopolitische Gewalt und Genozid sowie auf die Nachwirkungen dieser Gewalt bei Opfergruppen. PD Dr. Edgar Weiß, Studium der Pädagogik, Psychologie, Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, dort 1986 Promotion, 1997 Habilitation und Privatdozent (venia legendi Erziehungswissenschaft) an der Hochschule Vechta. Vertretungsprofessuren an den Universitäten Flensburg, Vechta, Siegen und Essen.

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