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Michael Hauschild
Neustart des LHC: die Entdeckung des Higgs-Teilchens Die Weltmaschine anschaulich erklärt
essentials
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Michael Hauschild
Neustart des LHC: die Entdeckung des Higgs-Teilchens Die Weltmaschine anschaulich erklärt
Michael Hauschild Genf, Schweiz
ISSN 2197-6708 ISSN 2197-6716 (electronic) essentials ISBN 978-3-658-23085-2 ISBN 978-3-658-23086-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-23086-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Spektrum © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Was Sie in diesem essential finden können
• Masse macht’s! – Wie die Teilchen zu ihrer Masse kommen • Von UFOs und mehr! – Der LHC geht in die nächste Runde • Der Jahrhundertplan! – Higgs, und nun?
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Vorwort
Die Weltmaschine, der Large Hadron Collider LHC am CERN, dem Europäischen Forschungszentrum für Teilchenphysik bei Genf, ist der größte Teilchenbeschleuniger der Welt. Erste Ideen und Konzepte zum LHC gab es bereits Anfang der 1980er Jahre. Von diesen Anfängen dauerte es jedoch mehr als ein Vierteljahrhundert, bis der LHC schließlich fertiggestellt wurde, ein ringförmiger Teilchenbeschleuniger mit 27 km Umfang, 100 m unter der Erde. Als am 10. September 2008 zum ersten Mal Teilchenstrahlen im LHC zirkulierten, war die Freude unter den Wissenschaftlern grenzenlos. Der Start des LHC mit Liveübertragung aus dem LHC-Kontrollraum war weltweit in den Top News der Medien. Die Physiker lagen sich in den Armen. Nur wenige Tage später, am 19. September 2008, kam die große Ernüchterung. Bei einem Test passierte es: Eine von über 10.000 Kabelverbindungen hielt den Belastungen der hohen Stromstärke nicht stand und schmolz durch. Niemand kam zu Schaden, aber der LHC wurde massiv beschädigt und es dauerte mehr als ein Jahr, bis schließlich im November 2009 der Betrieb wieder aufgenommen werden konnte. In den Untersuchungen zum Unfall stellten sich die Kabelverbindungen als eine potenzielle Schwachstelle heraus. Es hätte weit mehr als nur ein Jahr gedauert, um alle Verbindungen zu überprüfen und zu reparieren oder gar zu erneuern. Deswegen beschloss das CERN-Management, den LHC zunächst nur mit halber Energie zu betreiben, um die Verbindungen nicht zu sehr zu belasten. Aber auch die halbe Energie reichte aus, um am 4. Juli 2012 die Entdeckung eines neuen Elementarteilchens mit den beiden großen Teilchendetektoren ATLAS und CMS zu verkünden. Und der LHC lief weiter. Im März 2013 waren sich die Physiker von ATLAS und CMS schließlich sicher, dass es sich bei dem neu entdeckten Teilchen in der Tat um das lange gesuchte Higgs-Teilchen handelt.
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Vorwort
Vor über 50 Jahren, im Jahr 1964, veröffentlichten neben anderen die theoretischen Physiker Robert Brout, François Englert und Peter Higgs Ideen zur Frage, wie Elementarteilchen Masse erhalten können, also schwer werden. Eine Konsequenz aus ihren Theorien ist die Existenz eines neuen Teilchens, des Higgs-Teilchens, benannt nach Peter Higgs. Lange wurde dieses Teilchen an verschiedenen Teilchenbeschleunigern und Detektoren weltweit gesucht, bis die Physiker letztlich am LHC fündig wurden. Brout war bereits 2011 verstorben und konnte den Triumph nicht mehr erleben, Englert und Higgs aber erhielten im Herbst 2013 den Physiknobelpreis unter großem Jubel und Anteilnahme der beteiligten Physiker am CERN. Aber dies ist nicht das Ende der Forschungen am LHC, sondern erst der Beginn. Das neuentdeckte Higgs-Teilchen muss vermessen, seine Eigenschaften bestimmt und mit den theoretischen Vorhersagen verglichen werden. Weitere neue Teilchen warten vielleicht nur darauf, in den nächsten Jahren gefunden zu werden und jedes neuentdeckte Teilchen könnte eine Revolution im Verständnis unserer Welt und des Universums auslösen. In den Jahren 2013 und 2014 wurden der LHC und die Teilchendetektoren deswegen fit gemacht für die neuen Herausforderungen. Die zweijährige Pause wurde genutzt, um sämtliche Schwachstellen in den Kabelverbindungen zu beseitigen, neue Sicherheitssysteme einzubauen und die Detektoren zu verbessern, um mit jetzt höherer Energie noch mehr Geheimnisse der Natur zu enträtseln. Wie schon mehr als sechs Jahre zuvor erwartete man im März 2015 mit Spannung die ersten umlaufenden Teilchenstrahlen, als der LHC wieder in Betrieb genommen wurde. Zwei Monate später am 3. Juni 2015 erfolgten dann die ersten Kollisionen mit fast doppelt so hoher Energie wie bisher: 13 TeV, vergleichbar mit der Energie zweier zusammenstoßender Mücken, aber hochkonzentriert auf zwei winzige Teilchen und abermals ein neuer Weltrekord. Die Weltmaschine läuft wieder! In den kommenden Jahren werden die Teilchenphysiker noch intensiver als zuvor in ihre gesammelten Daten u nzähliger Kollisionen schauen, ob sich vielleicht Hinweise auf neue Teilchen und neue Phänomene jenseits des sogenannten Standardmodells finden. Dieses essential ist Teil einer Reihe über den Neustart des LHC im Frühjahr 2015. Sie werden mitverfolgen, wie es nach dem zunächst holprigen Start des LHC schließlich zur Entdeckung eines neuen Teilchens kam, des lange gesuchten Higgs-Bosons. Der Neustart bei höherer Energie und die Aussichten auf zukünftige Projekte bilden den Abschluss dieses essentials. In weiteren essentials dieser Reihe erfahren Sie mehr über die Anfänge des CERN, eines der faszinierendsten Forschungszentren überhaupt, seine
Vorwort
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Geschichte, seine Menschen und seine Beschleuniger. Sie lernen dort die Funktionsweise von Teilchenbeschleunigern kennen und wie ausgehend von den ersten Ideen schließlich der LHC gebaut wurde, die heutige Weltmaschine. Sie lernen die Experimente am LHC kennen und verstehen die Funktionsweise von Teilchendetektoren. Und sie erfahren mehr über die Theorie hinter dem Higgs und dem Standardmodell, sowie den theoretischen Ansätzen über das Standardmodell hinaus. Michael Hauschild CERN, Genf
Inhaltsverzeichnis
1 Die Entdeckung eines neuen Teilchens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Die Entstehung der Masse – das Feld und das Teilchen . . . . . . . . . . 2 1.2 Higgs-Jagd – vor dem LHC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3 Statistik ist alles. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.4 Ist es ein Higgs?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.5 Der Nobelpreis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2 Der Neustart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.1 Ein langer Stopp. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.2 Der erste Strahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.3 UFOs im LHC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.4 Ein neuer Weltrekord. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3 Der Jahrhundertplan. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.1 LHC, zum Zweiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 3.2 Größer, schneller, weiter – zukünftige Projekte. . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4 Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37
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Die Entdeckung eines neuen Teilchens
Ende der 1950er und mehr noch Anfang der 1960er Jahre wurden fast monatlich neue Teilchen entdeckt. Dies war die Geburtsstunde des Standardmodells der Teilchenphysik, das wie das Periodensystem der chemischen Elemente zum ersten Mal Ordnung in den zuvor immer zahlreicher werden Teilchenzoo brachte. Durch das Standardmodell ließ sich die Teilchenvielfalt auf nur wenige elementare Teilchen zurückführen, die ebenso wie die chemischen Elemente verschiedenste Bindungen und Kombinationen eingehen konnten. Dabei stellte sich auch die Frage nach der Entstehung der Masse der Elementarteilchen. Denn alle Elementarteilchen im Standardmodell ließen sich zwar theoretisch hervorragend beschreiben, waren aber in der Theorie zunächst allesamt masselos. Ein noch unbekannter zusätzlicher Mechanismus musste für ihre Masse sorgen. Wie schon so oft in den Wissenschaften gab es gleich mehrere theoretische Physiker, die fast gleichzeitig und unabhängig voneinander auf eine Lösung für das Masseproblem stießen und die wiederum auf Vorarbeiten anderer aufbauten. Der Japaner Yoichiro Nambu (1921–2015) beschäftigte sich 1960 eigentlich mit einem ganz anderen Zweig der Physik, der Supraleitung, fand dabei aber ein Phänomen, das schließlich für die Teilchenphysik entscheidend werden sollte. Festkörper haben gewöhnlich eine sehr regelmäßige Struktur: Die Atome sind in einem Kristallgitter angeordnet und zeigen bestimmte Symmetrien, die sich besonders schön in Schneekristallen und zahllosen, von Sammlern sehr begehrten Kristallformen und -arten manifestieren. Unter gewissen Umständen wird die interne Symmetrie aber gestört, wenn z. B. die winzigen Elementarmagnete in einem Eisenstück durch ein äußeres Magnetfeld einheitlich ausgerichtet werden. Die Ausprägung einer Vorzugsrichtung durch das Magnetfeld sorgt für eine sogenannte spontane Symmetriebrechung. Nambu und zwei Jahre später der britische © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 M. Hauschild, Neustart des LHC: die Entdeckung des Higgs-Teilchens, essentials, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23086-9_1
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Die Entdeckung eines neuen Teilchens
Theoretiker Jeffrey Goldstone konnten nun zeigen, dass dadurch Wellen im Eisen infolge kleiner Schwingungen der Elementarmagnete entstehen. Und da sich in der mikroskopischen Quantenwelt Wellen auch wie Teilchen verhalten können und umgekehrt, ist mit den Wellen im Fall der spontanen Symmetriebrechung auch ein Teilchen verbunden, das, wie sich herausstellte, keinen Drehimpuls besitzt (Spin-0) und somit die Eigenschaften eines Bosons1 besitzt. Spin-0-Bosonen können also in Fällen von spontaner Symmetriebrechung auftreten, allerdings waren die Bosonen von Nambu und Goldstone selbst noch masselos. Nur ein Jahr später konnte der US-amerikanische Physiker Philip Anderson dann jedoch zeigen, dass unter bestimmten Umständen in Supraleitern auch massive Spin-0-Bosonen auftreten können. Nun fehlte nur noch ein kleiner Schritt, um diese Erkenntnisse der Festkörperphysik auf die Teilchenphysik anzuwenden. Freie Elementarteilchen bewegen sich häufig mit relativistischen Geschwindigkeiten, während dies in Festkörpern nicht der Fall ist. Der kleine, noch fehlende Schritt bestand darin, die Theorien aus der nicht-relativistischen Festkörperphysik auf relativistische Teilchen zu erweitern. Dies gelang 1964 unabhängig voneinander dem Briten Peter Higgs sowie den beiden Belgiern François Englert und Robert Brout (1928–2011). Higgs reichte dazu im Juli und August 1964 fast zeitgleich mit Englert und Brout zwei Veröffentlichungen [1, 2] bei zwei renommierten Zeitschriften ein. Der Gutachter der zweiten Veröffentlichung, wie sich später herausstellte Yoichiro Nambu selbst, wies Higgs darauf hin, dass kurz zuvor Englert und Brout ebenfalls eine Arbeit [3] dazu veröffentlicht hatten, was Higgs noch nicht bekannt war. Er bat ihn, sein Manuskript zu überarbeiten und auf die Verbindung seiner Arbeit zur Veröffentlichung von Englert und Brout hinzuweisen. Higgs ergänzte daraufhin einen kurzen Abschnitt, in dem er auf das Auftreten eines neuen massiven Spin-0-Bosons hinwies, als Konsequenz aus seiner Theorie. Dieses zunächst hypothetische Boson sollte später nach Peter Higgs als Higgs-Boson oder Higgs-Teilchen bezeichnet werden.
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Die Entstehung der Masse – das Feld und das Teilchen
Aber wie kann nun der Mechanismus, den sich Higgs, Englert und Brout erdacht hatten, überhaupt massive Teilchen entstehen lassen? Und welche Rolle spielt das Higgs-Teilchen dabei? Stellen Sie sich unser Universum vor: groß, weit, mit Milliarden von Galaxien, aber großer Leere dazwischen. Und doch ist das Vakuum zwischen Sternen und 1 Siehe dazu auch im Abschnitt „Wechselwirkungen“ des essentials „Neustart des LHC: CERN und die Beschleuniger“.
1.1 Die Entstehung der Masse – das Feld und das Teilchen
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Galaxien nicht vollständig leer und ohne jegliche Energie. Erstaunlicherweise gibt es ein leeres Vakuum nicht. Es ist vielmehr erfüllt von virtuellen Teilchen, die kurzzeitig entstehen und wieder verschwinden, aber auch von verschiedenen Feldern. Darunter sind uns geläufige Vertreter wie Magnetfelder oder elektrische Felder, die den Raum überbrückend wie durch Zauberhand ohne sichtbare mechanische Verbindung Kräfte ausüben und magnetische oder elektrisch geladene Gegenstände bewegen können. Auch bei Higgs, Englert und Brout spielt ein Feld die entscheidende Rolle. Dieses Feld füllt das gesamte Universum aus, in weitester Entfernung genauso wie auf der Erde und in uns selbst und wird zu Ehren der drei theoretischen Physiker Brout-Englert-Higgs-Feld oder kurz BEH-Feld genannt. Das Vakuum ist deswegen niemals leer, sondern besitzt durch die Anwesenheit des Feldes sogar eine gewisse Eigenenergie, die sogenannte Vakuumenergie. Die Teilchen in unserem Universum müssen sich durch das allgegenwärtige BEH-Feld bewegen, das sich nicht abschirmen lässt, wie es bei magnetischen und elektrischen Feldern möglich ist und das die Teilchen auf verschiedene Weise beeinflusst: Photonen, die Lichtteilchen, spüren das Feld überhaupt nicht und bewegen sich ungehindert mit Lichtgeschwindigkeit durch das Universum. Andere Teilchen werden durch das Feld verändert: Die eigentlich masselosen Teilchen des Standardmodells können sich durch die ständige Wechselwirkung mit dem BEH-Feld nicht mehr mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Dadurch erlangen sie Masse, denn nach der speziellen Relativitätstheorie bewegen sich masselose Teilchen immer mit Lichtgeschwindigkeit, massive Teilchen jedoch stets langsamer. Dies ist die Ursache der trägen Masse2 der Elementarteilchen. Je stärker die Wechselwirkung mit dem Higgs-Feld, umso größer ist die Masse. Es ist also das Brout-Englert-Higgs-Feld, das den meisten Elementarteilchen des Standardmodells außer dem Photon und den Gluonen zu ihrer Masse verhilft. Aber wie lässt sich diese Theorie überprüfen? Das BEH-Feld ist zwar allgegenwärtig, aber nicht direkt messbar. Da hilft die Vorhersage von Peter Higgs, dass mit dem Feld auch das Auftreten eines massiven Teilchens, eines Bosons mit Spin-0 verbunden ist. Das BEH-Feld können wir uns dabei vorstellen wie die Wasseroberfläche eines ruhigen Sees, in der wir uns spiegeln können. Nun verursachen wir eine Störung und werfen einen Stein in den See: Das Wasser spritzt auf und Wellen breiten sich ringförmig von der Einschlagstelle aus. Der entstandene Wasserspritzer entspricht 2 Die träge Masse m
t ist diejenige Masse, auf die eine Kraft aufgrund einer Geschwindigkeitsänderung, d. h. einer Beschleunigung ausgeübt wird: F = m t · a. Die schwere Masse m s ist diejenige Masse, auf die eine Kraft (Schwerkraft) aufgrund der Anziehung von (schweren) m ·m Massen untereinander ausgeübt wird: F = G · s,1r 2 s,2 . Im Allgemeinen wird die träge Masse der schweren Masse gleichgesetzt und nicht weiter unterschieden: m t = m s = m.
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Die Entdeckung eines neuen Teilchens
hierbei einem Teilchen, das durch die Anregung des Feldes erzeugt wurde. Nach kurzer Zeit fällt die Wassersäule in sich zusammen, das Wasser beruhigt sich wieder und nach einiger Zeit ist die Wasseroberfläche wieder so ruhig wie zuvor. Solch eine Anregung des BEH-Feldes können wir mit einem Beschleuniger wie dem LHC erwirken: Durch die Kollision der Protonen pumpen wir Energie in das Feld und regen es an, sodass sich ein Teilchen manifestiert. Wie die Wassersäule des Sees ist das Higgs-Teilchen allerdings nur eine kurze, flüchtige Erscheinung, da es instabil ist und zerfällt, bevor es einen der Teilchendetektoren am LHC erreichen kann. Jedoch lassen sich seine Zerfallsprodukte auffangen und vermessen und so aus den gemessenen Energien und Impulsen auf das Higgs-Teilchen schließen und seine Ruhemasse bestimmen3 . Der experimentelle Nachweis des Higgs-Teilchens bestätigt damit gleichzeitig auch die zugrunde liegende Theorie des Mechanismus zur Erzeugung von Masse.
1.2
Higgs-Jagd – vor dem LHC
Die Vorhersage des Auftretens eines neuen Phänomens oder eines neuen Teilchens, das mit einer neuen Theorie verbunden ist, erlaubt den Experimentalphysikern, die Theorie zu erhärten oder zu widerlegen, wenn sich die Vorhersage nicht bestätigt. Leider gibt es in der Theorie von Brout, Englert und Higgs eine unbekannte Größe, einen freien Parameter der Theorie, der nicht festgelegt ist und die Suche erschwert. Dieser freie Parameter ist ausgerechnet die Masse des Higgs-Teilchens selbst, die sowohl im Bereich von nur wenigen GeV liegen als auch mit bis zu einem TeV sehr groß sein konnte. Wo sollte man suchen? Vor der Suche nach dem Higgs-Teilchen konzentrierte man sich in den 1970er und 1980er Jahren zunächst auf die anderen Bestandteile des Standardmodells, die Quarks, Leptonen und Austauschteilchen der starken und schwachen Wechselwirkung. In schneller Folge wurden 1974 das Charm-Quark (4. Quark), 1975 das Tau-Lepton und 1977 das Bottom-Quark (5. Quark) entdeckt. Im Jahr 1979 kamen schließlich das Gluon am DESY in Hamburg und 1983 auch die W- und Z0 Bosonen am CERN hinzu4 , mit dem ersten Nobelpreis für CERN-Wissenschaftler. Damit waren bis auf das sehr schwere Top-Quark (6. Quark), das erst 1995 3 Die
Ruhemasse m eines Teilchens ist konstant in allen Bezugssystemen und wird in der relativistischen Kinematik auch als invariante Masse bezeichnet. Beim Zerfall des Teilchens bleibt die invariante Masse des Systems der Zerfallsteilchen erhalten und lässt sich bei einem Zerfall in zwei Tochterteilchen aus den Energien und Impulsen der Tochterteilchen berechnen: 2 |2 = m 21 + m 22 + 2(E 1 E 2 − p 1p 2 ). m 2 = (E 1 + E 2 )2 − | p1 + p 4 Mehr dazu im essential „Neustart des LHC: CERN und die Beschleuniger“.
1.2 Higgs-Jagd – vor dem LHC
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gefunden wurde, und das überaus schwierig nachzuweisende Tau-Neutrino, das im Jahr 2000 entdeckt wurde, Anfang der 1980er Jahre fast alle Materieteilchen des Standardmodells und die Austauschteilchen bekannt. Aber es gab keinerlei Spur des Higgs-Teilchens. Die Daten deuteten lediglich darauf hin, dass es schwerer als 8 oder 9 GeV sein musste. Da das Higgs-Teilchen sehr kurzlebig ist und schnell zerfällt, kann man es zudem nicht einfach finden wie die sprichwörtliche Stecknadel im Heuhaufen. Das Teilchen muss zunächst durch die Anregung des Brout-Englert-Higgs-Feldes überhaupt erst produziert werden, bevor die Zerfallsprodukte in einem Teilchendetektor gefunden werden können. Die Produktion des Teilchens erfordert einiges an Energie, denn nur durch die Umwandlung von Energie in Materie, die zuerst Einstein 1905 in seiner weltbekannten Formel E = mc2 niederschrieb, kann dessen Masse erzeugt werden. Reicht die Kollisionsenergie eines Beschleunigers nicht aus, entstehen keine HiggsTeilchen und jegliche Suche danach ist vergebens. Offensichtlich waren die Beschleuniger bis Ende der 1980er Jahre nicht in der Lage, die erforderliche Energie aufzubringen, als ein neues Kapitel in der Jagd nach dem Higgs-Teilchen wiederum am CERN aufgeschlagen wurde. Am 14. Juli 1989, dem französischen Nationalfeiertag und 200. Jahrestag des Sturms auf die Bastille mit dem Beginn der französischen Revolution, kreisten zum ersten Mal Elektronen und Positronen im Large Electron Positron Collider LEP, dem Vorgänger des LHC, im gleichen Tunnel und nur einen Monat später kollidierten die Elektronen und Positronen mit einer Energie von gut 45 GeV pro Strahl. Wie später am LHC gab es vier große Teilchendetektoren in unterirdischen Kavernen: ALEPH, DELPHI, L3 und OPAL, die die Kollisionen aufzeichneten. Obwohl noch nicht von der Größe der heutigen Kollaborationen am LHC, stellten die damaligen Zusammenschlüsse mit jeweils 300 bis 500 Teilchenphysikern doch eine neue Größenordnung dar. LEP war der erste ernsthafte Versuch, gezielt und mit hoher Priorität nach dem Higgs-Teilchen zu suchen. Aber auch nach Jahren des Suchens bei stetiger Erhöhung der Strahlenergie um mehr als das Doppelte gab es keinerlei Hinweise, keine Zerfallsprodukte, deren invariante Massen sich verdächtig bei einer bestimmten Masse häuften. Das Ende von LEP war bereits beschlossen, als sich wenige Monate vor dem geplanten Ende im Sommer 2000 doch noch Gerüchte über einige Kollisionsereignisse im ALEPH-Detektor verbreiteten, die auf ein Higgs-Teilchen hindeuten konnten. Die Beschleunigerphysiker hatten es zuvor geschafft, die Kollisionsenergie immer weiter zu erhöhen und vielleicht hatte man nun endlich die Schwelle
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Die Entdeckung eines neuen Teilchens
zur Erzeugung des Higgs-Teilchens erreicht. Als LEP am 2. November 2000 planmäßig abgeschaltet wurde, war die Entscheidung noch offen, ob der Beschleuniger und die Detektoren noch ein Jahr weiter laufen würden. Die abwegigsten Ideen wurden ersonnen und auf die Papierdeckchen in den Restaurants gekritzelt, um die Energie nochmals zu erhöhen und das letzte Quäntchen Energie aus dem Beschleuniger herauszuholen, denn das hätte die Chancen auf eine Entdeckung massiv erhöht. Mit Spannung erwarteten die Teilchenphysiker ein Sonderseminar nur einen Tag nach dem Abschalten des LEP. Aber die Ergebnisse waren unklar: Von den vier Detektoren hatte nur ALEPH Kollisionen aufgezeichnet, die mit einem Higgs-Teilchen mit einer Masse von etwa 115 GeV vereinbar waren. Die drei anderen Detektoren fanden keine derartigen Kollisionen. Auch das LEPC, das wissenschaftliche Komitee, welches die Ergebnisse begutachtete, war uneins und genauso wenig konnte sich wenige Tage später das Beratungsgremium des CERN-Generaldirektors zu einer Empfehlung durchringen. Schließlich entschied sich das CERN-Direktorium unter Luciano Maiani, dem damaligen Generaldirektor, gegen ein Weiterlaufen von LEP und für ein zügiges Voranschreiten des Baus des LHC, zu dem die ersten Baumaßnahmen bereits zwei Jahre zuvor begonnen hatten. Maiani wollte keine Verzögerungen und dadurch mögliche Kostensteigerungen beim LHC riskieren. Die Physiker aller vier LEP-Experimente reagierten geschockt, hatte man doch kurz vor der vermeintlichen Entdeckung des Higgs-Teilchens gestanden. So konnte man als Ergebnis der Suche nur schließen, dass das Higgs-Teilchen schwerer als 114,4 GeV sein musste. Durch Präzisionsmessungen verschiedener anderer Prozesse, bei denen sich der Einfluss des Higgs-Teilchens indirekt zeigt, konnte man nach teils jahrelanger, mühsamer Datenauswertung sogar eine Obergrenze von 154 GeV für die Masse angeben. Wie wir heute wissen, liegt die Masse des Higgs-Teilchens mit 125 GeV genau in dem von LEP vorhergesagten Bereich, ein Triumph des Zusammenspiels von Experimentierkunst und Theorie5 . Letztlich stellte sich die Entscheidung zum Abschalten von LEP als richtig heraus, aber in der emotionsgeladenen Atmosphäre im November 2000 hatte sich Luciano Maiani keine Freunde unter den Physikern der vier Kollaborationen am LEP gemacht. Nur wenig später, im September 2001, musste Maiani zudem eine erhebliche Kostenerhöhung von 850 Mio. Schweizer Franken für den Bau des LHC bekannt geben, die er über Monate verheimlicht hatte. Die Mitgliedsländer 5 Auf
ähnliche Weise wurde im 19. Jahrhundert aus Abweichungen der erwarteten Bahn des Planeten Uranus auf die Existenz und Masse eines weiteren Planeten geschlossen. Nicht weit von der vorhergesagten Stelle wurde dann im Jahr 1846 der Neptun entdeckt.
1.3 Statistik ist alles
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reagierten verärgert, forderten eine strenge Kostenkontrolle und setzten ein externes Komitee ein, das Vorschläge zu Einsparungen geben sollte. Die Schockwellen der Kostenerhöhung dauerten noch lange nach und hatten einen großen Einfluss auf das CERN-Budget und die Planung der weiteren Jahre. Bevor der LHC schließlich 2008 fertiggestellt wurde, waren jedoch die USamerikanischen Physiker am Zuge. Nach dem Ende von LEP verlagerte sich die Higgs-Teilchen-Suche für die nächsten zehn Jahre an den Tevatron-Beschleuniger am Fermi National Accelerator Laboratory (Fermilab), etwa 50 km westlich von Chicago. Das Tevatron war ein Collider für Protonen und Antiprotonen, ähnlich dem Super Proton Synchroton in 1980er Jahren am CERN, aber mit einer dreifach höheren Kollisionsenergie von bis zu 1,96 TeV dank supraleitender Magnete wie auch später am LHC. Das Tevatron war bereits über zehn Jahre in Betrieb und hatte große Erfolge gefeiert, so die Entdeckung des Top-Quarks 1995. Für die Entdeckung des Higgs-Teilchens war aber neben der notwendigen Kollisionsenergie eine ausreichend hohe Kollisionsrate entscheidend. Selbst wenn die Energie zur Erzeugung von Higgs-Teilchen ausreichen würde, war die zu erwartende Anzahl anfangs noch zu gering, um sie mit Sicherheit unter den Millionen anderer Kollisionen zu identifizieren. Mehr Kollisionsrate war nötig und dazu musste wie schon beim SPS-Collider am CERN eine ausreichend hohe Anzahl von Antiprotonen in das Tevatron gefüllt werden. Dies gelang zwar über die Jahre immer besser, trotzdem reichten die Kollisionsrate und Datenmenge bis zum Start des LHC im Jahr 2008 nicht aus, um das Higgs-Teilchen in dem von LEP vorhergesagten Massenbereich zu finden. Eine Anhäufung von Ereignissen im Bereich zwischen 115 GeV und 140 GeV zeigte, dass man auf dem richtigen Weg war, jedoch mit einer statistischen Signifikanz, die für eine Entdeckung nicht ausreichte. Nach 24 Betriebsjahren wurde das Tevatron deswegen im September 2011 abgeschaltet, als der LHC im Begriff war, immer neue Rekorde in der erreichten Kollisionsrate zu brechen.
1.3
Statistik ist alles
Mehr als zehn Jahre nach dem Ende von LEP übernahm CERN mit dem LHC wieder die Führung in der Suche nach dem Higgs-Teilchen. Nach der unglaublichen weltweiten Euphorie des ersten Strahls am 10. September 2008 und der tiefen Depression als Folge des Unfalls nur wenige Tage später, hatte der LHC jedoch zunächst einen schweren Start. Es dauerte mehr als ein Jahr, um alle Schäden zu beseitigen, das neue empfindliche Überwachungssystem und einen Teil der neuen Sicherheitsventile einzubauen, um einen derartigen Unfall nicht zu wiederholen.
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Die Entdeckung eines neuen Teilchens
Im November 2009 war die Agonie überwunden und nach mehr als einem Jahr kreisten wieder Protonen im LHC, diesmal unter weit weniger Beachtung der Medien und der Weltöffentlichkeit. Nur drei Tage später, am 23. November 2009, starrten Hunderte von Physikern in den Kontrollräumen der vier großen LHC-Detektoren auf die Reihen unzähliger Bildschirme und erwarteten mit Hochspannung die ersten Kollisionen. Was bei LEP noch vier Wochen dauerte, schafften die Beschleunigerphysiker dank jahrelanger Vorbereitung jetzt in Rekordzeit. Zwei Teilchenpakete mit jeweils 10 Mrd. Protonen, die zunächst getrennt in den beiden Vakuumröhren des LHC kreisten, wurden im Zentrum von ATLAS und von CMS langsam aufeinander zu gelenkt. Gebannt schauten die Physiker auf die Anzeigen und konnten unmittelbar verfolgen, wie sich die beiden Strahlen näherten und schließlich frontal aufeinander trafen. Im gleichen Moment registrierten die Detektoren die ersten Kollisionen und auf den Bildschirmen tauchten die ersten Spuren auf, die weiter außen ihre Energie in den Kalorimetern hinterließen. Frenetischer Jubel brach aus. Das war der Moment, auf den die Physiker so viele Jahre, teils Jahrzehnte hingearbeitet hatten und für den sie die Detektoren mit den gigantischen Ausmaßen gebaut hatten. Die Anspannung entlud sich mit ungewohnten Emotionen. Aber kaum waren die ersten Kollisionen aufgezeichnet, saßen die Physiker wieder an ihren Kontrollschirmen: Jetzt hatte man endlich Daten, würde der Detektor so funktionieren wie erwartet? Mit der erhofften Präzision? Waren Korrekturen erforderlich? Kam die Datenverarbeitung mit der plötzlichen Datenmenge zurecht? Noch war die Kollisionsrate sehr gering, verglichen zu dem, was noch folgen sollte. Auch war der LHC noch kein richtiger Beschleuniger, denn die vom letzten Vorbeschleuniger, dem Super Proton Synchrotron SPS, gelieferten und in den LHC eingeschossenen Protonen verblieben zunächst bei der Einschussenergie von 450 GeV, weniger als der Hälfte der Energie des Tevatrons. Ein neuer Weltrekord ließ jedoch nicht lange auf sich warten. Bereits eine Woche nach den ersten Kollisionen wurden zunächst 1,05 TeV und kurz darauf sogar 1,18 TeV pro Strahl erreicht, mehr als der alte Rekord des Tevatrons von 0,98 TeV. Der Staffelstab war zurück in Europa. Und es ging weiter: Im März 2010 nach der Winterpause wurden die ersten Kollisionen bei einer Strahlenergie von 3,5 TeV erreicht. Das war endgültig der Beginn eines neuen Zeitalters in der Teilchenphysik. Diese Energie sollte für das Higgs-Teilchen reichen, so es denn überhaupt existierte. Denn wenn der von Brout, Englert und Higgs erdachte Mechanismus mit seinem Feld und dem Higgs-Teilchen nicht in der Natur verwirklicht war und seine Existenz durch den LHC sogar ausgeschlossen werden konnte, musste es etwas anderes geben, was für die Masse der Elementarteilchen verantwortlich ist. Dann, so war man sich sicher, würde der LHC etwas anderes entdecken, über das existierende Standardmodell der Teilchenphysik hinaus und dies wäre ein großer, ja sogar noch
1.3 Statistik ist alles
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größerer Erfolg. Aber man brauchte Daten, viele Daten von vielen Kollisionen und 2010 lieferte der LHC zwar genug Energie, aber noch zu wenige Kollisionen. Warum ist eine ausreichend hohe Anzahl von Kollisionen so wichtig? Dazu müssen wir uns vor Augen halten, dass die bei weitem häufigsten Prozesse am LHC gewöhnliche, seit langem bekannte Wechselwirkungen zwischen den bekannten Teilchen des Standardmodells sind. Nur bei einer von 10 Mrd. Kollisionen wird ein Higgs-Teilchen entstehen, das anschließend über seine Zerfallsprodukte in den großen LHC-Detektoren nachgewiesen werden muss. Dies ist deutlich seltener als die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen, der aus nur 40 Mio. Halmen6 besteht. Eine Nadel im Heuhaufen zu finden ist zudem vergleichsweise einfach, denn die Nadel unterscheidet sich deutlich von den gewöhnlichen Halmen. Auch wenn die Suche lange dauert, irgendwann wird die eine Nadel zum Vorschein kommen, die sich im Heuhaufen versteckt. Dies ist bei der Higgs-Teilchen-Suche anders: Higgs-Teilchen lassen sich nur über die invariante Masse der Zerfallsteilchen entdecken und leider gibt es in den vielen für die Higgs-Jagd relevanten Kollisionen auch eine große Menge zufälliger Kombinationen von Teilchen, deren invariante Masse genau der eines HiggsTeilchens entspricht. Dieser sogenannte Untergrund ist nicht von einem echten Higgs-Teilchen-Zerfall zu unterscheiden und kann erheblich größer sein als das Signal des Higgs-Teilchens selbst. Der Untergrund entspricht dem Rauschen bei einem nur sehr schwach zu empfangenden Radio- oder Fernsehsender, im Zeitalter von digitalem Radio und Fernsehen eine allerdings nur noch selten wahrgenommene Erscheinung. Ein Higgs-Teilchen verrät sich durch eine kleine Anhäufung von Zerfallsteilchen bei einer bestimmten invarianten Masse. Ein zufällige Schwankung des Untergrunds kann jedoch ebenfalls zu einer Anhäufung führen, die sich zunächst nicht von einem echten Signal unterscheiden lässt. Erst bei einer ausreichend hohen Datenmenge gleichen sich die zufälligen Schwankungen mehr und mehr aus und das Signal des Higgs-Teilchens würde sichtbar werden. Aber wie groß muss die Datenmenge sein, damit man sich sicher sein kann, wirklich ein neues Teilchen entdeckt zu haben und keiner zufälligen Schwankung des Untergrunds aufgesessen zu sein? Auch Zufälle lassen sich berechnen, oder zumindest die Wahrscheinlichkeiten, mit der bestimmte zufällige Ereignisse auftreten, wie die Häufigkeit beim Würfeln oder die Wahrscheinlichkeit eines Treffers beim Lotto. Besonders mit dem Aufkommen des Roulette-Spiels im 19. Jahrhundert erhielt die Wahrscheinlichkeitstheorie einen erheblichen Aufschwung und auch in der Physik wurden mehr und 6 Eine
schöne Bestimmung der Anzahl der Halme in einem Heuhaufen wurde von Martin Lieberherr, Zürich und seinen Schülern durchgeführt [4].
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Die Entdeckung eines neuen Teilchens
mehr Phänomene mit Methoden der Wahrscheinlichkeitstheorie und der Statistik beschrieben, wie die Thermodynamik von Gasen ausgehend von der statistischen Geschwindigkeitsverteilung der Gasmoleküle. Zufällige Prozesse wie die Körpergröße, Schulnoten oder die Streuung von Messwerten folgen häufig einer Gauß’schen Normalverteilung nach dem deutschen Mathematiker Carl Friedrich Gauß (1777–1855): Viele Werte liegen dabei nahe einem Mittelwert, einige Werte sind aber teils deutlich höher oder tiefer, so wie es viele Menschen mittlerer Größe gibt, aber nur wenige sehr große oder sehr kleine Menschen. Charakteristisch für die glockenförmige Normalverteilung ist neben dem Mittelwert die Breite der Verteilung, die auch als Sigma σ bezeichnet wird. Innerhalb eines Intervalls von ±1 σ um den Mittelwert befinden sich 68,3 % aller Werte, außerhalb davon sind es 31,7 %. Nur 4,55 % der Werte liegen außerhalb eines Intervalls von ±2 σ und lediglich 0,27 % außerhalb von ±3 σ . Laut einer Studie von 2010 [5] folgt die Körpergröße sehr gut einer Normalverteilung. Die mittlere Körpergröße deutscher Männer7 beträgt danach 177,7 cm mit einem Sigma der Verteilung von 6,69 cm. Dies bedeutet, dass nur 0,135 % oder einer von 740 Männern größer als 197 cm ist und ein ebenso geringer Anteil kleiner als 158 cm. Auch die Schwankung des Untergrunds der invarianten Massen folgt näherungsweise einer Normalverteilung.8 Eine Anhäufung der invarianten Masse an einer bestimmten Stelle, die einer Abweichung von 3 σ über dem Mittelwert entspricht, kann daher sowohl auf ein neues Teilchen hindeuten oder mit der Wahrscheinlichkeit von 1:740 auch durch eine zufällige Schwankung des Untergrundes verursacht worden sein. In den Beipackzetteln Medikamenten wird das Auftreten von Nebenwirkungen mit einer Häufigkeit zwischen 1:100 und 1:1000 als gelegentlich bezeichnet. Würden Sie eine neue Entdeckung verkünden, wenn es gelegentlich vorkommen kann, dass Sie nur dem Zufallsteufel erlegen sind? Mehr noch, die zufällige Abweichung von 3 σ könnte nicht nur an einer bestimmten, sondern an einer ganz beliebigen Stelle der Verteilung auftauchen. Bei 100 Datenpunkten einer Verteilung stehen dem Zufall daher noch weitaus mehr Möglichkeiten offen, Sie zu täuschen, was die Chance einer falschen Entdeckung schnell in den häufigen Bereich bringt9 .
7 Bei
Frauen beträgt die mittlere Körpergröße 165,1 cm mit einem Sigma von 6,20 cm. genommen folgt der Untergrund einer Poisson-Verteilung, die aber für große Mittelwerte in eine Normalverteilung übergeht. 9 Dies ist der sogenannte look-elsewhere effect: Bei genügend vielen Datenpunkte werden aus rein statistischen Gründen zufällige Abweichungen auftauchen, die jedoch keineswegs eine Entdeckung darstellen. 8 Streng
1.4 Ist es ein Higgs?
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Eine Abweichung von 3 σ reicht deswegen nicht für eine Entdeckung, auch 4 σ sind noch zu wenig, obwohl die Aufregung dann deutlich zunehmen wird. Um eine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“ zu gewährleisten, haben sich die Physiker daher darauf geeinigt, nur dann von einer Entdeckung zu sprechen, wenn die Abweichung des Untergrunds mindestens 5 σ über dem Mittelwert liegt, entsprechend einer nur verschwindend geringen Chance von nur 1:3,5 Mio., dass die Abweichung einer zufälligen Schwankung entstammt.
1.4
Ist es ein Higgs?
Im Jahr 2010 reichte die Kollisionsrate am LHC noch nicht aus, um auch nur einige wenige Higgs-Teilchen zu produzieren. Der Schwerpunkt lag vielmehr darin, die komplexen Detektoren, deren Überwachung, die Datenauslese und -speicherung und die gesamte Kette der Datenanalyse zu testen. Nebenbei wurde dabei die bekannte Welt der Elementarteilchen des Standardmodells wiederentdeckt und so tauchten in kurzer Folge sämtliche Entdeckungen der letzten Jahrzehnte in den Detektoren auf: Von den charm- und bottom-Quarks der 1970er Jahre, den W- und Z0 -Bosonen aus den 1980er Jahren bis hin letzten großen Entdeckung des topQuarks in den 1990ern. Die sehr genau bekannte Masse des Z0 -Bosons, die bereits am LEP-Collider mehr als 15 Jahre zuvor mit höchster Präzision bestimmt wurde, konnte man dabei unter anderem als Referenzwert zur Eichung der Detektoren benutzen. Bestens vorbereitet begann die eigentliche Higgs-Jagd schließlich 2011. Die Beschleunigerphysiker steigerten die Anzahl der Teilchenpakete im LHC, die Anzahl der Protonen pro Paket und Fokussierung der Pakete an den Kollisionspunkten, um so die Dichte der Protonen und damit die Kollisionswahrscheinlichkeit zu erhöhen. Als die Datennahme im Oktober 2011 vorläufig beendet wurde, hatten die beiden auf die Higgs-Suche konzentrierten ATLAS- und CMS-Detektoren mehr als hundert Mal so viele Kollisionsdaten gesammelt wie im Jahr zuvor. Ob sich in diesen Datenmengen bereits erste Hinweise auf das Higgs-Teilchen verbargen, sollte sich bald zeigen. Wenige Wochen später, am 13. Dezember 2011 während der Sitzungswoche des CERN-Council, wurde ein Sonderseminar angesetzt, bei dem die Sprecher von ATLAS und CMS die ersten Ergebnisse vorstellten. Und es gab überaus Interessantes zu berichten: Beide Kollaborationen konnten die Existenz eines Higgs-Teilchens mit hoher Masse weitgehend ausschließen. In der Theorie von Brout, Englert und Higgs ist die Masse des Higgs-Teilchens ein zunächst unbekannter freier Parameter. Wenn man jedoch eine bestimmte Masse annimmt, kann man gut berechnen, wie
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Die Entdeckung eines neuen Teilchens
viele Higgs-Teilchen man hätte finden müssen. Deswegen konnte man den Massenbereich oberhalb von 130 GeV und bis zu 600 GeV ausschließen, da es sonst eindeutige Spuren in den Detektoren gegeben hätte. Aber im Bereich niedriger Massen tat sich eine Lücke auf, die man nicht schließen konnte. Zwischen 116 GeV und 127 GeV gab es sowohl bei ATLAS als auch bei CMS eine Anhäufung von Kollisionen über dem Untergrund, die mit einem HiggsTeilchen vereinbar waren. Dies war genau der Massenbereich, in dem bereits in den 1990er Jahren bei LEP das Higgs-Teilchen aufgrund direkter Messungen und indirekt aufgrund Präzisionsmessungen verschiedener anderer Prozesse vermutet wurde. Es passte! Noch war es zu früh, von einer Entdeckung zu sprechen, denn die maximale Signifikanz der Anhäufung betrug bei ATLAS nur 3,6 σ bei einer Masse von 126 GeV und bei CMS nur 2,6 σ bei 124 GeV. Der look-elsewhere effect reduzierte die Signifikanz weiter auf nur 2,3 σ und 1,9 σ , deutlich zu wenig für eine Sensation. Noch musste man weiter abwarten und hoffen, dass der LHC auch 2012 genug oder sogar mehr Daten liefern würde als 2011. Nach der Winterpause lief der LHC im April 2012 erneut an, sogar mit einer um 1 TeV höheren Kollisionsenergie von 8 TeV. Die Beschleunigerphysiker und Ingenieure hatten nach den guten Betriebserfahrungen im Vorjahr und nach vielen Tests und Riskoabschätzungen eine Steigerung der Energie beschlossen. Das Risiko einer Fehlfunktion in den Stromverbindungen zwischen den Magneten lag nur geringfügig höher, aber die höhere Kollisionsenergie von nun 2 × 4 TeV statt 2 × 3,5 TeV ermöglichte eine um knapp 30 % höhere Produktionsrate von Higgs-Teilchen. Durch die zudem um das Doppelte gesteigerte Kollisionsrate gegenüber 2011 konnten bereits bis Mitte Juni, nur gut zwei Monate später, mehr Daten gesammelt werden als im ganzen Jahr 2011. Man lag auf Kurs! Die wichtigste und renommierteste Konferenz des Jahres, die International Conference for High Energy Physics (ICHEP), sollte vom 4. bis 11. Juli 2012 in Melbourne (Australien) stattfinden. Dort sollten die Zwischenergebnisse der Higgs-Jagd vorgestellt und vielleicht sogar die Entdeckung des Higgs-Teilchens bekannt gegeben werden, was die Organisatoren der Konferenz besonders erfreut hätte. Der Zeitplan des LHC war dazu in Abstimmung mit ATLAS und CMS ganz auf Anfang Juli 2012 ausgerichtet worden. Stichtag war der 19. Juni, etwa zwei Wochen vor Beginn der Konferenz. Alle Daten der Detektoren, die bis zu diesem Tag aufgezeichnet wurden, konnten noch berücksichtigt werden. Dies war nur möglich, weil die Analysekette wie bei einer gut eingelaufenen Produktionsanlage immer weiter verfeinert und automatisiert war. An deren Ende standen nur die Daten der wenigen verdächtigen Kollisionen, bei denen möglicherweise ein Higgs-Teilchen entstanden war.
1.4 Ist es ein Higgs?
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Bis zum Stichtag sahen allerdings auch die Physiker von ATLAS und CMS noch nicht, ob ihnen das Higgs-Teilchen ins Netz gegangen war. Denn erst zu diesem Zeitpunkt wurden die neuen Daten offengelegt und insbesondere mit denen von 2011 verglichen. Und es passte! Wie schon im vergangenen Jahr zeigte sich eine vermehrte Anzahl von Kollisionsereignissen bei einer Masse von 125 GeV und dies auch in unterschiedlichen Signaturen im Detektoren, da das Higgs-Teilchen auf verschiedene Arten zerfallen kann. Das war es! In den nächsten Tagen und Nächten wurden Daten immer und immer wieder auf mögliche Fehler überprüft und die verschiedenen Teilergebnisse miteinander kombiniert. Es blieb die spannende Frage, ob die Signifikanz auch die magischen 5 σ für eine Entdeckung erreichte? Und war man sich sicher genug, eine Entdeckung bekannt zu geben, immerhin vom wichtigsten zu entdeckenden Teilchen seit Jahrzehnten? Am 22. Juni baten der CERN-Generaldirektor, Rolf Heuer, und der Forschungsdirektor, Sergio Bertolucci, die beiden Sprecher von ATLAS und CMS, Fabiola Gianotti und Joe Incandela, zu einem vertraulichen Gespräch zwecks gegenseitiger Information und Abstimmung über das weitere Vorgehen. Dies war das erste Mal, dass die Ergebnisse gemeinsam auf dem Tisch lagen. Die Sprecher, die nun auch die Ergebnisse der jeweiligen anderen Kollaboration kannten, verpflichteten sich dabei zu Stillschweigen gegenüber ihrer eigenen Kollaboration. Dies war auch deswegen wichtig, um die Datenanalyse nicht zu beeinflussen, denn der menschliche Faktor spielt auch bei Physikern eine Rolle. So ist es beispielsweise durch eine entsprechende, stark einschränkende Wahl der Auswahlkriterien durchaus möglich, eine Anhäufung von mehr „erwünschten“ Ereignissen zu erzeugen, als in Wahrheit vorhanden sind. Diese bewusste oder unbewusste Voreingenommenheit ist ein berüchtigter Effekt unter Teilchenphysikern und die Kenntnis der Ergebnisse der anderen Kollaboration hätte genau dies bewirken können. Das Format der Vorstellung der Ergebnisse wurde ebenfalls geklärt: Das CERNCouncil forderte, dass jegliche Entdeckung zwar zeitgleich mit dem Beginn der ICHEP-Konferenz, aber auf jeden Fall am CERN verkündet werden sollte und nicht auf der anderen Seite des Erdballs. Geplant war ein Sonderseminar am CERN, das auch nach Melbourne übertragen würde, mit anschließender Pressekonferenz. Die genaue Sprachregelung, wie man die Ergebnisse kommentieren würde, insbesondere in der Pressemitteilung, erforderte eine weitere enge Abstimmung zwischen den beiden Kollaborationen und dem CERN-Management. Schließlich wurde das Sonderseminar mit dem unverfänglichen Titel Latest update in the search for the Higgs boson für den 4. Juli 2012 angekündigt. Es war klar, dass ein historischer Moment bevorstand. Das Seminar sollte am Morgen um 9 Uhr beginnen, aber bereits viele Stunden zuvor begann sich eine mehr als hundert Meter lange Schlange zu bilden, die sich von der Terrasse des Restaurant 1 über die Treppe
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Die Entdeckung eines neuen Teilchens
hinauf bis zum Auditorium zog, in der vagen Hoffnung, einige der wenigen freien Plätze zu erlangen. Es war wie bei der Erstaufführung eines Hollywood-Blockbusters oder dem Erstverkauf eines neuen trendigen Smartphones. Diejenigen, die rechtzeitig anstanden oder sogar die Nacht vor den Türen des Auditoriums verbracht hatten, fanden sich plötzlich im gleichen Raum neben François Englert und Peter Higgs (siehe Abb. 1.1) wieder, die sich nun am CERN zum ersten Mal überhaupt auch persönlich begegneten. Robert Brout, der dritte Theoretiker, der mit dem Brout-EnglertHiggs-Feld verbunden ist, war bedauerlicherweise bereits 2011 gestorben. Das Seminar begann mit einer kurzen Einleitung durch den Generaldirektor, der dabei auch die zugeschalteten Teilnehmer der ICHEP-Konferenz in Melbourne begrüßte. Die Reihenfolge der beiden nachfolgenden Vorträge war zuvor ausgelost worden und so hatte zuerst Joe Incandela die Gelegenheit, die Ergebnisse der CMS-Kollaboration zu präsentieren. Zunächst wurden technische Details zur Funktionsfähigkeit des Detektors und zur Datenanalyse erläutert, ehe nach über 20 langen Minuten zum ersten Mal eine Massenverteilung erschien, in der eindeutig eine Anhäufung bei 125 GeV zu erkennen war (siehe Abb. 1.2). Ein Raunen erfasste die Zuhörer und der CMS-Sprecher musste in diesem emotionalen Moment kurz innehalten, bevor er fortfahren konnte. Kurz darauf waren weitere Anzeichen für das Higgs-Teilchen in einem anderen Zerfallsmodus zu sehen und die ersten Bilder der vermuteten Higgs-Teilchen-Zerfälle im CMS-Detektor (siehe Abb. 1.3). Als schließlich die rot-umrandete magische Zahl von 5,0 σ Signifikanz auf der
c 2012 Abb. 1.1 François Englert und Peter Higgs (rechts) beim Seminar am 4. Juli 2012. ( CERN)
1.4 Ist es ein Higgs?
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Abb. 1.2 Massenverteilung von zwei Photonen gemessen im CMS-Detektor. Auf der abfallenden Kurve ist eine Anhäufung bei einer Masse von 125 GeV erkennbar, die von einem c 2013 CERN, for the benefit of the neuen Teilchen herrührt (Seminar am 4. Juli 2012). ( CMS Collaboration)
Leinwand erschien, brach spontaner Applaus und Jubel aus. Nach der Kombination aller Daten fasste der Sprecher am Ende zusammen, dass CMS ein neues Boson mit einer Masse von 125,3 GeV beobachtet hatte. Nun war Fabiola Gianotti für ATLAS an der Reihe. Würde auch ATLAS eine Anhäufung mit ähnlicher Signifikanz bei der gleichen Masse sehen? Und auch dort, wie schon nicht mehr anders erwartet, gab es starke Anzeichen, dass die Zerfallsprodukte des Higgs-Teilchens im Detektor beobachtet wurden, wie wiederum mehrere Bilder eindrücklich bezeugten (siehe Abb. 1.4). Als auch bei ATLAS endlich die entscheidende Zahl erschien, wiederum eine Signifikanz von 5,0 σ bei einer Masse von 126,5 GeV, war der Jubel sogar noch größer als kurz zuvor bei CMS. Denn damit war klar: Beide Kollaborationen hatten die Schwelle zur Entdeckung erreicht! Schließlich fasste der Generaldirektor Rolf Heuer mit kurzen einprägsamenWorten
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Die Entdeckung eines neuen Teilchens
Abb. 1.3 Kollision von zwei Protonen im Zentrum des CMS-Detektors bei einer Energie von 8 TeV. Neben vielen anderen Teilchenspuren zeigt das Bild zwei charakteristische hochenergetische Photonen, erkennbar an den beiden herausragenden Blöcken, wie sie typisch c 2013 CERN, for the benefit of the CMS beim Zerfall eines Higgs-Teilchens entstehen. ( Collaboration)
zusammen, was alle dachten: „As a layman I now would say: I think, we have it – we have a discovery!“ 10 Dann ging das Mikrophon zunächst an François Englert und weiter an Peter Higgs, der mit Tränen in den Augen bekundete, dass es wahrhaft unglaublich sei, dass dies in seinem Leben passiere. In der Tat, das nach Peter Higgs benannte Higgs-Teilchen füllte nun die letzte verbliebene Lücke im Standardmodell der Elementarteilchenphysik. Dies war eine der „Sternstunden der Menschheit“, wie der Schriftsteller Stefan Zweig seine Sammlung historischer Ereignisse genannt hatte, die seiner Meinung nach die Menschheit in verschiedenster Weise beeinflusst haben. Wie ein Popstar, von einer Journalisten-Traube umringt und in seinem Fortkommen gehindert, ähnlich wie die zunächst masselosen Elementarteilchen im BEH-Feld, kämpfte sich Peter Higgs zu seinem Platz bei der anschließenden Pressekonferenz vor knapp einhundert Presse- und Medienvertretern. Und wie schon beim LHC-Start 10 Als
ein Laie würde ich nun sagen: Ich glaube, wir haben es – wir haben eine Entdeckung!
1.5 Der Nobelpreis
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Abb. 1.4 Kollision von zwei Protonen im Zentrum des ATLAS-Detektors bei einer Energie von 8 TeV. Neben vielen anderen Teilchen zeigt das Bild vier charakteristische aus dem Zentrum nach außen laufende Spuren von Myonen, wie sie typisch beim Zerfall eines HiggsTeilchens entstehen. Die verschiedenen Ansichten zeigen die Spuren ganz nah am Kollisionspunkt (oben links), im zentralen Teil des Detektors (rechts) und im gesamten Detektor. c 2012 CERN) (ATLAS Experiment
vier Jahre zuvor füllte die Nachricht von der Entdeckung am CERN die Schlagzeilen und Top News.
1.5
Der Nobelpreis
Aber was hatte man eigentlich entdeckt? Alles passte zu einem Higgs-Teilchen und doch war man zunächst vorsichtig und sprach anfangs von einem neuen, dann von einem Higgs-artigen Teilchen. Die Eigenschaften des neuen Teilchens mussten genauer bestimmt und mit den theoretischen Vorhersagen verglichen werden, bevor man sich sicher sein konnte, wirklich das von Peter Higgs 1964 postulierte Teilchen entdeckt zu haben. Insbesondere der Spin des neuen Teilchens musste bestimmt werden. Handelte es sich wirklich um ein Spin-0-Teilchen, wären die letzten Zweifel ausgeräumt. Wenn es aber ein Teilchen mit einem Spin-2 wäre und dies war aufgrund der gemessenen Zerfälle ebenso möglich, würde es sich um ein komplett anderes
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Die Entdeckung eines neuen Teilchens
Teilchen handeln, das vielleicht sogar wesentlich interessanter wäre als das HiggsTeilchen selbst11 . Das Seminar am 4. Juli 2012 konnte deswegen noch nicht die endgültige Antwort liefern. Bis zum Ende 2012 jedoch, als nach drei Jahren die erste lange Datennahmeperiode am LHC zu Ende ging, hatte man mehr als dreimal so viele Daten gesammelt als bis zum Seminar im Juli. Dies genügte auch zur Bestimmung des Spins des neuen Teilchens. Im März 2013 konnten ATLAS und CMS übereinstimmend verkünden, dass es sich um ein Spin-0-Teilchen handeln musste. Ab jetzt konnte man das neue Teilchen zweifelsfrei als Higgs-Teilchen bezeichnen. Der Ruhm ließ nicht lange auf sich warten. Am 8. Oktober 2013 sollte die nächste Vergabe des Physik-Nobelpreises erfolgen und mit hoher Wahrscheinlichkeit, so die Mutmaßungen, würden François Englert und Peter Higgs für ihre Theorie des BEH-Mechanismus, die sie vor fast 50 Jahren aufstellten und die jetzt mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens bestätigt wurde, ausgezeichnet werden. Hunderte von Physikern von ATLAS und CMS versammelten sich deswegen im CERN und verfolgten gemeinsam mit Hochspannung die Übertragung der Pressekonferenz des Nobelpreis-Komitees live aus Stockholm. Die Bekanntgabe war für 11.50 Uhr kurz vor Mittag angesetzt, der Countdown aus Schweden lief auf den Bildschirmen herunter, doch... nichts passierte. Wieder und wieder wurde die Bekanntgabe verschoben, bis schließlich nach einer Stunde der Vorsitzende des Komitees die beiden Preisträger, wie erwartet Englert und Higgs, verkündete. Zur Verzögerung war es gekommen, weil Peter Higgs, eher eine scheue und zurückhaltende Persönlichkeit, der keine großen Auftritte mag, kurz vor der offiziellen Bekanntgabe nicht vom Nobelpreis-Komitee erreicht werden konnte. Abermals waren die Physiker ganz im Physiker-Himmel. Das NobelpreisKomitee hatte zwar CERN, den LHC und die ATLAS- und CMS-Kollaborationen nicht ausgezeichnet, verwies aber in seiner Begründung ganz klar auf die Entdeckung des Higgs-Teilchens, die entscheidende Bestätigung der Theorie. Die Regeln des Physik-Nobelpreises sehen vor, dass nur maximal drei Personen ausgezeichnet werden können, für ihr eigenes Werk. Die Vergabe an eine Institution, eine Kollaboration oder auch stellvertretend an deren Leiter und Sprecher ist nicht vorgesehen. Trotzdem fühlten die vielen tausend Beteiligten am CERN, beim LHC und bei den ATLAS- und CMS-Kollaborationen so, als ob sie selbst den Nobelpreis zu einem kleinen Teil erhalten hätten. 11 Der Gesamtspin des Systems vor und nach dem Zerfall muss erhalten bleiben. Da das neue Teilchen in zwei Photonen mit jeweils Spin-1 zerfällt, kann es selbst entweder einen Spin-0 besitzen (die Spins beider Photonen beim Zerfall sind entgegensetzt und kompensiert sich zu Null) oder aber Spin-2 (die Spins beider Photonen beim Zerfall zeigen in die gleiche Richtung und addieren sich).
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Der Neustart
Als der Nobelpreis im Dezember 2013 an Englert und Higgs überreicht wurde, war der LHC bereits seit fast einem Jahr nicht mehr in Betrieb. Wie schon 2009 geplant, sollte der Beschleuniger nach der ersten langen Datennahmeperiode grundlegend überholt werden und bereit sein für die ursprünglich geplanten 2 × 7 TeV Kollisionsenergie, die nach dem Unfall im September 2008 zunächst außer Frage standen.
2.1
Ein langer Stopp
Der Long Shutdown 1 sollte zwei lange Jahre dauern bis Anfang 2015. Nicht nur der LHC selbst, sondern auch die anderen Beschleuniger des CERN standen still. Da der LHC in den zukünftigen Jahren nicht nur mit höherer Energie, sondern auch mit höherer Intensität betrieben werden sollte, mussten auch die Vorbeschleuniger des LHC mehr Protonen liefern. Im Hinblick auf die dann höhere Strahlenbelastung wurde beim Proton Synchrotron PS die Strahlenschutzabschirmung verstärkt und beim Super Proton Synchrotron SPS die bereits durch den jahrelangen Betrieb an einigen Stellen geschädigten Kabel ersetzt. Die Hauptarbeit aber betraf die Beseitigung der Schwachstellen des LHC. Etwa 30 % der Stromverbindungen wurden komplett erneuert, deren Widerstand den Sollwert von nur 0,2 n teils deutlich überschritten hatte. Mit den außerhalb des Toleranzbereichs liegenden Verbindungen wäre ein Betrieb bei hohen Strömen und Energien nicht möglich gewesen. Außerdem wurden alle Stromverbindungen zwischen den Magneten durch zusätzliche Überbrückungen aus Kupfer verstärkt. Dadurch wird die Leitfähigkeit im Falle eines Quenches erhöht, bei dem die Supraleitung zusammenbricht und der hohe Strom in den Verbindungen kurzzeitig durch das normalleitende Kupfer übernommen werden muss. Daneben wurden die Überwachungs- und Sicherheitssysteme verbessert. Eine Schwachstelle in den Magneten oder den Verbindungen soll so frühzeitig erkannt © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 M. Hauschild, Neustart des LHC: die Entdeckung des Higgs-Teilchens, essentials, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23086-9_2
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2 Der Neustart
und der LHC dann automatisch abgeschaltet werden. Sollte trotz aller Maßnahmen dennoch eine Verbindung durchschmelzen wie im September 2008, würden neue Sicherheitsventile nun eine Heliumdruckwelle verhindern, die beim Unfall zu weitaus größeren Schäden geführt hatte, als die nur auf kleinen Bereich begrenzten unmittelbaren Folgen der schadhaften Verbindung. Auch die LHC-Kollaborationen nutzten die zwei Jahre, um ihre Teilchendetektoren zu verbessern. Durch die Erfahrungen der vorherigen Betriebsjahre ermutigt, wurden um den Kollisionsbereich herum kleinere Vakuumrohre eingebaut mit einem Innendurchmesser von nur 4,7 cm. In den freiwerdenden Platz von weniger als 2 cm wurde bei ATLAS eine weitere Schicht des Spurdetektors eingebaut, um dem Wechselwirkungspunkt noch näher zu sein und besonders kurzlebige, instabile Teilchen besser zu vermessen, die nur eine kurze Strecke nach ihrer Erzeugung zurücklegen und dann zerfallen. Auch die Software, mit der die LHC-Kollaborationen die aufgezeichneten Datenmenge verarbeiten, wurde verbessert. Die Rohdatenmengen, die der ATLASoder der CMS-Detektor erzeugen, sind enorm: Die Kollisionsrate von 1 Mrd. Kollisionen pro Sekunde erzeugt einen permanenten Datenstrom von 1 Petabyte pro Sekunde (1 PB/s), eine unglaublich hohe Datenmenge, die etwa 1000 gewöhnlichen PC-Festplatten entspricht, die in jeder Sekunde voll geschrieben werden und dies über viele Stunden. Dieser Datenstrom lässt sich mit heutigen Mitteln nicht dauerhaft speichern. Glücklicherweise entstehen die allermeisten Daten jedoch durch lange bekannte Prozesse des Standardmodells. Interessante Kollisionen, bei denen z. B. W- und Z0 Bosonen oder Higgs-Teilchen entstehen, sind dagegen sehr viel seltener. Wenn es gelingt, nur die relevanten Kollisionen herauszufiltern, reduziert sich die Datenmenge drastisch. Genau dies erfolgt im sogenannten Trigger, der in einem zweistufigen Prozess über schnelle Algorithmen nur die interessanten Kollisionen markiert und filtert. In der ersten Trigger-Stufe wird der anbrandende Datenstrom von 1 PB/s für einige Mikrosekunden zwischengespeichert, bevor die Entscheidung getroffen werden muss, ob die Daten verworfen oder weitergeleitet werden. Die extrem kurze Entscheidungszeit erlaubt dabei nur den Einsatz von programmierbaren LogikSchaltungen, sogenannten Field Programmable Gate Arrays (FPGAs), digitalen, integrierten Schaltkreisen, bei denen logische Verknüpfungen und Verbindungen frei programmiert und verändert werden können. Als Kriterium für interessante Kollisionen dienen dabei einfache und schnell zu bestimmende Größen, wie z. B. hohe Energie in einem eingegrenzten Bereich des Kalorimeters. Aber bereits durch diese wenigen Einschränkungen lässt sich der Datenstrom um das Tausendfache auf 1 TB/s reduzieren.
2.2 Der erste Strahl
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Die zweite Trigger-Stufe besteht hingegen aus einer Computer-Farm, in der einige zehntausend Prozessoren bereits sehr komplexe Algorithmen verwenden, um die Informationen aus den verschiedenen Detektor-Komponenten miteinander zu verbinden. Dadurch wird eine weitere Reduktion des Datenstroms um das Tausendfache auf 1 GB/s ermöglicht, der von den LHC-Experimenten nun zum CERN-Computerzentrum geschickt wird zur permanenten Speicherung. Um sicherzustellen, dass bei der starken Filterung keine wichtigen Kollisionen verloren gehen, wird ein kleiner Teil des Rohdatenstromes auch ungefiltert gespeichert und analysiert. Vom CERN-Computerzentrum werden die Daten anschließend über schnelle permanente Leitungen auf ein weltweites Netzwerk von einer halben Million Prozessoren verteilt. Mindestens eine Kopie der Daten befindet sich dabei außerhalb des CERN-Computerzentrums, sodass die gesammelten Daten auch im Falle eines Datenverlustes am CERN durch Brand oder andere Umstände erhalten bleiben. In Anlehnung an ein Elektrizitätsnetz zur Versorgung (engl. grid) wird das weltweite LHC-Computernetz als Grid bezeichnet und stellte die erste Form eines globalen Computerverbundes dar, der heute allgemein als Cloud bezeichnet wird. Wie schon beim World Wide Web in den 1990er Jahren war auch hier CERN Erfinder und Vorreiter einer Technologie, die aus dem täglichen Leben nicht mehr wegzudenken ist.
2.2
Der erste Strahl
Gegen Ende der langen Pause konnte schließlich im Herbst 2014 endlich damit begonnen werden, die LHC-Magnete auf die ursprüngliche Sollstromstärke zu testen. Der gesamte LHC-Ring ist in acht Sektoren unterteilt, die unabhängig voneinander auf Betriebstemperatur heruntergekühlt und getestet werden können. Wie schon bei den Eingangstests bei der Anlieferung der Magnete wurde erwartet, dass eine Reihe von Quenchen notwendig wäre, um die Magnete zuverlässig bei hohen Strömen und damit den LHC bei hohen Energien zu betreiben. Die für 2015 angestrebte Energie war mit 6,5 TeV pro Teilchenstrahl etwas geringer als der Designwert von 7 TeV, für den man sehr viele Quenche erwartete, zu viele, um innerhalb einiger Monate betriebsbereit zu sein. Auch 6,5 TeV bedeuteten bereits eine Herausforderung und entsprachen einem Strom von 10.980 Ampere durch die frisch reparierten Stromverbindungen. Der erste Sektor konnte kurz vor der Sitzungswoche des CERN-Council Mitte Dezember 2014 einsatzfähig erklärt werden, ein wichtiger Meilenstein. Bei den anderen Sektoren dauerte es noch einige Monate, bis wenige Tage vor Ostern 2015
22
2 Der Neustart
auch der letzte Sektor bereit war. Insgesamt 172 Quenche waren erforderlich, um die Magnete auf 6,55 TeV zu bringen, eine nur geringe Sicherheitsspanne von 0,05 TeV über dem angestrebten Betriebswert von 6,5 TeV. Ein falsch gepolter Magnet und das Durchbrennen eines kleinen Draht-Stückchens in einem Magnet, das einen Kurzschluss verursachte, sorgten für nur geringe Verzögerungen. Ostersonntag ist im Christentum der höchste Feiertag, an dem die Auferstehung Jesu Christi in aller Welt gefeiert wird. Der Ostersonntag bedeutet das Ende der Fastenzeit, an dem der Papst den Segen urbi et orbi, der Stadt Rom und dem Erdkreis spendet. Siebenhundert Kilometer von Rom entfernt bedeutete der Ostersonntag 2015 ebenfalls das Ende einer Fastenzeit, einer langen Zeit von über zwei Jahren, in denen keine Teilchen im LHC zirkulierten. Am Vormittag des Ostersonntag wollten die Beschleunigerphysiker zum ersten Mal nach der Umbaupause wieder Teilchenstrahlen in den LHC einzuschießen und kreisen lassen. Der LHC war bereit, die Magnete getestet, die Strahlmonitore warteten, um die ersten Anzeichen von Teilchen zu detektieren. Der Einschuß vom SPS, dem letzten Vorbeschleuniger war schon einige Wochen zuvor erfolgreich verlaufen. Jetzt ging es darum, sich mit dem Strahl um den 27 km langen Ring zu hangeln, wie beim Start des LHC im September 2008. Auch wenn alle äußeren Elemente ausgiebig getestet waren, blieb doch die Unsicherheit, ob sich möglicherweise ein Hindernis irgendwo im Strahlrohr befand und den Strahl blockierte. Zwanzig Jahre zuvor passierte etwas derartiges beim Vorgänger des LHC, dem LEP-Collider. Ähnlich wie beim LHC gab es eine längere Umbauzeit im Winter 1995/1996, um die Kollisionsenergie zu erhöhen. Im Juni 1996 sollte LEP dann wieder in Betrieb genommen werden. Doch es war nicht möglich, den Strahl um den Ring herum zu führen, ohne dass er verloren ging. Nach fünf Tagen vergeblicher Versuche wurde klar, dass es ein Hindernis im Strahlrohr geben musste, sodass der Entschluss gefasst wurde, das Strahlrohr an der vermuteten Stelle zu öffnen. Man fand zwei leere Bierflaschen, die mutwillig an zwei Stellen ins Strahlrohr geschleudert sein mussten und so einige Meter von der Öffnung entfernt lagen. Jemand musste, als das Strahlrohr während der Wartungszeit offen lag, die Gelegenheit genutzt haben und sich diesen üblen „Scherz“ erlaubt haben. Die Polizei wurde eingeschaltet, es wurden Fingerabdrücke genommen, soweit sie im Ultrahochvakuum nicht verdampft waren, aber der Schuldige wurde nie gefunden. Seitdem geht die Legende um, dass es am CERN kein Bier einer bestimmten Marke mehr gibt. Gleichzeitig warb die Brauerei in Großbritannien aber auch damit, dass ihr Bier dorthin gelangt, wohin kein anderes Bier kommt („the beer that gets to places no other beer can!“).
2.3 UFOs im LHC
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Hindernisse im Strahlrohr sind spätestens seither gefürchtet und unvorhersehbar und so verbleibt immer eine gewisse Spannung, wenn nach einer längeren Pause mit Öffnung des Strahlrohrs zum ersten Mal wieder ein Teilchenstrahl um den Ring herum geschossen wird. Am Ostersonntag ging alles gut. Es gab keine offensichtlichen Hindernisse und in der Rekordzeit von nur 28 min wurde der erste Strahl systematisch Schritt für Schritt die 27 km lange Strecke herumgeführt. Nur wenige Minuten länger dauerte es für den zweiten Strahl. Zu Mittag des Ostersonntages zirkulierten wieder Teilchen im LHC, das Fasten war beendet, in Rom und am CERN, wo der LHC-Ring zu neuer Aktivität erwachte.
2.3
UFOs im LHC
Die nächsten Wochen waren erfüllt von intensiven Justierungen und Kontrollen der umlaufenden Teilchenstrahlen. Dabei trat immer wieder ein schon aus früheren Jahren bekanntes Phänomen auf, das auch bei anderen Beschleunigern vereinzelt beobachtet wurde: UFOs! Gemeint sind aber nicht untertassenförmige unbekannte Flugobjekte, wie sie besonders in den Hollywood-Streifen der 1950er Jahre auftauchten. Im LHC sind es „Unidentified Falling Objects,“ unbekannte fallende Objekte, die sich im Innern der Vakuumröhren von der Wand lösen und in den durchgehenden Strahl fallen: Staub! Wenn der Teilchenstrahl auf die Staubteilchen trifft, erzeugt dies eine enorme Anzahl von Schauerteilchen, die in die Magnete eindringen und einen Quench auslösen, der zum schnellen Abschalten des LHC führt. Es ist bisher nicht vollständig geklärt, um welche Staubteilchen es sich handelt, um deren Ursprung und warum sich die Partikel mit einer Größe unterhalb von 50 μm unter welchen Umständen von der Wand lösen. Gelegentlich werden auch „Massive Unidentified Falling Objects“ oder MUFOs gesichtet, mit ca. 0,3 mm Durchmesser deutlich größere Objekte als feine Staubteilchen. Mit zunehmender Energie und Intensität der Teilchenstrahlen im LHC stellen UFOs ein immer größeres Problem dar, da immer öfter der LHC für mehrere Stunden nach einem Quench außer Betrieb gesetzt wird. Glücklicherweise nimmt die Rate der UFO-ausgelösten Quenche im Laufe der Zeit ab, so als ob durch Selbstreinigungskräfte die Strahlrohre geputzt werden. Schließlich fand sich sogar ein „Unindentified Laying Object,“ ein Objekt unbekannter Art in der Größe eines Zentimeters, das offensichtlich am Boden des nur 3,6 cm hohen Vakuumrohres lag und den freien Durchgang des Teilchenstrahls behinderte. Vermutlich handelte es sich um Luft, die durch eine kleine Undichtigkeit in
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2 Der Neustart
das Vakuumrohr gelangt war und dort geforen war. Durch entsprechende Einstellung der Korrekturmagnete konnte der Strahl aber um das Hindernis am Boden herum gelenkt werden, sodass keine weitere Beeinträchtigung des Betriebs entstand.
2.4
Ein neuer Weltrekord
Nachdem ein einzelner Strahl nur fünf Tage nach dem ersten Umlauf am Ostersonntag bereits auf 6,5 TeV beschleunigt wurde, sollten Anfang Juni 2015 auch die ersten Kollisionen bei hoher Energie erfolgen, doch manchmal laufen Dinge ungewohnt schneller. Bereits am Abend des 20. Mai, gut zwei Wochen vor dem Plan, konnte abermals ein neuer Weltrekord erzielt werden, als zu Testzwecken einige wenige Teilchenpakete kollidierten, allerdings noch ohne vollständig eingeschaltete Teilchendetektoren. Zwei Wochen später hatten die Beschleunigerphysiker dann genug Vertrauen in ihre Maschine gewonnen und zum ersten Mal gab es Kollisionen bei 13 TeV und „stable beams“, stabilen Bedingungen für die LHC-Detektoren (siehe Abb. 2.1). Dies war ein wichtiger Moment, denn nur wenn die Teilchenstrahlen ruhig um den Ring kreisen, nicht in unkontrollierte Schwingungszustände gelangen, nicht den Wänden zu nahe kommen, sich also stabil verhalten, wagen es die Experimentalphysiker, ihre Detektoren einzuschalten. Denn Teilchendetektoren sind sehr empfindlich, müssen es auch sein, um alle Kollisionsprodukte aufzuzeichnen. Sollte aber der Teilchenstrahl unkontrolliert zu nahe an die Wände der Vakuumröhre gelangen oder zu nahe an andere Elemente des Beschleunigers, können die Protonen mit dem Material wechselwirken und eine enorme Anzahl von weiteren sekundären Teilchen erzeugen, die dann in die Detektoren gelangen. Dieses Übermaß an Ladung, Licht und Strahlung birgt trotz vieler eingebauter Schutzmechanismen und schnellem Abschalten die Gefahr dauerhafter Schäden. „Stable beams“ bedeutet dagegen ein ruhiges Dahinfließen, die Beschleunigerphysiker verändern die Strahlbedingungen nicht und beschränken sich auf die notwendigsten Korrekturen. Damit war der Neustart des LHC erfolgreich abgeschlossen. In den folgenden Monaten wurde die Anzahl der Teilchenpakete schrittweise erhöht und am Ende des Jahres 2015 hatte man etwa die Hälfte der Datenmenge gesammelt wie im Jahr 2011, allerdings bei fast doppelt so hoher Kollisionsenergie. Wie zuvor wurden in einem Seminar vor Weihnachten die mit Spannung erwarteten ersten Ergebnisse bei der neuen Rekordenergie vorgestellt. Die Jagd nach dem Higgs-Teilchen war vorbei, das Standardmodell damit abgeschlossen und weitere „erwartete Entdeckungen“ zur Vervollständigung sollte es nicht geben. Jede unerwartete Abweichung würde daher auf Phänomene jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik hindeuten.
2.4 Ein neuer Weltrekord
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Abb. 2.1 LHC-Status-Webseite vom 3. Juni 2015 kurz nach dem Einsetzen der ersten Kolc 2015 CERN) lisionen für die Experimente mit einer Energie von 13 TeV. (
Und es gab eine Abweichung: Für alle überraschend zeigte sich sowohl bei ATLAS als auch bei CMS eine Anhäufung von Zerfällen in zwei Photonen, die von einem neuen Teilchen mit einer Masse von etwa 750 GeV stammen konnten. Die Abweichungen waren für sich genommen nicht sehr signifikant und lagen bei beiden Experimenten im Bereich von 1,2 bis 2 σ nach Berücksichtigung des look-elsewhere effect (siehe Abschn. 1.3). Aber die Abweichungen traten bei beiden Experimenten und bei der gleichen Teilchenmasse auf. Genauso hatte sich schon die Entdeckung des Higgs-Teilchens angekündigt. Die Theoretiker waren konsterniert. Innerhalb von nur zwei Wochen bis zum Jahresende erschienen 140 Veröffentlichungen, ohne dass eine Weihnachtspause erkennbar war, aber eine schlüssige Erklärung für das mögliche unbekannte Objekt konnte niemand liefern. Es passte einfach nicht ins bisherige Bild und auch nicht in die zahllosen möglichen Erweiterungen des Standardmodells, die sich die theoretischen Physiker über die vergangenen Jahrzehnte erdacht hatten.
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2 Der Neustart
Am meisten passte noch die Interpretation als ein Graviton, das bislang hypothetische Austauschteilchen1 der Gravitationswechselwirkung. Aber das Graviton müsste gleichermaßen auch in zwei Elektronen oder andere Leptonen zerfallen und weder in ATLAS noch in CMS gab es dafür auch nur geringste Anzeichen. So blieb die Abweichung trotz aller Erklärungsversuche mysteriös und nur mehr Daten konnten klären, ob sich tatsächlich eine Sensation abzeichnete, die die Teilchenphysiker in den nächsten 30 Jahren beschäftigen würde, oder ob es sich nur um eine zufällige statistische Fluktuation handelte. Im Frühjahr 2016 blickte die Physikwelt daher abermals mit Spannung auf den Start des LHC, der die Antwort bis zur großen Sommerkonferenz im August in Chicago liefern sollte, ähnlich wie vier Jahre zuvor beim Higgs-Teilchen. Zunächst wurde der LHC-Start jedoch durch ein unerwartetes Ereignis verzögert: Ein kleiner Marder erklomm einen Transformator in einer elektrischen Umspannstation zur Versorgung des CERN und des LHC und löste einen Kurzschluss aus. Marder sind dafür bekannt, in die Motorräume von Autos einzudringen und dort Kabel und Schläuche zu zerbeißen. Nicht anders am CERN, nur entstand dort ein heftiger elektrischer Überschlag, den der kleine Nager nicht überlebte, den Transformator beschädigte und zu einigen Tagen Verzögerung führte. Danach lief der LHC besser als je zuvor und bereits einige Wochen vor der Konferenz in Chicago zeichnete sich ab, dass die Abweichung in den neuen Daten nicht mehr auftrat. Eine statistische Fluktuation hatte die Teilchenphysiker für ein halbes Jahr in höchste Aufregung und Hoffnung auf neue Physik versetzt. Die Physik jenseits des Standardmodells musste noch weiter warten.
1 Mehr
zu Austauschteilchen und Wechselwirkungen in [10].
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Der Jahrhundertplan
3.1
LHC, zum Zweiten
Der LHC ist ein Mega-Projekt, das noch bis zum Jahr 2037 und darüber hinaus laufen wird, denn die Datenauswertung wird noch bis Mitte des Jahrhunderts weitergehen. Von den ersten Anfängen 1984 umfasst dies eine Zeitspanne von mehr als 60 Jahren und damit viele Physiker-Generationen. Von 2024 bis Mitte 2026 ist eine über zweijährige Pause geplant, bei dem der LHC und auch die Detektoren für noch höhere Kollisionsraten als bisher umgerüstet werden. Dieses High LuminosityLHC-Projekt (HL-LHC) hat bereits begonnen und wie beim eigentlichen LHC arbeiten weltweit Beschleunigerphysiker, Teilchenphysiker und Ingenieure an stärker fokussierenden Magneten, speziellen Hochfrequenzresonatoren und strahlenfesteren Detektoren. Bis Ende 2017 wurden gerade einmal 4 % der Datenmenge gesammelt, die beim HL-LHC bis 2037 erwartet werden. Ein noch ungelöstes Problem ist dabei die Speicherung und Auswertung der Daten, die deutlich leistungsfähigere Rechner, Netzwerke, Datenmedien und effizientere Programmierung erfordert. Die Entdeckung eines Higgs-Teilchens im Jahr 2012 bedeutet nicht das Ende des LHC, sondern markiert im Gegenteil den Beginn der Erforschung seiner Eigenschaften. Denn wir sind uns noch nicht wirklich sicher, ob es sich bei dem gefundenen Higgs-Teilchen tatsächlich um das Teilchen von Peter Higgs handelt, das HiggsTeilchen des Standardmodells, welches er 1964 vor mehr als 50 Jahren vorhersagte, auch wenn alle Ergebnisse darauf hindeuten. Stimmen die Zerfallsraten in andere Teilchen des Standardmodells mit den theoretischen Erwartungen überein? Gibt es sogar mehr als ein Higgs-Teilchen, vielleicht bei höheren Massen, die bei den Kollisionen nur selten entstehen und daher nur mit erheblich mehr Daten sichtbar werden? Gerade das Auftauchen weiterer Higgs-Teilchen würde uns eindeutig in Regionen jenseits des Standardmodells bringen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 M. Hauschild, Neustart des LHC: die Entdeckung des Higgs-Teilchens, essentials, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23086-9_3
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Der Jahrhundertplan
Dies wäre keine große Überraschung, denn seit langem wissen wir aus einem ganz anderen Bereich der Wissenschaft, dass das Universum aus weit mehr als den Standardmodellteilchen bestehen muss, aus denen die uns bekannte Materie aufgebaut ist. Durch präzise Messungen der geringen Temperaturfluktuation der kosmischen Hintergrundstrahlung, der Ablenkung von Lichtstrahlen durch Gravitationslinsen aufgrund großer, aber unsichtbaren Massen in den Galaxien und durch andere Hinweise wissen wir, dass unser Universum nur zu 4,9 % aus gewöhnlicher Materie besteht. Dies ist der sichtbare, leuchtende Teil der Galaxien, den wir mit unseren Instrumenten erfassen können. Ein weitaus größerer Anteil, fast 26 % des Universums, macht sich dagegen nur aufgrund der Gravitationswirkung bemerkbar, ist aber ansonsten unsichtbar und wird deswegen als dunkle Materie bezeichnet. Noch weit größer ist der Anteil der dunklen Energie, die mit knapp 70 % den „Rest“ unseres Universums ausmacht. Wir wissen fast nichts über die dunkle Energie, sie ist jedoch für die zunehmende Expansion des Universums und damit für seine ferne Zukunft verantwortlich. Für die dunkle Materie existieren eine ganze Reihe von Theorien, die verschiedene Teilchen jenseits der bekannten Standardmodellteilchen als deren Bestandteile vorschlagen. Eine sehr attraktive Möglichkeit wären Teilchen der sogenannten Supersymmetrie, auch liebevoll SUSY genannt, einer Theorie, die in 1970er Jahren von verschiedenen Theoretikern als Erweiterung des Standardmodells entwickelt wurde. Jedes Standardmodellteilchen hat demnach einen SUSY-Partner, der sich nur im Spin und seiner Masse von seinem Geschwisterteilchen im Standardmodell unterscheidet. Trotz der Attraktivität und Popularität unter den Teilchenphysikern wurden aber bislang keinerlei Hinweise auf SUSY-Teilchen gefunden, was entweder darauf hindeutet, dass die Masse der SUSY-Teilchen sehr hoch sein muss, zu hoch selbst für den LHC oder dass die Natur doch keine SUSY-Teilchen vorgesehen hat. SUSY-Teilchen würden sich durch fehlende Energie im Detektor bemerkbar machen. Das leichteste SUSY-Teilchen wäre stabil, elektrisch neutral und würde ohne weitere Wechselwirkung den Detektor verlassen, dabei aber Impuls und Energie mitnehmen, die in der Energiebilanz fehlen. Dieses Teilchen wäre gleichzeitig ein guter Kandidat für die dunkle Materie im Universum und es ist eine faszinierende Vorstellung, wenn durch die mikroskopisch kleinen Kollisionen im LHC Aussagen über ein Viertel des Universums gemacht werden könnten. Ein starker Hinweis auf SUSY wäre auch das Auftauchen eines weiteren Higgs-Teilchens beim LHC, denn in dieser Theorie sollte es mindestens fünf Higgs-Teilchen geben. Das bereits gefundene Teilchen von 2012 wäre dann in Wahrheit nicht das Higgs-Teilchen des Standardmodells, sondern nur das leichteste SUSY-Higgs-Teilchen, das sich von einem Standardmodell-Higgs-Teilchen in seinen Eigenschaften nur wenig
3.2 Größer, schneller, weiter – zukünftige Projekte
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unterscheidet. Präzise Messungen, die erheblich mehr Daten des LHC und des HLLHC bis 2037 benötigen, sind erforderlich, um beide voneinander zu unterscheiden.
3.2
Größer, schneller, weiter – zukünftige Projekte
Wie geht es weiter nach dem LHC? Was sind die großen Fragen der Teilchenphysik? Und mit welchen zukünftigen Beschleunigern könnten diese beantwortet werden? Um die beste Strategie zu finden und Weichen für neue Projekte zu stellen, wurde vor mehr als zehn Jahren die European Strategy for Particle Physics vom CERNCouncil initiiert und im Juli 2006 verabschiedet, vor dem LHC-Start und noch bevor das Higgs-Teilchen entdeckt worden war. Knapp ein Jahr nach der Entdeckung wurde die Strategie im Mai 2013 aktualisiert und ist seitdem die gültige Direktive, nach der insbesondere das Physikprogramm am LHC und dessen Ausbau zum High Luminosity LHC (HL-LHC) höchste Priorität haben. Ganz ähnlich sieht dies auch die US-amerikanische Roadmap, die ein Jahr später veröffentlicht wurde. Die Strategie beinhaltet auch, dass sich die drei Weltregionen Nord-Amerika, Europa und Asien auf verschiedene Aspekte der Teilchenphysik konzentrieren sollten. Europa sollte sich wie schon mit dem LHC auf die Forschung bei höchsten Energien fokussieren, die USA würden dagegen auf höchste Strahlintensitäten setzen, um einen überaus intensiven Neutrinostrahl für die Forschung mit Neutrinos zu erzeugen. In Asien hat Japan vor einigen Jahren bereits den Bau eines Elektron-Positron Colliders in Aussicht gestellt, des International Linear Collider (ILC) mit bis zu 50 km Länge und einer Kollisionsenergie von bis zu 1 TeV. Der ILC beruht auf supraleitenden Beschleunigungsstrecken, eine Technologie, die bereits in den 1990er Jahren am DESY in Hamburg entwickelt wurde. Das damalige, darauf basierende und von DESY vorangetriebene Projekt namens TESLA wurde jedoch nach einer negativen Beurteilung des Bundeswissenschaftsrates im Jahr 2002 in Deutschland nicht weiter verfolgt. Stattdessen wurde die supraleitende Technologie verwendet, um einen Freie-Elektronen-Laser für Röntgenlicht (XFEL) zu bauen, der nach zehnjähriger Bauzeit seinen Regelbetrieb im Herbst 2017 aufgenommen hat. Der ILC in Japan wäre dagegen eine Higgs-Fabrik, bei der innerhalb einiger Jahre über 100.000 Higgs-Teilchen produziert und intensiv erforscht werden könnten. Da die Higgs-Teilchen am ILC über Elektron-Positron Kollisionen erzeugt werden, im Gegensatz zu Proton-Proton-Kollisionen am LHC, sind die Entstehungsmechanismen anders, sodass die Ergebnisse komplementär zum LHC wären und das Bild des Higgs-Teilchens komplettieren würden. Der geplante Standort des ILC befindet sich in den Bergen im Norden Japans, nahe der Küste, die im März 2011 durch einen verheerenden Tsunami verwüstet wurde,
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Der Jahrhundertplan
der die Nuklearkatastrophe von Fukushima auslöste. In der strukturschwachen und ländlichen Gegend nördlich von Sendai unterstützt die lokale Bevölkerung den ILC ungemein, die Japanische Regierung konnte sich allerdings noch nicht zum Bau des ILC entschließen. Eine Entscheidung sollte jedoch bis zum Beginn des Prozesses zur Festlegung der European Strategy fallen, da dies erhebliche Auswirkungen hätte. Europa und die USA haben den prinzipiellen Willen bekundet, sich am ILC zu beteiligen, konkrete Verhandlungen stehen aber noch aus. Auch am CERN gibt es bereits seit dem Ende der 1980er Jahre Ideen für einen Elektron-Positron Collider, der mit einer anderen Technologie als der ILC sogar auf Kollisionsenergien von bis 3 TeV kommen würde: der Compact Linear Collider (CLIC). Trotz des Namens hätte auch dieser Collider eine Länge von 50 km und würde gerade in die Genfer Region zwischen Genfer See und Juragebirge passen. Wegen seiner höheren Energie wäre CLIC eine SUSY-Fabrik, sollte es tatsächlich SUSY-Teilchen geben. Noch größer wäre der Future Circular Collider (FCC), ein ringförmiger Beschleuniger von 80 bis 100 km Umfang in der Region Genf (siehe Abb. 3.1). Der notwendige Tunnel würde in einer Tiefe von 300 bis 400 m unter dem Genfer See und um die Stadt Genf herumgeführt werden. Hauptzweck wäre ein ProtonProton Collider mit einer Kollisionsenergie von 100 TeV, mehr siebenmal so hoch wie beim LHC. Dazu wäre die Entwicklung neuartiger supraleitender Magnete nötig mit der doppelten Feldstärke als beim LHC, die auf Nb3 Sn statt auf NbTi basieren oder sogar Hochtemperatur-Supraleiter verwenden. Eine Machbarkeitsstudie mit Physikzielsetzung und Kostenabschätzung soll bis Ende 2018 erstellt werden. Die geschätzten Kosten für den ILC und CLIC liegen im Bereich von 6–7 Mrd. EUR, vergleichbar zu den 5 Mrd. Schweizer Franken für den Bau des LHC vor mehr als zehn Jahren, der zu heutigen Kosten im gleichen Bereich liegen würde. Die voraussichtlichen Kosten des FCC sind noch nicht bekannt, sollten aber deutlich darüber liegen. Dabei entstehen die Hauptkosten des FCC nicht durch den Tunnel, der wegen seines kleinen Durchmessers im Vergleich zu Eisenbahn- und Straßentunneln recht günstig machbar wäre, sondern durch die Hochtechnologie-Magnete, die den Tunnel über 100 km füllen würden. Die Ergebnisse der Machbarkeitsstudien von CLIC und FCC, die mögliche Genehmigung des ILC, zusammen mit den Ergebnissen des LHC zum Higgs-Teilchen und möglichen Hinweisen auf Phänomene über das Standardmodell hinaus werden die Hauptpunkte der nächsten Aktualisierung der European Strategy for Particle Physics bilden. Vieles ist offen, aber die Weichenstellung und Ausrichtung der Teilchenphysik für die kommenden Jahrzehnte wird in den Jahren 2019/2020
3.2 Größer, schneller, weiter – zukünftige Projekte
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Abb. 3.1 Schema eines 80 bis 100 km langen kreisförmigen Tunnels für einen zukünftigen c 2014 CERN) Future Circular Collider FCC in der Region Genf im Vergleich zum LHC. (
wiederum durch CERN und das CERN-Council erfolgen. Ein Ende der Erfolgsgeschichte Teilchenphysik und CERN ist nicht in Sicht.
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Ausblick
Sie haben in diesem essential erfahren, wie der LHC nach langer Planung, deren Anfänge bis ins Jahr 1984 zurückreichen, schließlich im September 2008 in Betrieb genommen wurde, als zum ersten Mal unter den Augen der Weltöffentlichkeit Protonen im LHC zirkulierten, aber nur wenige Tage später der LHC durch einen Unfall massiv beschädigt wurde. Trotz Verzögerung um mehr als ein Jahr und bei nur halber Kollisionsenergie reichten die Daten jedoch aus, um am 4. Juli 2012 die Entdeckung eines neuen Teilchens von den ATLAS- und CMS-Kollaborationen zu verkünden, mit dem Physiknobelpreis 2013 an die beiden theoretischen Physiker François Englert und Peter Higgs als vorläufigem Höhepunkt. Der Neustart der Weltmaschine nach einer Pause von mehr als zwei Jahren im Frühjahr 2015 markiert den Beginn der neuen Forschungen am LHC. Das HiggsTeilchen muss weiter vermessen und mit den theoretischen Vorhersagen verglichen werden. Dank fast doppelt so hoher Energie wie zuvor warten besonders neue Teilchen vielleicht nur darauf, in den nächsten Jahren entdeckt zu werden, wie z. B. SUSY-Teilchen als mögliche Kandidaten der dunklen Materie im Universum. Jedes neu entdeckte Teilchen könnte dabei eine Revolution im Verständnis unserer Welt und des Universums auslösen. Der LHC und später der High Luminosity LHC ab 2026 werden noch bis 2037 laufen. Neue Beschleuniger, die bis weit in die zweite Hälfte des 21. Jahrhunderts laufen werden, werden bereits ernsthaft diskutiert. Ein Meilenstein in den kommenden Jahren wird die aktualisierte European Strategy for Particle Physics sein, die im Mai 2020 vom CERN-Council verabschiedet werden wird und die Richtung der Teilchenphysik in den nächsten Jahrzehnten aufzeigen wird. Der erste Teil dieser essential-Reihe [10] befasst sich mit den Ursprüngen, der Geschichte und den Erfolgen des CERN. Darin lernen Sie das Standardmodell in © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 M. Hauschild, Neustart des LHC: die Entdeckung des Higgs-Teilchens, essentials, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23086-9_4
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Ausblick
seinen Grundzügen kennen, erfahren, wie Teilchenbeschleuniger funktionieren, und erhalten einen Überblick über den Large Hadron Collider LHC mit seinen technologischen Herausforderungen und seinem Bau. Der zweite Teil [11] beginnt mit dem grandiosen Start des LHC im September 2008, auf den nur wenige Tage später die große Ernüchterung folgte, als bei einem Unfall ein Teil des LHC zerstört wurde und sich der Beginn des Betriebs um mehr als ein Jahr verzögerte. Sie erfahren, wie sich die Kollaborationen aus tausenden von Physikern gebildet haben, die die großen Teilchendetektoren am LHC gebaut haben und betreiben und lesen, wie ein Teilchendetektor funktioniert und welche Größen gemessen werden. In zwei weiteren essentials dieser Reihe [12, 13] erfahren Sie außerdem mehr zu den Hintergründen des Higgs-Teilchens, zum Standardmodell und der Neuen Physik jenseits des Standardmodells aus der Sicht eines theoretischen Physikers.
Was Sie aus diesem essential mitnehmen können
• Am 4. Juli 2012 wurde die Entdeckung des Higgs-Teilchens mit den beiden großen Teilchendetektoren ATLAS und CMS verkündet, mit dem Physiknobelpreis 2013 an die beiden theoretischen Physiker François Englert und Peter Higgs als vorläufigem Höhepunkt. • Das Higgs-Teilchen stellt eine Anregung des Brout-Englert-Higgs-Feldes dar, das den meisten Elementarteilchen des Standardmodells zu ihrer Masse verhilft. Durch den Nachweis des Higgs-Teilchens wird auch der Mechanismus zur Erzeugung von Masse bestätigt. Das Higgs-Teilchen wurde als letztes Teilchen des Standardmodells der Elementarteilchenphysik entdeckt. • Zukünftige Forschungen konzentrieren sich auf die immer präzisere Vermessung des Higgs-Teilchens und auf die Entdeckung von neuen Teilchen, die von einer Physik jenseits des Standardmodells zeugen würden. SUSY-Teilchen als mögliche Kandidaten der dunklen Materie im Universum könnten dabei auch am LHC oder an nachfolgenden Beschleunigern erzeugt werden.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 M. Hauschild, Neustart des LHC: die Entdeckung des Higgs-Teilchens, essentials, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23086-9
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Literatur
[1] Higgs, Peter W. 1964. Broken symmetries, massless particles and gauge fields. Physics Letters 12 (2): 132–133. https://doi.org/10.1016/0031-9163(64)91136-9. [2] Higgs, Peter W. 1964. Broken symmetries and the masses of gauge bosons. Physical Review Letters 13 (16): 508–509. https://doi.org/10.1103/physrevlett.13.508. [3] Englert, F., and R. Brout. 1964. Broken symmetry and the mass of gauge vector mesons. Physical Review Letters 13 (9): 321–323. https://doi.org/10.1103/physrevlett.13.321. [4] Lieberherr, Martin. Nadel im Heuhaufen. http://physik.li/publikationen/Heuhaufen.pdf. [5] Mumdzhiev, Milko. 2010. „Erster Zwischenbericht zur Studie: Körpergröße als Indikator Sozialer Ungleichheit.“ Nürnberger Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsforschung, 03/10. Nürnberg. https://www.ssoar.info/ssoar/handle/document/25024. [6] „Brief history of the Higgs mechanism.“ School of Physics and Astronomy, The University of Edinburgh. March 13, 2014. http://www.ph.ed.ac.uk/higgs/brief-history. [7] Incandela, Joseph, Fabiola Gianotti, und Rolf Heuer. „Latest update in the search for the Higgs boson“. CERN seminar. Juli 4, 2012. https://indico.cern.ch/event/197461/. [8] „The Nobel Prize in physics 2013.“ Nobelprize.org. http://www.nobelprize.org/nobel_ prizes/physics/laureates/2013/. [9] „The European strategy for particle physics.“ CERN. http://council.web.cern.ch/en/ content/european-strategy-particle-physics. [10] Hauschild, Michael. 2016. Neustart des LHC: CERN und die Beschleuniger. Wiesbaden: Springer Fachmedien. ISBN 978-3-658-13478-5, 978-3-658-13479-2. [11] Hauschild, Michael. 2018. Neustart des LHC: die Detektoren. Wiesbaden: Springer Fachmedien. [12] Knochel, Alexander. 2016. Neustart des LHC: das Higgs-Teilchen und das Standardmodell. Wiesbaden: Springer Fachmedien. ISBN 978-3-658-11626-2, 978-3-658-11627-9. [13] Knochel, Alexander. 2016. Neustart des LHC: neue Physik. Wiesbaden: Springer Fachmedien. ISBN 978-3-658-13906-3, 978-3-658-13907-0.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 M. Hauschild, Neustart des LHC: die Entdeckung des Higgs-Teilchens, essentials, https://doi.org/10.1007/978-3-658-23086-9
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