Transatlantische Beziehungen
Dietmar Schössler Michael Plathow Hrsg.
Multipolarität und bipolare Konfrontationen Politische, theologische und weltanschauliche Aspekte transatlantischer Beziehungen
Transatlantische Beziehungen Reihe herausgegeben von D. Schössler, Universität der Bundeswehr München, Neubiberg, Deutschland
Die Wiederentdeckung des gesellschaftskritischen Theologen und politischen Beraters der amerikanischen Regierung während und nach dem Zweiten Weltkrieg, Reinhold Niebuhr (1892 – 1971), soll mit der Reihe TRANSATLANTISCHE BEZIEHUNGEN als wichtiger Impuls für den transatlantischen Diskurs aufgenommen und vorangetrieben werden. Denn die neue sicherheitspolitische „Unübersichtlichkeit“ (J. Habermas) verlangt übergreifende Konzepte, die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts zugunsten partikularer Ansätze zurückgedrängt wurden. Inzwischen zeigte sich, dass es nicht um eine radikale Abwendung von „konservativen“ Konzepten gehen kann, sondern um deren - im mehrfachen Sinne – kreative „Aufhebung“. Ziel der Reihe ist es, an diesem sich entwickelnden Diskurs mitzuwirken. Die Publikationen der Reihe richten sich vor allem an PolitikwissenschaftlerInnen, TheologInnen und SoziologInnen.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/11222
Dietmar Schössler · Michael Plathow (Hrsg.)
Multipolarität und bipolare Konfrontationen Politische, theologische und weltanschauliche Aspekte transatlantischer Beziehungen
Hrsg. Dietmar Schössler Universität der Bundeswehr München Wiesbaden, Deutschland
Michael Plathow Universität Heidelberg Heidelberg, Baden-Württemberg Deutschland
Transatlantische Beziehungen ISBN 978-3-658-22926-9 ISBN 978-3-658-22927-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-22927-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Astronauten beschwören, dass die Menschheit, wir gemeinsam, verantwortlich sind für Friede, Gerechtigkeit und Schutz der Mitwelt, eben für die Zukunft der Erde. Darum wird eine Weltinnenpolitik eingefordert. Nun lässt sich viel Gleichförmiges und Entsprechendes in den verschiedenen Regionen der fünf Kontinente wahrnehmen und feststellen: der Verkehr der internationalen Flughäfen, die Automarken auf den Straßen, die Firmen- und Kaufhausreklamen in den Städten unterschiedlicher Länder. Weltweite Vernetzung wird durch kommunikative Technologien und Medien erreicht. Das Völkerrecht auf der Basis der Erklärung der Menschenrechte am 10.12.1948 und der Internationale Gerichtshof lassen gleiche Standards von Gesetz und Rechtsprechung erwarten. Die Vereinten Nationen mit ihren Unterorganisationen, die weltweit geltenden Abkommen zum Klimaschutz und zum Kampf gegen Terrorismus sowie die grenzüberschreitenden Hilfsaktionen bei Natur-, Hunger- und Epidemiekatastrophen lassen globale Verbundenheit der Nationen konkret werden. Andererseits – gerade nach der Auflösung 1991 des feindlichen Gegenübers von einerseits dem Ostblock des Staatskommunismus marxistisch-leninistischer Provenienz und andererseits dem Westblock freiheitlich-demokratischer Rechtsordnung – wurde die Multipolarität geopolitischer Einflusssphären signifikant. Neben den Großmächten USA und Russland bestimmen das bevölkerungsreiche China und Indien, dazu die Europäische Union (EU), Japan, Brasilien, Nigeria und auch noch die nach Atomwaffen strebenden Länder Iran und Nordkorea die polyzentrische Großwetterlage mit den Kollisionen der Interessen und dem Streit um Macht. Es handelt sich um den multipolaren Konkurrenzkampf im militärischen, wirtschaftlichen, weltanschaulichen und religiöskulturellen Einflussbereich.
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Vorwort
Die transatlantische Bündnis-Beziehung zwischen den USA und Westeuropa war nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Wende 1989 Garant des Friedens durch die militärische Koexistenz der NATO mit dem Warschauer Pakt. Gegenwärtig verlagert die USA, die ihre politische Geschichte von sich zurückziehender Konzentration oder von weltweiter Expansion dominieren ließ, ihre politische Interessenslage nach Ostasien. Dies führt zu bipolaren Konflikten mit der neuen Wirtschafts- und Handelsmacht China. Auf die Auflösung der Sowjetunion und den Verlust des russischen Einflusses in den osteuropäischen Staaten folgte eine Ausweitung der NATO nach Osten, und zwar auf Bitten von Polen und den baltischen Staaten. Das wiederum hat das Wiedererstarken nationalen Denkens mit neuen Großmachtansprüchen in Russland zur Folge. Wieder brechen konfrontative Spannungen und Auseinandersetzungen mit dem Westen auf. So verstricken sich Konjunktion einerseits und Disjunktion andererseits im dialektischen Geschehen geopolitischer, wirtschaftlicher und militärischer Eskalation. Im Kontext von Multipolarität kommt es zu bipolaren Spannungen und Konfrontationen. Das lässt sich nicht nur für die transatlantischen Beziehungen, sondern auch für die Kräftekonstellationen in der Europäischen Union feststellen: Gemeinschaftsziele und nationale Eigeninteressen, Gemeinwohl und Selbstbestimmung verbiegen sich in einem dialektischen Kraftfeld. Als Beispiele seien nur die Aufnahme von Flüchtlingen durch die Einzelstaaten und das Bemühen um eine in allen EU-Staaten in gleicher Weise geltende Steuergesetzgebung, die Steuerflucht zu verhindern versucht, genannt. Im Zusammenhang der transatlantischen Entsprechungen zwischen den USA und den europäischen Ländern erweist sich als bipolare Konfrontation die Spannung von Identität und Pluralität, von Einheimischen und Fremden, von durch die Aufklärung geprägten westlichen Werten und orientalischer Kultur und Religion angesichts der weltweiten Migrationsbewegungen. Mit der „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer und Adorno 1969) stehen sich gegenüber einerseits Moderne und andererseits Fundamentalismus, wie die Diskussion in beiden Kontinenten über Evolution und Kreationismus, über das Friedens- und Gewaltpotenzial in den Religionen, sei es im Islam oder im Christentum, im Hinduismus oder im Buddhismus, zeigt. Verstärkt durch die Verschiebung der Christenheit von der nördlichen Hemisphäre auf die Regionen der Südhalbkugel ist der Westen geprägt von Max Webers „Entzauberung der Welt“ (Weber 2017), was nicht Säkularismus einschließt. Zugleich ist eine Fetischisierung des Säkularen zu beobachten, mit der
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eine Optimierung, ja Entgrenzung, von technischem „Herstellen“ (Arendt 1985, 139-145.287-297; Marquardt 1984, S. 4) und menschlichem Machen, eine Verabsolutierung von Digitalisierung und Algorithmus einhergeht. Die dabei entstandene geistliche Leere und Sehnsucht nach Sinn wird zu füllen versucht durch multiple Spiritualitäten, hedonistische Ersatzreligionen und szientistisch-naturalistische Weltanschauungen. Herausgefordert durch „Multipolarität und bipolare Konfrontationen“ wollen christliche Kirchen, in ökumenischer Gemeinschaft durch den Glauben an den dreieinen Gott, und auf Öffentlichkeit ausgerichtete Theologien – in diesem Band werden die transatlantisch rezipierten Theologen Reinhold Niebuhr, Paul Tillich und Leonardo Boff bedacht – grenzüberschreitend konträre Meinungen und Überzeugungen in den Dialog bringen. Sie wollen Konfliktlösungen anbieten, Konfrontationen überwinden und Raum schaffen für wechselseitigen Respekt und Anerkennung. Realistisch um das Fragmentarische und Ambivalente von menschlichem Wollen und Vollbringen, eben um Sünde und Gnade wissend, um den Unterschied zwischen Gottes Handeln und menschlichem Tun, zwischen Geistlichem und Weltlichem, widersprechen sie utopischem Idealismus und einseitigem Pragmatismus, realitätsfernem Spiritualismus und fundamentalistischem Naturalismus. Christliche Kirchen, die sich selbst als Gemeinschaft in Vielheit erfahren, plädieren mit der befreienden Botschaft des Evangeliums für das antwortende und verantwortliche Reden über Wahrheitsgewissheit und Toleranz in einer vom Pluralismus gekennzeichneten Kultur. Solche Kommunikation zielt auf Kooperation und Konvivenz gerade auch durch eigene Selbstbegrenzung; es geht um das Dasein für andere, das sich in der Option für Marginalisierte, für die ohne Stimme konkretisiert. Nach dem ersten Band der Reihe (Schössler und Plathow 2013), der sich auf Wirken und Werk des öffentlichen Theologen Reinhold Niebuhr und seine transatlantische Bedeutung konzentrierte, geht es in diesem zweiten Band „Multipolarität und bipolare Konfrontationen“ um politische, weltanschauliche und theologische Aspekte zu Identität und Differenz, Differenz und Verständigung, Verständigung und Gemeinschaft durch wechselseitige Anerkennung in transatlantischer Perspektive. Allen Verfassern sei an dieser Stelle für ihre Beiträge zu einer hochaktuellen Thematik sehr gedankt. Dank gilt besonders Frau Dr. Sabine Schmidtke sowie stud. theol. Miriam Lederle für die redaktionelle Gestaltung der einzelnen Aufsätze und des zweiten Bandes „Transatlantische Beziehungen“.
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Vorwort
Möge das Studium der Aufsätze Erkenntnisgewinn und Anregung zu eigenem Weiterdenken vermitteln. Heidelberg im März 2018
Prof. Dr. Dietmar Schössler Prof. Dr. Michael Plathow
Literatur Hannah Arendt, H. (1985). 4. Aufl. Vita activa oder Vom tätigen Leben. München/Zürich: Piper. Horkheimer, M. & Adorno, T. (1969). Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M.: Fischer Verlag. Marquardt, O. (1984). Abschied vom Prinzipiellen. Stuttgart: Reclam. Schössler, D. & Plathow, M. (Hrsg.). (2013). Öffentliche Theologie und internationale Politik. Zur Aktualität Reinhold Niebuhrs. Wiesbaden: Springer. Weber, M. (2017). Wissenschaft als Beruf. Eine Debatte. (1917). Hrsg. M. Bormuth. Berlin: Matthes & Seitz.
Inhaltsverzeichnis
„Ironie“. Interpretationsmodell der Historie und ihre Bedeutung für Reinhold Niebuhrs politische Theologie heute. . . . . . . . . . 1 Michael Plathow Gehört das Christentum zum Westen? Über Fremdheit und Selbstfremdheit der Kirchen im Kontext eskalierender Kulturkämpfe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Arne-Florian Bachmann Anerkennung, Identität und radikale Alterität. Politik der Differenz vs. Anerkennung im Zeichen radikaler Alterität . . . . . . . . . . . . 49 Patrick Ebert Ernst Troeltsch und Max Weber – Religionstheorie in transatlantischer Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Matthias Baum ‚Neuer Atheismus‘ und ‚Kreationismus‘ – Transatlantische Zwillings-Phänomene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Sabine Schmidtke Reforming Christendom: Transatlantic Networks and the German-American Protestant Exchange. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 James Strasburg Grenzgänge. Paul Tillichs Emigration in die Vereinigten Staaten und sein theologisches Reden über die Grenze. . . . . . . . . . . . . . . 175 Wolfgang Vögele
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Option für die Armen. Beobachtungen zum Weg von Leonardo Boff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Klaus P. Fischer Sicherheitspolitischer Dialog zwischen transatlantischem Bündnis und dem Nahen Osten in Zeiten des geopolitischen Umstrukturierungsprozesses. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Ilya Zarrouk
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeber em. Prof. Dr. theol. habil. Michael Plathow Umfangreiche Wirksamkeit in den Bereichen Systematische Theologie (Universität Heidelberg) und Ökumene (Ökumenisches Institut Heidelberg, Konfessionskundliches Institut Bensheim u. a. m.), außerdem in Kirche und Gemeinde. Die Tätigkeit in Lehre und Forschung bezieht sich mit zahlreichen Veröffentlichungen auf die Themen Ökumenik, Theologie und Gemeinde, Kreuzestheologie, Kirchenrecht, Theologie und Naturwissenschaft sowie Martin Luther. E-Mail:
[email protected], www.plathow.de em. Prof. Dr. habil. Dietmar Schössler em. Lehrtätigkeit in Politik- und Sozialwissenschaften u. a. an den Universitäten Mannheim, Frankfurt a. M., München (Universität der Bundeswehr). Ca. 150 Publikationen zur politischen Theorie, Sicherheitspolitik, Vergleichende Strategie-Forschung und Militärwissenschaft.
Autorenverzeichnis Arne-Florian Bachmann Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ökumenischen Institut der Universität Heidelberg. Schwerpunkte: Sozialphilosophie, politische Theorie, kritische Theorie der Gegenwart, postmoderne Theologie, Ekklesiologie und Missionstheologie. E-Mail:
[email protected] Matthias Baum Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für systematische Theologie und Ethik, Heidelberg. E-Mail:
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Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Patrick Ebert Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Universität Heidelberg. E-Mail:
[email protected] Dr. theol. Klaus P. Fischer Pfarrer i. R., Oratorianer, Lehrbeauftragter für Kath. Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Heidelberg; jahrzehntelang tätig in Pastoral, Religionspädagogik, Ökumene, Erwachsenenbildung, Kirchlicher Rundfunkarbeit, Klinikseelsorge. Zahlreiche Kurse zu Themen aus Biblischer und Systematischer Theologie. Diverse Publikationen zu Sachthemen der Glaubensvermittlung und Glaubensinterpretation; zuletzt: Verwandlung – Zur Wirkweise der Eucharistie (2016); Mensch – Gott – Kirche. Ein labiles Dreieck. Problemstudie und Diskussionsbeitrag (2017); Tod sicher – Ende ungewiss? Vergewisserung im Glauben angesichts des Todes (2017). E-Mail:
[email protected] Dr. Sabine Schmidtke Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Ökumenischen Institut der Universität Heidelberg. Wichtigste Veröffentlichung: Schleiermachers Lehre von Wiedergeburt und Heiligung. ‚Lebendige Empfänglichkeit‘ als soteriologische Schlüsselfigur der ‚Glaubenslehre‘, DoMo 11, Tübingen 2015. E-Mail:
[email protected] James Strasburg Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Heidelberg Center for American Studies, Universität Heidelberg. E-Mail:
[email protected] PD Dr. Wolfgang Vögele Pfarrer, Karlsruhe; Publikationen: Menschenwürde zwischen Recht und Theologie, Gütersloh 1998; Weltgestaltung und Gewißheit, Münster 2007; Sono auribus viventium. Zur Theologie und Kultur des Glockenläutens in Reformation und Moderne, Münster 2017. E-Mail:
[email protected] Ilya Zarrouk Geboren 1981 in Mannheim, studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte/Neuere Geschichte und Politikwissenschaft in Mannheim, H eidelberg und Tunis. Im Laufe seines Studiums spezialisierte er sich auf die Bereiche Militärgeschichte, Sicherheitspolitik, Militärpolitik und Völkerrecht sowie den arabischen Raum und dessen Strukturveränderung. E-Mail:
[email protected]
„Ironie“. Interpretationsmodell der Historie und ihre Bedeutung für Reinhold Niebuhrs politische Theologie heute Michael Plathow Zusammenfassung
Die Denkform der „Ironie“, d. h. für Reinhold Niebuhr der Widerspruch zwischen entgrenztem Ideal und faktischer Realität, verwendet der öffentliche Theologe als Interpretationsmodell der amerikanischen Gesellschaftspolitik. Er differenziert zwischen „politischem“ und „christlichem“ Realismus und expliziert mit dieser Unterscheidung seine politische Theologie, ihre Effizienz und Relevanz. Er fokussiert und konkretisiert diese für demokratische Planungs- und Entscheidungsprozesse im Wert der Versöhnung, in der Haltung der Demut und in der Tugend der Besonnenheit (serenity). „Ironie“ wird von Reinhold Niebuhr als Interpretationsmodell der Geschichte in politischer Verantwortung von uns Menschen angesehen. „Ironie“ als Interpretationsmodell verbindet sich mit der politik- und kulturwissenschaftlichen Methodik auf geschichtstheologischem Hintergrund. Das, was als objektive Ironie, als „Ironie des Schicksals“ durch den Widerspruch zwischen den gewollten oder geplanten Idealen und der real vollbrachten Wirklichkeit, weil menschliche Grenzen beseitigt, gemeint ist, deutet R. Niebuhr für historische Prozesse und politische Situationen. Anders als die komische, pathetische, tragische ereignet sich die ironische Situation, „if a hidden relation is discovered in the incongruity; if virtue becomes vice through some hidden defect in the virtue; if strength becomes weakness because of the vanity to which strength may prompt the mighty man
M. Plathow (*) Leimen, Deutschland E-Mail:
[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Schössler und M. Plathow (Hrsg.), Multipolarität und bipolare Konfrontationen, Transatlantische Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22927-6_1
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or nation; if security is transmuted into insecurity because too much reliance is placed upon it; if wisdom becomes folly because it does not know its own limits“ (Niebuhr 2008, S. XXIV). Die komische Situation entbirgt Lachen; die pathetische weckt Mitleid; die tragische als Dilemma verbindet Edelmut und Schuld; die ironische verweist auf die Diskrepanz von menschlichem Wollen und Vollbringen durch die entgrenzende Macht menschlichen Herstellens und Machens, die in Schuld verstrickt. „Ironie“ als Interpretationsmodell richtet den Blick auf die Unwägbarkeiten und Gegensätze persönlichen Lebens und politischer Historie; sie zeigt die Verstrickung in Sünde und Schuld auf und öffnet zugleich neu den Ruf zur Verantwortung. Modelle als „erklärungskräftige Anschauungen“ von realen persönlichen Situationen und politischen Konstellationen erweisen im Erkenntnis-, Erklärungsund Handlungsprozess ihren heuristischen und ethischen Wert (Plathow 1999, S. 314). Es stellt sich die Frage, ob R. Niebuhrs epistemologischer Hilfsbegriff für die Interpretation persönlicher und historischer Prozess auch heute in der Interdependenz transatlantischer Beziehungen Geltung und Kraft für Erkenntnisgewinne und Handlungsmotivationen haben kann. Es soll sich 1. dem damaligen und dem heutigen politischen Kontext mit R. Niebuhrs Interpretationsmodell „Ironie“ genähert werden. 2. wird R. Niebuhrs „The Ironie of American History“ skizziert. Dieses wird 3. in R. Niebuhrs Verständnis von Glaube und Geschichte eingeordnet, um dann 4. seine politische Theologie ins gegenwärtige Gespräch zu ziehen.
1 Der damalige und heutige Kontext von R. Niebuhrs Ironie-Konzept Der amerikanische Pastor, Ökumeniker und Sozialethiker Reinhold Niebuhr (1892–1971),1 selbst in hohem Maße sozialpolitisch engagiert, und vor, während und nach dem II. Weltkrieg Berater von Regierungen und Administrationen in seinem Land, wird als einer der wichtigen öffentlichen Theologen der USA angesehen (Schössler und Plathow 2013). Die individuellen und die sozialen und politischen Verhältnisse in seinem ethischen Entwurf verbindend, ist er jedoch
1Vgl. Gustafson (1994a, S. 468–470); Gustafson (1994b, S. 470−473); Rasmussen (1989, S. 274); Fox (1987, S. 231 ff.); Richard Crouter, Reinhold Niebuhr (1892–1971) und H. Richard Niebuhr (1894–1962) (2005, S. 258–288); vgl. auch: von Thadden (2013, S. 36).
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nicht – wie sein junger Schüler Dietrich Bonhoeffer einmal hervorhebt (Bonhoeffer 1960, S. 206) – der Tradition des „social gospel“ zuzurechnen. R. Niebuhrs politische Theologie, geprägt vom angelsächsischen Realismus, Empirismus und Pragmatismus, ist geistes- und theologiegeschichtlich der biblisch-augustinisch-reformatorischen Tradition verpflichtet (Lange, 1964 197), mit – sozial ausgeweiteten – Anregungen von Sören Kierkegaard, dem auch sein Bruder Richard Niebuhr verbunden war (Niebuhr 1949, S. 249 f.). R. Niebuhrs Oeuvre ist im Kontext der Auseinandersetzung mit den totalitären Regimen des Nationalsozialismus und des Kommunismus geschrieben und im Zusammenhang der Spannungen des „kalten Krieges“ und des Weltanschauungskampfes zwischen freiheitlichem Westen und kommunistischem Osten zu lesen. Gegenüber der damaligen weltpolitischen Lage mit der starren Frontlinie zwischen zwei gegensätzlichen Machtblöcken kennzeichnet die gegenwärtige Situation einerseits Multizentralität und Diversität, Unübersichtlichkeit und Ungleichzeitigkeit interdependent verknüpfter Staaten und Staatengemeinschaften. Eingetreten sind – neben USA und Russland – auch China und Indien; als bevölkerungsreiche Nationen, nun auch ökonomisch und militärisch mächtig geworden, gehören sie zum Kraftfeld multipler Zentren, wie auch das sich oft nur retardierend einigende Europa. Auf der einen Erde haben sich in jüngster Vergangenheit die Konflikt- und Kriegsherde multipliziert. Die Schere zwischen der Nord- und Südhalbkugel geht weiter auseinander im wirtschaftlichen Ungleich- und Ungerechtigkeitsgefälle. Konflikte zwischen und in den Religionen und religiösen Gemeinschaften nehmen nicht ab, sondern zu – nicht zuletzt durch den Terrorismus des „Islamischen Staates (IS)“ und anderer gewaltbereiter Extremisten; durch die weltweiten Flüchtlings- und Migrationsströme verstärken sich zudem die Herausforderungen an die Verknüpfung von Identität und Differenz, Differenz und Verständigung, Verständigung und Gemeinschaft bei der Integration. Weltanschauliche und kulturelle Auseinandersetzungen sind zugleich einzuordnen in eine – vor allem in den USA und in Europa – sich ausweitende Säkularisierung; häufig ist diese kombiniert mit szientistischem Fortschrittsglauben, mit technologischem Zukunftsoptimismus, mit naturalistischen Geltungsansprüchen und ihren als „Neuen Atheismus“ erklärten Sinnangeboten. Andererseits sind Menschen und Nationen heute im wirtschaftlichen, verkehrs-, informations- und kommunikationstechnischen, im wissenschaftlichen, kulturellen und auch religiösen Bereich global vernetzt. Weltinnen- und weltaußenpolitisch stehen – bei allen Diversitäten und Kontrapositionen – Menschen und Staaten gemeinsamen Herausforderungen gegenüber: Schutz der Um- und Mitwelt und ihrer natürlichen Ressourcen, Atomtechnik als nichtfossile Energie-
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gewinnung und die Langzeitentsorgung der Brennelemente, atomare Abrüstung, gemeinsames Vorgehen gegen Hungerkatastrophen und Krankheitsepidemien, Verteilung der Wasserreserven, Verbesserung sozialer Wohlfahrt, Schutz der Kinderrechte und Gleichstellung von Frauen und Männern, Beseitigung von Diskriminierungen entsprechend der auf der Basis der Menschenwürde allen geltenden Menschenrechte, Kampf gegen Terrorismus und ideologischen und religiösen Extremismus. Auch heute kennzeichnet die Situation und Geschichte der Menschen – mit R. Niebuhr gesprochen – korrumpierende Hybris und Machtgier auf Kosten anderer in den persönlichen, gesellschaftlichen, nationalen und internationalen Beziehungen, sodass wir alle auf Kosten anderer unser Leben gestalten. „Ironie“ als Interpretationsmuster trifft insofern auch die politischen Entscheidungsssituationen und geschichtlichen Konflikte der Gegenwart. Exemplarisch sei verwiesen: Für R. Niebuhr brisant und immer wieder diskutiert ist das Dilemma eines atomaren Erstschlags, um etwa zivile und militärische Verluste zu stoppen und schnell Frieden zu erreichen, der aber bei einem Gegenschlag zur Vernichtung aller Zivilisation führt. Weiter: die militärische Beseitigung des Regimes im Irak, um Frieden im Nahen Osten zu schaffen, die jedoch neue Kämpfe und Kriege provozierte; das forcierte Herstellen von Sicherheit, das Freiheit einschränkt, Vertrauen mindert und das Gefühl der Unsicherheit stärkt; der Einsatz von pestiziden Düngemitteln, nicht nur des Profits willen, sondern auch um die Welternährungsaufgaben zu bewältigen, der aber, eingebunden in die natürliche Nahrungskette, zu nachhaltigen Problemen für die Gesundheit der Menschen führt; der als Entwicklungshilfe perfekt organisierte Export von Gütern aus entwickelten Länders führt zu Abhängigkeit und Rückentwicklung der kreativen Energie in nichtentwickelten Ländern; die wirtschaftliche Dominanz des um politische Einigung Europas bemühten Deutschland führt bei ökonomisch schwachen Staaten der Europäischen Union zu nationalen Alleingängen auf Kosten der europäischen Solidarität. Im Privaten z. B. wird der Segen des Lottogewinns eines in bescheidenem Wohlstand lebenden Glückspilzes durch entgrenzten Luxus und Mammonismus zu Realitätsverlust und Fluch. Diese Ungereimtheiten der „Ironie“ in der persönlichen und politischen Geschichte bringt hervor das Neben- und Gegeneinander von Macht und Schwäche, Weisheit und Torheit, Schuld als angemaßte Unschuld, die jedoch offenkundige Schuld nur verdeckt (Niebuhr 2008, S. 154). Gegenwärtig – auch in den transatlantischen Beziehungen – stehen die kulturellen und weltanschaulichen Spannungen durch die Flüchtlings- und Einwande-
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rungsbewegungen in Europa und in den USA im Fokus gesellschaftspolitischer Verantwortung und Entscheidung.
2 Reinhold Niebuhrs „The Irony of American History“ Um dieser Herausforderung analytisch und therapeutisch, deskriptiv und präskriptiv zu begegnen, sollen zum weiteren Verständnis der „Ironie“ politischer Prozesse die Leitgedanken von „The Ironie of American History“ skizziert werden. R. Niebuhr bindet als Herausforderung an den christlichen Glauben den „politischen Realismus“ ein in den „christlichen Realismus“ der Heilsgeschichte Gottes mit der Welt (Niebuhr 1956a, S. 11 ff.; vgl. Rohde 2016, S. 238−246). Empirisch-historische Erfahrung und christlicher Glaube sind zu unterscheiden und zu verbinden. Konstitutiv ist dabei für R. Niebuhr die „Inkohärenz und Kohärenz“ des christlichen Glaubens mit den erfahrenen Prozessen der H istorie (Niebuhr 1956b, S. 143 ff.); begründet ist sie im „Drama“ des Kreuzes Jesu Christi zum Heil der Welt.
2.1 „Politischer Realismus“ In der Perspektive des „politischen Realismus“ erinnert R. Niebuhr an die Anfangszeiten amerikanischer Geschichte, als bei der Immigration Menschen, die sich Religionsfreiheit und wirtschaftlichen Neubeginn zum Ziel setzten, in der „Unschuld“ (innocency) der frühen Pionier- und Gründerzeit, eingebunden in den Erwählungsglauben von „God’s American Israel“ (Niebuhr 2008, S. 25), das Land erschlossen und soziale Gemeinschaft aufbauten. Eigentlich erst nach dem I. Weltkrieg durch die Konfrontation mit der nationalsozialistischen und kommunistischen Diktatur in Europa änderte sich dies in signifikanter Weise. Nach dem Sieg über Nazi-Deutschland bestimmte der „kalte Krieg“ und der weltanschauliche Machtkampf zwischen US-amerikanischer Freiheitlichkeit und sowjetischem Zwangssystem R. Niebuhrs Deutung politischer Entscheidungen und historischer Prozesse mit dem „Ironie“-Konzept. Der „politische Realismus“ in den USA wies sich aus in den wissenschaftlich-technischen Erfolgen und in der ökonomische Expansion, verbunden auch mit einem gewissen Wohlstand für viele durch Fr. D. Roosevelts „New Deal“ mit der „balance of power“ zu den Gewerkschaften (Niebuhr 2008, S. 31). All dies,
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mitbegründet in der Entsprechung von Wohlstand und Tugend der Calvinistischen Erwählungsvorstellung, verlieh Amerika nach dem Muster des „politischen Realismus“ Macht (Niebuhr 2008, S. 51). Die USA wurden eine Supermacht mit auch weltpolitischer Verantwortung. Macht, in Freiheit gebraucht, schließt für R. Niebuhr immer auch Schuldigwerden ein. „Either we will seek escape from responsibilities which involve unavoidable guilt, or we will plunged into avoidable guilt by too great confidence in our virtue“ (Niebuhr 2008, S. 42); „we were determined to exercise the responsibilities of our power“ (Niebuhr 2008, S. 38). In Amerika selbst standen derzeit die Idealisten für Pazifismus und für eine einheitliche Weltregierung einerseits und andererseits die Realisten, die als ultima ratio die atomare Erstschlagsthese vertraten, hart gegenüber. Gleichzeitig fand auch mit dem Triumph der Ratio in Wissenschaft und Technik eine Entgrenzung der Möglichkeit menschlichen Machens statt, wie R. Niebuhrs empirisch ausgerichtete Wahrnehmung feststellte. Und mit dem Verlust der Grenze verbindet sich für ihn als Theologen auch die Eliminierung von Sünde und Schuld. Es wird der Lebensstandard zur letzten Norm guten Lebens erklärt und die technische Perfektion zum Garanten kultureller und moralischer Werte (Niebuhr 2008, S. 54). Auch werde durch Bildung und Ausbildung, eben durch Wissen, Sünde und Schuld, überhaupt das Böse, nicht nur als defizienter Modus erklärt, sondern ihre Macht auch als vom Menschen selbst zu beseitigende. Der Mensch wird als „Geschöpf“ der „Schöpfer“ der historischen Konstellationen und Prozesse; Sinn und Ziel laufe auf die universale Realisierung des demokratischen Gesellschaftsideals hin, ausgerichtet durch die USA als Tutor der Menschheit. Der Wille zur Macht, die Macht der US-amerikanischen Macher zeigt sich jedoch im Blick auf die Machbarkeit idealer Verhältnisse und die von Menschen hergestellten Realitäten gerade als Schwäche. Die Unterstützung lateinamerikanischer Militärdiktaturen zeigt es, wie auch der von Andrew J. Bacevich in der Einleitung von „The Irony of American History“ kritisch beschriebene Irakkrieg (Niebuhr 2008, S. XVIII). Auch provozieren der universale Geltungsanspruch amerikanischer Werte in den europäischen Nationen partikulare Abgrenzung und die Betonung eigener Partikularinteressen. Die unabdingbare Konfusion zwischen Universalem und Relativem mit ihren „ironischen“ Verstrickungen erweist sich als das, was der Theologe R. Niebuhr als „Grundsünde“, die Beziehungslosigkeit mit Gott, meint. Die logische Struktur der „Ironie“ der amerikanischen Geschichte zeigt sich philosophisch darin, dass die Möglichkeit von Wirklichkeit aus der Notwendigkeit abgeleitet wird (Niebuhr 2008, S. 40), ohne zwischen Möglichem und Unmöglichem als Grenze im Wirklichen zu unterscheiden (Niebuhr 2008,
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S. 144); gegenüber den theoretischen Diskursen hat dies häufig die rein pragmatische Realisierung von Fakten zur Folge. Im weltpolitischen Rahmen ist „ironisch“ festzustellen, dass die von den technologisch und ökonomisch effektivsten Nationen gemachten Hoffnungen, Ideale und Utopien nicht selten zu einem verdeckten Imperialismus über die nicht so technisch entwickelten Kulturen pervertieren. „In that lager pattern we face a revolt of impoverished peoples of the world against the centers of technical power in which justified and unjustified resentments are so curiously mingled, and legimate desires for greater well-being are so inextriably intertwined with illusory hopes“ (Niebuhr 2008, S. 118). Für die Auseinandersetzungen der Weltanschauungen schließlich hat R. Niebuhr nach der Dominanz des freiheitlich-kapitalistischen Systems des Westen als Herausforderung die durch Mystik und Pantheismus geprägten fernöstlichen Kulturen vor Augen und gerade auch das Religion und Politik vermischende Kalifatssystem (Niebuhr 2008, S. 128); es handelt sich um Staaten und Nationen, die in ihrer Andersheit und Eigenständigkeit den demokratischen Strukturen einer rechtsstaatlichen Verfassung meist fern stehen. Der „politische Realismus“ in der amerikanischen Geschichte zeigt sich in der Multioptionalität einer offenen demokratischen Gesellschaft und ihrer politischen Entscheidungsfindung. So stand die amerikanische Politik nach Schwäche und Unschuldsvoraussetzung des Anfangs durch positive wirtschaftliche Entwicklungen und soziale Leistungen mit ökonomischer, militärischer und kultureller Macht in Folge, vor der in Freiheit zu wählenden Entscheidung: einerseits sich in pragmatischer Selbstbezogenheit weltpolitisch zurückzuhalten, zu isolieren, den Verantwortlichkeiten ihrer Macht in der übrigen Welt auszuweichen, zu entfliehen, andererseits ihre Macht, als Wille zur Macht, zur Herstellung idealer Verhältnisse nach dem „American way of life“ in andere Staaten der Welt zu extrahieren und so in hybrider und anmaßender Weise Geschichtsprozesse nach eigenem Plan zu produzieren. Macht, in Freiheit gebraucht, auch missbraucht, treibt aber in Schuld und macht schuldig. Als Kriterium für verantwortlichen Gebrauch von Macht nennt R. Niebuhr die Kategorie der Grenze.2 Sie weiß um die Fragmentarität und Geschichtlich-
2Vgl. auch die Bedeutung, die D. Bonhoeffer als junger Schüler R. Niebuhrs in seinen verschiedenen Veröffentlichungen zu Lehre, Ethik, Seelsorge, „Schöpfung und Fall“ (1932), Christologievorlesung (1933), Ethik (1940), Briefen (WuE am 29. 05. 1944) der „Grenze“ beimisst (Plathow 2013, S. 62−73 [Grenze und Mitte. Systematisch-theologische Überlegungen zu D. Bonhoeffers Pastoraltheologie]).
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keit allen menschlichen Herstellens, Tuns und Machens. Sie weiß um das Auseinanderklaffen von Möglichem und Unmöglichem, von Ideal und Wirklichkeit. Sie weiß um die Freiheit, die schuldig werden einschließt. Sie weiß, dass durch ihre Akzeptanz die „Ironie“ historischer Prozesse mit ihren politischen Entscheidungsmöglichkeiten anerkannt und überwunden werden kann. „The ironic element in American history can be overcome […], only if American idealism comes to terms with the limits of all human striving, the anfragmentariness of all human wisdom, the precariousness of all historic configurations of power, and the mixture of good and evil in all human virtue“ (Niebuhr 2008, S. 133; vgl. auch 154). Wo entgrenztes menschliches Machen zum Gesetz der Geschichte wird, zeigt sich die „Ironie“ des Schicksals, die nicht nur um die Diskrepanz von Wollen und Vollbringen, um die paradoxale Spannung von Macht und Schwachheit, von Weisheit und Torheit weiß, sondern auch um das allem vorgegebene Letzte (ultimate), eben um Gott (Niebuhr 2008, S. 88). Der Mensch mit seinen intellektuellen und technischen Fähigkeiten, mit seiner Macht, bleibt als Schöpfer auch Geschöpf historischer Prozesse (Niebuhr 2008, S. 134), Gestalter und endlicher Mensch (Niebuhr 2008, S. 146.156). Auch eine Reduzierung geschichtlicher Prozesse auf rationale Entwicklungen übersieht und verdrängt – so die „Ironie“ – all die Imponderabilien, die bei hybrider Beseitigung der Schwächen anderer Nationen entstehen, aufgrund angemaßter Überlegenheit des eigenen „way of life“ (Niebuhr 2008, S. 142). Vielmehr ist zu akzeptieren die besondere Situation, Geschichte, Tradition und Freiheit der einzelnen Nationen (Niebuhr 2008, S. 137.158). Des Anderen Andersheit ist als „Grenze“ anzukennen. Ausgleich der Interessen, der eigenen und Anderer, ist – im Bewusstsein eigener Macht – in einer „balance of power“ anzustreben. Denn die großen Übel in der Geschichte werden hervorgebracht von einer Hybris, die nicht der Gabe der Freiheit, die um die Möglichkeit des eigenen Schuldigwerdens weiß, kohärent ist; „they are a corruption of that gift“ (Niebuhr 2008, S. 158). Die Hybris, die Anmaßung (pretension), die Ruhmseligkeit (vainglory) wie der Hass (hatred) sind die Quellen der Ironie von Stärke, die in Schwäche führt, von Weisheit, die in Torheit endet, von verzweifelter Sorge um Sicherheit, die zu erhöhter Unsicherheit verkehrt. So klärt „Ironie“ als Interpretationsmodell der Politik- und Kulturgeschichte Amerikas mit über die Deskription hinausgehender präskriptiver Intention die spannungsvollen Prozesse amerikanischer Geschichte. Exemplarische Bedeutung – auch für Früherkennungen – hat der „American way of life“ für die Diskrepanz einerseits anmaßender Entmündigung Anderer und andererseits fördernder Anerkennung Anderer.
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Ferner ist das gesellschaftliche Leben in Amerika gekennzeichnet einerseits von Säkularisierung, von einer – mit M. Weber gesprochen – „Entzauberung“ der Religion, die in den „Neuen Atheismus“ übergehen kann, und andererseits von religiöser Orientierungs- und Kulturprägnanz des zivilreligiösen Christentums. Schließlich zeigt sich Amerika exemplarisch als Einwanderungsland mit sozialem Wandel. Migration erweist sich als ethische Herausforderung; einerseits schließt sie Bereicherung und Integration ein, andererseits führt sie auch zu Spannungen und Befremdung.
2.2 „Christlicher Realismus“ Aus der Perspektive des „christlichen Realismus“ verbindet und unterscheidet sich „politischer Realismus“ und „christlicher Realismus“ durch „Kohärenz und Inkohärenz“; das impliziert, dass dem „politischen Realismus“ vom „christlichen Realismus“ als Fluchtpunkt und Gesamtperspektive Sinnerschließung widerfährt. R. Niebuhr expliziert diesen epistemologischen Zusammenhang nicht als dogmatischen Entwurf; vielmehr konkretisiert er Leitgedanken des christlichen Glaubens spannungsvoll auf ihre existenzielle und sozialethische Bedeutung. Das geschieht von biblisch-theologischen Kernaussagen im augustinisch-reformatorisch-kierkegaardschen Verstehenszusammenhang mit der Intention der Ethik des Politischen. R. Niebuhr schildert in „The Irony of American History“ (2008, 162) die alles begründende Voraussetzung des „christlichen Realismus“: der christliche Glaube hat zum „Zentrum“ eine Person, die der „Stein ist, den die Bauleute verworfen haben“ und „der zum Eckstein“ wurde (Mt 21,42; Apg 4,11; 1. Petr 2,7). „Christlicher Realismus“ offenbart sich im „Drama“ des Kreuzes. Indem Jesus Christus sich selbst hingebend erniedrigte, Mensch in der Geschichte der Menschen wurde (Phil 2,7f) (Niebuhr 1956a, S. 178), sich den Kranken vor den Gesunden, den Sündern vor den Gerechten zuwandte, machte er die „Ironie“ der Geschichte mit seiner Umwertung der Werte signifikant. Denn von der Auferstehung Jesu Christi her (Niebuhr 1956a, S. 188 f.) erweist sich mit 1. Kor 1, 17–2,2 die Kraft Gottes in Schwachheit und Leid, die Weisheit Gottes im Nicht-Selbstverständlichen, in der vermeintlichen Torheit: Im Kreuz sind Rechtfertigung, Sündenvergebung, Erlösung von der Macht der Sünde und des Bösen verortet. Denn Christus ist uns gemacht von Gott „zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung“ (1. Kor 1,30). Der „christliche Realismus“ erkennt an einerseits die Macht der Sünde (Niebuhr 1956a, S. 155) als Gemeinschaftslosigkeit mit Gott und als Selbstverschlie-
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ßung gegen den guten Willen Gottes zum Leben. Sünde zeigt sich mit Gen 3,5 als H ybris und Anmaßung der Menschen, Schöpfer und nicht Geschöpf zu sein (Niebuhr 2008, S. 141) Der Wille Gottes aber lautet: „Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Mt 22, 37–40; Dtn 6,5; Lev 19, 18). M. Luther sagt zu diesem 1. Gebot: Wir sollen Gott über alle Dinge fürchte, lieben und vertrauen. „Denn woran du dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott“ (Dingel 2014, S. 560, 22–24). Darum „sollen wir Menschen und nicht Gott sein. Das ist die summa“ (Luther 1934, S. 41545) wie er am 30.06.1530 an Spalatin schreibt; wir sollen anerkennen die Grenzen zwischen Gottes Handeln und menschlichem Tun, zwischen eigener Freiheit und der des Anderen, und nicht anmaßend aus eigener Macht die Schwäche des Anderen instrumentalisieren und manipulieren. In den Diskrepanzen von idealistischem Wollen und realem Verwirklichen nimmt die Sünde mit Röm 7,18f konkrete Gestalt an. Der eigenen Bruchstückhaftigkeit und Sünde bewusst, leben als „Gerechte und Sünder zugleich“ die Glaubenden in Buße und Demut aus der Vergebung nach dem Gesetz der Liebe, der Liebe zu Gott, zum Anderen und zugleich zu sich (Maßmann 2013, S. 95−126). Andererseits weiß der „christliche Realismus“ mit 1. Kor 1,17f um die über menschliches Planen, Denken und Machen hinausgehende und dieses begleitende Handeln Gottes in der Welt, die „andere Dimension“ (Niebuhr 2008, S. 172) der Providenz Gottes (Niebuhr 2008, S. 51). Sich selbst zurücknehmend hat Gott der Schöpfer und Erhalter den Menschen die Freiheit der Mandatare seiner Schöpfung gegeben. Es ist die Freiheit der Mitarbeiter Gottes (Niebuhr 2008, S. 119) für agrarische, technische, wissenschaftliche und kulturelle Entwicklung, wie die USA sie seit der Pionierzeit erfahren hat. Es ist zugleich die Freiheit zu Machtausübung, historische Realitäten selbst zu machen, zu konstruieren und doch ironischer Weise das Realisierte zu destruieren. Der Komik dieser „Ironie“ des Schicksals entsprechend, verweist R. Niebuhr auf Ps 2,4: „Aber der im Himmel wohnt, lacht ihrer“ (Niebuhr 2008, XXIV). Das göttliche Gericht über menschliche Arroganz und Hochmut wird gleichwohl in Gnade verwandelt, wo die Hybris erkannt und der Mensch zur Buße geleitet, die Nichtigkeit menschlicher Anmaßungen einsieht. „Redemption from evil carries it beyond the limits of irony, but its interpretation of the nature of evil in human history is consistently ironic. This consistency is achieved on the basis of the belief that the whole drama of human history is under the scrutiny of a divine judge who laughs at human pretensions without being hostile to human aspirations. The laughter at the pretensions is the divine judgement. The judgement is transmuted into mercy if it results in abating the pretensions and in prompting men to a contrite recognition of the vanity of their imagination“ (Niebuhr 2008, S. 155). In
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der Welt, nicht von der Welt, durch Gericht und Gnade, kennzeichnet den Glauben des „christlichen Realismus“. Existenziell wird er gelebt in Ehrfurcht (awe) vor der Größe des geschichtlichen Dramas, in der bescheidenen Nichtüberhöhung von menschlicher Tugend, Weisheit und Macht (modesty), in der Buße über die vielen Verfehlungen der Menschen und ihrer Machenschaften – eine Buße, die die Quelle gelebter Liebe nach dem Gesetz der Liebe ist (Niebuhr 2008, S. 50; Niebuhr 1956a, S. 214 ff.). Mit den Worten des von R. Niebuhr hochgeschätzten Präsidenten A. Lincoln, der um die das Recht prägende und das Recht überbietende Macht der Liebe wusste, gesprochen: „with malice toward none; with charity for all“ (Niebuhr 2008, S. 172). Zusammenfassend wird „christlicher Realismus“ gelebt in der Dankbarkeit für die göttliche Gnade, die all denen verheißen ist, die sich demütigen (Niebuhr 2008, S. 172).
3 Reinhold Niebuhrs Verständnis von Glaube und Geschichte Die im Kontext des angelsächsischen Empirismus spannungsvolle Beziehung der „Kohärenz und Inkohärenz“ (Niebuhr 1956b) von „politischem“ und „christlichem Realismus“, in augustinisch-reformatorischer Sicht gedeutet, hat signifikante Bedeutung für R. Niebuhrs politische Theologie. Mit ihrer Verbindung von Erfahrung und Glaube, Individuellem und Sozialem erfüllt sie eine deskriptive und präskriptive Funktion für die weltpolitische Situation damals und auch heute. Doch zunächst sei die multiperspektivische Sicht von R. Niebuhrs Verstehen von Glaube und Geschichte, Theologie der Geschichte, angezeigt als Heilsgeschichte Gottes mit der Welt von den Prota zu den Eschata (Niebuhr 1956a); kohärent und inkohärent bindet sie den „politischen Realismus“ in den „christlichen Realismus“ ein. R. Niebuhr geht von der Wirklichkeit der erlösten Existenz und des neuen Seins der Glaubenden und der glaubenden Gemeinde aus (2. Kor 5,17; Gal 2,19f; 1. Joh 3,1); im einmal und ein für allemal geltenden „Drama“ des erlösenden Heils Gottes in Christi Kreuz und Auferstehung hat sie ihren Quellgrund; im Kerygma des Wortes Gottes wird es verheißen und zugeeignet den Glaubenden. R. Niebuhrs geschichtstheologische „theology of atonement, justification and reconciliation“ ist bestimmt – wie Laugdon Gilkey zeigt (1975, S. 40 f.) – durch die „vertikale Dialektik“ von Transzendenz und Geschichte, Schöpfer und Geschöpf, Gottes Handeln und menschlichem Tun, Zeit und Ewigkeit. Gott ist es, der in Selbstzurücknahme den Menschen als Partner und Mandatar mit Freiheit
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beschenkt hat. Diese gegebene und zu verantwortende Freiheit wirkt einerseits mit kreativer Energie durch die Vernunft in Wissenschaft, Technik, Kultur und Politik den Menschen zum Segen und Gott zur Ehre. Andererseits, mit erlangter Macht und Wille zur Macht, wirkt sie durch die Verabsolutierung der vom Menschen gemachten Ideale in Realität Lebenszerstörendes und Zukunftverschließendes. Als „Ironie“ des Schicksals bringt sie mit den Diskrepanzen von idealem Wollen und realem Vollbringen, von Machen und Machbarkeit mit Röm 7,18f die Sünde, die Schuld, das Böse in der Geschichte der Menschen an den Tag. Indem der Mensch selbstherrlich seine Realität herstellt, eigenwillig Macher der Historie sein will, zeigt sich die Macht der Sünde als Gemeinschaftslosigkeit mit Gott, als Ungehorsam gegen das 1. Gebot; wir aber „sollen Menschen sein und nicht Gott“ (Luther 1934). Dennoch erhält und bewahrt Gott diese Welt, seine Schöpfung; „der im Himmel ist“, lacht (Ps 2,4) über die verrückten Machenschaften der Menschen: Eigene menschliche Bemühungen um Gleichheit und Gerechtigkeit im Organisieren und Machen, im Schaffen personaler, sozialer und politischer Beziehungen tragen immer die Macht des Egoismus, der Hybris der Diskrepanz von Wollen und Vollbringen, eben der Sünde in sich. Historische Gerechtigkeit lässt sich angesichts der sündigen Elemente in den sozialen Realitäten nur bruchstückhaft als Ausgleich in einer „balance of Power“ erreichen. Dialektisch steht die historische Gerechtigkeit der Agape, der Liebe des Reiches Gottes, gegenüber; Annäherung und Unterschied zur Agape charakterisiert sie. Liebe erweist sich als letzte Norm und als Erfüllung der Gerechtigkeit. Agape – im Gegensatz zu Eros und Philia – ereignet sich im „Drama“ des Kreuzes als „Paradox der Gnade“ in der Rechtfertigung der Sünders und findet ihre Vollendung eschatologisch im Reich Gottes. Gegen die durch Egoismus und Hybris pervertierten Machenschaften der Menschen schafft Gott in der Schwachheit und Torheit der hingebenden Liebe des Kreuzes durch die Auferstehung Jesu Christi das „Recht der Liebe“ des „christlichen Realismus“. Aus dieser Liebe leben die Glaubenden, Gerechte und Sünder zugleich, in der Welt des „politischen Realismus“, aber nicht von der Welt, im „schon“ und „noch nicht“, durch das „Paradox der Gnade“. Bei aller kreativen und kritischen Energie geschenkter Freiheit wissen sie um die Grenzen der eigenen Person, des eigenen Tuns, des eigenen Schuldigwerdens. In Buße wirken sie Gesetze und gesellschaftliche Strukturen, die „engstmöglich“ dem „Recht der Liebe“ (Niebuhr 1956a, S. 217–223) eingebunden sind, und so Segen für Menschen und Welt sind zur Ehre Gottes, ohne das Reich Gottes schon herstellen zu wollen. Das Reich Gottes – wie überhaupt das Eschaton – bleibt gegenüber der Welt „transzendent“ (Niebuhr 1956a, S. 193). Gottes Zukunft in Gericht und Gnade relativiert menschliches Herstellen, Machen und Gestalten. Sein lebendiges und Leben schaffendes Wort in Gesetz und Evangelium ruft zur Buße,
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schenkt Vergebung und Erneuerung in Freude und Dank für Gottes unvordenkliche Gnade. R. Niebuhr setzt in seiner Theologie der Geschichte somit andere Akzente als verschiedene Vertreter – z. B. G. Sherwood Eddy, E. Skribner Ames und auch Walter Rauschenbusch – des „social gospel“ und auch der eschatologischen Befreiungstheologen. Die letzteren verstehen die Verheißung des Reiches Gottes historisch erfüllbar und proleptisch realisierbar durch das avantgardistisch-politische Machen der Befreiungsgeschichte für die ungerecht Armen und Leidenden mithilfe des heiligen Geistes, dem Angeld der Zukunft (Röm 8,23; 1. Kor 15,20; 2. Kor 1,22). Bei R. Niebuhr ist der „christliche Realismus“ allein durch das „Paradox der Gnade“ Gottes im „Drama“ des Kreuzes und der Auferstehung Christi grundgelegt; in der so ermöglichten Wirklichkeit weiß er um die Grenze zwischen Möglichem und Unmöglichem. Demgegenüber besteht die Logik der realpräsenten Reich Gottes-Theologen darin, die Möglichkeit einer Ausführung und Verwirklichung von ihrer Notwendigkeit abzuleiten, wobei der Möglichkeit gegenüber der Wirklichkeit eine höhere ontologische Dignität eigen ist.
4 Reinhold Niebuhrs politische Theologie heute R. Niebuhr erweist sich als politischer Theologe und Sozialethiker, indem er die „Ironie“ als Interpretationsmodell historischer Entscheidungen und Prozesse versteht. Seine politische Theologie findet gegenwärtig ihren Ort in der Abgrenzung einerseits vom Diskurs zwischen Carl Schmitt und Erik Peterson über die legitimierende Funktion des Monotheismus für gesellschaftliche Strukturen (Schmitt 1922; Peterson 1935), andererseits von Jürgen Moltmanns eschatologisch verantworteter Befreiungstheologie des Politischen im Begründungszusammenhang einer sozialkritisch ausgelegten trinitarischen Kreuzestheologie.3 Weniger eine theologische Theorie ist ihm wichtig, als vom angelsächsischen Empirismus und Pragmatismus in reformatorischer Prägung das realpolitische, nicht visionäre oder utopische, Wollen und Tun in christlicher Verantwortung für freiheitlich-demokratische Strukturen (vgl. Mützlitz 2013) nach dem biblischen Bild menschlicher Würde und Grundrechte. Im konkreten wird die geschichtliche
3Vgl.
Moltmann (1972, 1980, 2011); Welker (1979); Bühler (1981); Korthaus (2007).
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Entscheidung und Tat verantwortet, bruchstückhaft und vorläufig, in den komplexen Spannungsfeldern nationaler Interessen, Kulturen und Mächte. Begründet und motiviert ist das verantwortliche Tun in der reformatorischen Freiheit, die durch die dialektische Spannung von Gottes Handeln und menschlichem Tun, vom eschatologischen „schon“ und „noch nicht“, von Liebe und Gerechtigkeit um Sünde und Erneuerung aus dem „Paradox der Gnade“ Gottes im „Drama“ des Kreuzes Jesu Christi zugunsten der Welt weiß (Niebuhr 1956a, S. 176–190), und bei aller kreativen Energie auch um die Geschichtlichkeit und Vergebungsbedürftigkeit des um Interessenausgleich bemühten Tuns der „balance of power“-Entscheidungen. Im Blick auf die aktuellen Herausforderungen durch weltanschauliche und religiöse Spannungen, verstärkt durch Flüchtlings- und Einwanderungsströme, bedeutet dies, den Anderen in seiner Andersheit als „Grenze“ in kritischer und konstruktiver Dialogik und Konvivenz ernstzunehmen und anzuerkennen auf wechselseitigen Ausgleich der Interessen und Nöte hin. Der Versuchung, den Anderen nach eigenen idealen Vorstellungen zu bilden, für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, ist zu widerstehen. Eine hybride Anmaßung, die die Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Machen und Machbarkeit nicht akzeptieren will, verkehrt – historisch erfahren – in ironischer Weise in Zerstörung und Leid. Gerade terroristische Gruppen, wie das totalitäre Kalifat des „Islamische Staat (IS)“ in der Gegenwart, eliminieren diese „Ironie“ aus ihrem ideologisch geschlossenen System. In anderer Weise drohen auch liberale Idealisten – wie die Geschichte zeigt – die „Ironie“ von idealem Wunsch und realer Wirklichkeit bei politischen Entscheidungen und in historischen Prozessen auszublenden. R. Niebuhrs theologisch verantworteter Realismus mit dem Interpretationsmodell der „Ironie“ ist geprägt vom philosophischen Empirismus angelsächsischer Provenienz und von der „historischen Schule“ des Universalhistorikers Leopold von Ranke. L. von Ranke erkennt in der tatsächlichen „Existenz selbst“, und zwar in der Freiheit und im Spiel der Kräfte, die weltgeschichtlichen Zusammenhänge: „Die Historie verfolgt die Szenen der Freiheit; das macht ihren Reiz aus. Zur Freiheit aber gesellt sich die Kraft, und zwar ursprüngliche Kraft, Kraft mit ihren geschichtlichen Wirkungen.“ (von Ranke 1888, IX.XIII) Staaten sind solche Kräfte in Kontinuität und Diskontinuität, in Dauer und Veränderung des Wechselspiels der Kräfte. Den weltgeschichtlichen Gesamtzusammenhang nimmt L. von Ranke im Sinn romantischer Einheitskonzeptionen wahr in Gott: „Die Gottheit – wenn ich diese Bemerkung wagen darf – denke ich mir so, dass sie, da ja keine Zeit vor ihr liegt, die ganze historische Menschheit in ihrer Gesamtheit überschaut und überall gleich wert findet“ (von Ranke 1888, S. 5.7). Die Vorstellung von der Prolepse des Endes der Hegelschen Gesamtgeschichte der
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eschatologischen Geschichtstheologen kennt L. von Ranke nicht. L. von Rankes Diktum über historische Ereignisse in ihrer „Unmittelbarkeit zu Gott“ aus „Über die Epoche der neueren Geschichte“ widerspricht R. Niebuhr in der Weise, „dass sich die Menschen gegen Gottes Willen und als Verräter der Gesellschaft enthüllen“ (Niebuhr 1956c, S. 88 ff.). Bei aller „Kohärenz“ von „politischem Realismus“ und „christlichem Realismus“ in Welt- und Heilsgeschichte betont er die „Inkongruenz“, bei aller Entsprechung den Widerspruch (Niebuhr 1956b): das „Drama“ (Niebuhr 1956b, S. 164) des Kreuzesgeschehens; hier ist der Ort, an dem die „Ironie“ der politischen Geschichte offenbar wird: die Kraft Gottes, wo, menschlich beurteilt, nur Schwachheit vorliegt; die Weisheit Gottes, wo der Mensch nur Torheit erkennt. Als Gericht über die Sünde des „eritis sicut deus“ (Gen 3,7), in der Umwertung des Geschöpfes in den Schöpfer zeigt sich Einzigkeit und Universalität des Kreuzesgeschehens im Licht der Auferstehung Jesu Christi; zugleich erschließt sich im Kreuzesgeschehen Erlösung, Rechtfertigung und Vergebung. Im „Wort vom Kreuz“ wird das „Paradox der Gnade“ Gottes verheißen und zugesagt als Ruf zur Buße, als Geschenk der Vergebung, als Reinigung des Gedächtnisse und Erneuerung zu verantwortlichem Tun in der dialektischen Spannung von Liebe und Gerechtigkeit im Sozialen und Politischen. R. Niebuhr politische Theologie unterscheidet sich von den eschatologischen Befreiungstheologien des Reiches Gottes, das hier proleptisch mit dem avantgardistisch-politischen Handeln der Menschen für Gerechtigkeit historische Gestalt annimmt. Die Zukunft des Reiches Gottes bleibt für R. Niebuhr – wie auch im theologischen Denken seines Bruders Richard Niebuhr – transzendent als Tat Gottes im Eschaton. Für R. Niebuhr impliziert die eschatologische Befreiungstheologie des Politischen die Instrumentalisierung der Eschatologie; das Ziel, das Telos, die Eschata der Geschichte Gottes als Gericht und Gnade werden verdrängt, weil die soteriologische Bedeutung des Kreuzes Jesu Christi als Ort des Heils, d. h. einer neuen Wirklichkeit und eines neuen Wirklichkeitsverständnisses, verkürzt oder nivelliert wird. Die erneuernde Kraft der Vergebung schließt in R. Niebuhr politischer Theologie ein die Verantwortung nach dem Recht der Liebe, das engstmöglich in Gesetzen und gesellschaftlichen Strukturen Gestalt gewinnt; als der Freiheit und Liebe Dienst für Andere, gerade die Ungerechtigkeit erfahren, wird sie gelebt. Beim Recht der Liebe geht es um die politische Verantwortung in der Dialektik von Liebe und Gerechtigkeit. Die Anderen in ihrer Andersheit und ihre Interessen erkennt sie kritisch und konstruktiv als eigene „Grenze“ an auf der Basis der Menschenwürde und Menschenrechte. Um Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den politischen Entscheidungen um Interessensausgleich und „balance of power“ ist sie bemüht.
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Das geschieht in Buße angesichts der Bruchstück- und Schuldhaftigkeit eigenes Tuns und Entscheidens, aus dem Geschenk des „Paradox der Gnade“ Gottes mit der kreativen Energie der Vernunft und zugleich in der Weisheit der Demut und Gelassenheit wie R. Niebuhr es in seinem weltbekannten Gebet in Heath, Mass. 1934 angesichts politischer Entscheidungen in den weltanschaulichen Spannungen und Wirren der Zeit ausdrückt: „God, give us grace to accept with serenity the things, that cannot be changed, courage to change the things, that should be changed and the wisdom to distinguish the one from the other“.
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Gehört das Christentum zum Westen? Über Fremdheit und Selbstfremdheit der Kirchen im Kontext eskalierender Kulturkämpfe Arne-Florian Bachmann You never ask questions When God’s on your side –Bob Dylan
Zusammenfassung
Als sich 1989 mit dem Mauerfall die bipolare Welt des Kalten Krieges auflöste, wurde die Frage aufgeworfen, welche Konturen die neu entstehende Welt haben würde. Francis Fukuyama und Samuel P. Huntington zählen zu den bekanntesten Deutern der Welt nach Ende des Kalten Krieges. Während Fukuyama vom Ende aller Systemkämpfe und der globalen Durchsetzung der liberalen Demokratie ausging, sah Huntington stärker ethnische, kulturelle und religiöse Gegenbewegungen zur Globalisierung aufkommen. Diese würden auf neue Kulturkämpfe hinauslaufen. Im vorliegenden Aufsatz wird zunächst der Versuch unternommen nach über zwanzig Jahren erneut einen Blick auf die Fukuyama-Huntington-Debatte zu werfen. Dabei wird die These vertreten, dass beide Denker nicht zwei Enden eines Kontinuums beschreiben, sondern „zwei Seiten derselben Medaille“. Im zweiten Teil wird danach gefragt, welchen Ort das Christentum in der so verstandenen Gegenwart hat. Gehört das Christentum zum Westen? Gehört es gar dem Westen? Wird es als Wurzel des Strebens nach Gleichheit in den Einsatz für Demokratie und Menschenrechte aufgehoben (Fukuyama) oder dient es zur Sakralisierung ethnisch-kultureller Identität (Huntington)? A.-F. Bachmann () Heidelberg, Deutschland E-Mail:
[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Schössler und M. Plathow (Hrsg.), Multipolarität und bipolare Konfrontationen, Transatlantische Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22927-6_2
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Im Anschluss an Ingolf Dalferth und Miroslav Volf wird kulturelle Identität von theologischer Identität unterschieden. Die theologische Identität bezeichnet ein ex-zentrisches Ereignis: das In-Beziehung-Setzen Gottes mit dem Gottlosen und die Ermöglichung von Glauben. Diese theologische Identität relativiert und öffnet kulturelle Identitäten. Dies führt zu einer Struktur der (Selbst-)Fremdheit des Christentums, die Miroslav Volf „interne Differenz“ nennt: eine kritische Solidarität mit der umgebenden Kultur, die zugleich Zugehörigkeit und Distanz zum Ausdruck bringt. Somit geht die theologische Identität nicht auf in kulturellen Zugehörigkeiten, sondern kann diese in ihren Schließungs- oder Expansionstendenzen infrage stellen.
1 Einleitung: Transatlantische Entwicklung nach 1989 Es war im Oktober 1989 in Leipzig und im November desselben Jahres in Berlin, als sich für alle Welt sichtbar und mit fast übertriebener Deutlichkeit im Symbol des Mauerfalls ein epochaler Einschnitt manifestierte: Die bipolare Welt des Kalten Krieges löste sich auf und eine neue Welt begann heraufzudämmern. Doch welche Konturen würde diese neue Welt annehmen? Wie waren die Ereignisse um die friedliche Revolution zu interpretieren? Was bedeuteten diese für die Zukunft der internationalen Beziehungen? Welche Form sollte die Welt nach dem Kalten Krieg annehmen? Und welche Rolle könnten Religionen darin spielen? Vor allem in den USA der frühen 1990er Jahre wurden diese Debatten kontrovers geführt. Insbesondere formulierten Francis Fukuyama und sein Lehrer Samuel P. Huntington zwei sehr unterschiedliche Visionen einer globalen Zukunft. Mehr als zwanzig Jahre nachdem dieser Diskurs hitzig geführt worden waren, scheint ein guter Zeitpunkt gekommen zu sein, auf diesen Diskurs zurückzublicken, um zu schauen, was von beiden Theorien über die Gegenwart zu lernen ist. Beide Theorien stehen symbolisch für gegenläufige Tendenzen in Bezug auf die internationalen Beziehungen. Dabei wird deutlich werden, dass beide Theorien, die vom „Ende der Geschichte“ und die vom „Kampf der Kulturen“, keine Alternativen darstellen, sondern einen Problemkomplex bilden, in dem beide Theorien stärker miteinander verbunden ist, als es den Anschein hat. Denn es war im Jahr 2017 als sich durch die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten eine Zäsur in den transatlantischen Beziehungen und dem Gefüge
Gehört das Christentum zum Westen? Über Fremdheit und Selbstfremdheit …
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der Nachkriegsordnung ankündigte, die als solche heute kaum bestritten wird, auch wenn unklar bleibt, wie tief gehend dieser Einschnitt wirklich sein wird. Es ist nun auch eine Zeit, die theologische Reflexion und kirchliche Praxis neu zu befragen. Im Rückblick scheint es so, als wären Theologie und Kirche oftmals fragloser Teil der „Fukuyama-Welt“ gewesen: Wie selbstverständlich wurde das europäische Christentum als wesentlicher Bestandteil einer sich universal ausbreitenden westlichen Kultur verstanden. Und nun wächst der Druck, den Schwenk zur „Huntington-Welt“ mitzuvollziehen: hin zur Resakralisierung partikularer kultureller Identitäten; und zu einer theologischen Legitimierung von Politiken der Reinheit und der Abschottung. Wenn Theologie und Kirche nicht einfach die Waffen eines sich andeutenden Kulturkampfes segnen wollen, gilt es noch einmal neu nachzudenken über Fragen von Identität und Zugehörigkeit. Gehört das Christentum zum Westen? Gehört es gar dem Westen? Ist das Christentum ein System der Zugehörigkeit neben anderen? Wie positioniert es sich in diesen Auseinandersetzungen? Dazu wird im Folgenden zunächst der Versuch unternommen, im Rückblick auf die Fukuyama-Huntington-Debatte die Zeichen der Gegenwart zu deuten. Welche gesellschaftlichen, sozialen, ökonomischen und politischen Kräfte haben die westliche Welt von dort (Leipzig 1989) nach hier (Washington 2017) geführt? Ausgehend von dieser Analyse gerät das Thema von Identität, Zugehörigkeit und Fremdheit in den Fokus. Der zweite Teil des Aufsatzes beschäftigt sich mit der Frage nach der Art und Weise, in der theologisch über Identität zu reden ist. Dabei wird im Rückgriff auf Ingolf Dalferth und Theo Sundermeier theologische Identität von kultureller Identität unterschieden. Theologische Identität kommt als exzentrische, relationale und missionarische in den Blick. Abschließend soll mit dem kroatischen Theologen Miroslav Volf unter dem Stichwort „interne Differenz“ das Verhältnis zwischen Christentum und der es umgebenden kulturellen, sozialen und politischen Welt zur Darstellung kommen.
2 Fukuyamas Ende der Geschichte Francis Fukuyama sah in den Ereignissen um die Friedliche Revolution den Siegeszug der liberalen Demokratien westlichen Typus heranbrechen. Unter Absehung der konkreten inhaltlichen Prägungen, welche die Friedliche Revolution bestimmten (Umweltfragen, Dritter Weg, Bürgerrechte, Frieden und Abrüstung), interpretierte Fukuyama diese ein wenig schlicht als „liberale
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Revolution“1, die eine Zeit einläutete, in der die „liberale Demokratie ihre Rivalen bezwungen“2 habe. So bezieht sich Fukuyama in seinem Buch „The End of History and the Last Man“ (dt.: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?) auf die Hegel-Interpretation von Alexandre Kojeve3 und auf Nietzsches Beschreibung des sogenannten letzten Menschen in „Also sprach Zarathustra“. Durch den Fall der Berliner Mauer sei für alle sichtbar geworden, dass die ideologisch-politische Evolution der Menschheit an ein ultimatives Ziel gelangt sei: Die liberale Demokratie westlichen Typus sei Höhe- und Endpunkt aller „Systemkämpfe“. Somit sei damit zu rechnen, dass sich die liberale Demokratie als universale politische Form nun auch global durchsetzen werde, da nur sie das Begehren des Menschen nach Gleichheit und Freiheit zugleich befriedigen und auch materielle Bedürfnisse im hohen Maße stillen könne.4 Geschichte wird bei Fukuyama und Kojeve dabei als Kampf verstanden: Kampf der Ideologien um Vorherrschaft, Kampf der Menschen um Anerkennung und das Ringen der Menschheit mit der Natur.5 Anders ausgedrückt: Geschichte herrsche überall dort vor, wo einander inkommensurable Größen antagonistisch gegenüberstehen und miteinander um die Vorherrschaft streiten. Das Ende der Geschichte wäre dann gekommen, wenn die Antagonismen befriedet und die Widersprüche final aufgehoben wären.6 Fukuyama begründet seine These vom Ende der Geschichte nun nicht einfach mit der Tatsache des Niedergangs des Staatssozialismus, in der man ja nicht sofort die Diskreditierung aller Alternativen zum westlichen Modell sehen müsste, sondern mit dem Wesen des technisch-ökonomischen Fortschritts und dem Wesen des Menschen. Naturwissenschaft und Technik sind für Fukuyama die Triebfedern von Globalisierung und Fortschritt: zum einen, weil sie Grundlagen für militärische Überlegenheit lieferten, die ein Staat nicht ungestraft ignorieren könne, wenn er sich im globalen Maßstab behaupten will. Zum anderen seien sie Bedingungen für wirtschaftlichen Fortschritt, der zur Anhäufung gesellschaftlichen Wohlstandes und zur Befriedigung materieller und anderer Bedürfnisse
1Fukuyama
(1992, S. 401). (1992, S. 384). 3Vgl. Kojeve (1975). 4Vgl. Fukuyama (1992, S. 400 f.). 5Vgl. Fukuyama (1992, S. 383 f.). 6Vgl. Fukuyama (1992, S. 384). 2Fukuyama
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diene.7 Durch Industrialisierung und gesellschaftliche Modernisierung würden sich die Lebensverhältnisse weltweit angleichen: Alle Länder, die einen wirtschaftlichen Modernisierungsprozeß durchlaufen, werden einander zwangsläufig immer ähnlicher: Sie brauchen nationale Einigung und eine zentralisierte Verwaltung, sie brauchen Städte, sie müssen traditionelle soziale Organisationen wie Stämme, Religionsgemeinschaften oder Familien durch wirtschaftlich rationale Organisationen ersetzen, die auf den Prinzipien der Funktionalität und Effizienz beruhen, und sie müssen für eine umfassende Ausbildung ihrer Bürger sorgen. Solche Gesellschaften werden durch den Weltmarkt und die Ausbreitung einer universalen Konsumkultur immer stärker miteinander verbunden.8
Dies sei die Grundlage für eine immer größere Verbreitung westlicher Rationalitäts- und Lebensformen in Ökonomie und Gesellschaft. Die globalisierte Wirtschaft führe durch ihre Warenströme zu einer stärkeren Homogenisierung der Lebensverhältnisse. Aber warum sollte dies auch zu einer Verbreitung der liberalen Demokratie führen? Hier argumentiert Fukuyama anthropologisch. Der Mensch ist für Fukuyama im Anschluss an Kojeve ein begehrendes und ein thymotisches Wesen. Der Mensch begehrt nicht nur die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern er begehrt vielmehr auch „die Begierde anderer Menschen“, das heißt: er sehnt sich nach Anerkennung.9 Dies hängt mit dem Thymos zusammen, der einer der drei Seelenteile bei Platon darstellt. Während der Thymos eigentlich „Mut“ und „Lebenskraft“ ist, wird er bei Fukuyama mit dem Begehren nach Anerkennung zusammengedacht. Der Thymos entfache das Bedürfnis im Menschen, „daß sein Eigenwert oder der Wert der Menschen, Dinge oder Prinzipien anerkannt werden, die er selbst für wertvoll hält.“10 Wird der Mensch behandelt, als sei er weniger wert als andere, reagiere er mit Wut, lebe er nicht entsprechend seiner eigenen Selbstachtung, reagiere er mit Scham, wird er jedoch als wertvoll behandelt, fühle er sich stolz.11 Das thymotische Wesen des Menschen ist nach Fukuyama die Triebfeder menschlicher Geschichte. Die liberale Demokratie nun befriedige in zunehmenden Maße das isothymische Begehren nach Anerkennung als gleichwertig, indem sie durch die Einrichtung und schrittweise Umsetzung von Grund- und Menschenrechten alle Hürden der
7Vgl.
Fukuyama (1992, S. 15). (1992, S. 16). 9Vgl. Fukuyama (1992, S. 17). 10Fukuyama (1992, S. 18). 11Vgl. Fukuyama (1992, S. 19). 8Fukuyama
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rechtlichen Gleichstellung aller Menschen abbaue.12 Durch die Dynamiken der kapitalistischen Globalisierung würden alle partikularen kulturellen, religiösen und traditionellen Bezugsysteme, die die Menschen prinzipiell voneinander entfremden können, infrage gestellt. Schon Marx und Engels hielten im Kommunistischen Manifest – nicht ohne Bewunderung – über den Kapitalismus fest: „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebenseinstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“13 Durch die globale ökonomische Vernetzung würden die Partikularismen der Kultur und die Beharrungskräfte des Sozialgefüges in Bewegung versetzt. Zugleich entstehe durch die Liberalisierung der Gesellschaft eine Ebene der rechtlichen Gleichheit, die gerade in der Abstraktion von der konkreten soziokulturellen Prägung wirksam sei („Vor dem Gesetz sind alle gleich“), während sie gleichzeitig die Freiheit der Menschen ermögliche. Es entstehe die nivellierte Mittelstandsgesellschaft, in der die Werte der Mittelschicht gesellschaftlich maßgeblich sind und der Aufstieg in die Mittelschicht für „fast jeden“ erreichbar zu sein scheint.14 Die grundlegenden gesellschaftlichen Antagonismen schienen ausgeräumt und die Ära des „letzten Menschen“ scheint angebrochen zu sein. Dabei bezieht Fukuyama sich auf Nietzsches Kritik in „Also sprach Zarathustra“, der einen Typus Menschen beschreibt, der durch eine selbstzufriedene Bequemlichkeit, eine mittelmäßige Abgeklärtheit und einen leidenschaftslosen Utilitarismus ausgezeichnet ist.15 Dieser Typus Mensch zeichne sich auch durch eine pragmatisch-ironische Haltung gegenüber jeglichen Überzeugungen bzw. der Überzeugtheit an und für sich aus sowie durch Relativismus und wohlwollende Toleranz gegenüber anderen Lebens- und Glaubensformen, solange diese sich ähnlich verhalten. Grundsätzlich sehe er es als absurd an, sich leidenschaftlich an eine Überzeugung zu binden oder für diese sogar – symbolisch oder real – sein Leben hinzugeben.16 Fremdheit zwischen Menschen gibt es hier lediglich als relative Fremdheit, da sie vor dem Hintergrund eines universalen Konsenses der „gleichen Würde aller“ erscheint. Dem letzten Menschen ist „nichts Menschliches mehr
12Vgl.
Fukuyama (1992, S. 386). und Engels (1986, S. 23). 14Vgl. Fukuyama (1992, S. 388). 15Fukuyama spricht vom „Menschen ohne Rückgrat“: vgl. Fukuyama (1992, S. 399). 16Vgl. Fukuyama (1992, S. 407). 13Marx
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fremd“, da jegliche Partikularismen letztlich im homogenisierenden, universalen Staat aufgehoben werden könnten. Gleichzeitig räumt Fukuyama auch Fehler der liberalen Gesellschaft ein. Zum einen werde die Gleichheit der Menschen von Ungleichheiten flankiert. Es gebe weiterhin die naturgegebenen Ungleichheiten zwischen den Menschen. Außerdem gebe es gesellschaftliche Ungleichheiten, die sich für Fukuyama notwendigerweise aus der arbeitsteiligen Gesellschaft ergeben.17 So blieben als politische Betätigung (nur) noch identitätspolitische Kämpfe um gleiche Anerkennung von verschiedenen Gruppen.18 Außerdem gesteht Fukuyama zu, dass es neben der Isothymia, dem Begehren nach gleicher Anerkennung, auch die Megalothymia gibt: das Streben danach, „mehr als andere anerkannt und geachtet zu werden“19; das Streben danach, sich aus der mittelmäßigen Masse abzuheben. Die isothymische Welt erscheine am Ende als langweilige Welt, in der es weder Höhen noch Tiefen gibt, in der alles gleichgültig wird. Doch auch dafür habe die liberale Gesellschaft eine Antwort parat: sie schafft Ventile für die Megalothymia. Zum einen sei in der Sphäre der Wirtschaft Raum für das unbändige Begehren, besser zu sein als die Konkurrenz. Dabei handele es sich nicht bloß um Habgier, den Wunsch danach, mehr zu haben, sondern um ein abgründiges Streben danach, besser zu sein als andere und mehr geachtet zu sein als andere.20 Die zweite Sphäre bestehe in der Politik, vor allem in der Außenpolitik. Fukuyama führt den Golfkrieg 1991 als Beispiel dafür an, dass z. B. der amerikanische Präsident „als Staatsoberhaupt und Oberkommandant auf der weltpolitischen Bühne neue Realitäten schaffen kann“21. Hier zeigt sich auch die gefährliche Tendenz bei Fukuyama, aus seiner universalhistorischen Spekulation heraus interventionistische Außenpolitik (und das heißt: Gewalt) zu legitimieren. Denn, wenn der „Zug der Geschichte“ sich ohnehin in Richtung liberale Demokratie bewegt, dann wird der regime change zu einer ernsthaften politischen Handlungsoption, die das historisch Notwendige beschleunigt herbeiführen kann. Auch regionale und kulturelle Eigenheiten sind dann nicht weiter beachtenswert, da diese durch den universellen Prozess der Globalisierung eines Tages relativiert werden würden. Es stellt sich die Frage, ob
17Vgl.
Fukuyama (1992, S. 388). nennt den Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie: vgl. Fukuyama (1992, S. 392). 19Fukuyama (1992, S. 403). 20Vgl. Fukuyama (1992, S. 418–419). 21Fukuyama (1992, S. 421). 18Fukuyama
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Außenpolitik hier nicht ganz offen als „Blitzableiter“ thymotischer Spannungen im Inneren dargestellt wird und ob diese nicht doch wieder Antagonismen – also „Geschichte“ – hervorbringt. Die dritte Sphäre, in der die megalothymischen Leidenschaften kanalisiert und sublimiert würden, sei der Sport. Dabei werde der Wettkampf zum Surrogat für den bewaffneten Kampf. Aber Fukuyama denkt dabei nicht nur an Mannschaftssport, sondern auch an Extremsportarten und verschiedene Versuche, „an seine Grenzen“ (und darüber hinaus) zu gehen.22 Die letzte Sphäre sei der „snobistische Konsum“. Durch Formen des Konsums, die sich immer stärker ausdifferenzierten und immer feiner würden (japanische Teezeremonie, Kaffee- und Cocktailkultur, aber auch: bio und fair trade), werde es dem Verbraucher erlaubt, sich aus der Masse derer abzusetzen, die „bloß konsumieren“23. So bleibe es dabei, dass die liberale Demokratie in ihrer engen, für Fukuyama letztlich unauflöslichen, Verbindung mit der kapitalistischen, globalen Marktwirtschaft und den Menschenrechten den Endpunkt der ideologisch-politischen Entwicklung der Menschheit bildet. Die „transatlantische Achse“ bleibt für Fukuyama Vorbild der Entwicklung der gesamten Menschheit, vor deren Hintergrund Regionalismen, Partikularismen und Traditionalismen zum Anachronismus werden müssen. Dem Christentum ist die Rolle zugestanden, zur historischen Quelle von Isothymie und Menschenrechten zu werden. Letztlich wird das Christentum in die Rede von den Menschenrechten „aufgehoben“, wohingegen die Spielräume für praktizierte Religion kleiner werden und diese an Relevanz für das alltägliche Leben einbüßen wird: Dem letzten Menschen fehlt es gänzlich an „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“.
3 Huntingtons Clash of Civilizations Ein Jahr nach der Veröffentlichung des Buches von Fukuyama erschien die Antwort darauf von Fukuyamas Lehrer, Samuel P. Huntington. Im Kern der Kritik Huntingtons an Fukuyamas These steht der Vorwurf, dieser westliche Triumphalismus sei „misguided, arrogant, false and dangerous“24. Huntingtons Kritik an
22Vgl.
Fukuyama (1992, S. 422). Fukuyama (1992, S. 423). 24Huntington (1996, S. 28). 23Vgl.
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Fukuyamas Optimismus bezieht sich zum einen auf die möglicherweise katastrophalen Folgen eines kulturblinden Interventionismus. Zum anderen beschreibt er Gegenreaktionen auf die globale Verbreitung westlicher Kultur. Huntingtons Ansatz ist wesentlich pessimistischer im Grundton und will so auf eine mögliche Wiederkehr überwunden geglaubter Antagonismen hinweisen. Seine Grundthese lautet, dass die außenpolitischen Antagonismen lediglich in einem anderen Register zurückkehren und keineswegs einfach sukzessive verschwinden. Dabei beschreibt er, wie sich in Europa in Folge des Westfälischen Friedens internationale Konflikte zunächst als Konflikte zwischen Fürsten bzw. Fürstentümern darstellen lassen.25 Nach der Französischen Revolution wurden Konflikte primär als Konflikte zwischen Nationalstaaten und ihren jeweiligen Interessen geführt. Seit der russischen Revolution kämpften Ideologien und Weltanschauungen um die Hegemonie. Nun jedoch, mit dem Ende des Kalten Krieges, werde die Kultur zum bestimmenden Faktor der Außenpolitik. Konflikte, so die These, werden immer stärker als kulturelle Großkonflikte gedeutet, sodass mit außenpolitischen Spannungen vor allem an den Verwerfungslinien von kulturellen Großräumen zu rechnen sei.26 Zwar geht auch Huntington von einer globalen Verbreitung westlicher Kultur, er redet von „Coca-Colonization“27, aus, doch sieht er gerade in dieser Verbreitung die mögliche Basis für einen kulturellen backlash, also für eine aggressive Gegenbewegung und Re-Partikularisierung der Welt, die sich gegen eine drohende Vergleichgültigung kultureller Differenzen zur Wehr setzt.28 So seien es ethnische, religiöse und kulturelle Identitäten, die wieder neu profiliert und so zu einem Mobilisierungsfaktor der Politik würden.29 Gerade der Zug zu einer isothymischen homogenisierten Globalkultur führe zu einer megalothymischen Gegenreaktion. Die politische Anrufung der eigenen Bevölkerung als „Deutsche, Europäer, Christen“, könne in einer Atmosphäre gezügelter kollektiver Leidenschaften und egalisierter Zugehörigkeiten wieder neue Gefühle von Zugehörigkeit und Größe erwecken. Am Beispiel Russlands zeigt Huntington dabei auch auf, wie die Religion wieder zu einem politischen Faktor werden kann, der zur Bestärkung ethnischer
25Vgl.
Huntington (1993, S. 22). Huntington (1993, S. 22–35). 27Huntington (1996, 28–29). 28Huntington (1996, S. 37–41). 29Vgl. Huntington (1993, S. 29). 26Vgl.
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Identitäten dient.30 Es ließe sich so argumentieren, dass der Fundamentalismus nicht etwa die anachronistische Ausnahme der Modernisierung sei, sondern – auf dialektische Weise – von dieser hervorgebracht werde und vielleicht deren „adäquate“ Ausdrucksform darstelle. Huntington schreibt: „In most countries and most religions the people active in fundamentalist movements are young, college-educated, middle-class technicians, professionals and business persons. […] The revival of religion […] provides a basis for identity and commitment that transcends national boundaries and unites civilizations.“31 In dieser Sicht sind also Religionen insbesondere dann erfolgreich, wenn sie zur Re-Sakralisierung kultureller Identitäten beitragen.32 Als gegenläufiges Motiv gegen eine um sich greifende Indifferenz werden hier absolute Differenzen beschworen, die – durchaus im Sinne Carl Schmitts – als exklusive und potenziell antagonistische Differenzen konstruiert werden: „As people define their identity in ethnic and religious terms, they are likely to an ‚us‘ versus ‚them‘ relation existing between themselves and people of different ethnicity or religion.“33 Somit überschneiden sich religiöse Fundamentalismen, kulturelle Fundamentalismen und politische Mobilisierungsformen und gerinnen zu einer neuen partikularistischen Formation. Diese Formation nennt Huntington „Civilizations“, was man am ehesten mit „Kulturkreise“ übersetzen könnte. Er unterscheidet dabei den westlichen Kulturkreis (Kernländer USA, Großbritannien, Deutschland, Frankreich), den slawisch-orthodoxen Kulturkreis (Kernland Rußland), den islamischen Kulturkreis (ohne Kernland), den hinduistischen Kulturkreis (Kernland Indien), den sinischen Kulturkreis (Kernland China), den Südamerikanischen Kulturkreis (ohne Kernland), den afrikanischen Kulturkreis (dessen Existenz als eigener Kulturkreis umstritten ist) und Japan als eigenen Kulturkreis.34 Hier driftet seine Theorie in einen kulturellen Essenzialismus ab, der den kulturellen Großräumen einen eigenen Wesenskern unterstellt. Die Behauptung solcher „Kulturräume“ wird in der Diskussion dieser Thesen zumeist abgelehnt.35 Es ist nicht einleuchtend, warum die Kultur in Marokko, Saudi-Arabien, Iran und Indonesien wirklich Teil eines homogenen Ganzen sein sollte. Die
30Vgl.
Huntington (1993, S. 33). (1993, S. 26). 32Zur These der Resakralisierung vgl. Berghoff (2002). 33Huntington (1993, S. 29). 34Vgl. Huntington (1998, S. 37–61). 35Vgl. Georghio (2014, S. 39). 31Huntington
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Annahme einer großen historischen Kontinuität von Geschichte, Religion und Kultur ist letztlich a-historisch und übersieht wichtige Brüche innerhalb der von Huntington unterstellten Kulturräume. Man kann hier fragen, ob nicht Huntington genau das betreibt, was zu analysieren er vorgibt: die Re-Partikularisierung der Welt entlang vorgeblicher Bruchlinien. Dennoch kann man Huntington nicht vorwerfen, er wolle etwa zum Kulturkampf aufrufen. Vielmehr möchte er vor einem westlichen Triumphalismus warnen, der möglicherweise solche Kulturkämpfe mitproduziert. Auch ein völlig verzeichnetes Weltbild, wie die Annahme von in sich geschlossenen Kulturräumen, kann eigene Wirkungen zeitigen, wenn es zur Grundlage politischen Handelns gemacht wird. Abgesehen von den problematischen kulturellen Essenzialismen in Huntingtons Beschreibung ist ja ein Kern seiner These die Entstehung einer neuen multipolaren Weltordnung und die mögliche Konstruktion dieser Weltordnung entlang imaginierter homogener Kulturräume. Die normative, wenn man so will: politikberatende Ausrichtung seiner Großthese ist nicht der Aufruf zum Kulturkampf, sondern die Kritik am westlichen Interventionismus und des „Exports“ von Demokratie und Menschenrechten. Eine Grundtugend sei nun eine ins außenpolitische gewendete Akzeptanz, die die Existenz von politischen Formationen außerhalb des liberal-demokratischen Dispositivs anerkennt und nicht als solche schon in Frage stellt. Dies gehe einher mit der Tendenz zum Protektionismus, zur Abschottung und zur Kritik an Migration und Multikulturalismus. Dabei nennt Huntington in Bezug auf die USA die Einwanderung aus Lateinamerika und Freihandelsabkommen wie das NAFTA Abkommen, die zu einer gefährlichen Destabilisierung des westlichen Kulturraumes beitragen könnten.36 Die nicht-Einmischung in die Konflikte anderer Kulturkreise gehe einher mit einer Ideologie kulturalistischer Selbsterhaltung: „In a multipolar, multicivilizatory world, the West’s responsibility is to secure its own interest, not to promote those of other peoples nor to attempt to settle conflicts between other people when those conflicts are of little or no consequence to the West. The future of the West depends in large part on the unity of the West.“37 Dabei sei die Einheit des Westens durch eine starke Vorstellung kultureller Homogenität, eine scheinbar bescheidene und selbstbeschränkte Außenpolitik und eine restriktive Einwanderungspolitik zu sichern.38 Aus der Beschreibung
36Vgl.
Huntington (1996, S. 43). (1996, S. 43). 38Vgl. Huntington (1996, S. 45). 37Huntington
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von verschiedenen Formen, in denen außenpolitische Antagonismen ihren Ausdruck finden und die allein schon durch die Art der Darstellung durch Huntington ihre historische Kontingenz verraten,39 wurde nun unversehens die Promotion eines identitär-kulturalistischen Großprojekts. Fremdheit ist hier zementierte, antagonistische und absolute Fremdheit, da sie eine inkommensurable Differenz einander gegenüberstehender Kulturräume bezeichnet. Dabei muss Huntington wichtige Phänomene ausblenden. Erstens ignoriert Huntington die Differenzen innerhalb dieser so genannten Kulturräume. Bezeichnenderweise wird im sogenannten islamischen Kulturraum nicht einmal die Differenz zwischen Sunniten und Shiiten gewürdigt. Differenzen innerhalb einer Gesellschaft, zum Beispiel zwischen großstädtisch geprägten und global vernetzten Mittelschichten und anderen Milieus oder Schichten, werden genauso systematisch ausgeblendet, wie sozio-ökonomische Faktoren verschiedener Konflikte. Zweitens ignoriert Huntington die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturen, hybride Formen der Identitätsbildung und die Überlappung von Kulturen. Drittens ignoriert Huntington die Unzugehörigkeit in der Zugehörigkeit: dass sich selten jemand ganz und gar einer Kultur oder einem Kulturraum zugehörig fühlt und dass Menschen nie ganz aufgehen in einer Zugehörigkeit.40 Kurzum: Huntington vertritt eine Ideologie totaler Zugehörigkeit zu einer sich selbst transparenten, in sich geschlossenen und homogenen Kultur. Religion wird hier zum Mittel der Sakralisierung solcher imaginierten Zugehörigkeit. Religion steht für das sakrale Band, welches ein kollektives Wir zusammenbindet. Sie ist ein Synonym für „kulturelle Wurzeln“, die an sich nicht stark inhaltlich gefüllt sein müssen, sondern gerade durch große Vagheit ihrer Inhalte eine symbolisch-imaginäre Kraft der Verbindung schafft. Man kann von einer politischen Religion sprechen, die gerade darin besteht, dass Religion, politische Macht und kulturelle Identität als ein Komplex erscheinen, der sehr eng zusammengedacht wird. Dem Christentum insbesondere kommt die Aufgabe zu, im „Westen“ Einheit zu stiften, „gute Herrschaft“ zu legitimieren und kulturelle Identität zu sakralisieren.
39Wenn
es so ist, dass internationale Konflikte zunächst entlang von Fürstentümern, Nationalstaaten, Ideologien entstanden, dann folgt daraus, dass die Annahme von Kulturräumen eben vor Ende des Kalten Krieges keine bestimmende Rolle in der außenpolitischen Entwicklung gespielt habe. Das zeigt, dass es sich hierbei um einen Wechsel in der Mobilisierungform handelt, der historisch kontingent ist. 40Vgl. Liebsch (2001, S. 46–54).
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Die transatlantischen Beziehungen sind auch für Huntington zentral. Auch er sieht, ähnlich wie Fukuyama, im Westen eine einmalige historische Konstellation der Freiheit. Doch im Gegensatz zu Fukuyama ist für Huntington der Westen zwar einmalig, aber nicht universal.41 Doch anstatt die Ideen von liberaler Demokratie und Menschenrechten zu exportieren, solle sich der Westen an seine Grenzen erinnern. Es solle seinen Expansionzwang und Ideenexport einstellen und vornehmlich in den Grenzen seines Kulturraumes gegen interne Auflösungstendenzen kämpfen. Es kann für Huntington eine beschränkte Erweiterung des Westens geben, er nennt Slowenien, die Visegrád Staaten und das Baltikum. Jedoch kann diese Erweiterung nicht Länder betreffen, die historisch „primarilly been Muslim or Orthodox.“42 Doch ist die vermeintliche Bescheidenheit und Selbstbegrenzung auch eine Chiffre für einen kollektiven Egoismus, in dem die Leitvorstellung vorherrscht, dass die Kulturkreise in erster Linie sich selbst behaupten sollen, während Menschen unterschiedlicher Kulturkreise einander zunächst nichts angehen.
4 Fukuyama und Huntington als Problemkomplex Mehr als zwanzig Jahre sind seit den Diskussionen zwischen Fukuyama und Huntington vergangen und doch scheinen die beiden Theorien, als „diskursiver Komplex“, erstaunlich gut die Selbstverständnisse gegenwärtiger politischer Kräfte abbilden zu können.43 Dies gelingt besonders dann, wenn man nicht nur die großen metahistorischen Schlagworte „Ende der Geschichte“ und „Kampf der Kulturen“ beachtet, sondern die Dynamik anschaut, die sich zwischen beiden Theorien abspielt. Fukuyama kann als ein Theoretiker der globalisierten Marktwirtschaft verstanden werden, der sehr gut beschreibt, welche Effekte diese haben kann: So scheint die wirtschaftliche Kooperation zum Beispiel durch Freihandel tatsächlich gewalttätige Konflikte zwischen beteiligten Staaten unwahrscheinlicher zu machen. Die homogenisierenden Effekte der globalisierten Welt lassen sich auch nicht ganz von der Hand weisen: Durch interkulturelle Austauschprogramme,
41So
lautet der Titel eines seiner Essays: vgl. Huntington (1996). (1996, S. 45). 43Es lassen sich durchaus Präsidentschaftskanditaten der jüngeren Vergangenheit zum Beispiel in den USA und Frankreich grob einen der beiden Stoßrichtungen zuordnen. 42Huntington
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ökonomische „Joint Ventures“ und technisch gestützte Vernetzung der Welt sind in vielen Ländern stark kosmopolitisch ausgerichtete Milieus entstanden, die untereinander in wesentlichen Fragen zumindest Wege der Verständigung finden können. Und auch wenn es so wirkt, als sei der vermeintliche Siegeszug der liberalen Demokratie zumindest ins Stocken geraten, so bleibt doch auffällig, dass sich die meisten autoritären Regime dennoch dem liberal-demokratischen Idiom bedienen und sich zumeist als Demokraten darstellen. In gewisser Weise war lange Zeit der Komplex aus liberaler Demokratie, Menschenrechten und kapitalistischer Marktwirtschaft, wie ihn Fukuyama beschreibt, als solcher unbestritten und so zu einem unüberschreitbaren Horizont der Politik geworden. Es schien lange klar, dass die Entwicklung zur liberalen Demokratie auf eine Entwicklung hin zu „freien Märkten“ folgen würde. In vielen westlichen Gesellschaften folgte nach dem Ende des Kalten Krieges eine Phase, in der eine neue zentristische Politik44 Hegemonie erlangte, die für eine vermeintlich unideologische, pragmatische Haltung einstand, in der zum Beispiel die Dynamisierung und Flexibilisierung der Gesellschaft, die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Gesellschaften und der isothymisch grundierte Kampf um Anerkennung von Minderheitenrechten im Mittelpunkt stand. Gerade der Erfolg der zentristischen Politik und das Fehlen einer denkbaren Alternative zu Fukuyamas Szenario sprechen letztlich für seine These. Gleichzeitig hatte Huntington bereits als seine Werke erschienen andere Evidenzen auf seiner Seite. So wirkte der Zerfall Jugoslawiens mit den daraus resultierenden ethnischen Säuberungen wie eine frühe Bestätigung seiner Thesen. Die Beispiele ließen sich weiter fortsetzen: Die Terroranschläge vom 11. September lassen sich ebenso sehr mit seinen Hypothesen erklären, wie die Entstehung des gegenwärtigen Hindu-Nationalismus in Indien, die identitär-autokratischen Entwicklungen in den Visegrád Staaten und die Wahl Donald Trumps in den USA. Diese kann als der kulturhistorische Moment verstanden werden, in dem die Welt, wie Huntington sie beschreibt, zu einer wirklichen Möglichkeit in den Kernstaaten der sogenannten westlichen Welt wird. Huntington kann als Denker einer kultu-
44Chantal
Mouffe stellt ausführlich dar, auf welche soziologischen Theorien diese Politik aufbaut (Beck, Giddens). Diese post-ideologische Politik der neuen Mitte („jenseits von rechts und links“) kann für Mouffe politische und soziale Antagonismen aber nur eine Zeit lang unterdrücken, nicht diese final auheben. Sie zeigt dabei anhand des Beispiels Österreichs wie eine solche „Politik der neuen Mitte“ zum Erstarken des Rechtspopulismus beigetragen hat: vgl. Mouffe (2007, S. 48–117).
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ralistischen und identitären Wende verstanden werden, der eher die Abschottung, Protektionismus und die Pflege sogenannter kultureller Wurzeln im Blick hat. Wenn es so ist, dass beide Theorien, von ihrer metahistorischen Hyperbolik abgesehen, gewisse Evidenzen auf ihrer Seite haben, dann stellt sich die Frage, ob und wie beide Theorien zusammenhängen. Die These, die hier vertreten wird, ist, dass die Welt, wie Huntington sie beschreibt, zumindest teilweise ein Produkt der Widersprüche der Welt ist, wie Fukuyama sie beschreibt. Dies lässt sich auch textimmanent bei beiden Denkern erhärten. So beschreibt Fukuyama selbst die disruptiven Tendenzen der westlichen Modernisierung als Auflösung von traditionalen, religiösen, sozialen und kulturellen Bindung mit der Hoffnung auf Emanzipation des freien Individuums.45 Gleichzeitig beschreibt Huntington die Re-Partikularisierung der Welt als „Cultural Backlash“, damit ist eine Gegenreaktion gegen die Ausbreitung westlicher Wertvorstellungen inklusive deren potenziell disruptiven Wirkungen auf die Lebensgewohnheiten vor Ort gemeint.46 Huntington wirkt hier als der „dialektischere“ Denker, da er die Gegenbewegungen gegen die Globalisierung mit in Betracht zieht. Die globalisierte Marktwirtschaft rufe identitäre Gegenbewegungen mit hervor. Wenn das eine zutreffende Beschreibung der Prozesse darstellt, dann handelt es sich bei diesem backlash nicht um eine einfache Rückbesinnung auf kulturelle Werte, die „immer schon vorherrschend“ waren, sondern um eine „schöpferische Reaktion“, die das mit erschafft, worauf sie sich zurückzubesinnen meint. Es handelt sich nicht um eine fugenlose Anknüpfung an eine kontinuierlich verlaufende Kulturgeschichte, sondern um eine kreative Antwort auf disruptive Tendenzen der Gegenwart. Die Unterstellung kultureller Kontinuität in homogenen Kulturräumen hat wenig mit den Tatsachen der Vergangenheit zu tun und bezeichnet viel mehr ein Bedürfnis der Gegenwart, welches als Antwort auf Auflösungstendenzen von sozialen Sicherheiten und Formen der Zugehörigkeit entsteht. Fukuyama selbst erwähnt die Widersprüche, die sich in einer Welt „am Ende der Geschichte“ ergeben. So gibt es in einer Welt, die gleichzeitig egalitär und dynamisch sein soll, „unvermeidlich Gewinner und Verlierer“47. Trotz der Absicherung durch die Grund- und Menschenrechte bleiben in Fukuyamas Entwurf ökonomische Ungleichheiten, die auch zu ungleicher Anerkennung des Einzel-
45Vgl.
Georghio (2014, S. 42). Huntington (1996, S. 37). 47Fukuyama (1992, S. 387). 46Vgl.
34
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nen führen.48 Dennoch rechnet er damit, dass der Mittelstand der integrierende Faktor für diese Ungleichheiten und das Versprechen von Aufstieg (z. B. durch Bildung) ungebrochen bestehen bleibt.49 Nun beschreibt der deutsche Soziologe Heinz Bude aber gerade, wie es durch die Liberalisierung und Deregulierung der Arbeitsmärkte zu einer Spaltung der Mittelschicht kommt, die zu einer Statuspanik führt.50 Aus einer Gesellschaft des Versprechens (auf Aufstieg) sei eine Gesellschaft der subtilen Ängste (vor gesellschaftlichem Abstieg) geworden. Mit der Spaltung der Mittelschicht ist aber auch eine Trägerschicht der Ideen der liberalen Demokratie geschwächt, die für Fukuyamas Thesen entscheidende Bedeutung hat. Gleichzeitig hat Fukuyama mit dem Thema des Thymos einen zentralen Punkt benannt, der für das Verständnis der Gegenwart bedeutsam sein kann.51 Fukuyama beschreibt ja sowohl das leidenschaftliche Begehren nach gleicher Anerkennung (Isothymie) als auch das Begehren danach, sich aus der Masse der Menschen zu erheben und sein Leben an einen übergreifenden Wert zu hängen (Megalothymie). Er schreibt: In dem Maße, wie die liberale Demokratie die Megalothymia aus dem Leben verbannt und sie durch rationalen Konsum ersetzt, werden aus uns ‚letzte Menschen‘. Doch die Menschen werden sich dagegen wehren, sie werden dagegen aufbegehren, undifferenzierte Mitglieder eines universalen, homogenen Staates zu sein, die überall auf dem Globus gleich sind. Sie wollen lieber Staatsbürger sein als bourgeois, denn sie finden die herrenlose Knechtschaft, das Leben in rationalem Konsum letzten Endes langweilig. Sie wollen Ideale, für die sie leben und sterben können. […] Diesen Widerspruch hat die liberale Demokratie noch nicht gelöst.52
So ist es dieser psychosoziale Widerspruch, der neben den disruptiven Kräften der Globalisierung eine Stimmung schafft, die den Bodensatz für eine identitäre Wende etwa im Sinne Huntingtons bildet. Der Widerspruch zwischen Fukuyama und Huntington ist nicht nur ein metahistorischer Widerstreit zwischen zwei
48Vgl.
Fukuyama (1992, S. 387). Fukuyama (1992, S. 387–388). 50Vgl. Bude (2014, S. 60–83). 51So ist es kein Zufall, dass mit Marc Jongen ein AfD-naher Philosoph zentral auf das Konzept des Thymos zurückgreift. Bei der rechtsextremen identitären Bewegung auf dem Rittergut Schnellroda hielt er einen entsprechenden Vortrag, der übertitelt ist mit „Migration und Thymostraining“: vgl. Jongen (2017). 52Fukuyama (1992, S. 416). Kursiv im Orginal. 49Vgl.
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Gelehrten über die Form künftiger internationaler Beziehungen, sondern er findet sich als „realer Widerspruch“ in den global vernetzten Gesellschaft wieder. Beide Theorien bilden nicht so sehr zwei Endes eines Kontinuums, sondern sind vielmehr zwei Seiten eines Problemkomplexes. Dieser Problemkomplex ist äußerst gefährlich für die internationalen Beziehungen und für den Fortbestand liberaler Demokratien. Denn die kaum noch kontrollierbar scheinende Eskalation innenpolitischer und außenpolitischer Spannungen kann zur Aushöhlung demokratischer Grundbestände und zum Kollaps multilateraler und internationaler Institutionen führen. Für kirchliches Handeln und theologische Reflexion stellt sich die Frage, wie diese sich in der so verstandenen Gegenwart mit ihren Spannungen und Widersprüchen positionieren sollen. Zwei Möglichkeiten werden von den Autoren jeweils selbst angedeutet. Fukuyama zeichnet das Christentum als eine der Wurzeln des isothymischen Strebens nach gleicher Würde aller bei gleichzeitiger Wahrung der Freiheit eines jeden in die liberale Demokratie westlichen Typs ein. Das Christentum wird als Faktor der Universalisierung begriffen.53 Fukuyama schreibt: Der Beitrag des Christentums zum historischen Prozeß bestand darin, daß es dem Knecht diese Vision der menschlichen Freiheit eingab und ihm zeigte, in welchem Sinne alle Menschen Würde besitzen. Der christliche Gott anerkennt alle Menschen, anerkennt ihren individuellen Wert und ihre individuelle Würde. Das Himmelreich ist demnach die Aussicht auf eine Welt, in der die Isothymia jedes Menschen – jedoch nicht die Megalothymia der Ruhmsüchtigen – befriedigt werden wird.54
Dennoch muss für Fukuyama die christliche Freiheitsvorstellung säkularisisiert und „ins Hier und Jetzt“ übersetzt werden. Denn das christliche Freiheitsethos ist noch ein „entfremdetes“, solange der Mensch noch einen Gott annehmen muss, der den Menschen befreit. Erst die selbsttätige Befreiung des Menschen, welche durch das Begehren nach Anerkennung in Gang gesetzt wird, kann das „Ende der Geschichte“ herbeiführen.55 Somit bleibt dem Christentum der Platz zugewiesen, eine historische Quelle für ein universales, „isothymisches“ Ethos zu sein, dass sich aber von diesen Wurzeln emanzipiert habe. Konkret hieße das, dass das Christentum aufs Engste mit dem „Westen“ zusammengedacht wird und
53Vgl.
Fukuyama (1992, S. 271 f.). (1992, S. 273). 55Vgl. Fukuyama (1992, S. 273–275). 54Fukuyama
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in der liberalen, universalen Kultur des Westens aufgehoben wird. Wenn es noch praktiziert wird, dann bleibt dem Christentum nur die Möglichkeit, eine gemäßigte Frömmigkeit auszuüben, die es vor allen Dingen „nicht übertreiben“ solle. Oder es wird aufgehoben in den Einsatz für Menschenrechte und das Engagement für Demokratie. Im Prinzip stimmt auch Huntington mit der historischen These vom Christentum als Wurzel des Westens überein. Das westliche Christentum sei sogar „the single most important historical characteristic of Western Civilization.“56 Das (westliche) Christentum wird so zum identity marker des westlichen Kulturkreises. Ihm kommt die (bleibende?) Rolle zu, westliche Werte zu pflegen und zu vermitteln. Es dient als Speicher und als legitimierende Instanz westlicher Wertvorstellungen. Kurzum: Im Gefolge von Huntington könnte das Christentum eine identitätsstiftende Funktion bekommen. Es dient so als sakraler Überbau kultureller Identität und stützt dabei das Zusammengehörigkeitsgefühl. Außerdem dient es dem megalothymischen Streben danach, sein Leben ganz und gar einer Sache hinzugeben. So wird das Christentum zu einer Metapher für das „Eigene“, das es zu bewahren und nötigenfalls zu verteidigen gelte. Das Christentum rückt so noch näher an die Schaltzentralen der Macht heran. Man denke an die befremdlichen Bilder aus dem weißen Haus, die zeigten, wie religiöse Führer aus verschiedenen christlichen Denominationen (unter anderen Kenneth Copeland, Franklin Graham, Paula White, Robert Jeffres) Präsident Trump die Hände segnend auflegen und seine Präsidentschaft als Gebetserhörung bezeichnen.57 Ähnliche Tendenzen gibt es in der russischen Orthodoxie, die unter Putin staatsnäher geworden ist und den Kampf gegen den Westen geistlich-moralisch unterstützt.58 In Deutschland hat der neurechte Verleger Götz Kubitschek in einem Briefwechsel mit dem Soziologen Claus Leggewie in aller wünschenswerten Deutlichkeit zu seiner Sicht vom Christentum Stellung genommen. Er spricht davon, dass selbst die atheistischen Teilnehmer von PEGIDA „historisch christlich eingebettet“ seien und im „Großen und Ganzen innerhalb eines christlich durchwirkten Kulturraums“ handelten.59 Er wünsche sich dabei, dass die neurechte Bewegung sich stärker zum Christentum bekenne, denn „(w)ahrhaft christlich bekäme die Verteidigung des Abendlandes eine ganz andere geistige Wucht,
56Huntington
(1996, S. 30). Wilonski (2015). 58Vgl. Willems (2016). 59Kubitschek (2017). 57Vgl.
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eine selbstsichere Identität.“60 Dabei unterscheidet er das Christentum in seiner heutigen, „schwächelnden Form“ vom „historischen Christentum“, welches sich durch eine „selbstbewußte, auch historisch gespeiste und gedeckte Verteidigungsund sogar Durchsetzungsbereitschaft“ auszeichne. Kubitschek schreibt weiter: „Über Jahrhunderte waren Christen bereit, sich mit Kreuz und Schwert einfallenden Invasoren entgegenzustellen und christliches Land zu verteidigen – mithin die Grundvoraussetzung für die Entfaltung christlichen Lebens und weiterer Mission.“61 Hier zeigt sich die Gefährlichkeit eines identitären Christentums, welches schlicht einer spezifischen, hier: abendländischen Identität, eine sakrale Weihe geben soll und sich ansonsten durch eine vage Wiederverzauberung der Welt auszeichnet. Letztlich dient eine solche Bezugnahme auf das Christentum dazu, die Waffen eines Kulturkampfes zu segnen. Doch auch die Vermählung des Christentums mit dem „Projekt der Moderne“ und der Welt Fukuyamas scheint noch Teil des genannten Problemfeldes zu sein. Auch ein sich als gemäßigt verstehendes Christentum kann Teil dieses Problemkomplexes sein, wenn es die kritische Distanz zur umgebenden Kultur verliert. Letztlich sind beide Versuche der Verortung des Christentums identitär. Sie dienen der Absicherung und Legitimierung von einer – entweder westlich-universalen oder westlich-partikularen – Identität. Als solche sind sie Verzweckungen des Christentums. Wenn nun Christentum etwa im Sinne einer post-Barthschen Theologie nicht zuerst im Register der kulturellen Identität verstanden würde, wie ließe sich dann das Verhältnis zu kulturellen, sozialen und anderen Zugehörigkeiten verstehen? Wie sähe ein Christentum aus, welches nicht einfach zur Legitimationsinstanz einer spezifischen Identität würde? Dazu soll zunächst kurz skizziert werden, wie theologisch von Identität geredet werden kann. Dann soll auf das Werk von Miroslav Volf verwiesen werden, der sich der Frage widmet, welchen Bezug das Christentum zu den verschiedenen Zugehörigkeiten haben kann.
60Ebd. 61Ebd.
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5 Extra Nos: Kulturelle und Theologische Identität Die Sprache von Identität und Authentizität scheint in Bezug auf die Religion ein spezifisch neuzeitliches Gepräge zu haben. Je weniger die aktive Teilhabe an Religion zu einer kulturellen Selbstverständlichkeit gehört, desto mehr wird sie Sache der „eigenen authentischen Entscheidung“ oder der eigenen Identität. Es scheint einen spezifischen Zusammenhang zu geben von Modernisierungsprozessen zum Aufkommen der Frage nach Identität.62 Die Ausdehnung der Rede von Identität und Authentizität auf kulturelle und kollektive Gebilde, wie Religion, Volk, Nation, scheint sich im Zuge der Romantik verbreitet zu haben.63 Ingolf Dalferth macht auf die Probleme dieser engen Verbindung von Identität und Religion aufmerksam: „Doch der Preis dieses Identifikationsdrucks ist hoch. Wenn es um Authentizität und die eigene Identität geht, wird selbst Beiläufiges zum Wesentlichen. Nichts kann zur Verhandlung gestellt, alles muss verteidigt werden: Bilder in der Kirche, Kreuze auf Bergspitzen oder in Gerichtssälen, Feiertage, kultische Gewänder, lateinische Messen, Beschneidungsrituale und Ganzkörperschleier. Immer geht es um alles und stets steht man selbst auf dem Spiel. Zwischen Sache und Person wird nicht mehr unterschieden.“64 Mit einer gewissen ikonoklastischen Stoßrichtung relativiert Dalferth nun diese identitären Tendenzen, indem er betont, dass die theologische Leitdifferenz nicht in der bereichlogischen Aufteilung der Welt in einen besonders sakralen Bereich (Religion oder von der eigenen Religion geprägte Kultur) und einem profanen Bereich (Welt oder andere Kulturen) besteht, sondern in der theologischen Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf.65 Weder die Tradierung eines universalistischen Erbes, welches durch die Zeit hindurch mit sich selbst identisch bleiben muss, noch die Bewahrung eines irgendwie gearteten partikularen ethnischen Geheimnisses seien theologisch entscheidend, sondern die göttliche Weltzuwendung in Jesus Christus, von der spezifische religiöse oder kulturelle Identitäten lediglich Zeugnis ablegen könnten. So ist zwar das Christentum ganz sicher auch als eine ganz profane kulturelle Identität, mit ihren Tendenzen zur Abgrenzung, zur Profilschärfung und ihrem Zug zur identitären Vereindeutigung, zu verstehen. Doch davon ist die „Sache des
62Vgl.
Dalferth (2015, S. 7). Taylor (1994, S. 639–683). 64Dalferth (2015, S. 7). 65Vgl. Dalferth (2015, S. 27–28). 63Vgl.
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Christentums“ zu unterscheiden, weil diese „extra nos“, außerhalb des Zugriffsbereiches menschlicher Identitätspflege bestehe. Der christliche Glaube bezieht sich auf das Ereignis der Zuwendung Gottes in Jesus Christus, die allen gelte und die in verschiedenen Kulturen, Milieus, geschlechtlichen Identitäten oder anderen Selbstverständnissen Ereignis werden könne.66 So betont Dalferth, dass der Glaube nicht einfach eine Frage der kulturellen Zugehörigkeit sei, wenn er auch im Rahmen einer solchen auftritt. Der Glaube ist für ihn ein Modus, in dem sich verschiedene Identitäten vollziehen: Es sei nicht so, dass man Glauben im Rahmen der Teilhabe an einer kulturellen Identität hat, sondern, dass man seine spezifische kulturelle Identität glaubend lebt (nämlich im Bezogensein auf Gott, in der Hinwendung zum Nächsten und in der Offenheit für die Zukunft).67 So ist die ängstliche „Sorge um den Unterschied“, die Absicherung von Identitäten und das Klammern an individuelle Selbstbilder gerade keine Sache des Glaubens, sondern des Unglaubens: „Wer sein Leben behalten will, wird es verlieren“ (Mt 16,25). Der Wunsch nach unverlierbarer Identität verhindere es gerade, sein Leben als unvordenkliche Gabe zu verstehen, die von außen kommt und die man als solche nicht in der Hand hat. Das Verständnis des Lebens als Gabe sei aber selbst Gabe und gehe somit nicht einfach in einer kulturellen Prägung oder der eigenen Wahl auf. Diese Gabe führe zur Unterbrechung und Dislozierung des Glaubenden, der gerade nicht mehr bruchlos Teil einer kontinuierlichen kulturellen Geschichte sei, sondern neu ausgerichtet werde.68 Die Neuausrichtung des Lebens im Lichte der Zuwendung Gottes sorgt bei Dalferth dafür, dass man Gott anders versteht (als Schöpfer bzw. Erlöser), dass man sich selbst anders versteht (als Geschöpf), dass man andere anders versteht (als Mitgeschöpf) und die Welt anders versteht (als Schöpfung).69 Dieses „hermeneutische Als“ des Glaubens, wie Dalferth es beschreibt, zeigt aber an, dass es beim christlichen Glauben um einen Modus der Bezogenheit auf andere und anderes geht. Christliches Sein ist als solches Bezogensein. Das heißt: Ein genuin theologisches Verständnis christlicher Identität beschreibt diese nicht als eine Sache, derer man sich habhaft machen kann. Sie ist dann keine Zugehörigkeit im Sinne eines Besitzes oder eines besonderen Bereichs der Welt. Sie ist vielmehr relational und exzentrisch. Als exzentrische, also dem aneignenden Zugriff Entzogene, steht sie in Verbindung mit dem Phä-
66Vgl.
Dalferth (2015, S. 82–91). Dalferth (2015, S. 166–169). 68Vgl. Dalferth (2015, S. 147–153). 69Vgl. Dalferth (2015, S. 152). 67Vgl.
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nomen der Selbstfremdheit. Christliche Identität, wenn sie theologisch verstanden wird, ist kein psychologisches, kulturelles oder soziales Merkmal des Menschen, sondern das Ereignis der Identifizierung Gottes mit dem Gottlosen.70 Somit ist sie sowohl „fremd“ (im Sinne von: nicht Teil des „immer schon Eigenen“) als auch befremdlich (da man auch auf heilsame Weise von sich und vom „immer schon Bekannten“ entfremdet wird). Eberhard Jüngel nennt dies den entsichernden Charakter des Glaubens, in dem die identitären Versuche, sich selbst nahe zu sein, überboten werden durch den Gott, der einen näher kommt als man sich selbst nahe ist. Prägnant bringt er dies auf die Formel: „Nur wer sich selbst verläßt, wird zu sich selbst kommen“71. Christlicher Glauben kann sich in verschiedenen kulturellen Kontexten ereignen und es ist dabei nicht von vornherein klar, welche Konturen die daraus entstehenden Identitäten haben werden. Somit relativiert die theologische „Identität“ (verstanden als relationales Ereignis, nicht als substanzhafter Besitz) kulturelle Identitäten: „Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau. Denn ihr seid alle eins in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Damit ist selbstverständlich keine Auflösung von kulturellen, sozialen, geschlechtlichen oder religiösen Identitäten gemeint, der biblische Text ist ja schließlich selbst Produkt von kulturell beschreibbaren Aushandlungsprozessen. Vielmehr geht es darum, dass im Lichte des Christusereignisses die absolute und ungeteilte Zugehörigkeit zu bestimmten Identitätsformationen in Frage gestellt und gelockert wird.72 Diese Identitäten werden „soteriologisch relativiert“, das heißt zum einen: sie verlieren ihre absolute Bedeutsamkeit für das Heil des Menschen, zum anderen werden sie geöffnet für andere und anderes. Diese Identitäten werden mobilisiert und Teil einer transpartikularisierenden Bewegung. Damit ist ein weiterer Zug christlicher Identität benannt: Christliche Identität ist „Identität auf dem Weg“, sie ist dynamisch und letztlich: missionarisch. So wie christliche Identität „anderswo“ herkommt, so ist sie auch auf anderes und andere
70Vgl.
Moltmann (1972, S. 23). (2010, S. 244). 72Die dahinter stehenden Logik des Ereignisses hat der atheistische Philosoph Alain Badiou versucht, formal herauszuarbeiten in der Auseinandersetzung mit Paulus. Dort findet er einen nicht-identitären Universalismus, der sich aus einem Ereignis heraus speist, dass nicht Teil von Identitäten wird, sondern diese öffnet und relativiert: „Im Hinblick darauf, was uns geschehen ist, sind die Differenzen indifferent. […] [W]orauf es ankommt, ist, dass die Differenzen das Universale, das ihnen geschieht, wie eine Gnade tragen.“: Badiou (2002, S. 130) (Kursivdruck im Original). 71Jüngel
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bezogen. Theo Sundermeier schreibt in diesem Sinne: „Das ‚Außen‘ der Identität evangelischer Mission meint ihre Relationalität. Die Mission kann nicht anders, als sich auf den anderen, den Fremden zu beziehen. […] Sie hat außerhalb ihrer selbst ihren Ursprung, in der innertrinitarischen Beziehung und Sendung Gottes, und ist auf den anderen, fremden Menschen bezogen.“73 Gerade der missionarische Charakter christlich-theologischer Identität, wie auch immer dieser im Detail zu bestimmen ist, bewahrt das Christentum vor einem Rückfall in tribale Strukturen. Da im Christentum etwas bezeugt wird, das allen Menschen gilt, kann es sich nicht einfach nur mit der partikularen Pflege der eigenen Identität und der selbstzufriedenen Abschließung nach außen begnügen. Jedoch ist Mission nicht zu verwechseln mit einem universal-kolonialen Expansionsdrang, in dem das Eigene als Universales weitergetragen wird bis es auch die „Enden der Erde“ in sich einverleibt. Mission ist ein „Gang in die Fremde“, der auch jeweils zur Verfremdung und Veränderung des Eigenen führen kann.74 Mission ist nicht einfach Proselytentum, welches zu „vollen Kirchenbänken“ führen soll, sondern das Zeugnis der Kirche für die Sendung Gottes in die Welt. Dieses Zeugnis hilft dabei, dass die Kirche selbst ihre Dynamik und Vitalität bewahrt, indem es die Kirchen bezogen sein lässt auf das, was nicht Kirche ist: das kommende Reich Gottes. Somit ist christliche Identität nie ganz mit ihrem kulturellen Ort in Deckung zu bringen: Es gibt eine Unruhe, die das Christentum jeweils über sich hinaustreibt. Erst wo die schöpferische Unruhe christlicher Identitätsbildung zum Erliegen gekommen ist, festigt es sich und erstarrt zu einer identitären Religion. Oder das Christentum wird musealisiert und paternalistisch zu einer „wichtigen Wurzel“ der westlichen Welt degradiert. Die Unterscheidung zwischen der kulturellen Identität des Christentums, welcher die gleichen exklusiven Tendenzen zu eigen sind, wie anderen kollektiven Identitäten, und der theologischen Identität, die exzentrisch, relational und missionarisch ist, führt zu einer Sicht, in der das Christentum weder völlig in der Welt Fukuyamas, noch in der Welt Huntingtons beheimatet ist.75
73Sundermeier
(2002, S. 5). Sundermeier (2002, S. 6). 75Daneben zeigt sich die wichtige Dezentrierung des Christentums weg von der transatlantischen Achse hin zu Ländern wie China, Südkorea und Nigeria, in denen das Christentum gerade eine starke Eigendynamik entfaltet. Selbst für den vermeintlich „westlichen“ Protestantismus gilt: Sein Zentrum ist nicht mehr fraglos im „Westen“ zu verorten. Für einen Einblick für die außereuropäische Gestalt des ursprünglich europäischen Christentums vgl. Nüssel und Großhans (2017). 74Vgl.
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Doch wie genau lässt sich der Bezug zwischen dieser theologischen Identität und den sozialen und kulturellen Zugehörigkeiten denken? Hierfür soll Miroslav Volfs Begriff der internen Differenz zur Darstellung kommen.
6 Miroslav Volfs Theologie der „internen Differenz“ Miroslav Volf ist ein kroatisch-amerikanischer Theologe, der seine (bisherigen) Hauptwerke auch in den 1990er Jahren verfasst hat. Diese stellen eine theologische Auseinandersetzung mit den Identitätspolitiken, den ethnischen Säuberungen und den kulturellen Konflikten der frühen 1990er Jahre dar und versuchen, diesen eine Theologie der Feindesliebe und der Öffnung für Andere entgegenzustellen. Volfs theologische Reflexionen kultureller Zugehörigkeit kann als eine Theorie des Christentums als kreativer Minorität verstanden werden.76 Dieses sieht christliche Gemeinschaften weder als staatstragende und kulturnahe „Kirche“, noch als separatistische und kulturferne „Sekte“.77 Er bejaht den christlichen Auftrag zur Verantwortung für die Welt und zur Sorge für das Allgemeinwohl, betone mit Blick auf Tendenzen der Säkularisierung und Pluralisierung jedoch, dass zukünftig „Christen diesen Einfluss wahrscheinlich […] weniger vom Zentrum der Macht her ausüben als von den Rändern der Gesellschaft“.78 Volf spricht von den Tendenzen der Verstrickung („complicity“) der Kirchen in die Gewaltgeschichte der sie umgebenden Kultur. Dabei lasse sich sowohl an Formen der Gewalt im Rahmen der Missionsgeschichte denken, in der die eigene Kultur „exportiert“ wurde, als auch an eine Gewalt, die in der Legitimierung ethnischer Gewalt durch Sakralisierung kultureller Identitäten bestehe.79 Durch diese Sakralisierung ethnischer oder kultureller Identitäten neigten Kirchen dazu, unkritisch das Abgrenzungsverhalten bestimmter kollektiver Identitäten zu übernehmen: Man bleibe Gefangener seiner Kultur. Volf fragt deshalb: What we should turn away from seems clear: it is captivity to our own culture, coupled so often with blind self-righteousness. But what should we turn to? How should we live as Christian communities today faced with the ‚new tribalism‘ that
76So
beschreibt auch Arne Rasmusson den Versuch, christliche Präsenz in der Gesellschaft zu denken, die weder dem Typus „Kirche“ noch dem Typus „Sekte“ entspricht und sich so aus der engen Verzahnung mit den Nationalstaaten löst: Vgl. Rasmusson (2012). 77Vgl. Volf (2015, S. 134). 78Volf (2015, S. 130). 79Vgl. Volf (1996, S. 37).
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is fracturing our societies, separating peoples and cultural groups, and formenting vicious conflicts? What should be the relation of the churches to the cultures they inhabit? The answer lies, I propose, in cultivating the proper relation between distance from cultures and belonging to it.“80 Um den Umgang mit Zugehörigkeit und Distanz zu veranschaulichen, wendet sich Volf der Erzählung von Abrahams Berufung (Gen 12) zu. Hier werde von einem Bruch in den Systemen lokaler Zugehörigkeiten und Loyalitäten erzählt: Geh aus Deines Vaters Land! Darin sieht Volf im Anschluss an Jacob Neusner einen Umbruch in dem System der kulturellen und familiären Loyalitäten im Namen des einen Gottes.81 Dies stellt einen Aufbruch aus der vertrauten Umgebung und einen Abbruch von Kontinuität in einem ethnisch-kulturellen Sinne dar. Doch betont Volf auch, dass dieser Aufbruch aus lokalen Loyalitäten in der christlichen Deutung dieser Geschichte nicht einfach in der Schaffung einer neuen „kosmopolitischen“ Identität noch in einer Flucht in eine „christliche Gegenwelt bestehen könne.82 Denn so bestünde das Christentum nur in der Differenz von einer Kultur und nähme so selbst wieder identitäre Züge an. Außerdem geriete es in die Situation einer unfruchtbaren „counter-dependence“, einer Logik der Gegensetzung. Miroslav Volf formuliert dies so: Both distance and belonging are essential. Belonging without distance destroys: I affirm my exclusive identity as Croatian and want either to shape everyone in my own image or eliminate them from my world. But distance without belonging isolates: I deny my identity as a Croatian and draw back from my own culture. But more often than not, I become trapped in the snares of counter-dependence. I deny my Croatian identity only to affirm even more forcefully my identity as a member of this or that anti-Croatian sect.83
Volf beschreibt also eine Form der distanzierten Zugehörigkeit bzw. der „internen“ Differenz im Zeichen der Geschichte des Gekreuzigten Gottes. Der Aufbruch, den Volf im Blick auf Abraham beschreibt, ist ein Aufbruch innerhalb einer Kultur. Die Distanz von der Volf spricht, ist eine eschatologisch orientierte Distanz: Sie geschieht im Hinblick auf Gottes Verheißung und Zukunft: „There
80Volf
(1996, S. 37). (1996, S. 39). 82Volf (1996, S. 47). 83Volf (1996, S. 50). 81Volf
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is a reality that is more important than the culture to which we belong.“84 Dieser Bruch mit den Loyalitätsforderungen der eigenen Kultur geschieht für Volf, um Raum für Gott und den Anderen zu machen: „When God comes God bring a whole new world. The Spirit of God breaks through the self-enclosed worlds we inhabit […]. The distance from my own culture that results from being born by the Spirit creates a fissure in me through which others can come in.“85 Gleichzeitig beinhalte die Distanznahme von den eigenen kulturellen Zugehörigkeiten eine Kritik an den zerstörerischen und exklusiven Tendenzen in allen Kulturen.86 Insbesondere gehe es um einen Bruch mit exklusiven Loyalitätsforderungen in Bezug auf Nation, Familie, Ökonomie und – vielleicht auch – Religion. Die Frage der Zugehörigkeit spitzt sich also auf die Frage der Loyalität zu. Gerade dann, wenn es starke und exklusive Loyalitätsforderungen gibt, betont Volf die kritische Distanznahme. Die interne Differenz (besser: Formen der internen Differenzierung), die Volf beschreibt, ist also eine eschatologische, eine geburtliche Differenz (Hannah Arendt), die in der Zeugenschaft für die Ankunft des Neuen begründet liegt.87 Wie die Ankunft eines Kindes unhintergehbar Neues in die Welt bringt und auch mit einem gewissen Irritationspotenzial einhergeht, so ist die christliche Gemeinschaft für Volf eine Gemeinschaft, welche die Ankunft des irritierend Neuen bezeugt. Die Fremdheit ist insofern keine nostalgische Fremdheit, die sich vor allem ein goldene Zeitalter zurücksehnt, sondern eine „utopische“ Fremdheit, die das Neue inmitten des Alten bezeugt. Volf veranschaulicht dies am Beispiel einer Ethik der Gewaltlosigkeit und der Feindesliebe.88 Mit Röm 12,1 ließe sich von einer non-konformen Erneuerung des Denkens sprechen, welches zu einer neuen Sicht auf die Welt und einem neuen Dasein in der Welt führe. Man kann sagen, dass diese geburtliche, eschatologische Fremdheit ausgehalten werden müsse, indem man sie vor zwei Tendenzen bewahrt: der Tendenz zur Minimierung der Fremdheit und der Tendenz zur Expansion oder Selbststeigerung der Fremdheit. In der Minimierung geht es darum, die eigene Selbstfremdheit aufzulösen, indem man sich an hegemoniale Muster der Wahrnehmung der Welt anpasst und so jede Form der „kognitiven Dissonanz“ ausschließt: Das Neue wird an das Alte ange-
84Ebd. 85Volf
(1996, S. 51). (1996, S. 52). 87Volf (1994, S. 22). 88Volf (1994, S. 21). 86Vgl. Volf
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passt, das Außerordentliche geht in den Ordnungen der Welt auf und unter oder diese Fremdheit wird in einem Raum des Privaten abgeschlossen. Hier würden die kritischen Potenziale christlichen Zeugnisses verloren gehen. Bei der Maximierung von Fremdheit geht es um die Ausdehnung des Neuen. Die eigenen Muster der Wahrnehmung der Welt werden in „kolonialer Weise“ exportiert und sollen alles Fremdartige assimilieren oder erobern. Hier gibt es eine Tendenz zur theokratischen Überformung der Kultur. Da jedoch christliche Identität entzogen sei, müsse sie in der sozialen Welt weder verteidigt noch aggressiv ausgebreitet werden.89 Daraus folgt, dass sie gerade nicht im Sinne einer aggressiven Selbstbehauptung gegen „Verunreinigung“ geschützt werden muss. Sie kann also den anderen sein lassen. Diese kritische und solidarische Form der distanzierten Zugehörigkeit führt für Volf gerade zu einer Aufgeschlossenheit anderen gegenüber, ohne aber die gewaltsamen Potenziale in jeder Kultur zu leugnen. Volf bilanziert, dass diese Art des Aufbruchs mit der damit verbundenen Negativität notwendig ist, um Neues in die Welt zu bringen und Widerstand zu üben: „Without departure, no such new beginnings would have been possible. Novelty, resistance, and history, all demand transcendence“90. Die Ansätze von Volf und Dalferth sind sicherlich beide nicht ohne Probleme, die eigens detailliert zu erörtern wären, dennoch zeigen beide Wege auf, die Opposition der „Fukuyama-Welt“ und der „Huntington-Welt“ kreativ zu unterlaufen. Denn auch wenn das christliche Zeugnis in den kulturellen Identitäten, die man mit dem Westen in Verbindung bringt, Spuren hinterlassen hat, so ist doch die Sache des Westens nicht mit der Sache Jesu Christi zu verwechseln. Nur in einer Haltung der kritischen Solidarität und einer „internen Differenz“ können die Kirchen Europas die Freiheit des christlichen Zeugnisses bewahren und den säkularen optimistischen oder apokalyptischen Eschatologien vom „Ende der Geschichte“ oder dem „Kampf der Kulturen“ das Zeugnis vom Reich Gottes entgegensetzen.
89Volf 90Volf
(1994, S. 24). (1996, S. 42).
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Anerkennung, Identität und radikale Alterität. Politik der Differenz vs. Anerkennung im Zeichen radikaler Alterität Patrick Ebert Jedes ist dem Anderen die Mitte, durch welche jedes sich mit sich selbst vermittelt und zusammenschließt, und jedes sich und dem Anderen unmittelbares für sich seiendes Wesen, welches zugleich nur durch diese Vermittlung so für sich ist. Sie anerkennen sich als gegenseitig sich anerkennend. Hegel (1983, S. 147)
Zusammenfassung
Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem sozialphilosophischen Zusammenhang von Anerkennung und Andersheit. So ist es für eine sozialphilosophische Konzeption von entscheidender Bedeutung, welcher Begriff vom ‚Anderen‘ oder von Andersheit zugrunde gelegt wird. Am Beispiel des derzeit in der Sozialphilosophie häufig verwendeten Begriffs der Anerkennung soll dies erläutert werden. Die These des Beitrags ist, dass die paradigmatischen Anerkennungstheorien (Taylor, Honneth, Butler, Ricœur), die die Andersheit lediglich unter dem Aspekt des spezifischen, relativen Anderen, der sich in bestimmter Hinsicht unterscheidet, betrachten, dahin gehend defizitär sind, als sie den Anderen, wie er besonders bei Denkern wie Emmanuel Levinas, Jacques Derrida, Bernhard Waldenfels und Simon Critchley zu
P. Ebert (*) Heidelberg, Deutschland E-Mail:
[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Schössler und M. Plathow (Hrsg.), Multipolarität und bipolare Konfrontationen, Transatlantische Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22927-6_3
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Wort kommt, als radikalen Anderen jenseits des Vergleichs und Unterschieds außer Acht lassen. Die daraus folgenden Aporien, Probleme und Grenzen der jeweiligen Konzeptionen sollen aufgezeigt werden und als Gegenvorschlag die Theorie zum verkennenden Anerkennen von Thomas Bedorf stark gemacht werden.
1 Einleitung Grundlegend für die Rede über transatlantische Beziehungen ist das Verständnis von ‚Beziehung‘. Wie konstituiert sich diese? Wie entfaltet sie sich? Was sind Faktoren der Stabilität aber auch der Fragmentierung? So scheinen aktuell die transatlantischen Beziehungen zunehmend gestört: Man denke nur an das Beispiel des G7 Gipfels im Mai 2017 und aktuell im Juni 2018, die Uneinigkeit im Umgang mit dem Atomabkommen mit dem Iran oder die aktuellen Auseinandersetzungen um Protektionismus und die Androhung gegenseitiger Strafzölle zwischen USA und EU. Auch wenn, nach Regierungssprecher Steffen Seibert, Merkel als überzeugte Transatlantikerin verstanden werden will, ist eine deutliche Verstimmtheit und Anspannung mehr als offensichtlich. Doch auch innerhalb Europas brechen Beziehungen auseinander und es entstehen neue, harte Frontstellungen. Sowohl inter- als auch intranational. Was tritt hier zutage, was verursacht die Konflikte? Differenzen in Politik, Kultur und Gesellschaft? Die Angst vor dem Verlust der eigenen (nationalen) Identität? Die Angst vor der Unterwanderung durch den und die Fremden? Innerhalb der philosophischen Debatte um die Thematik von Beziehungen auf intersubjektiver, interkultureller und politischer Ebene haben sich in letzter Zeit besonders philosophische Theorien zu Anerkennung hervorgetan, die dieser Problematik zu begegnen versuchen und selbst in einem transatlantischen Bezug zueinanderstehen (Taylor, Butler, Honneth, Ricœur). Einen der bedeutendsten Beiträge auf interkultureller Ebene hat Charles Taylor mit seiner Politik der Differenz vorgelegt. Doch wie tragfähig ist das Modell der Anerkennung? Haben wir es hier tatsächlich mit fehlender Anerkennung von spezifischen Differenzen oder Unterschieden zu tun? Kann eine gelungene Anerkennung gestörte Beziehungen kitten? Und noch tiefer: Was verstehen wir unter Anerkennung – wechselseitige Anerkennung zwischen gleichen Gegenüber? Was sich m. E. stattdessen hier und in vielen anderen Bereichen unserer Lebenswelt vor aller bestimmter Differenz, vor aller Verschiedenheit aufdrängt, ist das Ereignis einer Alterität, einer asymmetrischen Störung, eines Einbruchs in die Normalität, die nicht lediglich Differenz in Denken, Han-
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deln, Philosophie und Weltanschauung ist und durch eine Haltung der Toleranz und Offenheit zur Anerkennung zu kitten ist, sondern harmonische, abschließende Anerkennung gerade verunmöglicht. Damit verbunden ist die Frage nach dem Konzept des Multikulturalismus, das in einem solchen differenzsensiblen Liberalismus entworfen wird, als Gegenposition zu einer dominanten Nationalkultur aber auch einer liberalistischen Gerechtigkeitstheorie. Wie steht es mit der Ablehnung und Konstatierung des Scheiterns dieses Konzepts, die sich seit 2010 am liberalen und konservativ rechten politischen Rand (Merkel, Sarkozy, Cameron) europäischer Politik bemerkbar machen? „Oui, c’est un échec.“1 Bleibt im Zuge der berechtigten Anliegen gegenüber diesem Konzept nur eine Rückkehr zu nationalen oder liberalen Formen, die einen einzigen richtigen Maßstab ansetzen, dem es sich unterzuordnen gilt? „Frankly, we need a lot less of the passive tolerance of recent years and much more active, muscular liberalism.“2 Oder stellt sich die Frage nach Multikulturalismus oder Liberalismus letztendlich als schlechte Alternative dar? Kann man sich dieser entziehen? Dieser Beitrag möchte sich deshalb mit zwei größeren, aber zusammenhängenden Themen auseinandersetzen. Zum einen soll die Frage gestellt werden, wie sich Intersubjektivität und Interkulturalität in unserer Lebenswelt – und darin eben als Bedingungen von Anerkennung – strukturieren. Basierend auf phänomenologischen Analysen zur Struktur der Intersubjektivität soll verdeutlicht werden, dass die Problematik von Intersubjektivität und Interkulturalität nicht lediglich auf relativer Andersheit und Differenz zwischen diesem und jenem vor dem Hintergrund eines vermittelnden Dritten basiert, sondern auf eine radikale Alterität oder différance verweist, die sich als Außerordentliches, als Riss in der Ordnung zeigt und nie harmonisiert werden kann und auf der Ebene des Dritten in die Frage nach Gerechtigkeit und Politik eintritt, die somit konstitutiv das Moment der Ungerechtigkeit in sich trägt. Problematisiert werden dabei Theorien von selbstbewussten Subjekten oder Individuen, die sich in symmetrischen
1„Sarkozy
estime que le multiculturalisme est un ‚échec‘“, in: Libération, 11.02.2011: http://www.liberation.fr/france/2011/02/11/sarkozy-estime-que-le-multiculturalisme-est-un-echec_714298. Vgl. auch „Merkel erklärt Multikulti für gescheitert“, in: Spiegel Online, 16.10.2010: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/integration-merkel-erklaert-multikulti-fuer-gescheitert-a-723532.html und „State multiculturalism has failed, says David Cameron“, in: BBC News, 05.02.2011: http://www.bbc.com/news/uk-politics-12371994. 2PM’s speech at Munich Security Conference. Transcript of the speech, 05.02.2011: https:// www.gov.uk/government/speeches/pms-speech-at-munich-security-conference.
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und reziproken Beziehungen zueinander verhalten. Der wichtige Unterschied, der hierbei zu machen ist, lässt sich an einer bestimmten, in den USA sehr verbreiteten Rezeption des Begriffs der Andersheit und différance aufzeigen. Gerade im Bereich der Cultural Studies wird die Theorie der Andersheit herangezogen, um verschiedene Themen wie Respekt, Verantwortlichkeit und das Feiern kultureller Differenz zu untermauern.3 Dieser sogenannte ‚Levinas Effect‘4, der sich auf eine inflationäre Anwendung des Schemas ‚dominantes Selbst gegen unterdrückten Anderen‘ in beinahe allen Bereichen der ‚Humanities‘, wie Debatten um Kolonialismus, Genderungleichheit etc., in den USA bezieht, findet so auch seinen Einzug in die Cultural Studies. Dieses stark verkürzte und Levinas’ Philosophie der Alterität wohl kaum treffende Verständnis, reduziert Levinas’ phänomenologische Überlegungen zur radikalen Andersheit zu einem moralischen Gewährsmann, der an den drängenden Stellen zu Anerkennung, Toleranz, Respekt und Verständnis für Andersheit, verstanden als Verschiedenheit und Unterschied, aufgerufen wird. Im zweiten Abschnitt des Beitrags wird dies in Bezug auf das Motiv der Anerkennung bei Charles Taylor aus sozialphilosophischer Perspektive erweitert und erörtert werden. Ausgehend von dem Bedürfnis nach Anerkennung und dem Schaden der Nichtanerkennung, über die Frage nach Identität und Authentizität, die Auseinandersetzung zwischen Universalismus und Politik der Differenz entwickelt Taylor ein eigenes Liberalismuskonzept – verdeutlicht an der Debatte um die Frankofonie in Quebéc – und die damit einhergehende Haltung der ‚Annahme der Gleichwertigkeit‘ mit den möglichen Folgen einer ‚Horizontverschmelzung‘ im Anerkennungsprozess. In diesem Arbeitsschritt soll Taylors Verständnis von Differenz erläutert werden und sein Identitäts- und Anerkennungsbegriff kritisch betrachtet werden. Hierbei werden uns Thomas Bedorfs Verkennende Anerkennung und Burkhard Liebschs Untersuchungen zur Politik der Differenz als Grundlage dienen. Dabei wird sich zeigen, dass sich die Überlegungen Taylors im Bereich der Authentizität, der Identität und der ‚Annahme von Gleichwertigkeit‘ mit folgender potenzieller ‚Horizontverschmelzung‘ in Aporien verstricken und die Anerkennung auf einem schwachen Differenzbegriff basiert. Aus alteritätsphilosophischer Perspektive lassen sich sowohl Grenzen als auch Risiken einer solchen Anerkennung aufzeigen. Bedorfs Theorie der verkennenden Anerkennung, die im Anschluss vorgestellt werden soll, nimmt demgegenüber
3Hier 4Vgl.
und zum Folgenden: Vgl. Zylinska (2005, S. 10). Johnson (2012, S. 240).
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eine Verschränkung von radikaler und relativer oder sozialer Fremdheit vor und schafft es so, die Probleme, Aporien und Grenzen des Anerkennungsbegriffs ernst zu nehmen. Im Anschluss an diese alteritätsphilosophische Theorie soll das Konzept eines ‚strategischen Universalismus‘ stark gemacht werden im Rahmen der Frage nach der Politisierung von Anerkennung. Der strategische Universalismus richtet sich in einer dem ‚Strategischen Essentialismus‘ Spivaks verwandten, aber differenzierteren Stoßrichtung auf die Forderung, das Anzuerkennende universell normativ zu fundieren. Was in den klassischen Theorien mit einer Horizontverschmelzung (Taylor) oder teleologischen Inklusionen (Honneth) erreicht werden soll, d. h. ein universaler Gesichtspunkt, wandelt sich im strategischen Universalismus zu einem Gesichtspunkt des Universalen, der dafür sorgt, dass „Generalisierungs-, Universalisierungs- und Idealisierungslinien sich vervielfältigen, daß Universalität ebenso wie Singularität im Plural auftritt.“5 Universale Gesichtspunkte gelten nicht schlechthin, sondern nur, wenn sich jemand unter bestimmten Umständen und in bestimmter Form, also selektiv auf sie beruft.6 Im Hintergrund fungiert hier das Verhältnis von Außerordentlichem und Ordnung, entfaltet in der Philosophie Bernhard Waldenfels’. Ziel des Beitrages ist es, die in der alteritätsphilosophischen Ausrichtung von Phänomenologie und Dekonstruktion vorgebrachte Kritik und Problematisierung des Anerkennungsbegriffs und seiner Risiken vorzustellen und dessen intersubjektive und interkulturelle Grundlegung zu verdeutlichen, als konstitutive Un-möglichkeit der Anerkennung bei gleichzeitiger Unausweichlichkeit.
2 Relative vs. radikale Alterität – Struktur der Intersubjektivität aus phänomenologischer Perspektive 2.1 Die Zugänglichkeit des original Unzugänglichen bei Husserl Innerhalb der phänomenologischen Tradition nimmt die Frage nach der ‚Intersubjektivität‘ oder besser der Erfahrung des Anderen eine bedeutende Stellung ein. Wird diese Thematik in der Philosophie auf verschiedene Arten und Wei-
5Waldenfels 6Vgl.
(1997, S. 125). Waldenfels (1997, S. 125).
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sen behandelt, sei es z. B. erkenntnistheoretisch (wie erkenne ich den Anderen), ontologisch (was ist der Andere), sprachphilosophisch (Intersubjektivität der Sprache), wissenschaftstheoretisch (als Maßstab für Objektivität), so geht die Phänomenologie von der Erfahrung des oder der Anderen aus. Bereits bei Husserl nimmt die Erfahrung des anderen Menschen eine Sonderstellung innerhalb seines phänomenologischen Entwurfs ein. Um die Philosophie als strenge Wissenschaft auszuweisen, hat Husserl sich in seiner Philosophie dem Wahlspruch „zu den Sachen selbst“ verschrieben. Seine transzendentale Phänomenologie beruht daher auf der Durchführung der Epoché, der transzendentalen Reduktion, in der alle Vorurteile und Vorannahmen in Bezug auf die äußere Welt ausgeklammert werden, sodass der betrachtete Gegenstand sein Wesen offenbart. Nur wie der betrachtete Gegenstand im Bewusstsein, im intentionalen Bewusstsein, das immer auf etwas gerichtet ist, auftritt, bleibt übrig. Diese Epoché führt nun zu einem absoluten transzendentalen reduzierten ego. Und hier entsteht auch die Notwendigkeit der Frage nach der Fremdheitserfahrung. Denn es stellt sich die Frage – explizit in der fünften cartesianischen Meditation7 Husserls –, ob ich nicht durch diese Reduktion zu einem solus ipse geworden bin, also, dass ich in der Epoché das einzige bewusste Wesen bin, da die anderen Subjekte zu Phänomenen werden, deren Bewusstsein mir nicht zugänglich ist. Es entsteht die Gefahr des Solipsismus (Hua I, S. 121). Nun ist es jedoch so, dass die Erfahrung zeigt, dass die Anderen mit mir in der Welt sind und dass die Welt als für jeden zugänglich zu betrachten ist (Hua I, S. 123). Husserl steht also vor dem Problem, dass der Andere aus dem Bewusstsein konstituiert gedacht werden muss, während jedoch der Sinn, mit dem der Andere konstituiert wird, das Bewusstsein überschreitet. Husserl nimmt sich deshalb vor, eine Untersuchung der Fremdheitserfahrung zu machen. Eine thematische Epoché führt dazu, dass trotz aller Reduktion eine Unterschicht von Welt, die eigenheitliche Natur übrig bleibt, die jedoch frei von jedem Sinn von Objektivität ist (Hua I, S. 127): Eine immanente Transzendenz (Hua I, S. 134). In dieser Natur ist unter den eigentlich gefassten Körpern mein eigener Leib der einzige, der nicht nur Körper ist, sondern eben Leib. Der Leib ist der einzige Ort, an dem ich unmittelbar schalte und walte (Hua I, S. 128). Er ist der Punkt des absoluten ‚hier‘, mit dem ich ein ‚dort‘ bestimmen kann. Er ist Nullpunkt jeglicher Erfahrung. Das Denken und Handeln ist vom Leib bestimmt. Über den Begriff des Leibes nun nähert sich Husserl dem Thema der Fremdheit an – und mehr:
7Vgl.
Strasser (1950) im Folgenden Hua I abgekürzt.
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„Also das an sich erste Fremde (das erste Nicht-Ich) ist das andere Ich. Und das ermöglicht konstitutiv einen neuen unendlichen Bereich von Fremdem, eine objektive Natur und objektive Welt überhaupt, der die Anderen alle und ich selbst zugehören“ (Hua I, S. 137). Husserl will nicht nur die Erfahrung des Fremden klären, sondern in diesem Zusammenhang Erfahrung überhaupt. In der primordialen Sphäre, der eigenheitlichen Natur erscheinen nun auch Körper, die meinem Körper, der ja Leib ist, ähnlich sind. „[…] der Andere stehe selbst leibhaftig vor uns da“ (Hua I, S. 139). Dennoch sind mir die Erlebnisse, die Erfahrungen des Anderen nicht zugänglich, wohingegen meine Erlebnisse mir original zugänglich sind. Das Eigenwesen des Anderen ist nicht direkt zugänglich. Es muss nach Husserl aber eine Mittelbarkeit der Intentionalität vorliegen, ein Mitgegenwärtig-Machen, eine Appräsentation (Hua I, S. 139). Tritt also ein anderer Mensch in unseren Wahrnehmungsbereich und ist in der primordialen Sphäre mein Körper jedoch der einzige, der auch als Leib konstituiert ist, muss der Körper des anderen Menschen, der ja wie vorhin schon erwähnt als Leib aufgefasst wird, „[…] diesen Sinn von einer apperzeptiven Übertragung von meinem Leib her haben […]“ (Hua I, S. 140). Motiviert ist diese analogisierende Auffassung durch die Ähnlichkeit meines Körpers mit dem Körper des Anderen, wodurch diese eine phänomenale Paarung eingehen. Husserl betont jedoch, dass die Apperzeption kein Schluss, kein Denkakt ist und wir deshalb die analogisierende Auffassung von dem Analogieschluss unterscheiden müssen (Hua I, S. 141). Die originaliter unzugängliche Appräsentation ist also mit einer originalen Präsentation – dem fremden Körper – verflochten (Hua I, S. 143). So sind nun beide als einheitliche transzendierende Erfahrung gegeben. Wir kommen also zum Paradox einer bewährbaren Zugänglichkeit des original Unzugänglichen – und darin gründet der Charakter des Fremden (Hua I, S. 144). „Es konstituiert sich appräsentativ in meiner Monade eine andere“ (Hua I, S. 144). In dieser Monadengemeinschaft des primordialen psychophysischen Ich und des appräsentiert erfahrenen Anderen wird eine gemeinsame intersubjektive Natur konstituiert (Hua I, S. 149). Für Husserl ist so die Intersubjektivität von enormer Bedeutung, da er erkennt, dass ein Gegenstand aus der Perspektive eines einzigen Bewusstseins nie ausreichend ausgewiesen werden kann.8 Es bedarf weiterer Erfahrungssubjekte, um die Objektivität der Welt intersubjektiv zu begründen. Husserl geht es also nicht darum, was das Fremde ist oder wie man es erkennt – also die ontologische und gnoseologische Fragestellung, in der die Fremdheit
8Hier
und zum Folgenden: vgl. Prechtl (2012, S. 98–102).
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bereits vorausgesetzt ist und als erkannt gilt –, sondern es geht ihm um die Art ihrer Zugänglichkeit; und so zielt Husserl eher auf die topologische Fragestellung ab,9 also darauf, zu betrachten, wie sich der Andere zeigt, wenn man ihn unter der Voraussetzung der transzendentalen Reduktion nicht voraussetzt.10 Es geht um eine Sinnkonstitution, nicht um eine Konstruktion der Andersheit (Hua I, S. 175). Das Fremde ist das Unzugängliche, das erst in der Fremderfahrung zugänglich wird.11 Das Fremde konstituiert sich in passiver Synthesis innerhalb und mit den Mitteln des mir Eigenen (Hua I, S. 131).12 Husserl ist sich der Unzugänglichkeit des Anderen bewusst und betont diese auch, weshalb er auch vom Fremden spricht. Ob die Lehre Husserls in der fünften cartesianischen Meditation jedoch ertragreich für ein Denken der Andersheit ist, hängt nun von dem Umgang mit dem Paradox ab. Kann die auf die Fremdheit gerichtete Intentionalität tatsächlich die Eigenheitssphäre überschreiten, oder bleibt das Fremde letztendlich doch dem Eigenen zugehörig?13 Mit Waldenfels ließe sich zeigen, dass Husserl das Paradox der Fremderfahrung entschärft.14 Die Konstitution des Fremden ist auf das Eigene gerichtet. Das Eigene bildet die Grundstufe und das Fremde ist nur eine Abwandlung des Eigenen. Das Eigene behält die Primat-Stellung.15 Das ego gilt im Sinne eines Urphänomens als Vorlage für das alter ego. So gesehen treffen sich Fremdes und Eigenes auf dem Boden einer gemeinsamen Vernunft. Der Ausgang vom Eigenen deutet implizit auf einen Ausgriff auf ein Gemeinsames. Dieses kontinuierliche Band eines Sinnes bewahrt das Eigene vor Einbrüchen der Fremdheit und verurteilt jede Andersheit zu lediglich relativer Andersheit vor dem Hintergrund eines gemeinsamen und vermittelnden Dritten. Die Konstitution ist zwar, wie schon erwähnt, nicht aktiv, dennoch setzt sie, da sie in mir mit den Mitteln des Eigenen geschieht, voraus, dass ich meiner selbst und meines Eigentums schon habhaft bin. Das Eigene lässt sich aus sich heraus, ohne jede Fremdheit, als Eigenes positiv bestimmen. Das Fremde ist eine Abwandlung des Eigenen. Eine solche positive Bestimmung der Eigenheit ohne die Fremdheit führt jedoch zu
9Vgl.
Waldenfels (1997, S. 25–26). Römer (2010, S. 487). 11Vgl. Stoellger (2005, S. 289). 12Vgl. Waldenfels (1995, S. 60). 13Vgl. Waldenfels (1995, S. 61). 14Vgl. zum Folgenden: Waldenfels (1995, S. 61–68). 15Vgl. Waldenfels (1997, S. 94). 10Vgl.
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Schwierigkeiten. Erstens: Die Sphäre meiner Eigenheit gewinne ich durch die Erfahrungen, die mir original zugänglich sind. In dieser Eigenheit der Selbsterfahrung kommt es nun jedoch dazu, dass wir erkennen müssen, dass sich die Originalität vervielfältigt. Denn nur „[…] in der wiederholten Wiedererinnerung erweist sich das Ich als dasselbe – und zugleich als nicht dasselbe.“16 Da sich nun das Selbst durch die Zeit vervielfältigt und verändert, dringt die Fremdheit in die eigene Erfahrung ein. Ich bin nie ganz bei mir selbst. Zweitens wird aus dem Anderen, dem Fremden, wenn er sich mit den Mitteln des mir Eigenen konstituiert, wie bereits erwähnt nur eine Abwandlung des Selbst und des Selben. Er wird ein alter ego, ein Duplikat oder, wie Waldenfels es auch nennt, ein reales Negat meiner selbst. Eine solche Andersheit verliert jedoch ihren Anspruch, radikal anders, fremd zu sein. Nach Waldenfels müsste die primordial unerfüllbare Erfahrung, die in der Unzugänglichkeit des Fremden ausgedrückt wird, zu einer „[…] Unerfüllbarkeit eines fremden Anspruchs, der alle Antworten unzulänglich macht“17, überboten werden.
2.2 Heideggers Mit-Sein Ein ähnliches Problem wird sich bei Heideggers Gedanken zum Auftritt des anderen Menschen in der Erfahrung ergeben. Gehen Heideggers Überlegungen in Sein und Zeit von der Frage nach dem Sein bzw. nach dem Sinn von Sein aus, und stellt sich in dieser Suche über die drei Momente des Gefragten (das Sein), des Erfragten (der Sinn von Sein) und des Befragten (das Seiende selbst) heraus,18 dass der Ausgang, an welchem Seienden der Sinn von Sein abgelesen werden soll, nicht beliebig ist, so erweist sich das Dasein (das menschliche Seiende) in seinen zur Beantwortung der Seinsfrage konstitutiven Verhaltungen des Fragens, also im „Hinsehen auf, Verstehen und Begreifen von, Wählen, Zugang zu […] [als] Seinsmodi eines bestimmten Seienden, des Seienden, das wir, die Fragenden, je selbst sind“ (SuZ, S. 7), als vorrangig zu Befragendes. Dieses Dasein muss daher im Vorhinein expliziert werden. Der Vorrang des Daseins besteht darin, dass es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht (SuZ, S. 12). Dieses Sein selbst nennt Heidegger Existenz. Hierzu gehört, dass das Dasein in seinem
16Waldenfels
(1995, S. 63). (1995, S. 68). 18Vgl. Heidegger (2006, S. 6–8) im Folgenden (SuZ) abgekürzt. 17Waldenfels
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Sein ein Seinsverhältnis zu eben diesem Sein hat (SuZ, S. 12). „Diesem Seienden eignet, daß mit und durch sein Sein dieses ihm selbst erschlossen ist“ (SuZ, S. 12). Es zeichnet sich als ontologisch (oder besser als vorontologisch) aus, d. h. es ist seiend in der Weise eines Verstehens von Sein (SuZ, S. 12). Dabei gehört zum Dasein auch, wesensmäßig in einer Welt zu sein, sodass das Seinsverständnis gleichursprünglich auch das Verstehen des Seins alles nicht daseinsmäßigen Seienden betrifft. Das Dasein zeichnet sich demnach also dadurch aus, dass ihm die Bedingung der Möglichkeit aller Ontologien zukommt. Die Fundamentalstruktur des Daseins wird von Heidegger als ‚In-der-Welt-Sein‘ bestimmt, das besagt, dass wir entgegen einer Trennung von Subjekt und Welt immer schon mit der Welt verbunden sind. Das In-der-Welt-Sein besteht aus den Verfassungsmomenten ‚Weltlichkeit‘, ‚Mit- und Selbstsein‘ und ‚In-Sein als solches‘, ist jedoch ein Strukturganzes, d. h. dass die einzelnen Verfassungsmomente nicht getrennt voneinander auftreten. Die Welt als Weltlichkeit ist dabei verstanden als ein Strukturmoment des Daseins in seiner Alltäglichkeit, nicht im gebräuchlichen Sinne einer Ganzheit der Dinge (SuZ, S. 63). Sie ist Horizont des Seinsverständnisses.19 Weltliches Seiendes begegnet uns immer schon als Zeug in seinen Verweisungen und seinem Verweisungszusammenhang, als Zuhandenes, da wir immer schon besorgend umgehend in einer Welt sind (SuZ, S. 66–72). Unter dem Aspekt des Mit- und Selbstseins beschreibt das In-der-Welt-sein den Aspekt des ‚wer‘ (SuZ, S. 114). „[W]er ist es, der in der Alltäglichkeit das Dasein ist?“ (SuZ, S. 114). In seiner Alltäglichkeit ist das Daseins zunächst und zumeist gerade nicht es selbst (SuZ, S. 115–116). So müsste man der anscheinenden Selbstverständlichkeit widersprechen, dass ich es bin, der je das Dasein ist, und davon ausgehen, „[…] daß das Wer des alltäglichen Daseins gerade nicht je ich selbst bin“ (SuZ, S. 115). Um die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins zu beantworten, nimmt Heidegger eine Untersuchung der Seinsart vor, „[…] darin das Dasein zunächst und zumeist sich hält“ (SuZ, S. 117). Stellt Heidegger in der Welt als Weltlichkeit dann die Zuhandenheit des Zeugs heraus, so verweist uns dieses in seiner Bewandtnis auf andere daseinsmäßige Seiende (SuZ, S. 117). Weder vorhanden noch zuhanden ist dieses daseinsmäßige Seiende wie das Dasein selbst da – es ist auch und mit da (SuZ, S. 118). „Das ‚Mit‘ ist ein Daseinsmäßiges, das ‚Auch‘ meint die Gleichheit des Seins als umsichtig-besorgendes In-derWelt-sein. ‚Mit‘ und ‚Auch‘ sind existenzial […] zu verstehen“ (SuZ, S. 118). Dementsprechend entpuppt sich die Welt des Daseins als Mitwelt und das
19Vgl.
Cosmus (2001, S. 63).
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In-Sein als Mitsein mit dem Anderen (SuZ, S. 118). Und so ist das „innerweltliche Ansichsein“ dieser Anderen das „Mitdasein“ (SuZ, S. 118). Dem Besorgen in Bezug auf das Seiende als Zeug, als Zuhandenes entspricht die Fürsorge in Bezug auf das Seiende, das als Mitdasein selbst Dasein ist und zu dem sich das Dasein als Mitsein verhält (SuZ, S. 121). Nach Heidegger ergibt diese Analyse des Selbst- und Mitseins, dass der Subjektcharakter des eigenen Daseins und der Anderen sich existenzial bestimmt, aus gewissen Weisen zu sein (SuZ, S. 126). Im Besorgen ruht nun, so Heidegger, ständig die Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen, und dieser ‚Abstand‘ beunruhigt das Miteinandersein (SuZ, S. 126). „In dieser zum Mitsein gehörigen Abständigkeit liegt aber: das Dasein steht als alltägliches Miteinandersein in der Botmäßigkeit der Anderen. Nicht es selbst ist, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen“ (SuZ, S. 126). Die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins kann nach Heidegger nur mit dem Man beantwortet werden. „Das ‚Wer‘ ist das Neutrum, das Man“ (SuZ, S. 126). Dieses Man-selbst wird nun jedoch von Heidegger vom eigentlichen, vom eigens ergriffenen Selbst abgegrenzt (SuZ, S. 129). Das eigentliche Selbstsein beruht nun nicht auf einem vom uneigentlichen Selbstsein abgelösten Ausnahmezustand, sondern ist eine existenzielle Modifikation des Man, in eben welchem sich das Dasein in seiner Seinsart verfehlt und verdeckt (SuZ, S. 130). Ein Kernthema der heideggerschein Philosophie wird die Erschließung dieser Eigentlichkeit sein, und sie lässt sich auch als durchgängiges Motiv seines Denkens ausweisen. So versteht Heidegger auch in seinem weiteren Denken das Wesen des Menschen als Ek-sistenz, als Hinausstehen in der Un-Verborgenheit des Seins.20 Die Ek-sistenz ist für Heidegger beschrieben in dem Begriff des In-der-Welt-seins aus SuZ. Somit steht der Mensch als Eksistenz in die Lichtung des Seins hinaus, in die Welt (GA 9, S. 350). Dem Menschen wird so eine Welt gewährt, in der er wohnen kann.21 Die Beziehung zu den Dingen oder zu anderen Menschen ergibt sich nun erst aus diesem Wohnen in der Lichtung des Seins, in der Gegend, in der Welt. Sie gewährt erst alle Unterkunft (GA 13, S. 46). Die Beziehung zum anderen Menschen bleibt also immer der Beziehung zu dem untergeordnet, was die Bedingung seiner Erscheinung ist.22 Der Andere bleibt der Beziehung zum neutralen anonymen Sein untergeordnet. Der Andere erscheint erst durch
20Die Bände der Gesamtausgabe von Heidegger (1993, 2002, 2004) werden im Folgenden mit GA und Bandzahl abgekürzt. 21Vgl. Klun (2000, S. 316). 22Vgl. Letzkus (2002, S. 276).
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die Beziehung zum Sein, dem neutralen Dritten, das jede Andersheit als relative Andersheit bestimmt: „[D]ie Möglichkeit […] des Durchgangs durch das Fremde und damit Möglichkeit der Heimkehr ins Eigene […]“ (GA 53, S. 67–68). Dieser Unmenschlichkeit in Heideggers Ethos-Verständnis, welche die Verantwortlichkeit ausschaltet, steht der Ansatz Levinas’ gegenüber. Nicht die Transzendenz des Seins, die ontologische23 Transzendenz, die den Anspruch an den Menschen stellt, dem er in der anonymen Gelassenheit entspricht, ist das erste, sondern die Verstrickung des Anderen im Selbst, die ethische Transzendenz. Die Verantwortung, die Stellvertretung, in der ich immer schon stehe, verlangt nach einer Antwort, nach einem Verhalten dem Anderen gegenüber. Der Versuch Jean-Luc Nancys, das Mit-Sein aufzunehmen und ihm den primären Rang der Philosophie zuzuweisen, vermeidet zwar die Ableitung des Mit-Seins aus dem Sein, die Erfahrung des Anderen aus der eigentlicheren Beziehung zum Sein, verbleibt jedoch auch in einem Denken der relativen Andersheit, das sich durch Symmetrie und Reziprozität auszeichnet.24 Der Stachel wird auch hier dem Fremden oder Anderen gezogen.
2.3 Ricœurs Soi-même comme un autre Zum Thema der Andersheit und der Erfahrung des Anderen Menschen in phänomenologischer Perspektive ist auch auf Paul Ricœurs Vorschlag in Soimême comme un autre25 einzugehen. In diesem Werk will Ricœur basierend auf seiner Hinwendung zu einer Philosophie der Praxis in der Verbindung linguistischer, sprachanalytischer und phänomenologischer Untersuchungen eine Neubestimmung ontologischer Grundbegriffe und so des Selbst vornehmen. Dabei entwirft Ricœur eine Ethik im Dreieck von Selbstheit, Andersheit und Gemeinschaft. Der Andersheit kommt dabei tragende Bedeutung zu, ist doch die Andersheit Sinngehalt und ontologische Konstitution der Selbstheit. Wie man nun der Andersheit im Zentrum der Selbstheit Rechnung trägt, will Ricœur über den Begriff der Passivität darstellen als Entsprechung zur Meta-Kategorie der Andersheit, als Bezeugung der Andersheit (SA, S. 383). Wird so die Passivität
23Auch
wenn Heidegger sich gegen die Ontologie ausspricht, so geht es ihm doch um die Transzendenz des Seins. Daher ontologisch. 24Vgl. dazu Ebert (2017, S. 118–120). 25Vgl. Ricœur (1996) im Folgenden (SA) abgekürzt.
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in das Zentrum des Selbst geholt, dann wird diesem verboten, die Stelle eines Grundes einzunehmen. Die Andersheit zeigt sich nun in drei disparaten Passivitätserfahrungen (SA, S. 384): der Passivitätserfahrung des eigenen Leibes (SA, S. 384–395) als Vermittler zwischen dem Selbst und einer Welt, die als fremd erfahren wird, die Passivitätserfahrung des Selbst zum Fremden (SA, S. 395–409) und die Passivitätserfahrung des Selbst zu sich selbst (SA, S. 410–426), also des Gewissens. Für die Passivitätserfahrung des Anderen als des Selbst ist die Kategorie der Affektion von Bedeutung, da sich das Selbst in der Affektion durch den Anderen selbst erkennt. Mit der Affektion führt Ricœur eine weitere Dimension der Passivität ein. Hierbei geht es Ricœur um die vielfältigen Weisen, wie der Andere als das Selbst das eigene Selbstverständnis berührt. In den Affektionen wird der Unterschied deutlich zwischen dem sich selbst setzenden ego und dem Selbst, dass sich eben durch diese Affektionen selbst erkennt (SA, S. 395). Diese zeigt sich z. B. in der Dialektik von Selbstschätzung und Freundschaft, die vollständig in die Begrifflichkeit von Handlung und Affektion umgeschrieben werden (SA, S. 397). Ricœur will hiermit verdeutlichen, dass eine Austauschbarkeit der Rollen besteht. Jeder Handelnde ist Erleidende des Anderen (SA, S. 397). Jeder ist von einer wechselseitig ausgeübten Gewalt berührt. Diese Dialektik will Ricœur mit Husserl und Levinas erarbeiten. Weist Ricœur zwar die Konstitution des alter ego aus dem ego ab, so stößt er doch auf eine Entdeckung in Husserls Egologie. Die sog. Appräsentation. Die Appräsentationen sind authentische Gegebenheitsweisen des Anderen. Sie ermöglichen jedoch keine Teilhabe an den Erlebnissen des Anderen. Sie werden nie originäre Präsentation. Und doch findet eine apperzeptive Übertragung von meinem Leib her statt, was die positive Bestimmung der Appräsentation ist (SA, S. 401). In dieser analogisierenden Auffassung, die ihren Sitz im Körper des Anderen hat, wird der Körper des Anderen als ein Leib, wie der meine, aufgefasst. Die Bedeutung des ego wird auf einen anderen Körper übertragen, der als Leib auch die Bedeutung ego erhält. Die stets vorausgesetzte Andersheit wird zwar nicht erschaffen, dennoch wird ihr eine spezifische Bedeutung verliehen (SA, S. 402). Diese muss jedoch mit der Bewegung der Andersheit auf mich zu kombiniert werden (SA, S. 402). Ricœur übernimmt diese Gedanken von Levinas. Am Ursprung der Bewegung steht ein Bruch. Die Philosophie Levinas richtet sich gegen eine Konzeption der Identität des Selben, deren polaren Gegensatz die Andersheit des Anderen bildet. Der Andere konstituiert mich dabei in einem Anruf als einen Verantwortlichen, der zur Antwort fähig ist. Doch: Eine verantwortliche Antwort auf den Anruf des Anderen, die Levinas erwartet, kann nach Ricœur nur dann hervorgerufen werden, wenn eine Fähigkeit der Empfänglichkeit, der Unterscheidung und der Anerkennung vorausgesetzt wird (SA, S. 407). Sonst bliebe der Anruf ein blo-
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ßer Anruf, der von niemandem übernommen werden kann. Dem Selbst muss, so Ricœur, letztendlich eine Empfänglichkeit zuerkannt werden, die sich aus seiner reflexiven Struktur ergibt. Bei aller Vorgängigkeit des Anderen wird immer eine noch grundlegendere Rezeptivität, also eine rezeptive Struktur des Selbst vorausgesetzt, um überhaupt etwas empfangen zu können.26 Ein solches Denken von Andersheit bringt jedoch einige Probleme mit sich, die sich bereits ab der siebten Abhandlung anbahnten. So weist Tengelyi darauf hin, dass bei Ricœur, im Gegensatz zu Husserl und Levinas, die sich der Fremdheit des Anderen bewusst sind, der Fremde mit dem Selbst gleichgestellt wird und so seiner Fremdheit entledigt wird. Dies erzeugt Ricœur durch die Vorstellung einer Ordnung, in der fremde und eigene Andersheit von vornherein zusammengehören.27 Auch Waldenfels’ Kritik an Ricœur scheint sich auf diesen Punkt zu richten.28 Wird das Eigene wie das Fremde und das Fremde wie das Eigene betrachtet und behandelt, so schwächt dies die Differenz von Fremdheit und Eigenheit und führt sogar langsam zu einer Aufhebung der Differenz. Die am Anfang noch getrennten Standpunkte von Eigenem und Fremden gehen in einem Prozess der Solidarisierung ineinander über. Deutlich wird dies laut Waldenfels an dem dritten Term, den Ricœur nutzt – ob nun Ähnlichkeit oder Anerkennung genannt –, der den Abstand zwischen Eigenem und Fremden überbrückt und so der Fremdheit ihren ‚Stachel‘ zieht, ihr ihren Eigenheitscharakter nimmt.29 Die Andersheit wird zu einer relativen Andersheit, die nur vorläufig ist. Hier wird Levinas andere Wege einschlagen und in seinen Überlegungen versuchen, eine radikale Andersheit zu Wort kommen zu lassen.
26Vgl.
Stoellger (2005, S. 293). Tengelyi (1999, S. 160). 28Hier und zum Folgenden: vgl. Waldenfels (1995, S. 292–293). So auch hier S. 300: „Wo eine einzige Ordnung am Horizont steht, und sei sie noch so unbestimmt und verborgenen, obsiegt letzten Endes das Gemeinsame […]. [S]o erweist sich jede Vergemeinschaftung, die Eigenes und Fremdes zu versöhnen verspricht, als ein sublimer Akt der Gewalt, der dem Fremden Abbruch tut.“ 29Vgl. Waldenfels (1995, S. 293–300). 27Vgl.
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2.4 Levinas’ radikale Alterität Levinas’ Ausgangspunkt in Totalität und Unendlichkeit30 ist die Kritik der abendländischen Philosophie aufgrund des Primats des Selben, der Autonomie und der Ontologie. Die Ontologie als Theorie des Verstehens des Seienden bringt nach Levinas das Andere auf das Selbe zurück und fördert so die Freiheit, die Autonomie, die die Identifikation des Selben ist (TU, S. 50 und SpA, S. 188). Diese Permanenz im Selben ist die Vernunft, die die Erscheinung einer Freiheit ist, die das Andere neutralisiert und einnimmt (TU, S. 51). Das ontologische Erkennen nimmt dem Seienden seine Andersheit (TU, S. 52). Im Zuge der phänomenologischen Vermittlung wird „[…] der ‚ontologische Imperialismus‘ noch sichtbarer“ (TU, S. 53). Das Sein bildet hier den Horizont, das Medium der Erkenntnis des Seienden (TU, S. 53). Die Fremdheit des Seienden wird gewährleistet von dem Leuchten aus einem eigenen Grund (TU, S. 54). Der Primat der Ontologie bei Heidegger, der sich in der Priorität des Seins im Verhältnis zum Seienden ausdrückt, muss die Beziehung zu jemandem, der ein Seiendes ist, der Beziehung mit dem Sein unterordnen (TU, S. 54 und SpA, S. 193–194). Erst das unpersönliche Sein ermöglicht den Bezug auf persönliches Seiendes. So wird die Gerechtigkeit der Freiheit, die diesmal zwar vom Sein gegeben ist, dennoch aber den Primat des Selben voraussetzt, untergeordnet (TU, S. 54 und SpA, S. 192). Das Seiende wird durch das Neutrum ‚Sein‘ neutralisiert, um es zu verstehen bzw. zu erfassen (TU, S. 55) – eine Reduktion des Anderen auf das Selbe. So ist die Ontologie als erste Philosophie eine Philosophie der Macht und der Ungerechtigkeit, die in einer Totalität endet und so zu einer imperialistischen Herrschaft, zur Tyrannei der Verdinglichung des Menschen führt (TU, S. 55 und 57). Ein Denken im Zeichen des Primats des Selben ist sich selbst gewiss. Es rechtfertigt sich selbst ohne Rückgriff auf etwas Anderes und stellt sich grundsätzlich nicht infrage (TU, S. 114). So treffen zwar Freiheiten aufeinander und die eine unterliegt der anderen im Kampf, der freie Wille jedoch wird nicht infrage gestellt (SpA, S. 191). Man versucht also die Freiheiten in Einklang zu bekommen, sodass sie in der Totalität ihren Platz finden (TU, S. 114). Doch geht tatsächlich alles in dieser Totalität auf? Gibt es nicht ein Mehr, einen Überschuss außerhalb der monistischen Totalität (TU, S. 22)? Dieses Außerhalb sieht Levinas in dem Unendlich-anders-sein, das nicht im Subjekt, im Selben aufgeht. Wie stellt
30Levinas
(2008), im Folgenden (TU) abgekürzt. Vgl. dazu auch Levinas (1992), im Folgenden (SpA) abgekürzt.
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sich Levinas nun die Beziehung des Selben zum Anderen ohne Vereinnahmung vor? So findet Levinas in der Idee des Unendlichen bei Descartes einen Überschuss, die radikale Andersheit. Das Ideatum geht über die Idee hinaus, kann also nicht vom Subjekt integriert werden (TU, S. 25–26 und 60–61). Die Unendlichkeit des Anderen bleibt vom Subjekt getrennt. Die Beziehung zum Anderen ist also aufgrund seiner Exteriorität nicht mehr als ontologische oder epistemische möglich, sondern nur noch als ‚metaphysische‘31 bzw. ethische, als Begehren (TU, S. 35–36). Das Begehren, das nicht mit dem Bedürfnis, welches befriedigt werden kann, gleichgesetzt werden darf, entspringt dem Anspruch aus der Höhe – Levinas nennt dies auch die Unterweisung durch den Anderen als Ereignis der Unendlichkeit (TU, S. 64 und 248) –, der durch das Antlitz, die Epiphanie des Anderen, die Nacktheit und das Ausgeliefertsein des Anderen, das gänzlich Sprache ist, an das Subjekt gestellt ist (SpA, S. 198–199). Der Andere bietet dem Subjekt im Antlitz einen ethischen Widerstand, der nicht überwunden werden kann – Du wirst nicht töten – (TU, S. 283–286 und SpA, S. 198) und weckt so das moralische Bewusstsein im Subjekt (TU, S. 143). In diesem moralischen Bewusstsein wird sich die Freiheit des Subjekts seiner Ungerechtigkeit bewusst und stellt so die Spontaneität und seine Vermögen infrage (TU, S. 143). Die Freiheit erkennt sich als eine in der Verantwortung für den Anderen eingesetzte. Das Subjekt muss auf den Anspruch des Anderen antworten. Darin liegt die Ver-Antwortung (TU, S. 259). Die Freiheit ‚erkennt‘ sich also als Heteronomie, nicht als Autonomie. Das Antlitz des Anderen ist so nach Levinas der Anfang der Philosophie (SpA, S. 207). Doch ist die Andersheit hier bereits in ihrer Radikalität bedacht? So geht Levinas immer noch von einem Subjekt, das bereits seine Bleibe im Sein hat, aus. Das Subjekt ist bereits. Das Ich ist bereits konstituiert. Erst im Nachhinein, aus der absoluten Zukunft, kommt ihm der Anspruch des von ihm getrennten Anderen entgegen, der diese Gegebenheit in einem Einbrechen in die Eigenheitssphäre überwinden will.32 Wie aber ist dieser Einbruch zu denken, wenn doch das Selbe vom Anderen ontisch getrennt ist, da nur so die Transzendenz, die Unendlichkeit, die Alterität des Anderen gewahrt bleibt.33 Levinas gibt hierauf die Antwort: „es bedarf eines ‚Denkens‘ und es bedarf eines Ich, damit sich die Andersheit im Sein ereignen kann. […] Die Andersheit ist nur möglich
31Levinas
hat hier einen zur abschließenden und selbstgenügsamen Metaphysik deutlich verschobenen Begriff von Metaphysik. 32Vgl. Klun (2000, S. 222). 33Vgl. Klun (2000, S. 222) und Bedorf (2003, S. 32).
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im Ausgang von mir.“34 So scheint auch in Totalität und Unendlichkeit das Ich noch der Ausgangspunkt zu sein. In Die Spur des Anderen und Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht35 vollzieht Levinas nun einen Perspektivenwechsel36 und sieht die Totalität nicht mehr im Seinsmonismus, sondern in der Transzendentalität des Seins (JS, S. 213). Die Andersheit des Anderen kann nur ernst genommen werden, wenn diese als anders-als-sein gedacht wird, da ein Anderssein lediglich eine qualitative Unterscheidung zwischen Selbem und Anderem ist, die jedoch nicht aus der Identitätslogik führen kann, da das Selbe nach dem Einbruch des Anderen immer zu sich zurückkehrt37 – es ist ja bereits konstituiert. Jegliche Andersheit bzw. Transzendenz vergeht nun unter dem Primat des Selben in der Ordnung des Seins. So ist jede Philosophie auf die Gegenwart ausgerichtete Rede: Seinsverständnis, Phänomenologie oder Ontologie (SpA, S. 236). Sie nimmt in ihren Logos auch das auf, worin die Rede zunächst enthalten und was über sie hinauszugehen schien (SpA, S. 237). Die Vergangenheit und die Zukunft werden vergegenwärtigt. Nach Husserl: Retention und Protention. Was nicht vergegenwärtigt werden kann, ist unsinnige Rede (SpA, S. 237). Im Phänomen, im Erscheinen, in der Beziehung zum anonymen, neutralen Sein ist die Immanenz als Totalität und die Philosophie als Atheismus gewährleistet (SpA, S. 254). Das Sein als ‚Neutrum‘ schließt so alle Andersheit aus und es bleibt bei dem Primat des Selben in der Ordnung des Seins. Die Kritik an Heidegger wird also beibehalten. Die Transzendenz muss daher in einem Jenseits des Seins bestehen, in einem Andersals-sein. Levinas’ ‚Kehre‘ im Denken zeichnet sich an dieser Stelle durch eine Umkehrung der Grundbewegung, durch einen Perspektivenwechsel, aus.38 So ist diese in TU noch vom Selben zum Anderen. In JS ist es jedoch der Andere, der die Subjektivität erst ‚einsetzt‘. Damit verbunden ist der Gedanke der absoluten Urvergangenheit und der Rekurrenz. Der Andere geht dem Selben immer voraus, wobei dieses ‚voraus‘ für das Subjekt immer uneinholbar bleibt. Die Bewegung muss vom Anderen ausgehen, sie muss dem ‚konstituierten Subjekt‘ vorausgehen. Sie muss aus einer uneinholbaren Urvergangenheit kommen, die gegenwärtiger
34TU,
S. 45. Vgl. auch Bedorf (2003 S. 32). (2011), im Folgenden (JS) abgekürzt. 36Vermutlich war hier auch Derridas Kritik an Levinas von Bedeutung. Vgl. Derrida (1976, S. 121–235). 37Vgl. Bedorf (2003, S. 33). 38Vgl. Klun (2000, S. 223). 35Levinas
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ist als wir selbst, da wir immer zu spät kommen (JS, S. 38).39 Somit kann das Subjekt weder der Ausgangspunkt der ethischen Bewegung sein, noch ist es in seiner Konstitution selbstständig.40 Es ist immer auf den Anderen angewiesen. Es herrscht also eine Asymmetrie zwischen Mir und dem Anderen. Das Subjekt wird so als sujet à in seinem Unterwerfungscharakter verstanden (JS, S. 188). Hierin liegt die asymmetrische Verantwortung, die Stellvertretung begründet, derer ich mich nicht entziehen kann (JS, S. 282). Das Subjekt tritt auf im Akkusativ, im Anklagefall als me (JS, S. 244). Das me voici im Akkusativ wird als hier, siehe mich, verantwortlich für alles und für alle, verstanden (JS, S. 253). Der Nominativ, das moi, tritt erst im Aussagevorgang der Antwort auf den Anspruch des Anderen auf, der mich zuvor uneinholbar angegangen hat.41 Die Transzendenz des Anderen besteht nun also nicht mehr in der Trennung vom Subjekt, in einem absoluten Außerhalb, sondern im Vorausgehen meiner selbst und somit der Konstitution des Subjekts.42 Levinas verdeutlicht dieses Motiv der Rekurrenz in dem Ausdruck der Schwangerschaft des Anderen im Selben (JS, S. 234). Andersheit ist so radikale Andersheit, keine relative Andersheit, wie bereits TU bei aller Problematik deutlich macht: Der Andere ist nicht Anders im Sinne einer relativen Andersheit, wie in einem Vergleich die Arten […]. Die Andersheit des Anderen hängt nicht von irgendeiner Qualität ab, die ihn von mir unterschiede; denn eine Unterscheidung dieser Art würde zwischen uns gerade jene Gemeinsamkeit […] voraussetzen, die die Andersheit schon vernichtet (TU, S. 277–278).
So schreibt Levinas in Die Spur des Anderen: „Es ist etwas anderes als dies alles [Unterschied, Ähnlichkeit, Unähnlichkeit], anders in absoluter Weise und nicht relativ auf irgendeinen Bezugspunkt“ (SpA, S. 213), wobei hier eher an radikale als an absolute Andersheit zu denken wäre.43 Schon in Vom Sein zum Seienden stellt Levinas dieses Konzept von Andersheit, auf das er nach Totalität und Unendlichkeit zurückkommen wird, klar: „Die Kategorie der Quantität beschreibt nicht die Andersheit des anderen, nicht einmal die Kategorie der Qualität; der
39Vgl.
Waldenfels (2005, S. 203). Klun (2000, S. 224). 41Vgl. Stoellger (2005, S. 292). 42Vgl. Klun (2000, S. 224–225). 43Vgl. JS, S. 52 u. v. a. 40Vgl.
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andere ist nicht bloß von anderer Qualität als ich, sondern trägt, wenn man so sagen darf, die Andersheit als Qualität.“44 Für die folgenden sozialphilosophischen Überlegungen sind die vorangehenden Analysen dahin gehend relevant, dass es von entscheidender Bedeutung ist, welches Konzept von Alterität einer Sozialphilosophie zugrunde gelegt wird. Dies soll am Beispiel des Anerkennungsbegriffs verdeutlicht werden.
3 Anerkennung, Identität und radikale Alterität 3.1 Philosophische Grundlegungsdiskurse um den Begriff ‚Anerkennung‘ Mit dem Begriff der Anerkennung haben wir es mit einem Begriff zu tun, der schon seit einiger Zeit beinahe inflationär in der Sozial- und politischen Philosophie, aber auch dem öffentlichen und politischen Diskurs, den Erziehungswissenschaften und auch der Theologie Anwendung findet, dabei jedoch häufig einer genaueren Klärung ermangelt. „Wer und was alles anerkannt werden soll und zu welchen pädagogischen, politischen, ökonomischen und sonstigen Zwecken die Anerkennung von Werten, Besonderheiten, Leistungen und Identitäten gefordert wird, ist kaum noch zu übersehen.“45 Aus philosophisch-grundlegender Perspektive – die für diesen Beitrag von Bedeutung sein soll – scheint in den meisten Überlegungen zum Anerkennungsbegriff in der Tradition Fichtes und Hegels Anerkennung als wechselseitiges Verhältnis bestimmt zu werden, als reziproke Wertschätzung in Form einer dyadisch-symmetrischen Beziehung.46 Wie unsere obigen Ausführungen bereits nahelegten, wohnt einer solchen dyadischen Konzeption noch das Moment eines vermittelnden Dritten inne, auf dessen Hintergrund die reziproke und symmetrische Versöhnung gelingen kann. Dies gilt es jedoch nach dem bisher erarbeiteten aus phänomenologischer und alteritätsphilosophischer Perspektive zu hinterfragen und die Konstitutionsbedingungen von Anerkennungsprozessen näher zu beleuchten. Eine weiter gefasste Beschreibung von Anerkennung als ‚Umgang mit Differenz‘ trifft
44Levinas
(1997, S. 119). (2014, S. 1). 46Vgl. Bedorf (2010, S. 10–11). 45Bedorf
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nun zwar die notwendig vorausgesetzte Erfahrung von Anerkennungsprozessen, da es ohne Differenz nichts anzuerkennen gäbe.47 Doch konnten die vorausgehenden Betrachtungen zur Andersheit und Intersubjektivität zeigen, dass Differenz nicht gleich Differenz ist, sodass alteritätsphilosophische Betrachtungen der Erfahrung von Differenz auf ihre Struktur hin wiederum Einfluss auf die Struktur von Anerkennungsprozessen nehmen. Bevor dies mit der Darstellung Bedorfs geschehen soll, wird zunächst ein wirkmächtiges Projekt einer symmetrisch-reziproken und dyadisch konzipierten Anerkennungstheorie vorgestellt und kritisch hinterfragt. Innerhalb der sozialphilosophischen und politisch-philosophischen Debatte gibt es verschiedene Theorien zur ‚Anerkennung‘. Bedorf teilt dabei das Feld der Diskussion um den Begriff der Anerkennung innerhalb der Sozial- und politischen Philosophie in drei Theoriemodelle ein: Zum einen die Theorie interkultureller Anerkennung (Fanon, Taylor), zum anderen die intersubjektivistische Theorie der Anerkennung (Honneth) und schließlich die Theorie der ‚subjektivierenden Anerkennung‘ (Althusser, Butler).48 Im Rahmen dieses Beitrags soll besonders der interkulturelle Ansatz Charles Taylors in Rückbezug auf Frantz Fanon im Fokus stehen, weshalb die anderen Ansätze nur im Anschluss und in aller Kürze thematisiert werden sollen.
3.2 Interkulturelle Anerkennung nach Charles Taylor 3.2.1 Multikulturalismus, Anerkennung und Politik der Differenz Der Ausgangspunkt für Taylors Überlegungen zum Begriff der Anerkennung liegen in dem „Bedürfnis nach Anerkennung“49. Beflügelt wird dies durch die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Anerkennung und Identität und der These, dass unsere Identität von der Anerkennung und Nicht-Anerkennung geprägt wird, sodass Menschen oder Gruppen auch Schaden von Nicht-Anerkennung tragen können (PA, S. 13). Fehlende Anerkennung kann Wunden hinterlassen, sodass Taylor das ‚Verlangen nach Anerkennung‘ als ‚menschliches Grundbedürfnis‘ bestimmen kann (PA, S. 14). Dass fehlende Anerkennung auch
47Vgl.
Bedorf (2016, S. 49). Bedorf (2010, S. 10). 49Taylor (2012, S. 13), im Folgenden (PA) abgekürzt. 48Vgl.
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dazu führen kann, dass multinationale Gesellschaften zerbrechen, wird von Taylor zwar erwähnt, aber leider nicht weiter verfolgt (PA, S. 51). Die Wurzel dieses ‚Bedürfnis nach Anerkennung‘ und dem Interesse am Zusammenhang von Identität und Anerkennung sieht Taylor zum einen im Aufkommen des Begriffs der Würde im Gegensatz zur Ehre als universalistischem und egalitärem Begriff, an der jeder Teil hat (PA, S. 15), zum anderen in der hervortretenden Auffassung der individualisierten Identität und damit verbunden dem Begriff der Authentizität, der Treue gegenüber der eigenen Existenz im Anschluss an Lionel Trilling (PA, S. 16). Ausgehend von der Idee einer inneren moralischen Ausstattung des Menschen bildete sich über Rousseau und Herder die Idee der Authentizität als Treue gegenüber dem Selbst, der je eigenen Person heraus und konnte dabei individuelle Personen als auch das Volk betreffen (PA, S. 17–18). Teilt Taylor diese Annahme einer Authentizität, so stellt er doch infrage, dass der Zusammenhang von Identität und Anerkennung über einen Begriff der Authentizität auf dem Modell einer monologischen Existenz basiert (PA, S. 19). Nach Taylor zeichnet sich die Existenz demgegenüber durch einen dialogischen Charakter aus. „Die Genese des menschlichen Verstandes […] ist dialogisch. […] Wir bestimmen unsere Identität stets im Dialog und manchmal sogar im Kampf mit dem, was unsere ‚signifikanten Anderen‘ in uns sehen wollen“ (PA, S. 20). Die Identität hängt so wesentlich von den je eigenen dialogischen Beziehungen ab (PA, S. 21). Identität ist so auf Anerkennung des Anderen angewiesen, weshalb Taylor auch hier auf Hegel verweist. So bezieht sich der Anerkennungsdiskurs dabei sowohl auf die Ebene persönlicher Beziehungen im Rahmen der Authentizität als auch auf die gesellschaftliche und politischen Ebene im Rahmen der egalitären Anerkennung (PA, S. 23–24). Taylor wird seine weitere Untersuchung auf diese öffentliche Sphäre konzentrieren: auf die Politik gleichheitlicher oder egalitärer Anerkennung. Diese bezeichnet zwei unterschiedliche Ansätze. Zum einen eine Politik des Universalismus, der universellen Würde (PA, S. 24.26) und zum anderen eine Politik der Differenz (PA, S. 25). Gemäß dem ersten Ansatz kommt allen ‚Bürgern‘ die Würde als universales Prinzip im gleichem Maße zu. Der zweite Ansatz verlangt demgegenüber nach der Anerkennung der Besonderheit, der unverwechselbaren Identität. Nun liegt zwar auch hier ein universales Prinzip zugrunde: die Identität, die jeder Mensch hat (PA, S. 24–26). Doch ergibt sich hier auch schon nach Taylor das Problem dieses Ansatzes: „Wir können das, was universell vorhanden ist – jeder Mensch hat eine Identität –, nur anerkennen, indem wir auch dem, was jedem Einzelnen eigentümlich ist, unsere Anerkennung zuteil werden lassen“ (PA, S. 26). So erkennen nach Taylor Verfechter der universellen Würde einen Verrat an ihrem Prinzip der Gleichheit, dem ‚differenz-blinden‘ Verhalten oder dem Grundsatz der ‚Nicht-Diskriminierung‘ (PA, S. 26–27,29). Demgegen-
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über wird vonseiten der Politik der Differenz vorgeworfen, die Identität würde unter dem Aspekt des allen Gemeinsamen homogenisiert und assimiliert (PA, S. 25). Könnte man dem mit der Überlegung begegnen, dass bei beiden ein universelles Potenzial, eine Fähigkeit des Menschen im Mittelpunkt steht – vernünftiges Handeln, Hervorbringung einer Identität oder Kultur –, so verschärft sich die Problemlage jedoch durch die Forderung vonseiten der Politik der Differenz, „daß man den verschiedenen Kulturen, so wie sie sich faktisch entwickelt haben, gleich viel Respekt entgegenbringen müsse“ (PA, S. 28). Die potenzielle Gleichwertigkeit wird überschritten zur tatsächlichen Gleichwertigkeit, in dem, was die jeweiligen Kulturen ‚hervorgebracht‘ haben. Desweiteren wird vonseiten der Politik der Differenz der durchaus richtige Vorwurf erhoben, „[…] der angeblich neutrale Komplex ‚differenz-blinder‘ Prinzipien […] spiegele in Wirklichkeit eine ganz bestimmte hegemoniale Kultur“ (PA, S. 29–30), d. h. der Liberalismus ist ein Partikularismus im Gewande des Universellen (PA, S. 30). So scheinen beide Spielarten des Anerkennungsdiskurses kaum miteinander versöhnbar zu sein. Eine genauere Untersuchung über die Entstehung soll laut Taylor hierfür jedoch zielführend sein. In einer Betrachtung der Entstehung der Politik der allgemeinen Menschenwürde stellt Taylor zwei Varianten heraus. Zum einen die Variante Rousseaus, der im Modell der Ehre eine schlechte Abhängigkeit sieht, eine Abhängigkeit von der wohlwollenden Meinung anderer (PA, S. 31). Dies sei mit dem Begriff des Stolzes verbunden. Anstatt nun jedoch dem stoisch und christlichen Lösungsvorschlag zu folgen, sich um die Meinung anderer nicht zu kümmern, bleibt Rousseau bei einer Betonung der Abhängigkeit. Abhängigkeit jedoch auf Grundlage der Gleichheit: Jeder ist von jedem in gleichem Maße abhängig (PA, S. 33). Um dies zu erreichen, wird ein allgemeiner Wille, eine Einmütigkeit im Wollen vorausgesetzt. So lassen sich Freiheit und Abhängigkeit miteinander vereinbaren (PA, S. 34). „Unter der Ägide des allgemeinen Willens sollen alle Bürger gleichermaßen geehrt werden. Das Zeitalter der Würde bricht an“ (PA, S. 36). Hegel wird dies aufnehmen und in seiner Dialektik von Herr und Knecht in Bezug auf das Bewusstsein anwenden. Mit Hegel kann Taylor schließen: „Der Kampf um Anerkennung kann nur eine zufriedenstellende Lösung finden, nämlich indem gegenseitige Anerkennung unter Gleichgestellten zustande kommt“ (PA, S. 36). Problematisch scheint für Taylor jedoch das Konzept eines allgemeinen Willens, das Rollendifferenzierung ausschließt und mit jeglicher Differenz unvereinbar zu sein scheint (PA, S. 36–37). Gilt das auch für die zweite Variante, die Variante Kants, welche die allgemeine Freiheit betont und von den beiden anderen Elementen des Rousseauschen Diskurses ‚Fehlen differenzierter Rollen‘ und ‚allgemeiner Wille‘ trennt?
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Gilt das auch für den Liberalismus? Wird auch diesem vorgeworfen, das Eigentümliche nicht anerkennen zu können, so gibt dem Taylor teilweise recht. „Es gibt tatsächlich bestimmte Formen dieses Liberalismus, die […] die Besonderheit kultureller Identitäten nur in sehr beschränktem Maße anerkennen können“ (PA, S. 38). Taylor spricht hierbei vom ‚Rechte-Liberalismus‘ (PA, S. 38). Doch ist dies nicht die einzige Form. Am Beispiel Canadas will Taylor dies verdeutlichen. Mit der Verabschiedung der Canadian Charter of Rights 1982 wurde ähnlich der Bill of Rights ein Rechtekatalog erlassen, der allen juristischen – auch politisch relevanten verfassungsrechtlichen – Entscheidungen als Überprüfungskriterium vorgeordnet sein soll. Zwei Gruppen von Kriterien sind dabei von Bedeutung: Zum einen Individualrechte, zum anderen das Recht auf Gleichbehandlung bzw. Nicht-Diskriminierung (PA, S. 39–40). In Kanada hat nun der Regierungsbezirk Quebec zum ‚Überleben‘ der frankofonen Kultur spezifische Gesetze im Sinne von ‚kollektiven Zielsetzungen‘ erlassen (Sprachgesetze bezogen darauf, wer seine Kinder auf französischsprachige Schulen schicken muss, dass in bestimmten Firmen die Geschäftssprache Französisch sein muss und ein Verbot von Plakatwerbung in anderen Sprachen außer Französisch) (PA, S. 39). Dies kann – und wird – nun als Verstoß gegen die Canadian Charter of Rights verstanden werden, da zum einen individuelle Rechte verletzt werden wie die Handlungsfreiheit (z. B. keine freie Schulwahl für meine Kinder) und zum anderen dieses Eintreten für kollektive Ziele nicht alle begünstigt und so einige diskriminiert – so haben anglofone Kanadier freie Schulwahl in sprachlicher Hinsicht, während frankofone Kanadier diese nicht haben (PA, S. 41). So schien und scheint für viele die Charta gegen die Ausrichtung Quebecs als ‚Gesellschaft mit besonderem Charakter‘ verteidigt werden zu müssen. Hierbei beruft man sich auf Denker eines, wie Taylor ihn nennt, prozeduralen Liberalismus wie bei Rawls oder Dworkin, der die allen zukommende Würde als Autonomie im Sinne einer Fähigkeit, eine eigene Idee vom guten Leben zu entwickeln, beschreibt, der sich dabei nicht mit einer inhaltlich bestimmten Auffassung des guten Lebens (substanzieller Liberalismus) verbindet (PA, S. 42–43). Als Gesellschaft mit kollektiven Zielen mit einer Politik der survivance verstößt Quebec gegen dieses Modell, da sie nicht nur die Möglichkeit der Frankofonie eröffnen will, sondern deren Wirklichkeit umsetzen, erzeugen will (PA, S. 44–45). Wer dies jedoch teilt, wird sich für ein anderes Liberalismus-Modell aussprechen. In diesem Modell steht zentral die Anschauung von unumstößlichen Grundrechten – ganz in der Tradition des prozeduralen Liberalismus –, die jedoch noch einmal von Vor- und Sonderrechten unterschieden werden müssen, die widerrufen und beschnitten werden können (PA, S. 45). Wie liberal eine Gesellschaft ist, zeigt sich dabei im Umgang mit den Minderheiten und denen, die die kollektiven Ziele nicht teilen: Respekt der Viel-
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falt und Platz für die Integrität der Kulturen (PA, S. 46, 48). Taylor spricht sich hinsichtlich der multikulturellen Entwicklung von Gemeinschaften und der Unaufgeschlossenheit gegenüber der Differenz vonseiten des prozeduralen Liberalismus eindeutig für das Modell des substanziellen differenz-sensiblen Liberalismus aus (PA, S. 47–48). Einen Vorwurf gibt es jedoch noch zu thematisieren und hier werden wir erneut auf die Bahnen der Anerkennung zurückgeführt: Der Liberalismus kann keine vollständige kulturelle Neutralität beanspruchen, ist eine kämpferische Weltdeutung und muss Grenzen ziehen (PA, S. 49). Der substanzielle Liberalismus kann dies akzeptieren. Kommt es nun zur Infragestellung dieser Grenzziehungen und als Antwort darauf zu Marginalisierungen, erwächst aus multikultureller Perspektive ein Problem: „Damit stoßen wir erneut auf das Problem der Anerkennung […], daß wir alle die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Kulturen erkennen sollen; daß wir sie nicht nur leben lassen, sondern auch ihren Wert anerkennen sollen“ (PA, S. 50). Es geht um Gleichwertigkeit. Die Problematik der Nicht-Anerkennung des Wertes liegt darin, dass diese der Formung der Identität, der Treue zum Selbst, dem Authentisch-Sein schadet, indem in Anlehnung an Fanon den ‚Unterworfenen‘ ein Selbstbild aufgeprägt wird, das sie erniedrigt und von dem es sich zu befreien gilt (PA, S. 52). Formt Anerkennung die Identität und schadet folglich Nicht-Anerkennung der Formung derselben, so muss der Kampf um Freiheit und Gleichheit die verzerrenden Faktoren ausräumen, mit dem Ziel der Gleichrangigkeit aller Kulturen (PA, S. 52–53). Werturteile grundsätzlich in Zweifel zu ziehen, was einem neo-nietzscheanischen Standpunkt – hier bezieht er sich offensichtlich auf Denker wie Foucault und Derrida – zugeschrieben wird, lehnt Taylor explizit ab,50 und kommt zu dem Schluss: die Annahme lautet „[…] offenbar, daß alle Kulturen von gleichem Wert seien […], daß alle menschlichen Kulturen, […] allen Menschen etwas wichtiges zu sagen haben“ (PA, S. 53).51 Taylor betont dabei den Charakter der Annahme als Ausgangshypothese oder Haltung im Studium anderer Kulturen (PA, S. 53.59). Es gilt dann zu schauen, ob sich diese Annahme in der Untersuchung bewahrheitet. Dies stellt sich im Prozess der Gadamerschen Horizontverschmelzung ein, die für Taylor enormen Stellenwert besitzt: In der Horizontverschmelzung entsteht ein neues Wertverständnis, das es uns ermöglicht, vorher
50In
der Kritik wird deutlich, warum Taylor dies ablehnen muss. Weise wird dies noch eingeschränkt, auf ein längeres zeitliches Bestehen dieser Kulturen, um es vermutlich von Modeerscheinungen abzugrenzen. Vgl. Bedorf (2013, S. 37).
51Interessanter
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fremden kulturellen Erzeugnissen Wertigkeit zuzusprechen (PA, S. 54,58). Dies wird gegen die Forderung betont, diese Annahme müsse als Recht eingefordert werden, sodass allem, was andere Kulturen hervorgebracht haben, gleicher Wert beigemessen werden muss (PA, S. 55). „Bei unserer Beschäftigung mit fremden Kulturen werden wir entweder etwas entdecken, das großen Wert besitzt oder nicht. Aber zu fordern, daß wir etwas finden müssen, ist […] unsinnig […]“ (PA, S. 56). Dies ist es schon deshalb, weil die Bewertung „gleichwertig wie“ Kriterien voraussetzt, von denen aus zuerst der Wert der einen Kultur und dann der anderen bestimmt werden kann. Solche Kriterien können jedoch entweder nur universale kulturübergreifende Kriterien sein oder aber Kriterien aus der je eigenen Kultur. In beiden Fällen führt es zu Assimilation und Aufhebung von Differenzen, sei es aus universalistischer oder aus ethnozentrischer Perspektive.52 Taylors Vorschlag besagt also lediglich: „Es gibt andere Kulturen, und wir müssen mit ihnen zusammenleben […]“ (PA, S. 59). Gefordert wird lediglich eine Annahme als offene Haltung im Kontakt mit Kulturen, dass jede Kultur intrinsischen Wert besitzt,53 also etwas Wichtiges beitragen kann. Diese Politik der Anerkennung als Haltung spielt sich dabei im Dialog der Kulturen, also in dyadischen Relationen ab. Dyadisch, da sie auf Reziprozität und Symmetrie beruhen. Wenn Taylor sich hierbei sowohl von den Gegnern der Multikulturalisten als auch von ‚vielen‘ Multikulturalisten abgrenzt, so besagt dies jedoch nicht, dass Taylor kein Vertreter eines Multikulturalismus sei. Dies ist er ganz eindeutig. Er grenzt sich lediglich von den Positionen eines Multikulturalismus ab, der selbst universalistische oder ethnozentrische Maßstäbe befördert. Ob Taylor jedoch selbst nicht auch universalistische Maßstäbe ansetzt – wie z. B. das Potenzial der Gleichwertigkeit, also das Vermögen als universalistische Größe und die Normativität, die der Haltung zugrunde liegt –, scheint an dieser Stelle ein nicht unbegründeter Verdacht zu sein. Und so muss dann auch konsequent gefragt werden, ob nicht auch die universale Annahme einer Potenzialität im Gefolge Kants letztendlich wiederum eine ethnozentristische Annahme, die im Gewand des Universalen daherkommt, ist. Wie steht es dann bei Taylor mit dem Umgang mit Differenz? Und was für ein Verständnis von Differenz ist dem vorgelagert?
52Vgl. 53Vgl.
dazu Bedorf (2010, S. 36–37). Bedorf (2010, S. 37).
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3.2.2 Kritik Eine kritische Betrachtung des Taylorschen Ansatzes kann hier Klarheit schaffen und Voraussetzungen und Vorentscheidungen aufzeigen, die Taylors Überlegungen zugrunde liegen. Kann dabei der nicht weiter begründete normative Anspruch, eine Haltung einnehmen zu müssen, was Taylors eigene Kritik an bestimmten Multikulturalisten ist, vernachlässigt werden, so scheint ein tieferes Problem im Verhältnis zwischen dieser Haltung und Taylors Betonung der Authentizität und des Selbst zu bestehen: Die Annahme einer Durchlässigkeit und Veränderbarkeit der Identität gerät in Konflikt mit der Treue zum Selbst, der Authentizität als Sistierung der Identität. Ist nicht die Verschmelzung der Horizonte als Assimilation zu verstehen, als Verrat gegen die Treue zum Selbst?54 Taylors Verständnis von Identität verweist uns zugleich auf den zugrunde gelegten Differenzbegriff. Eine Kritik am interkulturellen Ansatz lässt sich so im Anschluss an Bedorf und Liebsch an mindestens vier Problemfeldern orientieren: Erstens kann man mit Bedorf sagen, dass Taylor eine unnötige Verkürzung des Kulturbegriffes vornimmt, indem er diesen auf Kulturerzeugnisse von ‚Hochkulturen‘ einschränkt.55 „Damit wird […] der welterschließende, praxisleitende und sinnstiftende Charakter kultureller Wirkungen auf einen engen Kreis klassischer Erzeugnisse eingeschränkt.“56 Differenz besteht so im interkulturellen Ansatz als bestimmte Differenzen zwischen den Erzeugnissen, Leistungen und Eigenschaften von Kulturen. Zweitens lässt sich im Denken Taylors eine Fixierung auf die Identität feststellen. Der interkulturelle Ansatz der Anerkennung geht davon aus, dass in der Begegnung von Kulturen auf bestehende, zu erwerbende oder wiederzugewinnende Identitäten zurückgegriffen werden muss.57 Dieser Begriff der Identität wird von Taylor dabei durch den Authentizitätsbegriff grundgelegt. Taylor beschreibt in Die Quellen des Selbst58 mit der Neuzeit einen Bruch im Moralverständnis, insofern die Quelle der Moral nicht mehr im transzendenten Kosmos, der guten Ordnung gefunden wird (QS, S. 214–234), sondern in der Innerlichkeit. Taylor zeigt auf, wie sich die Quelle im Laufe der Philosophiegeschichte immer weiter ins Innere verlagert, bis zu einem völlig atomisierten,
54Vgl.
Bedorf (2010, S. 40–41). Bedorf (2010, S. 41–42). 56Bedorf (2010, S. 42). 57Vgl. Bedorf (2010, S. 42). 58Taylor (1996), im Folgenden (QS) abgekürzt. 55Vgl.
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vom ‚Äußeren‘ unabhängigen punktförmigen Subjekt (QS, S. 315). Entgegen der neuzeitlichen Tendenz jedoch, von einem punktförmigen Selbst, von einer punktförmigen Identität, einer ‚desengagierten Vernunft‘ auszugehen, für das Kant als Paradebeispiel gilt (QS, S. 639), spricht sich Taylor in der Tradition des romantischen Expressionismus für ein radikal situiertes Selbst aus (QS, S. 887– 888), das „besagt, dass die Frage danach, wer wir jeweils sind, ohne Bezug auf die Lebensformen, denen wir zugehören, gar keinen rechten Sinn ergibt.“59 Das Selbst erscheint als ein konstitutiv relationales, das auf Sozialität angewiesen ist, immer schon in Kulturen, Traditionen und Werten eingebunden ist, engagiert ist. Taylor kann sich hierbei u. a. auf Heidegger berufen, dessen Begriff des Daseins er auch übernimmt und ethisch moralisch auflädt. Dasein bedeutet nach Taylor einen Standort, eine Perspektive im Raum moralischer Probleme einzunehmen, diese Perspektive zu sein (QS, S. 209). Eine solche Perspektive oder Standort ist das Dasein als Frage nach dem Selbst-Sein, das als Urmotiv der existenziellen Selbst-Verlorenheit, die zu überwinden ist, gegenübersteht.60 Die Frage nach der Perspektivierung wird nun, wie erwähnt, moralisch bestimmt, wenn Taylor schreibt: „Wissen, wer ich bin, ist eine Unterart des Wissens, wo ich mich befinde. Definiert wird meine Identität durch die Bindungen und Identifikationen, die den Rahmen oder Horizont abgeben, innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist oder was getan werden sollte bzw. was ich billige oder ablehne“ (QS, S. 55). So gelten die sog. ‚starken Wertungen‘ als Eckpfeiler der Verortung des Standortes einer regionalen Zugehörigkeit, welche die Unterschiede zwischen ‚richtig‘ und ‚falsch‘ beinhalten und so unabhängig von unseren „eigenen Wünschen, Neigungen und Entscheidungen“ einen Maßstab liefern, „den ich anerkennen sollte“ (QS, S. 17). Können nun diese starken Wertungen strittig sein und umgewertet werden, scheint Taylors Theorie bei aller Diversität dessen, was man als gut betrachtet, doch von einer Teleologie durchzogen zu sein (QS, S. 176–177).61 So geht Taylor davon aus, „dass die Orientierung am Guten inmitten dieser strittigen Wertungen grundsätzlich die Führung behält.“62 Taylor spricht von einem Verlangen im menschlichen Leben – „Wir müssen im Verhältnis zum Guten den richtigen Standort einnehmen“ (QS, S. 89) –, von der Liebe zum Guten, zum Gut-sein
59Liebsch
(2001, S. 67). Liebsch (2001, S. 72). 61Vgl. auch Bedorf (2010, S. 101). 62Vgl. Liebsch (2001, S. 74). 60Vgl.
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(QS, S. 178). Dieses universelle Gute ist ganz nach Heidegger, das Selbst-Sein, die Sorge des Selbst (QS, S. 66, 89, 177–178).63 Oder eben: Authentizität.64 So gibt es auch für Taylor ein universelles Gutes, ein Eigentliches. Freilich ist dieses Gut-sein, wie von Taylor bereits herausgestellt, als Selbst-Sein nur im Rahmen von Lebensformen als narrativ-geschichtliche Artikulation möglich (QS, S. 71). Nun scheint mir jedoch gerade diese Teleologie des Selbst-Seins, die sich jedoch immer narrativ-geschichtlich und in sozialen Bezügen ‚verwirklicht‘, zumindest abspielt, ganz dem Hegelschen Duktus der Selbstfindung im Durchgang durch den Anderen zu entsprechen, der sich ebenso beim späten Heidegger findet (GA 53, S. 67–68). Das Denken einer unmittelbaren Ursprünglichkeit, Authentizität und Eigentlichkeit wird auch hier in der teleologischen und nostalgischen Sehnsucht deutlich. Wird nun dieses Ideal der Authentizität auf die interkulturelle Ebene verschoben, so kommt das Problem hinzu, dass allen Mitgliedern eines Kollektivs ein solches Authentizitätsideal der jeweiligen Kultur vorgegeben ist, sodass ein jedes Ich im Wir aufgeht oder, wenn es den Ansprüchen auf Authentizität nicht genügt, als unauthentisch gilt und eventuelle Folgen dafür tragen muss. Mit Bedorf lässt sich von einer intra-identitären Verhärtung sprechen.65 Das Ich geht im Wir auf, und die kollektive Identität stellt sich als monolithischer Block dar. Doch ist immer schon jede Wir-Rede an jemanden rückgebunden, der Wir sagt, sodass diese Verfestigung zu authentischen kollektiven Entitäten verunmöglicht wird.66 Das Problem potenziert sich nun jedoch, wenn in der Begegnung von Kulturen der eigenen, aber eben auch der/den fremden eine authentische Identität zukommt. Findet nach Taylor nämlich nun die Horizontverschmelzung auf der dyadischen, reziprok-symmetrischen Ebene statt, so wird zugunsten der Offenheit die Authentizität einer der Kulturen, oder sogar aller, verletzt, ist doch Assimilation die Todsünde gegenüber der Authentizität (PA, S. 25). Bedorf spricht hier von einer extra-identitären Auflösung.67 Diese kann bis zur Essentialisierung der Vermischtheit selbst führen.68 Die Aufrechterhaltung des Authentizitätsideals im Zuge der Horizontverschmelzung wäre nur dann unproblematisch, wenn ein vermittelndes Drittes angenommen wird, vor dessen Hintergrund die sich
63Vgl.
Liebsch (2001, S. 74). Taylor (1991, S. 15–29). 65Vgl. Bedorf (2010, S. 42). 66Vgl. Waldenfels (2006a, S. 123). 67Vgl. Bedorf (2010, S. 42). 68Vgl. Bedorf (2010, S. 109). 64Vgl.
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begegnenden Kulturen – wenn nicht schon eine Kultur die Authentizität realisiert – in ihrem vorläufigen Authentisch-sein herausgestellt werden. Auch in diesem Fall bleibt die Teleologie des Authentischen leitend: Was unauthentisch ist, wird aufgegeben, was authentisch ist, bleibt bestehen oder wird in der Horizontverschmelzung angeeignet. So braucht es auch im Zuge der Horizontverschmelzung einen Rahmen, ein Kriterium oder vermittelndes Drittes, vor dessen Hintergrund entschieden werden kann, den Wertprimat der anderen Kultur zu übernehmen oder den eigenen beizubehalten. Ein solches vermittelndes Drittes wiederum muss in seiner Universalität befragt werden. Ist nicht auch dieses lediglich ethnozentrisch unter dem Deckmantel des Universellen? Desweiteren macht uns dies auf einen Widerspruch im Denken Taylors aufmerksam: So stellt sich die Frage, ob sich der Identitätsbegriff im Zuge der Anerkennung nicht verdoppeln müsste, wenn das Anerkennungsgeschehen einen konstativ-bestätigenden aber auch einen performativ stiftenden oder zumindest erweiternden Zug beinhaltet. Diesen nicht aufhebbaren Widerspruch scheint Taylor nicht zu bemerken. Dies führt uns zum dritten Problemfeld. So bringt auch Taylors Begriff der Haltung einige Probleme mit sich: Zunächst ist ungewiss, „wer sich überhaupt zu jener Haltung entschließen kann, ob ein solcher Entschluss möglich ist und wenn ja, warum.“69 Bei Taylor bleibt diese Verbindlichkeit und Festigkeit unhinterfragt. Wird hier nicht bereits ein universales Vermögen vorausgesetzt? Doch wie kommt es zu Haltungen? Sind nicht auch sie wiederum eingebettet in Entstehungsprozesse? So ist nach Bedorf auch eine Haltung ein „Kulturprodukt“, sodass „die Haltung der Offenheit selbst keine Alternative zur universalistischen Homogenisierung sein kann, weil sie selbst strenggenommen eine ethnozentrische Partikularität wäre.“70 Desweiteren wird dieselbe Haltung auch beim Gegenüber angenommen. Auch der Anzuerkennende muss in der Haltung der Offenheit sein, damit die Horizontverschmelzung im Anerkennungsprozess gelingen kann. Diese dyadische Relation als Reziprozität wird von Taylor jedoch lediglich behauptet – nicht begründet.71 Und so gelangen wir schließlich zum vierten Problemfeld, das aufs engste mit den vorigen dreien verbunden ist: der indifferente Differenzbegriff. Nach Liebsch steht eine ‚Politik der Differenz‘ im Zuge des unterschiedslosen Gebrauchs von Differenz in der Gefahr, dass ihr Begriff von Differenz „zur begrifflichen Nacht zu werden droht, in der am Ende nur mehr das Grau-in-Grau einer indifferenten
69Bedorf
(2010, S. 43). (2010, S. 43–44). 71Vgl. Bedorf (2010, S. 44). 70Bedorf
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Verschiedenheit herrscht.“72 Oder mit Ricœur gesprochen: „Man endet […] in einer Apologie der Differenz um der Differenz willen, die im Grenzfall sämtliche Differenzen indifferent macht […].“73 Das Problem dahinter scheint zu sein, dass relative Andersheit und radikale Andersheit oder Fremdheit unhinterfragt als ein und dasselbe behandelt werden. Dieses Auftreten von Differenz oder Andersheit als lediglich Verschiedenheit hat lange philosophische Tradition – sei es in der klassischen Philosophie vor dem Hintergrund des Logos,74 bei Hegel vor dem Hintergrund der Aufhebung, selbst bei Adorno scheint dies durch, der unter dem Nicht-Identischen auch das Besondere jedes einzelnen Menschen versteht und im Zuge dieser Nicht-Identität auch von einer gegeben Identität ausgehen muss.75 Eine radikale Differenz oder Alterität ist hier nicht im Blick. Ebenso bei Taylor: So bringt er nach Liebsch „Differenzen als Differenzen zum Vorschein, die ‚einen Unterschied machen‘ – einen bestimmten Unterschied […].“76 Im Zuge des Authentizitätskonzept ließe sich mit Bourdieu der Verdacht eines substanzialistischen Kulturbegriffs erheben,77 sodass die Kulturen im Rahmen einer Ontologie als ontisch Vorhandenes behandelt werden und die aufkommende Differenz im dyadisch konzipierten reziproken Kulturkontakt ontologischer Art ist.78 Kulturen sind als kollektive Identitäten vorhandene Entitäten oder Seiende, die sich in ihren im Wesen angelegten Merkmalen vor dem Hintergrund des Sein unterscheiden. Sie stehen dyadisch in relativer und wechselseitiger Andersheit zueinander. Die Andersheit der anderen Kultur besagt lediglich eine andere Qualität der Kultur als die meine. Diese lediglich auf dem Vergleich basierende Andersheit von Kulturen setzt einen gemeinsamen Rahmen voraus, ein ‚Hinsichtlich‘ des Unterschieds, der entweder aus universalistischer Perspektive oder ethnozentrischer Perspektive einer Politik der Differenz widerspricht.79 Taylors
72Liebsch
(2001, S. 155). (1996, S. 346). 74Vgl. Waldenfels (1997, S. 16–18). 75Vgl. Liebsch (2001, S. 159–160). 76Liebsch (2001, S. 171). 77Bourdieu (1998, S. 16). 78Vgl. Liebsch (2001, S. 208) Anm. 46 und auch Hauck (2006, S. 419–420). 79Vgl. Bedorf (2010, S. 44) und Liebsch (2001, S. 171). Taylor weiß um diesen gemeinsamen Bedeutungshorizont, der seinem Konzept von Anerkennung zugrunde liegt (vgl. Taylor (1995, S. 63), und bestätigt so seinen lediglich relativen Begriff von Differenz und Andersheit. 73Ricœur
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interkultureller Ansatz zur Anerkennung bietet so „eher die Formulierung eines Problems als dessen tragfähige Lösung.“80
3.2.3 Intersubjektivistische Anerkennung – Axel Honneth Axel Honneth geht in seiner Anerkennungstheorie nun über Taylor hinaus, indem er die Einseitigkeit des Ziels der Anerkennung auf Rechtsgleichheit und Wahrung der Identität auf die soziale Anerkennung mit einhergehender Selbstverwirklichung ausweitet: Honneth zielt auf eine „normativ gehaltvolle Gesellschaftstheorie“81,82. Honneths Überlegungen zur Anerkennung werden so grundsätzlicher verortet.83 Als Ausgangspunkt gilt zunächst die teleologische Setzung der Identität oder Selbstwerdung, die dann in Hegelscher Tradition nicht ohne wechselseitige intersubjektive Anerkennung möglich ist. Auch hier sind dyadische Relationen vorausgesetzt. Diese Struktur ist in drei Sphären unterschieden: Die primären Nahbeziehungen, wie in der Eltern-Kind-Beziehung oder der Freundschaft, in denen wechselseitig Selbstbewusstsein gefördert wird; das Recht als wechselseitige Anerkennung als Rechtspersonen mit der Förderung von Selbstachtung und die soziale Wertschätzung oder Solidarität, in der die Anerkennung einer Person im Kontext eines Wertekollektivs aufgrund seines sozialen Wertes vermittels der individuellen sozialen Leistung stattfindet und die Selbstschätzung in spezifischen Kontexten fördert. Als das bewegungsgebende normative Moment des Kampfs um Anerkennung gelten die jeweils entsprechenden empirischen Negationen, Pathologien oder Missachtungserfahrungen, die in einer der Anerkennung vorausgehenden Erkenntnis wurzeln: Misshandlung, Entrechtung und Entwürdigung. Auf diese Erkenntnis gilt es mit Anerkennung zu antworten. Auch dies geht über den interkulturellen Ansatz hinaus, der uns keine Begründung für das normative Moment liefert. In der Theorie Honneths zeigt sich nun jedoch eine Entwicklung, die von einer der Anerkennung vorangehenden Erkenntnis bis zu einer dem kognitiven Zugang vorgängigen Haltung der Anerkennung, also einer existenzialen Dimension fortschreitet. In dieser existenziellen Haltung wird zwar der kognitive Primat der Beobachterperspektive aufgegeben, doch gleichzeitig auch die Reziprozität und so die normative Motivation für Anerkennungskämpfe. Der Ausgangspunkt der Anerkennung scheint nun selbstverständlich dem Selbst
80Bedorf
(2010, S. 44). (1994, S. 148). 82Vgl. Bedorf (2010, S. 46–47). 83Zur folgende Darstellung und Kritik vgl. Bedorf (2010, S. 47–77). 81Honneth
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übergeben, indem es die Haltung aus sich selbst heraus annimmt: Anerkennung ausgehend von einem kompetenten Akteur. Der Andere wird dazu als Durchgang gebraucht, auf den sich das Selbst von sich aus zubewegt. Doch warum sollte es das tun? Was ist nun die normative Motivation? Bleiben Honneths Überlegungen trotz Aufgabe der Reziprozität dyadisch, so ist nicht geklärt, wie Honneth in diese Anerkennungsstruktur Normativität implementieren kann. Warum sollte ich den Anderen anerkennen? Als Ausweg aus diesem Vakuum dient das Telos eines affirmativen Selbstverhältnisses, einer Selbstbejahung oder Selbstverwirklichung, die auf Selbst-Anerkennung angewiesen ist. Honneth muss dabei von einem moralischen Fortschritt ausgehen, der es ihm erlaubt, Anerkennungsformen zu bewerten. Gelten darin Individualisierung und Inklusion als generalisierter Entwurf des guten Lebens, so zeichnet sich Honneths Theorie erneut als teleologisch auf die Selbstverwirklichung ausgerichtet aus. Andersheit und Differenz treten auch hier jedoch nur im Ausgang vom Selbst als relative, zu überwindende Andersheit auf. So wird in der dyadischen Konzeption der Andere zum ‚Spiegel des Selbst‘, an dem das Selbst seine Identität gewinnen kann.84 Das Selbst ist Ausgang und Ziel der Anerkennung: Arché und Telos.
3.2.4 ‚Subjektivierende Anerkennung‘ – Judith Butler Die Theorie der subjektivierenden Anerkennung Butlers85 ist nun wiederum als deutlicher Fortschritt gegenüber der interkulturellen als auch der intersubjektiven Anerkennungstheorie zu bewerten, da dieser Ansatz nicht von bereits bestehenden Kulturen oder Subjekten und deren Relationen ausgeht, sondern sich mit der Subjektivierung selbst, der Subjektwerdung auseinandersetzt. Grundlage dieser Theorie bildet dabei die Thematisierung des Anerkennungsbegriffs Althussers im Rahmen seiner Überlegungen zur Ideologie und ideologischen Staatsapparaten. Herrschen Staatsapparate aufgrund der Ideologie – im Gegensatz zu repressiven Staatsapparaten –, so zeigt sich eine doppelte und dyadisch wechselseitige Abhängigkeit: „Die Ideologie gibt es nicht ohne ihre Realisierung in historisch gebundenen Praxen und Ritualen, wie umgekehrt die subjektiven Praxen durch den ideologischen Apparat definiert werden, ohne den sie keinen Sinn hätten.“86 Diese Praxen bezeichnet Althusser nun als ‚rituels de la reconnaissance‘, was zum einen Anerkennung und zum anderen Wiedererkennung
84Vgl.
Bedorf (2009, S. 74). folgende Darstellung und Kritik vgl. Bedorf (2010, S. 78–98). 86Bedorf (2010, S. 79). 85Zur
Anerkennung, Identität und radikale Alterität …
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bedeutet. Nach Althusser besagt dies, dass Subjekte erst in der ideologischen Praxis, der Anerkennung der Anrufung durch die Ideologie zu Subjekten werden. In der zwanglosen Hinwendung zum Ruf erkennt der Angerufene den Rufenden an und wird so als Subjekt wiedererkannt, konstituiert: Die Ideologie konstituiert erst die Subjekte. Hier wird zugleich das Spiel des sujet de und sujet à, des Handlungsmächtigen und des Unterworfenen, deutlich, das bereits ein störendes und vorgängiges Moment der Anrufung in die harmonisch gleichzeitige Wechselseitigkeit der Anerkennung einträgt. Althussers Ideologiebegriff erscheint dabei geschlossen, sodass es kein Außen der Ideologie gibt, haben wir doch immer schon die Anrufung der Ideologie anerkannt und sind so immer schon von ihr und durch sie konstituiert. Diese Geschlossenheit wird nun von Butler aufgebrochen mit der Behauptung, die Wiederholungsform der ideologischen Praxis ermögliche – ähnlich der Iterabilität Derridas, die in die Wiederholung das Alteritätsmoment einträgt – Verschiebungen und Aufbrechungen. Dabei wird Althussers Theorie dahin gehend interpretiert, dass die Subjektwerdung an den Gehorsam (Anerkennung) gegenüber dem diskursiven Gesetz (Anrufung) gebunden ist. Hier wird nun die wechselseitige Verwiesenheit Althussers eingeengt und mit einem Zwang verbunden, mit einer Verletzung, mit einem gewaltsamen und hierarchisierten Auferlegen des Diskurses. Dieser Herrschaft des Diskurses kann das Subjekt entkommen, da der jeweilige Gehorsam in den idealistischen Praxen als performative Äußerungen nie völlig identisch wiederholt werden kann. „Die Wiederholung der Anerkennung der verletzenden diskursiven Zuschreibung eröffnet zugleich die Chance auf eine Verschiebung.“87 Identität ist so immer nur vorläufig fixiert. Es gibt Identität, aber nur als unstete Momentaufnahme. Das diskursive Gesetz muss jedoch, bei aller Verschiebung und Freiheit des ‚Wie‘ des Gehorsams, anerkannt werden, um überhaupt ein sprechfähiges Subjekt sein zu können, was in einem Verlangen nach dem Gesetz, einer Notwendigkeit, sich Identität zu verschaffen, beruht. Auch hier ist kein bereits irgendwie konstituiertes Subjekt vorausgesetzt. Das Proto-Subjekt jenseits der Anrufung wird als schuldhafte Position beschrieben, die jedoch nicht an sich zu fassen ist, sondern nur als Notwendigkeit des Diskurses auftaucht. Im Aufrufen der Szenerie des Gerichts kann Subjektwerdung dann als Unschuldsspruch des zuvor Beschuldigten verstanden werden. Die Anrufung lädt uns vor, die Verleihung des Subjektstatus spricht uns unschuldig. Vor der Vorladung steht die anfängliche Beschuldigung. Das Subjekt ist nun unaufhörlich darauf angewiesen, von dem Schuldvorwurf
87Bedorf
(2010, S. 86).
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freigesprochen zu werden, ein performatives Erhalten als Subjekt, das aber durch die Wiederholung nur eine unsichere Position bleibt. Diese Position besteht in der Unterwerfung unter das diskursive Gesetz bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, den zugewiesenen Ort voll einzunehmen. Dies öffnet die Möglichkeit für das Subjekt, ethisch zu existieren, Normativität in die Theorie einzutragen. Die wechselseitige Anerkennung soll nicht mehr nur aus Machtwirkungen begriffen, sondern in ihrer Normativität ausgewiesen werden. Dieser ethische Bezug kann sich nun nicht aus dem Diskurs, der Ideologie selbst ableiten, da er doch in der Anerkennung selbst erst die normativen Bedingungen des Diskurses liefert. Sie müssen einer anderen Ebene entnommen werden, der Intersubjektivität. Hierzu zieht Butler die Theorie der Alterität Levinas’ heran, wobei sie erstaunlicher Weise, entgegen Levinas’ Primatstellung der Alterität des Anderen, diese aus der wechselseitigen Anerkennung ableiten will und so eine ethische Ergänzung der Hegelschen Anerkennungstheorie durch die sekundäre Alterität des Anderen beschreibt.88 Die Alterität des Anderen wird als Effekt diskursiver Praktiken verstanden. So ist die Einzigartigkeit des Anderen mir ausgesetzt und zugleich meine Einzigartigkeit der Einzigartigkeit des Anderen.89 Doch hier wird die Singularität des Anderen als radikale Alterität mit dem Hegelschen Besonderen vor dem Hintergrund des Allgemeinen verwechselt. Dem Ich kommt so zwar ein Begehren der Anerkennung durch den Anderen zu. Doch auch bei Butler soll eine ursprüngliche Enteignung durch die Aneignung des Fremden in der Anerkennung durch ihn überwunden werden (Wiedererkennung) und eine Selbstanerkennung stattfinden. Auf der anderen Seite findet sich ein Begehren, den Anderen anzuerkennen. Wie dies nun zusammenkommen soll, bleibt ungeklärt. Geht man davon aus, dass die Adressierung durch den Anderen das Subjekt konstituiert, so würden Gesetz und Anderer zusammenfallen. Doch dies würde nun wiederum die Ambivalenz des Anderen aufheben und die ethische Dimension würde wieder das diskursive Gesetz selbst werden, die sich der diskursiv-strukturellen Ebene aber gerade entziehen sollte. „Nur wenn die Andersheit des Anderen sich tatsächlich nicht auf Effekte diskursiver Praktiken reduzieren ließe, wäre daraus ein ethisches Moment zu gewinnen, das nicht bloß relativ zur jeweils geltenden, vom Diskurs abhängigen partikularen Rationalität zu sehen wäre. Da Butler jedoch diesen Umbau scheut, bleibt es bei einer Hegelschen Dyade wechselseitiger Anerkennung.“90
88Vgl.
dazu auch Liebsch (2012, S. 324) Anm. 28. Butler (2007, S. 49). 90Bedorf (2010, S. 94). 89Vgl.
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3.2.5 Anerkennung und Gabe – Paul Ricœur In aktuellen Anerkennungsdiskursen spielt nun auch die Verbindung von Anerkennung und Gabe eine gewichtige Rolle. Paradigmatisch kann hier der Entwurf Ricœurs Wege der Anerkennung91 gelten. In diesem Werk wird unter anderem auch die intersubjektive Anerkennung behandelt, die für diesen sozialphilosophischen Diskurs von Bedeutung ist. Ricœurs Ausgangspunkt ist dabei die Hobbessche Herausforderung, Gesellschaft vor dem Hintergrund der Bedrohung des Menschen durch den Menschen auf rationalem Kalkül basieren zu lassen. Dem stellt sich die auf Sozialität fußende Philosophie der Anerkennung im Gefolge Hegels entgegen. In ihnen findet sich die Dimension einer Alterität. Doch auch an diese Ansätze hat Ricœur eine Anfrage: Worin unterscheidet sich im Kampf um Anerkennung der soziale Antagonismus von Hobbes? Demgegenüber will Ricœur die Erfahrung der Abwesenheit von Kämpfen in den Blick nehmen, nicht als Lösung des Kriegszustands, sondern als Basis der Anerkennungstheorie: Anerkannt-Sein gehört zu unserem Selbst-Sein. Ziel ist also ein Aussetzen des Kampfes durch ein ‚liebendes‘, nicht rechnendes Anfangen im Anerkennen. Dies soll über die Verschränkung der Anerkennungs- mit der Gabetheorie geschehen. Im Anschluss an Marcel Hénaffs Überlegungen zur mutualen Gabe als Vergesellschaftungsform wird davon ausgegangen, dass die Gabe das soziale Band stiftet.92 Diese mutualité wird aus der sozial-performativen Praxis des ‚Geben, Empfangen, Erwidern‘ abgeleitet, die ihre Normativität aus dem Vollzug gewinnt. Der Gabentausch verpflichtet und bindet. Das Empfangen und ‚irgendwie‘ Erwidern auf das ‚erste‘ Geben, ist der Struktur nach unausweichlich. Problematisch ist für Ricœur nun jedoch, wenn die Asymmetrie im Verhältnis von Ich und Anderem verkannt wird. Die Asymmetrie, die Ricœur gleichermaßen von Levinas und Husserl her entwickeln kann, ist ausschlaggebend für gelungene Anerkennung, sodass Verkennung mit Zuständen der Anerkennung alterniert. Anerkennung kann, wenn auch immer von der Gefahr der Verkennung begleitet, situativ gelingen.
91Zur
folgende Darstellung und Kritik vgl. Bedorf (2013, S. 321–334). jedoch auch dieses Verständnis von Gabe eine Beobachterperspektive voraussetzt und aus phänomenologischer Sicht die Anfrage gestellt werden müsse, inwiefern man im ‚ersten‘ Geben der mutualité etwas gibt, das man selbst nicht hat, was wiederum auf eine Gabe im Sinne der Un-möglichkeit, wie Derrida sie beschreibt zurück geht – im Sinne des Anspruchs, der dann das ‚erste‘ Geben als Antwort erst provoziert – und die auch in der mutualité nicht in Reinheit erscheint, kommt dem Phänomenologen Ricœur nicht in den Sinn und wird auch leider von Bedorf nicht genug beachtet, da beide den Rekurs auf die Gabe nur auf der Ebene der Sozialität für sinnvoll erachten (vgl. Bedorf 2010, S. 166 Anm. 21). 92Dass
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Die Gabe der Anerkennung kann ihr Ziel erreichen. Ricœurs Behauptung geht also dahin, in die mutuale Anerkennung, in die auch hier noch dyadisch soziale Ebene die Asymmetrie zwischen Ich und Anderem einzutragen (WA, S. 321, 324). Da jedoch diese Asymmetrie zwischen Ich und Anderem gleichermaßen besteht, sowohl im Ausgang von Husserl als auch von Levinas entwickelt wird und so bei aller generösen mutualité das Selbst und das Andere auf der dyadischen Ebene der ‚Sozialität‘ ein und derselben Ordnung angehören, scheint hier eine lediglich relative Differenz im Hintergrund zu sein. In seinem Versuch, der Asymmetrie, dem Außerordentlichen in der Ordnung einen Platz als Asymmetrie, als Außerordentlichem zu gewähren, und in der Herleitung dieser Asymmetrie sowohl von Husserl als auch von Levinas erweist sich auch Ricœurs Begriff von Andersheit als relative Alterität, der letztlich der Stachel der Fremdheit gezogen wird. So verbleibt Ricœur noch in der Dyade des Anerkennungsgeschehens, auch wenn es ihm im Rückgriff auf Hénaff gelingt, die Normativität der wechselseitigen Anerkennung als mutualité mit der sozialen Dimension der Gabe ‚Geben, Empfangen, Erwidern‘ zu erläutern.
3.3 Verkennende Anerkennung Wenn aufgrund der inkonsequenten Aufnahme der radikalen Alterität in Anerkennungsprozessen bei Ricœur, Verkennung und Anerkennung alternieren, mutuale Anerkennung jedoch zumindest situativ als erreichbar gilt, so trägt nun Thomas Bedorf die Verkennung in die Anerkennungsprozesse selbst ein, als etwas, das jedem Anerkennen zugrunde liegt. Zunächst nimmt Bedorf eine Umstellung des zugrunde liegenden Phänomens vor, indem er, anstatt von dem auf Abschließbarkeit zielenden starken Begriff der Anerkennung, von dem verbalen und prozesshaften, mit einer Unabschließbarkeit gezeichneten schwachen Begriff des Anerkennens spricht.93 Als zweites wird in Abgrenzung zur Teleologie und dem Authentizitätsideal von Identität des interkulturellen und intersubjektiven Ansatzes – in Abgrenzung zur Annahme bereits gegebener Identitäten und dem Ziel der bruchlosen Identität – der Begriff der inkohärenten Identität aufgerufen. Dabei werden drei Punkte der Vorstellung gegebener Identitäten und dem Telos bruchloser Identitäten gegenübergestellt: Erstens das Stiftungsparadox, das besagt, dass die
93Vgl.
Bedorf (2010, S. 11 und 124), im Folgenden (VA) abgekürzt.
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Annahme der Gegebenheit einer Identität, von der aus erst der Anspruch auf Anerkennung gestellt werden kann, damit in auflösbarer Spannung steht, dass sich diese Identität erst im Prozess der Anerkennung konstituieren kann (VA, S. 104–105). Derrida verdeutlicht dieses Stiftungsparadox in einem Kommentar zur Unabhängigkeitserklärung der USA: „Das Wir, das in der Erklärung spricht, spricht ‚im Namen des Volkes‘. Aber dieses Volk existiert nicht, nicht vor dieser Erklärung, nicht als solches.“94 Diesen Widerspruch in ihrer Theorie scheinen weder Taylor noch Honneth zu bemerken. Zweitens die Ursprungskontingenz, die im Ausgang von Derridas Überlegungen zur Autobiografie entwickelt werden. „1. Man spricht immer nur eine einzige Sprache – oder vielmehr ein einziges Idiom. 2. Man spricht niemals eine einzige Sprache – oder vielmehr, es gibt kein reines Idiom.“95 Dies besagt, dass sich die „Selbstvergewisserung in den narrativen Rekonstruktionen der eigenen Geschichte […] im Horizont einer sprachlichen Einheit, die es aber nicht gibt, aber als unterstellte in Anspruch genommen werden muß […]“ (VA, S. 108), entwirft. Demnach ist es Kulturen zu eigen, nicht mit sich selbst identisch zu sein, da die abgeschlossene, mit sich gleiche Identität durch den Prozess der Identifizierung, der autobiografischen Erzählung, die immer schon mit einer fremden Stimme spricht, also Antwort auf den Anspruch des Anderen ist, verhindert wird (VA, S. 108–109). Drittens die Nicht-Identität der Identität, die besagt, dass es weder reine Identität noch reine Mischung gibt. Somit geht es nicht um die Vermischtheit, sondern die prozedurale Vermischung, die selbst wieder keine homogene Einheit ist, sondern als Prozess am Ursprung von Gemeinschaft steht (VA, S. 110). Identitäten befinden sich nach diesen drei Einsprüchen „[…] in einer Spannung zwischen ihrer grundlegenden Instabilität und ihrer zu politischen Zwecken unvermeidlichen Fixierung […]. […] Gegenstand der Anerkennung kann nur diese vorläufige und unsichere Identität sein, da der Prozeß der Identifizierung selbst kein Gegenstand ist“ (VA, S. 117). Identifizierung ist notwendig, führt jedoch nie zur Sistierung der Identität. Drittens beschreibt Bedorf die Elementarstrukturen des Anerkennens. Ausgehend von der Überlegung zur Identität führt das Paradox der Stiftung zu einer Verdopplung der Identität in anzuerkennende Identität und Identität des Anerkannten. Dies verunmöglicht die zweistellige Relation x erkennt y an und verweist auf eine dreistellige Relation von x erkennt y als z an (VA, S. 121–122). Das, was anerkannt wird (y), kann nie mit dem zusammenfallen, als was es
94Derrida 95Derrida
und Kittler (2000, S. 13). (2003, S. 21).
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anerkannt wird (z). Anerkennung vollzieht sich so nach Bedorf immer im Horizont eines Mediums, als was es anerkannt wird (VA, S. 124). In Anlehnung an Husserls signifikative Differenz und unter Aufnahme von Bernhard Waldenfels spricht Bedorf von der „rekognitiven Differenz“96 im als zwischen y und z. Dies betont die Vorläufigkeit, Konflikthaftigkeit und Unabschließbarkeit jedes Anerkennungsprozesses: „[D]a […] sich bereits in der Grammatik des Anerkennens ein Verweis auf das ‚als‘ des Anerkannten findet, läßt sich Identität nie als fixierbares Resultat, sondern nur als Streitfall der Interpretation deuten“ (VA, S. 126). Diese Überlegungen zur Elementarstruktur werden nun viertens in Bezug auf das Verhältnis von Erkennen und Anerkennen fortgesetzt und führen zu Bedorfs These der Verkennenden Anerkennung. Gelingt z. B. Ricœurs Versuch, Erkennen und Anerkennen als eine Kontinuität verwandter Bezugnahmen auf Anderes aufzufassen, nicht und lässt auch Honneth den normativen Überschuss der Anerkennung gegenüber dem Erkennen unbegründet, so will sich Bedorf dem Verhältnis über die Responsivität nähern (VA, S. 127–137). Die alteritätsphilosophische Theorie der Responsivität, als deren Vertreter Emmanuel Levinas, Jacques Derrida, Bernhard Waldenfels und Simon Critchley zu nennen wären, lässt sich am prägnantesten am Beispiel Waldenfels’ verdeutlichen. Nach Waldenfels gibt es weder eine Gesamtordnung noch eine Grundordnung. Ordnungen treten im Potenzialis auf und sind somit aus- und eingrenzende im Gegensatz zur relativen Fremdheit, die sich lediglich abgrenzt, aber immer einholbar ist. Das Fremde ist das Außerordentliche, was die Grenzen einer jeglichen Ordnung übersteigt, was sich entzieht und nur als Störung zeigt. Es ist unverständlich, hat keinen Sinn und folgt keiner Regel.97 Waldenfels stellt sich die Frage, wie die Erfahrung aussieht, in der sich ein solcher Überstieg vollzieht. Als Antwort sieht er eine pathisch grundierte und responsiv ausgerichtete Form von Phänomenologie, in der die Begriffe des Widerfahrnis, des Anspruchs und der Antwort, deren zeitliche Verschiebung, die Diastase, und damit einhergehend die responsive Differenz von Bedeutung sind.98 Waldenfels kommt nach seinen Überlegungen zur Responsivität zu dem Schluss, dass diese nach einer Antwortlogik verlangt, welche zu einer responsiven Rationalität führt, die dem Antworten entspringt. Diese
96Waldenfels
(2006b, S. 76). Waldenfels (2006a, S. 15–33). 98Vgl. Waldenfels (2006a, S. 34–55). 97Vgl.
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Logik hat mehrere Momente:99 Erstens gewinnt der fremde Anspruch eine eigentümliche Singularität. Diese ermöglicht ein anderes Sehen, Denken und Handeln; zweitens besitzt der Anspruch eine Unausweichlichkeit, sodass wir nicht nicht antworten können, was als Antwortlichkeit beschrieben wird – für Levinas ist hier der Begriff der Verantwortlichkeit von Bedeutung; drittens kommt dem Anspruch eine uneinholbare Nachträglichkeit zu, die zu der oben erwähnten zeitlichen Verschiebung, der Diastase führt; viertens besteht eine unaufhebbare Asymmetrie zwischen Anspruch und Antwort. Sie konvergieren nicht auf ein Gemeinsames, wie in einem schlicht auf Symmetrie und Reziprozität basierenden Dialog, hin. Eine Entsprechung ist also aufgrund von drittens und viertens unmöglich. Zuletzt muss eine Antwort innerhalb dieser Logik als kreativ gedacht werden, d. h., dass das Wie der Antwort erfunden werden muss, wir also die Verantwortung tragen, wie wir antworten.100 Von Bedeutung für Bedorf sind diese Theorien zur radikalen Alterität oder Fremdheit nun besonders hinsichtlich des Moments, der „Normativität des Anerkennens“ (VA, S. 143) Rechnung zu tragen. Hierfür nimmt Bedorf die Unterscheidung von primärer, absoluter Alterität und sekundärer, sozialer Alterität vor (VA, S. 139). Beide sind aufeinander verwiesen, sodass die primäre Alterität nur als sekundäre erscheinen kann, die sekundäre aber erst durch die primäre in Gang gesetzt wird. Normativität ergibt sich nun darin, dass das Ich immer schon als Respondent auftritt, immer schon antworten muss, nicht nicht antworten kann und so immer schon in der Verantwortung steht, darin aber nie dem Anspruch gerecht werden kann, ihm entsprechen kann, da das Ich doch der sekundären Alterität antwortet, der Anspruch jedoch von der primären ausging. Hierzu ist nun zu ergänzen, dass gerade der Begriff der radikalen Alterität, diese Verschränkung der beiden Ebenen bezeichnet. Radikale Alterität besagt zum einen dyadisch den asymmetrischen ethischen Anspruch des Anderen, das Widerfahrnis, die Ebene der Normativität und zum anderen die Ebene des triadisch Sozialen, des Symmetrischen – begegnet mir nach Levinas doch im Antlitz des Anderen immer schon der Dritte als Scharnier zwischen beiden Ebenen. In der radikalen Alterität, die als Außerordentliches immer auf eine Ordnung rückbezogen bleibt, in der es als Störung auftaucht – und nicht wie bei Ricœur als Außerordentliches in der Ordnung auftritt –, kommen Dayde und Triade in der Figur des Dritten zusammen. Der Dritte ist dabei der Ort, an dem unvergleichliche Ansprüche verglichen werden, er ist der Ort der Gerechtigkeit, der
99Vgl.
Waldenfels (2006a, S. 62–67). Waldenfels (2006a, S. 56–67).
100Vgl.
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jedoch im Vergleich des unvergleichlich Singulären immer schon das Moment der Ungerechtigkeit in sich trägt. Dies hat nun in Rückbezug auf die dreistellige Struktur des Anerkennens, die immer schon auf eine Kontextgebundenheit, ein ‚angesichts‘ des Anerkennens verweist, bedeutsamen Folgen: „Wie der Andere wahrgenommen wird, ist […] nicht dadurch festgelegt, daß der Andere erscheint. Aber daß er auf eine bestimmte Weise gesehen werden muß, ist unausweichlich. Die unausweichliche Bestimmung des Anderen geht dann notwendig mit dem Wissen darum einher, daß er niemals in dieser kontextuellen Bestimmung aufgeht“ (VA, S. 145). Das Medium der Anerkennung, das als z, kann dabei immer nur die sekundäre Andersheit abbilden und nicht die primäre umfassen. Dies hat zwei Ergebnisse zur Folge: Zum einen wird so das Erkennen des Anderen als eines bestimmten Anderen gleichursprünglich an das Anerkennen gekoppelt: „Der Andere ist nur insoweit als ein je spezifischer Anderer anerkennbar, wie er als dieser oder jener Andere erkannt wird“ (VA, S. 148). Zum anderen wird nun dem Anerkennen konstitutiv das Moment des Verkennens eingeschrieben. Jede Anerkennung verkennt den Anderen notwendigerweise, „[…] weil sie ihn ‚bloß‘ als diesen oder jenen Anderen in das Anerkennungsmedium integrieren kann. […] Die verkennende Anerkennung ist weder reine Verkennung, weil man sich zum völlig Verkannten gar nicht verhalten könnte; noch ist sie reine Anerkennung, weil sie ohne die Differenz nicht zu anerkennendem Verhalten zu motivieren wäre“ (VA, S. 145). Fünftens ist nun dieses Anerkennen als riskantes Anerkennen beschrieben. Anerkennung ist riskant, da sie ein Moment der Stiftung enthält. Wird Anerkennung gefordert, so wird ein normativer Rahmen gefordert, der nicht schon besteht, sondern erst durch die Anerkennung etabliert werden muss. Ob dies gelingt, ist nicht ausgemacht, und so geht jede Forderung auf Anerkennung mit dem Risiko einher, dass sie stets scheitern kann und unabgeschlossen bleibt (VA, S. 156–157). Wohl gemerkt, dieses Scheitern ist hier bereits auf das Anerkennen des Mediums bezogen und ist nicht das konstitutive und unausweichliche Verkennen der primären Alterität im Anerkennungsprozess. Das wertschätzende Eingehen auf den Anderen steht immer schon zur Disposition. Bedorf verdeutlicht dies im Rückgriff auf Marcel Hénaffs Theorie der Gabe als sozialitätsstiftende Praxis: Der Dreischritt Geben – Empfangen – Erwidern stiftet bei Vollständigkeit der Schritte und anerkennendem Erwidern ein soziales Band (VA, S. 188–189). Ist nun das Empfangen und Erwidern der Struktur nach verpflichtend, so ist jedoch nicht ausgemacht, wie die Erwiderung aussieht. So kann ein generöses und anerkennendes Geben vom Gabenempfänger mit Unmenschlichkeit erwidert werden. Ist nun aber jede Anerkennung eine konstitutive Verkennung der primären Alterität, so kann das soziale Band auch nie eine ver-
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söhnte, stabile Einheit sein, sondern muss beständig erneuert werden. Eine solch strukturierte verkennende Anerkennung kann dabei auch auf die Grenzen der Anerkennung hinweisen. So ist nicht alles anerkennungsfähig und es gibt soziale Phänomene und personale Aspekte, „die aus dem Spektrum dessen, was auf die Beachtung durch andere angewiesen ist, herausfallen“ (VA, S. 158). Dieser Punkt wird für unsere Ausgangsfrage von Bedeutung sein. An dieser Stelle ist jedoch noch ein Kommentar zur Aufnahme der Gabetheorie Hénaffs angebracht. Diese Theorie enthält eine starke Kritik an Derridas Interpretation der Gabetheorie Marcel Mauss’. Kritisiert wird dabei die Interpretation des Mausschen Gabetauschs als ökonomischen Warentausch und die daran anschließende Verlagerung des Gabebegriffs in eine ethische Reinheit und Unmöglichkeit. Dem folgt Bedorf in seiner Darstellung und kommt zu Schlüssen wie: „Die an-ökonomische Gabe gibt es nicht bzw. gibt es nur, insofern sie sich einer sozialen Praxis, die sich stets auf Wechselseitigkeit bezieht, nicht unterwirft. Mit dieser radikal einseitigen Interpretation der Gabe ist für unseren Zusammenhang nicht viel gewonnen“ (VA, S. 165) oder: „Für die Erläuterung sozialer Interaktion und der Struktur von Anerkennung trägt Derridas Begriff der Gabe nichts bei“ (VA, S. 166) und: dass im „Fall der reinen Gabe das Phänomen selbst zu verschwinden droht“ (VA, S. 171). Hierauf muss in aller Kürze eingegangen werden: So trifft es sicherlich zu, dass Derridas Interpretation des Mausschen Gabetauschs als rein ökonomisch durchaus Verkürzungen mit sich bringt und der Absicht Mauss’ nicht gänzlich gerecht wird. Auf der anderen Seite scheint man Derrida gegenüber nicht gerecht zu werden, wenn man ihm unterstellt, bei der reinen Gabe und der Unmöglichkeit stehen zu bleiben. Derrida weiß ganz genau, dass es die reine Gabe nicht gibt und dass die Gabe notgedrungen immer in die Reziprozität zurückfällt, vielleicht wäre hier der Begriff der Ordnung aufschlussreicher. Damit die Gabe erscheinen kann, muss sie sich der Ordnung einschreiben. Derrida teilt lediglich nicht die Annahme, dass der Gabe in der Ordnung ein Zustand der Reinheit zukommt, dass das Außerordentliche als Außerordentliches in der Ordnung erscheint, sondern bereits als Geordnetes. Derrida weiß, dass die Gabe irgendwie ist. Wenn Derrida mit der Unmöglichkeit der Gabe in die Nähe zum Ereignisbegriff rückt, so wird doch gerade das behauptet: Die Möglichkeit der Gabe, ist gerade ihre Unmöglichkeit: Un-möglichkeit. Das Erscheinen der Gabe, ihre Möglichkeit ist immer schon an einen Sprechakt gebunden, der auf die Gabe antwortet, darin aber immer zu spät kommt und die Gabe so in die Ordnung einschreibt und sie ihrer Singularität beraubt, ihre Unmöglichkeit. Die Gabe setzt die Genese von Ordnung in Gang. Nun ist doch aber gerade dies das, was Bedorf unter radikaler Alterität versteht, unter dem Zusammenspiel von primärer und sekundärer Alterität. So sagt
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Bedorf selbst: „Initial zu geben bedeutet also eine Antwort auf das Ereignis der Andersheit“101 und: „Bestenfalls ließe sich dieser Begriff nutzen, um etwas ganz anderes, nämlich das Ereignis radikaler (oder ‚primärer‘ im o.g. Sinne) Alterität zu illustrieren […]“ (VA, S. 166 Anm. 21). So ließe sich auch die Verschränkung von primärer und sekundärer Alterität, die ja doch gerade von Bedeutung für das Verkennende Anerkennen ist und nicht etwas ‚ganz anderes‘ mit Derrida und Hénaff über die Figur der Gabe verdeutlichen.102 Mit Bedorf kann man aus dem bisher Erarbeiteten Konsequenzen für eine Politisierung der Anerkennung ziehen. Zum einen: Identitäten sind kontingent, das heißt, sie hätten auch anders aussehen können. Identitäten lassen sich nicht sistieren, sondern sind im Zuge der permanenten Identifizierung inkohärent, aber auch unumgänglich (VA, S. 212–214). Zweitens widerstreiten sich Identitäten stets. Dieser Widerstreit spielt sich auf der Ebene des Dritten oder der Ordnung ab. Hier wird Unvergleichliches verglichen, und so wohnt der Gerechtigkeit immer schon das Moment der Ungerechtigkeit inne. Unendlich Ansprüche stehen hier „[…] in ihrer Pluralität in Konkurrenz zueinander, so daß verglichen werden muß, was nicht verglichen werden kann“ (VA, S. 209). Die Normativität beruht dabei in dem dyadischen zugrunde liegenden Anspruch der radikalen Alterität (VA, S. 214–217). Dieser Widerstreit lässt sich nun nicht lösen, doch kann man ihn umgehen im Zuge einer Politisierung von Identitäten (VA, S. 217–225). Diese Politisierung läuft über die ‚Praktik des Als-Ob‘ im Anschluss an Rancière. „Der Ort der politisierten Identität gleicht einer Bühne ohne backstage, weil jenseits der Inszenierung die Identität nicht ist“ (VA, S. 219). Mit Gayatri Spivak ließe sich von einem ‚strategischen Essentialismus‘ sprechen. Eine weitere Methode wäre der strategische Universalismus, der dem Anspruch der Anerkennungstheorien gerecht werden will, das Anzuerkennende universell normativ zu fundieren. Darin wandelt sich ein universaler Gesichtspunkt, zu einem Gesichtspunkt des Universalen, der dafür sorgt, dass „Generalisierungs-, Universalisierungs- und Idealisierungslinien sich vervielfältigen, daß Universalität ebenso wie Singularität im Plural auftritt.“103 Universale Gesichtspunkte zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht schlechthin gelten, sondern nur, in Berufung auf sie,
101Bedorf
(2016, S. 60). Überlegungen lassen sich auch auf den theologischen Gabediskurs und die Kritik John Milbanks an Derrida beziehen. Dies kann an dieser Stelle leider nicht weiter ausgeführt werden. 103Waldenfels (1997, S. 125). 102Diese
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unter bestimmten Umständen und in bestimmter Form, also selektiv.104 Es ist ein Gesichtspunkt neben anderen und doch einer, der zuspitzt und Konflikte sichtbar machen kann (VA, S. 222–223).
4 Nicht genug Anerkennung? Kehren wir zu unserem Ausgangsproblem zurück: Lässt sich die derzeitige angespannte Lage der transatlantischen Beziehung, aber auch innereuropäisch und national, auf mangelnde Anerkennung, auf mangelnde Toleranz gegenüber anderen spezifischen Positionen zurückführen? Kann eine offenere Haltung, ein breiter angelegtes Anerkennen, eine höhere Toleranzschwelle Abhilfe schaffen? Mit dem hier Dargestellten sollte verdeutlicht werden, dass diese Frage, so wichtig es sein mag, sie zu stellen, zu kurz greift. Ist Anerkennung konstitutiv durch ein Verkennen gezeichnet, so ergibt sich, dass auf sozialer Ebene der Andere nur als bestimmter Anderer anerkannt wird. Viel grundlegender als also eine zu geringe Anerkennungsanstrengung scheint die Frage zu sein, als was der Andere anerkannt wird und als was nicht. Die Problematik liegt in den Grenzen der Anerkennung, die sich jeweils aus dem Bezugssystem, dem Medium der Anerkennung ergeben. So gibt es „soziale Phänomene und personale Aspekte […], die aus dem Spektrum dessen, was auf die Beachtung durch andere angewiesen ist, herausfallen“ (VA, S. 158). Dieses Herausfallen ist es, so meine These, was eine Kommunikation in z. B. den transatlantischen Beziehungen erschwert, wenn nicht sogar zeitweise unmöglich macht. Die jeweiligen Gesprächspartner fallen aus dem jeweiligen Spektrum dessen, was man noch als diskussionswürdig anerkennen könnte, heraus. Ist nun keine Haltung zur Anerkennung universal und unendlich inkludierend, sondern immer schon selbst ethnozentrisch geprägt, so besteht die Gefahr, dass ein solches Herausfallen dauerhaften Zustand annehmen könnte, wenn dadurch gleichzeitig Verhärtungen entstehen und sich Identitäten pathologisch fixieren, abschotten und exkludierend reagieren. Diese wäre höchst problematisch, wenn sich letztlich die Forderung nach Anerkennung, wenn sie nicht mehr politisierbar ist, „weder in der Verfechtung einer politischen Universalie noch in der Projektion einer strategisch eingesetzten partikularen Identität, sondern in reiner Gewalt als Abbruch der Kommunikation“ (VA, S. 223–224 Anm. 63) äußert. Dies führt mich zu fol-
104Vgl.
Waldenfels (1997, S. 125).
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gender vorsichtigen These und Anregung zu weiterem Nachdenken: In Anbetracht eines Anstiegs der prekären Situationen, in denen die Gefahr eines Umschlagens in Gewalt droht, wäre es lohnenswert, die grundlegende intersubjektive Ebene der primären Alterität des zuletzt vorgestellten Ansatzes, den Anspruch des Anderen, der mich in die Verantwortung nimmt, erneut in das Zentrum der Überlegungen zu stellen. Gerade die Begriffe der unbedingten Verantwortung, der Gastlichkeit und Ethik der Gastfreundschaft und des messianischen Versprechens, die Autoren wie Levinas und Derrida an anderer Stelle entwickelt haben, könnten hier weiterführend sein: Eine Ethik der doppelten Gastfreundschaft: Zum einen der unbedingten Gastfreundschaft die dem Anderen als Fremden, ja gerade auch als Störenfried das bedingungslose Recht auf Annahme, auf Asyl einräumt und seine Andersheit anerkennt.105 – Ein Raum für den Anderen, der nicht auf Gewissheit, sondern auf Vertrauen gründet. Eine Gastfreundschaft, die jedoch als messianisches Versprechen immer im Kommen bleibt, immer ausstehend bleibt. Zum anderen die bedingte Gastfreundschaft in der politischen und rechtlichen Dimension, die immer nur begrenzt gegeben werden kann, sich aber immer wieder dem Versprechen der unbedingten Gastfreundschaft stellen muss und so immer wieder von neuem gegeben werden muss. Es geht also nicht um einen verantwortungslosen Multikulturalismus und ein postmodern relativistisches ‚anything goes‘. Nein, es geht um das messianische Versprechen einer unbedingten Gastfreundschaft, das nie eingelöst werden kann, dem wir uns aber immer wieder stellen müssen und das uns immer aufs Neue in die Verantwortung nimmt und uns moralische und politische Antworten abverlangt.
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105Vgl.
Derrida (2007, S. 27) und Derrida (1992, S. 56).
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Ernst Troeltsch und Max Weber – Religionstheorie in transatlantischer Perspektive Matthias Baum
Zusammenfassung
Ernst Troeltsch und Max Weber besuchen 1904 gemeinsam die Weltausstellung in St. Louis und sind begeistert. Die Weltausstellung, vor allem aber die damit verbundenen Städtereisen nach New York und Chicago stellen ihnen den technologischen und ökonomischen Aufstieg Amerikas in seinem ganzen Phänomenreichtum vor Augen. Diese Eindrücke wirken sich bei Troeltsch und Weber auf die eigene Forschung aus. Befragt man Troeltschs religionssoziologische und religionstheologische Forschung darauf, was diese zu einer gegenwärtigen Religionstheorie beitragen kann, dann besteht dieser Beitrag weniger in den materialen Ergebnissen seiner Forschung, als vielmehr in den Grundsätzen, die dieser Forschung zugrunde liegen. Der vorliegende Aufsatz versucht anhand von Troeltschs Religionstheorie drei Grundsätze zu rekonstruieren und deren bleibende Relevanz für eine Religionstheorie in transatlantischer Perspektive aufzuzeigen.
M. Baum (*) Heidelberg, Deutschland E-Mail:
[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Schössler und M. Plathow (Hrsg.), Multipolarität und bipolare Konfrontationen, Transatlantische Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22927-6_4
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1 Die Amerikareise von Ernst Troeltsch und Max Weber und ihre Bedeutung für deren Denkentwicklung Am 24. August 1904 reisen Ernst Troeltsch und Max Weber zur Weltausstellung nach St. Louis. Anlass ist der im Rahmen der Weltausstellung stattfindende International Congress of Arts and Science, auf dem Troeltsch und Weber vortragen. Der Kongress ist mit hochkarätigen deutschen Wissenschaftlern besetzt, wie dem Archäologen Adolf Furtwängler, dem Theologen Adolf von Harnack, dem Soziologen Werner Sombart, dem Historiker Karl Lamprecht oder dem Pharmakologen Oskar Liebreich.1 Die prominente Besetzung des amerikanischen Wissenschaftskongresses hat auch politische Gründe. Sie ist im Horizont der Kulturpolitik des wilhelminischen Kaiserreichs zu verstehen: Seit der Annexion von Elsass-Lothringen 1871 sieht sich das Deutsche Reich mit dem Vorwurf konfrontiert, das Mächtegleichgewicht innerhalb Europas empfindlich gestört zu haben. Auf der Suche nach neuen Allianzen hat die deutsche Politik deshalb großes Interesse, die Beziehungen zu den politisch zunehmend bedeutender werdenden Vereinigten Staaten von Amerika auf wirtschaftlicher, diplomatischer und kultureller Ebene zu vertiefen.2 Egbert Klautke zufolge konkurrierten die Deutschen dabei mit den Franzosen „um die Gunst der Amerikaner […], denen sie europäische Kultur möglichst in der eigenen nationalen Variante näherzubringen suchten.“3 Der Wissenschaftskongress auf der Weltausstellung bot der Reichsregierung jedenfalls aussichtsreiche Möglichkeiten zu diesem Vorhaben. Doch Troeltsch und Weber kommen – ihrem Selbstverständnis nach – nicht als Kulturmissionare. Sie wollen weniger belehren als vielmehr verstehen – verstehen, worin der unbeschreibliche technologische und ökonomische Aufstieg Amerikas begründet liegt. Troeltsch und Weber versuchen dazu, ein genaueres Bild der amerikanischen Gesellschaft zu gewinnen.4 Auf dem Weg nach St. Louis
1In
amtlichen Dokumenten zur Weltausstellung werden Troeltsch und Weber nicht eigens erwähnt – sie gelten im Umfeld des Initiators des Wissenschaftskongresses, Hugo Münsterberg, als „deutsche Durchschnittsprofessoren“, was auch nicht weiter verwunderlich ist angesichts der Tatsache, dass im Herbst 1904 Webers Protestantische Ethik und Troeltschs Soziallehren noch nicht erschienen sind (vgl. Graf 2014, S. 21). 2Vgl. Klautke (2003, S. 22). 3Ebd. 4Vgl. Kaeseler (2014, S. 573). Zu Troeltschs und Webers Amerikareise vgl. auch: Rollmann (1995), Mommsen (1998), und Scaff (2005).
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machen sie Station in New York, Buffalo und Chicago, wobei ihnen New York zum Sinnbild des amerikanischen Kapitalismus wird. Die Reaktionen auf diese Eindrücke fallen bei Troeltsch und Weber unterschiedlich aus. Zwar sind beide von der Dynamik der amerikanischen Kultur tief beeindruckt, doch anders als Weber, den die „Freisetzung des kreativen einzelnen aus traditionalen Bindungen, [die] Steigerung von Freiheitschancen durch offene Märkte und [die] ungeheure Entwicklungsdynamik“5 faszinieren, stellen sich bei Troeltsch zwiespältige Gefühle ein.6 In einem Brief an seine Frau, die im beschaulichen Heidelberg geblieben ist, schreibt Troeltsch: Welch ein Anblick und welch ein tosendes Menschen- und Wagengelärme! Gegenüber steigen wie eine Masse regellos durcheinanderstehender Türme die Skyscrapers in die Höhe, die ungeheuren Geschäftshäuser von zwanzig Stockwerken, eine Art Burg und Festung des Kapitalismus […]. Ein ewiges Donnern und Rasen der elektrischen Bahn, teils auf Viadukten oberhalb der Straßen, teils auf der Erde. Die Ohren werden hier ganz dumpf von dem ewigen Donnern und Dröhnen.7
Nicht mehr mit einzelnen Menschen, sondern mit einer Menschenmasse habe man es hier zu tun. Während Weber diese kapitalistische Modernisierung primär als Freiheitsgewinn begreift, legt Troeltsch bei der Bilanzierung dieser Entwicklung das Augenmerk auf den Verlust. In Troeltschs Verlustrechnung ist die Kultur eines depersonalisierenden Individualismus obenan aufgeführt: So leistungsfähig der Kapitalismus auch sein mag, die von ihm beförderte Rationalisierung von Arbeitsprozessen lasse geschichtlich-soziale Bindungen erodieren und bedrohe damit die aufklärerisch-romantische Idee individueller Freiheitsrechte.8 Die tragische Ironie dieser Entwicklung besteht Troeltsch zufolge darin, dass der
5Graf
(2014, S. 312). Graf stellt auch heraus, dass Weber die Ambivalenz dieser kapitalistischen Dynamik keineswegs verborgen war. Weber sah durchaus die Härten dieser Entwicklung, weshalb Weber bekanntlich auch vom „stahlharten Gehäuse“ des Kapitalismus sprechen kann (vgl. Weber 2016, S. 487). Die negativen Einschätzungen in Webers Urteil zur amerikanischen Gesellschaft stellt heraus: Kaeseler (2006). 6So urteilt Hans Rollmann nach der sorgfältigen Auswertung der gesamten Amerikakorrespondenz von Troeltsch und Weber: „Troeltsch […] saw much more strongly the ambivalences, problems, and potential dangers of this society“ (Rollmann 1995, S. 372). 7Brief Troeltschs an seine Frau vom 14. September 1904, zitiert nach: Drescher (1991, S. 182). 8Vgl. Troeltsch (2014b, S. 443–447).
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Kapitalismus, der diese depersonalisierenden Fliehkräfte freisetzt, seine kulturellen Voraussetzungen unter anderem in genau den Freiheitsrechten hat, die er selbst nun bedroht. In den Augen Troeltschs – so urteilt Friedrich Wilhelm Graf – hat sich [d]er Prozeß des kulturellen Wandels […] gegenüber dem handelnden Menschen so sehr verselbständigt, daß er gleichsam subjektlos zu werden drohe. Im Prozeß dieser Realisierung der Freiheitspostulate der Aufklärung habe sich eine tendenziell steuerungslose Eigendynamik kultureller Modernisierung erzeugt, die faktisch nicht mehr der praktischen Durchsetzung von Autonomie diene, sondern, genau umgekehrt, individuelle Freiheit stärker als je zuvor […] zu zerstören drohe.9
Der Amerika-Aufenthalt schärft bei Troeltsch die Wahrnehmung der vom Kapitalismus ausgehenden Bedrohungspotenziale. Für Troeltschs Denken bedeutender ist aber die Erfahrung mit der Liberalität der asketisch-puritanischen Gruppen in Amerika. So sei der Menschenrechtsgedanke innerhalb der Gemeinschaften der Quäker, Baptisten u. a. – Troeltsch bezeichnet diese Gruppen mit dem wertneutral gemeinten Begriff der „Sekten“ – entstanden und nicht innerhalb des kirchlichen Anstaltschristentums.10 Diese Gruppen, die von ihren religiösen Überzeugungen her den unverlierbaren Wert des Individuums zentral betonen, machen auf Troeltsch einen starken Eindruck –
9Graf
(2014, S. 243). führt diesen Zusammenhang etwa in dem Vortrag Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt an. Er greift dort die These Georg Jellineks auf, dass der Menschenrechtsgedanke weniger ein Erzeugnis der französischen Aufklärung (Rousseaus contrat social) ist als vielmehr der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (Bill of Rights). Jellinek zufolge haben vor allem die amerikanischen Calvinisten zu der Entwicklung eines Menschenrechtskataloges beigetragen. Troeltsch stimmt Jellineks These grundsätzlich zu, differenziert diese aber dahin gehend, dass sich der Menschenrechtsgedanke nicht den großen calvinistischen Kirchen Amerikas, sondern den kleinen christlichen Sondergruppen, den Sekten, verdankt. Troeltsch schreibt: „Die calvinistischen nordamerikanischen Puritanerstaaten sind zwar demokratisch gewesen, aber sie wußten nicht bloß nichts von Gewissensfreiheit, sondern haben sie geradezu als eine gottlose Skepsis verworfen. Gewissensfreiheit gab es nur in Rhode-Island, aber dieser Staat war baptistisch und war darum bei allen Nachbarstaaten als Sitz der Anarchie verhasst […]. Und ebenso ist der zweite Herd der Gewissensfreiheit in Nordamerika, der Quäkerstaat Pennsylvaniens täuferischer und spiritualistischer Herkunft. […] Der Vater der Menschenrechte ist also nicht der eigentliche kirchliche Protestantismus, sondern das von ihm gehaßte und das in die Neue Welt vertriebene Sektentum und der Spiritualismus.“ (Troeltsch 2001, S. 266 f., vgl. Jellinek 1996, vgl. auch Graf 2014, S. 316).
10Troeltsch
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so stark, dass sich deren Würdigung bis in seine Soziallehren hinein nachverfolgen lässt. Sofern Troeltsch innerhalb seiner Soziallehren auf das amerikanische Christentum überhaupt eingeht – der Fokus derselben liegt auf der Kirchengeschichte Europas – präsentiert er Amerika als den Zufluchtsort christlicher „Sekten“. Da die europäischen Anstaltskirchen mithilfe staatlichen Zwangs die christlichen Sondergruppen bekämpften, emigrierten mitunter ganze Gemeinden von Mennoniten, Baptisten, Quäker u. a. nach Amerika. Die ideengeschichtliche Prägung der amerikanischen Sekten wie etwa der General Baptists führt Troeltsch in den Soziallehren genealogisch bis auf die Täuferbewegung der Reformationszeit zurück: Die reformatorischen Täufergruppen waren „Gemeindebildungen von ernsten, weltabgeschiedenen Christen mit der Forderung der Freiheit von staatlichem und hierarchischem Zwang und mit dem Ideal des freien Zusammentretens der Wiedergeborenen zu Freiwilligkeitsgemeinden […]. […] Ebenso trat als äußeres Kennzeichen hervor die Forderung der Gemeindezucht und des Gemeindebannes“11. Die Baptisten übernahmen Troeltsch zufolge von den Täufern das Freikirchenprinzip und die Sittenzucht, aber im Unterschied zu den Täufern, die Kriegsdienst, Eid und staatliche Ämter für unvereinbar mit dem christlichen Glauben hielten, erkannten sie den Staat, das Recht und die Wirtschaft als Ordnungen an, in denen ein heiliges Leben geführt werden kann.12 Auch wenn der Sektentypus für Troeltsch keine vorzugswürdige Alternative zum Kirchentypus darstellt – bei der Lektüre der Soziallehren wird überdeutlich, dass Troeltsch von der weltgestaltenden Kraft dieser „Sekten“, vor allem von der engen sozialen Verbundenheit ihrer Mitglieder, beeindruckt ist. Und auch bei Weber hinterlässt die Amerika-Reise deutliche Spuren: Webers Manuskript für Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus13 ist vor der Amerikareise eigentlich bereits abgeschlossen. Und den ersten Teil der Protestantischen Ethik sendet er bereits vor seiner Abreise seinem Verleger. Doch den zweiten Teil der Schrift, in dem er die Berufsethik des asketischen Protestantismus untersucht, ergänzt Weber unmittelbar nach seiner Rückkehr um neu gewonnenes Anschauungsmaterial. Denn der Amerikaaufenthalt bestätigt zum einen die
11Troeltsch
(1923, S. 803). aaO., 817. Troeltsch geht in den Soziallehren auch ausführlich auf die Quäker und den Versuch William Penns ein, in Amerika einen christlichen Staat, Pennsylvania, zu errichten (vgl. dazu aaO., 914 ff.). 13Eine weitere „Frucht“ der Amerika-Reise ist Webers Aufsatz zur Heterogenität der verschiedenen christlichen Gruppen in Amerika (vgl. Weber 1906). 12Vgl.
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Grundannahme seiner Arbeit, Glaubensüberzeugungen seien mitursächlich für bestimmte ökonomische Verhaltensmuster, zum anderen untermauern die in Amerika gemachten Erfahrungen seine These, das Berufsethos der asketischen Protestanten habe die Entstehung des modernen Kapitalismus maßgeblich befördert. Wie ist diese Weber-These, insbesondere vor dem Hintergrund der in Amerika gemachten Erfahrungen – genau zu verstehen? Bei seinem Amerikaaufenthalt ist Weber an christlichen Gruppen und Gemeinschaften interessiert.14 Er besucht zahlreiche Gottesdienste von Quäker- und Baptistengemeinden und wohnt sogar einer Taufe bei. Weber geht es dabei freilich nicht um die Pflege seines eigenen Glaubenslebens, sondern um ein vertieftes Verständnis der verschiedenen christlichen Organisationsformen und deren Funktionen für die amerikanische Gesellschaft. Wofür Weber in Europa meist das Anschauungsmaterial fehlt, das findet er in Amerika: den direkten Zusammenhang von asketischem Protestantismus und dem Geist des Kapitalismus. Bei den europäischen Kaufleuten, Fabrikbesitzern oder Bankern ist es in aller Regel nicht eine religiöse Motivation, die sie zu Bescheidenheit, Sparsamkeit, Arbeitsfleiß anspornt, sondern eine säkularisierte Schwundstufe derselben.15 Es ist ein Berufsverständnis und kein Berufungsverständnis mehr. Anders in Amerika: Hier macht Weber die Erfahrung, dass etliche Großunternehmer engagierte Glieder christlicher Gruppen sind und eine intensive Frömmigkeit leben. Besonders fasziniert ist Weber dabei von den asketischen Protestanten, die sich von Gott zu einem heiligen Leben gerufen wissen. Die Mitglieder dieser Gruppen kennen sich persönlich, kontrollieren wechselseitig ihre Lebens- und Glaubensführung und suchen ihr gesamtes Leben, einschließlich des
14Natürlich
ist Weber nicht ausschließlich an christlichen Gruppen interessiert. Er befasst sich zudem mit der Rassenfrage, der Sozialpolitik, den Bildungseinrichtungen u. a. Er trifft die Führer der schwarzen Bürgerrechtsbewegung W.E.B. Du Bois und Booker T. Washington, tauscht sich mit Robert L. Owen aus, der wenig später zum Senator Oklahomas gewählt wird, und er knüpft Kontakte zu führenden Professoren, wie etwa William James (vgl. Kaeseler 2006, S. 16). 15So schreibt Weber: „Indem die Askese die Welt umzubauen und in der Welt sich auszuwirken unternahm, gewannen die äußeren Güter dieser Welt zunehmende und schließlich unentrinnbare Macht über den Menschen, wie niemals zuvor in der Geschichte. Heute ist dieser Geist – ob endgültig, wer weiß es? – aus diesem Gehäuse entwichen. Der siegreiche Kapitalismus jedenfalls bedarf, seit er auf mechanischen Grundlagen ruht, dieser Stütze nicht mehr. Auch die rosige Stimmung ihrer lachenden Erbin: der Aufklärung, scheint endgültig im Verbleichen und als ein Gespenst ehemals religiöser Glaubensinhalte geht der Gedanke der ‚Berufspflicht‘ in unserm Leben um.“ (Weber 2016, S. 487, vgl. hierzu auch Kaeseler 2014, S. 530).
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Arbeitslebens, zu heiligen. Weber findet also in Amerika den Typus des asketischen Puritaners unmittelbarer und ursprünglicher vor als in Europa.16 Doch woher speist sich die Arbeitsmoral dieser asketischen Puritaner und in welchem Zusammenhang steht diese mit dem modernen Kapitalismus? Weber zufolge hat diese Arbeitsmoral ihre Wurzel in der doppelten Prädestinationslehre, wie sie im Calvinismus und in abgewandelter Form in Pietismus, Methodismus und Täuferbewegung geglaubt wurde.17 Die Prädestinationslehre Calvins habe – am deutlichsten sichtbar sei dies bei den Täufergruppen, insbesondere bei den Quäkern – zu einem gänzlich neuen Berufsverständnis geführt. Große wirtschaftliche Gewinne stehen in diesem Berufsverständnis nicht mehr (wie etwa noch bei Luther) unter dem Verdacht der Unmoral, sondern gelten als Indiz göttlichen Erwähltseins. Weber schreibt: „Entscheidend aber für unsere Betrachtung war […] die bei allen Denominationen wiederkehrende Auffassung des religiösen ‚Gnadenstandes‘ eben als eines Standes (status), welcher den Menschen von den Verworfenen des Kreatürlichen, von der ‚Welt‘, abscheidet, dessen Besitz aber – wie immer er nach der Dogmatik der betreffenden Denomination erlangt wurde – nicht durch irgendwelche magisch-sakramentalen Mittel oder durch Entlastung in der Beichte oder durch einzelne fromme Leistungen garantiert werden konnte, sondern nur durch Bewährung in einem spezifisch gearteten von dem Lebensstil des ‚natürlichen‘ Menschen unzweideutig verschiedenen Wandel. Daraus folgt für den Einzelnen der Antrieb zur methodischen Kontrolle seines Gnadenstandes in der Lebensführung und damit zu deren asketischer Durchdringung. […] Jenes religiös geforderte, vom ‚natürlichen‘ Leben verschiedene Sonderleben der Heiligen spielte sich – und das ist das Entscheidende –
16Weber
geht davon aus, dass bestimmte Zusammenhänge in Amerika ursprünglicher bewahrt sind und so besser sichtbar werden, als in Europa. Dies verdeutlicht etwa eine Passage in dem 1919 gehaltenen Vortrag Wissenschaft als Beruf, in dem Weber erklärt: „Erlauben Sie, dass ich Sie noch einmal nach Amerika führe, weil man dort solche Dinge oft in ihrer massivsten Ursprünglichkeit sehen kann“ (Weber 1992, S. 101). 17Nicht Luther, sondern Calvin erklärt Weber damit zum Ahnvater des modernen Kapitalismus – wobei es sich beim modernen Kapitalismus selbstredend nicht um ein „geplantes Kind“ handelt (Weber spricht von „Wahlverwandtschaft“), sondern um eine nicht-intendierte, ja zum Teil gar dem Anliegen Calvins zuwiderlaufende Nebenfolge seines Denkens. Zwar hatte Luther den weltlichen Beruf gegenüber dem Mittelalter enorm aufgewertet, muss doch der Christ für Luther zu seiner vollgültigen Seligkeit kein geistliches Amt mehr bekleiden, gleichwohl zementierte er aber das überkommene Ständemodell, indem er dieses zu der von Gott gesetzten Ordnung erklärte. Der Beruf war bei Luthers etwas, in das sich der Mensch zu schicken hat.
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nicht mehr außerhalb der Welt in Mönchsgemeinschaften, sondern innerhalb der Welt und ihren Ordnungen ab. Diese Rationalisierung der Lebensführung innerhalb der Welt im Hinblick auf das Jenseits war die Wirkung der Berufskonzeption des asketischen Protestantismus.“18 Wie sind diese verdichteten Ausführungen Webers genau zu verstehen? Gute Werke und beruflicher Erfolg können gemäß der doppelten Prädestinationslehre Calvins zwar kein Heil erwirken – der Mensch kann keinen Einfluss darauf nehmen, ob er in den Stand der Gnade erwählt oder ewig verworfen ist –, aber gute Werke und beruflicher Erfolg können dem Gläubigen subjektive Heilsgewissheit schaffen. Sie sind „Zeichen der Erwählung“.19 Da der vom Calvinismus geprägte Gläubige nicht wissen kann, ob er zu der Gruppe der Erwählten gehört, will er sich seines Heils versichern und versucht deshalb, „Zeichen der Erwählung“ hervorzubringen, zu denen maßgeblich auch der wirtschaftliche Erfolg gehört. Diese Glaubenspraxis führt aber – so Weber – zur Rationalisierung des Berufsverständnisses, ja der Lebensführung als Ganzer. Der Gläubige lebt sparsam, anspruchslos, frei von Luxus und führt doch keine mönchisch-weltabgewandte Existenz, sondern ist beständig bemüht, produktiv tätig zu sein. Kurz: die doppelte Prädestinationslehre bildet Gläubige zu weltgestaltenden Asketen. Dieses calvinistische Berufsethos aber stellt Weber zufolge den Nährboden dar, auf dem der moderne Kapitalismus üppig gedeihen kann. Der traditionelle Merkantilismus zeichnete sich dadurch aus, dass ihm wirtschaftlicher Erfolg „zur Ermöglichung eines bestimmten Lebensstils und -genusses, letztlich zur Erlangung einer Vermögensstufe [diente], die ein Leben ohne Arbeit oder zumindest deren Reduzierung erlaubte; keinesfalls aber war ihm Gelderwerb sittliche Berufspflicht“20. Mit dem asketischen Puritanismus ändert sich dieses Berufsethos grundlegend. Möglichst sparsam zu leben und wirtschaftlichen Mehrwert zu schaffen, d. h. erwirtschaftete Gewinne nicht für den eigenen Lebensstandard aufzuwenden, sondern in das eigene Unternehmen zu reinvestieren, kennzeichnet das asketisch-puritanische Berufsverständnis. Damit aber erweist sich, dass zwischen dem asketisch-puritanischen Berufsethos und dem Geist des
18Weber
(2016, S. 410). aaO., 302 f. und 314–316. Ob Webers Darstellung von Calvins Prädestinationslehre den Quellen wirklich gerecht wird, können wir hier dahingestellt sein lassen. Denn Weber orientiert sich bei seiner ideengeschichtlichen Analyse ohnehin weniger an Calvins Originaltexten als vielmehr an der Seelsorgepraxis in calvinistischen Gemeinden, wie etwa an dem Prediger Richard Baxter (vgl. auch Kaeseler 2006, S. 538). 20Küenzlen (1980, S. 20). 19Vgl.
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Kapitalismus eine besondere Affinität besteht. Etwas pauschalisierend lässt sich Webers These dahin gehend zusammenfassen, dass der asketische Puritanismus, indem er das Leistungsprinzip zu einem Indikator für das eigene Erwähltsein erhebt, ein Berufsverständnis schafft, das für die Prinzipien des modernen Kapitalismus wie etwa der Kapitalakkumulation oder der Reinvestition besonders empfänglich ist. Amerika dient Weber als Exempel dieser veränderten Arbeitsmoral. Und auch wenn Weber beansprucht, dieses asketisch-puritanische Arbeitsethos allein wertneutral zu beschreiben, so ist eine gewisse Sympathie für diese Gruppen in Webers Schriften unverkennbar. Denn anders als der traditionelle Merkantilismus, der auf einem mehr oder weniger ausgeprägten Hedonismus basiert und daher einer Ethik ermangelt, vernichtet das kapitalismusaffine Arbeitsethos der amerikanischen Baptisten und Quäker nicht Moral, sondern fördert diese. Die Bedeutung der Amerika-Reise für die Denkentwicklung Troeltschs und Webers darf sicher nicht zu hoch veranschlagt werden. Das Religionsverständnis von Troeltsch und Weber erhielt seine wesentlichen Ausprägungen vor dieser Reise, sodass diese insofern nicht dessen Grundkonstitution beeinflusste. Gleichwohl trug die Reise maßgeblich dazu bei, dass Troeltsch und Weber die Kulturbedeutung derjenigen christlichen Gruppen, die nicht zu den „Mainstream-Kirchen“ gehörten, sehr viel schärfer wahrnahmen.
2 Der bleibende Ertrag der Religionstheorie Troeltschs am Beispiel der Absolutheitsschrift Was folgt aus den obigen Überlegungen für die Frage nach einer Religionstheorie in transatlantischer Perspektive? Ist die Religionstheorie Troeltschs21 nur noch historisch relevant oder kommt ihr auch noch eine Gegenwartsbedeutung zu? Troeltsch, dem man gewöhnlich ein kulturprotestantisches Überlegenheitsdenken nachsagt, scheint zunächst reichlich ungeeignet, um als Vorbild für eine auf transatlantische Verständigung angelegte Religionstheorie dienen zu können. Begründet wird dieser angebliche Eignungsmangel mit Troeltschs 1902 veröffentlichter Schrift Die Absolutheit des Christentums. Troeltsch erhebt dort den Anspruch, die relative Höchstgeltung des Christentums religionsphänomenologisch zu erweisen. Doch auch wenn Troeltsch dabei allein eine relative und
21Die
Erörterung der Religionstheorie Webers bedürfte eines eigenen Beitrags und wird deshalb im Folgenden nicht weiter diskutiert.
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keine absolute Überlegenheit des Christentums beansprucht, so wird gleichwohl dieser Anspruch von vielen als problematisch empfunden. So schreibt etwa Friederike Nüssel: Das bei Troeltsch noch beherrschende Interesse, die Überlegenheit des Christentums […] gegenüber den anderen Weltreligionen auszusagen, findet man in der gegenwärtigen religionstheologischen Debatte so nicht mehr. Denn die Argumentation von Troeltsch ist religionswissenschaftlich problematisch. Troeltsch propagiert zwar die Wahrnehmung der Religionen in ihrer geschichtlichen Bedingtheit und Wirklichkeit, arbeitet dann aber in der Einzelbeschreibung der Religionen mit äusserst grossflächigen und tendenziösen Bestimmungen22.
Wie ist solcher Fundamentalkritik zu begegnen? Es ist sicher richtig, dass Troeltschs Typologien vom heutigen Standpunkt aus differenzierungsbedürftig sind. Und es ist sicher ebenso richtig, dass Troeltschs Konzeption des Christentums latente Züge eines liberal-protestantischen Kulturchauvinismus aufweist. Doch aus diesen Mängeln folgt meines Erachtens nicht, dass Troeltschs Religionstheorie, wie sie in der Absolutheitsschrift grundgelegt ist, grundsätzlich überholt ist. Troeltschs materiale Durchführungen mögen heute obsolet sein, seine Religionstheorie als solche ist es nicht. Diese zeichnet sich durch drei Grundsätze aus, die ich für eine jede Religionstheorie für unverzichtbar halte, insbesondere wenn diese in transatlantischer Perspektive entworfen werden soll. Diese Grundsätze, die ich im Folgenden kurz erläutern möchte, sind: a) die Verpflichtung zu konsequentem empirisch-historischen Arbeiten und die Bündelung des historischen Materials zu Idealtypen, b) die Bereitschaft, die eigenen religionsphilosophischen und fundamentaltheologischen Annahmen offen zu legen, und schließlich c) das Erheben von relativen Wahrheitsansprüchen. a) Die Verpflichtung zu konsequentem empirisch-historischen Arbeiten und die Bündelung des historischen Materials zu Idealtypen Troeltsch hält die Auseinandersetzung mit den Realgestalten von Religionen für schlechterdings unverzichtbar. Nicht die Konstruktion einer übergeschichtlich-abstrakten Urform von Religion, sondern die empirische Analyse der geschichtlich gewachsenen Gegenwartsreligionen erklärt Troeltsch zum Ausgangspunkt der religionstheoretischen Arbeit. So richtig die religionspsychologische Annahme ist, dass jede Religion ein unmittelbares religiöses
22Nüssel
(2004, S. 81). Ähnlich Sockness (2004).
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Erleben voraussetzt, so falsch ist es, bei der Bestimmung einer allen Religionen gemeinsamen Form „den Inhalt der einzelnen religiösen Vorstellungen zurücktreten“23 zu lassen. Religiöses Erleben ist grundsätzlich in ein soziales Gefüge eingebettet und so von empirisch-geschichtlichen Gehalten abhängig.24 Troeltsch erklärt deshalb: „Der G[laube] ist nur G[laube] an einen konkreten Gedankeninhalt, und dieser konkrete Gedankeninhalt entstammt niemals bloß dem einzelnen Subjekt, sondern ist […] das gemeinschaftliche Werk großer Bildungsepochen und ganzer Generationen, oder bei deren Grundlegung das Werk überragender Persönlichkeiten.“25 Der Bezug auf die geschichtlich gewachsenen Inhalte einer Religion ist also für den Glauben selbst von entscheidender Bedeutung: Sieht man von den Momenten des inneren religiösen Erlebens ab, die den Gläubigen in den sprach- und gedankenlos machenden Augenblick religiöser Ehrfurcht bannen, dann empfängt der Glaube seinen Gegenstand von der Geschichte her. Die empirische Analyse der Gegenwartsreligionen muss also stets die historische Analyse mit einschließen. Denn soll die Bezugnahme auf religiöse Ausdrucksformen nicht willkürlich sein, so bedarf es der methodisch kontrollierten Reflexion auf die Geschichte, also des historischen Bewusstseins.26 Die eigene Glaubens- und Frömmigkeitspraxis, aber auch die anderer Religionen, bliebe ohne historisches Bewusstsein häufig unverständlich. Historisches Arbeiten schafft ein Verständnis für die eigene Religion, ebenso wie für die des anderen. Und eine andere Religion historisch zu würdigen, kann einen ersten annähernden Schritt im Religionsgespräch bedeuten. Die empirische Analyse sowie die historische Einordnung der zentralen religiösen Gehalte vermitteln also ein Verständnis für die Realgestalt von Religion. Sie „desubstantialisieren“ gleichzeitig aber auch eine Religion und leisten damit eine notwendige Voraussetzung für eine jede Religionstheorie. Was ist damit gemeint? Jeder Religion wohnt der Drang inne, sich als ein geschlossenes, klar abgrenzbares und kohärentes System zu verstehen. D. h. Religion neigt dazu, ihre eigenen Grundüberzeugungen zu substanzialisieren. Für das Religionsgespräch
23Troeltsch
(2014a, S. 224). darf nach Troeltsch das religiöse Gefühl „die Historie wieder vergessen und […] mit naiver Absolutheit […] seinerseits in der Gegenwart Gottes [leben] alle Zeit verzehrend in der Anschauung des einen uns eröffneten göttlichen Zieles“, doch dieses Gefühl beschreibt Einzelmomente mystischer Versenkung, jedoch nicht die Sozialgestalt des christlichen Glaubens (vgl. Troeltsch 1998, S. 241). 25Troeltsch (1910, S. 1448). 26Vgl. dazu auch Troeltsch (1922b). 24Zwar
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stellt eine solche Substanzialisierung eine Gefahr dar, weil damit die eigene Religion als eine in sich geschlossene exklusive Größe anderen geschlossenen exklusiven Größen gegenübergestellt wird. Empirisch-historische Religionsanalyse desubstanzialisiert Religion, indem sie aufweist, dass das Verständnis von Offenbarung, auf das sich eine Religion gründet, nicht zeitlos ist, sondern vielmehr ein Amalgam unterschiedlicher kultureller und religiöser Prägungen und fortwährender Veränderung unterworfen war und auch heute noch ist.27 Damit eine empirisch-historische Religionsanalyse aber tatsächlich das Verständnis einer Religion fördert, bedarf es der Typenbildung. Wissenschaftliche Forschung steht immer in der Gefahr, sich im „Klein-Klein“ der empirisch-historischen Fakten zu verlieren. Werden Einzelfakten nicht gebündelt und keine übergeordneten Zusammenhänge, Typen, herausgearbeitet, so verdunkelt wissenschaftliche Arbeit das Verstehen eher, als dass sie notwendige Orientierung schafft. Troeltsch war durch seine Auseinandersetzung mit Weber für die Sozialformen und institutionellen Arrangements, in denen sich Religionen darstellen, überaus sensibel und versuchte, diese typologisch zu kategorisieren. Ganz gleich, ob etwa Troeltschs Typologisierungen von Sekte, Kirche und Mystik heute noch haltbar ist, sie stellen Kategorien dar, mit denen verschiedene Grundformen christlicher Gemeinschaftsbildung verständlich gemacht werden konnten.28 Die in deutschsprachigen Wissenschaftskreisen übliche Scheu vor Typenbildung – die größte Furcht des deutschen Wissenschaftlers besteht wohl darin, sich den Vorwurf des Reduktionismus einzuhandeln – stellt meines Erachtens ein erhebliches Problem für heutige Wissenschaftskultur im Allgemeinen und für die Religionstheorie im Besonderen dar. Die Verpflichtung zu konsequentem empirisch-historischen Arbeiten hebt Troeltsch auch in dem Vortrag hervor, den er in St. Louis vor amerikanischem Publikum hält. Troeltsch würdigt in diesem Vortrag die Leistung des in Harvard lehrenden Religionspsychologen William James. Dessen Gifford-Lectures The Varieties of Religious Experience29 erachtet Troeltsch „als ein hervorragendes Beispiel der besten und feinsten Leistungen moderner Religionspsychologie“, denn dieses ist „[g]egründet auf die Breite des Anschauungsmaterials, wie es
27In
seinem Vortrag in St. Louis hält Troeltsch als eine Bedingung aller religionsphilosophischen Besinnung fest, dass religiöse Erleuchtung „ein komplexes Ineinander von Menschlichem und Göttlichem ist“ und keine „einfache, die Gottheit abbildende Wirkung des Göttlichen auf die Seele“ (Troeltsch 2014a, S. 255). 28Vgl. Molendijk (1996). 29Vgl. James (1902).
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die moderne historisierende und empirische Denkweise zusammengetragen hat, und ausgerüstet mit den feinen Generalisationen psychischer Vorgänge, die die moderne Psychologie aus zahllosen Einzelbeobachtungen und Experimenten herausgearbeitet hat“30. Troeltsch vergleicht diese Leistung amerikanischer Religionspsychologie mit der Religionsphilosophie Kants. Gegenüber James erscheinen die religionspsychologischen Überlegungen Kants, die im Wesentlichen auf dem Deismus basieren, „kahl und mager“31. Doch indem James von der empirischen Darstellung einer religiösen Erfahrung unmittelbar auf deren rationale Geltung schließe, ohne sich dabei über die zugrunde liegenden religionsphilosophischen Voraussetzungen im Klaren zu sein, missachte er die von Kant aufgewiesene Trennung von Psychologie und Erkenntnistheorie, von Genesis und Geltung, von Empirischem und Rationalem. James lässt es Troeltsch zufolge an Mühe vermissen, die eigenen religionsphilosophischen Voraussetzungen offen zu legen.32 b) Die Bereitschaft, die eigenen religionsphilosophischen und fundamentaltheologischen Annahmen offen zu legen Troeltsch – vom südwestdeutschen Neukantianismus geprägt – weiß genau, dass es kein „nacktes“ empirisch-historisches Arbeiten gibt, sondern dieses immer auch auf religions- und geschichtsphilosophischen Voraussetzungen gründet. Troeltsch ist redlich bemüht, diese Voraussetzungen auszuweisen, denn er erkennt an, dass diese nicht alternativlos sind, sondern sich gegenüber konkurrieren-
30Troeltsch
(2014a, S. 222 f, 224). 236. 32Troeltsch führt dazu wenig schmeichelhaft aus: Indem James das Problem der Erkenntnistheorie und damit der Geltungsfragen vom „Boden des reinen psychologischen Empirismus aus zu lösen versucht, scheint er nur zu beweisen, daß dieser [d. i. der psychologische Empirismus] zu solcher Leistung unfähig ist“ (aaO., 228). Und so gibt Troeltsch letztlich doch Kant über James recht: „Eine […] Synthese […] des Psychologischen und Erkenntnistheoretischen ist nun aber das Grundproblem, das sich die Kantische Lehre gestellt hat […]. Wenn wir von der Psychologie eines James nach einem Typus religionswissenschaftlicher Begriffe ausblicken, wo gerade die von ihm nicht erledigten Fragen grundlegend behandelt sind, so kann es nur der alte und immer neu belebte Kant sein, an den wir uns zu halten haben. James’ angelsächsischer Pragmatismus liebt das grüblerische Wesen Kants nicht; er wittert in ihm nur einen künstlich und umständlich mit der Erfahrung sich abfindenden Rationalismus, und scheut allem Anschein nach die damit verbundene schwierige Grübelei. Allein ohne Rationalismus und ohne die Grübelei, die gerade das Verhältnis des Rationalen und Empirischen sich zum Gegenstande macht, können die von James liegen gelassenen Probleme überhaupt nicht behandelt werden.“ (AaO., 233). 31AaO.,
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den Ansprüchen behaupten müssen.33 Troeltsch flüchtet sich also nicht in einen Methodendezisionismus, sondern sucht die religionsphilosophischen Voraussetzungen, die seinem Ansatz zugrunde liegen, transparent und damit einer ergebnisoffenen Auseinandersetzung zugänglich zu machen. Die bewusste Verschleierung der eigenen religionsphilosophischen Voraussetzungen oder zumindest die Nachlässigkeit, selbige offen zu legen, stellt meines Erachtens eine große Hürde für die Religionstheorie dar. Überzeugungen, die das eigene Verständnis von Religion prägen, werden allzu häufig kaschiert und damit dem Religionsgespräch entzogen. Doch welche religionsphilosophischen Annahmen liegen der Religionstheorie Troeltschs zugrunde? Hier sind vor allem zwei Annahmen zu nennen: Erstens eine universale Religionspsychologie und zweitens eine umfassende Geschichtsphilosophie. Im Rahmen seiner Religionspsychologie sucht Troeltsch – Ansätze Kants und Schleiermachers aufnehmend –, das religiöse Bewusstsein als integralen Bestandteil des allgemein menschlichen Bewusstseins auszuweisen.34 In jedem Menschen sei ein religiöses Apriori angelegt, welches als ein Erleben der Gegenwart des Ganzen und die Gewissheit der Ganzheit der Dinge zu begreifen sei.35 Dieses religiöse Gefühl ist Troeltsch zufolge zwar in jedem Menschen angelegt, aber nicht in jedem gleichermaßen kultiviert. Gleichwohl verbürgt dieses religiöse Gefühl die prinzipielle „Gleichartigkeit und Zusammengehörigkeit alles seelische[n] Leben[s]“36. Dieser „Metaphysik der Innerlichkeit“ stellt Troeltsch eine „Metaphysik der Geschichte“ an die Seite. In der Absolutheitsschrift weist Troeltsch etwa seine lebensphilosophischen Grundannahmen aus. So bemerkt Troeltsch: „Der Charakter des Einmaligen und Individuellen aber, den alles Historische an sich trägt, stammt seinerseits aus einer jedesmal unableitbaren inneren Bewegung des Lebens“37.
33Dass
jede Form der Geschichtsschreibung auf geschichtsphilosophischen Vorannahmen gründet, hält Troeltsch nicht nur gegen den Pragmatismus, sondern vor allem gegen den historischen Materialismus fest, der meint, ohne Erkenntnistheorie und Kulturphilosophie auskommen zu können (vgl. Troeltsch 1998, 168). 34Das „religiöse Apriori“ ist auch das beherrschende Thema in Troeltschs Vortrag in St. Louis, nur dass er hier dieses allein von Kant her näher bestimmt (vgl. Troeltsch 2014a, S. 243 und 248 ff. vgl. auch Bodenstein 1959, S. 33). 35Vgl. Troeltsch (1913, S. 918 f.) Vgl. auch Troeltsch (1922a, S. 496). 36Troeltsch (1998, S. 218). 37Vgl. aaO., 137.
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Zudem nimmt er einen Gesamtzusammenhang des Universums ebenso an, wie das Vertrauen in „eine in der Geschichte waltende und sich fortschreitend offenbarende Vernunft“, die „aus einheitlichen Kräften hervorgehend einem einheitlichen Ziele“ zustrebt.38 Diese beiden Voraussetzungen sind aber gleichsam nur Beiwerk gegenüber der religionsphilosophischen Frage, an der sich Troeltsch sein Leben lang abarbeitet: Inwiefern lassen sich Normen geschichtlich begründen? Die bei einer geschichtlichen Normenbegründung bestehende Gefahr, einem Sein-Sollen-Fehlschluss zu erliegen, sieht Troeltsch durchaus. Gewiss lassen sich Normen nicht direkt aus der Geschichte ableiten. Doch genauso wenig lassen sich Normen ohne Geschichte begründen. Troeltsch erklärt deshalb: „Die Geschichte schließt die Normen nicht aus, sondern ihr wesentlichstes Werk ist gerade die Hervorbringung der Normen und der Kampf der Zusammenfassung dieser Normen.“39 Doch wie lassen sich aus der sich stetig wandelnden, keinen Allgemeinbegriffen unterworfenen Geschichte Normen gewinnen? Troeltsch setzt dazu methodisch bei einer vergleichenden Überschau der in der Geschichte vorherrschenden Haupttypen geistigen Lebens an. Vergleicht man diese religionsgeschichtlich, so lassen sie sich gegeneinander abstufen.40 Diese vergleichend-abstufende Bewertung ist jedoch kein standpunktunabhängiges Universalurteil, sondern das Ergebnis von subjektivem Nachleben des die geschichtlichen Haupttypen vergleichenden Historikers. Ein historischer Religionsvergleich ist nur dem Historiker möglich, der sich in andere Religionen und Kulturkreise einzufühlen vermag. Denn erst von der Innenperspektive der Glaubenden, die der Historiker anempfindend einzunehmen sucht, kann eine Religion verständlich und so in ihrer kulturellen Bedeutsamkeit vermessen werden. Dementsprechend betont Troeltsch: Die Gewinnung von „Normen und ihre Vereinheitlichung selbst bleiben immer etwas Individuelles und temporär Bedingtes in jedem Moment ihrer Wirksamkeit, immer ein von der Lage mit-
38Troeltsch
(1922b, S. 742, 746 f.) Troeltschs Forschungsinteresse konzentrierte sich in den Jahren nach Erscheinen der Absolutheitsschrift zunehmend auf geschichtsphilosophische Fragen. Ihre größte thematische Zuspitzung erfuhren sie durch seine Schrift Der Historismus und seine Probleme, in der er vor allem einen geschichtsphilosophischen Entwicklungsbegriff ausarbeitet (vgl. Troeltsch 2008). 39Troeltsch (1998, S. 170). 40Als Kriterien, an denen sich eine solche Abstufung bemessen soll, führt Troeltsch „Einfachheit“, „Kraft“ und „Tiefe“ an. Die Beurteilungskriterien dürfen jedoch nicht als ahistorischen Begriffe missverstanden werden. Es sind Kriterien, die „sich nur im freien [geschichtlichen] Kampfe der Ideen miteinander erst erzeugen.“ (AaO., 175).
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geformtes Streben nach einem vorschwebenden, noch nicht fertig verwirklichten, noch nicht absolut gewordenen Ziel.“41 Dass die Erhebung von Normen aus der Geschichte subjektive und standpunktbedingte Momente umfasst, bedeutet jedoch keine Preisgabe an einen Subjektivismus. Sie stellt lediglich eine andere Art der Begründungslogik dar, die ihren Gegenstand nicht zwingend zu beweisen, wohl aber argumentativ zu plausibilisieren vermag. Urteilsvermögen, Anempfindung und Einfühlung liegen keineswegs jenseits von Rationalität. Sie sind vielmehr Teil einer den Geisteswissenschaften eigenen Begründungslogik.42 Diese erachtet Troeltsch als das Proprium der Geisteswissenschaften: Die Gewinnung von Normen aus der Geschichte ist Geschichtsphilosophie und insofern keine strenge Wissenschaft. Aber die Wissenschaft ist nicht bloß exakte Wissenschaft, sonst müßte sie auf die Mathematik und die Naturwissenschaft […] sich beschränken. Ihre für das innere Leben wichtigsten Aufgaben liegen vielmehr auf einem Gebiete, das einer Exaktheit und Strenge in diesem Sinne nicht fähig ist, weil überall praktische subjektive Wertungen und Stellungnahmen mitwirken43.
Im historischen Werturteil verbinden sich Troeltsch zufolge also historische Untersuchung und standort- und urteilsgebundene Wertung zu einer Einheit.44
41Troeltsch (1998, S. 170 f.) „Auf die Religion angewandt ist es überhaupt kein ‚Begriff‘ der Religion als einer menschlich-realisierbaren und erschöpfbaren Idee, sondern der Gedanke eines in Grundrichtung und Umriß erkennbaren, im vollen Gehalt aber immer transzendenten Zieles, das in der Geschichte stets nur in individuell bedingter Weise erfaßt wird“ (AaO., 180). 42Die Geisteswissenschaften mit einer eigenen Form der Rationalität zu begründen, ist durch Dilthey, Heidegger und Gadamer mittlerweile zum Gemeinplatz geworden. Vor allem der Rekurs auf die aristotelische Phronesis als einer praktischen situationsbezogenen Klugheit, die sich kategorial von einem rein propositionalen Wissen als Episteme unterscheidet, ist zum locus classicus wissenschaftstheoretischer Grundlegungsdiskussionen der Geisteswissenschaften avanciert (vgl. dazu den schönen Band: Radke-Uhlmann 2012). In der evangelischen Theologie war es vor allem die Ethik, die die Notwendigkeit einer eigenen praktischen Rationalität für die Begründung ihres Fachbereiches herausarbeitete (vgl. Tanner 2012). 43Troeltsch (1998, S. 187). 44So ist auch das Urteil Troeltschs, dass das Christentum als die am höchsten entwickelte Religion zu werten sei, „eine Verbindung gegenwärtig absoluter Entscheidung und historisch-relativer Entwicklungskonstruktion, aus der das Urteil hervorgeht“ (Troeltsch 1998, S. 199).
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Interessanterweise beschreibt Troeltsch in der Absolutheitsschrift – zumindest in Grundzügen – bereits das, was Gadamer 60 Jahre später in Wahrheit und Methode als „Horizontverschmelzung“ ausarbeitet und wohinter eine Religionstheorie der Gegenwart meines Erachtens nicht zurück kann.45 Von der Bereitschaft, die eigenen religionsphilosophischen und fundamentaltheologischen Annahmen offen zu legen, legt Troeltschs Vortrag in St. Louis ein eindrückliches Zeugnis ab. Troeltsch argumentiert hier, weshalb er es für unverzichtbar hält, von der bloßen empirischen Darstellung des religiösen Erlebens zu der Frage nach deren Wahrheit fortzuschreiten und welche Art des Rationalismus bei diesem Schluss mit vorausgesetzt ist. In Abgrenzung von einem spekulativen sowie einem regressiven Rationalismus weist Troeltsch aus, dass sein eigenes Denken auf einem „formalen, erfahrungsimmanenten Rationalismus [gründet], der überall in der elementaren Erfahrung selbst schon das Walten des logischen Apriori konstatiert“46. Wir brauchen an dieser Stelle die einzelnen Argumente, mit denen Troeltsch seine Voraussetzungen plausibilisiert, nicht zu rekonstruieren. Deutlich wird aber, dass Troeltsch über seine religionsphilosophischen Annahmen Rechenschaft ablegt, indem er diese radikal transparent und damit – die Wirkungsgeschichte Troeltschs hat dies erwiesen – einer kontroversen Auseinandersetzung zugänglich macht.47
45So
stellt Gadamer fest: „In Wahrheit ist der Horizont der Gegenwart in steter Bildung begriffen, sofern wir alle unsere Vorurteile ständig erproben müssen. Zu solcher Erprobung gehört nicht zuletzt die Begegnung mit der Vergangenheit und das Verstehen der Überlieferung, aus der wir kommen. Der Horizont der Gegenwart bildet sich also gar nicht ohne die Vergangenheit. Es gibt so wenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.“ (Gadamer 2010, S. 311). Im Gegensatz zu Troeltsch ist Gadamer gegenüber der Möglichkeit, Historiografie dogmatisch unvoreingenommen zu betreiben, sehr viel skeptischer. Historische Darstellung und normative Bewertung gehen für Gadamer – und das wird auch im obigen Zitat deutlich – miteinander einher. Nicht nur die Normgewinnung ist für Gadamer also von standpunktgebundenen Urteilen abhängig, auch bereits in die historische Darstellung fließen subjektive Wertungen mit ein, welche sich Gadamer zufolge nur bedingt erhellen lassen. 46Vgl. Troeltsch (2014a, S. 231). 47Hans Rollmann würdigt insbesondere diese Bereitschaft Troeltsch, die eigenen methodologischen und religionsphilosophischen Implikationen auszuweisen, etwa wenn er schreibt: „The speech given at the congress became a significant methodological preliminary for Troeltsch’s fundamental theology, and the American-style empirical psychology became from then on for him a methodological sine qua non for the correct understanding of religion in general.“ (Rollmann 1995, S. 378).
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c) Das Erheben von relativen Wahrheitsansprüchen Gegen Troeltsch wird vorgebracht, dass er eine relative Höchstgeltung des Christentums behauptet. Doch nur wie Troeltsch diese Höchstgeltung, nicht dass er eine solche Höchstgeltung behauptet, ist meines Erachtens kritikwürdig. Es stellt eher ein Verdienst Troeltschs dar, die Wahrheitsfrage nicht vergleichgültigt zu haben. Troeltsch zufolge sind Religionsfragen auch Wahrheitsfragen. Troeltsch nimmt die historisch gewachsenen Unterschiede der Religionen ernst. In Religionen tauschen Gläubige nicht nur subjektive Wahrheitserfahrungen aus, sondern erheben einen Anspruch auf sachliche Wahrheit. Der Glaube etwa, dass Gott einer ist (Monotheismus), ist ein sachhaltiger Anspruch, der mit dem Anspruch konfligiert, dass Gott viele ist (Polytheismus). Wären Glaubensgehalte prinzipiell nicht wahrheitsfähig, dann ließen sich im Religionsgespräch zwar Glaubensberichte austauschen, der Anspruch auf Sachhaltigkeit von Glaubensaussagen wäre aber grundsätzlich aufgegeben. Dieser Anspruch auf Sachhaltigkeit und damit auch auf Wahrheit ist meines Erachtens für jede Religionstheorie konstitutiv, die nicht dem performativen Selbstwiderspruch erliegen will, für die eigene Religionstheorie einen Anspruch auf Wahrheit zu erheben, obwohl sie die Religion gleichzeitig zu einem nicht wahrheitsfähigen Gegenstand erklärt hat. Troeltsch erhebt für Religionen also einen Wahrheitsanspruch, freilich aber einen relativen und keinen absoluten Wahrheitsanspruch. Relativ sind Wahrheitsansprüche für Troeltsch in zweierlei Hinsicht: erstens sind sie vorläufig und grundsätzlich falsifizierbar. Und zweitens gründen Wahrheitsansprüche nicht auf zwingenden Beweisen, sondern auf Argumenten sachlich-historischer Plausibilität. Dass es in Glaubensdingen keine absolute Wahrheit geben kann, folgt für Troeltsch aus der geschichtlichen Bedingtheit von Religion. Alle historischen Urteile sind bloße Wahrscheinlichkeitsurteile und somit nur von relativer Gültigkeit.48 Dies hält Troeltsch auch gegen den frommen Wunsch nach Wahrheitsunmittelbarkeit fest: Der fromme Mensch will Wahrheit haben, will wirklich Gott finden, will sich an wirkliche Offenbarung und Kundmachung Gottes klammern. Aber bedarf er dazu der absoluten Religion, der ihr Wesen und ihren Begriff erschöpfenden, allem Wandel und aller Bereicherung entrückten, die geschichtlichen Schranken überspringenden Gotteserkenntnis? […] Ist nicht in einem solchen Verlangen allzuviel enthalten von dem natürlichen menschlichen Ungestüm, das die Schranken und Bedingtheiten des Lebens überspringen und sich gleich an das fertige Ende ver-
48Vgl.
Troeltsch (1922b, S. 731).
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setzen will, wo Arbeit, Kampf und Mühe um die Wahrheit aufhören? Und ist dies Ungestüm nicht gerade dem Frommen ungeziemlich, der aus eigener Seelennot und aus eigenem Wechsel der Meinungen und Kräfte das Irrsal der irdischen Lebensrätsel tiefer kennen müßte als die leicht und vergnügt nach fertigen Abschlüssen strebenden Kinder der Oberfläche?49
Der Verzicht auf Absolutheitsbeweise bewahrt den Gläubigen von dem vermessenen Anspruch auf gottgleiche Erkenntnis und entlastet zugleich die Theologie von der Aufgabe, etwas zu beweisen, was sie unmöglich beweisen kann: die Absolutheit der eigenen Religion. Der Verzicht auf absolute Wahrheit ebnet also den Weg für eine Religionstheorie, in der divergierende Wahrheitsansprüche erhoben werden können und damit argumentativ um eine Sache gerungen werden kann.50 Die Bedeutung von Wahrheitsansprüchen in Glaubensdingen ist vor allem für die Religionstheorie hervorzuheben: So richtig es ist, Religionsgespräche empathisch zu führen, so falsch ist es meines Erachtens, dabei zugunsten einer gefühligen „Allumarmung“ beliebiger religiöser Standpunkte die Wahrheitsfrage abzusetzen. Wer auf Wahrheitsansprüche verzichtet, nimmt weder das geschichtlich-gewachsene Profil einer Religion noch die aus dieser Geschichte abgeleiteten Normen ernst. Auch in seinem Vortrag in St. Louis unterstreicht Troeltsch die Bedeutung der Wahrheitsfrage. Die Religionspsychologie – gleiches gilt für die Religionshistoriografie – „analysiert, bringt Typen und Kategorien hervor, zeigt verhältnismäßig konstante Zusammenhänge und Wechselwirkungen. Hier aber liegen nun die Grenzen einer solchen Psychologie, die in ihren Beschreibungen endlos erweitert werden könnte, die aber niemals dadurch über das Geltende und den Wahrheitsgehalt von sich aus Auskunft geben kann“51, was aber für eine jede Religionstheorie notwendig ist. Gerade den Verzicht auf starke Wahrheitsbehauptungen hält Troeltsch deshalb für einen Mangel der Werturteilstheologie, welche stets nur den funktionalen Wert der Religion behauptet, womit sie aber „die Notwendigkeit des Objektes [verliert], an dem diese Werte haften, und […] an den Abgrund der Wunsch- und Illusionstheologie“52 gerät.
49Troeltsch (1998, S. 200). In seinem Vortag in St. Louis stellt Troeltsch heraus, dass in Religionsdingen keine absoluten, sondern nur komparative Wahrheitsansprüche erhoben werden können, d. i. der Anspruch, etwas als eine „stärkere oder schwächere, engere oder umfassendere, persönlichere oder unpersönlichere Erschließung des Göttlichen“ zu behaupten (Troeltsch 2014a, S. 255). 50Vgl. Nüssel (2004, S. 80). 51Troeltsch (2014a, S. 227). 52AaO., 235.
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Kommen wir abschließend noch einmal zu Troeltschs und Webers Amerikareise zurück. Troeltsch und Weber sind sicher nicht frei von kulturchauvinistischen Einschlägen. Gleichwohl sind beide an der gesellschaftlichen Entwicklung Nordamerikas hoch interessiert, vor allem an den nicht-kirchlich organisierten Gemeinschaften, die ein tiefgreifenderes Ethos zu kultivieren vermögen als die christlichen Kirchen Europas. Ganz gleich, ob Troeltschs und Webers Beschreibung der amerikanischen Religionsgemeinschaften im Einzelnen zutreffend sind oder nicht – die religionstheoretischen Grundsätze, die dieser Beschreibung zugrunde liegen: a) die Verpflichtung zum konsequenten empirisch-historischen Arbeiten, b) die Bereitschaft, die eigenen religionsphilosophischen und fundamentaltheologischen Annahmen offen zu legen, und c) das Erheben von relativen Wahrheitsansprüchen, sind für die gegenwärtige Religionstheorie von bleibender Bedeutung.
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‚Neuer Atheismus‘ und ‚Kreationismus‘ – Transatlantische Zwillings-Phänomene Sabine Schmidtke
Zusammenfassung
Der sogenannte ‚neue Atheismus‘ hat – ausgehend v. a. von den USA – in Deutschland ohne Zweifel Wirkung gezeigt. Allerdings lässt sich die starke Resonanz kaum aus den eigenen Kontexten erklären, da einer der ‚Hauptgegner‘, ein – auch politisch einflussreicher – Kreationismus, in Deutschland so nicht vorhanden war und ist. Es stellt sich daher in einer Reflexion auf das Phänomen die Frage, welche beabsichtigten und unbeabsichtigten Konsequenzen die neukontextualisierte Rezeption des ‚neuen Atheismus‘ zeitigt und was sich in theologischer und kirchlicher Perspektive aus diesem Phänomen lernen lässt. Die Hauptthese, dass der sogenannte ‚neue Atheismus‘ dem Kreationismus in Deutschland erst ein öffentlichkeitswirksames Forum verschafft hat, dass sich gleichzeitig in diesem Phänomen aber auch erkennen lässt, dass das Bild von Theologie und Kirche in der Öffentlichkeit faktisch weniger von deren Akteuren als von den – in vielen Punkten stark US-amerikanisch stämmigen oder geprägten – Medien beeinflusst wird, mündet in ein Votum für eine stärker öffentlich orientierte Theologie.
S. Schmidtke () Heidelberg, Deutschland E-Mail:
[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Schössler und M. Plathow (Hrsg.), Multipolarität und bipolare Konfrontationen, Transatlantische Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22927-6_5
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Schlug noch vor einigen Jahren die Bewegung, die als ‚neuer Atheismus‘ bezeichnet wird,1 hohe Wellen, so weht gegenwärtig nur noch ein laues Lüftchen, der Sturm aber hat sich gelegt. Der unter der Hand oder auch offen als ‚neoatheistischer Gegenpapst‘ gehandelte Richard Dawkins twittert zwar noch für eine erhebliche Anzahl von Followern2 und plaudert gegen Bezahlung mit ‚Special Guests‘ über Naturwissenschaft, Vernunft, Freiheit der Wissenschaft und humanistische Werte,3 in Deutschland schwindet gegenwärtig aber sein Name aus den populären Medien so schnell wie er einst bekannt wurde. Die Diskussion der Themen, die durch die verschiedenen Vertreter der neuatheistischen Strömung – an prominentester Stelle vor allem ‚The Four Horsemen‘ (Hitchens 2007) Dawkins (2008), Daniel Dennett (2008), Sam Harris (2007) und Christopher Hitchens (2009) – in den Fokus gestellt wurden, ist auf unterschiedlichen Ebenen4 und durch verschiedene Medien umfassend geführt und schlussendlich so gut wie eingestellt worden. Was ist also zu diesem Thema noch zu sagen? Im Folgenden steht keine intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit einzelnen Positionen oder Themen der Debatte im Vordergrund, sondern vielmehr eine Betrachtung auf der MetaEbene, die versucht, die Implikationen des transatlantischen Phänomens der neoatheistischen Strömung herauszuarbeiten. Dazu wird die Auseinandersetzung anhand vier aufeinander aufbauender Fragen geführt: 1) Welchem Kontext verdanken sich die Themen und der nahezu missionarische Eifer der Vertreter des
1Die
Bezeichnung selbst wurde in verschiedener Hinsicht problematisiert, weil sich fragen lässt, ob es sich überhaupt um ein neues Phänomen handelt und sich diese Haltung treffend als Atheismus bezeichnen lässt. Da es aber die vor allem in den Medien prominent gewordene Bezeichnung ist, auch für diejenigen, die sich selbst lieber nicht so bezeichnen würden (vgl. z. B. Schmidt-Salomon 2008), soll sie im Folgenden beibehalten werden. Die Betitelung „New Atheism/New Atheists“ geht vermutlich auf einen 2006 von Gary Wolf online ursprünglich unter dem Titel „Battle of the New Atheism“ veröffentlichten Artikel zurück (Wolf 2006). 2Vgl. https://twitter.com/richarddawkins?lang=de (Zugegriffen: 06. März 2018). Dawkins twittert allerdings nicht selbst, sondern dies wird durch Vertreter seiner Stiftung übernommen (Herwig 2016). 3Vgl. http://www.centerforinquiry.net/dawkinstour (Zugegriffen: 07. März 2018). 4Vgl. zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung im deutschsprachigen Raum u. a. (Anglberger 2010; Hempelmann 2014; Hoff 2009; Klausnitzer und Koziel 2012; Kolmer und Köchy 2011; Langthaler 2010; Langthaler 2015; Link-Wieczorek und Swarat 2017; Müller 2007; Orth 2010; Pacyna 2014; Schärtl 2012; Striet 2008; Swarat 2010; Zager 2017a, b).
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‚neuen Atheismus‘? 2) Wie erklärt sich die starke Resonanz auf diese Positionen in einem anderen Kontext? 3) Welche beabsichtigten und unbeabsichtigten Konsequenzen zeitigt diese neukontextualisierte Rezeption? 4) Was lässt sich in theologischer und kirchlicher Perspektive aus diesem Phänomen lernen? Noch gibt es für einige in diesem Zusammenhang angestellte Erwägungen keine verlässlichen empirischen Daten oder wissenschaftlichen Untersuchungen. Die folgende Darstellung speist sich auch aus den persönlichen Beobachtungen der Verfasserin. Es handelt sich mehr um einen Indizienprozess als um eine hiebund stichfeste Beweisführung.
1 „Es gibt in der Tat eine Wechselwirkung zwischen fundamentalistischen Strömungen […] und einem […] aggressiven Atheismus“5: Religiöser Fundamentalismus und Extremismus als Nährboden des ‚Neuen Atheismus‘ Wie in der Entwicklung jeder geistigen Strömung, so spielen auch in der Entstehung und Entwicklung des sogenannten ‚neuen Atheismus‘ verschiedene Faktoren zusammen. Viele Themen und Argumente der ‚neuen Atheisten‘ sind darüber hinaus nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt erst neu entstanden, sondern mehr oder minder „[a]lter Wein in neuen Schläuchen“ (Schulz 2010). Nichtsdestotrotz lassen sich m. E. zwei Hauptaspekte benennen, die nicht nur den Nachdruck, ja zum Teil die Aggressivität im Auftreten der Vertreter dieser Bewegung, sondern auch die breite Resonanz auf diese erklären: Die Erfahrung von religiös-fundamentalistisch legitimierter Gewalt sowie die Konfrontation mit Formen eines fundamentalistisch6 geprägten Christentums (vgl. auch Klausnitzer und Koziel 2012, S. 221–226). 5Wolfgang
Huber in der Sendung Johannes B. Kerner, Eine Frage des Glaubens. Das neue Interesse am Atheismus, 15.11.2007, 23:15 Uhr [zitiert aus einem durch die Vfn. angefertigten Transkript der Beiträge]. 6Es ist verlockend, von einem konservativ-fundamentalistisch geprägten Christentum zu sprechen. Dies liegt einerseits nahe, weil viele Positionen, die eingenommen werden – absolute Irrtumslosigkeit der Bibel, der Wert der ‚traditionellen‘ Familie, der unbedingte Schutz des ungeborenen Lebens, antimodern anmuten. Andererseits bedienen sich die Vertreter sehr moderner Mittel und Medien zur Verfolgung ihrer Anliegen, sodass in dieser Hinsicht die Bezeichnung als konservativ irreführend wäre. „Dennoch lehnen die Fundamentalisten die in der Aufklärung wurzelnde Moderne nicht gänzlich ab. Sie schätzen viele ihrer Produkte – zügigen Transport, Telekommunikation, Elektrizität, medizi-
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„Our nation saw evil, the very worst of human nature“ (Bush 2001) Seit 2001 steht der 11. September als Symbol für die erschütternde Erfahrung religiös-fundamentalistisch motivierten (oder wenigstens begründeten)7 Terrors.8 Weltweit verfolgten Menschen durch die Medien das Unfassbare. Bilder und Erinnerungen prägten sich unauslöschlich ein. Schock, Trauer und Wut lähmten die einen und mobilisierten die anderen. Der Anschlag wurde von vielen als Angriff auf die gesamte westliche Welt mit Amerika als ihrem Zentrum empfunden. Es ist offenkundig, dass diese Erfahrungen eines zunehmenden religiösen Extremismus und Terrors im Hintergrund etlicher Werke der ‚neuen Atheisten‘ stehen, explizit greifbar beispielsweise bei Dawkins9 oder bei Hitchens, der nach eigenen Angaben sein Gespür für die Schädlichkeit von Religion zwar „lange vor dem entscheidenden 11. September 2001“ (Harris 2007, S. 43) entwickelt hat, bei dem nichtsdestotrotz eben dieses entscheidende Datum sich wie ein roter Faden durch die entsprechende Darstellung zieht. Vor diesem Hintergrund, der zu einer kritischen Reflexion auf das mögliche Gewaltpotenzial religiöser Gruppierungen und ihrer Lehren herausfordert, geht es den neoatheistischen ‚apokalyptischen Reitern‘ nun aber nicht nur um eine Kritik an religiösem Fundamentalismus und Extremismus. Es ist ihnen vielmehr an einem Nachweis gelegen, dass jede Religion per se aufgrund ihres ihr wesentlichen Irrationalitätsmoments schädlich und aufgrund der ihr inhärieren-
nische Versorgung –, aber sie sind gegenüber den Werten, die diese technologischen und wissenschaftlichen Wunder begleiten, mißtrauisch“ (Marty und Appleby 1996, S. 23 f.). Vgl. ebenso aaO., 41–45: Die Nachahmung des Feindes: Fundamentalismen als moderne Bewegungen. 7Man muss m. E. angesichts des Selbstverständnisses und der maßgeblichen Quellen sowie Lehren einer Religion prüfen, ob es tatsächlich gerechtfertigt ist, bei diesem und anderen Terrorakten von religiösen Motiven auszugehen, oder ob nicht die Motive andere sind ([macht-]politische, nationalistische, rassistische etc.), die aber als religiöse ausgegeben werden und so als Legitimation der Handlung dienen. 8Die Herausforderungen religiösen Fundamentalismus wurden allerdings schon vorher wahrgenommen. Der Erforschung widmete sich u. a. ein internationales, interdisziplinäres Forschungsprojekt an der American Academy of Arts and Sciences zwischen 1987 und 1995 (vgl. dazu Marty und Appleby 1996). 9„Stellen wir uns doch mit John Lennon mal eine Welt vor, in der es keine Religion gibt – keine Selbstmordattentäter, keinen 11. September, keine Anschläge auf die Londoner U-Bahn […]“ (Dawkins 2008, S. 12).
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den Aggressivität gefährlich sei. Schon ein Blick auf die Kapitelüberschriften der entsprechenden Werke reicht, um die Hauptkritikpunkte, die vorgebracht werden, zu erheben: Religion sei ein evolutionäres Produkt, das es – als „unglückseliges Nebenprodukt einer grundlegenden psychologischen Neigung, die unter anderen Umständen nützlich sein kann oder früher einmal nützlich war“ (Dawkins 2008, S. 242), oder wegen des Schadenspotenzials – zu überwinden gelte; sie gründe auf unmenschlichen Schriften; sie zerstöre die Vernunft; eine religiöse Erziehung im Elternhaus stelle eine Form von Kindesmisshandlung dar; Religion führe zur Diskriminierung von Minderheiten und überhaupt allen, die nicht der gleichen Religion angehören; sie könne keinesfalls Moralität begründen, sondern sei selbst im höchsten Maße unmoralisch; kurz: „Religion tötet“ (Harris 2007, S. 27). Der ‚neue Atheismus‘ geht in dieser Hinsicht zunächst gar nicht auf die Frage der (Nicht-)Existenz Gottes ein, sondern gibt sich als radikale Religionskritik. „Ain’t no monkeys in my family tree“10 Welche Religion steht bei dieser Kritik aber eigentlich vor Augen? Obwohl einerseits die Erfahrung islamistisch begründeten Terrors den Hintergrund der kritischen Darstellungen bildet, so widmet sich andererseits die inhaltliche Auseinandersetzung primär einem anderen Gegenüber: dem Christentum. Hier wird von den Verfassern selbst kaum weiter differenziert, weder konfessionell noch nach unterschiedlichen Ländern oder Prägungen11 – „Religion im Einzelnen interessiert sie nicht“12 (Strasser 2010, S. 20). Deutlich lässt sich jedoch erkennen, dass die eigentlichen Kontrahenten Vertreter fundamentalistischer Ausprägungen des Christentums, primär in den USA, sind.13 10The
Knights of the New Crusade, https://www.youtube.com/watch?v=pyp_kv4XALg. Zugegriffen: 6. März 2018. 11Darauf verweist auch ein EKD-Text zur Thematik, der von einer ‚Überhöhung‘ der Vertreter von kreationistischen Auffassungen bzw. der Intelligent Design Theorie spricht, die diese „zu den maßgeblichen Repräsentanten des Christentums“ erkläre (Kirchenamt der EKD 2008, 16). 12Vgl. zum „Religions- und Theologieverständnis des neuen Atheismus“ auch den gleichnamigen Beitrag von Werner Zager (in: ders. 2017, S. 9–33), der neben Dawkins vor allem auch die Position von Michael-Schmidt Salomon behandelt, der sich selbst allerdings nicht dem ‚neuen Atheismus‘, sondern einem ‚evolutionären Humanismus‘ zurechnet. 13Dawkins, der selbst in England lebt, führt diesen Kontext – und die problematische gesellschaftliche Stellung von Atheisten im US-amerikanischen Raum – bereits im Vorwort explizit ein (Dawkins 2008, S. 15–17). Später räumt er ein, dass er Islam, Christentum und Judentum für „ununterscheidbar“ (aaO., 54) erachtet, er selbst meist konkret das Christentum, vor allem aber die religiöse Situation in den USA (vgl. aaO., 56–67) in seinen Aus-
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Die religiöse Situation in den USA ist deutlich von derjenigen in Europa bzw. in Deutschland unterschieden.14 Während in Deutschland die Mitgliederzahlen der Großkirchen stetig abnehmen, der Einfluss der Religionen auf die öffentliche Meinungsbildung kontinuierlich schwindet und es in einigen Kreisen schon eher als exotisch gilt, sich offen zum christlichen Glauben zu bekennen,15 ist in den letzten Jahren die Zahl derer, die sich in den USA zum Christentum bekennen, zwar auch gesunken, aber weiterhin recht hoch: 2014 bezeichneten sich über 70 % der Bevölkerung als christlich – wobei die Mainline-Churches mit Mitgliederschwund zu kämpfen haben, die Zahl derer, die sich als evangelikal verstehen, aber steigt.16 Trotz der prinzipiellen Trennung von Kirche und Staat lässt sich in den USA ein deutlicher Einfluss religiöser Kräfte auf die Innen- und Außenpolitik feststellen bzw. ein Zusammenhang zwischen einer bestimmten politischen Einstellung und einer ihr entsprechenden Haltung in religiösen Fragen sowie vice versa. Ein Beispiel, an dem sich die Politisierung religiös-weltanschaulicher Themen zeigt, findet sich in der Debatte um die Anerkennung der Evolutionstheorie in den USA (Hochgeschwender 2007, S. 12 f., 27–29, 211–214): Eine japanisch-amerikanische Forschungsgruppe, die sich der Frage widmete, was die bestimmenden Faktoren dafür sind, dass in den USA die Skepsis gegenüber der Evolutionstheorie signifikant höher ist als im Rest der westlichen Welt, „found that individuals with anti-abortion, pro-life views associated with the conservative wing of the Republican Party were significantly more likely to reject evolution than people with pro-choice views.“ (Owen 2006). Die Wurzeln dieser Skepsis liegen bereits im ausgehenden 19. bzw. beginnenden 20. Jahrhundert. In Reaktion „auf den Wissenschaftsglauben, den theologischen Liberalismus und die historische Bibelkritik“ entstand aus dem konservativ geprägten US-amerikanischen Christentum heraus eine „in
führungen vor Augen hat. Auch bei Dennett wird bereits im Vorwort der Schwerpunkt auf Amerika und das Christentum thematisiert (Dennett 2008, S. 12). Der Zusammenhang zwischen einem fundamentalistisch begründeten Kreationismus und ‚neuem Atheismus‘ wird auch von Tom Kaden behauptet und untersucht (Kaden 2015, S. 56–61). 14Vgl. – auch zum Folgenden – Hemminger (2009, S. 26–32, 66–75). 15Vgl. den in dieser Hinsicht aufschlussreichen Artikel von Friedhard Teuffel, Religion in Berlin. Ich bin Christ – und das ist auch gut so! (Teuffel 2016) samt den Kommentaren, die zum Teil die Beobachtungen des Verfassers durchaus unterstreichen. 16Vgl. Pew Research Centre (2015), sowie Pally (2010, S. 70–74).
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Millionenauflage verbreitete[] Schriftenreihe: ‚The Fundamentals – a Testimony to the Truth‘“ (Hemminger 2009, S. 66)17, die zwischen 1910 und 1915 erschien. Schon ein Überblick über die Aufsatztitel zeigt allerdings, dass der Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie bzw. mit der Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Naturwissenschaft anfangs bei den ‚Fundamentalisten‘ nicht das Hauptinteresse galt.18 Zudem gab es bei den Essays, die die entsprechenden Fragen verhandelten, noch keine festgelegte, kreationistische Position. Wenn sich heutige ‚Fundamentalists‘ auf diese Schriftenreihe berufen, so lässt sich das daher häufig eher als symbolische Referenz auffassen.19 In der weiteren Entwicklung setzte sich in fundamentalistisch-evangelikalen Kreisen20 die kreationistische Auffassung – und hier besonders ihre schärfste Ausprägung als Kurzzeitkreationismus –21 und die damit einhergehende Ablehnung der Evolutionstheorie zunehmend durch. Zwar kam es im sogenannten ‚Scopes-‘ oder auch ‚Affenprozess‘ zu einer Niederlage des Kreationismus bezüglich seiner Anwendung als Alternativtheorie zur Evolutionstheorie im öffentlichen Schulunterricht,22 jedoch „verschwand er keineswegs, sondern gehört seither mit seinen inhaltlichen Wandlungen und seinen unterschiedlichen politischen Zwecken zum Bestand konservativen theologischen und politischen Denkens in den USA“ (Hemminger 2009, S. 72).
17Vgl.
zum Folgenden auch Hemminger (2009, S. 66–75), sowie Hochgeschwender (2007, S. 117–165). 18Vgl. die Übersicht unter https://en.wikipedia.org/wiki/The_Fundamentals (zugegriffen: 6. März 2018). 19Vgl. Geldbach (2001, S. 48–64, bes. 63 f.). 20Mit dieser Begrifflichkeit soll nicht suggeriert werden, dass es den Evangelikalismus gebe bzw. dass ‚evangelikal‘ gleichbedeutend mit ‚fundamentalistisch‘ wäre, sondern dass Kreationismus in den USA sich primär aus fundamentalistisch eingestellten Gruppierungen innerhalb der evangelikalen Frömmigkeitsrichtung entwickelt. Zur Auseinandersetzung mit der dem Begriff ‚evangelikal‘ inhärierenden Pluralität vgl. Hemminger (2016, S. 15–27). 21Zu den unterschiedlichen Typen des Kreationismus – Langzeit-, Vorzeit- und Kurzzeit-Kreationismus – vgl. Hemminger (2001, S. 432 f.; 2009, S. 70–74), sowie Kaden (2015, S. 9–23). 22Vgl. Geldbach (2001, S. 79–82), sowie Hochgeschwender (2007, S. 156–164). Hochgeschwender macht allerdings darauf aufmerksam, dass es sich – entgegen des gängigen Bildes – nicht um eine juristische Niederlage handele, aber dass sich das Bild des Fundamentalismus in der Öffentlichkeit durch den Prozess massiv gewandelt habe (vgl. aaO., 163).
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Das US-amerikanische Christentum ist in nicht unerheblichen Teilen durch eine Verquickung religiöser, weltanschaulicher und politischer Motive23 geprägt.24 Die zum Teil merkwürdigen und unstimmigen Allianzen, die dadurch zustande kommen, zeigten ihren Höhepunkt wohl in der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten: Wie Wahl-Nachumfragen von US-Sendern ergaben, wurde der nicht gerade für seine Bibeltreue und tiefe Religiosität bekannte Trump von 81 % der weißen Evangelikalen25 gewählt – ein Resultat, das selbst George W. Bush nicht erzielen konnte.26 In so einem religiös-politischen Klima entstehen die konfliktreichen Konfrontationen mit den Wissenschaften dort, wo die biblischen Schriften nicht nur als normative Quelle des eigenen Glaubens betrachtet werden, sondern – entgegen ihrer eigenen Intention –27 als verbalinspiriertes, irrtumsloses Fundament des gesamten möglichen Wirklichkeitsverständnisses.28 Eben diese Auffassung bildet 23Vgl.
zur Affinität zwischen Evangelikalismus und politischem Konservativismus in den USA Pally (2010, S. 58–74). 24Eine Loslösung von dem Ansinnen, eigene religiös-weltanschauliche Ansichten mithilfe politischer Mittel als allgemeine Normen für den Staat festzuschreiben, konstatiert Marcia Pally für die ‚New Evangelicals‘ in den USA, die nach ihren Angaben „etwa 25 % der amerikanischen Bevölkerung“ (Pally 2010, S. 20) ausmachen. 25Es zeigt sich hier erneut, dass ‚Evangelikalismus‘ keine einheitliche Bewegung kennzeichnet und die oben angeführte Verbindung zur konservativen Politik nicht für alle Evangelikalen gleichermaßen gilt: Die Stimmen für Trump kamen weder aus dem ‚linken Flügel‘ des Evangelikalismus noch von lateinamerikanischen oder schwarzen Evangelikalen. 26Vgl. ABC News Analysis Desc & Blake, P. (2016) sowie auch Ege (2017). Interessant ist es, dass sich der 115. Kongress der USA zu 91 % aus Christen zusammensetzt und damit keineswegs in Entsprechung zur religiösen Gesellschaftskonstellation steht; es gibt nur eine einzige religiös ungebundene Abgeordnete, vgl. Sandstrom (2017). 27Vgl. dazu bspw. die Untersuchung der biblischen Schöpfungsberichte der Genesis von Jan Christian Gertz (Gertz 2008). 28Vgl. dazu die Erste Chicago-Erklärung „Die Irrtumslosigkeit der Bibel“ von 1978 (Bibelbund-Verlag 2003/2008), Zusammenfassende Erklärung, Art. 4 sowie Artikel des Bekennen und Verwerfens, Art. XII: „Da die Schrift vollständig und wörtlich von Gott gegeben wurde, ist sie in allem, was sie lehrt, ohne Irrtum oder Fehler. Dies gilt nicht weniger für das, was sie über Gottes Handeln in der Schöpfung, über die Geschehnisse der Weltgeschichte und über ihre eigene, von Gott gewirkte literarische Herkunft aussagt, als für ihr Zeugnis von Gottes rettender Gnade im Leben einzelner.“ „Wir verwerfen die Auffassung, dass sich die biblische Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit auf geistliche, religiöse oder die Erlösung betreffende Themen beschränke und dass Aussagen im Bereich der Geschichte und Naturwissenschaft davon ausgenommen seien. Wir verwerfen ferner die Ansicht, dass
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in den gegenwärtigen USA nicht nur die Sondermeinung einer religiösen Minderheit: „Um das Jahr 2000 herum bekannten 50 % der Amerikaner, die Bibel sei nicht nur Heilige Schrift, […] sondern sei von Gott wortwörtlich inspiriert und müsse dementsprechend wörtlich ausgelegt werden“ (Hochgeschwender 2007, S. 14). Und auch wenn die Bestrebungen, die kreationistische Auffassung über die Weltentstehung in den Biologieunterricht an öffentlichen Schulen zu implementieren, bis auf wenige Ausnahmen scheiterten, wirken diese doch durch christliche Ausbildungsstätten und vor allem durch die Medien. So wurde 1970 das Institute for Creation Research gegründet, das sich einem vermeintlich wissenschaftlichen Kreationismus verschrieben hat29 und „vom Staat Kalifornien als Ausbildungsstätte anerkannt [wird] und […] über großen Einfluss auf die Massenmedien“ (Hemminger 2009, S. 27) verfügt. Die Vereinigung „Answers in Genesis“30 hat in ihrem 2007 eröffneten Creation-Museum in Kentucky nach eigenen Angaben schon über 2,5 Mio. Gäste eine – natürlich nur 6000 Jahre währende – Zeitreise zum Beginn der Welt ermöglicht.31 Dieser Einfluss kreationistischer Institutionen schlägt sich auch in der Meinung einer breiteren Öffentlichkeit nieder: „Laut einer Umfrage der Fernsehgesellschaft CBS aus dem November 2004 glaubten 55 % aller Amerikaner, Gott habe die Menschen unmittelbar geschaffen […]. Ferner plädierten 66 % der amerikanischen Bevölkerung dafür, verschiedene Varianten des Kreationismus im Biologieunterricht zusätzlich zum Evolutionismus zu lehren. 33 % wollten sogar die Evolutionslehre vollkommen aus dem Unterricht verbannen.“ (Hochgeschwender 2007, S. 204).32
wissenschaftliche Hypothesen über die Erdgeschichte mit Recht dazu benutzt werden dürfen, die Lehre der Schrift über Schöpfung und Sintflut umzustoßen.“ 29Vgl. Institute for Creation Research (2018). 30Vgl. https://answersingenesis.org/answers/ (Zugegriffen: 6. März 2018). 31Vgl. https://creationmuseum.org (Zugegriffen: 6. März 2018). 32Vgl. auch Alfano (2005).
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2 „Der Zulauf, den Atheisten bekommen, der ist […] darauf zurückzuführen, dass wir auch als Christen […] Gott einfach falsch darstellen.“33 – ‚Neuer Atheismus‘ in Deutschland Erklären die gleichen Faktoren, die für den Aufschwung neuatheistischer Positionen und Missionen mitverantwortlich sind, auch die enorme Resonanz auf den – überwiegend aus dem angelsächsischen Sprachraum stammenden – ‚neuen Atheismus‘ und seine Rezeption in Deutschland? „Das globale Trauma“34 Einerseits wurde bereits oben festgehalten, dass die Zunahme des Gefühls der akuten Bedrohung durch religiös-fundamentalistisch begründeten Terror seit dem 11. September 2001 nicht ein auf die USA begrenztes Phänomen ist. Der lokale Terroranschlag in New York wurde zeitgleich zum globalen Mediengeschehen: „Bezogen auf das Medienereignis 11. September bildet die Live-Übertragung vom Einflug des zweiten entführten Flugzeuges in den Süd-Turm des World Trade Center die mediale Urszene des kulturellen Traumas, die ein globales Publikum unfreiwillig zu Zeugen des terroristischen Massenmords erhob“ (Reinhäckel 2012, S. 62). Und so sprach auch der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder im Namen vieler Bürger der Bundesrepublik Deutschland, als er zu den Anschlägen erklärte: „Der gestrige 11. September 2001 wird als ein schwarzer Tag für uns alle in die Geschichte eingehen. Noch heute sind wir fassungslos angesichts eines nie da gewesenen Terroranschlags auf das, was unsere Welt im Innersten zusammenhält.“ (Schröder 2001a) Weniger Rückhalt in der Bevölkerung hatte er jedoch eine Woche später für seine Erklärung, dass diese „Anschläge von New York und Washington […] nichts, aber auch gar nichts mit Religion zu tun“ (Schröder 2001b) hätten. In einem Artikel fasste Jan Ross die Stimmung gegenüber dieser Aussage zusammen: „Wie verzerrt und missbraucht auch immer, es sind religiöse Überzeugungen, die den Terror motivieren oder zumindest rechtfertigen müssen“ (Ross 2001). Und er hielt dort deutlich fest, dass sich der Fundamentalismusvorwurf nicht auf
33Heiner
Geißler in der Sendung Johannes B. Kerner, Eine Frage des Glaubens. Das neue Interesse am Atheismus, 15.11.2007, 23:15 Uhr [zitiert aus einem durch die Vfn. angefertigten Transkript der Beiträge]. 34http://www.spiegel.de/thema/terroranschlaege_vom_11_september_2001 (Zugegriffen: 6. März 2018).
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bestimmte Religionen beschränken ließe und der „Fundamentalismuskritik“ auch die Tendenz innewohne, „sich zu einem Generalverdacht gegen Religion schlechthin auszuwachsen“ (ebd.). Der Nährboden einer prinzipiellen Religionskritik, wie sie durch Dawkins und Co erhoben wurde, war auch in Deutschland bereitet. „Einen solchen Unsinn habe ich in meiner Schule nicht gehört“35 Andererseits fällt aber auf, dass das konkrete Gegenüber der ‚neuen Atheisten‘, das eigentliche Feindbild, wenn es um inhaltliche Fragen geht, in Deutschland zur Konjunkturzeit des Neoatheismus nicht in einer der Situation in den USA vergleichbaren Weise gegeben war (vgl. auch Hemminger 2009, bes. 33–38; 76–95): Zwar gibt es in Deutschland auf Erweckungsbewegungen zurückgehende und auch direkt aus den USA beeinflusste evangelikale und pentekostale Frömmigkeitsgemeinschaften – teils innerhalb, teils außerhalb der traditionellen Großkirchen.36 Doch haben diese unterschiedlichen christlichen Gemeinschaften einerseits keineswegs durchgängig eine fundamentalistische, antiwissenschaftliche Grundhaltung, noch andererseits den öffentlichen Einfluss, den man für den US-amerikanischen kreationistischen Fundamentalismus beobachten kann. Seit Mitte/Ende der 1970er-Jahre lässt sich zwar ein „Aufstieg des Kreationismus“ (Hemminger 2009, S. 81) in evangelikalen Kreisen, befördert durch die der Evangelischen Allianz nahestehende Nachrichtenagentur Idea37 sowie durch die Publikationen der 1978 gegründeten Studiengemeinschaft „Wort und Wissen“38 35Geißler
in der Sendung Johannes B. Kerner, Eine Frage des Glaubens. Das neue Interesse am Atheismus, 15.11.2007, 23:15 Uhr [zitiert aus einem durch die Vfn. angefertigten Transkript der Beiträge]. 36Der allgemeinen Annahme, dass diese einen großen Mitgliederzuwachs verzeichnen könnten, während die Großkirchen mit Mitgliederschwund zu kämpfen hätten, widerspricht Hemminger: „Statistisch gesehen unterliegen alle christlichen Strömungen dem Sog zunehmender Religions- und Kirchenferne. Der statistische Schwund wird lediglich durch Transfer- und Migrationsprozesse verschleiert, durch die einige Segmente zulegen (Aussiedler, Pfingstbewegung) und andere verlieren. An der Summe der deutschen Evangelikalen scheint sich kurzfristig wenig zu ändern, langfristig nehmen sie ab […] Es handelt sich um rund 1 bis 1,5 Millionen Menschen in Deutschland“ (Hemminger 2016, S. 25 f.). 37Vgl. http://www.idea.de/ueber-uns.html (Zugegriffen: 6. März 2018). 38Vgl. http://www.wort-und-wissen.de/ueber.html (Zugegriffen: 6. März 2018). Die Studiengemeinschaft distanziert sich selbst allerdings von einem Kreationismus, der mit einem Absolutheitsanspruch verbunden ist, und versteht sich selbst als der „biblischen Schöpfungslehre“ verpflichtet (http://www.wort-und-wissen.de/ueber.html [Zugegriffen: 06. März 2018]). Das weiter genannte Unterscheidungskriterium, dass man bei „Fragen des Verhältnisses von Aussagen der Heiligen Schrift zu wissenschaftlichen Erkenntnissen […] diskussions- und lernbereit“ sei, relativiert sich selbst dadurch, wenn es weiter beispiels-
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feststellen. Jedoch hat beispielsweise die Diskussion um ‚Schöpfungslehre im Biologieunterricht?‘, die 2006/2007 u. a. im Zusammenhang entsprechender Aussagen der damaligen hessischen Kultusministerin Karin Wolff entbrannt ist,39 zu einer klaren Absage an Forderungen, Kreationismus oder Intelligent Design als der Evolutionstheorie gleichwertige Alternativen im Biologieunterricht an öffentlichen Schulen zu unterrichten, geführt40 – bis hin zur Warnung vor der „Gefahr des Kreationismus in der Bildung“ (Parlamentarische Versammlung des Europarats 2007) durch eine Resolution der parlamentarischen Versammlung des Europarats 2007. Zwar ist der Einsatz entsprechender Lehrbücher in Deutschland an Bekenntnisschulen möglich – und laut Auskunft Hemmingers auch üblich (Hemminger 2009, S. 87) –,41 jedoch ist es auch so, dass nicht einmal 0,5 % der Schüler/innen in Deutschland eine Bekenntnisschule besuchen.42 Aufs Ganze gesehen bleibt der Anteil von Kreationisten an der Bevölkerung und innerhalb der verschiedenen christlichen Gemeinschaften überschaubar und ohne größeren Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung. Selbst bei der Auswertung einer 2005 durchgeführten Forsa-Umfrage, die durch die von der humanistischen und religionskritischen Giordano-Bruno-Stiftung gegründete
weise heißt, dass die „Berechtigung für theologische Evolutionskritik […] nicht davon“ abhänge, „wie gut Evolutionslehren naturwissenschaftlich begründet sind“ (ebd.). Vgl. zur Studiengemeinschaft auch das entsprechende Kapitel bei Hemminger (2009, S. 83–87). 39Wolff hat allerdings den Vorwurf, sie wolle, dass an Schulen kreationistische Auffassungen gelehrt würden, zurückgewiesen (vgl. Euler 2007). 40Man bemerke allerdings, dass noch 2001 Geldbach allein den „Versuch, den Kreationismus als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis neben der Evolutionstheorie in den Lehrplänen staatlicher Schulen gleichrangig zu verankern,“ (Geldbach 2001, S. 130) für undenkbar hielt. 41Genaue Zahlen waren diesbezüglich nicht zu erheben. Es fällt jedoch auf, dass der Verband Evangelischer Bekenntnisschulen in ihrem Downloadbereich u. a. eine Stellungnahme Reinhard Junkers zu „Evolution und Schöpfungslehre an christlichen Bekenntnisschulen“ (Junker 2018) zur Verfügung stellt, in der zwar einerseits festgehalten wird, dass „eine Schöpfungslehre keine durchgängige naturwissenschaftliche Alternative zur Evolutionstheorie“ bilden kann, andererseits für den „Unterricht über Schöpfung“ festgehalten wird, dass die „[ü]bernatürliche Schöpfung“ den „Ausgangspunkt für die Deutung naturwissenschaftlicher Daten“ (aaO., 2) bilden soll. Theologisch sollen darüber hinaus den Schüler/ innen die „Widersprüche von Versuchen einer Harmonisierung von Schöpfung, biblischer Heilsgeschichte und Evolution“ (aaO., 3) vermittelt werden. 4233 000 Schüler/innen von ca 11 Mio. insgesamt besuchen eine Bekenntnisschule, (vgl. Statistisches Bundesamt 2017 sowie Verband Evangelischer Bekenntnisschulen e. V. 2017).
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„Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland“ in Auftrag gegeben wurde, kommt man zu dem Schluss, dass die „einzelnen Merkmalsverteilungen […] sehr deutlich von den Umfragewerten in den U.S.A. zugunsten der Evolution ab[weichen]“ (Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland 2007). Auffallend ist allerdings, dass sich die Kirchen und religiösen Gemeinschaften in Deutschland erst verhältnismäßig spät explizit zum Streitthema ‚Kreationismus‘ geäußert haben – vermutlich auch, weil die aufgeworfene Problemstellung längere Zeit nicht im Vordergrund theologischer und kirchlicher Debatten stand.43 Da der Kreationismus im engeren Sinne eine größere Verbreitung in protestantischen Kirchen findet,44 sind hier die Reaktionen von besonderem Interesse. Während es bei der Evangelischen Allianz und dem Verband Evangelischer Freikirchen in Deutschland zu einer Bejahung der inneren Pluralität verschiedener Haltungen zum Kreationismus kam und der Verband Evangelischer Freikirchen sich darüber hinaus gegen eine anti-wissenschaftliche Grundhaltung einerseits, gegen eine Reduktion des Weltbildes auf das naturwissenschaftlich Erkennbare andererseits aussprach,45 wurden in der EKD-Schrift „Weltentstehung, Evolutionstheorie und Schöpfungsglaube in der Schule“ deutlich ablehnendere Töne gegenüber dem Kreationismus angeschlagen – und zwar nicht nur in Bezug auf den schulischen Unterricht, sondern allgemein: „Der Kreationismus ist […] eine Verkehrung des Glaubens an den Schöpfer in eine Form der Welterklärung, die letztlich dazu führt, dass das Bündnis von Glaube und Vernunft aufgekündigt wird“ (Kirchenamt der EKD 2008, S. 7). Und auch für die Theorie des ‚Intelligent Design‘ gelte, dass sie „als pseudowissenschaftlich eingeschätzt werden“ müsse, weil sie „vor den Prüfkriterien strenger Wissenschaft […] nicht bestehen“ (aaO., 15) könne.
43Vgl.
auch Hemminger (2009, S. 38–43). Freimütig räumt der entsprechende EKD-Text ein, dass man das Thema in Deutschland „[s]eit fast einhundert Jahren“ für „geklärt und erledigt“ hielt (Kirchenamt der EKD 2008, S. 7). 44In der römisch-katholischen Kirche zeigt sich eher eine Tendenz zu Konzepten von ‚Intelligent Design‘ bzw. zu einem theistischen Evolutionismus (vgl. Graf 2013, S. 126–128). In dieser Hinsicht sorgte beispielsweise der Gastkommentar Christoph Kardinal Schönborns in der New York Times 2005 für eine öffentliche Debatte (vgl. Schönborn 2005). 45Vgl. Mitgliederversammlung der VEF 2007.
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„Wären alle Religionsgemeinschaften weltweit auf dem Stand der EKD, bräuchte man wohl keinen neuen Atheismus“ (Schmidt-Salomon 2008, S. 2)46 Warum hielt sich dann aber Dawkins „Gotteswahn“ über mehrere Wochen in den Bestseller-Listen in Deutschland? Warum hatten nicht nur Außenstehende, sondern zum Teil auch Vertreter der etablierten Kirchen den Eindruck, dass Theologie und Kirche durch den ‚neuen Atheismus‘ in echte Bedrängnis kommen, wenn doch die Argumentationen zum Teil gar nicht neu und zum Teil nicht atheistisch waren und vor allem den Mainstream des kirchlich-theologischen Standpunkts gar nicht betrafen? Mehrere Faktoren spielen hier m. E. zusammen: Zunächst einmal wurde der ‚neue Atheismus‘ erst populär, bevor dann Kirchen und Theologie intern und öffentlich reagiert haben.47 Die Werke der ‚Neoatheisten‘ sind leicht zugänglich, verständlich geschrieben und haben einen gewissen Unterhaltungswert. Sie sind Bestseller, nicht Fachliteratur, ihre Rezipienten sind unterschiedlich sozialisiert, unterschiedlich gebildet, unterschiedlich interessiert. Es ist nicht vorauszusetzen, dass sie durchgängig einen Einblick in den aktuellen Stand kirchlichen Lebens, geschweige denn akademischer Theologie haben. Aufgrund des Rückgangs von Kirchenmitgliedszahlen einerseits und aktiver Teilnahme am gemeindlichen Leben durch die Kirchenmitglieder andererseits, lässt sich vermuten, dass einige ihre Kenntnisse über das Christentum bzw. die christlichen Glaubensinhalte nicht aus eigener Erfahrung schöpfen, sondern durch mediale Vermittlung gewinnen (vgl. auch Hemminger 2014, S. 30 f.). In Filmen, Serien, Büchern, Foren etc. – oftmals ja auch US-amerikanischer Herkunft – begegnet aber häufig ein stereotypes Bild der christlichen Kirche, ihrer Vertreter, ihrer Gläubigen und ihrer Lehre, das keineswegs dem faktischen kirchlichen Leben entspricht, aber dennoch seine Wahrnehmung prägt. Auch die Werke der ‚neuen Atheisten‘ selbst haben massiv das Bild von Religion, insbesondere der christlichen, geprägt, bevor Vertreter von Kirche und Theologie überhaupt öffentlich Stellung bezogen haben. Diese hatten es dann schwer, ihre eigentliche Position glaubhaft zu machen bzw. wurden oft als Ausnahme in einer Herde fundamentalistisch-biblizistisch argumentierender Schafe wahrgenommen.
46Diese
Aussage beinhaltet bei Schmidt-Salomon allerdings weniger eine Wertschätzung der EKD als ihre Herabstufung zur halbherzigen „Religion light“ (Schmidt-Salomon 2008, S. 2). 47In der oben genannten EKD-Schrift werden die „Angriffe eines neuen Atheismus“ durch Wolfgang Huber im Vorwort dezidiert als Hintergrund der Debatte benannt und an späterer Stelle als „Irrwege“ thematisiert (Kirchenamt der EKD 2008, S. 5, 16 f.).
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Hinzu kommt, dass es scheinbar nicht ausreichend gelungen ist, den Stand akademischer Theologie in die kirchliche Öffentlichkeit (von der nicht-kirchlichen ganz zu schweigen) durch Verkündigung, Lehre und auch Publicity zu vermitteln: Während auf akademisch-theologischer Seite die „alten Frontstellungen“ von Christentum und Naturwissenschaft einem überwiegenden Teil als „längst antiquiert“ (Beutel 2005, S. 116) gelten, werden diese teilweise im schulischen und kirchlichen Unterricht eher aufgebaut, wenn versäumt wird, den Unterschied zwischen der Wertschätzung der Schrift einerseits und ihrer wortwörtlichen Identifizierung mit dem Wort Gottes andererseits, zwischen Schöpfungsglaube und naturwissenschaftlicher Welterklärung, zwischen Historie und Narration zu behandeln. Und auch von der anderen Seite her, die sich selbst als die eigentlich wissenschaftliche und vernünftige sieht, wird gerne die „These der Unvereinbarkeit“ von „Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie“ (Junker 2011, S. 89)48 stark gemacht und so ein Konfliktfeld inszeniert – ungeachtet dessen, dass es eine längere theologische und kirchliche Tradition gibt,49 in der es offensichtlich vielen Menschen nicht unmöglich war, ihren Glauben und ihr theoretisches Wissen in ein, wenn auch nicht spannungsfreies, so doch vermittelbares Verhältnis zu bringen. Die These Dawkins, dass sich in der Theologie „seit achtzehn Jahrhunderten nichts verändert hat“ (Dawkins 2008, S. 50), stimmt schlicht nicht – dennoch scheint dieses Bild der Theologie dem einer breiteren Öffentlichkeit zu entsprechen. Diese Aspekte zusammengenommen können als eine Erklärung dafür fungieren, warum die Schriften und Anliegen des ‚neuen Atheismus‘ auch in einem Kontext, in dem die faktische kirchlich-religiöse Landschaft nicht dem ursprünglich anvisierten Kontrahenten entspricht, auf breite Resonanz gestoßen sind. Der Frage, welche Konsequenzen sich aus dieser zumindest teilweisen Neukon-
48Auch
Richard Dawkins hält die These unterschiedlicher ‚Wissensbereiche‘ oder Zugänge zur Wirklichkeit für eine Verschleierung des faktischen Konflikts wischen Glaube und Naturwissenschaft (Dawkins 2008, S. 98): „Eines haben die Kreationisten mit mir gemeinsam. Wie ich, aber anders als die ‚Chamberlain-Schule‘, geben sie sich mit NOMA [sc. non-overlapping magisteria] und ihren getrennten Wissensbereichen nicht zufrieden.“ Vgl. dazu auch aaO., 78–88; 95–100. 49Vgl. dazu Graf (2013, S. 114): „Vor allem protestantische Theologen in Deutschland hatten die Schöpfungsmythen der Genesis mit ihren Vorstellungen von sechs Schöpfungstagen, der Erschaffung von Adam und Eva, dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies schon seit dem 17. Jahrhundert kritisch gelesen und Konzepte göttlicher Schöpfung entwickelt, die mit dem jeweils erreichten Stand naturwissenschaftlicher Erkenntnis kompatibel waren.“
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textualisierung der Bewegung des ‚neuen Atheismus‘ ergeben, soll in einem weiteren Abschnitt nachgegangen werden.
3 „Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los“ – Konsequenzen der Neukontextualisierung Es war Dawkins Hoffnung, dass Leser des Buches „Der Gotteswahn“, „die es als religiöse Menschen zur Hand genommen haben, es als Atheisten wieder zuschlagen“ (Dawkins 2008, S. 18). Die Entwicklung der Zahlen zur Religionszugehörigkeit in Deutschland deutet nicht darauf hin, dass sich diese Hoffnung erfüllt hat.50 Zwar kämpfen seit Jahren gerade die römisch-katholische Kirche sowie die evangelischen Kirchen gegen den Mitgliederschwund aufgrund des demografischen Wandels einerseits, aufgrund von Kirchenaustritten andererseits. Jedoch setzt sich im Mitgliederschwund ein allgemeiner Trend fort, für den sich keine signifikante Auswirkung der neuatheistischen Bewegung erkennen lässt. Nimmt man aber in den Blick, dass es Dawkins und anderen auch darum ging, ins Bewusstsein zu rufen, dass Konfessionslosigkeit kein Randphänomen ist und Atheismus keine abseitige, moralisch verwerfliche Geisteshaltung darstellt (vgl. Dawkins 2008, S. 11–20), so wurde dieses Anliegen durch die zumindest zeitweise vorhandene breite mediale Aufmerksamkeit sicher erfüllt. Kaum eine Zeitung, Zeitschrift oder Talkshow widmete sich nicht den Hauptvertretern, Schriften oder Aktionen51 dieser Bewegung. Weniger intendiert dürfte gewesen sein, dass es im Gefolge auch zu einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber der Position und den Vertretern der etablierten Kirchen kam. Gar nicht im Interesse gelegen hat wohl, dass vor allem eine spezifische, religiös begründete Position in Deutschland plötzlich in den Fokus rückte, die vormals als solche kaum bekannt war: der Kreationismus. Noch 2001 konnte Hansjörg Hemminger den Kreationismus als „Teil des protestantischen Fundamentalismus in den USA“ (Hemminger 2001, S. 431) charakterisieren, der zwar auf die evangelikale Bewegung in Deutschland Einfluss ausübe, hierzulande insgesamt aber, auch aufgrund kaum vorhandener
50Vgl.
zu den Zahlen vgl. den Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst e. V. 2018, für die Mitgliederzahlen der EKD vgl. Evangelische Kirche in Deutschland (2017). 51So z. B. die atheistische Buskampagne: http://www.buskampagne.de.
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„politische[r] Wirkung“ (Hemminger 2001, S. 435),52 keine öffentliche Aufmerksamkeit gewinne. 2004 kamen dann die ersten Befürchtungen auf: „Kreationismus – nun auch in Europa?“ (Utsch 2004, S. 231 f.) Im Fahrwasser des ‚neuen Atheismus‘ fanden dann in Deutschland auch die Vertreter des Kreationismus eine öffentliche Plattform53 – und zwar m. E. schlicht deshalb, weil sie sich auf einer grundlegenden Ebene mit den Vertretern des ‚neuen Atheismus‘ einig sind: Beide Seiten sind der Auffassung, es handele sich bei den biblischen Schöpfungsberichten um eine naturwissenschaftliche Theorie zur Kosmogenese.54 Etwa zeitgleich zu den ersten Artikeln über ‚Darwins Propheten‘ erreichen nun auch Mitglieder der „Studiengemeinschaft Wort und Wissen“55 die mediale Öffentlichkeit (vgl. z. B. Schmitt 2006) und entbrennt eine Diskussion über das von
52Als
Beispiel für die fehlende politische Prägekraft können beispielsweise die Wahlergebnisse der Partei Bibeltreuer Christen fungieren, die bei der Bundestagswahl 2013 nicht einmal 0,1 % der Stimmen erreichten – und an diesem Ergebnis hat sich auch nach der Fusionierung mit der Partei für Arbeit, Umwelt und Familie zum Bündnis C nichts geändert: Bei der Bundestagswahl 2017 konnte die Partei lediglich mit vier Direktkanditaten antreten, deren Ergebnisse unter 0,5 % der Stimmen lagen (https://www.buendnis-c. de/index.php/aktuell/274-bundestagswahl-2017-ergebnisse-unserer-direktkandidaten [Zugegriffen: 7. März 2018]). Bündnis C formuliert in seinen „Grundsätzen und Eckpunkten“ hinsichtlich der Bildungspolitik eine Position, die darauf schließen lässt, dass hier eine kreationistische Auffassung der Weltentstehung im Hintergrund stehen mag (Bündnis C 2016, S. 9). 53Die Parallelentwicklung lässt sich auch an einer ähnlichen Entwicklung entsprechender Publikationen beobachten: Verzeichnet die Universitätsbibliothek Heidelberg für das Erscheinungsjahr 2000 fünf Titel zum Suchbegriff „Atheismus“ und keinen zum Suchbegriff „Kreationismus“, sind es 2007 zu „Atheismus“ 24 und zu „Kreationismus“ 16 Treffer, 2012 dann 35 bzw. 10 Treffer und 2015 schließlich nur noch 16 zu „Atheismus“ und drei zu „Kreationismus“ (http://katalog.ub.uni-heidelberg.de/cgi-bin/search.cgi). 54Von diesem Kreationismus im engeren Sinne zu unterscheiden ist die Theorie des ‚Intelligent Design‘, die sich selbst als ein rein wissenschaftliches Konzept ohne religiöses Fundament versteht, die jedoch ebenso in die Kritik durch die Vertreter des ‚neuen Atheismus‘ geraten ist. Vgl. zum Selbstverständnis exemplarisch Dembski (2008, S. 104 f.): „Intelligent design is a winner in the public debate over biological origins not only because it has the backing of powerful ideas, arguments, and evidence but also because it does not turn this debate into a Bible-science controversy. Intelligent design, unlike creationism, is a science in its own right and can stand on its own feet.“ De facto bewegt sich aber das Konzept des ‚Intelligent Design‘ dann nicht mehr im Rahmen der Naturwissenschaft, wenn aus – vermeintlich oder faktischen – Lücken in der naturwissenschaftlichen Erklärung auf einen transzendenten Designer geschlossen und damit der Rahmen des naturwissenschaftlich Plausiblen verlassen wird (vgl. auch Hemminger 2009, S. 140–162). 55http://www.wort-und-wissen.de.
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ihrem Geschäftsführer Reinhard Junker und dem Biologen Siegfried Scherer herausgegebene Schulbuch „Evolution. Ein kritisches Lehrbuch“ (Junker und Scherer 2013)56. Nun gab es – wie bereits erwähnt – Vertreter des Kreationismus in Deutschland auch schon vor dem Aufkommen des ‚neuen Atheismus‘. Doch es scheint, dass durch den Frontalangriff des Neoatheismus auf die Religion im Allgemeinen, das Christentum im Speziellen und den Schöpfungsglauben im Besonderen, nicht nur eine größere Aufmerksamkeit für Vertreter des Kreationismus entstanden ist, sondern sich auch Christen, die sich bis dato vielleicht gar keine größeren Gedanken über das Verhältnis von ihrem Schöpfungsglauben zur naturwissenschaftlichen Welterklärung gemacht haben, unter dem Druck und als Abwehrhaltung eine fundamentalistische Sicht aneigneten und mit ebensolcher Vehemenz vertraten, wie ihnen die neuatheistische Kritik begegnete. Ob jeder dieser ‚Neo-Kreationisten‘ es nach einer gründlichen und nüchternen Betrachtung tatsächlich befürworten würde, wenn im Biologieunterricht an Schulen die pseudowissenschaftliche Grundtypen-Theorie Junkers anstelle der Evolutionstheorie unterrichtet würde (vgl. Junker 2005), bleibt m. E. fraglich. Wenn es zu den Strukturmomenten fundamentalistischer Bewegungen gehört, „Identitätssicherung durch Abgrenzung“ (Hempelmann 2001, S. 424) erlangen zu wollen, so ist m. E. auch zu erwägen, ob umgekehrt erfahrene Ab- und Ausgrenzung zur Bildung Fundamentalismus-anfälliger Identitäten führen kann. Sieht man im Kreationismus einen „Indikator dafür, wie weit die Amerikanisierung des deutschen Evangelikalismus“ (Hemminger 2001, S. 436) fortgeschritten ist, sollte man nicht unbeachtet lassen, welche Faktoren diesen Prozess mit antreiben oder sogar beschleunigen: Der ‚neue Atheismus‘ ist m. E. einer davon. Wird – wie von Dawkins – mit einer dem eigenen Anspruch nach naturwissenschaftlichen Argumentation nicht nur eine kreationistische Weltentstehungstheorie widerlegt, sondern gemeinsam mit ihr auch zugleich die Existenz Gottes verabschiedet,57 kommt es also zu einer Verbindung von naturwissenschaftlichem Befund und weltanschaulicher Deutung (vgl. Kaden 2015, S. 46 f.), kann eine Gegenreaktion darin bestehen, zu meinen, aus der überzeugten Gewissheit über die Existenz Gottes auch die Sieben-Tage-Schöpfung als naturwissenschaftliches Theorem vertreten zu müssen.
56Vgl.
zur Bewertung und Vorgehensweise dieses Lehrbuchs die Darstellung bei Hemminger (2009, S. 87–91, 118–139). 57Vgl. dazu Dawkins (2008), bes. Kap. 4: Warum es mit ziemlicher Sicherheit keinen Gott gibt, 155–224.
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Wie einleitend bereits bemerkt, ist die Diskussion um den sogenannten ‚neuen Atheismus‘ in Deutschland sowohl in der medialen Öffentlichkeit als auch im kirchlichen und theologischen Diskurs im Wesentlichen abgeschlossen. Was von ihr geblieben ist, ist eine wiederentfachte, hauptsächlich innerchristlich, –kirchlich und –theologisch verlaufende Debatte um das Verständnis der Autorität der Schrift und das Verhältnis von Glaube und Vernunft, von Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie, von Wunderglaube und Naturgesetzlichkeit etc. Die höhere Bereitschaft auch gegenwärtiger Studierender an staatlichen Universitäten zum sacrificium intellectus zugunsten eines vermeintlich orthodoxen christlichen Glaubens verdankt sich m. E. auch einer Spätwirkung der Angriffe durch den ‚neuen Atheismus‘, der durch seine Sicht der Religiosität vermitteln wollte, dass zu dieser die Irrationalität per definitionem dazu gehört. Diese Konsequenz der Auseinandersetzungen um den ‚neuen Atheismus‘, ein Erstarken antiwissenschaftlich-irrationaler, fundamentalistischer Strömungen innerhalb des Christentums,58 war von seinen Vertretern wohl kaum erwünscht und stellt für die gegenwärtige Theologie eine besondere Herausforderung dar.
4 „Dieses Zerrbild hat darin seine Bedeutung, dass es uns aufmerksam macht auf mögliche Fehlentwicklungen innerhalb des Glaubens und der Religion“59 – Was Theologie und Kirche aus dem transatlantischen Zwillings-Phänomen ‚neuer Atheismus‘ und ‚Kreationismus‘ lernen können Während die Diskussion um und die Auseinandersetzung mit dem ‚neuen Atheismus‘ von Kirche und Theologie, wenn auch mit etwas Verspätung gegenüber der allgemeinen öffentlichen Rezeption, überwiegend souverän geführt wurde,
58Bewusst
wird hier darauf verzichtet, diesen christlichen Neo-Fundamentalismus pauschal mit evangelikaler oder pfingstlich-charismatischer Frömmigkeit zu identifizieren. Allenfalls kann man ihn mit Hempelmann als „Schattenseiten“ (2001, S. 409) dieser Formen charakterisieren, wobei sich diese Zerrbilder christlicher Frömmigkeit auch außerhalb genannter Strömungen finden. 59Huber in der Sendung Johannes B. Kerner, Eine Frage des Glaubens. Das neue Interesse am Atheismus, 15.11.2007, 23:15 Uhr [zitiert aus einem durch die Vfn. angefertigten Transkript der Beiträge].
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so verunsichert andererseits das gegenwärtige Erstarken fundamentalistischer Strömungen innerhalb des Christentums in Deutschland nicht wenige Vertreter von Theologie und Kirche.60 Nachdem man anfänglich noch hoffte, das Problem würde sich von selbst erledigen, erkennt man zunehmend insbesondere auf der Ebene kirchlicher Praxis, dass eben solche religiösen Gemeinschaften eine Attraktivität ausstrahlen, in denen man tendenziell zu konservativen und zum Teil biblizistischen bis fundamentalistischen Ansichten neigt. Trifft diese Entwicklung die traditionellen Kirchen und die akademische Theologie völlig unerwartet? Dieser Eindruck entsteht zumindest teilweise.61 Was können sie also in der Retrospektive auf diesen noch nicht vollständig abgeschlossenen Prozess transatlantischer Vermittlung für künftige Entwicklungen lernen? Zunächst einmal ist m. E. grundsätzlich die Erkenntnis festzuhalten, dass der Einfluss Amerikas auf das deutsche Christentum ein Faktum ist.62 Dieser Einfluss lässt sich auf zwei Ebenen ausdifferenzieren, auf die Ebene der öffentlichen Wahrnehmung des Christentums und auf die Ebene des faktischen christlich-religiösen Lebens: Aufgrund der medialen Vernetzung und Vermittlung einerseits und der zunehmenden Distanz eines nicht geringen Bevölkerungsteils zum kirchlichen Leben andererseits ist das Bild christlicher Religion außerhalb des gemeindlich sozialisierten Christentums in Deutschland häufig geprägt durch die Darstellungen US-amerikanischen Christentums, die darüber hinaus nicht selten verzerrt, überzeichnet und klischeebehaftet sind. Außerdem übt das US-amerikanische Christentum auch (ebenfalls häufig durch die globale, mediale
60Vgl.
auch Hempelmann (2001, S. 410): „Die weltweite Rückkehr der Religionen als Macht, die Menschen ergreift und öffentlichen Einfluss gewinnt, ist ein Vorgang, der auch innerhalb des Christentums erkennbar wird. Für viele Intellektuelle ist dies ein ebenso überraschendes wie irritierendes Faktum.“ 61Zu weit geht allerdings m. E. eine Behauptung Geldbachs (2001, S. 9): „Vollends unverständlich ist die Übertragung fundamentalistischer Ideen in die Alte Welt, weil hier eigentlich der sozial-religiöse Mutterboden für die gewagten Thesen und Interpretationen der Heiligen Schrift seitens des Fundamentalismus fehlt.“ Geldbach selbst trägt mit seiner Studie ja zu einer Erhellung des wohl doch nicht ‚vollends unverständlichen‘ Phänomens bei. 62Es ist daher nicht verkehrt, aber auch nicht ausreichend, wenn man nur „ein vertieftes Verständnis der amerikanischen Religionskultur“ gewinnt, in Folge aber das „anders geartete Verhältnis zwischen Religion und Politik in Europa“ bedenkt und darauf basierend „die selbstbewusste Formulierung der eigenen Position“ als „das europäische Konzept für die transatlantischen Beziehungen“ anvisiert (Huber 2004).
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Vernetzung) direkt Einfluss auf bestimmte religiöse Strömungen, insbesondere die evangelikale und pentekostale Frömmigkeit, in Deutschland aus.63 Zu einer vorausschauenden Theologie und Kirchenleitung gehört daher m. E. die sensible und reflektierte Wahrnehmung der Entwicklung des religiösen Lebens in den USA samt seiner Potenziale und Gefahren, der Vermittlungsweise dieser Religiosität in unterschiedlichen Formen, der aktuellen Prägung des Bildes von christlicher Religion in Deutschland sowie der eigenen inneren Vielfalt64 und Ansprechbarkeit auf bestimmte Einflüsse. Die prinzipielle Dialogbereitschaft, die angesichts dieser auch inneren Vielfalt angemessen ist, sollte dabei m. E. aber nicht einen Rückschritt hinter den erreichten Stand mit sich führen. Die sich in vielen Bewegungen mit fundamentalistischen Tendenzen ausdrückende „Sehnsucht nach Gewissheit“ (Hempelmann 2001, S. 410)65 ist als Sehnsucht legitim, sie darf aber nicht dazu verleiten, zu einfachen, aber dem eigenen und allgemeinen Erkenntnisstand nicht entsprechenden Antworten zurückzukehren. Dem Wunsch, „die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Recht, Politik, Ethos, Wissenschaft und Religion im Namen der Religionen zurückzunehmen“ (Hempelmann 2001, S. 421), kann und sollte nicht entsprochen werden. Vielmehr sollten nicht nur die Landeskirchen, sondern auch die akademische Theologie stärker daran arbeiten, öffentlich zu werden, um selbst ein bestimmenderer, prägenderer Faktor in der öffentlichen Wahrnehmung christlicher Religion zu werden. Theologie kann dies zum einen dadurch erreichen, dass sie Studierende dazu befähigt, in ihren Berufsfeldern den
63Daraus
eine verschwörungstheoretisch anmutende Pauschalverurteilung der „US-Religionswirtschaft“ zu treffen, die „strategisch mit allen Mitteln […] [die] Infiltration jeder Nische des europäischen Kulturbetriebs“ (Ziegert 2003, S. 292) vorantreibe, ist weder sachgemäß noch für die Frage des theologischen und kirchlichen Umgangs mit dem faktischen Einfluss hilfreich. 64Vgl. auch Hempelmann (2001, S. 414 f.). Zu den Schwierigkeiten, die sich mit der innerprotestantischen Vielfalt verbinden, vgl. Hemminger (2014, S. 13–15). 65Vgl. auch Graf (2013, S. 129): „Kreationistische Weltbilder erzeugen […] klare Verhältnisse, neue Eindeutigkeit und stabile, zweifelsresistente Orientierung. Hier gewinnen Wertideen einen ganz festen, unerschütterlichen, weil absoluten Grund und politische Institutionen ein tragendes Sinnfundament. Kreationistische Ideen essentialisieren Kontingenzen und Konstrukte zu notwendig Gegebenem. Das ist für all jene attraktiv, die unter Vieldeutigkeit leiden und die historische Verflüssigung von Normen nicht zu ertragen vermögen.“
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aktuellen Stand wissenschaftlicher Theologie adressatengerecht zu vermitteln.66 Sie kann dies aber auch, indem sie gezielt in – verständlichen – Vorträgen, Publikationen, Artikeln, Posts, Tweets, Blogs, Interviews, Fernsehbeiträgen etc. die Öffentlichkeit sucht.67 Sie kann und darf gegenüber einem einseitigen Szientismus die Vielfalt der unterschiedlichen Zugänge zur Wirklichkeit in den Fokus rücken und auch die eigene Annahme eines weitreichendes „Konsensverhältnis[ses], das Wissenschaft und Religion im vergangenen Jahrhundert aufgebaut haben“68, noch einmal selbstkritisch infrage stellen – ohne dabei der Naturwissenschaft ihre Berechtigung abzusprechen. Dass Knallerbsen wie Dawkins & Co einschlagen konnten wie eine Bombe, lag auch daran, dass es Theologie nicht gelungen ist, ihren Kenntnisstand in kirchliche Gemeinden und die außerkirchliche Öffentlichkeit zu vermitteln. „Wie gut – oder wie schlecht – sich der biblische Schöpfungsglaube als Feindbild für die neuen Religionskritiker eignet, liegt an uns Christen selbst. Wir können die religionsfeindlichen Ideologien nicht an ihrer Polemik hindern, aber wir können es ihnen leicht oder schwer machen. Machen wir es ihnen in Gottes Namen schwer“ (Hemminger 2009, S. 65).
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66Es
geht also nicht nur darum, dass sich „Schülerinnen und Schüler mit den bestehenden Differenzen [unterschiedlicher Weltdeutungen und -erfahrungen] auseinandersetzen und diese reflektieren“ (Kirchenamt der EKD 2008, S. 18), sondern dass dieses zunächst einmal diejenigen lernen, die später an Schulen und anderen Orten unterrichten. 67Gleiches gilt auch für die Landeskirchen (vgl. auch Hemminger 2014, S. 25–27), jedoch darf m. E. die Verantwortung für die religiös-kirchlich-theologische Öffentlichkeitsarbeit nicht allein auf die Kirchen ‚abgewälzt‘ werden. 68Hanshörg Hemminger (zitiert nach: Kern 2013).
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Reforming Christendom: Transatlantic Networks and the German-American Protestant Exchange James Strasburg
Zusammenfassung
This chapter examines the development of two different Protestant “theopolitical” worlds in the United States and Germany and the transatlantic religious networks that developed between them. It does so through sketching the historical development of “formal Christendom” and “informal Christendom” in Germany and the United States, two modes of church-state relations that advanced differing interpretations of political theology and ecclesiology. Through tracing their historical development and intersection, this chapter illustrates how the transatlantic flow of religious actors and ideas reshaped “theopolitcal imaginations” on both sides of the Atlantic. Furthermore, it demonstrates how this underacknowledged history of exchange informed the post-1945 emergence of a transnational Protestant consensus around ecumenism, democracy, and religious activism in the public sphere.
1 Introduction At the end of the Second World War, American Protestant ecumenist Stewart Winfield Herman, Jr. rallied American Protestants to offer aid and reform to their German counterparts. In It’s Your Souls We Want, Herman (1943) had developed
J. Strasburg (*) Heidelberg, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Schössler und M. Plathow (Hrsg.), Multipolarität und bipolare Konfrontationen, Transatlantische Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22927-6_6
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an American diagnosis of “the German problem,” arguing that the formal collaboration of church and state had contributed to the rise of Nazi totalitarianism. As he wrote, “Germany, in brief, has never known the religious independence which was jealously guarded by our colonists and later placed at the basis of American government […] from the Reformation to the National Socialist Revolution, the German church has been sheltered under the arm of the German State […] under the circumstances none of the religious phenomena which characterized American or even British Christianity were to be found in Germany.”1 In the aftermath of total war, Herman desired to encourage German Protestants to adopt these “religious phenomena,” namely the separation of church and state, voluntary, evangelical, and ecumenical religion, and a democratic role for lay believers in both church and society.
In outlining this vision, Herman’s voice entered into a political and theological exchange between German and American Protestants that stretched well back to the seventeenth century. This chapter narrates aspects of this exchange through considering the development and intersection of two church-state systems on each side of the Atlantic—“formal Christendom” and “informal Christendom”— and examining their convergence in the postwar era.2 It illustrates how these two modes of church-state relations advanced differing forms of political theology and ecclesiology. To borrow a phrase from theologian William Cavanaugh (2002), they contributed to the formation of different “theopolitical imaginations”—in other words, different imaginings of how politics and theology should interact, how church-state relations should look, what kind of community the church should constitute, and how it should engage civil society.3 To provide general and working definitions, “formal Christendom” emphasized a clear, hierarchical order for church and state and a formal tie between “throne and altar.” This ordered hierarchy tended to prize the monarchical state and champion conservative politics. Moreover, it was inclined to fixate ecclesial authority in ordained leaders and minimize lay religion. Although “formal Chris-
1Herman
(1943, p. 106). (2007) defines Christendom as “a society where there are close ties between leaders of the church and secular elites; where the laws purport to be based on Christian principles; where, apart from certain clearly defined outsider communities, everyone is assumed to be Christian; and where Christianity provides a common language, shared alike by the devout and the religiously known” (p. 18). 3Cavanaugh (2002). 2McCleod
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tendom” traversed the Atlantic with European migration to the American colonies, settlement of colonial America proved religiously diverse enough, and it opened up enough spaces of toleration and innovation, that colonial settlers could reshape the contours of Christendom. Ultimately, American colonists and citizens of the early republic embraced disestablishment and nurtured a democratic spirituality. As described by historian Mark Noll (2015), they pursued an “informal Christendom” through voluntary religion that aligned with ecumenism and democratic governance.4 They sought to preserve public and cultural aspects of Christendom through forming a national culture rooted in Bible reading, Christian education, and social reform. In doing so, evangelical Protestants in the United States unleashed lay and voluntary energies, stressed the individual within church and society, and pursued a democratic role in civil society. Mid-twentieth century ecumenists like Herman lived in a transatlantic world shaped by these two models. From the seventeenth through the twentieth centuries, the flow of religious actors and ideas across the Atlantic fostered a German-American Protestant exchange over church-state relations, political theology, and ecclesiology. This chapter examines this exchange through three developments, including the experiences of German immigrants in America from the seventeenth to nineteenth centuries, the formation of networks between German Pietists, American evangelicals, and Social Gospel reformers in the nineteenth and early twentieth century, and the rise of the ecumenical movement in the early-to-mid-twentieth century. Through outlining these historical episodes, this chapter illustrates how the transatlantic flow of religious actors and ideas reshaped “theopolitcal imaginations” on both sides of the Atlantic. Furthermore, it demonstrates how a long and underappreciated tradition of exchange informed the postwar emergence of a transnational Protestant consensus that prized ecumenism, democracy, the laity, and activism in the public sphere.
2 Formal and Informal Christendom’s Reformation Origins From its outset, the magisterial Reformation championed and relied upon formal Christendom. Without Frederick of Saxony or the Wartburg castle, Martin Luther likely would have been another Jan Hus following the Diet of Worms, a heretic
4Noll
(2015, pp. 3–5).
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sentenced to death. Luther’s Protestantism thus secured itself and grew through secular authority. To reform the secular abuses of the medieval church, Luther ascribed clear roles to both church and state in what has been termed his Two Regiments Doctrine, in which he argued neither church nor state should interfere in the other’s realm.5 While the doctrine seemingly disentangled the church from the temptations of secular power, its critics charged that it created the potential for public quietism.6 According to this line of argument, Luther’s teachings forcefully bifurcated the spiritual and civil realms, leading Lutheran churches to focus more exclusively on spiritual affairs and robbing the church of a robust role in the secular realm. While the doctrine has proven controversial, the formal Christendom Luther outlined did emphasize a clear, hierarchical order for church and society. This ordered hierarchy was further wedded to a conservative, monarchical understanding of political order. Moreover, while he elevated the place of lay Christians in the church, Luther still fixated ecclesial authority in ordained leaders, and his teachings would give way to confessionalism. In contrast to this formal collaboration of “throne and altar,” Reformation teachings such as the priesthood of all believers and Luther’s references to conscience also generated alternative currents. Through emphasizing Bible translation, Luther opened the Scriptures to individual believers, who, with advancements in book technology, would be increasingly equipped to read the Bible in private, independent of established ecclesial or secular authorities. Futhermore, peasants and radical reformers harnessed Luther’s assertion of conscience to advance societal revolution. The priesthood of all believers also held the potential for an egalitarian ecclesiology that challenged the hierarchical order of the early modern church. “Radical” Protestant reformers, such as the Anabaptists and Mennonites, drove some of these innovations to different conclusions than Luther. In this regard, the Protestant Reformation also unleashed impulses that could challenge the contours of formal Christendom.7 With the formation of missionary associations, colonial settlement, and transatlantic revivals, these aspects of the Protestant faith would gain increasing hold in parts of continental Europe and colonial America.
5Wright
(2010). (2016, p. 106–111). Nessan (2005, p. 302–311). 7On these “unintended” consequences of the Reformation, see: Gregory (2012). 6Laffin
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3 Pietist Awakenings and the Origins of Transatlantic Networks During the era of Protestant Orthodoxy in the seventeenth century, groups of German Pietists asserted that their Protestant counterparts had lost the heartwarming faith reformers like Martin Luther had infused into European Christianity. In its place, they claimed a rigid confessionalism had developed. Moreover, they lamented that Protestants, in their focus on confession, had prized learned theologians and ordained ministers over lay believers. After years of warfare, famine, and pestilence, this focus on doctrine and confession proved too cold for them. Luther’s religion also contained within it the capacity to warm the heart and provide personal assurance of salvation. In response to this perceived coldness and rigidity, the Pietists emphasized a form of heartfelt Christianity focused on conversion, personal piety, and intense study of Scripture. Philipp Jakob Spener (1676) provided a foundation for Pietism in his work Pia Desideria, in which he stressed the lived practice of Protestant religion. He reoriented Protestantism around its original disciplines: personal reading of Scripture, the priesthood of all believers, and moral growth in response to justification. In particular, Spener emphasized the activity of lay Protestants and organized his congregation into “schools of piety” which met weekly in small groups to study Scripture and pray. Pia Desideria disseminated his theology and provided a foundation for the emergence of Pietism above all in Halle, Leipzig, Berlin, and Dresden.8 Pietists also globally spread their Protestant faith. During the era of orthodoxy, Protestant theologians argued that the early church had fulfilled the Great Commission to proclaim the Gospel throughout the world. Pietism’s emphasis on individual conversion and growth in holiness, however, proved ripe for revival and the start of an international missionary movement. In 1706 Pietists from the German town of Halle volunteered for one of the very first Protestant missions to the Tamil speaking region of India being planned by Denmark’s Protestant king. Pietists in the small German town of Herrnhut also began to train and send out missionaries to colonial America, the Caribbean, Africa, and East Asia. In a development that proved important for North American developments, the Pietists had a profound influence in shaping the spirituality of John Wesley, the founder of Methodism, which swept over Great Britain and the American colonies in the
8For
more background on the origins of Pietism and its development, see: Shantz (2012, 2015).
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eighteenth century. Wesley lived among the Moravian Pietists at Herrnhut and his own spirituality was intensely formed by this experience. The Pietists and figures like Wesley were part of a transatlantic wave of revival that swept across the North Atlantic world in the eighteenth century known as the First Great Awakening.9 Through mission, these Pietists helped forge transatlantic networks that would endure well into the nineteenth century.
4 German Migration and Accommodation to New Theopolitical Conceptions The Pietists marked just the beginning of continental influence upon Christianity in colonial America. German immigration to the colonies furthered the formation of a transatlantic network that featured exchanges over political theology and ecclesiology. Beginning in the late seventeenth century, German Protestants began embarking for colonial America. As part of the first wave of German settlement, German Lutheran immigration reveals how relocation to colonial America fostered accommodation to predominately English theological and political conceptions and strengthened Pietistic convictions. Some of the first established German Lutheran communities in colonial America originated when German Lutherans from the Palatinate region of the Holy Roman Empire fled for protection from Catholic religious oppression in the early eighteenth century. These religious refugees resettled in New York and North Carolina with the support of English backers. Along with Germans in search of better economic opportunities through indentured labor, they formed a series of German Lutheran communities stretching from New York down into Virginia and North Carolina, with particular concentrations in Pennsylvania. All told, about 120,000 German-speaking immigrants had arrived in the thirteen colonies by the 1790s.10 While Lutherans constituted the largest religious group out of these immigrants, Reformed Protestants also made up a sizable portion, with much smaller groupings of Anabaptists, Mennonites, and other “radical” Protestant groups also making the journey.11 In their new setting, these 9On
the transatlantic character of Pietism, see: Ward (2002), Lehmann et al. (2009). For more on transnational Pietist networks, see Pietrinka (2018). 10Roeber (1993, p. 342n). 11Following German Lutheran settlements, Germany’s Reformed Protestants proved the most sizeable German immigrant group in colonial America. Philadelphia’s German Reformed Church formed in 1725 under the direction of John Philip Boehm, a school teacher
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immigrant communities often were forced to examine their traditions of formal Christendom. For one, they were now subjects of the British empire and exposed to a different political tradition valuing parliamentary governance and representative rule. Due to the shortage of ministers, many congregations also went for years without pastoral services. Although many petitioned their home supporters to send pastors, state officials often proved slow to respond. Consequently, these congregations authorized ministers on a local, independent basis and broke with confessionalism through emphasizing lay leadership and pursuing cooperative relationships with other Protestant groups around them, such as the Scotch-Irish Presbyterians and English Methodists. Both moves reflected the broader evangelical and ecumenical environment that would grow to characterize Protestantism in eighteenth and nineteenth-century America. The organizing efforts of German Lutheran Henry Melchior Muhlenberg especially illustrates these accommodations. German Lutheran organization in colonial America received a huge boost with the arrival of Muhlenberg in 1742. The son of a German Lutheran pastor, Muhlenberg had studied for the ministry at Georg-August-Universität in Göttingen. Following a conversion experience at university, he embarked for Halle, then the center of German Pietism, for further pastoral training and ministry. In 1742, Muhlenberg accepted a call from three German congregations near Philadelphia that had been without a regular pastor since 1735. Muhlenberg arrived to find the three churches in disarray. The preacher’s son proved himself a capable minister, however, and institution builder. He soon found himself drawn into the affairs of other local German congregations experiencing hardship. Muhlenberg recognized the need for an American based institution that could help regulate church life and authorize pastoral ordinations for congregations. In 1748, he organized such an institution in founding the Penn-
Fußnote 11 (Fortsetzung) who immigrated to Pennsylvania in 1720. Due to a lack of Reformed ministers, the German Reformed immigrants of Philadelphia invited Boehm to pastor their congregation due to his education and piety. By 1727, the Rev. George Michael Weiss of the Palatinate arrived with 400 other German Reformed migrants and assumed leadership of the congregation. Weiss opposed Boehm’s unsanctioned ministry, illustrating an early ecclesiological tension many German settlers faced. As Boehm was ordained by the Dutch Reformed Church in 1729, Weiss returned to Europe in 1730 in order to raise funds for the fledgling congregation, indicating the importance of continental supporters in this initial wave of settlement.
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sylvania Ministerium. The Ministerium soon set standards for liturgy and ordination for German Lutheran congregations in colonial America.12 Although Muhlenberg did not jettison connections to Germany, he also recognized the need for a flexible and independent church body in the colonies. Muhlenberg helped lay the foundation for a self-reliant American Lutheranism that fused together Pietist practices with liturgical Lutheranism. Significantly, he recognized the importance of the English language in his local context. While he did not avow the total abandonment of the German language, he chose to learn English so that he could preach and converse with local pastors. He also conceded to local congregations the right to select their own pastor, noting that “the English Constitution, the American climate […] demanded that each member in each community must have the right to vote or at least have a hand in voting.”13 Through Muhlenberg’s initiative, German Lutheranism took a decisive step of indigenization into its new American context. Over time, this strain of Lutheranism developed along the Atlantic coast in connection with the voluntary religious currents that reshaped colonial America. Muhlenberg accepted the need for congregations to adapt in order to thrive in this new setting. While Muhlenberg conceded some points to his American context, he did not pursue wholescale accommodation. Muhlenberg, for instance, emphasized preserving Lutheran liturgical practices and sacramental realism, which often struck other Protestants as too Roman Catholic. Biblical interpretation also differentiated Lutherans from other American Protestant groups, which had begun to invoke common sense philosophy in their reading of Scripture. In contrast, Lutherans emphasized Law and Gospel in Scripture. Their reading of the Bible positioned them first and foremost to reflect on sin and grace in Scripture, society, and in individuals.14 With time, Muhlenberg and other German immigrants also adjusted to the English patterns of parliamentary government and representative rule. Especially in Pennsylvania, where German immigrants formed a significant bloc within the colonial public, German Protestants involved themselves in local politics and learned to actively safeguard their rights. The outbreak of the Revolutionary War proved an especially intriguing case for how the American context reshaped German political theology. For many German Lutherans, deference to monarchi-
12Granquist
(2015, p. 87–111). (1993, p. 291, 274). 14Noll (2002, p. 410). 13Roeber
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cal political authority followed naturally underneath Reformation teaching. The question became, however, which group constituted the legitimate ruling authorities. With a German monarch on the English throne, some German Protestants found themselves in favor of English rule. Muhlenberg sought a neutral course throughout the War, but by its end, he came out in vocal support of the American independence movement. Muhlenberg’s son, Peter, had assimilated more fully into his local context. Advocating that “my liberty is dear to me as any Man,” Peter volunteered for military service in the Continental Army. Following his service, he entered into public life as a member of Congress. Peter marked the first of many Muhlenbergs to play an active role in shaping the public life of the early republic.15 The experiences of Muhlenberg in colonial America yield two overarching insights about the German Protestant experience in the American milieu. First, German Protestants continued to look to Germany for guidance and support. Their transatlantic connection to the Reformation’s heartland proved vital, and they self-consciously sought to maintain the particulars of their Reformation religious heritage through their liturgy, sacramental theology, and guided reading of Scripture. However, German Protestants also found themselves drawn into the religious, political, and social environment of colonial America. Through supporting revolutionary politics and coordinating with non-German Protestant groups, this earliest wave of German Protestant migration to Germany exhibited an openness to America’s emerging order of informal Christendom. These developments would be furthered through the breakout of another set of transatlantic revivals following the American Revolution.
5 The Democratization of American Christianity and the Emergence of Informal Christendom As the Revolutionary War integrated German Protestants into American society, it also furthered transformations in American religious culture. Above all, the American Revolution challenged longstanding Western societal and political customs, such as deference to monarchical authority and social hierarchy. The War marked a triumph of the republican way of life, which vested sovereign authority in the well-educated and virtuous public. The years of 1780–1830 accordingly marked
15Granquist
(2015, pp. 113–138).
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a transitional period wherein the early American republic shifted from an aristocratic to a republican society. The idea of popular sovereignty championed in the Revolution and early republic empowered common individuals over traditional elites and reduced respect for traditional authority and normative society. The circle of political freethinkers expanded, and expression of opinion flourished as newspapers increased in circulation. Massive population growth due to high birth rates also pushed more Americans into the frontier, where they were remotely removed from established civil authorities and developed a defiant localism.16 The Revolution also transformed religious life in the early republic. The First Great Awakening in seventeenth century colonial America had begun the transition from clerical to lay religion, with more emphasis being placed on lay spiritual impulses than on clerical direction. The American Revolution accelerated these developments in religious life, just as it revolutionized church-state relations through advancing religious liberty, separating church and state, and disestablishing Christianity as a formal institution in civic life.17 These developments marked a revolutionary transformation for the Western world. Ever since Constantine had made Christianity the official religion of the Roman Empire, Western societies had routinely connected church and state together. While the Protestant Reformation had affirmed the connection, Americans wagered a new experiment. Religious participation would now be entirely voluntary. Yet instead of fostering secularization, voluntarism unleashed latent religious energies across the early republic.18 As historian Nathan Hatch (1989) has argued, American Christianity underwent a democratization after the Revolution.19 Christian groups throughout the young republic relocated authority away from educated clergy and orthodox theological doctrine. Frontier evangelicals denied the age-old distinction that set clergy apart from the laity as a separate order of elite and educated men. Groups such as the Methodists and Baptists advanced the centrality of individual belief and individual interpretation of the Bible. They invoked a common sense philo-
16Hatch
(1989, p. 1–9). Revolution separated church and state where the Church of England had been established. Congregationalist religious establishments remained intact in Vermont, Connecticut, New Hampshire, and Massachusetts. Through the early nineteenth century, however, advocacy by secularists and religious minorities led to the formal disestablishment of churches in these states. 18Howe (2009, p. 165). 19Hatch (1989). 17The
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sophical tradition that suggested the Bible’s meaning was plain and transparent to any reader, no extra education or training required.20 In revivalist meetings, they empowered ordinary people through affirming their deepest spiritual impulses. They spurned traditional, organized liturgy in favor of enthusiastic and passionate worship, marked by folk hymns in the vernacular and impassioned open-air preaching at camp meetings. Numerous Americans also created and facilitated churches and voluntary religious societies, providing them with a taste of democracy in action. The revivalist fires of the early nineteenth century also ignited numerous social reform movements that sought to reshape American public life, such as the abolitionist and temperance movements.21 In these regards, American evangelicals brought more radical and Pietistic currents from the Reformation to fruition. Disestablishment, the advent of deism, and the threat of religious non-belief in the aftermath of the Revolution mobilized concerned citizens into preserving the role of American churches in public life. These Americans, while embracing religious liberty and disestablishment, still desired to maintain Christian influence in society and politics without the formal infrastructure of European Christendom. The American commitment to republican government called for a virtuous citizenry ready to make ethical and responsible political decisions. American Protestants thus sought to inculcate the virtue and practice of Christianity in the American public through education, religious tracts and periodicals, and public Bible reading. For instance, the common school movement of the 1820s and 1830s made the reading of the King James Bible in public schools a central practice in public education. Through exposing young citizens to Scripture, Americans had faith they were forming the republic’s next generation of virtuous citizens. Although early American colonists rejected “formal Christendom,” they incorporated the Bible into forging a new nation-state with an “informal Protestant Christendom” rooted in Scripture and voluntary religious association. They advocated that Scripture infused the nation with a moral framework and promoted the cultivation of virtue in republican citizens.22 Revivalism also played a central role in fostering an “informal” public role for American churches. Throughout the early nineteenth century, revivals spread across the Atlantic seaboard and into the American Midwestern frontier. In New England, revivalists traveled from town to town and stayed for several days of
20Noll
(2002). (2009, p. 166). 22Noll (2015, pp. 3–5). 21Howe
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preaching. Charles Finney’s travels throughout Western New York bequeathed the name “the burned-over district” to the area due to the revivalist fires that swept over it. Across the American frontier, itinerant Methodist preachers road grueling distances on horseback to share the gospel message with isolated communities. At these open air “camp meetings,” thousands flocked together from surrounding towns and villages, often traveling for days for a multi-day lineup of preachers and musical arrangements.23 Revivalists reached a significant number of Americans, calling them to repentance and to pursue a virtuous lifestyle. Through passionate orations and lively musical performances, they stressed an internal change of heart and sought to drive the biblical message of salvation deeper into the hearts of Americans. These revivalists believed the Gospel message provided guidelines for both personal and societal holiness. Through spreading the Gospel message, they were also strengthening the social fabric of the American republic. By the 1830s, American Christianity had transformed into a massive, national enterprise. Church membership had reached all-time highs. Both Methodists and Baptists experienced the most rapid growth. While membership in Baptist churches multiplied tenfold from 1790 to 1820, Methodists doubled their numbers from 1820 to 1830 through holding on average 300–400 camp meetings each year. Overall, Americans built churches at a rate of a thousand per year.24 Revivalism and the voluntary religious marketplace fostered fierce religious competition and laid the foundation for schisms within Protestant groups. At the same time, however, the rapid growth of Protestantism and its emerging role as an informal yet direct shaper of public life lent itself to the growth of Protestant ecumenism. Protestant sects worked together to promote the development of virtuous citizens and to shape American public life. German Protestants with established roots in the United States tended to integrate their church communities into the informal Christendom of the United States. From Muhlenberg onward, leading American Lutherans continued to move Lutheranism in an American direction. In the aftermath of the Revolution, for instance, American Lutherans began to emphasize less confessionalism in their catechisms and hymnals. The life and work of Samuel Schmucker provides one additional example of this integration. Schmucker’s father, John, had already provided a model of integration to Samuel when he encouraged his fellow Lutherans to join all Protestant Christians in the battle against deism. John Schmucker looked favorably upon open camp meetings and other revivals as a response to deism. The revivals also paralleled the pietist impulse in L utheranism
23Hatch
(1989, pp. 5556).
24Hatch (1989).
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with its focus on conversion and individual growth in holiness. Samuel followed his father’s path into the ministry and rose to leadership within the General Synod, which at the suggestion of the Pennsylvania Ministerium had united together disparate Lutheran groups into a united, national body. As an institution builder, Schmucker founded Gettysburg Seminary in 1826 and Gettysburg College in 1832. By the 1830s, Schmucker (1834) spoke favorably of republican government. He also argued the Augsburg Confession included within it tenets condoning the American Revolution, a sharp departure from standard European interpretations.25 In hermeneutics, he promoted aspects of American common-sense reasoning. In a more radical move, Schmucker (1839) even suggested alterations to the Augsburg Confession in order to diminish Lutheran confessionalism.26 Softening Lutheran views on baptism and the Lord’s Supper proved another way Lutherans could further integrate themselves into ecumenical and evangelical Protestantism. In these and other ways, Schmucker sought to adapt German Lutheranism more fully to his American setting. In the years of the early republic, Christianity and public life in the United States had underwent a monumental transformation. In his reflections on his travels through the young republic, French political philosopher Alexis de Tocqueville remarked at the peculiarities of the American environment. In the American republic, Christianity and liberal freedoms strengthened one another. Religion served as a voluntary means of creating a free and democratic civil society. In contrast, Tocqueville noted established churches in Europe supported conservative leaders who sought to maintain long-standing hierarchies. As Tocqueville assessed the differences between formal and informal Christendom, transnational religious networks were strengthening that offered further points of connection and opportunities for exchange.27
6 Awakening: German Pietists and American Evangelicals in Transnational Context On the point of revival, mission, and evangelical religion, German Pietists and American evangelicals found common ground. As historian Jan Stievermann (2018) has pointed out, Pietists and evangelicals fostered an especially lively
25Schmucker
(1834, pp. 272–275). (1839). 27Tocqueville (2002). 26Schmucker
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network of exchange from the 1820s through the 1850s during an era of transatlantic revival. Leaders in the Prussian “Erweckungsbewegung” closely followed American developments, with one of their leading periodicals, Evangelische Kirchenzeitung, featuring routine updates on North American missions and lively reporting of the massive revivals of the Second Great Awakening. Pietist leader Ernst Wilhelm Hengstenberg longed for “a similar great awakening in the ‘darkened’ churches of Germany.” Meanwhile, American evangelicals had positive things to say of Prussian Pietists. One American evangelical periodical, the Christian Mirror, hailed Berlin Pietists as having “furnished some excellent laborers for foreign Missions” and fostering “a considerable revival of evangelical religion […] in Germany.”28 Pietists and evangelicals also shared an affinity for social reform. Channeling the postmillennial fervor of the Second Great Awakening, American Protestants had poured voluntary energies into bringing heaven to earth in the United States through reforming societal ills. America’s Protestant social reformers formed numerous voluntary associations, and groups such as the American Temperance Society sent American delegates to Berlin to advise German Pietists on reform efforts. America’s Christian social reformers found a sister movement in German Pietism’s Erweckungsbewegung (German Awakening Movement) and the pietistic call for “faith expressing itself through love.”29 German Pietism’s fusion of conversion, evangelism, and social mission, formalized in Johann Hinrich Wichern’s 1848 call for Innere Mission (inner mission) within Germany, paralleled similar organizing in the United States.30 Breaking from the established German tradition, which viewed Christian mission as fulfilled by the apostles and therefore no longer a central task for the church, German Pietists had exerted great energy in organizing foreign mission and poverty relief. In this regard, Germany’s Pietists shared an affinity with significant aspects of American evangelicalism, which held mission as a crucial feature of the church. Considered as a transatlantic development, the Second Great Awakening in nineteenth-century America and the Erweckungsbewegung in nineteenth-century Germany both championed theologies of social uplift and reform, pointing to a shared Protestant culture of “Social Christianity.”31
28Stievermann
(2018). and Winn (2015, p. 114). Hansen (2011). 30Hammer (2008), Gerhardt (2002). 31Carter (2018). 29Olson
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Yet despite the lively exchange, significant differences still existed between the two contingents. For one, continental Pietists could not claim the widespread reach that American evangelicals could in their home context. Additionally, Wichern’s commitment to social concerns also attached to Prussia’s conservative monarchism, which championed autocratic rule.32 The two groups thus differed on a crucial issue: church-state relations. While American evangelicals generally championed disestablishment and grassroots spirituality, Prussian Pietists and Protestants like Wichern favored established ties to the monarchy and a top-down ecclesiology. They especially voiced these views in response to the revolutions that shook Europe in the early-to-mid-nineteenth century. In 1815 and 1848, German liberals called for reform following revolution in France. In 1848, when liberal reformers summoned forth representatives from the German states to Frankfurt for a parliament, north German Protestants again proved vocal supporters for a unified Germany underneath a strong German monarch. While democratic politics found strong supporters in American Protestant circles, most German Protestants remained committed to conservative monarchy.33
7 Renewed German Migration and Opposition to Informal Christendom Starting in the 1820s, German migration to the United States increased due to political, economic, and spiritual reasons. By the 1850s, nearly one million Germans had migrated to the United States. Politically, the growing tension between conservative monarchies and liberal reformers led liberal-leaning Germans to migrate to the United States in hopes of discovering the freedoms they could not realize at home. The German ‘48ers marks one such wave of political migration in the aftermath of the failed revolutions of 1848 to 1849. Economically, nineteenth century Germans found their old social and economic structures crumbling. The German economy and agricultural system only slowly recovered from the Napoleonic wars. Pestilence, failed harvests, and harsh winters prompted some Germans to consider resettling in the fertile plains and temperate climate of the American Midwest. The Industrial Revolution and the advent of steam-powe-
32For
more on the partnership between conservative Protestantism and monarchism, see: Correll (2014) and Blackbourn (2003), Conway (1992). 33Brose (2013, pp. 239–258).
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red production and factories also upended longstanding economic arrangements organized around guilds, craftsmen, and homebased manufacturing. Meanwhile, the German population grew rapidly, further dwindling access to land. The 1829 publication of Gottfried Duden’s account (1834), Report on a Journey to the Western States of North America, of his years in Missouri provided hope to Germans desiring economic mobility. Duden wrote of bounteous lands that required limited toil to wean crops from the ground.34 Letters from German settlers spoke of the limited role of the American government. No one was drafted into the military. Large tracts of land could be bought for cheap. Such glowing descriptions led thousands of Germans to immigrate. Religiously, some German Lutherans and Reformed Protestants embarked to the United States in search of the opportunity to practice a more confessional form of their faith. King Frederick Wilhelm III’s decision to unify Lutheran and Reformed churches into the Prussian Union in 1817 prompted groups of Lutherans to head to the United States to escape this overreach of state power into ecclesial affairs. Wilhelm’s proposal reflected the Pietist opposition to confessionalism and sparked resistance from pockets of Lutherans and Reformed Protestants, as groups from both churches reemphasized their doctrinal distinctions in response to a forced merger. Following the threat of imprisonment for refusing to adopt the new liturgy, Saxon pastor Martin Stephan led a group from St. John’s Church in Dresden to St. Louis, Missouri in 1839. The colony got off to a perilous start. Stephan’s leadership came under scrutiny for mismanaging the church’s funds and for engaging in an extramarital affair. Following his excommunication, C.F.W. Walther emerged as the new leader of the congregation. Walther nurtured the Missouri settlement back to a position of theological and social stability. Walther and the Saxon Lutherans formed the foundation for the Evangelical Lutheran Synod of Missouri, which served as the forerunner to the contemporary Lutheran Church—Missouri Synod.35 Although drawn by the promise of religious liberty, these new arrivals exhibited a stronger reluctance to integrate themselves into the social and religious fabric of the American republic. Given their strong confessionalism, this wave of German Lutheran immigration disavowed collaboration with competing Protestant “sects”. To cooperate would entail abdicating the very doctrinal distinctiveness that set Lutherans apart. Settling along the American frontier, they
34Duden 35Todd
(1834). (2000).
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also had the opportunity to form their own enclave. They resisted adopting the English language in fear of losing their distinctive German customs and theology. In the words of one German Lutheran immigrant, in switching to English, Germans would “lose our majestic hymns, prayerbooks, and edifying literature—an unspeakable loss!” They also would be tempted to give up their “German customs, diligence, and thrift, replacing them with English styles which frequently degenerate into pride, laziness, and extravagance.”36 To curtail the adoption of English, German immigrants founded their own newspapers and periodicals, such as the St. Louis based German newspaper Der Lutheraner, and formed their own educational system to help preserve German Lutheran theology and culture (such as Concordia Theological Seminary in St. Louis). These Lutherans also emphasized liturgy as a way to maintain confessional and ethnic distinctiveness among competing American religious groups. The new German Lutheran immigrants also relied robustly upon German partners for missionary and financial support. The story of Friedrich Conrad David Wyneken and Wilhelm Loehe particularly illuminates the endurance of these transatlantic confessional connections. Wyneken departed Saxony in 1838 in order to bolster the Lutheran faith in the frontier of the American Midwest. Following a tour of several Midwestern communities, he found the German settlers to be in spiritual disarray. Many communities lacked full-time pastors. Others did not administer the Sacraments and failed to preach a confessionally true faith. Wyneken watched with concern as members of these communities succumbed one by one to the missionary endeavors of competing Protestant sects. “Thousands were lost by the Lutheran Church,” he lamented. In search of a solution, Wyneken penned an appeal to his colleagues in Germany, a stark contrast to Muhlenberg’s decision to self-organize. “Come over and help us!” he pleaded. “Give us preachers who are able to strengthen us with the Bread of Life! Preachers who may instruct us in the way of salvation! O help us lest we perish! Make haste! Hurry! The salvation of immortal souls lies at stake!”37 In contrast to Schmucker’s openness to revival and camp meetings, Wyneken and his colleagues detested them. Wyneken loathed the “new measures” of the “awakenings” such as the “sinner’s anxious bench.” Emotional sermons and prayers, “songs based on worldly attractive melodies, moaning and groaning, and exclamations” that “stir up the senses and the nerves” all constituted “repugnant
36Nelson 37Jahr
(1980, p. 97). (1943, p. 2).
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manifestations” in his opinion. Following his tour of the United States, he noted “there is hardly a Lutheran congregation which does not have to suffer from these swarming pests […] for the faithful preacher they are a constant evil gnawing at the very marrow of his soul.”38 Beyond their penchant for disorganization and outbursts of emotion, Wyneken most feared the revivals for their capacity to take German Lutherans away from the Lutheran flock. To strengthen the new German immigrant communities, Wyneken in 1841 embarked upon a return journey to Germany to rally support for fledgling German congregations in the United States. In Neuendettelsau, Wyneken met with Lutheran pastor Wilhelm Loehe. Loehe feared the loss of an authentic German Lutheranism among the fledgling Saxon settlers and responded with haste. The pastor recruited two volunteers from his congregation to go and assist Wyneken immediately. In the years to follow, Loehe commissioned many more Nothelfer to the Midwestern states of America. On his trip, Wyneken also delivered lectures in Fürth and conducted classes in Nürnberg. In Leipzig and Dresden, he set up voluntary mission societies, titled Vereine zur kirchlichen Unterstützung der Deutschen in Amerika (Associations for Ecclesial Support of Germans in America). In the university town of Erlangen, he found a valued supporter in Professor Karl von Raumer, who along with Loehe, laid plans for the publication of Wyneken’s plea to German Lutherans. By 1842, the Erlangen church paper Zeitschrift für Protestantismus und Kirche printed Wyneken’s plea for help, titled “The Distress of the German Lutherans in North America: Laid Upon the Hearts of the Brethren in the Faith in The Home Country.”39 By 1853, Wyneken and Loehe had sent over one hundred of these “holy helpers” and provided over US$25,000 to the fledgling Lutheran missionaries of the American Midwest. The story of Missouri Synod Lutherans illustrates how some German immigrants resisted full integration into the informal Christendom of ecumenical and evangelical Protestantism. In this regard, they offer a foil to figures like Schmucker, and they mirror the confessional traditions that continued to shape German Protestantism in the nineteenth century. In contrast to Schmucker, Missouri Synod Lutherans stressed confessionalism and looked to their continental partners for support. In this regard, they illuminate the diversity of opinion on questions of theology that separated continental and American Protestants. Yet in immigrating, Missouri Synod Lutherans warmed to democratic politics and
38Wyneken 39Wyneken
(1982). (1982).
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championed religious liberty. In the aftermath of the Second World War, they too would join the American Protestant effort to forge a transnational consensus around these values and practices.
8 Intellectual and Social Reform Networks in an Age of Industrialization Nineteenth-century industrialization proved to be a disruptive force on both sides of the Atlantic, leading to urbanization and rising rates of poverty in American and German cities. Responses to these problems brought German and American Protestants into conversation yet again. This particular aspect of the German-American Protestant exchange revolved around the rise of liberal theology and the practice of social reform. In the nineteenth century, exchanges in academic theology especially shaped the German-American Protestant relationship. In that century, Germany’s theology faculties often attracted America’s best and brightest young scholars. All told, over 9,000 American students crossed the Atlantic in the nineteenth century to study in the Germanic states.40 This transatlantic passage became commonplace for American theologians thirsting for advanced knowledge. As George Marsden (1994) notes, by the end of the nineteenth century, “it would be rare to find either a university leader or a major scholar who had not spent some years studying in Germany.”41 While some young American theologians flocked to Göttingen to steep themselves in its rationalism and historical criticism, evangelical Americans traveled to the Pietist centers of Berlin and Halle. For those who remained home, German theology textbooks also earned an audience as exemplars of advanced Protestant theology.42 The story of American liberal theologian Walter Rauschenbusch, himself the son of a German Baptist immigrant, reveals these German-American theological connections. Before Rauschenbusch launched a mission to realize “the kingdom of God” in Progressive Era America, he complimented his American theological training with a sabbatical in 1883 at the University of Berlin. In 1891, Rauschenbusch returned to Berlin yet again to study the New Testament and ponder a res-
40Herbst
(1965, pp. 1–2); Diehl (1978). (1994, p. 104). 42Purvis (2014, pp. 650–683). 41Marsden
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ponse to America’s urban-industrial capitalism.43 Reflecting on his theological formation, Rauschenbusch wrote, “the intellectual life of America and Germany cross in my thinking like warp and woof” (as cited in Dorrien 2003).44 The mixture could be seen in Rauschenbusch’s concept of the “Kingdom of God,” which fused together German liberalism’s thesis of God’s immanence in the world with American pragmatism’s focus on practical action. The synthesis informed liberal Protestant commitments to social, political, and economic reform in the United States. During his travels, Rauschenbusch also came under the influence of Christian socialism, which in turn nurtured progressive Protestant commitments to democratic socialist politics in the United States.45 As Rauschenbusch’s Atlantic crossings indicate, European theological insights nourished liberal theology’s rise in the United States. As the nineteenth century progressed, both German, English, and American Protestants were responding to the ills of industrial capitalism and the growth of cities. In response to industrialization and urbanization, Protestants across the North Atlantic world and continental Europe called for an increased focus on home missions and social amelioration. In the United States, Rauschenbusch, then a pastor of a German Baptist church in the Hell’s Kitchen neighborhood of New York City, articulated a theological vision for advancing the “kingdom of God” in America’s cities. Under Rauschenbusch’s lead, American Protestant reformers advanced a “Social Gospel” that articulated God’s desire to not only redeem individual lives but the entire social order. Rauschenbusch described the “kingdom” as an immanent reality that could be progressively realized through mission and reform. In offering political solutions, he and other American reformers looked to English and German social welfare policies as a model Americans could emulate.46 Beyond elites like Rauschenbusch, everyday workers in major cities like Chicago also formulated their own Social Gospels, indicating that the movement had a strong grassroots inflexion.47 These workers reflected the lay-initiative and activity that proved so characteristic of American Protestantism. As the case of Friedrich Siegmund-Schultze shows, the social progressivism developing in the United States also inspired German Protestant social engage-
43Smucker
(1994, p. 15). (2003, p. 118). 45Evans (2015, pp. 51–58). 46Littlefield (2013, p. 24). 47Carter (2015). 44Dorrien
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ment. Born in 1885, Siegmund-Schultze studied theology and philosophy at the University of Tübingen and Marburg. In 1910, he accepted a pastoral calling from Kaiser Wilhelm II at the Friedenskirche in Potsdam, the site of the palace of Sans Souci. Following a 1911 visit to Jane Addams’ Hull House in Chicago, however, a prominent American “settlement house” of the time, the young German pastor left the royal courts in favor of pursuing the “Christian social work” he had found so inspiring.48 He moved into Berlin-Freidrichshain in October 1911 in order to start his own settlement home in the working-class neighborhood. While in Berlin, Siegmund-Schultze also founded the “Soziale Arbeitsgemeinschaft” (Social Working Group) in order to help bring students and academics into closer contact with the working classes. As both Rauschenbusch and Siegmund-Schultze suggest, in an era of “Atlantic Crossings,” pockets of American and German Protestants found common cause in social mission and the practical application of liberal theology.49
9 Convergence: World Mission and World War At the turn of the twentieth century, however, both German and American Protestants were faced with the legacies of mission and liberal theology. In an age of imperial expansion, the German-American Protestant encounter experienced a landmark shift with the phenomena of world mission and world war. While American Protestants attributed their vigorous world mission to informal Christendom, they assigned the blame of two world wars to the tradition of formal Christendom in Germany. In the aftermath of World War II, American Protestants prepared to intervene in Germany and reform formal Christendom. The twin developments of world mission and world war led to a unique moment of convergence, however, as American and German Protestants together forged a consensus after the war that drew upon theological and ecclesiological currents within informal Christendom. Powered by their voluntary mission associations, American Protestants stood primed to lead the Protestant world in mission by the turn of the twentieth century. At the 1910 World Missionary Conference in Edinburgh, American Protestants dominated the proceedings. Out of the 1 215 delegates, over half came
48Lindner 49Rodgers
(2007, p. 8). (2000).
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from the U. S., while only 170 came from continental Europe.50 The mainline American Protestants in attendance had been schooled in pragmatism and were proponents of the progressive Social Gospel. They sought practical solutions and action. Their task was urgent: they pursued the “evangelization of the world in this generation” and desired to create a world community that was both Christian and democratic.51 Most Protestants across the North Atlantic world left Edinburgh encouraged about the prospects of increased cooperation in mission. Yet just four years after Edinburgh, the onset of World War I threatened to take the wind out of Protestant ecumenism’s sails. Rather than stalling ecumenical planning, however, the outbreak of the First World War spurred more energetic ecumenical effort in some circles. Although the Great War ignited religious nationalism in the belligerent nations, it also summoned Protestant energies to peace-making and ecumenical unity.52 While leading German theologians defended the Kaiser and German war effort in the “Manifesto of the Ninety-Three,” Friedrich Siegmund-Schultze worked to gain Jane Addams an audience with a German countess to advance Addam’s “peace mission” in the Great War.53 At the international level, the World Alliance of Churches for Promoting International Friendship through the Churches came into existence in Konstanz, Germany in the late summer of 1914, with Protestant delegates from the United States, Germany, Great Britain, France, Belgium, and the Netherlands on hand. Even as armed conflict began, these ecumenically-minded Protestants devoted themselves to promoting an international government rooted in Christian morality. In doing so, they laid a spiritual foundation for the League of Nations and articulated the need for transnational cooperation rooted in multilateralism and peace-making.54 As Woodrow Wilson portrayed the Great War as a means to conquer German militarism and spread American democracy abroad, sections of American Protestantism bristled with anti-German rhetoric. With anti-German propaganda in the ascendance, German-American religious groups, above all Missouri Synod Lutherans and Mennonites, abandoned German liturgies and the use of German in parochial schools in order to assert their Americanness. In the Evangelical
50Hutchinson
(1993, p. 135). (2016). 52Jenkins (2014). 53Siegmund-Schultze (1915). 54Donahue (2015). 51Strasburg
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Lutheran Synod of Missouri, Ohio, and Other States, for instance, parishes holding liturgies in English went from one-sixth of all congregations to three-fourths between 1917 and 1920.55 The shift completed a process of “Americanization” for German-Americans in the United States, a model which American Protestants would employ in their post-1945 reconstruction planning for German Protestantism. Disillusioned with the Allies’ severe treatment of Germany after the Great War, German mission theorist Heinrich Frick (1922) pushed back on American endeavors. Exposing the underlying triumphalism of American Protestant mission, he accused American mission efforts of fostering “the Spiritual Expansion of the [Anglo-American] Empire.”56 Frick’s comments point to the growing alienation German Protestants felt from American and British Protestant internationalism following World War I. Historically, German Protestantism had enjoyed a revered status in the Protestant world as the home of Martin Luther, the Protestant Reformation, and advanced Protestant theology. Yet the burst of American activity in mission and ecumenism began to shift these dynamics. Despite increased ecumenical activity following the Edinburgh gathering, German Protestants developed an ambivalent relationship to the movement. Siegmund-Schultze stands as one German Protestant who threw himself wholeheartedly into ecumenical organizing, especially on behalf of the World Alliance of Churches. Yet a growing number of German Protestants felt estranged from the ecumenical movement due to the harsh political treatment Germany received after World War I. The Treaty of Versailles required costly reparations and forced Germany to accept sole guilt for the War. Frick argued that the same Anglo-American spirit of dominance seen in the 1910 Edinburgh Conference could be seen in the Treaty. The German missiologist wrote, “In their innermost meaning, these apparently antagonistic phenomena belong together, because in retrospect one sees they are products of the same spirit: of the Americanism in modern evangelical missions.”57 In Frick’s view, both Edinburgh and Versailles oppressed the German people. The rise of National Socialism and the onset of global depression further isolated German and American Protestants from one another. The end of the state church in the Weimar Republic and the era’s moral and political turbulence led many German Protestant leaders to long for the days of Wilhelmine order. The
55Todd
(2000, p. 105). (1922, p. 352). 57Frick (1922, p. 392). 56Frick
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rise of totalitarianism, religious nationalism, and economic depression were problems that concerned both American and German Protestants, however. In this regard, minority Protestant groups on both sides of the Atlantic found a compelling diagnosis of the crisis in Karl Barth’s neo-orthodoxy theology, which pinned the malaise on the excesses of liberal theology. In Barth’s view, liberal theology and its emphasis on divine immanence had advanced heretical forms of revelation, such as the German Volk, and heterodox modes of political salvation, such as fascism. Barth’s theology connected not only with the Confessing Church in Nazi Germany but also Christian Realists led by Reinhold Niebuhr out of Union Theological Seminary. As the Realists followed the German Church Struggle closely, they revised their own American tradition of liberal theology and argued against the Social Gospel. Rejecting pacifism and isolationism, they articulated the need for Americans to intervene abroad to create an enduring democratic world order.58 Their observations also increasingly led them to believe in the need for an outside intervention to inspire a new kind of theopolitics in Germany.59 By the outbreak of the Second World War, most German immigrant groups in the United States had been firmly long been woven into the fabric of American Protestantism’s informal Christendom. These German-American Protestants saw the war as an opportunity to share practices they had learned in their American context with their German counterparts. During the war itself, America’s Lutherans envisioned themselves at the center of the Lutheran world and ideally positioned to shape postwar currents in Germany. In 1943, for instance, American Lutheran Church pastor Arnold Jahr (1943) of Nashua, Iowa penned an essay reflecting on German-American Lutheran relations. He heralded two nineteenth century German missionaries, F.C.D. Wyneken and Wilhelm Loehe, as the saviors of Lutheranism in America. The two German men had come to America’s aid in its time of crisis. Yet a century later, the situation had reversed itself. The two world wars and the rise of Nazism had created spiritual crisis in Germany. Meanwhile, the center of Lutheranism had shifted to the United States. Jahr declared, “Today Germany and the Scandinavian countries with the rest of the world look to America as the center from which Lutheran world action must emanate.” In the throes of Nazism and world war, Germany’s cry resounded: “Come over and help us! Make haste!”60 For a host of American Protestants like Jahr, the rise of National
58Warren
(1997). (2018). 60Jahr (1943, p. 2). 59Strasburg
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Socialism and the onslaught of the Second World War marked a crisis for Protestantism in Germany that reverberated throughout the world. In the words of American Lutheran pastor Sylvester Michelfelder (1945), Nazism represented a “satanic power” that had eroded Germany’s historic Protestant faith and compromised German leadership within global Protestantism.61 In response to this crisis, Protestant leaders like Jahr and Michelfelder drew upon a deeper patterns of German-American Protestant exchange—only this time reversed—in order to call on American Protestants to reform the heartland of their faith. In this environment, Herman and other leading American Protestant theologians such as Reinhold Niebuhr, Henry Smith Leiper, and Samuel McCrea Cavert also outlined the need to restore German Protestantism into ecumenical Christianity and to introduce aspects of informal Christendom into Germany such as lay activism, voluntarism, and separation of church and state. After the war, American ecumenists looked to reform-minded Protestants such as Barth and Martin Niemöller as allies in their cause to infuse a new sense of civic responsibility and activism into German Protestantism. American ecumenists sought to nurture these new directions through providing funds to rebuild Germany’s churches, sending material relief, and facilitating theological exchanges and summits.62 Continental Protestants also actively looked to the United States for aid. As Swiss Protestant Adolf Keller reflected, “the heart of Europe” was “burnt out, swept empty, and filled with a nostalgia for a new content.” Keller pondered, “who will comfort the bitter and despairing souls and heal them?” In response, he noted Europeans might expect “a mission from powerful Churches trying to save and deliver the Continental soul from its European sickness” which would “heal it with a new vigorous and inspiring gospel.” Moreover, Europe would “face a cultural and educational campaign bringing the ‘American Century’ to the European centuries, educating them for the new democracy.”63 Keller sensed postwar reconstruction was ripe with the potential for a profound transformation within German and more broadly Europe Protestantism. While some German Protestants looked to the United States for aid, they also drew from their Pietist past and the German Church Struggle for inspiration. With the Darmstädter Wort, the Stuttgarter Schuldbekenntnis, the formation of Hilfswerk, and the entry of the Evangelische Kirche in Deutschland into the World
61Michelfelder
(1945). (2018). 63Keller (1942, pp. 225–226, 228). 62Strasburg
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Council of Churches, German Protestants forged new theopolitical directions. They announced their inention to disentangle their church from conservative nationalism, embrace ecumenism, and pursue a more active and informal role in the public sphere. Although German Protestants maintained aspects of their establishment tradition, such as the taxation system, and a strong confessional wing persisted in Lutheran circles, they nonetheless pioneered a theology of ecumenism, lay activism, and democratic politics in the postwar era. The emerging consensus championed the active role of the laity in the church and the church in society. In this regard, German Protestants more fully embraced aspects of the informal Christendom tradition.64 Through taking the long view, one can identify the roots of this transition in a deeper tradition of transatlantic exchange. As evidenced in flows of migration, networks of aid and support, and the circulation of theological ideas, German and American Protestants had long been connected and in conversation over questions pertaining to the particulars of political theology and ecclesiology. The formation of these networks helped provide the foundation for a new consensus around ecumenism and lay-oriented religion in the postwar period. While the consensus was not immediate and disagreements persisted—most notably, Barth refused to condone democracy or condemn communism, and conservative nationalism persisted in Protestant circles into the 1960s, the postwar hour still marked a moment of significant convergence. Building upon a longer tradition of transnational exchange, German and American Protestants found common ground in a theopolitical imagination that espoused religious activism, lay empowerment, democratic politics, and ecumenical cooperation. In that regard, the postwar hour proved not to be a “zero hour” ripe for the advance of the “American Century,” as Keller described it, but rather a moment of reform and convergence emerging from a much deeper tradition of transatlantic exchange over the legacies of formal and informal Christendom.
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64On
the postwar transformation of German Protestantism, see: Greschat (1994, 2002, 2010) and Hockenos (2004).
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Grenzgänge. Paul Tillichs Emigration in die Vereinigten Staaten und sein theologisches Reden über die Grenze Wolfgang Vögele
Zusammenfassung
In dem Beitrag werden Zusammenhänge zwischen Biografie und Theologie Paul Tillichs untersucht. Tillichs Leben war nach seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 bestimmt durch die Emigration in die Vereinigten Staaten. Dabei werden die Emigrationserfahrungen Tillichs in den Kontext anderer Emigrationserfahrungen eingeordnet. In seinen biografisch-theologischen Texten spielt der Begriff der Grenze eine besondere Rolle. Es wird Tillichs Reden über die Grenze in einem frühen biografischen Text, in der Systematischen Theologie und in der späten Rede, die Tillich aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hielt, vorgestellt. Dabei wird deutlich, wie sich eine besondere Lebensgeschichte in einer Theologie ausprägt, die stets von einer besonderen Sensibilität für das Verhältnis von Religion und Kultur geprägt war. Dieses erscheint um so aktueller, als auch gegenwärtig die Metapher der Grenze politisch, kulturell und theologisch ihre Bedeutung behalten hat.
W. Vögele () Karlsruhe, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Schössler und M. Plathow (Hrsg.), Multipolarität und bipolare Konfrontationen, Transatlantische Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22927-6_7
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1 Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten Das semantische Feld der Grenze ist in Deutschland immer noch durch die innerdeutsche Mauer und die Oder-Neiße-Grenze bestimmt, obwohl man bei Grenzen zum Beispiel auch an den römischen Grenzwall des Limes mit seinen Befestigungen und Soldatenlagern oder an die chinesische Mauer mit ihren Grenztürmen denken könnte. Grenzmarkierungen und Grenzzäune legen den Verlauf einer Grenze fest. Länder, zwischen denen ein Grenzfluss verläuft, haben es leichter. Grenzbeamten überwachen an den wenigen durchlässigen Stellen, den Grenzposten, den Übertritt auf die eine oder andere Seite, manchmal assistiert von Grenzsoldaten. An der Zollstation findet die Grenzabfertigung statt. Grenzverletzungen sind auf beiden Seiten unerwünscht, niemand will die alten Grenzfragen oder Grenzstreitigkeiten wieder beleben, die gelegentlich zu Grenzkriegen geführt haben. Ländergrenzen, die umkämpft waren, markieren oft gleichzeitig politische, kulturelle, sprachliche Grenzen. Dennoch hat, wer im Grenzland oder in einer Grenzregion, wenigstens aber grenznah lebt, oft Vorteile, weil er über die Grenze fahren kann, um billiger zu tanken, Wein zu kaufen oder Flammkuchen zu essen. Wichtig ist: Die Grenze muss durchlässig bleiben. Wenn ein Land sich innerhalb seiner Grenzen abschottet, läuft es Gefahr, sich zu isolieren. Die Grenze wird zur gefährlichen Demarkationslinie. Eher wünschen sich die Menschen offene Grenzen ohne Zollkontrolle, aber ganz dürfen diese Grenzen auch nicht wegfallen, höchstens verschwimmen. Abschotten soll sich niemand, denn Grenzen sind menschengemacht und können geschleift werden. Wer von Grenzen redet, bezieht sich nicht nur auf Ländergrenzen, auf politische, sprachliche und kulturelle Grenzen. In großen Menschenmengen haben Menschen das Bedürfnis, sich abzugrenzen und Grenzen zu ziehen. Es gibt Unter- und Obergrenzen für alle medizinischen Parameter, die sich zum Zweck der Gesundheit innerhalb der erlaubten Grenzen bewegen sollten. Dennoch stoßen viele Menschen an ihre körperlichen, psychischen und seelischen Grenzen, gelegentlich auch an die Grenzen ihrer Erkenntnis und ihres Denkens. Völlige Grenzenlosigkeit scheint in keiner Hinsicht möglich, und für das Leben des Menschen nicht unbegrenzte Aufmerksamkeit, unbegrenztes Talent, unbegrenzte Kraft. Hier wirken à la longue die Grenzen des Alterns. Im Englischen wird zwischen „frontier“ und „boundary“ unterschieden. In der politischen Rhetorik ist das Bedürfnis, kulturelle, politische und wissenschaftliche Grenzen zu überschreiten, seit John F. Kennedys berühmter Rede
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über „The New Frontier“1 aus dem Jahr 1960 immer wieder abgerufen worden. Das Bewusstsein der Grenzen ist historisch gewachsen und zielt zunächst auf die Siedler des 18. und 19. Jahrhunderts, gerade in der Überwindung von Zweifeln, Rückschlägen und fehlendem finanziellen Rückhalt. In den Sechzigern rief der junge katholische Präsident dann die „frontier of unknown opportunities and perils, the frontier of unfilled hopes and unfilled threats“ aus. Dahinter verberge sich unbekanntes Terrain, Probleme, Unwissen, möglicherweise Armut. Dagegen sollen Kennedys Wähler sich der neuen Aufgabe stellen: „My call is to the young in heart, regardless of age – to the stout in spirit, regardless of Party, to all who respond to the scriptural call: ‚Be strong and of a good courage; be not afraid, neither be [thou] dismayed.‘“ Und nicht zufällig beruft sich Kennedy auf die Bibel, die zu diesem amerikanischen Bewusstsein der „frontier“ ihren erheblichen Anteil beigetragen hatte. In der politischen Rhetorik der jüngsten Zeit spielt das Stichwort der Grenze erneut eine wichtige Rolle. Der gegenwärtige amerikanische Präsident hat im Wahlkampf angekündigt, an der Grenze zwischen den USA und Mexiko eine Mauer errichten zu lassen, für die er die mexikanische Regierung bezahlen lassen will. Prozesse der Digitalisierung, der ökonomischen Globalisierung, in Europa auch der politischen Einigung lassen regionale und nationale Grenzen als überflüssig erscheinen. Oder es wird umgekehrt davor gewarnt, Grenzen zu schnell niederzureißen, was in all den populistischen und aufgeregten Diskussionen über Flüchtlinge und Flüchtlingsströme zum Ausdruck kommt. Diese Grenzdiskussion hat auch die politische Philosophie der jüngsten Zeit aufgenommen. In Dieter Thomäs Überlegungen2 zur Figur des (politischen) Störenfriedes kommt dem Begriff der Schwelle als dem Übergang zwischen Innen und Außen, Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit eine ganz entscheidende Stellung zu. Eine Schwelle hat eine Grenze zur Voraussetzung. Thomä liegt daran, dass diese Grenzen durchlässig bleiben, deswegen legt er den Akzent nicht auf Abgrenzung und Auseinanderhalten, sondern auf den Übergang, eben die Schwelle. Nicht nur der Störenfried soll sich ungestört von der einen Seite zur anderen bewegen können. Politiker wie John F. Kennedy und Philosophen wie Dieter Thomä waren bei weitem nicht die ersten und einzigen, die sich ausgiebig in ihren politischen Reflexionen der Rhetorik und Semantik der Grenze bedienten. Viele andere haben
1Kennedy 2Thomä
(1960). (2016); dazu Vögele (2017).
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das vor ihnen getan, zum Beispiel der Theologe Paul Tillich. Hier soll zunächst nur festgehalten werden, dass es sich bei dem Begriff der Grenze um einen Begriff oder eine Metapher des Raumes handelt. Wer von Grenze spricht, tut das innerhalb eines spezifischen Raumkonzepts.
2 Biografie und Theologie, Habitus und Interpretation Große theologische Entwürfe, zu denen derjenige von Paul Tillich zweifellos zählt, können in verschiedenen Perspektiven ausgelegt werden. Man kann sie auf ihre interne Konsistenz, auf bestimmte Leitworte untersuchen. Zu den wichtigeren Perspektiven zählt auch die Kontextualisierung. Das theologische Werk wird auf Gegensatz oder Übereinstimmung mit zeitgenössischen theologischen Entwürfen untersucht. Im Falle Tillichs bieten sich dafür Karl Barth, Emanuel Hirsch oder Martin Kähler an. Spitzt man das Prinzip der Kontextualisierung noch zu, so behauptet der Interpret in der Regel auch einen besonderen Zusammenhang zwischen Theologie und Biografie. Werkimmanente Interpreten pflegen diesen Zusammenhang zu negieren oder abzulehnen, aber gerade im Falle Tillichs sticht sehr hervor, dass bestimmte Ereignisse seiner Biografie ihren deutlichen Niederschlag in seinem theologischen Denken gefunden haben. Tillich selbst hat das ohne weiteres konzediert und in interpretatorischen Schriften sein eigenes Leben und seine Theologie entsprechend ausgelegt. Aber Deutungen eigenen Lebens können aus subjektiven Gründen auch in die Irre führen. Spätestens Pierre Bourdieus Habitus-Theorie3 hat das gezeigt. Dennoch bietet sie ein Muster, um das Verhältnis von Biografie, Selbstdeutung und Theologie tiefer zu erkunden, zumal gerade im Phänomen der Überschreitung von Milieu-Grenzen auch der Begriff der Grenze von erheblicher Bedeutung ist. Der Begriff ‚le milieu‘ bedeutet ja im Französischen nichts anderes als die Mitte. Gerade die Arbeiten Didier Eribons4 zeigen, dass das Überschreiten von Milieu-Grenzen erheblich innere psychologische und soziale Konflikte mit sich bringt, wonach auch bei Tillich zu fragen wäre, besonders zu dem
3Zur
theologischen Interpretation der Habitustheorie Pierre Bourdieus vgl. Vögele (2005) sowie Vögele et al. (2002). 4Eribon (2016). Bei Eribons nicht völlig unproblematischen Reflexionen spielen die Grenzen zwischen Homosexualität und Heterosexualität, Intellektuellen und Arbeiterklasse, Metropole und Provinz in ihrer spezifisch französischen Färbung eine besondere Rolle.
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Zeitpunkt, als er von Deutschland in die USA wechselte und damit sprachliche, kulturelle, politische und soziale Grenzen überschritt. Dieser Essay soll skizzenhaft dem biografischen Ereignis der Emigration Tillichs im Jahr 1933 von Frankfurt/M. nach New York und ihrer theologischen Verarbeitung bzw. der Spiegelung dieses Ereignisses in seinem Werk gewidmet sein. Die Emigration bedeutete für Tillich einen Wechsel des Kontinents, der Sprache und der Lehrtätigkeit (3). Das schlug sich in einer neuen, veränderten Theologie nieder, bis hin zum ausführlichen Entwurf der Systematischen Theologie, die ab dem Jahr 1958 erschien. Der politisch motivierte Wechsel von Deutschland in die USA lief bei Tillich insgesamt gesehen vergleichsweise undramatisch ab, jedenfalls wenn man einbezieht, wie gravierende Folgen die Emigration für andere Intellektuelle besaß. Es ist wenigstens anzudeuten, welche Konsequenzen der Wechsel von Europa in die USA haben konnte, welche Bedeutung manche Schriftsteller im übrigen auch dem umgekehrten Schritt, von den USA nach Europa zumaßen (4). Danach folgen drei Selbstinterpretationen Tillichs, in denen jeweils der Begriff der Grenze eine besondere Stellung einnimmt: die Schrift „An der Grenze“ aus dem Jahr 1933 (5), die drei Bände der Systematischen Theologie (6) und die wichtige Rede, die Tillich aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1962 hielt (7). Im Lichte dieses Befundes will ich ein zweites Mal über das Verhältnis von Biografie, Theologie und Selbstdeutung nachdenken (8) und in einem Schlussabschnitt überlegen, wie Tillichs Konfiguration des Grenzbegriffs für gegenwärtige theologische Diskussionen fruchtbar gemacht werden kann. Im Erfolgsfall kann diese Skizze am Beispiel Tillichs Erhellendes über das Verhältnis von Theologie und Biografie, über das Verhältnis der USA zu Europa bzw. Deutschland und über die Grenzen von Habitus und Milieu zeigen.
3 Tillichs Emigration im Jahr 1933 Den Wechsel von Frankfurt nach New York im Jahr 19335 hat Tillich später vergleichsweise nüchtern beschrieben: „Unmittelbar nachdem Hitler deutscher Kanzler geworden war, wurde ich meines Amtes enthoben. Ende 1933 verließ
5Zur
Frankfurter Zeit vor 1933 und zur Emigration vgl. auch Schüßler und Sturm (2007, S. 15–20).
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ich mit meiner Familie Deutschland und ging nach Amerika.“6 Zwischen 1929 und 1933 besetzte Tillich einen Lehrstuhl an der Frankfurter Universität. Wegen seines Engagements in der SPD und für den religiösen Sozialismus war ihm schnell klar, dass ein möglicher Wahlsieg der Nationalsozialisten für ihn Entlassung, Berufsverbot und möglicherweise sogar Verfolgung bedeuten konnten. Die Entlassung folgte dann 1933 tatsächlich sehr zügig. Innerhalb weniger Monate gelang es Tillich, mithilfe amerikanischer Kontakte eine Gastprofessur am Union Theological College in New York zu erhalten. Das war vor allem deshalb mit Schwierigkeiten verbunden, weil Tillich zu diesem Zeitpunkt die englische Sprache nicht beherrschte. Deswegen bezeichnete er im Rückblick die Übergangsphase lakonisch als „recht schwierig“7, obwohl er am Union Theological College auf die Hilfe amerikanischer Kollegen rechnen konnte. „Für unser Einleben in die amerikanischen Verhältnisse war das [d. h. die Gemeinschaft der Kollegen, WF] alles von unschätzbarem Wert, und für mich war es auch bedeutsam als Gegengewicht gegen den extremen Individualismus der akademischen Existenz in Deutschland.“8 Trotz der notwendigen Eingewöhnungsphase in die amerikanische Kultur bricht Tillich die Kontakte nach Deutschland nicht ab: Er versucht, anderen deutschen Emigranten zu helfen, und führt mit deutschen Freunden weiterhin einen Briefwechsel. Die Erinnerung an Deutschland, seine Sprache und Kultur macht jedoch die Anpassung an die amerikanische Kultur umso schwieriger.9 Tillich fällt an der amerikanischen Kultur vor allem das Fehlen von Autorität auf, in der Familie, in der Schule, in Verwaltung, Politik und Religion. Er erkennt diesen neuen, amerikanischen Habitus der Lebensführung aber vorbehaltlos an: „Aber ich muß auch den amerikanischen Mut zum Fortschritt anerkennen, die Bereitschaft, Fehlschläge in Kauf zu nehmen, nach einer Niederlage wieder anzufangen, auf wissenschaftlichem und praktischem Gebiet Neues zu experimentieren, der Zukunft gegenüber offen zu sein und an der schöpferischen Entwicklung von Natur und Geschichte teilzunehmen. Ich sehe auch die Gefahren dieses Mutes – alte und neue – und ich bekenne, daß manche der neuen Gefahren mir ernsteste Sorgen machen.“10
6Tillich
(1952, S. 70). (1952, S. 72). 8Tillich (1952, S. 72). 9Tillich (1952, S. 75). 10Tillich (1952, S. 76). 7Tillich
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Freunde Tillichs haben später diesen pragmatischen Umgang Tillichs mit den Schwierigkeiten der Emigration bestätigt.11 Dieses gilt offensichtlich schon für die Zeit in Deutschland. Die Frau des Pfarrers Max Behrmann, in dessen Wohnung Tillich (1933) in Hamburg seinen letzten Abend in Deutschland verbrachte, schrieb über den „berühmte[n] Theologe[n], den die Heimat nicht mehr dulden wollte, nach aller Loslösung vom Vertrauten, vor sich die Ungewißheit des Fremden, Zukünftigen, ein Mann von siebenundvierzig Jahren, ohne Kenntnis der englischen Sprache, mit einer so gelösten Gelassenheit, daß ein Nicht-wissender fast den Eindruck einer heiteren Behaglichkeit, eines unangefochtenen seelischen Gleichgewichts haben konnte. Kein zorniges, kein verächtliches Wort über diejenigen, die ihm schwerstes Leid zugefügt hatten. Er plauderte, liebenswürdig, sehr bescheiden wirkend, sich selbst und die eigenen Belange kaum erwähnend.“12 In seinen ersten Rundbriefen aus den USA nach Deutschland zurück befestigte Tillich diese Haltung. Er schrieb über das Eingewöhnen, das Sprachenlernen, über die neue Wohnung und die Seekrankheit seiner Frau bei der Überfahrt.13 Tillich scheint, in diesen doch eher unverbindlichen Rundbriefen, die an eine größere Zahl von Freunden gerichtet waren, bewusst einen optimistischen Ton gewählt zu haben. Friedrich Wilhelm Graf spricht in seiner biografisch-theologischen Deutung schon für die erste amerikanische Zeit in New York von Tillich als einem „exemplarischen Vorzeigeexilprotestanten“14. Daneben führte Tillich mit seinem Göttinger Kollegen Emanuel Hirsch eine heftige, öffentlich in Zeitschriften ausgetragene Auseinandersetzung15 über den Begriff des Kairos und die Zeitgebundenheit der Theologie. Dass ihm in Wahrheit auch anders zumute war, zeigt ein Brief an Lily Pincus aus dem Jahr 1934: „Und ich habe Stärkung nötig. Es ist der zweite Tod, den ich hier erlebe; der erste begann in der Champagne-Schlacht 1915. Der erste war unvorstellbarer und drohender, dieser zweite ist feiner und bitterer. Das Äußere ist mehr Anlaß als Ursache; denn äußerlich ist alles in Ordnung; guter Kolleganfang,
11Franz
Walter Müller, in einem Nachruf auf Tillich über die Frankfurter Zeit, in: Tillich (1980, S. 184): „Tillich mußte fliehen und hat durch seine Arbeit in der neuen Heimat unendlichen Ruhm erworben. Den Menschen ist er stets freundlich geblieben, in der Sache jedoch hat er keine Konzession gemacht.“. 12Tillich (1952, S. 197). 13Tillich (1952, S. 199 ff). 14Graf (2011, S. 371). 15Die Dokumente dieser Kontroverse zwischen Hirsch und Tillich sind abgedruckt in Tillich (1983, S. 95–218). Vgl. dazu Schäfer (1988, S. 86 ff.).
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feine Studenten, wachsende Beherrschung der Sprache, eine Fülle feiner Menschen, große Aufgaben, erträgliche Wirtschaftslage; aber das alles ändert nicht die Tatsache des Stehens im Tode, in der Notwendigkeit, die Vergangenheit zu durchleben und durchzuleiden und die völlige Unfähigkeit, für mich selbst einen neuen Sinn zu finden. Doch das ist unser aller Schicksal, die wir abgeschnitten sind und zwischen ‚nicht mehr‘ und ‚noch nicht‘ stehen.“16 Nur an dieser Stelle vergleicht Tillich die Emigration mit seiner Kriegserfahrung. Die Tonlage ist keineswegs auf amerikanischen Optimismus, sondern auf eine depressive Verstimmung abgestellt. Letztere offenbart der Theologe einer engen Freundin, aber nicht der begrenzten Öffentlichkeit seines Freundeskreises. Tillich ergänzt die Beschreibung seiner Stimmung durch drei Hinweise. Er verweist auf eine Rede17, die er aus Anlass der Einweihung des Hauses derselben Freundin Lily Pincus in Potsdam gehalten hat und auf die ich noch eingehen werde. Er verweist zweitens sogar zweimal18 auf die biblische Figur des Abraham, der im hohen Alter zusammen mit seiner Frau die Heimat verließ, um den Verheißungen Gottes zu folgen. Diese Referenz auf den biblischen Abraham taucht wiederholt in Tillichs Werk auf. Noch prägnanter als die Briefäußerung mutet eine kurze Passage aus einem über kurze Zeit geführten Tagebuch Tillichs aus dem Jahr 1935 an: „Wie ist es mit dem Ausziehen aus des Vaters Haus? Abraham zog aus und der verlorene Sohn zog aus. In meinem Ausziehen zogen beide aus. Abraham ging vorwärts und sah das Land, das seinen Enkeln und den Gläubigen seines Glaubens in Zukunft bestimmt war. Er kehrte nicht zurück. Der verlorene Sohn kehrte zurück und rettete seine Seele und blieb ohne Zukunft.“19 Dem Emigranten stehen zwei Möglichkeiten offen: Entweder er findet nach dem Verlassen seiner Heimat wie Abraham eine neue Welt, in der er sich zuhause fühlen kann, oder er kehrt – wie der verlorene Sohn – beschämt zu seinem Vater zurück, weil in der Fremde sein Vermögen durchgebracht hat. Drittens gebraucht Tillich hier zum ersten Mal im Kontext der Emigrantensituation den Begriff der Grenze. Er spricht von der „Grenzsituation der Emigrantenexistenz“, in der er stehe und die auf die Dinge ein „ein anderes, großartigeres, aber zugleich furchtbareres und hoffnungsloseres Aussehen als aus dem nur euro-
16Tillich
(1952, S. 219). (1952, S. 220). S. u. Abschn. 8. 18Tillich (1952, S. 220,222). 19Tillich (1952, S. 234 f.). 17Tillich
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päischen oder gar nur deutschen Gesichtswinkel“20 werfe. Die Grenzerfahrung steigert sich, sie wird großartiger und furchtbarer zugleich, mit anderen Worten: Gefahr und Risiko sind gestiegen. Der Emigrant kann tiefer fallen und höher steigen. „Wir erfahren jetzt mit der durch Verfolgung und Vertreibung sich vollziehenden Wiedergeburt des Geistigen zugleich seine Grenze, eine Grenze, die der Intellektuelle nicht sehen konnte und wollte und an der er zerbrochen ist.“21 Die Emigration bedeutet, dass die Erfahrung des Intellektuellen ins Tragische gewendet wird, die Situation bleibt vorläufig zweideutig, sie kann ins Gute oder Böse umschlagen. Es ist angesichts der verstimmten Bemerkung über den zweiten Tod erstaunlich, dass Tillich wenige Abschnitte später nicht zögert, aus dieser Erfahrung Konsequenzen für die theologische Arbeit zu ziehen, nämlich für das protestantische Prinzip, für die Existenzialphilosophie und für den religiösen Sozialismus.22 Und das führt ihn schließlich zu der Behauptung, dass der Intellektuelle, sowohl der, der emigrieren musste, als auch der, der in Deutschland geblieben ist, sich nicht an Räume binden darf. Tillich schreibt, dass die Intellektuellen „irgendwie zwischen den Räumen“ bleiben müssen. Das entspricht dem protestantischen Prinzip und seiner Grenzsituation.23 Grenzerfahrung bedeutet Heimatlosigkeit, Bruch mit habituell gewordenen Bindungen.
4 Grenzgänger, Exilanten, Emigranten Tillichs Emigration in die Vereinigten Staaten gehört als ein wichtiges Moment in die Biografie des Theologen, und er selbst hat die Erfahrung der Emigration verallgemeinert und ausgedeutet in eine Erfahrung des Grenzgangs oder Grenzübertritts. Mit beidem steht Tillich allerdings nicht allein. Die amerikanischen Schriftsteller William James und Thomas Wolfe haben genau die umgekehrte Reiserichtung in das Zentrum ihrer Romane gestellt. Henry James erzählt in seinem Roman „Die Gesandten“24 die Geschichte des amerikanischen Lebemannes Lambert Strether, der im Auftrag seiner Verlobten, einer reichen Witwe aus Neuengland, nach Paris reist, um dort den Sohn der Verlobten,
20Tillich
(1952, S. 221). (1952, S. 222). 22Tillich (1952, S. 223). 23Tillich (1952, S. 223). 24James (1903). 21Tillich
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der sich mit einer adligen Pariser Dame liiert hat, nach Hause zurückzuholen. Aber stattdessen ist er von den Pariser Verhältnissen so fasziniert, dass er sehr viel länger als erwartet in der französischen Hauptstadt bleibt. James nimmt diese Geschichte zum Anlass, auf subtile Weise europäische und amerikanische Milieus und ihre Unterschiede zu beschreiben. Dazu widmet er sich den Konflikten, denen die Grenzgänger ausgesetzt sind – oder auch nicht. Am Ende kehrt die Hauptfigur unverrichteter Dinge in die USA zurück. Thomas Wolfe erzählt in seinem großartigen Roman „Von Zeit und Fluß“ (1935) die Biografie seines Alter Ego Eugene Gant. Er berichtet von dessen Studium in Harvard, vom Tod des Vaters, von der kurzen Tätigkeit als Lehrer in New York. Danach beschließt Gant, sich nach Europa einzuschiffen, er lebt eine Zeit lang in Paris und Orleans. In Orleans hört er plötzlich eine Glocke, die ihn an die amerikanische Universität erinnert. In der Folge kehrt er nach Monaten in Frankreich in die USA zurück. Ein Zitat vom Ende des Buches mag deutlich machen, wie nahe die Überlegungen Wolfes und Tillichs sich sind: „Denn was sind wir, mein Bruder? Wir sind ein Geisterflackern kummervoller Sehnsucht, ein phantomhaftes Phosphorzucken in der Unendlichkeit der Zeit, Kurzlebigkeit heimgesucht von der Ewigkeit der Erde. Wir sind ein unaussprechliches Gesprochenes, ein unersättlicher Hunger und unstillbarer Durst; eine Begierde, von der unsere Adern bersten, die unsere Gehirne sprengt, unsere Gedärme krank macht und verdirbt und unsere Herzen entzweireißt.“25 Niemand lasse sich vom Pathos dieser Passage täuschen. In den Roman sind faszinierende Reflexionen über Theologie, Alltagsethik und Sinnfindung eingebaut, deren Vergleich mit den theologischen Reflexionen Tillichs durchaus lohnen würde.26 Die Hauptfiguren in den Romanen von James und Wolfe haben ihre Grenzüberschreitungen beide rückgängig gemacht. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 löste eine Welle der Emigrationen aus, der sich wie geschildert auch Paul Tillich anschloss. Diesen Emigranten war die Rückkehr in die Heimat aus politischen Gründen lange Zeit verschlossen. Die Emigration vieler bekannter Universitätslehrer, Schriftsteller, Komponisten und anderer konnte jedoch auch ganz andere Erfahrungen zeitigen, als Tillich sie damals gemacht hat. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, denen Tillich durch die Arbeit am Institut für Sozialforschung in Frankfurt eng verbunden war, machten andere Erfahrungen als Schriftsteller wie Thomas Mann, Bertolt Brecht,
25Wolfe 26Vgl.
(1935, S. 1079). als Einführung in Wolfes Roman Vögele (2015).
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Lion Feuchtwanger oder Alfred Döblin27, für den die Exilerfahrung geradezu so etwas wie das Zusammenbrechen seiner literarischen Karriere bedeutete. Döblin wandte sich im Exil einem konservativen Katholizismus zu, was seine deutschen Mitemigranten mit einer gewissen Ironie aufnahmen. Die Rückkehr aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland bedeutete für Döblin – dieses im großen Gegensatz zu Paul Tillich oder Thomas Mann – die Fortsetzung der literarischen und publizistischen Erfolglosigkeit, die sich noch dazu mit schwerer Krankheit und Gebrechlichkeit verband. Es soll mit diesen wenigen Bemerkungen nur angedeutet werden, dass Tillichs Biografie exemplarisch steht für die Biografien von Emigranten und Grenzgängern, dass seine Lebensgeschichte darin aber keineswegs typisch ist: Andere haben in Emigration und Grenzgang Schlimmeres und Kritischeres erlebt, wie im übrigen auch das Beispiel des Suizids von Walter Benjamin im französisch-spanischen Grenzort Portbou zeigt. Manches an Tillichs Biografie und seiner Selbstdeutung macht den Eindruck einer Selbststilisierung zur Erfolgsgeschichte, welche die Erfahrungen der Verzweiflung und der Vergeblichkeit, des Heimwehs und der Entwurzelung stärker in den Hintergrund rückt. Im Rahmen dieser Skizze soll nur das theologische Desiderat erwähnt werden, Tillichs Biografie und seine theologischen und philosophischen Deutungen in den Kontext anderer Exils- und Grenzbiografien sowie ihrer kulturellen Interpretationen – seien sie biografisch oder fiktiv – zu stellen.
5 Die Grenze I Wenn man versucht, Tillichs Theologie und Religionsphilosophie auf ein Stichwort zu bringen, dann fallen Stichworte wie Theonomie, Kulturtheologie28, protestantisches Prinzip, Kairos29, religiöser Sozialismus, Korrelationsmethode, Apologetik, aber es fällt selten das Stichwort der Grenze, obwohl es bei Tillich selbst an prominenter Stelle seiner Publikationen mehrfach positioniert ist. Um es auf den Punkt zu bringen: Theologisch fällt das Stichwort der Grenze aus, biografisch wird es durchaus benutzt. Dennoch bestehen zwischen Biografie und
27Zu
Döblin vgl. Schoeller (2011) und Vögele (2016). (1998), Danz und Schüßler (2011). 29Tillich (1959); vgl. auch Schäfer (1988, S. 74 ff.). 28Haigis
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Theologie enge Verbindungen. Das lässt sich an den verschiedenen Gestalten und Stadien der Grenz-Überlegungen Tillichs sehr gut ablesen. Die erste fundamentale Reflexion Tillichs über die Grenze bildet eine kleine autobiografische Schrift aus dem Jahr 1936: „Auf der Grenze“. Im amerikanischen Original hieß diese Schrift: „On the Boundary“. ‚Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis.‘ […] [So] entdeckte ich, daß der Begriff der Grenze geeignet ist, Symbol für meine ganze persönliche und geistige Entwicklung zu sein. Fast auf jedem Gebiet war es mein Schicksal, zwischen zwei Möglichkeiten der Existenz zu stehen, in keiner ganz zu Hause zu sein, gegen keine eine endgültige Entscheidung zu treffen. So fruchtbar die Haltung für das Denken war und ist, weil Denken Offenheit für neue Möglichkeiten voraussetzt, so schwierig und gefährlich ist sie vom Leben her, das ständig Entscheidungen und damit Ausschließen von Möglichkeiten fordert. Aus diesen Anlagen und diesen Spannungen ergaben sich Schicksal und Aufgabe zugleich.30
Abstrakt formuliert markiert eine Grenze einen Gegensatz oder eine Unterscheidung. Tillich geht so damit um, dass er nicht das eine gegen das andere ausschließt, sondern sich bewusst auf die Schwelle stellt, um beide Möglichkeiten, beide Seiten der Grenze oder der Unterscheidung im Auge zu behalten, um sich auch intellektuell nicht notwendig für eine der beiden Seiten entscheiden zu müssen. Dabei sieht er deutlich, dass im Leben nicht funktionieren kann, was intellektuell sehr wohl möglich ist. Genau das trifft ja für die Emigration zu, die in der Schrift von 1930 noch gar nicht im Blick sein kann. Wer sich aber 1936 für die neue Heimat USA entschied, votierte damit gegen die bisherige Heimat Deutschland. Doch vorläufig hat Tillich andere Grenzen im Blick: zwischen Stadt und Land, zwischen sozialen Klassen, zwischen Wirklichkeit und Fantasie, zwischen Theorie und Praxis, Autonomie und Heteronomie, Kirche und Gesellschaft, Sakramentalität und Prophetie, Theologie und Philosophie, zwischen manifester und latenter Kirche, Religion und Kultur, Luthertum und Sozialismus, Idealismus und Marxismus und schließlich, offensichtlich mit Bedacht an das Ende gesetzt: Heimat und Fremde.31 Diese Aufzählung mag beliebig und willkürlich wirken, dennoch entnimmt Tillich in seiner Selbstdarstellung diesen Entgegen- und Grenzsetzungen eine Reihe von Grundentscheidungen.
30Tillich (1936, S. 13). Zur Interpretation der Grenz-Schrift vgl. auch Graf (2011, S. 368–375). 31Tillich (1936, S. 13–54).
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Eine wichtige politische Grundentscheidung stellt die Option für den (religiösen) Sozialismus32 dar, die Tillich allerdings im Blick auf seine amerikanischen Lebenserfahrungen modifizieren sollte. Schon in der Schrift von 1936 sprach er von einem „gläubigen Realismus“33. Ihm stellt er im Gegenüber von Theorie und Praxis eine eindeutige Option für die Theorie34 an die Seite. Von Interesse sind zwei Stellen, an denen Tillich etwas von der Grenzmetaphorik abzurücken scheint. Zum einen kritisiert er Goethe35, dessen Werk er als aus der Mitte, nicht aus der Grenze beschrieben, beurteilt. Dieses Urteil nimmt er aber sofort selbst zurück und schiebt es auf jugendliche Unkenntnis, deren Revision er bei einer erneuten Lektüre Goethes, mit der Lebenserfahrung des älteren Lesers im Rücken, in Angriff nehmen will. Zum anderen konzediert Tillich, dass die evangelische Kirche nicht ausschließlich als Grenzerfahrung beschrieben werden kann: „Kirchliche Wirksamkeit des persönlichen religiösen Lebens, ja, das prophetische Wort selbst setzen ein sakramentales Fundament voraus, eine Fülle, von der sie zehren. Das Leben kann nicht nur an seiner eigenen Grenze, es muß auch in seiner Mitte, in seiner Fülle stehen. Das kritische Prinzip, der protestantische Protest ist notwendig, aber er ist nicht konstitutiv.“36 In Amerika wird Tillich zu diesem Zeitpunkt als Barthianer gesehen, während er in Deutschland als „radikaler Theologe“ galt. Aber von Barth hat er sich trotz der Gemeinsamkeiten der dialektischen Theologie entfernt, und Tillich kritisiert deutlich das, was er für den Barthschen Supranaturalismus hält.37 Grenzüberschreitungen waren für Tillich auch die vielen Wechsel zwischen theologischen und philosophischen Lehrstühlen und Fakultäten. Sowohl in der Kirche als auch an der Universität verfolgt er – laut seiner Selbstdarstellung – ein öffnendes Programm, das konsequent gegen alle Formen der Verbarrikadierung und Abschottung gerichtet ist. Er entdeckt die theologische Dimension in der Religionsphilosophie. Er wendet sich den „außerkirchlichen gebildeten Schichten“ zu, zwar erst sehr spät, aber er tut das dann konsequent in der Form der „Apologetik“, der „Verantwortung gegenüber einem Angreifer vor einer gemein-
32Tillich
(1936, S. 18). (1936, S. 21). 34Tillich (1936, S. 22). 35Tillich (1936, S. 20). Zu Goethes Verhältnis zur Religion vgl. Vögele (2014). 36Tillich (1936, S. 28). 37Tillich (1936, S. 33). 33Tillich
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sam anerkannten Instanz“38. Er entdeckt Glauben und Theologie auch außerhalb der Kirche und spricht darum vom Grenzbegriff der „latente[n] Kirche“: „Wo immer im Denken und Handeln die menschliche Existenz selbst in Frage gestellt und damit transzendiert wird, wo immer unbedingter Sinn durch bedingte Sinngebung hindurchschwingt, da ist Kultur religiös.“39 Für diesen Zusammenhang entscheidend ist bei Tillich die Grenze in Gestalt des Gegensatzes zwischen Heimat und Fremde. Die Emigration in die USA bezeichnet er als „Schicksal“, über das er nicht entscheiden konnte, und als „Freiheit“, die er nutzte, um sich der weiteren Repression durch die Nationalsozialisten zu entziehen. „Die Grenze zwischen Heimat und Fremde ist nicht nur die äußere Grenze, die Natur und Geschichte ziehen, es ist zugleich die Grenze zwischen zwei inneren Mächten, zwei Möglichkeiten menschlicher Existenz.“40 Genau an dieser Stelle folgt auch der erneute Verweis auf Abraham (Gen 12), der im hohen Alter nochmals aus der Heimat aufbrach. Auch für die Emigrationsentscheidung Tillichs gilt: Die Option für das neue Land, die USA, bedeutet keine Ablehnung der alten Heimat Deutschland. Deswegen hat Tillich auch nach dem Zweiten Weltkrieg, im Gegensatz zu anderen Emigranten, nicht gezögert, für eine Reihe von Reisen und längeren Aufenthalten nach Deutschland zurückzukehren. Tillich war dankbar für die Möglichkeit, in den USA leben zu können und dort zu lehren. In der Schrift über die Grenze gibt er diesem biografischen Detail eine theologische Deutung: Ich empfinde es dankbar, daß auf der Grenze des neuen Kontinentes […] ein Ideal sichtbar wird, das dem Bild der einen Menschheit ähnlicher ist als das tragisch sich zerreißende Europa: eine Nation, die in sich Vertreter aller Nationen und Rassen als Bürger vereint. Obgleich auch hier die Distanz der Wirklichkeit vom Ideal unendlich ist und das Bild oft tiefe Schatten zeigt, so ist es doch wie eine Weissagung auf jene höchste Möglichkeit der Geschichte, die ‚Menschheit‘ heißt und die selbst ein Hinweis ist auf das, was jenseits der Geschichte liegt, das Reich Gottes. In dieser höchsten Möglichkeit wäre die Grenze von Heimat und Fremde keine Grenze mehr.41
Am Ende der knappen autobiografischen Schrift stellt Tillich so etwas wie eine Theorie der Grenze auf:
38Tillich
(1936, S. 38), Danz und Schüßler (2008). (1936, S. 42). 40Tillich (1936, S. 54). 41Tillich (1936, S. 56 f.). 39Tillich
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Was aber erschienen ist, zeigte sich von der Seite, an der es mit einer anderen Möglichkeit verknüpft ist, in Gegensatz und Zugehörigkeit zugleich. Das ist das Dialektische der Existenz, daß jede ihrer Möglichkeiten durch sich selbst zu ihrer Grenze und über die Grenze hinaus zu ihrem Begrenzenden treibt. An vielen Grenzen stehen, heißt in vielerlei Formen die Bewegtheit, Ungesichertheit und innere Begrenztheit der Existenz zu erfahren und zu dem Ruhenden, Sicheren und Erfüllten, das auch zu ihr gehört, nicht gelangen zu können. Das gilt vom Leben wie vom Denken und gibt den hier angedeuteten Erfahrungen und Ideen etwas Fragmentarisches, Tastendes, Ungesichertes. […] Aber ob erfüllt oder nicht erfüllt, es gibt eine Grenze menschlichen Tuns, die nicht mehr Grenze zwischen zwei Möglichkeiten ist, sondern Begrenzung durch das, was jenseits jeder menschlichen Möglichkeit liegt: das Gute und die Wahrheit selbst. Vor ihr ist auch unsere Mitte nur Grenze und unser Vollendetes nur Bruchstück.42
In dieser Schlüsselpassage wird in Umrissen eine alltagsethische Theorie der Lebensführung43 sichtbar, die für den deutschen, den vor-amerikanischen Tillich, den Tillich der Emigration und für den amerikanischen Tillich prägend war. Diese lässt sich in sieben Punkten beschreiben: • Leben ist dadurch geprägt, Entscheidungen zwischen mehreren Möglichkeiten treffen zu müssen. Die unterschiedlichen Möglichkeiten sind miteinander verknüpft. Um diese zu überblicken, stellt sich die entscheidende Person auf die Grenze, um beide Bereiche durchschauen und überdenken zu können. • Wer auf der Grenze steht, entscheidet in der Regel nicht zwischen einer vollständig guten und einer vollständig schlechten Position. Es kann höchstens darum gehen, Vor- und Nachteile, die auf beiden Seiten vorhanden sind, gegeneinander abzuwägen. Wer sich für das eine entscheidend, nimmt das Fehlen der Vorteile des anderen in Kauf und umgekehrt. Das nennt Tillich das „Dialektische der Existenz“. • Solche notwendigen Entscheidungen verunsichern diejenige Person, die vor der Entscheidung steht. Das bedeutet Unruhe, Nervosität und die Einsicht, dass die eigenen Möglichkeiten nicht unbegrenzt sind. • Das ist in der Theorie nicht anders als in Leben und Alltag. • Das Leben muss darum in seiner Vorläufigkeit, Begrenzung und Fragmenthaftigkeit angenommen und akzeptiert werden.
42Tillich 43Zu
(1936, S. 57). Fragen der Lebensführung und Alltagsethik vgl. Vögele (2007).
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• Gewissheit in diesem fragmenthaften Leben kann nur finden, wer sich in Kultur oder Kirche auf ein Absolutes einlässt, das Tillich als Gott bzw. in seiner Systematischen Theologie als die „Tiefe des Seins“ beschreiben sollte. • In diese existenzialtheologische Grenztheorie, die bei Tillich weder „deutsch“ noch „amerikanisch“ ist, ordnet er seine Emigrations- und Exilerfahrungen ein.
6 Die Grenze II: Zweideutigkeit und Existenz Merkwürdigerweise kommt der Begriff der Grenze in Tillichs amerikanischem Hauptwerk, der Systematischen Theologie, nicht vor. Das kann aber damit zusammenhängen, dass Tillich sich selbst im Blick auf theoretische Konsistenz und Konsequenz stets einen gewissen Hang zum Essayistischen erlaubte, was aber hier nicht weiter bedacht werden soll. Wenn Tillich in der Systematischen Theologie den Begriff der Grenze nicht an prominenter Stelle verwendet, dann stellt sich die Frage, was an seiner Stelle zu stehen kommt. Denn die Systematische Theologie ist weiter von denselben theologischen Grundentscheidungen geprägt wie die autobiografische Schrift „Auf der Grenze“. Zunächst einmal kommt die Grenze als Pol der „Situation“ in den Blick. „Theologie steht in der Spannung zwischen zwei Polen: der ewigen Wahrheit ihres Fundamentes und der Zeitsituation, in der diese Wahrheit aufgenommen werden soll.“44 Damit ist nicht der empirische, soziologische oder psychologische Zustand eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen gemeint, sondern die „die Summe der wissenschaftlichen und künstlerischen, der wirtschaftlichen, politischen und sittlichen Formen, in denen diese Gruppe das Selbstverständnis ihrer Existenz zum Ausdruck bringt.“45 Dieser Situation ist der Mensch nicht passiv – wie bei einem Schicksal – ausgesetzt, sondern Tillich meint damit das „schöpferische Selbstverständnis der Existenz“ oder seine „schöpferische Selbstbesinnung“ 46. Die Theologie kann sich aus dieser „Situation“ nicht zurückziehen. „Der Pol, der Situation heißt, kann in der Theologie nicht ohne gefährliche Konsequenzen vernachlässigt werden. Nur radikale Teilnahme an der Situation, an der Existenzdeutung des modernen Menschen, kann das gegenwärtige Schwanken der kerygmatischen Theologie zwischen prophetischer Freiheit und
44Tillich
(1958a, S. 9). (1958a, S. 10). 46Tillich (1958a, S. 10). 45Tillich
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orthodoxer Fixierung überbrücken.“47 Weil auch die Theologen in einer bestimmten (Lebens-)Situation stehen, können sie von ihr – wie die kerygmatischen Barthianer und Bultmannianer – nicht abstrahieren. Theologie antwortet nicht nur auf Offenbarung und Ewigkeit, sondern auch auf die Situation. Deswegen spricht Tillich von „apologetische[r]“ im Sinne von antwortender Theologie: „Sie antwortet auf Fragen, die die Situation stellt, und sie antwortet in der Macht der ewigen Botschaft und mit den begrifflichen Mitteln, die die Situation liefert, um deren Fragen es sich handelt.“48 Und damit ist ein Fundament gelegt für die berühmte Methode der Korrelation.49 „Das folgende System ist ein Versuch, mit Hilfe der ‚Methode der Korrelation‘ Botschaft und Situation zu vereinigen. Es sucht die Fragen, die in der Situation enthalten sind, mit den Antworten, die in der Botschaft enthalten sind, in Korrelation zu bringen. Es leitet die Antworten nicht aus den Fragen ab, noch gibt es Antworten, die nichts mit der Frage zu tun haben. Es setzt Fragen und Antworten, Situation und Botschaft, menschliche Existenz und göttliche Selbstoffenbarung in Korrelation.“50 Damit ist für Tillich ein theologischer Zirkel beschrieben.51 Im zweiten Band der Systematischen Theologie wird das Sein in der Situation als Existenz beschrieben: „Existieren kann bedeuten: herausstehen aus dem absoluten Nichtsein und doch in ihm verbleiben; dann bedeutet es endliches Sein, die Einheit von Sein und Nichtsein. Und Existieren kann bedeuten: herausstehen aus dem relativen Nichtsein und doch in ihm verbleiben; dann bedeutet es aktuelles Sein. Ob wir die eine oder die andere Bedeutung von Nichtsein meinen – existieren heißt stets: herausstehen aus dem Nichtsein.“52 Diese existenzielle Situation des Menschen ist vor allem charakterisiert durch Entfremdung. Der Mensch hat sich von seiner „essentiellen Natur“53 entfremdet. Existenzialismus ist darum für Tillich „Analyse der menschlichen Situation“54, die stets ein religiöses Element in sich trägt.
47Tillich
(1958a, S. 12). (1958a, S. 12). 49Tillich kann das gelegentlich mit ein wenig unsanft und ‚kerygmatisch‘ klingenden Worten beschreiben (Tillich 1958a, S. 13): „Dann muß die Botschaft den Menschen in ihrer jeweiligen Situation zugeschleudert werden wie ein Stein.“ 50Tillich (1958a, S. 15). 51Tillich (1958a, S. 15 ff.). 52Tillich (1958b, S. 27). 53Tillich (1958b, S. 31). 54Tillich (1958b, S. 32). 48Tillich
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Im dritten Band der Systematischen Theologie beschreibt Tillich schließlich das Leben mit den zwei Qualitäten essenziell und existenziell.55 „Ich gebrauche das Wort ‚Leben‘ als Ausdruck für eine ‚Mischung‘ von essentiellen und existentiellen Strukturen. Philosophiegeschichtlich könnte man sagen, daß ich die aristotelische Unterscheidung von dynamis (Potentialität) und energeia (Aktualität) existentialistisch gebrauche.“56 Weiter heißt es: „Der ontologische Lebensbegriff verlangt zwei Betrachtungsweisen, die ‚essentialistische‘ und die ‚existentialistische‘. Die erste handelt von der Einheit und Mannigfaltigkeit des Lebens in seiner essenziellen Struktur. Sie beschreibt das, was man die ‚vieldimensionale Einheit des Lebens‘ nennen könnte. Nur wenn diese Einheit und die Beziehung der Dimensionen und Bereiche verstanden werden, können wir die existenziellen Zweideutigkeiten aller Lebensprozesse richtig analysieren und die Frage nach unzweideutigem oder ewigem Leben angemessen stellen.“57 Diese wenigen Passagen und Bemerkungen können nicht eine umfassende Analyse dieses großen Werkes ersetzen. Dennoch markieren sie eine Grundentscheidung Tillichs, nämlich Theologie situations- und lebensbezogen zu betreiben. • Für Tillich beschäftigt sich der Theologe nicht mit ewigen Wahrheiten und Dogmen, sondern Theologie ist lebens-, kultur- und situationsbezogen. • Sie beschäftigt sich mit der Existenz des Menschen, das heißt seiner Anthropologie, seinen Handlungs- und Denkmöglichkeiten und seiner Selbstdeutung. • Die Existenz des Menschen ist gekennzeichnet durch Entfremdung und Zweideutigkeit. Und im Begriff der Zweideutigkeit klingt die alte Grenz-Metaphorik, derer sich Tillich in den ersten Jahren seines amerikanischen Exils so ausführlich bedient hatte, wieder an. • Dennoch darf die Systematische Theologie nicht als Situationsanalyse missverstanden werden. Vielmehr versucht Tillich, in diesem Werk den Ort der Theologie in der Gegebenheit der Existenz zu bestimmen. Die Reflexion über die Kontextualisierung dieser Theologie in einer bestimmten historischen Phase (Nachkriegszeit, beginnender Kalter Krieg, re-education, Marshall-Plan) wird demgegenüber nicht eigens thematisiert. Man kann darin einen blinden Fleck in Tillichs später Theologie sehen.
55Tillich
(1966, S. 21 ff.). (1966, S. 22). 57Tillich (1966, S. 22). 56Tillich
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7 Die Grenze III: Frieden Genau diese Verbindung zwischen Grenz-Metaphorik und theologischer Existenzial-Analyse leistet aber die Rede58, mit der sich Paul Tillich für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1962 bedankte. Zunächst verweist der Theologe auf die alte Grenz-Schrift aus dem Jahr 1936.59 Die folgenden beiden Passagen erinnern an den Schluss dieser alten Grenz-Schrift: Das Dasein auf der Grenze, die Grenzsituation, ist voller Spannung und Bewegung. Sie ist in Wirklichkeit kein Stehen, sondern ein Überschreiten und Zurückkehren, ein Wieder-Zurückkehren und Wieder-Überschreiten, ein Hin und Her, dessen Ziel es ist, ein Drittes jenseits der begrenzten Gebiete zu schaffen, etwas, auf dem man für eine Zeit stehen kann, ohne in einem fest Begrenzten eingeschlossen zu sein. Die Situation der Grenze ist noch nicht das, was man Frieden nennen könnte; und doch ist sie der Durchgang, den jeder einzelne gehen muß und den die Völker gehen müssen, um zum Frieden zu gelangen. Denn der Friede ist das Stehen im Schreiten.60
Hier klingt zwar deutlich die politische Dimension der Grenze an, aber die folgende Passage macht deutlich, dass am Grunde von Tillichs Denken ein existenzielles Verständnis von Grenze steht: Jeder Mensch wird dann und wann an die Grenze seines Seins geführt. Er sieht das andere jenseits seiner selbst, es erscheint ihm als eigene Möglichkeit und erweckt in ihm die Angst des Möglichen. Er sieht im Spiegel des anderen seine eigene Beschränktheit, und er erschrickt; denn diese Beschränktheit war zugleich seine Sicherheit, und sie ist bedroht. Die Angst des Möglichen zieht ihn zurück in seine begrenzte Wirklichkeit und deren momentane Ruhe. Doch die Situation, in die er zurückkehren will, ist nicht mehr dieselbe. Seine Erfahrung des Möglichen und sein Versagen ihr gegenüber hinterläßt einen Stachel, der nicht zu beseitigen ist, der nur noch durch Verdrängung aus dem Bewußtsein entfernt werden kann.61
Genau diese existenzielle Analyse der Grenze wendet Tillich nun auf die Kirchen und auf das Ost-West-Verhältnis an. Für Tillich gilt: Die Kirchen mussten sich auf die eigene Tradition zurückbesinnen, um sich gegen den Zugriff
58Tillich
(1962). (1962, S. 7). 60Tillich (1962, S. 7). 61Tillich (1962, S. 8). 59Tillich
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der N ationalsozialisten zu verteidigen.62 Ostblock und westliche Welt sind nicht durch eine Grenze getrennt, sondern durch eine Mauer. Tillich fordert ein Überschreiten auch dieser hermetisch verschlossenen, politischen Grenzen. Aber dann wendet er sich doch wieder existentiellen Überlegungen zu: „Aber Grenze ist nicht nur das, was überschritten, sie ist auch das, was verwirklicht werden muß. Grenze gehört zur Form, und Form macht jedes Ding zu dem, was es ist. Die Grenze zwischen Mensch und Tier macht es möglich, vom Menschen Dinge zu fordern und zu erwarten, die man vom Tier weder fordern noch erwarten kann. […] De-finition ist Ab-grenzung, und ohne sie gäbe es keine Möglichkeit, das Wirkliche zu greifen oder zu erkennen.“63 In der Folge unterscheidet Tillich beim Menschen zwischen einer Wesens- und einer Wirklichkeitsgrenze. Die Grenze des Wesens begrenzt die Möglichkeiten des Menschen, die Grenze der Wirklichkeit begrenzt sein aktuelles Leben, seine Situation. „Denn Wesensgrenze und Wirklichkeitsgrenze decken sich nicht. Die Wesensgrenze steht fordernd, verurteilend, zielgebend über der Wirklichkeitsgrenze.“64 In dieser Dankesrede vollzieht Tillich am Ende eine theologische Wendung, die er in der alten Schrift von 1936 eher angedeutet hatte: Das führt zu dem tiefsten und entscheidenden der Grenzprobleme: Alles Seiende ist einer gemeinsamen Grenze unterworfen, der Endlichkeit. ‚Finis‘ im Lateinischen heißt Grenze und Ende. Die letzte Grenze steht hinter jeder anderen und gibt jeder anderen die Farbe der Vergänglichkeit. An ihr stehen wir immer, aber niemand kann sie überschreiten. Es gibt nur eine Haltung ihr gegenüber, nämlich die des Hinnehmens. […] Aber nichts ist schwerer, als die letzte, unüberschreitbare Grenze hinzunehmen. Alles Endliche will sich ins Unendliche erweitern.65
Aber dieses genau ist unmöglich: Kein Endliches kann seine Endlichkeit zum Unendlichen hin überschreiten. Aber etwas anderes ist möglich: Das Unendliche kann von sich aus seine Grenze zum Endlichen überschreiten. Es wäre nicht das Unendliche, wenn das Endliche seine Grenze wäre. Von diesem Überschreiten zeugt alle Religion […]. Es sind die heilenden Kräfte aus dem Unbegrenzten, Grenze-Setzenden, Gründenden und Führenden
62Tillich
(1962, S. 8). (1962, S. 9). 64Tillich (1962, S. 10). 65Tillich (1962, S. 11). 63Tillich
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alles Seins, die Frieden möglich machen. Sie sind es, die aus der Enge heraus zum Überschreiten der Grenze führen.66
Das Besondere der Friedenspreisrede, gerade auch im Gegenüber dem beinahe 30 Jahre älteren biografischen Grenztext, kann in sieben Punkten zusammengefasst werden: • Die Grenzsituation wird nicht als statisch, sondern als beweglich und dynamisch beschrieben. Es geht Tillich nicht um das Anerkennen feststehender Grenzen, sondern um ihre Überschreitung. • Die Ost-West-Konfrontation und der Kalte Krieg haben die Grenzerfahrung im Vergleich zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nochmals verändert und politisch erweitert. • Mit Grenz-Erfahrungen sind auch die Kirchen konfrontiert. Zur Zeit des Nationalsozialismus, so konzediert Tillich, mussten sie die Tradition bemühen, um die Deutschen Christen abzuwehren, aber nach dem Krieg hat sich die Grenzsituation verändert, und darauf müssen auch die Kirchen reagieren, indem sie sich öffnen und Grenzen überschreiten. • Was neu ist gegenüber dem alten Text „Auf der Grenze“, ist das ontologische Argument, dass Grenzen nicht nur dazu da sind, überschritten und/oder aufgehoben zu werden. Grenzen geben Menschen und sozialen Gruppen, Lebewesen und Dingen eine bestimmte Form. Darum sind sie notwendig. Ohne Abgrenzung gibt es kein Leben. • Anthropologisch unterscheidet Tillich dabei zwischen Wesensgrenze und Wirklichkeitsgrenze. Nach der Wesensgrenze fragt, wer die Grenzen menschlicher Möglichkeiten sondiert (beim Einzelnen und bei der Gattung). Nach der Wirklichkeitsgrenze fragt, wer Handlungsmöglichkeiten in der aktuellen Situation reflektiert. • Die wichtigste anthropologische (und schöpfungstheologische) Grenze ist die Endlichkeit, die Begrenzung des Lebens. • Endliches wird durch das Unendliche begrenzt, und gerade darum muss die Anthropologie in Richtung auf Religion und Theologie geöffnet werden. Religion ist sozusagen der Umgang mit der Grenze (des eigenen Lebens) zum Unendlichen.
66Tillich
(1962, S. 12).
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8 Biografie und Universalismus In den letzten drei Abschnitten ist deutlich geworden, dass der Begriff der Grenze für Tillich eine zentrale Deutungskategorie auf mehreren Ebenen darstellt: Er dient zur Interpretation von Tillichs eigener Biografie und Lebenserfahrung, insbesondere zur Interpretation der Emigration von Frankfurt nach New York. Auf der anderen Seite ist er aber auch ein zentraler Begriff der Theologie Tillichs, auch wenn der Theologe ihn in seinem späten Hauptwerk, der Systematischen Theologie nur noch am Rande rezipiert. Dennoch zeigt sich gerade bei Tillich und gerade in seinem Begriff der Grenze ein fundamentaler Zusammenhang zwischen Theologie und Biografie, der aber von der Tillich-Forschung bisher m. E. nicht richtig gewürdigt worden ist.67 Eine der wenigen Deutungen findet sich bei Sturm und Schüßler, die Tillichs Grenz-Begriff so auslegen: „Denn die Grenze ist ja einerseits eine Grenzlinie, die begrenzt, d. h. sie trennt. Sie ist aber auch die Linie, die verbindet, die Gegensätze und Widersprüche zusammenführt. Tillich sieht immer auch die Spannungen und Gegensätze, aber das Entscheidende ist für ihn die unter der Oberfläche verborgene Synthese, also nicht das Entweder-Oder Kierkegaards.“68 Diese Interpretation stellt offensichtlich auf die frühe Beschäftigung Tillichs mit der Philosophie Schellings und mit seiner Ablehnung der Dialektischen Theologie ab, sofern sie sich auf Kierkegaards Entweder-Oder bezog. So richtig diese Feststellungen sein mögen, so schöpfen sie dennoch den theologischen Gehalt des Begriffs der Grenze nicht völlig aus, obwohl ein Philosoph wie Max Horkheimer diesen theologischen Gehalt durchaus bemerkt hat.69 Man kann gegenüber der Verwendung des Begriffs der Grenze sogar einwenden, dass sich dieser Begriff in Vieldeutigkeit verliert.
67Haigis geht so weit, genau diese Verbindung von Biografie und Theologie Tillich zum Vorwurf zu machen: „Tillichs Idee einer Theologie der Kultur erweist sich mehr und mehr als der auf die Situation der 20er Jahre bezogene Versuch, Theologie im Horizont zeitgeschichtlicher Bezugnahmen zu treiben und darüber auf eine systematische Weise Rechenschaft zu geben.“ (1998, S. 177) Vgl. zu den Problemen der Tillich-Biografie und der von seinen Schülern betriebenen Hagiografien auch Graf (2011, S. 346). 68Sturm und Schüßler (2007, S. 18). 69Horkheimer in Tillich (1980, S. 18 f.). „Ich habe den Begriff der Grenze immer so verstanden, daß der Denkende, der philosophisch Denkende, die Wirklichkeit als eine relative sehen soll, das heißt, daß alle unsere Urteile, die wir über die Wirklichkeit fällen, nicht absolut sind, und daß die Welt, die relativ ist, ihrem Sinne nach ein Absolutes voraussetzt, das wir jedoch nicht zu erkennen vermögen. So habe ich den Begriff der Grenze verstanden.“.
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Dennoch muss diese Interpretation Sturms und Schüßlers nach den hier vorgestellten Erläuterungen ergänzt werden durch den Zusammenhang zwischen Biografie und Theologie, zwischen Lebensführung und Alltagsethik. Friedrich Wilhelm Graf konstatiert, dass Tillich selbst dieses Verhältnis von Theologie und Biografie sehr wohl bewusst war: Der Theologe versuchte, auf das Bild, das die Öffentlichkeit von ihm besaß, Einfluss zu nehmen.70 Und es erscheint an diesem Punkt der Überlegungen auch eine Reflexion zum Verhältnis von Raum und Zeit von Bedeutung. Die Grenze ist zunächst eine Metapher des Raumes, während Zeit bei Tillich im Begriff des Kairos reflektiert wird. Zum Begriff des Kairos hat sich Tillich in späteren Jahren vergleichsweise skeptisch geäußert.71 1959 war für ihn zentral die Unterscheidung zwischen dem einen heilsgeschichtlichen Kairos des Lebens und Sterbens des Jesus von Nazareth sowie den anderen, den vielen kleineren kairoi, den wichtigen historischen Augenblicken, in denen biografisch, theologisch oder ekklesiologisch eine besondere Reaktion gefordert war.72 Kairos wird so doppelt verstanden, zum einen als Kategorie der Heilsgeschichte, zum anderen als Kategorie des Historischen und/ oder Biografischen. Jedes bewußte Einzelleben kennt die ‚großen Augenblicke‘, in denen das Ewige in den normalen Lebensfluß einbricht, erschütternd und wandelnd. Jedes Verstehen des geschichtlichen Prozesses setzt Einschnitte voraus, die es möglich machen, den historischen Perioden Namen zu geben. Wo kein Unterschied ist, da gibt es nicht nur eine nachträgliche Konstruktion, es ist eine erlebte Realität. Es ist eine Tatsache, daß sich Kairos-Erlebnisse überall finden und daß sie geschichtsgestaltende Kraft hatten, auch wenn ihre unmittelbaren Erwartungen sich nicht erfüllten.73
Dieser Kairos ist nicht objektiv feststellbar, sondern der einzelne muss ihn bemerken. Er bemerkt ihn daran, dass er so etwas wie die Notwendigkeit empfindet,
70Graf (2011, S. 348): „Wie kaum ein anderer Intellektueller seiner Generation arbeitete Tillich äußerst präzise und hart an seinen Selbstbildern, die sich in immer neuen autobiographischen Memorialtexten und lebensgeschichtlichen Reflexionen niederschlugen.“ 71Tillich (1959, S. 310–315). 72Tillich (1959, S. 311): „In der ‚Zeitenfülle‘ bricht das Ewige in das Zeitliche, erschüttert und verwandelt es. Dieser vom prophetisch-geschichtlichen Denken angeeignete Begriff des Kairos schien unserm Gefühl für den historischen Augenblick, den wir erlebten, angemessen zu sein, und wir wandten ihn auf unsere und analoge Momente der Geschichte an. Wir sprachen von kairoi neben und unter dem zentralen Kairos.“ 73Tillich (1959, S. 311).
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seine Existenz in ihrem Fundament zu verändern und neu auszurichten, wie es etwa nach einer Emigration der Fall ist. Emigration besitzt jedoch nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine räumliche Dimension. Raum ist eine Kategorie, die in der Theologie lange vernachlässigt wurde, bis sie in den vergangenen Jahren vor allem in der Praktischen Theologie im Nachdenken über Kirchenraum und über die an Foucault anschließenden Überlegungen zur Heterotopie der Kirche in der Stadt eine gewisse Renaissance erfuhr.74 Soweit ich sehe, haben all diese Überlegungen nicht auf Paul Tillich Bezug genommen. Neben der Praktischen Theologie haben auch die Geschichtswissenschaften in den letzten Jahrzehnten eine räumliche, topische Wende vollzogen.75 Prima facie erscheint der Begriff der Grenze als ein räumlicher Begriff. Doch eine Rede Tillichs bei einer Hauseinweihung in Potsdam aus dem Jahr 1933 zeigt, dass sich bei Tillich Raum und Zeit durchaus verbinden können. Tillich setzt ein mit Reflexionen über den Raum: „Raum ist kein Ding, auch kein Behälter, in dem Dinge sind, sondern Raum ist die Art des Lebendigen, zur Existenz zu kommen. Raum ist Raummächtigkeit, Macht des Lebendigen, sich im Raum zu schaffen. Es gibt keinen Raum an sich, sondern es gibt so viele Arten von Raum, wie es Arten des Lebendigen gibt, sich Raum zu schaffen, und d. h., wie es Arten des Lebens gibt, Wirklichkeit zu werden. An seiner Räumlichkeit ist alles Lebendige, ist auch das Menschliche erkennbar.“76 Tillich spricht danach von der Bodenhaftigkeit und Lokalität des Raumes, sogar von Hausgöttern, die er als „Götter des Bodens“ versteht. Dann fährt er fort: „Aber die raumschaffende Kraft des Menschen geht auch über diese Grenzen hinaus und sucht die Erde umzuschaffen zu dem einheitlichen Haus der Menschheit, und löst dadurch los von jedem besonderen Boden. Damit aber wird menschliches Raumschaffen zum Schaffen immer wachsender Lebensräume, es wird zum Schaffen von Raum im Fortschritt der Zeit. Und die Zeit wird mächtig im Raum.“77 Und wenig später verbindet Tillich die beiden Kategorien von Raum und Zeit: „Im Menschen endlich wird die Zeit unendlich wie der Raum. Der Mensch nimmt Zukunft voraus in unbegrenzter Ferne. Die kommenden Jahrmillionen bedeuten für ihn ebenso wenig ein Ende wie die vergangenen Jahrmilli-
74Vgl.
exemplarisch Failing (1997) und Beyer (2015). vor allem Schlögl (2003). Zu Lebzeiten von Tillich wäre an das merkwürdige Buch von Schmitt (1944) zu denken, wobei davon zu auszugehen ist, dass Tillich diesen Essay nicht kannte und selbst im Fall, dass er es gekannt hätte, nicht damit übereingestimmt hätte. 76Tillich (1933, S. 329). 77Tillich (1933, S. 331). 75Dazu
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onen einen Anfang. Er geht über jede Gestaltung, auch über jeden gestaltenden Raum hinaus, auf etwas Neues zu; und im Neuen ist die Grenze des alten Raumes und der alten Gestaltung durchbrochen.“78 Beides, Raum wie Zeit, sind für Tillich miteinander verbunden, müssen aber auch auseinandergehalten werden: „Freilich: die Zeit kann den Raum nicht aufheben. Die Zeit gewinnt Gegenwart nur im Raum, Gegenwart der raumnahe Modus der Zeit. In der Gegenwart, und nur in der Gegenwart, einen sich Raum und Zeit. Wer Raum hat, hat Gegenwart; wer noch keinen gefunden hat, noch ohne Lebensraum ist, lebt in die Zukunft hinein, um aus ihr heraus sich Gegenwart zu schaffen.“79 Nicht zufällig bezieht sich Tillich schon in dieser Rede auf Abraham,80 den er als Grenzgänger versteht. Zuletzt nutzt er die Kategorien von Raum und Zeit, um die aktuelle Zeitsituation zu deuten: „Es ist, als ob die Vorstöße, die die Menschheit in Richtung auf einen einheitlichen Raum gemacht hat, die Dämonen des Bodens gereizt und noch einmal zu höchster Kraftentfaltung getrieben hätte. So sehen wir heute den Kampf von Raum und Zeit, nicht ihre Einheit in erfüllter Gegenwart.“81 Was Tillich hier entwickelt, ist keine Ontologie von Zeit und Raum, sondern ihre aktuelle Anwendung auf den Anlass der Einweihung eines neu gebauten Hauses. Gleiches hat sich auch bei der Schrift „Auf der Grenze“ und bei der viel späteren Friedenspreisrede gezeigt: Situationsdeutung triumphiert über Substanzontologie. Wie auch immer man Tillichs Denken charakterisieren mag, seine theologische Anthropologie ist bezogen auf aktuelle Anlässe und zeitgeschichtlich konturiert. Je nach Anlass setzt Tillich die theologischen Akzente anders. Das gilt auch für die frühe Raumschrift, insbesondere in der zuletzt zitierten Passage.
9 Die Mauer muss immer noch weg Die hier vorgetragenen Überlegungen können in ihrer Skizzenhaftigkeit keine umfassende Untersuchung der Thematik der Grenze in Tillichs Werk ersetzen. Die Skizze hat aber hoffentlich gezeigt, dass eine solche Untersuchung erstaunliche Ergebnisse zutage fördern und die bleibende Aktualität eines Theologen
78Tillich
(1933, S. 331). (1933, S. 331). 80Tillich (1933, S. 332). 81Tillich (1933, S. 332). 79Tillich
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z eigen würde, der früher als viele andere das Gespräch mit Philosophie, Kultur und Literatur gesucht hat. Eine umfassende Untersuchung des Begriffs der Grenze würde auch genauere systematische Konturen des Begriffs der Grenze zutage fördern. Aus Tillichs bisherigen Überlegungen ergeben sich in meinen Überlegungen folgende vier Dimensionen. • In der räumlichen Dimension ist die Grenze eine Trenn- oder Unterscheidungslinie. Tillichs Grenzgänger strebt danach, solche Grenzen zu überschreiten, freiwillig oder aus einer Notwendigkeit heraus. Jedenfalls ist das Überschreiten von Grenzen ein Zeichen der Lebendigkeit, der Neugier auf Unbekanntes, der Erweiterung und – selten in theologischer Argumentation – der Abenteuerlust, des Wagnisses und des Mutes. Man könnte genau darin auch den wesentlichen Ertrag von Tillichs biografischem Wechsel von Deutschland in die Vereinigten Staaten erkennen, wenn nicht gerade bei ihm sich solche Überlegungen durch seine theologischen und philosophischen Publikationen der (deutschen) Frühphase schon nahegelegt hätten. • In der zeitlichen Dimension zeigt sich die Überschreitung von Grenzen als die Bereitschaft, Veränderungen ohne Bitterkeit, Verzweiflung und Grübelei zu akzeptieren und sich den Herausforderungen einer jeweils neuen Gegenwart zu stellen. Das gilt insbesondere für die Emigrationsphase Tillichs zwischen 1933 und 1935, als er neben einer neuen Heimat und einer neuen Lehrtätigkeit auch eine neue Sprache lernen musste. Das gilt auch dann, wenn richtig ist, dass Tillich in seinen (offenen) Briefen, Publikationen und Radiovorträgen stets die positiven Seiten dieser Grenzüberschreitung hervorgehoben hat, während er die negativen Seiten nur in einigen wenigen privaten Briefen andeutete. • In der (auto-)biografischen Dimension ist neben dem gerade Gesagten sehr deutlich geworden, dass Tillich sein Leben als eine einzige Folge von Grenzüberschreitungen verstand. • In der anthropologischen Dimension spricht Tillich von der Wesensgrenze der menschlichen Person: Sie ist auf bestimmte Talente, Entwicklungsmöglichkeiten, Fähigkeiten festgelegt, die sich nur innerhalb bestimmter Grenzen erweitern lassen. • In der politischen Dimension spricht Tillich von Wirklichkeitsgrenzen, die dem Handeln des Menschen Schranken der Realität auferlegen. Das Unmögliche kann kein Politiker gestalten. • In der ontologisch-philosophischen Dimension scheint mir das Gegenüber von Überschreiten und Respektieren von Grenzen von besonderer Bedeutung.
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Wer Grenzen nicht mehr überschreitet, der zieht sich in die engen Grenzen des eigenen Selbst oder des eigenen Wirkungsbereichs zurück, und er lernt das Andere seiner Selbst, worin immer dieses bestehen mag, nicht kennen. Wer dagegen jede Grenze um jeden Preis überschreiten muss, der rennt wie von selbst häufiger gegen eine Wand und verletzt sich. • In der theologischen Dimension schließlich erkennt der Mensch mit seinen Grenzen auch zusammen seine Endlichkeit und Sterblichkeit. Aber auch diese Grenze vermag der Mensch zu überschreiten, weil das Endliche auf ein Unendliches bezogen ist, das sich in der Offenbarung durch Jesus Christus mitteilt. Das Unendliche kommt darin auf den endlichen Menschen zu. All diese Dimensionen des Grenzbegriffs lassen sich in einer doppelten Perspektive lesen. In der partikularen Perspektive verweisen sie auf bestimmte biografische Erfahrungen Tillichs, aus denen seine theologischen Überlegungen entstanden sind. In einer theologisch-anthropologischen Perspektive ist Tillich in der Lage, seine Autobiografie zu überschreiten und eine theologische Anthropologie der Grenzüberschreitung zu entwickeln. Vergleicht man diesen Tillichschen Grenzgänger mit dem von Dieter Thomä82 ins Spiel gebrachten puer robustus, dem Störenfried, der die politische Ordnung dadurch voranbringt, dass er von der Schwelle aus Reformen fordert oder Revolutionen anzettelt, so ergeben sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Tillichs Reflexionen über die Grenze und Thomäs Überlegungen über die Schwelle lassen sich durchaus miteinander vergleichen. Von der Schwelle wie von der Grenze lassen sich beide unterschiedenen Bereiche in gleicher Weise beobachten. Aber Thomäs Störenfried ist ein Einzelgänger und Theologe ist er schon gar nicht. Tillichs Grenzgänger ist nicht unbedingt ein Störenfried, schon gar nicht unbedingt Revolutionär. Thomäs Störenfried ist ein besonderer Typus des politischen Akteurs, während Tillichs Grenzgänger eine Prototyp der menschlichen Persönlichkeit ist. Thomä verweist darauf, dass keine geordnete Gesellschaft ohne Störenfriede auskommt. Tillich verweist darauf, dass er Grenzüberschreitungen als universale anthropologische Konstante sieht. Dass solche philosophischen, politischen und theologischen Überlegungen für die Deutung der Gegenwart noch taugen, zeigt der schlichte Blick auf die Nachrichten, in denen regelmäßig vom Bau neuer Mauern (Mexiko-USA), von Flüchtlingsbewegungen (Syrien, Afghanistan, Sudan), von der Festung Europa und von den gefährdeten offenen Grenzen des Schengen-Raums die Rede ist.
82Thomä
(2016).
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Option für die Armen. Beobachtungen zum Weg von Leonardo Boff Klaus P. Fischer
Zusammenfassung
Der brasilianische Franziskaner Leonardo Boff, neben dem Peruaner Gustavo Gutiérrez Hauptvertreter der Lateinamerikanischen Theologie der Befreiung, wurde zwischen 1984 und 1986 weltweit bekannt durch seinen Konflikt mit dem Vatikan in Gestalt Joseph Ratzingers, des Präfekten der Glaubenskongregation und späteren Papstes Benedikt XVI. Vor dem Hintergrund der sozialen Probleme zumal Brasiliens knüpfte Boff am Kirchenverständnis des II. Vatikanischen Konzils an und entwarf eine radikale Kirchenreform „von unten“, die aber von der Glaubenskongregation entschieden verworfen wurde. Die heutige Analyse der damaligen Auseinandersetzung Ratzinger-Boff lässt tiefe Differenzen im Wirklichkeitsverständnis wie in der Glaubensauffassung erkennen, die bis in die jeweilige Persönlichkeitsstruktur reichen. Der ungelöste Konflikt führte Boff zur Ausweitung des Begriffs Befreiung auf die Erde und die gesamte Schöpfung. Vorbild war ihm dafür Franz von Assisi, der im ersten lateinamerikanischen Papst Franziskus einen aktuellen Propheten findet.
Der folgende Beitrag ist eine erheblich erweiterte Fassung des gleichnamigen Artikels, der zuerst in Stimmen der Zeit 12/2013, 806–816, erschien. Eine frühere Arbeit des Vf. über „Mystagogie in der Theologie der Befreiung (Leonardo Boff)“ erschien in Fischer (1986, S. 122–134). K. P. Fischer (*) Heidelberg, Deutschland E-Mail:
[email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Schössler und M. Plathow (Hrsg.), Multipolarität und bipolare Konfrontationen, Transatlantische Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22927-6_8
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1 Einleitung Der großen Öffentlichkeit bekannt wurde der brasilianische Befreiungstheologe, ein Franziskaner, als Kardinal Joseph Ratzinger, damals Präfekt der römischen Kongregation für die Glaubenslehre, ihn 1985 mit einjährigem „Bußschweigen“ belegte. Anlass war seine „streitbare Ekklesiologie“, betitelt „Kirche, Charisma und Macht“ (Boff 1990). Das öffentliche Interesse galt Boff als Anwalt der Armen, zugleich aber – im letzten Jahrzehnt des Ost/West-Konfliktes – der Haltung der römischen Weltkirche zum Sozialismus. Die Auseinandersetzung mit dem marxistisch-leninistischen Sozialismus war mitten in Rom dauerhaft und quasi persönlich anwesend in Gestalt des aus Polen (Mitglied im Warschauer Pakt) stammenden Papstes Johannes Paul II. (Karol Woytiła). Er, der Ratzinger in das Amt berief, unterstützte die polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarnośċ. Ihretwegen hatte das Regime in Polen das Kriegsrecht verhängt. Inmitten dieser Auseinandersetzungen war der populäre, antikommunistisch eingestellte Priester Jerzy Popieluszko, vermutlich mit Wissen der Machthaber, ermordet worden. In Westeuropa interessierte sich die junge Generation für einen (vom Leninismus-Stalinismus) gereinigten Neo-Marxismus. Vor allem aber wogte in den oberen Rängen von Staat und Kirche die Befürchtung, in West- und SüdEuropa könnten sich (nach Albanien, Bulgarien, Jugoslawien) auch bei den Nachbarn (Frankreich, Italien, Griechenland), und in Lateinamerika, animiert vom Beispiel Kuba und vom ‚Heiligenschein’ des Che Guevara, stalinistische oder neomarxistische Regime unter antikirchlichem Vorzeichen etablieren (wie in Chile, Nicaragua). Im Hintergrund lauerte das kommunistische China des Mao Tse Tung. Der Antagonismus der Blöcke entlud sich in „Stellvertreter-Kriegen“. Es war die Epoche der „Dreispaltung des Marxismus“ (Wolfgang Leonhard). Die Weltlage wurde von den Zeitgenossen zeitweise als dermaßen spannungsvoll, ja gefährlich empfunden, dass selbst ‚gute Christen‘ halblaut und ernsthaft den Gedanken erwogen, bei Gefahr, dass „die Russen“ bzw. „die Chinesen“ kämen, das Unerträgliche entweder präventiv durch Einsatz der H-Bombe abzuwenden oder sich ihm, falls nicht aufzuhalten, durch Suizid zu entziehen. Vor diesem Horizont berief der polnische Papst Ratzinger als kompetenten Theologen des Konzils. Nicht weniger bedeutsam war für ihn, dass dieser Theologe selbst aus einem vom Ost/West-Konflikt geprägten, ja geteilten Land kam, also eine weltanschauliche Vor-Orientierung mitbrachte.
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Dieser Kontext spielte im jahrelangen Konflikt um Leonardo Boff eine mit entscheidende Rolle, auch wenn die römischen Vorgänge und offiziellen Verlautbarungen darauf kaum Bezug nahmen und auch Boff selbst, dem Südamerikaner, dieser Hintergrund seiner Kontroverse mit Rom wohl nicht genügend bewusst war.
2 Die „Kirche der Armen“ Der Konflikt um Boff ging über Jahre. Zum Zündstoff gehört die Vorgeschichte, die – immer vor dem weltpolitischen Horizont – bis zum 2. Vatikanischen Konzil reicht und in die „Option für die Armen“ mündet. Konzils-Bischöfe im sog. „Katakomben-Pakt“ (1965)1 und Theologen Lateinamerikas begründeten sie aus dem Motiv „Kirche der Armen“ (Papst Johannes XXIII.) und aus Äußerungen des Konzils: „In den Armen und Leidenden“ sieht die Kirche „das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war“ (Konst. Die Kirche Nr. 8), „und das umso mehr, als der größere Teil der Welt noch unter solcher Not leidet, dass Christus selbst in den Armen mit lauter Stimme seine Jünger zur Liebe aufruft“ (Konst. „Kirche in der Welt von heute“ Nr. 88). Zudem drängte das Konzil auf Kirchenreform durch „bewusste und aktive Teilnahme“ des „christlichen Volkes“ an der Liturgie: auch soll es „sich selber darbringen lernen“ durch die „apostolische Tat“ (Liturgie-Konst. Nr. 14.48; Dekr. Christl. Erziehung Nr. 4). Nun handelt es sich beim christlichen Volk Brasiliens und anderer Länder weithin um Arme, d. h. um arm Gemachte, Ausgebeutete für Nutzen und Gewinn des Kapitals. „Option für die Armen“2 schloss für Boff und andere also ein: Theologie und Theologen solidarisieren sich mit den Armen denkerisch und praktisch, verstehen die Bibel aus ihrer Perspektive, teilen deren Enttäuschungen, Leiden, Hoffnungen, bejahen auch synkretistische Formen des Volksglaubens – nicht nur aus Mitleid, sondern im Wissen, dass gemachte Verarmung, millionenfache Verelendung von Menschen nicht einfach Schicksal ist, sondern – da von einer kapitalkräftigen
1Vgl. Artikel
in Stimmen der Zeit (10/2012, S. 655 ff.). „vorrangige Option für die Armen“ als pastorale Leitlinie beschloss nach dem Konzil der lateinamerikanische Bischofsrat (CELAM) in Medellin (1968) und Puebla (1979) mit päpstlicher Billigung.
2Die
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Minderheit erzeugt und toleriert – ein wahrer „Gräuel“ in Gottes Augen (vgl. Ps 5, 7; Jes 1, 13–17). Das hieß: Parteinahme für die ökonomisch Ausgebeuteten, Gegnerschaft zu ursächlichen Institutionen und Personen.
3 Theologie aus „heiligem Zorn“ Boff versicherte in einem Münchner Vortrag vom Juni 2013: Karl Marx war „weder Vater noch Pate“ der Befreiungstheologie. Heißt: Sie war nicht exotische Frucht des „real existierenden Sozialismus“ oder Produkt neomarxistischer Trends nach 1968. Doch der Fall ist komplex. Auslöser der Befreiungstheologie, so Boff selbst, war ein „heiliger, prophetischer Zorn über die allgemeine Armut und das kollektive Elend der Menschenmassen“ der „Dritten Welt“3. Heiliger Empörung fehlt aber noch Begriffsvermögen. Sie fand es bei Marx: „der Arme ein Unterdrückter“, „entmenschlicht“ durch ökonomische, politische, kulturelle Prozesse.4 Wie der Theologe Frei Betto (kurzzeitig Berater der Regierung Lula da Silva) berichtet,5 lernten Brasiliens junge katholische Intellektuelle der 1950er und -60er Jahre, antikommunistisch erzogen,6 zuerst die Dependenz-Theorie kennen: Die unterentwickelten Länder befinden sich in hierarchischer Abhängigkeit von den Industrie-Metropolen; ihr Machtgebrauch hält die Armut der armen Länder aufrecht. Ein Symptom der Abhängigkeit bildet die Erziehung, die das Abhängigkeitsbewusstsein des Volkes schult und festigt. Im Bann des Dependenz-Konzepts entdeckten die jungen Leute in Marx‘ Gesellschaftsanalyse Erklärungs- und Lösungsansätze für die Unterentwicklung auch ihrer Länder. Es erstaunt nicht, dass Boff, nach Promotion in München 1970 zurück in Brasilien, den Marxismus als ein Instrument wahrnahm, das auch die
3Boff
(2002, S. 174). (2002, S. 177). 5Freire und Betto (1986, S. 30 ff.); Metz (Vorwort) und Gutiérrez erörtern die frühe Dependenztheorie (Gutiérrez 1976, S. 77 ff.). Ihre Verdrängung durch „Globalisierung“ im Namen von Effizienz, Wettbewerbsfähigkeit, ihre Erneuerbarkeit zeigen Duchrow und Hinkelammert (2005), Kap. VI. 6Mithilfe der ausdrücklich erwähnten „harten“ Marx-Kritik des französischen Jesuiten Calvez (1970). 4Boff
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Analyse der Kirche als Gesellschaft verhieß. In diesem traditionell katholischen Land war die Kirche ein wichtiger Erziehungsfaktor. Im selben Jahr veröffentlichte der brasilianische Pädagoge Paulo Freire das berühmt gewordene Buch „Pädagogik der Unterdrückten“, sein Konzept der Alphabetisierungs-Kampagnen (schon 1964 vom Militär-Regime gestoppt). Freire nahm als Christ auch Kategorien der Sozialanalyse von Marx zu Hilfe und half Boff, seine Position zu entwickeln. Freire wirkte auch mit dem Zivilisations-Kritiker Ivan Illich am CIDOC-Institut in Mexiko. Auch Illich, katholischer Priester im selbst gewählten RuheStand, hatte die übliche Erziehung samt Fundament (die Idee der Aufklärung, der unbedarfte Mensch müsse zugerichtet, „sozialisiert“ werden) radikal infrage gestellt. Sie entfremde von eigenem Lernvermögen und Lern-Willen, von der außerschulischen Welt, bilde bloße Konsumenten aus, betreibe subtil das Spiel des Kapitalismus. Der in Boffs Augen „große Prophet“ Illich analysierte um 1967 kritisch die Situation der Kirche Lateinamerikas: abhängig von nordamerikanischem Kapital- und Priesterimport, frische sie ihr koloniales Gesicht auf, in „unbewusster Furcht vor einer neuen Kirche“! Illich gab dem Evangelium künftig nur eine Chance bei völligem Rückzug der Kirche aus gesellschaftlicher Macht: ein früher, Boff anregender Vorstoß zur „Entweltlichung“ der Kirche.7 All das lag in der Luft, als sich Boff an die Arbeit machte. Indirekt schrieb er mit den kritischen Essays über Kirche auch gegen das herrschende, US-gestützte Militärregime an. Das Werkzeug ‚Sozialanalyse und Sozialkritik von Marx‘ trug bereits Gebrauchsspuren. Boff teilte jedoch nie die Marxsche Kritik, Religion sei „in den Wolken fixierter“ Protest gegen soziales Elend; denn der biblische Glaube berge gesellschaftsverändernde Kraft. Aber das Oben-Unten-Gefüge der römischen Kirche begünstige die Kritik. Die Kirche neige in unreflektierter Interdependenz, ihre Struktur der herrschenden Gesellschaftsstruktur anzupassen (wie schon in der Spätantike: Konstantin, Theodosius). Ist die Großgesellschaft asymmetrisch verfasst, besitzt eine Klasse das Macht- und Wirtschaftsmonopol, hängt die Bevölkerungsmehrheit von ihr ab, so wecke diese Struktur in der Kirche die Neigung, sich selbst analog zu konzipieren: etwa den Klerus exklusiv in den Besitz der religiösen ‚Produktionsmittel‘ zu setzen. Dies führe zu einem entfremdenden „römisch-hierarchischen Kapitalismus“8. In der Folge gingen – so die These – Begriffe wie geistlich, Kirche, Einheit, Heiligkeit, Katholizität, Apostolizität in primären Besitz der kirchlichen Hierarchie
7Illich 8Boff
(1978), Kap. III; Illich (1996, S. 41–48, 75–89). (2001, S. 76–80).
210
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über. Dem Kirchenvolk, als geistlich arm eingestuft, theologisch ungebildet, wurde die Empfänger- und Gehorsams-Haltung zugewiesen – alternativlos, weil sein Seelenheil davon abhänge. Das gläubige Volk Lateinamerikas werde so im Zustand doppelter Armut und Abhängigkeit gehalten: materielle Armut, geistliche Armut. Insofern war das gläubige Volk quasi „Basis“ im Marxschen Modell. Wie die Volk-Basis und mit ihr musste sich nun der „Überbau“ – das Kirchenbild, die es tragende Theologie – ändern und rückwirkend ein neues religiöses und politisches Bewusstsein des Volkes bilden. Für dieses Bemühen nützte Boff Aussagen des Konzils über den Rang des Gottesvolkes: die Kirche ein „Leib aus vielen Gliedern“ mit Christus als alleinigem „Haupt“, „zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, […] der Umkehr und Erneuerung“ (Konst. Kirche Nr. 7–8); das Volk Gottes, der Hierarchie vorgeordnet (Nr. 9–17), kann, vom Hl. Geist gesalbt, „im Glauben nicht irren“, vielmehr dringt es mit seiner Hilfe „tiefer in den Glauben“ ein, wendet „ihn im Leben voller“ an (Nr. 12). Die Attribute der Kirche: Einheit, Geistlichkeit, Heiligkeit, Katholizität, Apostolizität, gemäß Konzil vom Gottesgeist geschenkte Attribute aller Gläubigen – des gläubigen Volkes –, nicht Reservate von Trägern einer Sonderberufung. Boff tadelte die katholische Hierarchie, sie ignoriere die religiöse Produktivkraft des christlichen Volkes. Brasiliens gläubiges Volk berge zahlreiche vertriebene, ausgebeutete, in Elend lebende Menschen, geneigt zu schicksalsergebener Apathie (Freires „Kultur des Schweigens“); werde von kirchlicher Autorität häufig beschwichtigt, statt „das Befreiungspotential“ in den Armen zu fördern: humane, religiöse, kulturelle, politische Charismen. Grund sei das römisch-katholische Kirchenbild. Ein umfänglicher Essay9 untersucht die Vermittlung des Göttlichen mit dem Menschlichen und nähert sich Harnacks These, die ‚Verkirchlichung‘ der Jesus-Bewegung sei nicht vor-österlichen Faktoren (Zwölferkreis, Abendmahl „für alle“, Kreuzestod), sondern nach-österlichen Bedürfnissen (Ämter-, Exklusivitäts-Bedarf) geschuldet. Diese ekklesiologische Option erschien ökumenisch friedensstiftend und begünstigte die These, in den Basisgemeinden bilde sich eine neue, gerechtere Form von Kirche. Die römische Verabsolutierung historisch gewachsener Institutionen sei „Ideologie“ und „Pathologie“. Boff erblickte in der Basisgemeinde eine Alternativstruktur: sie zu fördern sei katholischer Mut. Da für geschichtliche Vermittlungen das Gesetz von Identität und Nichtidentität gelte, seien die verschiedenen Christenheiten nur „verschiedene Stile, das
9Vgl.
für das Folgende v. a. Boff (1990).
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Christentum zu leben“. Nichtidentität besage, dass ein Christ nicht wisse, was das Christentum ist; nur, was die historische Vermittlung davon enthüllt. Doch trete die römisch-katholische Institution „repressiv“ auf, monopolisiere das Christentum, verkürze es auf Heils-Lehre (Dogmatik), verdünne, behindere so aktive „Nachfolge“. Ursprüngliches Christentum werde nur durch „Bruch“ mit den „herrschenden“ kirchlichen Traditionen erreicht. Roms monotheistisch (statt trinitarisch) begründetes Kirchen-Verständnis pflege ein pyramidales Kirchenbild: „Ein Gott – ein Christus – ein Stellvertreter – eine Kirche“. Alternative sei die charismatisch strukturierte Kirche: die Begabung der Gemeinde mit Geistesgaben (Charismen) sei „fundamentaler als das institutionelle Element“ (hierarchische Ämter – bei Paulus ebenfalls Charismen). Christliche Basis-Gemeinden aber „besitzen […] das Wort, schaffen Symbole und Riten und entdecken mit den Möglichkeiten der Basis die Kirche neu“ (Boff 1990, S. 212). Hier sei wirkliche „Ekklesiogenesis“: Entstehung einer neuen Art Kirche, „die aber keine andere ist als die der Apostel und der Überlieferung“.10 Oft priesterlos, seien einfache brasilianische Christen zuerst in Bibelkreisen zusammengekommen, dann dazu übergegangen, im Licht biblischen Glaubens Lebensnot, Lebensmittel und Lebenserfahrungen zu teilen, angeregt durch Israels Exodus-Erfahrung, prophetische Sozialkritik, Jesu Heilungstaten, seine Gerichtspredigt, seinen Tod am Kreuz, die Auferweckung durch den „Vater“.11 Der Wunsch des Konzils, das christliche Volk zu aktivieren, werde erfüllt, die übliche Trennung lehrende/lernende (hörende) Kirche entfällt: Alle Kirchenglieder begegnen sich als Lernende und Lehrende – gemäß Freires Pädagogik, Menschen dialogisch, vertrauend „in ihre schöpferische Kraft“ zu kritischem (statt naivem) Bewusstsein zu befähigen, dass sie „Verwandler dieser Welt“ sein können. Daher auch der Rat an traditionell gebildete Priester, vom gläubigen Volk (das selbst „Nachfolger der Apostel“ ist) zu lernen. Auch lateinamerikanische Bischöfe – darunter so bekannte Namen wie Evaristo Arns, Helder Câmara, Hermann Kräutler, Oscar Romero, Ruiz García – bezeugten, das arme, gläubige Volk habe sie bekehrt. Basisgemeinden leben, so Boff, eine charismatisch bewegte, geschwisterliche Stimmung wie in der Urkirche, auch politisch bewusst: jeder Mensch habe ein biologisches, zugleich aber historisches, soziales Dasein, das seine Empfindun-
10Dazu
Boff (1980a, 1980b). MISEREOR-Hungertücher bezeugen die geistliche Produktivität der Bibellesung in Gemeinden armer Länder.
11Die
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gen und Bedürfnisse für Würde, Rechte, Gerechtigkeit, Wahrheit, Frieden mitbestimmt. Bibeltexte, gelesen von armen Leuten, erzeugen ein Wissen um den ‚Sitz‘ des Glaubens ‚im Leben‘ der Gesellschaft. Im selben Zeitraum setzte die „Politische Theologie“ von J.B. Metz ähnliche Akzente: Theologen sollten „kirchliche Maieutiker des Volkes“ sein, damit es „Subjekt in der Kirche“ werde. Die Bibel sei „mystische Biographie des Volkes“, „göttliche“ Deutung „seiner Leiden und Hoffnungen“. Ihr Programm ‚Weg von Betreuungs- und Service-Kirche‘ hin zu „nach-bürgerlicher Initiativ-Kirche“ scheint fallweise anzukommen: mit Blick auf Konzil/Befreiungstheologie sehen manche deutsche Pfarrer in den priester-armen XXL-Pfarreien Chancen für Neuanfänge echter Gemeinden.12 Not soll zur Tugend werden: Nach dem Vorbild transatlantischer Basis-Gemeinden soll auch hierzulande die Kirche als „Kirche von unten“ neu entstehen, charismatisch und dialogisch bewegt, verbunden mit dem sozialen, kulturellen und ökologischen Kontext der gegenwärtigen Welt. Sind es echte Chancen? Immerhin haben Erfahrungen schon in den Ländern des sog. „Ostblocks“ gezeigt, dass Kirche auch bei großem Mangel an Priestern und Pastoren im Untergrund, nach Art einer Subkultur, überleben kann, sofern christliche Gruppen etwa die „essentials“ von Jesu Weltgerichtsrede (Mt 25) lebendig halten und die Feier der Liturgie wenigstens hin und wieder die Gegenwart des Numinosen, Heiligen, sowie die Ahnung der göttlichen Menschenfreundlichkeit vermittelt.
4 Der Konflikt Boffs frontaler Angriff auf die römisch-hierarchisch verfasste Kirche erntete nicht nur Kopfschütteln, sondern entschiedene Gegenwehr. Konservative Kreise hinter den Generälen, im Erzbistum Rio de Janeiro, denunzierten seine Art „Option für die Armen“ als „kommunistisch“. Den christlichen Intellektuellen Paulo Freire hatten sie für den Einsatz politischer key-words in der Alphabetisierungs-Kampagne ähnlicher Umtriebe beschuldigt. Auch in Rom war man besorgt: sich verselbstständigende Gruppen auf kirchlichem Terrain könnten sich gefährliche, den Glauben fälschende Ziele setzen. Option für die Armen mit Gesellschaftsveränderung und Strukturwandel der Kir-
12Metz
(1997, 1980); Unfried (2013, S. 38 f.) (Buchempfehlung).
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213
che war zu viel – zuvor hatte der Priester-Dichter Ernesto Cardenal die sandinistische Revolution als Ankunft des Gottesreiches in Nicaragua avisiert. Das Selbstverständnis der katholischen Kirche war infrage gestellt. Der Präfekt der Glaubenskongregation reagierte vierfach: mit zwei Instruktionen (1984, 1986), einer „Notifikation“ (März 1985) und dem „Schweigegebot“ im Mai. Die Instruktion „über einige Aspekte der ‚Theologie der Befreiung‘“ (1984) verwarf jede rein sachliche, neutrale Nutzbarkeit marxistischer Konzepte (als kontaminiert mit der Klassenkampf-Idee). Mit ihnen sögen naive Theologen die totalitäre Ideologie in sich auf, deuteten Gottes Heil um in weltliches Glück. Kirchen-Kritik, die über die traditionelle correctio fraterna hinaus gehe, leugne die „sakramentale und hierarchische Struktur der Kirche, wie der Herr selber sie gewollt hat“. Nach mündlicher Verhandlung mit Boff (September 1984) verwarf die Notifikation u. a. seine Vorstellung, „Ecclesia semper reformanda“ beinhalte Veränderung auch kirchlicher Grundstrukturen (reine Volkskirche ohne Hierarchie), und erklärte, Boffs These, die Kirche Christi könne auch in nicht-katholischen Kirchen „subsistieren“, widerspreche der Aussage von Vaticanum II. Charisma und Hierarchie seien ko-produktiv, Boffs ekklesiologische Optionen aber ungesund und gefährlich. Der Präfekt grenzte sich von Boff und seinem theologischen Projekt aufs schärfste ab, obwohl dessen franziskanischer Mitbruder, Kardinal Paulo Evaristo Arns, Erzbischof von São Paulo, mit nach Rom gereist war und sich persönlich für Boff verwendet hatte. Eine 2. Instruktion über „christliche Freiheit und Befreiung“ (1986) begrüßte zwar die „neuen kirchlichen Basisgemeinschaften“ (Nr. 69),13 lobte den Einsatz für soziale Gerechtigkeit, bestätigte aber die Verwerfungen von 1984 (Nr. 65). Boff nahm (zum Unwillen Hans Küngs, wie er berichtete) die ‚Buße‘ zunächst an, „weil ich die [tausende] Basisgemeinden retten wollte“, aber bereute nicht. 1991 reagierte die Glaubenskongregation erneut: „keine Reise, keine Vorträge bis 1992. Nach einer neuen Kritik musste ich wieder schweigen und konnte wählen, entweder auf die Philippinen oder nach Korea geschickt zu werden, wo ich aber auch nicht hätte lehren dürfen. Das war zu viel. Nein, Menschenrechte gelten auch in der Kirche, und deshalb trat ich aus dem Orden
13Der
Vatikan hatte ja schon etliche durch Laien begründete „Neue Geistliche Gemeinschaften“ anerkannt.
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aus“14. Boff erhielt anschließend eine Ethik-Professur an der Staatsuniversität Rio de Janeiro. Ähnlich wie bei Hans Küng führte sein Weg nun von konfessionell-theologischen Themen zu Themen von globaler Tragweite. Dafür wurde er 2001 mit dem „Right Livelihood Award“, dem sog. „alternativen Nobelpreis“, geehrt. Kirche und Papst blieb er in „prophetischem Zorn“ verbunden.
5 Glaubensunterschiede In dem Konflikt traten mehrere Streitpunkte zutage, die sich auf ‚letzte Standpunkte‘ gründeten. 1. Die Glaubenskongregation betonte gegen Boff die sakramentale Gegenwart des ein-für-allemal hingegebenen Herrn in der konkreten Kirche („Leib Christi“). Sie mache die gewordenen Kirchenstrukturen verbindlich, unverhandelbar: Früchte der Vollmacht des in ihr fortlebenden Christus. Boff aber, in ‚heiligem Zorn‘ auf alle Inhaber exklusiver Macht, ritt mehr Attacken, als die Basisgemeinden für Aufbruch und Akzeptanz benötigten. Aber auch die Kongregation überzog: theologisch abstrakt, aber kaum inkarnatorisch argumentierend tat sie, als wären Kirchenstrukturen absolut, platonisch ‚entweltlicht‘, unterlägen keinerlei geschichtlichem Wandel. Boffs Kritik an institutioneller Macht, die das gläubige Volk religiös enteigne, sei eine Wahrnehmungsstörung und „Verkehrung der religiösen Wirklichkeit“. Papst Franziskus indes, vom selben Kontinent wie Boff, ist – mit Berufung auf Vaticanum II – bemüht, die alte Oben/Unten-Spaltung in der römischen Kirche zu entschärfen. Der Satz des Präfekten aber, Glaubenswahrheit, die frei macht (Joh 8, 32), sei „einziges Mittel wahrer Gemeinschaft zwischen Menschen verschiedener Klassen“ (Notifikation), idealisiert indirekt die Klassen-Gesellschaft, ignoriert die geschichtliche Vermittlung der Freimachung, die politisch-soziale Aspekte hat, ist doch der seit der „Wende“ rücksichtslos agierende, Politiker nötigende und verschleißende Kapitalismus christlich „weiterhin unannehmbar“ (Papst Johannes Paul II).
14Boff
im Interview, Burneleit und Zedtwitz (2001, S. 1–3).
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2. Im Verhältnis Welt-Kirche beklagte schon Joseph Ratzingers nachkonziliarer Zwischenruf den Zeitgeist: er preise „‚Hoffnung‘, nicht ‚Glaube‘“ (Bloch: „Prinzip Hoffnung“, Moltmann: „Theologie der Hoffnung“!). Erhofft werde nicht Gottes Reich, sondern ein Menschen-Reich: „eine rationale, freie, brüderliche Ordnung aus Menschen, die sich selbst gefunden haben“.15 Die Instruktion von 1986 unterschied augustinisch16 den Fortschritt vom Wachstum des Gottesreichs (zwei Ordnungen: Nr. 60). ‚Politisierende‘ Theologie à la Boff (oder Metz) blieb Ratzinger fremd, da sie „auf eine verkehrte Weise die Politik in den Glauben hineinträgt“17. Für die vielen Übertritte von Katholiken zu evangelischen Freikirchen in Brasilien machte er die „doch sehr intellektuelle“ Befreiungstheologie verantwortlich: „gerade die Ärmsten“ seien ihr „davongelaufen, weil sie […] nur einen Verlust an Trost und Wärme der Religion gefühlt“18 hätten. Sein Rückblick von 2002 nannte sie eine „Krise“ der Kirche: ihre marxistische Prägung habe „die Erlösung zu einem politischen Prozess“ machen und „das Werk Gottes tun“ wollen. Der Zerfall des Kommunismus (ihre „Götterdämmerung“) könne aber neue Formen von Marxismus zeugen.19 Restriktiv erklärt er auch die Vaterunser-Bitte: „Dein Reich komme“ meine kein Menschenreich, sondern Unterscheidung von GutBöse in der Nachfolge Christi (so in Jesus von Nazareth I, 2006). Für Boff hat Gottes Reich Prozesscharakter. „Das Christentum ist eher eine Religion der Hoffnung als des Glaubens“, ohne aktive Hoffnung gehe es „im Morast der Interessen der Mächtigen der Geschichte“20 unter. Immerhin nennt auch das 2. Vatikanische Konzil die Arbeit der Christen an der Welt Sauerteig, der diese von innen heiligt (Konstitution Die Kirche Nr. 31; vgl. Kirche/Welt Nr. 39).
15Ratzinger
(1970, S. 99). Das Konzil jedoch sah mehr auf Gottes „Zeichen der Zeit“: Konstitution Kirche in der Welt von heute, Nr. 4.11.38.40.42.44. 16Augustinus: Vor der ewigen Seligkeit ist irdisches Glück nur „Elend“ (miseria – De civ. Dei XIX,10). Ratzingers Position fußt wesentlich auf der augustinischen Geschichtstheologie mit der Differenz von civitas Dei und civitas terrena. 17Benedikt XVI. (2016, S. 176). 18Ratzinger (1998b, S. 156). Ratzinger ergänzte später, „bestimmte“ Befreiungstheologien hätten Gottes Reich durch rasche Herrschaftswechsel forcieren wollen (Peters 1999, S. 88). Dieses Projekt expressis verbis konnte ich in Boffs Schriften, soweit mir bekannt, nicht finden. Der Kardinal beließ es bei dieser vagen Anschuldigung. 19Ratzinger (2004, S. 93 f.) Die unblutige Revolution der ‚Straße‘ in der DDR, gestützt von vielen evangelischen Christen, geht in Ratzingers Überlegungen nicht ein. 20Boff (2013, S. 112 f.).
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3. Woher die Differenz – nicht nur der Theologen, auch der Theologien? Metz monierte, Christen hätten durch „übertriebene Verinnerlichung des christlichen Leidens-Gedankens ungeheure Zwischenräume eines ‚profanen Leidens‘ zugelassen“, das „Gedächtnis des Leidens“ einseitig auf Jesus bezogen, obwohl Jesus praktische Zuwendung zu den Kleinsten in Not zum Glaubens-Gericht macht (Mt 25). Der Aufruf, der Welt Gott zu bringen, sei leer, wo er nicht Gott meint, dessen Geschwister ‚die anderen‘ in ihrem Leid sind.21 Boff steigerte noch: Lateinamerikas Kirche musste „integrale Befreiung“ verkünden, „die sich das Volk selbst zu erwirken hat“; aus reiner Utopie werde sie im Glauben an Christi Auferstehung zur „strahlenden und vollkommenen Topie“(!).22 Für Ratzinger jedoch ist bereits das Menschsein an sich „Passion“ und „LeidFlucht“ Versuchung: Gott sei „das Subjekt der Geschichte“; Leid, Unrecht in der Welt erregten Anstoß, weil „die Gerechtigkeit fehlt, kein Gott da zu sein scheint“ (Tenor auch seiner Rede beim Besuch des ehemaligen KZ Auschwitz).23 Die grundlegende Differenz wird deutlich bei der Frage des Menschenbildes wie auch der des Geschichtsbildes, das jeweils zugrunde liegt oder vermutet wird. a) Zum Menschenbild: Hier besteht seit jeher eine vitale Spannung zwischen der Individualität des Menschen und seiner ebenso ursprünglichen Sozialität („animal sociale“), zwischen den Extremen Individualismus und Sozialismus (Kollektivismus). Hegels Geschichtsphilosophie etwa dreht sich um den „Endzweck“ der Weltgeschichte, „dass die Vernunft die Welt beherrsche“ und „die Weltgeschichte der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“ sei. Diesem „an und für sich Allgemeinen und Substantiellen“ sei „alles andre untergeordnet“. Somit müsse die fortschreitende Weltvernunft „manche unschuldige Blume zertreten“. Menschliche Individuen, ihre Ziele und Hoffnungen stünden unter der „List der Vernunft“ und würden im Fortgang der Geschichte „aufgeopfert und preisgegeben“.24
21Vorwort
zu Gutiérrez (1976). (1982, S. 62–65). 23Vgl. Peters (1999, S. 50–55); zu Ratzingers Sicht kritisch: Fischer (2008, S. 189–196). 24Hegel (1989), Einleitung. 22Boff
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Im Bemühen, seinen Lehrer vom Kopf auf die Füße zu stellen, deutete Karl Marx den geschichtlichen Prozess in Hegels Geschichtsdenken als Arbeitsprozess für die „Selbsterzeugung des Menschen“ im Blick auf seine volle Freiheit. Gemeint ist mit dem Menschen aber nicht das menschliche Individuum, sondern „das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“, d. h. die „die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit“ (6. These über Feuerbach). Den abstrakt-allgemeinen, idealisierenden Begriff, d. h. den absoluten Vorrang des Allgemeinen übernimmt Marx von Hegel, was sich bei der Umwandlung der Marxschen Idee zu einem geschichtlichen Projekt in den theoretischen und praktischen Details des Menschenbildes niederschlägt. Anlässlich der christlich-marxistischen Dialog-Initiative der Paulus-Gesellschaft ab 1966 trat der Dissens an diesem Punkt deutlich zutage – abschließend, als sowjetische Panzer 1968 den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ der Dubček-Ära in der CSSR niederwalzten und die Dialoge offiziell beendeten. Die sowjetische Führung gab auf brutalste Art zu verstehen, im politischen Sozialismus werde keine plan-fremde, persönliche Freiheit geduldet, nicht einmal die Freiheit der Verständigung. Der christliche Personalismus, für den jede einzelne menschliche Person eine absolute (gottgegebene), somit unantastbare Würde hat, erscheint einer kollektivistischen Anthropologie als „philosophisches Phantasieren“, wie der polnisch-marxistische Philosoph Adam Schaff polemisierte. Sie leugnet nicht die Wahlfreiheit, doch wehrt sie sich strikt gegen die Ansicht, das freie Subjekt sei irgend unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen: Menschliche Aktivität sei „immer gesellschaftlich bedingt, aber nie eindeutig im voraus entschieden“. Selbstverständlich wähle der einzelne bewusst zwischen mehreren Möglichkeiten, sei er doch – gemeinsam mit seinesgleichen – „Schöpfer der Geschichte“. Zu wählen gebe es für ihn und die anderen (im Sinne des „Diamat“) die „erkannte Notwendigkeit“.25 Der Primat des Kollektivs und der weltanschaulichen Partei verlangte den Vorrang des Klassenbewusstseins und erzwang den Verzicht auf persönliche Freiheit und ihre Rechte, was Jahrzehnte lang parteilichen Gesinnungsterror, Mauer, Fluchtbewegungen und Todesopfer im Gefolge hatte.
25Vgl.
Schaff (1970), Teil III. Schaff unternahm es in diesem Rahmen auch, den katholischen Philosophen Gabriel Marcel zu widerlegen.
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Für das Christentum jedoch ist der Mensch als freies Wesen mit unantastbaren Rechten unverzweckbar, weil ein rationales, wahrheitsfähiges Wesen, das an das Absolute rührt.26 In Lateinamerika freilich war man (außer in Kuba) mit den sichtbaren und unsichtbaren Menschenopfern des politischen Marxismus kaum konfrontiert. Deshalb unterstellte die römische Instanz den Bemühungen lateinamerikanischer Befreiungstheologen eine inakzeptable Naivität. Ihr Projekt, dem Reich Gottes heute oder morgen unter den Armen politisch-sozial-kirchlich schon zu anfänglichem Durchbruch zu verhelfen, musste zwangsläufig – meinte man – in die Versuchung münden, die persönlichen Freiheiten der Beteiligten auf dem Altar des Fortschritts zu opfern. b) Der Vorteil aber, in einer von so blutigen Konfrontationen weitgehend verschonten Weltgegend zu leben, erleichterte andererseits Überlegungen, ob und wie man Grundgedanken von Marx, zumal zur Analyse der gesellschaftlichen Lage, als Werkzeug gebrauchen könne. Eine die Erfahrungen auswertende, biblisch geprägte Reflexion sollte helfen, weltanschauliche Fehler, Folgen von Naivität, zu vermeiden. So ist es kein Zufall, dass im Dialog mit Konzils-Dokumenten und maßgeblichen Theologen der Konzils-Zeit ein grundlegender Entwurf zur Theologie der Befreiung gerade in Lateinamerika entstand. Er kam aus der Feder des peruanischen Theologen Gustavo Gutiérrez. Die Bibel lehrt, Gottes Heils-Werk nicht bloß individualistisch, auf einzelne Personen bezogen, wahrzunehmen, sondern als Gabe, die den Menschen wesentlich auch in seiner gesellschaftlichen Dimension sucht. Auch hatte man gelernt, das Heil nicht nur als jenseitige Größe zu verstehen, sondern die Schöpfung mit dem menschlichen Schöpfungsauftrag als Vorgabe des Heils und als Aufgabe in Gottes Heils-Werk zu erkennen. Nicht nur Entwicklung, sondern Erlösung als Befreiung müsse „integral“, ganzheitlich aufgefasst und realisiert werden. Der allgemeine Heils-Wille Gottes zielt auf die Befreiung aller Menschen – nicht nur dereinst, sondern, soweit möglich, schon jetzt. So sind Bemühungen um den Aufbau eines zeitlichen gerechten Gemeinwesens gottgewollt: eine geschichtliche, obschon vorläufige Realisierung göttlichen Heils, nicht etwa ein Übergriff in Gottes Vorbehalt, aber auch nicht nur verdienstliche Tat von werkgerechten Frommen. Die Gläubigen sind berufen, die verheißenen „neuen Himmel“ und „neue Erde“, soweit möglich, schon hier und heute zum Vorschein zu bringen – durchaus in Hoffnung auf Gott als
26Coreth
(1994, S. 190).
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Vollender der Geschichte.27 Die lateinamerikanische Kirche habe keine andere Wahl, als „das sichtbare Zeichen der Gegenwart des Herrn im Verlangen nach Befreiung und im Kampf für eine menschlichere und gerechtere Gesellschaft (zu) sein“28. Boff teilt diese Sicht und betont vielleicht noch stärker die sowohl persönliche wie institutionelle Bekehrung zu den Armen. Er sieht in den Basisgemeinden die Entstehung einer neuen Art Kirche (Ekklesiogenese). Da sie institutionell und auch spirituell in bestimmter Weise abweicht von der bekannten Institution Römisch-Katholische Kirche, greift er aus Gründen der Legitimierung zurück auf Kirchen-Konstitution und Ökumenismus-Dekret des 2. Vatikanischen Konzils, konkret auf die Aussage, die Kirche Jesu Christi „subsistiere“ in der römisch-katholischen Kirche (anstelle der früheren Aussage, dass diese die Kirche Christi „sei“). Boff deutet diese aus ökumenischen Rücksichten veränderte Begrifflichkeit so, dass die Kirche Christi in der römischen Kirche verwirklicht und antreffbar, jedoch nicht mit ihr einfach identisch sei, schon weil diese nach dem Konzil einen „dauernden Reform“-Bedarf hat. Boff schließt daraus, man könne, ja müsse die Aussage über die Kirche Christi ausweiten: sie „subsistiere“ in der römisch-katholischen Kirche, aber auch in anderen Kirchen29 – im Blick sind auch die anders strukturierten Basiskirchen –, die also als legitime „Kirche Christi“ anzuerkennen seien. An diesem Punkt widerspricht der Präfekt scharf und wirft Boff „ekklesiologischen Relativismus“ und Verkennung des Konzils vor: die Aussage, die Kirche Christi „subsistiere“ in der römischen Kirche, wolle vielmehr die Einzigartigkeit dieser Kirche gegenüber anderen „kirchlichen Gemeinschaften“ herausstellen. Boffs Deutung bewog ihn, seine Sicht noch eigens in der Erklärung „Dominus Jesus“ hervorzuheben. Boff hingegen versucht anhand der Redaktionsstufen des Kirche-Dokuments nachzuweisen, dass seine Interpretation der wahren Absicht der Konzilsväter entspricht, indes der Kardinal das Konzil verdrehe und hinter dessen Ökumene-Position zurückfalle.30 Diesem statuarisch eng geführten, un-ökumenischen Kirche-Begriff widersetzten sich verständlicher-
27Gutiérrez
(1976), II, 3. Kap. IV, 1. Kap. (1976, S. 246). 29Boff (1990, S. 140 f.). 30Boff (2001, S. 89–105). 28Gutiérrez
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weise protestantische Repräsentanten auch deshalb, weil ihrem Bekenntnis (Confessio Augustana) zufolge „Kirche sich ereignet“.31 c) Auffälligerweise ist in den zitierten Schriften von Boff und Gutiérrez kaum die Rede von Sünde. Wohl können Strukturen sündhaft sein. Doch die so viel Leid erzeugende Herzens-Härte, auf die Jesus in den Evangelien häufig stößt, somit auch das Kreuz werden in den genannten Schriften kaum Thema. Dazu gibt Metz – wohl auch im Namen der Befreiungstheologen – die Erklärung, er habe als systematischer Theologe gelernt: „Jesu Blick auf den Menschen galt in erster Linie nicht seiner Sünde, sondern dem Leid der Anderen“.32 Ratzinger hält aber gegen politische Theologie und Befreiungstheologie fest: sind ihre Projekte auf irgendeine Art systembedingt, etwa hegelianisch bzw. marxistisch inspiriert, so werden deren menschliche Träger – konkret: das fromme Volk – zu bloßen Opfern des geschichtlichen Fortschritts und gehen ihre Leiden die Wortführer und auch die Nachkommen nichts an. Außerdem bedeute ein so ambitionierter Einsatz für die Heils-Zukunft der Völker eine „moralische Überanstrengung des Christentums“, da man zwar den biblischen Gott durch die gläubigen Subjekte tätig werden lasse, aber nicht veranschlage, dass Gott selbst als das eigentliche Subjekt der Geschichte in ihr tätig wird und sein Projekt verfolgt. Anhaltend bitteres Unglück in der Geschichte veranlasst Ratzinger freilich nicht selten zu der Achsel zuckenden Floskel, dass „Gott zu fehlen scheint“ (aber in Wirklichkeit nicht fehle, sondern im Kommen sei).33 Das zu Herzen gehende Leid der Ausgebeuteten und Ärmsten der Armen stand den Kontrahenten im Vatikan wohl kaum so massiv vor Augen wie Boff und Kollegen. Angesichts des anscheinend prinzipiellen Vorbehalts gegen jeden Gebrauch Marxschen Denkens könnte man zudem argumentieren, den Toten z. B. an der Berliner Mauer stünden zahlreiche Entführungen und Opfer skrupelloser Morde lateinamerikanischer Militärdiktaturen, US-amerikanischer Interventionen sowie herrschender Kreise gegenüber, die sich gezielt gegen das soziale Erwachen der Armen und ihre ‚Aufrührer‘ richteten. Man muss wohl feststellen: jenseits der theologischen Kritik, komme sie von Boff oder von Ratzingers Glaubenskongregation, stand jeweils ein Trauma
31Maaßen
(2017, S. 29). (1999, S. 51). So auch die Sicht seines Lehrers Karl Rahner (Grund für den Dissens mit H.U. v. Balthasar). 33Peters (1999), S. 22, 52 f). 32Peters
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unterschiedlichen Ursprungs,34 eine (man könnte sagen) traumatische Erstarrung, welche die Akzeptanz der je anderen Seite, ja Einigung mit ihr innerhalb der gegebenen Frist verhinderte. Diese Sicht der Dinge scheint durch den folgenden Vorfall indirekt bestätigt zu werden. Bei einer Tagung zum 70. Geburtstag von J.B. Metz (1998a) gab, in Anwesenheit von Kardinal Ratzinger, auch der protestantische Theologe Jürgen Moltmann ein Statement. Er nutzte – etliche Jahre nach den Verfahren – die Gelegenheit, mit ausdrücklichem Blick auf Hans Küng und Leonardo Boff, die Freiheit der Theologie zu verteidigen, die in gemeinsamer Verantwortung der ganzen Kirche betrieben werde und die Mündigkeit wie auch Reife getaufter Christen einschließe. Zur Wahrheit gehöre die Freiheit und zur Freiheit gehöre, anstelle von Treu-Eiden, auf Vertrauen gegründete Gemeinschaft. Lehrzuchtverfahren sollten „brüderlich“ statt straf-behaftet sein. Der Kardinal ging nur allgemein, nicht konkret darauf ein. Er verharmloste die massiven Straf-Verfahren gegen jene katholischen Theologen zu bloßer „Kritik an einem Strang dieser Theologie“ und beklagte, man weigere sich in Deutschland, das Schlimme (?) „zur Kenntnis zu nehmen, was bestimmte Teile der Befreiungstheologie gesagt und was sie nicht gesagt haben“. Übrigens teilten der Papst und er selber die „Option für die Armen“.35 Es kam zu keinem Austausch, weder über die Verfahrensfrage noch über den Sachverhalt. Ratzinger konnte und wollte über den Inhalt der Differenzen nicht reden. Daher wurden, als er, zum Papst gewählt, Hans Küng empfing, der ein Viertel-Jahrhundert früher die Lehrbefugnis verloren hatte, die strittigen Themen von vornherein ausgeklammert. Was Boff selber angeht, ließ er während des Pontifikats von Benedikt XVI. kein gutes Haar an seinem Kritiker und sprach ihm – in Interviews etwa mit dem Spiegel oder der Süddeutschen Zeitung – jede menschliche und geistliche Qualifikation für das Amt ab: man könne diesen Papst nicht lieben, statt
34Ratzinger selbst teilt mit, er habe in seiner Tübinger Zeit „das grausame Antlitz dieser atheistischen Frömmigkeit unverhüllt gesehen“, auch „die Zerstörung der Theologie“ durch den „marxistischen Messianismus“: (1998a, S. 139, 150). Boff selbst, tief berührt vom Herzen des hl. Franz (s. u.), lobte die „Herzlichkeit“ von Papst Johannes Paul II. bei dessen Brasilien-Reise 1980, wo er eine „außergewöhnliche Sensibilität für das Drama der Armen“ bewiesen habe (1982, S. 24 f.). So war, 4 Jahre später, das vom Papst gebilligte römische Verfahren gegen ihn eine schockartige Enttäuschung und verriet auf der Gegenseite einen Mangel an „Herz“, ja an Inkarnation. 35Peters (1999, S. 57 f., 81, 88).
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als „Hirte“ aufzutreten habe er als „ein Würgeengel der Kirche und der Ökumene“ ihren Zustand trostloser denn je gemacht, und wo ihm junge Leute zujubeln, bei Weltjugendtagen auch in Brasilien, sei das „eine Art Pop-Phänomen ohne Substanz“. Erst unter dem Nachfolge-Papst wurde Boffs Urteil differenzierter.
6 Franziskanische Spiritualität heute Wie selbst befreit begrüßte nach dem Rückzug von Papst Benedikt XVI. der Befreiungstheologe Boff den neuen Papst Franziskus und seine Option für die Armen im Geist des Mannes aus Assisi! In dessen geistliches Profil hatte sich zuvor auch ein anderer Jesuit, Mario von Galli36, vertieft: einzigartig die doppelte Armut, die Franz als persönlichste Berufung erlebte: arm an Geld (poverello) und Vernunft (pazzo). „Er war der Mann des intuitiven Gott-Erlebens“. Um dieses unmittelbar bezeugen, die Liebe des „Vaters“ unmittelbar erwidern und leben zu können, will er nicht in weltliche Logik, weder in die von Geben und Nehmen (Geld) noch in die von Pro und Contra (Theologie), verwickelt werden. Christus führt zum „Vater“, Urgrund der Welt. Von Ihm her werden ihm alle Dinge, Lebewesen, Menschen zu Brüdern und Schwestern: im Sonnengesang wie in anderen Texten. Ihn beseelt tiefe Liebe zum Leben, zum Lebendigen: Gott ist ihm „Lebensfreund“ (Wsh 11, 26). Ihn will er bezeugen. Die „Fioretti“ zeigen, wie seine Berufung Franz zu den Armen zog, er nicht duldete, dass man sie abwies; wie er sich selbst zu ihnen begab, auch zu Räubern, Terroristen (Wolf von Gubbio), ihnen zu geben, was sie brauchten, sie zum Herzen Gottes zu führen, zur Ruhe ihres Lebens. Seine eigene Berufung – „dem Leben und der Armut unseres höchsten Herrn Jesus Christus zu folgen und darin auszuharren“ – wird Maßstab für die Brüder und Schwestern, die ihm folgen. Boffs Schriften zu Franziskus zeigen, wie dieser ihn prägt. Oft zitiert er ihn als Bürgen für eigene Aktivität: Einsatz für die Armen sprengt alle Rahmen, auch theologischer Art. In Franziskus‘ Texten finde sich 42mal das Wort Herz, nur einmal Verstand; 26mal Barmherzigkeit, nur einmal Vernunft; 170mal tun gegen fünfmal verstehen. Das von Franz gelebte Evangelium zeige den Primat der Praxis. Wo das Herz (Barmherzigkeit) antreibt, schweigen Gründe und Gegengründe; sie kommen buchstäblich ‚nicht mit‘.
36von
Galli (1977), Kap.: „Armut – die Zukunft der Kirche“.
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Franziskanische Spiritualität ist universal: „Logik des Herzens“ (dt.1999), „Achtsamkeit – Von der Notwendigkeit, unsere Haltung zu ändern“ (dt. 2013). „Logik des Herzens“ zitiert Franz in der Sterbestunde: „Ich gehe von euch mit der Person, doch ich lasse euch mein Herz“. Ehrfurcht, Geschwisterlichkeit allen Wesen gegenüber sei aktuelle Alternative zur aggressiven Behandlung der Natur, die sie unterwerfen will (181 f.). „Schrei der Erde…“ (Endkapitel) preist Franz als „Summe aller ökologischen Kardinaltugenden“. Die Befreiungstheologie sah ja die Armen stets als Menschen mit Hunger auch nach Kommunikation, Naturverständnis, Spiritualität, Schönheit.37 Das Thema Ökologie wurde dringlich etwa ab 1980 mit dem weltweiten Echo auf den US-Report Global 2000. Der ausgebeutete Arme nahm „das Gesicht anderer Opfer von Ungerechtigkeiten an: der Schwarze, der Indio, die Frau, der Unberührbare, neuerdings die Erde, von Zerstörung bedroht“: so die brasilianische Theologin Ivone Gebara.38 Für Boff (2002, S. 169 ff.) zeigte sich die Erde mit allen Lebewesen und Menschen immer mehr als Einheit, als Lebewesen sui generis (entsprechend der „Gaia“-Hypothese), anschaulich geworden durch den Blick der Mondfahrer auf die Erde: ein gestufter Bau aus Atmosphäre, Hydrosphäre, Geosphäre, Biosphäre bis zur Noosphäre (Geist-Sphäre). Im Menschen sei die Erde ins Stadium bewusster Entscheidung gelangt: Entscheidung, ob dieses Kind seine Mutter liebt, sich um sie sorgt oder ob es ihr im Emanzipationsdrang den Garaus macht. Die Suche nach den Ursachen der Armut enthüllte eine Ur-Sache: die „perverse Logik“ des herrschenden, auf Akkumulation versessenen Gesellschaftssystems, das Bevölkerungen, ganze Nationen ausbeutet und am Ende die Natur ruiniert – eine ruinöse Logik in wechselnder Gestalt. Der Fortschritt, immens und inhuman, sehe nur „Ware und Markt“. Dieses den Globus umspannende System erzeuge alle zwei Tage „dieselbe Anzahl an Menschenopfern“ wie Hiroshima und Nagasaki zusammen. Die gefährdetsten Lebewesen des Planeten seien die zu frühem Tod verurteilten Armen. Ein „Minimum an Gerechtigkeit“ müsse ihnen Leben in Würde sichern und die Option für die Armen erweitern zur Option für die Erde. Wichtiger als die Zukunft von Kirche, Christentum, Demokratie sei die
37„Schönheit“
meint Bildung, Kultur, Rechtsordnung, gutes Gesundheits- u. Sozialsystem. Die Massendemonstrationen im Sommer 2013 meldeten diesen Hunger der regierenden Arbeiterpartei (Boff: Internet-Kolumne vom 05.07.2013). 38La Croix vom 14./15. Mai 2011: Où en est la théologie de la libération?, p.13. In seiner Gastvorlesung SS 2001 an der Ev.-Theol.Fakultät Heidelberg stellte Boff die Befreiungstheologie in ähnlich erweitertem Begriff vor.
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Zukunft des „Superorganismus“ Erde. Christliche Spiritualität könne Menschen lehren, sich als Söhne und Töchter des Regenbogens Noachs (Gen 9, 13–16) zu sehen. In „Achtsamkeit“ hat die Erziehung für „eine substanzielle Veränderung im Verhältnis zum System Natur, zum System Leben und zum System Erde“ Vorrang (Boff 2002, S. 9). Achtsamkeit sei Universalnorm (aaO., 13). Die Befreiung der Armen wird nur kurz (aaO., 186–191) behandelt, durchdringt aber die Ethik für Bewahrung der Erde. In der Befreiungstheologie reifte der Protest gegen die Ausbeutung der Erde. Zentrale Einsichten aus Boffs letztgenannten Werken sind auch in der Umwelt-Enzyklika „Laudato si“ (2015) von Papst Franziskus gegenwärtig. Auch sie wirbt intensiv für die Achtsamkeit, was Jürgen Moltmann vermuten lässt, dass „mein Freund Leonardo Boff daran mitgeschrieben hat“.39 In der Enzyklika bedauert der Papst auch jenen von einem „fehlgeleiteten Anthropozentrismus“ gespeisten, pragmatisch-ökonomischen Relativismus, der auch manche Christen (z. B. amerikanische Fundamentalisten, Politiker) verführe, „die Umweltsorgen zu bespötteln“ und als Verantwortungsträger die Bedürfnisse des Marktes der Bewahrung der Schöpfung vorzuziehen. Die Freundschaft des heiligen Franziskus mit der Schöpfung inspirierte schon Boffs frühes Buch über Sakramente: „Wenn Gott das einzige Absolutum ist, dann ist alles Offenbarung über ihn […], seine Schönheit, seine Güte, sein Geheimnis“40. Franziskus, 1979 vom Papst zum „Patron der Umweltschützer“ ernannt, sei das Paradigma gegen den Geist, der das Amazonasbecken und die Erde verdirbt. Seine Option für die Armen leitete schon seine Aufrichtung der Kirche ein. Sie entsprang Gründen des Herzens, die der Verstand nicht fasst: brüderlich-zärtliche Zuwendung zu allen Wesen, selbst unscheinbaren (Tauben, Grillen). Heute habe das Herz Vorrang: ihm entspringen die besten Kräfte des Eros. „Kraft des Herzens nähern wir uns den Dingen, mit Gefühl und Sympathie“. Die Lebensprobleme der Erde seien lösbar, wenn eine herzliche (achtsame, mitleidende) Art reife, Dingen und Menschen zu begegnen. Franziskus starb vor 800 Jahren und ist dennoch am Kommen. „Achtsamkeit“, Fürsorge für alle Geschöpfe, sei als Ur-Tugend dem Kosmos, der Evolution, dem Menschen selbst eingeschrieben, Umkehr zu ihr einzige Alternative zur Rettung
39Löhr 40Boff
und Moltmann (2016, S. 95). (1976, S. 45).
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von Erde und Mensch. Technik, Wirtschaft, Politik müssten achtsam-fürsorglich, „convivial“ (Illich) werden. Unter dem neuen Papst, der nicht nur im Namen, sondern auch in der Sache die franziskanische Spiritualität in der Kirche neu aufleuchten lässt, mäßigte sich auch Boffs Urteil über den Vorgänger-Papst. Die von Boff jahrelang und dringlich geforderte Achtsamkeit und Herzlichkeit erreicht nun auch den einstigen „Würgeengel“. Dieser sei immer „eine feine Person“ gewesen, und bei einer Einladung durch Papst Franziskus würde er, Boff, gerne auch „Benedikt XVI. umarmen, um eine Art Versöhnung zu erreichen“ (KNA-Interview vom 7.4.2017). Eine moderne franziskanische „pazzia“ (Verrücktheit), aber rational durch die raisons du cœur. Vielleicht kann Boffs Werk „Mein Glaube“ als Summe seines Denkens gelten.41 Neben Kritik – alle Konfessionen nur „Kümmerformen“ des Christentums – bietet es eine erregende „panentheistische“ Vision des Christentums im „Prozess der Evolution“. Gott ist (wie bei Karl Rahner) Geheimnis, auch für sich selbst. Es gründe in der Trinität. Das freie Geheimnis schaue sich selbst im Spiegel der Schöpfung, schenke sich – es selbst bleibend – der Welt vom „Urknall“ an. Beflügelt von Teilhard de Chardin lässt Boff im Zeitraffer, stenogramm-artig, auf neuestem Stand die Kosmogenese Revue passieren bis zur Bildung von Erde und Leben. Die Anthropogenese münde in die Heilsgeschichte mit Jesus, Maria, Josef, an biblischen essenzial-Texten erklärt. Der Hl. Geist, im Evolutionsprozess quasi das weibliche Herz Gottes, wie auch des Universums, wurde zur geheimen Mitte des Menschen, gipfelnd in Jesu einzigartiger Geist-Begabung. Das All entwickle sich dialektisch im Widerstreit von Chaos/Kosmos, Schöpfung/Zerstörung, Liebe/Negativkraft (ein Kerngedanke des Empedokles). Das „Reich der Dreieinigkeit“ bringe alles zur endgültigen Synthese: „Das hoffen wir“!. Sperrig bleibt für Boffs Vision (wie bei Hegel, Marx, Teilhard) das radikal Böse (man denke an das 20. Jahrhundert, an die vielen Todesopfer der Konflikte der Gegenwart!), das persönliche Leid. Der Vision fehlt ein Stück Apokalyptik – und Empathie für die aus dem Seelengrund aufsteigende Kernfrage des Thomas Payne: „Warum leide ich? […] Das leiseste Zucken des Schmerzes, und rege es sich nur in einem Atom, macht einen Riss in der Schöpfung von oben bis unten“ (Georg Büchner, Dantons Tod [3. Aufzug, 1. Szene]).
41Dt.
Übersetzung des Originaltitels: „Das Christentum. Das Minimum vom Minimum“.
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Peters, T.R. (Hrsg.). (1999). Ende der Zeit? Die Provokation der Rede von Gott. Dokumentation einer Tagung mit Joseph Kardinal Ratzinger, Johann Baptist Metz, Jürgen Moltmann und Eveline Goodman-Thau in Ahaus. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag. Ratzinger, J. (1970). Glaube und Zukunft. München: Kösel-Verlag. Ders. (1998a). Aus meinem Leben: Erinnerungen (1927–1977). München: Deutsche Verlags-Anstalt. Ders. (1998b). Salz der Erde: Christentum und katholische Kirche an der Jahrtausenwende. Ein Gespräch mit Peter Seewald. München: Heyne. Ders. (2004). Glaube – Wahrheit – Toleranz: das Christentum und die Weltreligionen (3. Aufl.). Freiburg i. Br./Basel/Wien: Herder. Schaff, A. (1970). Marxismus und das menschliche Individuum. Reinbeck: Rowohlt. Unfried, A. (2013). Abgesang oder Neuanfang? Publik-Forum 2/2013.
Sicherheitspolitischer Dialog zwischen transatlantischem Bündnis und dem Nahen Osten in Zeiten des geopolitischen Umstrukturierungsprozesses Ilya Zarrouk Zusammenfassung
Die transatlantischen Beziehungen sind derzeit im Wandel begriffen. Genauso verändern sich der Nahe Osten und Nordafrika rasant. Während des Transformationsprozesses im arabisch-islamischen Raum versuchen die transatlantischen Partner, der arabischen Diaspora auf ihrem schwierigen Findungsweg sowohl durch militärische Interventionen, aber auch durch politische Determinanten zu helfen. Durch das schwierige Verhältnis der transatlantischen Verbündeten, aber auch durch Verkrustung und Konservierung alter Strukturen in der islamischen Welt, wirft nun dieser Essay die Frage auf, wie die transatlantischen Partner, in ihrer eigenen schwierigen Situation, die nahöstlichen und nordafrikanischen Staaten auf ihrer Suche nach Befreiung, wirtschaftlichem Aufschwung und Demokratie unterstützen können.
Einleitung Die transatlantischen Beziehungen sind seit dem Neuantritt der US-amerikanischen Administration in eine neue Phase eingetreten. Gleichzeitig befindet
I. Zarrouk (*) Mannheim, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 D. Schössler und M. Plathow (Hrsg.), Multipolarität und bipolare Konfrontationen, Transatlantische Beziehungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-22927-6_9
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sich die arabische Region weiterhin in einem politischen, kulturellen und sozioökonomischen Umstrukturierungsprozess, der sich militärisch begründet. Beide Prozesse sind miteinander eng verflochten und führen zu der Frage, inwieweit der gesamte Mittelmeerraum sowohl von den transatlantischen Beziehungen als auch von den Entwicklungen in der arabischen Welt abhängig ist. Somit muss in diesem Essay erläutert werden, ob die Stabilität des transatlantischen Bündnisses auch Auswirkungen auf den Nahen Osten hat und welche Möglichkeiten es gibt, durch den sicherheitspolitischen Dialog zwischen Okzident und Orient die Erneuerung der arabischen Region voranzutreiben. Dabei wird wie folgt vorgegangen: 1. Zunächst werden die Probleme der transatlantischen Beziehungen und der damit einhergehende Machtbegriff erörtert. 2. Sodann folgt eine Analyse der Bedeutung der NATO in den transatlantischen Beziehungen. 3. Es wird daraufhin die Struktur der verdeckten Schreckensherrschaft in der arabischen Welt betrachtet, um dann zum Schluss ein Resümee zu ziehen.
1 Das Problem der transatlantischen Beziehungen zwischen militärischer und ökonomischer Macht Die Frage, inwieweit die transatlantischen Beziehungen eher von militärischer Macht oder von ökonomischer Transformation getragen werden, hängt auch von der Assimilierung der Kulturen ab.1 Dies gilt umso mehr bei der Betrachtung der transatlantischen Beziehungen einerseits und den islamischen-orientalischen Beziehungen andererseits. Gerade die US-amerikanische kulturelle Ideologie, so Jeffrey E. Garten, vermag Kulturen in sich aufzunehmen und damit auch als Vermittler bei internationalen Streitigkeiten aufzutreten, wie beispielsweise im NahOst-Konflikt.2 Gleichzeitig aber gelten die Vereinigten Staaten von Amerika nicht nur als Vermittler, sondern als einzige militärische Supermacht, damit gelingt es ihnen auch, ihre Vormachtstellung nicht nur zu manifestieren, sondern diese, aufgrund ihres gewaltigen, weltumspannenden atomaren Arsenals, auch in allen Weltteilen, insbesondere in Europa und im Vorderem Orient, zu sichern. Daraus
1Garten 2Ebd.
(1995, S. 11–21).
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resultiert letztlich auch das Ergebnis, dass die USA in der Lage sind, Truppen global einzusetzen, um nicht nur ihre Interessen zu verteidigen, sondern auch die ihrer potenziellen Alliierten.3 Auf der anderen Seite steht das Wirtschaftspotenzial Deutschlands als tragende Säule der Europäischen Union. Deutschland ist es auch jenseits des Atlantiks, welches nicht nur die Wirtschaftskraft der EU darstellt, sondern darüber hinaus die Europäische Union selbst repräsentiert.4 Deutschland hat nicht nur die leistungsfähigste und die größte Bevölkerung, sondern besitzt auch ein Drittel der gesamten Industrieproduktion der EU.5 Der Euro wird durch die Stärke der Wirtschaftskraft Deutschlands getragen und die osteuropäischen neuen EU-Länder schauen auf das Nervenzentrum in der Mitte Europas. Ohne Deutschland können keine innen- und außenpolitischen Entscheidungen, insbesondere ökonomischer Natur, getroffen werden. Die deutsche Macht entscheidet gewissermaßen über den europäischen Kontinent.6 Die wirtschaftliche Stärke des europäischen Kontinents ist also das Resultat einer klar definierten Währungs- und Wirtschaftspolitik, die durch die deutsch-französische Integration vorangetrieben wurde.7 Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, wie die der USA, fehlt jedoch noch gänzlich.8 Es zeigt sich vielmehr, dass die Aufnahme weiterer europäischer Staaten in die EU den Assimilierungsprozess innerhalb der Europäischen Union eher geschwächt als gestärkt hat, wodurch auch die transatlantischen Beziehungen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Allerdings ist auch klar, dass gerade Deutschland eine treibende Kraft sein wird, wenn es um die Inklusionsfrage der neuen europäischen Mitglieder geht.9 Die transatlantischen Beziehungen bauen also, wie schon deutlich wurde, auf zwei wesentliche Säulen auf: zum einen auf die USA mit ihrer global-militärischen, ökonomischen und finanzpolitischen Macht und zum anderen auf Deutschland als ökonomischem Motor. Die Weltpolitik orientiert sich also im Großen und Ganzen an diesen Beziehungen und mit ihnen wird der Transformationsprozess in der Weltwirtschaft hervorgehoben. Die Weltordnung, wenn man sie definieren will, richtet sich also nach der globalen Weltmacht USA einerseits, und der deutschen
3Ebd. 4Ebd. 5Ebd. 6Ebd. 7Ebd. 8Ebd. 9Ebd.
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Macht auf dem europäischen Kontinent andererseits aus.10 Würde man die transatlantischen Beziehungen als ein stabiles internationales System ansehen, dann käme man letztlich zu dem Ergebnis, dass der Wohlstand in der Welt steigen und die Probleme auf internationaler Basis besser behoben werden könnten. Paul Kennedy weist in einem seiner wegweisenden Bücher auf dieses Phänomen hin. Divergieren jedoch die jeweiligen Interessen der beiden Kontinente, dann müssen Konflikte entstehen, die letztlich darüber entscheiden, ob die Märkte prosperieren oder stagnieren, ob nun der freie Handel sich seine Bahnen bricht oder, wie gegenwärtig zu beobachten, Opfer des Protektionismus wird. Damit stellt sich auch die Frage nach dem Machtbegriff im internationalen System. Es ist dabei klar, dass Macht als eine Grunddeterminante der internationalen Verflechtungen anzusehen ist. Schon nach Machiavelli ist Macht unmittelbarer Bestandteil des Daseins und leitet sich aus dem Element des Seins ab. Daraus jedoch entsteht nicht Gut und Böse, sondern hieraus entspringen Werturteile, welche die Macht manifestieren. Nach Max Weber ist Macht der Wille, bestimmte Dinge durchzusetzen und zwar auch gegen jeglichen Widerstand.11 Das zeigt sich gerade an der globalen Macht der USA in der Verwirklichung des US-politischen Daseins und in der Beschränkung der Machtfaktoren anderer Machtmitspieler.12 Der Terminus Macht ist also nicht nur die Variable, den Widerstand zu brechen oder Gehorsam zu verordnen, sondern dieser Begriff geht viel weiter. Macht ist schon im Denken der jeweiligen Akteure des internationalen Systems vorhanden und diese Denkansätze führen letztlich dazu, dass ein bestimmter Akteur sich entweder veranlasst sieht, zu handeln oder es zu unterlassen. Macht drückt sich auch in der Akkumulation verschiedenster Mittel aus, um so politischen Gefahren begegnen zu können. Damit wird auch deutlich, dass nur der Staat souverän und im internationalen Geflecht in der Lage ist, aus dem Ausnahmezustand heraus eigenständig Entscheidungen zu treffen.13 Damit bezeichnet das Wort Macht auch einen Teil der Steuerungsmöglichkeiten zwischen Wollen und Können: So kann sich die USA beispielsweise erlauben, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, ohne für diese Entscheidung ökonomisch oder militärisch zur Verantwortung gezogen zu werden. So kann sich beispielsweise Deutschland auch erlauben, Flüchtlinge in Massen aufzunehmen,
10Ebd. 11Piazolo 12Ebd. 13Ebd.
(2006, S. 9–21).
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und gleichzeitig den europäischen Partnern zu erklären, auch Flüchtlinge aufnehmen zu müssen, ohne zu befürchten, dass es ökonomisch schlechter dastehen würde als vorher. Damit bedeutet Macht in den transatlantischen Beziehungen auch die Unterwerfung anderer und gleichzeitig die Freiheit und Selbstständigkeit eines Staates oder Kontinentes. Sie kann aber auch dazu führen, dass bestimmte Handlungsstränge beschränkt werden können, wodurch Macht den Status eines Kontinents oder einer Koalition bestimmt.14 Somit geht es dabei auch um die außenpolitische Selbstbestimmung. Schon Hans J. Morgenthau ist davon überzeugt gewesen, dass die internationale Ordnung nicht aus Blöcken besteht, sondern aus Beziehungen zwischen souveränen Nationalstaaten, und das Ziel dieser Beziehungen innerhalb des internationalen Geflechtes die Maximierung der Macht sei.15 Den Grund hierfür sieht er in der Sicherheitsmaxime der einzelnen Staaten innerhalb des internationalen Spannungsfeldes und daher wird auch deutlich, weshalb Sicherheit von Macht abhängig ist. Denn je mehr Macht ein Staat besitzt, umso besser kann er innen- und außenpolitische Sicherheit gewährleisten. Daher muss der Maßstab im internationalen Handeln immer die höchste Form des Machtstrebens sein; nur relative Macht führt nicht zu einer klaren Definition des Freund- und Feind-Schemas.16 Jeder Staat, der es vermag, Macht auf sich zu konzentrieren, wie z. B. die USA, ist auch in der Lage, andere Staaten an sich zu binden und sogar zu beherrschen.17 Der Staat kann es sich leisten, etwas zu tun, was andere nicht vermögen. Der Schwache muss folgerichtigerweise unterlassen, was der starke Staat ihm aufoktroyiert hat. Die neorealistische Schule zeichnet derzeit die internationale Politik der Gegenwart. Dabei ist jedoch klar, dass Krieg nicht die Lösung ist, um den Frieden zu bewahren und potenzielle Gegner abzuschrecken. Vielmehr ist das internationale Gefüge nur so lange stabil, wie der einzelne Staat oder die jeweilige Koalition – und dies gilt insbesondere für die transatlantischen Beziehungen – in der Lage ist, potenzielle Gegner abzuschrecken.18 Staaten und Staatengruppen sind also wie Organismen, was sich gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts zeigt. Letztlich zeigt sich das auch in der Subjektivität des Völkerrechts, durch welches das innerstaatliche
14Ebd. 15Ebd. 16Ebd. 17Ebd. 18Ebd.
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Recht auf internationaler Ebene angewandt wird. Gerade dieses Recht jedoch führt dazu, dass es zu Momenten des Konfliktes kommt und schließlich auch zu Rivalitäten unter den Staaten. Das beste Beispiel hierfür ist aktuell der Handelsstreit der Europäischen Union, insbesondere Deutschlands, mit den USA.19 Der Vorwurf der neuen Administration der USA, Deutschland würde einen unfairen Handel betreiben, zeigt, wie fragil das internationale Recht selbst in Handelsund Finanzfragen ist.20 Die Antwort auf diese Tatsache lautet nun vonseiten der US-Administration, den Handel protektionistisch und nationalstaatlich zu koordinieren. Es ist also deutlich, dass das internationale System in seiner Struktur vorrangig nach ökonomischen und militärischen Parametern ausgerichtet ist.21 Die Objektivität dieser Umstände kann aber nur Gestalt annehmen, wenn sie durch die Bereitschaft gestützt wird, die Verantwortung zu übernehmen, also durch den Willen, die Macht, die man besitzt, auch durchzusetzen – nur so werden Beziehungen als Teil des Ordnungsschemas auf internationaler Ebene reell.22 Hat man das Potenzial zur Macht und zur Machtumverteilung, so ist dies nur der Boden zur Umsetzung der Machtdurchsetzung, -erhaltung und -erweiterung. Dies setzt allerdings auch voraus, dass ein Staat oder eine Staatengruppe, wie beispielsweise die EU, in der Lage ist, die Macht nach innen zu integrieren und zu konzentrieren. Dies kann nur gelingen, wenn ein gewisses Bewusstsein des Staat(enbund)-Seins vorherrscht. Im Falle der EU hat Garten schon darauf hingewiesen, dass eine Erweiterung der EU eher zur Schwächung der Integrationskraft und dadurch auch zu einer Schwächung an Machtdurchsetzung führt.23 Daraus ergibt sich nun, dass es möglicherweise bei der EU an einer innerstaatlichen Zustimmung beziehungsweise an einer innereuropäischen Zustimmung fehlt, Macht auch effektiv umzusetzen.24 Die mangelnde Fähigkeit, sich gegen den Global Player USA, insbesondere in Fragen des Handels, effektiv zu behaupten, schadet nicht nur der Integrationskraft der EU, sondern auch den transatlantischen Beziehungen insgesamt. Somit stellt sich die Frage nach der Disposition der zur Verfügung stehenden Machtmittel, zu denen u. a. die Diplo-
19Ebd. 20Ebd. 21Ebd. 22Ebd. 23Ebd. 24Ebd.
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matie, außenpolitisches Know-how, die Geheimdienste und letztlich auch der politische Führungswille der internationalen Partner zählen.25 Dabei ist es entscheidend, dass militärische und wirtschaftliche Effizienz nicht immer direkt eingesetzt werden müssen; selbst die USA haben in ihrer Geschichte Phasen des Isolationismus erfahren und Deutschland musste sogar nach 1945 seine Außenpolitik aussetzten.26 Das bedeutet folgerichtig, dass machtvolles Handeln nur entstehen kann, wenn eine Ordnungsidee vorherrscht und diese öffentlichkeitswirksam dargelegt wird, um auch eine Außenwirkung erzeugen zu können. Dabei bezeichnet militärische Macht nicht nur das Vorherrschen von physischen Gewaltinstrumenten, sondern es geht auch um die Qualität der Einsatzmöglichkeiten: Gerade wenn es um den Einsatz atomarer Waffen geht, reicht der Kräftevergleich nicht aus.27 Viel entscheidender sind die Handlungsoptionen und die damit verbundenen Auswirkungen. Eine autarke Macht ist nur insoweit autark, wie sie in der Lage ist, ihre Rüstungsproduktion am Laufen zu halten. Viele Gewaltapparate sind derzeit den sicherheitspolitischen Herausforderungen wie z. B. durch den internationalen Terrorismus nicht gewachsen.28 Auch die wirtschaftliche Prosperität kann nicht alleine am Bruttosozialprodukt bemessen werden.29 Dieses ist zwar wichtig, aber genauso wichtig sind die Ressourcenabhängigkeit, die technische Fortentwicklung, das Arbeitskräftereservoir und der demografische Faktor. Hinzu kommen natürlich objektive wie subjektive Faktoren, die das Machtstreben eines Staates oder eines Kontinentes manifestieren. Hierzu zählen beispielsweise die natürlichen Ressourcen oder die geografische Lage.30 Auch wenn die Globalisierung das internationale System ausrichtet und damit auch die transatlantischen Beziehungen immer wieder auf die Probe stellt, so bleiben doch die Nationalstaaten die Akteure des internationalen Systems. Dies gilt insbesondere für das 21. Jahrhundert. Dieses findet seine Wurzel in dem einschneidenden Ereignis des 11.09.2001, dessen Folgewirkungen bis heute in den transatlantischen Beziehungen spürbar sind. Die Machtverschiebungen sind nicht nur in der westlichen Hemisphäre sichtbar, sondern vor allem auch in der islamischen Welt und dem dortigen Transformationsprozess. Akteure wie Russland,
25Ebd. 26Ebd. 27Ebd. 28Ebd. 29Ebd. 30Ebd.
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die Türkei und China belasten in der Frage der Machtverschiebungen im Orient auch die transatlantischen Beziehungen: Nicht das Völkerrecht ist Subjekt des Geschehens in Syrien, in Lybien, im Jemen, Irak, in Ägypten, im Libanon und in Palästina, sondern die Staaten sind die Akteure des Geschehens am Mittelmeer. Das Völkerrecht soll zwar der Koordinator von internationalen Beziehungen sein, es gilt aber in der Rangfolge eher als ein reines Staatenrecht.31 Die internationale Rechtsordnung wird jedoch so betrieben, dass die Souveränität der einzelnen Staaten und Staatengruppen nicht angetastet wird. Die politischen und rechtlichen Funktionen eines Staates werden vielmehr durch seine Handlungsfähigkeit nach außen hin definiert und dies zeigt sich anhand der Globalmacht der USA am deutlichsten. Diese Handlungsoptionen macht auch den Erfolg oder Misserfolg eines Staates, eines Bundes oder einer Koalition aus: Die gesamte Konstellation eines Staates im Geflecht der internationalen Beziehungen und die Stellung des Staates in diesen Beziehungen machen den Machtfaktor erst objektiv explizit. Man muss daher von objektiver Machtvorstellung sprechen. Macht ist nicht die Hauptkategorie der internationalen Gegebenheiten und unterliegt durchaus ethischen Grundsätzen. Deshalb ist Macht von Recht und Ethos nicht zu trennen.32 Recht und Macht gehören begrifflich zueinander. Genauso wenig es eine rechtlose Macht gibt, gibt es eine Macht ohne Recht, denn beides würde zu brutaler Gewalt und Anarchie führen und letztlich auch zu Despotien und Diktaturen, wie sie in einigen Entwicklungsländern und besonders in der arabisch-islamischen Welt vorherrschend sind. Gerade dies führt zu failed states, zu Chaos und zu machtlosem Recht wie in Syrien, in Libyen, im Irak und im Jemen, die wiederum die transatlantischen Beziehungen belasten. Deshalb ist die internationale Gemeinschaft auch gefordert, die zwischenstaatlichen Beziehungen zunehmend zu verrechtlichen, um die Interdependenzen und die damit einhergehende Verantwortung für vielerlei politische Felder übernehmen zu können. Somit ist das Völkerrecht nicht nur ein reines Staatenrecht, sondern eben ein Koordinierungsrecht, welches darauf achtet, dass die internationalen Vereinbarungen und die damit einhergehende Verantwortung eingehalten werden.33 Hieraus entspringt auch die Synapse von Ethik und Machtpolitik, von Ideal- und Realpolitik.34 Die internationale Politik ist damit eine Politik von Mitverantwortung und Moral.
31Ebd. 32Ebd. 33Ebd. 34Ebd.
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2 Die Destruktivität der NATO als Fundament für das transatlantische Sicherheitsdilemma Ohne Frage spiegeln sich die transatlantischen Beziehungen in ihrem Kristallisierungsprozess hauptsächlich in der NATO wider, die in ihrem 60jährigen Bestehen durchaus Erfolge vorzuweisen hat. Dennoch befindet sich dieses Bündnis in einer fundamentalen Krise, die sich im zweiten Irak-Konflikt zeigt. Die transatlantischen Beziehungen in ihrer Hauptstruktur der NATO befinden sich auch deshalb in einer Krisensituation, weil dieses System immer weiter ausgebaut worden ist und dadurch erst die Akkumulation der Allianz massiv gelockert wurde. Hieraus resultiert letztendlich, dass auch die USA es nicht mehr vermögen zu agieren, und sie daher gerade mit der neuen amerikanischen Administration den Weg der Isolation beschreiten, den sie bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts verfolgten. Die USA pochen darauf, dass die Allianzpartner nicht nur mehr in die Sicherheitspolitik und die gemeinsame Verteidigung Europas investieren, sondern auch aktiv an ihr mitwirken.35 Gerade die Frage, wie man mit den neuen Bedrohungen des 21. Jahrhunderts umgehen sollte, – und hier vor allem die Frage der angemessenen Strategien –, bleibt unter den Bündnispartnern der transatlantischen Beziehungen nicht nur unbeantwortet, sondern führt zu Konflikten bezüglich der gemeinsamen sicherheitspolitischen Agenda. Gleichzeitig ist jedoch auch klar, dass die NATO als Kern der transatlantischen Verbindungen Bestand haben wird. Und dennoch muss man von einer versteckten Fragmentierung der NATO sprechen.36 Es fehlt letztendlich in der transatlantischen Sicherheitspolitik eine einheitliche Koordinierung zwischen der NATO einerseits und den USA und der EU andererseits.37 Es braucht diese Koordination, um die einzelnen Interessen und Machtdispositionen auch wirklich ausgleichen zu können, insbesondere dann, wenn es um die islamisch-arabische Diaspora geht. Koalitionen der „Willigen“, wie im Fall der Irakkonflikte, bedürfen gerade auch aus völkerrechtlicher Sicht die Duldung aller Mitglieder der transatlantischen Sicherheitspolitik. Dies führt letztlich auch dazu, dass die Fragmentierung der gesamten transatlantischen Verflechtung voranschreitet. Es ist letztlich auch eine Frage, wie weit die Beziehung zwischen der EU einerseits
35Ebd. 36Ebd. 37Ebd.
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und den USA verstetigt werden kann.38 Man muss also davon ausgehen, dass von der bisherigen Allianz-Theorie abgewichen und von pluralistischen Sicherheitsinstitutionen ausgegangen werden muss, indem der Prozess der Integration sich eher zu einem Prozess des wechselseitigen Lernens umgestaltet. Hierbei geht es vielmehr um die Frage von Identitäten und Zugehörigkeiten.39 Die pluralistischen Vergemeinschaftungen gerade in Fragen der Sicherheit sind auch mit den sozialen Strukturen der jeweiligen Staaten und Gesellschaften verknüpft. Entsprechende Problemlagen bewirken auch kein unbeachtliches Sicherheitsdilemma.40 Es geht also im Allgemeinen, wie schon erörtert, um einen Konsens der Werte, aber ebenso um die Möglichkeit der gewaltfreien Bewältigung von sicherheitsrelevanten Herausforderungen sowie um die Frage von Erwartungen, insbesondere auf dem Gebiet der Sozioökonomie, da die NATO seit den 1950er Jahren eher dazu neigt, eine Werte- und Friedensgemeinschaft zu sein.41 Somit entwickelt sich die NATO zunehmend von der pluralistisch-transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft zur Hegemonialgemeinschaft. Wenn man nun die Theorie der Hegemonie anführt, so ist die NATO als transatlantische Sicherheitsgemeinschaft auch ein Bündnis von Führungsmacht und Führungskraft.42 Es gibt, wie schon deutlich wurde, in den transatlantischen Beziehungen – trotz aller Zerwürfnisse – Führungsparameter zwischen mächtigen Staaten und weniger mächtigen Staaten, woraus letztendlich auch der Pluralismus resultiert.43 Wie weit jedoch die Ansätze in Fragen einer transatlantischen Sicherheitsstrategie differieren, zeigt sich ab 1999 zunehmend nicht erst mit dem Kosovo-Krieg. Hier traten nicht nur Abstimmungsprobleme zutage, sondern auch in der Frage, wie weit die Kriegführung gehen dürfe, wurden die Divergenzen manifest. Auch im Zusammenhang des 11. Septembers wurde mehr als deutlich, dass die transatlantische Sicherheitsgemeinschaft nicht pluralistisch, sondern stärker partikularistisch agiert. Denn obwohl der NATO-Rat am 02.10.2001 den allgemeinen Bündnisfall ausrief, baute die USA-Administration unter Busch eher auf eine „Koalition der Willigen“ als auf das NATO-Bündnis als Ganzes.44 Dies lag auch daran, dass die USA die NATO – als Kernstück der transatlantischen Verflechtung –
38Ebd. 39Ebd. 40Ebd. 41Ebd. 42Ebd. 43Ebd. 44Ebd.
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eher als Hemmnis ihrer militärischen Aktionen ansahen, denn als notwendigen Regulator der militärstrategischen und militärpolitischen Fragen. Wie weit dieser Gedankengang bis heute geht, zeigt sich letztlich erst und insbesondere mit dem Irakkonflikt 2002/2003.45 Hier geriet das transatlantische Bündnis in seine schwerste Krise. Es fehlte nicht nur an einem Konzept, an Kooperation und der Koalitionswilligkeit, sondern es ging vielmehr ein Riss durch das gesamte Bündnis in der Mitte Europas. Das Vertrauen des pluralen Sicherheitssystems war damit nicht nur unterminiert, sondern nachhaltig gestört. Erst mit dem verstärkten fundamentalistisch motivierten Terror im Nahen Osten näherten sich die transatlantischen Partner wieder an.46 Gerade aufseiten der USA werden multilaterale Verbindungen wie das transatlantische Bündnis zunehmend mit Skepsis betrachtet und sie behalten sich eigenständig präventive militärische Aktionen, wie jüngst in Syrien, vor. Mit Sicherheit hilft gerade bei der Response Force, also der schnellen Eingreiftruppe, die klare strategische Grundlage. Dem Zusammenhalt der transatlantischen Sicherheitsgemeinschaft fehlt weiterhin eine gemeinsame Grundsatzdebatte. In der Frage der Bündnisfähigkeit und insbesondere in der Disposition der gemeinsamen Sicherheitspolitik fehlt es an einer klaren gemeinsamen Linie.47 Es gibt zwar durchaus Gemeinsamkeiten, was insbesondere an der gemeinsamen Bedrohungsanalyse und der militärischen Prävention, teilweise auch an der gemeinsamen Sicherheitsagenda festzustellen ist, genauso jedoch muss konstatiert werden, dass es an einer „Grand Strategy“ fehlt, die genau die Ziele, die Zwecke, die Mittel und die gemeinsamen Loyalitäten definiert.48
3 Die Tauhid-Lehre als Schisma im Sunnitentum und Schiitentum – Ideologisierung von Religion und nationalistischer Macht Schon Ibn Khaldun (1332–1406) definierte das menschliche Geschlecht als gesellschaftliche Existenz. Im gesellschaftlichem System kann der Mensch jedoch nicht als imaginärer Bestandteil des Seins alleine vorherrschen.49
45Ebd.;
Daase (2011). (2006, S. 9–21).
46Piazolo 47Ebd. 48Ebd.; 49Ibn
Daase (2011). Khaldun of Tunis (1950, S. 99–131).
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Da somit Pluralität das gesellschaftliche System bestimmt, benötigt die Gesellschaft auch ein System zur Koordinierung ihrer pluralistischen Existenzweise. Daher unterscheidet Ibn Khaldun schon sehr früh die Gesetze des Staates von den göttlichen Gesetzen und bestimmt als Aufgabe des Staates, klar zu definieren, wie die Gesellschaft agieren und leben soll.50 Deshalb ist auch immer zu hinterfragen, welche Herrschaftsform die Gesellschaft trägt und reguliert, denn sie ist nichts anderes als eine Solidargemeinschaft, in der auch darüber abgestimmt wird, wie die Sicherheit der Gesellschaft gewährleistet werden kann.51 Diese Sicherung kann nicht nur durch einen bürokratischen Staat garantiert werden: Es wird noch zu erläutern sein, ob durch die Form der verdeckten Schreckensherrschaft ein Tiefer Staat reklamiert werden kann, worauf bereits schon der tunesische Denker Ibn Khaldun hingewiesen hat. Dieses Problem der verdeckten Schreckensherrschaft wird in der Gegenwart noch dadurch verstärkt, dass eine identifizierte Divergenz zwischen Sunnitentum und Schiitentum, aber auch zwischen den unterschiedlichen sunnitischen und schiitischen Rechtsschulen herrscht. Dies zeigt sich insbesondere durch die Relativierung der verschiedenen konfessionellen Unterschiede, aber auch der damit einhergehenden Dogmen.52 Die Partikularität der Rituale, der Gnostik und des Rechtssystems zeigt sich auch in den unterschiedlichen Bestimmungen der Tauhid-Lehre. Die fundamentalen Denker einerseits sind der Auffassung, dass die Tauhid-Lehre einen integralen Bestandteil der sozialen Gemeinschaft darstellt und der raisson-d‘être auch der politischen Ausrichtung ist.53 Damit ist auch gemeint, dass die Transzendenz in die Außen- und Sicherheitspolitik mit einfließt. Die andere Denkrichtung andererseits geht jedoch davon aus, dass Religion und Konfession nichts anderes sind als das Prisma des gesellschaftlichen Daseins in der Kultur.54 Diese Diversifikation zeigt sich in den Phänomenen der identitären und anti-identitären Bewegung in der islamischen Diaspora. Während die fundamentalistische Ausrichtung die Totalisierungen der identitären Bewegung vorschreibt – dies gilt sowohl für Schiitentum als auch für das Sunnitentum –, gehen die nicht-identitären Bewegungen eher von dem Prinzip der socialité und
50Ebd. 51Ebd. 52Journal 53Ebd. 54Ebd.
Diplomatie (2016, S. 48–51).
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der damit einhergehenden Transzendenz im spirituellem Sinne aus.55 Daraus entspringt nun in der arabisch-islamischen Region letztlich ein gewisses dynastisches System aus fragmentierten, extremistischen Strukturen einerseits und charismatisch-despotischen Systemen andererseits. Dieses baut nicht nur auf vernetzte Kontrolle auf, sondern insbesondere auf Repression, Ideologisierung und Technokratie. Alle drei Faktoren führen zu einer fundierten verdeckten Schreckensherrschaft. Die Faktoren bewirken nicht nur, dass sich Nationalismen gebildet haben, sondern auch, dass der Laizismus, als Teil des Nationalismus, und der Fundamentalismus, als Teil der klerikalen Tauhid-Lehre, die Vorherrschaft im Nahen Osten erlangten. Die Religion und Konfession werden nicht mehr als Teil der Tauhid-Lehre gesehen, sondern sie fungieren nun als Teil der ideologischen Konfessionalisierung vom Maghreb bis nach Indonesien, was schließlich auch zu einer Stagnation der rationalistischen-archaischen Soziohistorik führt.56 Es hat wenig mit der Dominanz des Imperialismus und des Kolonialismus zu tun, dass es in der arabischen Hemisphäre zu einer nationalistisch-marxistischen Instrumentalisierung und zu einer ideologischen Islamisierung kam. Die Ideologisierung des Islam, ob schiitisch oder sunnitisch, kam durch die falsche Interpretation der islamischen Philosophie und der jeweiligen Denkschulen. Die arabischen Gewaltapparate sind ihrer politischen Gesinnung nach vom Tiefen Staat durchsetzt und damit auch von der Technokratie, die schon im Mittelalter durch Ibn Khaldun dargestellt worden ist, durchdrungen.57
4 Das arabische Militär als machtpolitischer Taktgeber und Konservator religiöser Traditionen Das Militär übernimmt nicht nur die Aufgabe des ökonomischen Akteures, sondern bildet die Grundlage der gesamten Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie deren technische Transformation. Hieraus entsteht auch die Legitimation für den gesamten Tiefen Staat und den damit einhergehenden Gewaltapparat.58 Die transatlantischen Beziehungen, in ihrer Fragmentation und
55Ebd. 56Ebd. 57Ebd. 58Bourrat
(2011).
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in den vorherrschenden pluralistischen Ausgestaltungen, müssen bei ihrer Sicherheitsstrategie im 21. Jahrhundert gerade diese Faktoren in Bezug auf den Nahen Ostens und die ideologisierte Gewaltbereitschaft mit einberechnen. Dennoch ist es von großer Notwendigkeit, die Strategie der sicherheitspolitischen Kommunikation der transatlantischen Beziehungen in die islamisch-arabische Region zu transferieren, um mögliche Umwandlungsprozesse schnell erkennen zu können. Dies ist wichtig, da die politische Arena in dieser Region von Putsch und der Neudefinierung von Despotien lebt.59 Dies zeigt sich insbesondere im algerischen, ägyptischen, marokkanischen, saudi-arabischen und teilweise irakischem Militär. Besonders die tunesische Armee hat solch einen Prozess in der arabischen Welt mit bedingt. Der arabische Frühling war letztlich kein Frühling der Massen, sondern ein Prozess und eine Bewegung der militärischen Apparate von Tunesien, über Libyen bis nach Syrien. Die nationale Strategie der arabischen Staaten geht vom Staatsapparat, aber vor allem von den Verteidigungsapparaten aus.60 Die Evolution der Mittelmeerkorrespondenz in sicherheitsstrategischen Fragen ist daher eine notwendige Determinante, um die regionalen Sicherheitsbedürfnisse der westlichen Welt und der arabischen Diaspora abzudecken. Die verdeckte Schreckensherrschaft kann letztlich nur durch einen verstärkten Dialog auf sicherheitspolitischer Ebene einhegt werden. Der zentralistische Autoritarismus ist in der arabischen Region nicht nur integraler Bestandteil des nationalen Territoriums, sondern das Agglomerat des ideologischen Sicherheitssystems nach innen wie außen. Dies zeigt sich vor allem, wenn es um das Thema Israel geht.61 Die Legitimierung der archaischen Schreckenssysteme baut auf die Sicherheitsfrage gegenüber Israel und dem damit verbundenen westlichen Dialog auf, wodurch es zur Polarisierung der internationalen Beziehungen und der Weltpolitik aus arabischer Perspektive kommt. Gerade deshalb ist das Militär im Staatsapparat nicht nur der Kompensator einer relativen liberalen Wirtschaftspolitik, sondern das Ventil der politischen und sozioökonomischen Agenda.62 Die Patronage-Struktur spielt in der Evolution der politischen Manifestation eine wesentliche Rolle. Das Militär ist es letztlich auch, wie das Beispiel Marokkos zeigt, durch das die Hierarchie des Staates bis in die zivilen Organe reicht. Aus
59Ebd. 60Ebd. 61Ebd. 62Ebd.
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diesem speist sich die Traditionalität und die Ideologisierung der Religion, und die Konservierung des Korpsgeistes entsteht durch beide Parameter.63 Die Korruption als Teil der sicherheitspolitischen Kommunikation ist dabei nicht nur der integrale Bestandteil nationalistischer Politik, sondern bildet letztlich die Leitlinie der Kohärenz zwischen nationalistischer und religiös fundierter Politik territorialer Eigenständigkeit. Die tunesische Armee beispielsweise ist sowohl die Implikation des politischen Geschäfts auf der einen Seite als auch der Kontrolle politischer Meinungen auf der anderen Seite. Im Maghreb und dem Vorderen Orient ist die kollektive Sicherheit dadurch gekennzeichnet, dass die militärische Strategie schon durch eine Autolegitimation vorgezeichnet ist, und die Modernisierung dieser Strukturen ist Teil der sicherheitspolitischen Strategie, wie man es bei den Golfmonarchien beobachten kann.64 Die Implikation des Militärs im ökonomischen Sektor, vor allem aber auf kommerzieller Ebene, zeigt die Instrumente des sicherheitspolitischen Dialogs auf. Nur wenn das transatlantische Bündnis begreift, dass der Kommerz in der arabischen Region einen Teil deren Sicherheitsstrategie darstellt, ist es auch möglich, die Sicherheitsdeterminanten in eine andere Richtung zu führen. Dies gilt insbesondere, wenn der Finanzsektor vom Tourismus und der Agrargesellschaft abhängt.65 Die Produktivität der arabischen Diaspora und die Rentenökonomie des Petroleums könnten so dirigiert werden, dass für den gesamten Mittelmeerraum eine Sicherheitsagenda entworfen werden kann, die sowohl dem transatlantischen Bündnis mit seinen pluralen Strukturen als auch der Arabischen Liga mit deren autokratischen Parametern zugute kommt. Es ist deshalb mehr als fatal, dass die neue US-Administration eher auf eine protektionistische und nationalistische Wirtschafts- und Sicherheitspolitik setzt, denn auch viele arabische Staaten der Arabischen Liga sind derzeit vor allem auf ökonomischem Gebiet nationalistisch ausgerichtet. Für Reformen der Sicherheit bedarf es bei der dominanten Bevölkerungsentwicklung in der arabischen Region einer Öffnung der ökonomischen Möglichkeiten, und zwar nicht nur auf militärtechnologischer Basis, sondern insbesondere auf der Ebene von Industrie und Bildung.
63Ebd. 64Ebd. 65Ebd.
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I. Zarrouk
5 Schlussbetrachtung Es wurden, ausgehend von der Frage, inwieweit das transatlantische Bündnis mit seinen derzeitigen sicherheitspolitischen Problemen einen sicherheitspolitischen Dialog mit der islamischen Welt anstoßen kann, die Faktoren von Macht einerseits und Ideologisierung und Nationalisierung andererseits erörtert. Dabei wurde deutlich, dass die transatlantischen Beziehungen im Kern durch die NATO getragen werden, wobei die Sicherheitsgemeinschaft auf westlicher Seite derzeit eher ein zerrüttetes Bild abgibt. Dies liegt wohl auch daran, dass es an einer klar definierten Sicherheitsagenda seit dem 11.09.2001 fehlt. Erst mit der Zunahme der Veränderungen der sicherheitspolitischen Lage im Nahen Osten und damit einhergehend auch mit den Bedrohungsszenarien in der westlichen Hemisphäre kam es erneut zur Anhörung der transatlantischen Partner, wobei es immer noch an klar formulierten Strategien fehlt, um den Bedrohungen aus dem Mittelmeerraum Herr zu werden. Auf der anderen Seite des Mittelmeeres finden sich Systeme der verdeckten Schreckensherrschaft und des fundierten Tiefen Staates. Dieses System formiert sich durch traditionalistische Strukturen der militärischen Apparate und Geheimdienste, die jeden gesellschaftlichen Sektor durchdrungen haben. Dazu kommt die Ideologisierung der islamischen Konfessionen und der islamischen Rechtsschulen, wodurch es zu einer teilweisen Auflösung staatlicher Strukturen kommt. Beide Säulen haben ihren Ausfluss in der traditionellen-archaischen Gesellschaft. Um sowohl dem Sicherheitsdilemma des Westens als auch den Verschleißerscheinungen arabischer Strukturen gerecht zu werden, bedarf es letztlich eines sicherheitspolitischen Dialogs zwischen Okzident und Orient, um die jeweiligen Sicherheitsdilemmata aufzulösen. Folgende Lösungsvorschläge können zu diesem Dialog führen: 1. Die Kontrolle finanzstarker Ströme von West nach Ost und zwar nicht nur in Richtung ideologisierter Gruppen, sondern auch gegenüber nationalistischen Militärregierungen, die sich zum Teil dynastisch begründen. 2. Der Abschluss von Sicherheitspakten anstelle einer Zunahme an Exporten sicherheitsrelevanter Waffentechnologien, die letztlich nicht zur Sicherheit nach außen beitragen, sondern eher zu Absicherung korrupter Systeme beitragen. 3. Die Forderung nach Liberalisierung der Märkte auf industriellem Gebiet statt der Akzeptanz planwirtschaftlicher Agrarpolitik, die zur Verarmung gesamter Gesellschafteile in der arabischen Welt führt.
Sicherheitspolitischer Dialog zwischen transatlantischem Bündnis und …
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